Auf der Suche nach Eurasien: Politik, Religion und Alltagskultur zwischen Russland und Europa [1. Aufl.] 9783839401316

Die Autoren dieses Bandes begeben sich auf die Suche nach Eurasien und entdecken dabei ein Geflecht aus politischen Inte

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German Pages 398 [399] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Zur Transliteration
Vorwort: »Lavasch« und »baton« – Auf der Suche nach Eurasien
Verortung und Raumaneignung
Wo ist Europa?
Eurasische Transrealitäten – Das Erbe der Seidenstraße
Postsowjetisches Eurasien – Dimensionen der symbolischen und realen Raumaneignung
Die russische Debatte
Einführung: Die russische Debatte und ihre Re-Orientierung zwischen Asien und Europa
»Kontinent Evrasija« – Klassischer Eurasismus und Geopolitik in der Lesart Alexander Dugins
Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung einer russischen Bewegung
»Eurasien« – Phantom oder reales Entwicklungsmodell für Russland?
Europa versus Asien – Russische Außenpolitik im Spannungsfeld der Kulturen
Eurasische Realitäten
Einführung: Identität, Ethnizität und Religion im eurasischen Raum
Russische Muslime in Tatarstan und Dagestan – Zwischen Autonomie und Integration
Islam und Turksprachlichkeit als Faktoren bei Identitätsbildungs- und Sezessionsprozessen – Dagestan und Tatarstan im Vergleich
»Russische Muslime« – Der Islam in Tatarstan und Dagestan
Andere Russen – »Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein von Russen aus Zentralasien in der Russischen Föderation
Die Russen im nahen Ausland – Russen als neue Minderheiten in Zentralasien
Anhang
Autorinnen und Autoren
Textnachweise
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Auf der Suche nach Eurasien: Politik, Religion und Alltagskultur zwischen Russland und Europa [1. Aufl.]
 9783839401316

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Auf der Suche nach Eurasien

herausgegeben von Markus Kaiser | Band 1

2003-12-10 13-34-36 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S.

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) T00_01 Schmutztitel.p 39245533276

2003-12-10 13-34-36 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S.

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) T00_02 Vakat.p 39245533324

Markus Kaiser (Hg.)

Auf der Suche nach Eurasien Politik, Religion und Alltagskultur zwischen Russland und Europa

2003-12-10 13-34-37 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S.

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) T00_03 Titel.p 39245533388

Dieser Band wurde mit Unterstützung der Universität Bielefeld und des vom DAAD geförderten Zentrums für Deutschland- und Europastudien (ZDES) gedruckt (Projektverantwortlicher: Dr. Markus Kaiser).

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Redaktion & Lektorat: Sabine Ipsen-Peitzmeier, Detmold Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagfotografie: Markus Kaiser, Bielefeld Fotografien: Markus Kaiser, Bielefeld, S. 107; Guzel Sabirova, Moskau, S. 205 Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-131-0

2003-12-10 13-34-37 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S.

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) T00_04 Impressum.p 39245533444

Inhalt

Danksagung ............................................................................

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Zur Transliteration .................................................................

10

Markus Kaiser Vorwort: »Lavasch« und »baton« – Auf der Suche nach Eurasien ..................................................

11

Verortung und Raumaneignung Rüdiger Korff Wo ist Europa? ........................................................................

21

Hans-Dieter Evers, Markus Kaiser Eurasische Transrealitäten – Das Erbe der Seidenstraße ......................................................

36

Markus Kaiser Postsowjetisches Eurasien – Dimensionen der symbolischen und realen Raumaneignung ............................. 79

Die russische Debatte Markus Kaiser Einführung: Die russische Debatte und ihre Re-Orientierung zwischen Asien und Europa ................. 111 Stefan Wiederkehr »Kontinent Evrasija« – Klassischer Eurasismus und Geopolitik in der Lesart Alexander Dugins ..................... 125

2003-12-10 13-34-37 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S.

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7) T00_05 Inhalt.p 39245533468

Vladimir Kozlovsky Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung einer russischen Bewegung ............................... 139 Michael Kleineberg, Markus Kaiser »Eurasien« – Phantom oder reales Entwicklungsmodell für Russland? ........................................ 173 Elena Stepanova Europa versus Asien – Russische Außenpolitik im Spannungsfeld der Kulturen ............................................. 197

Eurasische Realitäten Markus Kaiser Einführung: Identität, Ethnizität und Religion im eurasischen Raum ............................................... 209 Natalja Gontscharova Russische Muslime in Tatarstan und Dagestan – Zwischen Autonomie und Integration .................................... 220 Heiko Schrader, Nikolaj Skvorzov, Boris Wiener Islam und Turksprachlichkeit als Faktoren bei Identitätsbildungs- und Sezessionsprozessen – Dagestan und Tatarstan im Vergleich .................................... 248 Guzel Sabirova »Russische Muslime« – Der Islam in Tatarstan und Dagestan ..................................... 272 Sergej Damberg Andere Russen – »Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein von Russen aus Zentralasien in der Russischen Föderation ................................................. 308

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7) T00_05 Inhalt.p 39245533468

Markus Kaiser Die Russen im nahen Ausland – Russen als neue Minderheiten in Zentralasien ...................... 338

Anhang Autorinnen und Autoren ........................................................ 393 Textnachweise ......................................................................... 397

2003-12-10 13-34-38 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S.

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7) T00_05 Inhalt.p 39245533468

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) vakat 008.p 39245533476

Danksagung

Danksagung

Diese Anthologie ist ein Ergebnis der vom Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD) geförderten wissenschaftlichen Kooperation zwischen der Staatlichen Universität Sankt Petersburg (SPbGU) und der Universität Bielefeld. Von 1993 bis 2003 finanzierte der DAAD einen »Deutschsprachigen Studiengang Soziologie« an der Soziologischen Fakultät der SPbGU und seit 2001 unterstützt er dort den Aufbau eines Zentrums für Deutschland- und Europastudien (ZDES)1 als zentrale Einrichtung. Die russischen Autoren dieser Anthologie waren im Rahmen beider Programme als Gastwissenschaftler an der Universität Bielefeld tätig. Ihre Beiträge entstanden im Zuge ihrer Forschungsaufenthalte in Bielefeld. Mein Dank gilt dem DAAD, der die Finanzierung des Druckes im Rahmen seiner Förderung des Zentrums für Deutschland- und Europastudien ermöglicht hat. Professor Mathias Albert hat als Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des ZDES an der Universität Bielefeld die fachliche Begutachtung der Anthologie übernommen. Für seine Hinweise und Kritiken möchte ich mich recht herzlich bedanken. Die Kooperation zwischen beiden Universitäten ermöglichte es, dass ich eine im Jahre 1999 als Gastdozent an der Soziologischen Fakultät der Staatlichen Universität Sankt Petersburg aufgenommene »Suche nach Eurasien« bis heute fortsetzen konnte. Mit vielen der Beitragenden habe ich in Moskau, Sankt Petersburg oder Bielefeld inhaltliche Fragen diskutieren können, wobei ich immer wieder auf andere, von mir bis zu dem Zeitpunkt z.T. noch unberücksichtigte Aspekte meiner Fragestellung hingewiesen wurde. Dafür recht herzlichen Dank! Sabine Ipsen-Peitzmeier hat als wissenschaftliche Mitarbeiterin des ZDES mit sehr viel Engagement und fachlicher Kompetenz die russischen Autorinnen und Autoren in Bielefeld betreut. Für die Erstübersetzung von Texten aus dem Russischen danke ich Daria Khosroeva, Anna Schevtschenko, Ksenija Timofejeva und Igor Ossipov, für die 1

Weiteres zum ZDES siehe http://www.zdes.spb.ru/

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9- 10) T00_06 Danksagung.p 39245533580

Danksagung

Erstübersetzungen von Texten aus dem Englischen danke ich Anneliese Garrido Agurto, Brigitte Lohan und Heiderose Römisch. Bei der Recherche und Bearbeitung russischer Quellen halfen dankenswerterweise Maja Baschenova, Lidija Morkel und Olga Maletz. Sabine IpsenPeitzmeier danke ich für die redaktionelle Bearbeitung, Angelika Brandes für das intensive Korrekturlesen und die kompetenten Beratungen. Weiterhin geht mein Dank an Marianne Klocke, die ebenfalls Korrektur las, sowie an Igor Ossipov für die die Wünsche der russischen Autoren berücksichtigende Transliteration. Roswitha Gost sowie Karin Werner vom transcript Verlag danke ich für die ausgezeichnete verlegerische Betreuung der Anthologie.

Bielefeld, im August 2003 Markus Kaiser Direktor und Projektleiter des Zentrums für Deutschland- und Europastudien

Zur Transliteration

Die Transliteration erfolgte im Großen und Ganzen nach den Regeln des DUDEN. Einige der russischen Autoren dieser Anthologie äußerten den Wunsch, die DUDEN-Transliteration w durch die ISO-Transliteration v zu ersetzen (z.B.: Vladimir Kozlovsky statt Wladimir Kozlowsky; Evrasija statt Ewrasija), um dadurch dem Leser die Möglichkeit zu geben, zusätzlich zu den deutschsprachigen auch ihre englischsprachigen Publikationen in den verschiedenen Literatursystemen zu finden. Eine Ausnahme hiervon bilden jedoch der Name des Autors Boris Wiener sowie bekannte russische Eigennamen, die von den deutschen Medien überwiegend nach der DUDEN-Transliteration verwendet werden (z.B. Wladimir Putin). Das russische E oder e wird nach den Regeln des DUDEN in e oder je transliteriert. Hier wurde die gängige Schreibweise bevorzugt. Eigennamen aus englischen Publikationen wurden in ihrer Schreibweise beibehalten. 10

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9- 10) T00_06 Danksagung.p 39245533580

Vorwort: Auf der Suche nach Eurasien

Vorwort: »Lavasch« und »baton« – Auf der Suche nach Eurasien Markus Kaiser Das armenische Fladenbrot lavasch füllt neben Weiß- (baton) und kastenförmigem Graubrot die Brotstände der Sankt Petersburger Märkte. Farbenfroh in Szene gesetzt, werben Melonen und Granatäpfel neben eingelegten Gurken, Kohl und gefüllten Weinblättern um die Gunst der Käufer. Koreanerinnen bieten ihre scharf gewürzten Salate in Konkurrenz zu den russischen an. Arabischer Kaffee, serviert in kleinen Tassen, wird zu süß gefüllten Hefeteigtaschen (pirogi) genossen. Solche Szenen finden sich in Sankt Petersburg und Moskau ebenso wie in Almaty, Taschkent oder Irkutsk. Sie machen deutlich, dass zumindest auf der Ebene des Nahrungsmittelangebotes das postsowjetische Russland euro-asiatisch geblieben ist. Mit Verwunderung oder auch sichtlicher Entrüstung wurde ich in Sankt Petersburg oft gefragt, ob denn Russland etwa nicht zu Europa gehöre. Auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel in Jekaterinburg bot mir der Taxifahrer an, einen Ausflug zur nur wenige Kilometer entfernten Grenzlinie zwischen Europa und Asien zu machen. In UlanUde wird betont, dass hier das asiatische Russland sei, welches aufgrund seiner Landmasse, seines Rohstoffreichtums und seiner weiten Naturräume mindestens so wichtig sei wie der viel dichter besiedelte europäische Teil. Die Liebesgeschichte »Ali und Nino« von Kurban Said aus dem Jahr 1937 ist in Bezug auf das konfliktträchtige Aufeinandertreffen europäischer und asiatisch-islamischer kultureller Muster heute so aktuell wie damals. Diese unmögliche Liebesgeschichte spielt während der Oktoberrevolution in Baku, Aserbaidschan, am östlichsten Rand Europas. Sie zeigt, wie im folgenden Auszug zu erkennen ist, die problematische Orientierung Russlands zwischen Orient und Okzident. »›Im Norden, Süden und Westen ist Europa von Meeren umgeben. Das Nördliche Polarmeer, das Mittelmeer und der Atlantische Ozean bilden die natürlichen Grenzen dieses Kontinents. Als die Nordspitze Europas betrachtet die Wissenschaft die Insel Wagera, die Südspitze bildet die Insel Kreta und die Westspitze die Inselgruppe Dunmore Head. Die Ostgrenze Europas zieht sich durch das Russische Kaiserreich den Ural entlang, durchschneidet das Kaspi-

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2003-12-10 13-34-38 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S.

11- 17) T00_07 vorwort neu.p 39245533636

Markus Kaiser sche Meer und läuft dann durch Transkaukasien. Hier hat die Wissenschaft ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Während manche Gelehrte das Gebiet südlich des kaukasischen Bergmassivs als zu Asien gehörig betrachten, glauben andere, insbesondere im Hinblick auf die kulturelle Entwicklung Transkaukasiens, auch dieses Land als Teil von Europa ansehen zu müssen. Es hängt also gewissermaßen von Ihrem Verhalten ab, meine Kinder, ob unsere Stadt zum fortschrittlichen Europa oder zum rückständigen Asien gehören soll.‹ Der Professor lächelt selbstgefällig. Den vierzig Kindern der dritten Klassen des kaiserlich russischen humanistischen Gymnasiums zu Baku, Transkaukasien, stockte der Atem vor den Abgründen des Wissens und der Last der Verantwortung. Eine Weile schwiegen wir alle, wir dreißig Mohammedaner, vier Armenier, zwei Polen, drei Sektierer und ein Russe. Dann hob Mehmed Haidar in der letzten Bank die Hand und sagte: ›Herr Professor, bitte, wir wollen lieber in Asien bleiben.‹ Schallendes Gelächter ertönte. Mehmed Haidar drückte schon zum zweiten Male die Bank der dritten Klasse. Er hatte alle Aussicht, auch das dritte Jahr in derselben Klasse zu verbringen, sofern Baku weiterhin zu Asien gehörte. Überdies gestattete ein ministerieller Erlass den Eingeborenen des asiatischen Russland, so lange in einer Klasse sitzen zu bleiben, als es ihnen passte. Professor Sanin, in der goldbestickten Uniform eines russischen Gymnasiallehrers, runzelte die Stirn. ›So, Mehmed Haidar, du willst also Asiate bleiben? Tritt mal vor. Kannst du deine Ansicht begründen?‹ Mehmed Haidar trat vor, wurde rot und schwieg. […] ›Herr Professor, auch ich will lieber in Asien bleiben‹ – ›Ali Khan Schirwanschir! Auch du! Schön, tritt vor.‹ Professor Sanin schob die Unterlippe vor und verfluchte innerlich sein Schicksal, das ihn an die Ufer des Kaspischen Meeres verbannt hatte. Dann räusperte er sich und sagte gewichtig: ›Kannst wenigstens du deine Ansicht vertreten?‹ ›Ja, ich fühle mich in Asien ganz wohl.‹ ›So, so. Na, warst du schon einmal in wirklich wilden asiatischen Ländern, zum Beispiel in Teheran?‹ ›Jawohl, vorigen Sommer.‹ ›Na also. Gibt es dort die großen Errungenschaften der europäischen Kultur, zum Beispiel Autos?‹ ›O ja, sogar sehr große. Für dreißig Personen und mehr. Sie fahren nicht durch die Stadt, sondern von Ort zu Ort.‹ ›Das sind Autobusse, und sie verkehren in Ermangelung der Eisenbahn. Das nennt man Rückstand. Setz dich, Schirwanschir!‹

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2003-12-10 13-34-38 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S.

11- 17) T00_07 vorwort neu.p 39245533636

Vorwort: Auf der Suche nach Eurasien Die dreißig Asiaten frohlockten und warfen mir zustimmende Blicke zu. Professor Sanin schwieg verdrossen. Es war seine Pflicht, seine Schüler zu guten Europäern zu erziehen. ›War jemand von Euch zum Beispiel in Berlin‹, fragte er plötzlich. Er hatte seinen Unglückstag: Der Sektierer Maikow meldete sich und gestand, als ganz kleines Kind in Berlin gewesen zu sein. Er konnte sich noch sehr gut an eine dumpfige, unheimliche Untergrundbahn erinnern, an eine lärmende Eisenbahn und an ein Schinkenbrot, das ihm seine Mutter zurechtschnitt. Wir dreißig Mohammedaner waren tief entrüstet. Seyd Mustafa bat sogar, austreten zu dürfen, da ihm bei dem Wort Schinken übel wurde. Damit war die Diskussion über die geographische Zugehörigkeit der Stadt Baku erledigt. […] Im Lyzeum der hl. Tamar gingen die Mädchen in züchtigen, blauen Uniformkleidern mit weißer Schürze durch den Garten. Meine Kusine Aische winkte mir zu. Ich schlüpfte durch das Gartentor. Aische ging Hand in Hand mit Nino Kipiani, und Nino Kipiani war das schönste Mädchen der Welt. Als ich den beiden von meinen geographischen Kämpfen berichtet hatte, rümpfte das schönste Mädchen der Welt die schönste Nase der Welt und sagte: ›Ali Khan, du bist dumm. Gottlob sind wir in Europa. Wären wir in Asien, so wäre ich schon längst verschleiert, und du könntest mich nicht sehen.‹ Ich gab mich geschlagen. Die geographische Fragwürdigkeit der Stadt Baku rettete mir den Anblick der schönsten Augen der Welt. Ich ging weg und schwänzte betrübt den Rest der Schule. Ich wanderte durch die Gassen der Stadt, blickte auf die Kamele und das Meer, dachte an Europa, an Asien, an Ninos schöne Augen und ward traurig« (Said 2002: 5-8).

Die Frage der geographischen Zugehörigkeit Russlands scheint heute genauso offen zu sein wie damals. Wie in den drei einleitenden Skizzen der lokalen Märkte, der Erfahrungen eines Reisenden und der Schulszene deutlich wird, gehören Fragen der Verflechtungen, der Grenzziehungen und der Differenzierungen ebenso zum Alltag eines Einzelnen, wie sie auch Gegenstand der aktuellen, kontrovers diskutierten postsowjetischen Eurasiendebatte sind oder sein müssten. Im ersten Teil des Readers, »Verortung und Raumaneignung«, stellen Rüdiger Korff, Hans-Dieter Evers und ich Konzeptionalisierungen des geographischen Raumes zwischen Dunmore Head und Wladiwostok vor. Rüdiger Korff geht dabei noch einmal der Frage nach, wo genau denn Europa sei. In dem Beitrag von Hans-Dieter Evers und mir wird 13

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11- 17) T00_07 vorwort neu.p 39245533636

Markus Kaiser

untersucht, ob »Eurasien« aus zwei Kontinenten besteht oder als eine zusammengehörige Landmasse betrachtet werden kann. In meinem Beitrag mit dem Titel »Postsowjetisches Eurasien – Dimensionen der symbolischen und realen Raumaneignung« verbinde ich die Pole Europa und Asien im Kontext der Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Die Makroregion Eurasien stellt sich im ersten Teil des Readers als soziokultureller Großraum dar, dessen kontinentale Teilung nie trennscharf war und sich mehr und mehr verliert. Neben der ökonomischen Dimension der Integration durch zunehmende Wirtschaftsbeziehungen entlang einer Achse von Ostasien über Zentralasien nach Europa beschreiben die Autoren u.a. Beispiele »raumbezogener« Identifikationsangebote als kulturelle und Mobilität als soziale Dimensionen dieser Integration. Die Beiträge konstatieren damit eurasische transnationale sowie translokale Verbindungen und Bewegungen, Identitätskonstrukte und Strukturen wie beispielsweise die infrastrukturelle Vernetzung durch Öl- und Gaspipelines, das Internet u.a.m. als Indikatoren der Integration eines »eurasischen Raumes«. Im zweiten Teil, »Die russische Debatte«, stellen nach einer kurzen Einführung die Autoren Michael Kleineberg, Vladimir Kozlovsky, Elena Stepanova sowie Stefan Wiederkehr und ich in ihren Beiträgen die alte und die neue Eurasiendebatte vor und thematisieren zugleich geopolitische Verortungspolitiken sowie Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung dieser Landmasse. Diese Auswahl bietet dem Leser ein zwar nicht umfassendes oder gar erschöpfendes, aber doch vielseitiges und facettenreiches Bild des Eurasismus an. Die Erklärungs- und Wirkungsmächtigkeit der Konzeptionalisierungen sollen im dritten Teil, »Eurasische Realitäten«, durch Kontrastierung mit sozialen Welten ermittelt werden, die durch das Aufeinandertreffen von Asien und Europa und deren wechselseitiges Abgrenzen gekennzeichnet sind. Die Beiträge von Sergej Damberg, Natalja Gontscharova, Guzel Sabirova, Heiko Schrader, Nikolaj Skvorzov, Boris Wiener und mir schildern konkrete Lebenswelten und alltagsweltliche, individuelle Verortungspolitiken im eigenen oder jeweils kulturell anderen Umfeld. Eine Leitfrage, der auch Michael Thumann (2002) unlängst in seinem journalistisch gehaltenen Buch über »Das Lied von der russischen Erde. Moskaus Ringen um Einheit und Größe« nachging, ist, ob 14

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11- 17) T00_07 vorwort neu.p 39245533636

Vorwort: Auf der Suche nach Eurasien

und wie politische Visionen, innenpolitische Konstellationen und außenpolitische Konzepte um Europa und Asien mit europäischen, asiatischen oder euro-asiatischen Lebenswelten zusammenhängen. Dabei begeben sich die Autoren des vorliegenden Bandes auf die Suche nach Eurasien und entdecken ein Geflecht aus politischen Interessen und Einflussnahmen, unterschiedlichen religiösen Praktiken sowie ethnischen Zuschreibungen und Identifikationen. Sie zeichnen ein Portrait der Lebenssituation der hier beheimateten Menschen, ihrer Verbindungen und Gemeinsamkeiten, aber auch der Differenzen zwischen ihnen. Bei dieser »Vermessung« des Raums zwischen Russland und Europa wird deutlich, dass »Eurasien« mitnichten eine Vergangenheit ist, an die bruchlos angeschlossen werden kann, sondern ein heftig umkämpftes Terrain unterschiedlicher Verortungspolitiken. Solchen und anderen Fragestellungen will auch das Zentrum für Deutschland- und Europastudien (ZDES)1 mit seiner Forschungslinie »Differenzierungen, Verflechtungen und Entgrenzungen« nachgehen. Dadurch soll vor allem Forschung zu gesellschaftlichen und politischen Konstellationen in einem erweiterten Europa, insbesondere im östlichen Europa mit seinen kulturellen Nachbarn, die nach dem Zerfall der Sowjetunion an den Grenzen der Russischen Föderation entstanden sind, angestoßen werden. Mit dem politischen Umbruch sind Trennungen aufgehoben und die Verbindungen zwischen Ost und West wieder herstellbar geworden. Die beabsichtigte Wissenschaftskooperation mit Russland und den Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ist Teil dieser neuen Vernetzung und reflektiert zugleich die gesellschaftlichen Prozesse, von denen erwartet wird, dass sich vieles auf beiden Seiten ändern wird: in Europa und in Asien (Thumann 2002; Evers/Kaiser i.d.B.). In der Russischen Föderation und der GUS wird eine politische Diskussion über den eigenen Platz in der Welt geführt, die die Metapher von Eurasien aufgreift oder ablehnt (Humphrey 2002). Die drei geopolitischen Außengrenzen (West-)Europa, der weiche Bauch des 1

Das Zentrum für Deutschland- und Europastudien (ZDES) wurde im Jahr 2001 als Kooperationsprojekt zwischen der Staatlichen Universität Sankt Petersburg und der Universität Bielefeld eingerichtet und wird vom Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD) gefördert.

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11- 17) T00_07 vorwort neu.p 39245533636

Markus Kaiser

Südens (islamische Welt) und (Ost-)Asien stellen dabei Russlands (welt-)politische Optionen bzw. Problemlagen dar. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungsszenarien dieser Optionen, die sich aus der Mittellage der Russischen Föderation in und zwischen Europa und dem Orient ergeben, spielen sich vor dem Hintergrund ungelöster innergesellschaftlicher Spannungen ab, die konfliktträchtig sind (wie z.B. religiöse sowie russische Minderheiten in den neuen unabhängigen postsowjetischen Staaten). Vor diesem Hintergrund wird eine sozial- und kulturwissenschaftliche Diskussion über Westeuropa und die anderen Nachbarn der Russischen Föderation entweder implizit oder explizit ideologiebehaftet und wenig erkenntnisorientiert betrieben. Dies geschieht auch, weil empirische sozial- und kulturwissenschaftliche Studien über die Verhältnisse in Europa, die Beziehungen seiner Einzelstaaten zueinander, aber auch zu Russland bisher nur sehr eingeschränkt vorliegen (Belokurova 2002). Dieses Defizit an russischer empirischer Sozialforschung kann hauptsächlich durch eine fehlende empirische Forschungstradition in der ehemaligen Sowjetunion sowie durch mangelnde Eigenmittel der russischen wissenschaftlichen Institutionen zur Durchführung solcher Studien erklärt werden. Ein zentrales Ziel der Forschungslinie ist, die Vielfalt und Heterogenität dieses transkontinentalen Kulturraumes mit seinen Bezügen und Verflechtungen zum übrigen Europa zu beleuchten. Damit sollen die soziokulturellen Gegebenheiten und Voraussetzungen für das aktuelle Bemühen um ein erweitertes Europa und seine gesellschaftlichen Strukturierungen durch Differenzierungen, Verflechtungen und Entgrenzungen offen gelegt werden. Europa und Russland sowie Deutschland in Europa sind Ausgangspunkte sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschungen, die der Analyse gesellschaftlicher Phänomene dieses erweiterten Raumes, der seit jeher durch seine Transkulturalität entlang der Seidenstraße geprägt ist, und seiner Anrainer dienen sollen. Ein weiteres Ziel der Forschungslinie ist die Überprüfung der Brauchbarkeit der russischen Eurasiendebatte als Anknüpfungspunkt für eine sozial- und kulturwissenschaftliche Bearbeitung der Differenzierungen, der Verflechtungen und der Entgrenzungen des europäischen Raumes. Da Eurasien ein ideologiebehaftetes Konzept darstellt und nur unzureichend als Ganzes empirisch operationalisiert werden 16

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11- 17) T00_07 vorwort neu.p 39245533636

Vorwort: Auf der Suche nach Eurasien

kann, werden die vom ZDES aufgeworfenen Fragestellungen in intensiver vergleichender empirischer Forschung in Teilstudien bearbeitet. Die russische Standortbestimmung zwischen Europa und Asien sowie die damit verbundenen politischen Vorstellungen sollen mit dem Instrumentarium der empirischen Sozialwissenschaften und ihrer Erkenntnisorientierung begleitet werden. Dazu ist eine intensive Kooperation verschiedener Disziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften und vor allem russischer und deutscher Wissenschaftler vorgesehen. Die vorliegende Anthologie versteht sich vor dem Hintergrund der jungen institutionellen Etablierung des ZDES und ist angesichts der Komplexität der Aufgabe ein Reader, der den Forschungsstand anhand der Vielfalt der Perspektiven der Beteiligten, der Problemstellungen und Forschungsfragen aufzeigen will: Es geht weniger um die Präsentation von fertigen Antworten, als vielmehr darum, eine Diskussion in Gang zu bringen.

Literatur Belokurova, Elena (2002): »Deutschland und Europastudien in Russland. Forschungsstand, Defizite und Probleme«. In: http://www. mediasprut.ru/rus/index.shtml, Stand 2003. Hann, Chris (Hg.) (2002): Postsocialism – Ideas, Ideologies and Practices in Eurasia, London/New York: Routledge. Humphrey, Caroline (2002): »›Eurasianismus‹ – Ideologie und politische Vorstellungen in der russischen Provinz«. In: Chris Hann (Hg.), Postsozialismus – Transformationsprozesse in Europa und Asien, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 373-396. Said, Kurban (2002): Ali und Nino, München: Ullstein. Thumann, Michael (2002): Das Lied von der russischen Erde. Moskaus Ringen um Einheit und Größe, Stuttgart/München: DVA.

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11- 17) T00_07 vorwort neu.p 39245533636

2003-12-10 13-34-39 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S.

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) vakat 018.p 39245533692

Verortung und Raumaneignung

2003-12-10 13-34-39 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S.

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) T01_00 resp einleitende beiträge.p 39245533740

2003-12-10 13-34-39 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S.

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) vakat 020.p 39245533844

Wo ist Europa?

Wo ist Europa? Rüdiger Korff Im Buch »Ach Europa« von Hans Magnus Enzensberger findet sich ein fiktives Interview mit dem ersten Präsidenten Europas. Er beschreibt Europa als ein fraktales, d.h. chaotisches, ungeordnetes Objekt. »Was die europäische Gesellschaft betrifft, so ist sie tatsächlich bis in ihre Mikrostruktur hinein irregulär, und der Versuch, hier im traditionellen Sinn Ordnung zu schaffen, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. […] Der Mischmasch ist unsere endgültige Gestalt. […] Das, was Sie Chaos nennen, ist unsere wichtigste Ressource. Wir leben von der Differenz« (Enzensberger 1988: 483f.).

Liegt also die Stärke Europas in der Diversität, im Chaos, in der Unregierbarkeit? Ergab sich Europas dominierende Position in der Welt des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Unordnung? Darin, dass in Europa alle Versuche, ein einziges, das gesamte Europa dominierendes Herrschaftssystem zu etablieren, gescheitert sind? Ist die Stärke eben genau die Absenz eines Großmoguls, eines Kaisers, eines Sultans oder eines Zaren? Europa war nie so fragmentiert wie Afrika südlich der Sahara und gleichzeitig nie so stark staatlich integriert wie das Osmanische Reich, Indien oder China. Das eigentliche Kennzeichen Europas war und ist das Nebeneinander politischer Systeme, kultureller Strömungen und Organisationen. Kennedy weist nach, dass Europa »aus einem Gemenge kleiner unbedeutender Königreiche und Fürstentümer, Markgrafschaften und Stadtstaaten« bestand (Kennedy 1996: 30). In Europa konnte sich keine dominante Ordnung etablieren. Stattdessen ist die Pluralität von Ordnungen konstitutiv, durch die je unterschiedliche, sich teilweise überlagernde Einheiten geschaffen wurden, nie aber ein integriertes Europa. Tatsächlich führten alle Versuche, in Europa »Ordnung zu schaffen« – sei es durch die Päpste, Kaiser, durch Napoleon oder, am schlimmsten, durch Hitler – zu einem Zusammenbruch der Zivilisation. In seiner Kritik des Orientalismus weist Edward W. Said (1978) darauf hin, dass der Orient eine europäische Konstruktion sei; genauer, die Konstruktion eines homogenen Orients, der von einem weitgehend homogenen Okzident unterschieden werde. Der Erfolg dieser Kon21

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struktion ergibt sich aus den Machtverhältnissen. Die spätestens seit dem 19. Jahrhundert bestehende Dominanz Europas gegenüber dem Orient erlaubte es, dass der Begriff bzw. die Idee sowohl eines Europas als auch eines Orients realisiert werden konnte. »Der Orient wurde ›orientalisiert‹, nicht nur weil er als orientalisch entdeckt wurde, sondern weil er zum Orient gemacht werden konnte« (Said 1978: 5f., übersetzt von R.K.).

Der Vordere Orient eignete sich gerade wegen der engen Verbindungen und den vielen Gemeinsamkeiten zwischen Europa und dem Orient zur Konstruktion des Anderen. Interessanterweise wird mit Orient ja nicht der Ferne Osten identifiziert, sondern der islamische Rand des Mittelmeeres. Das Konstrukt »Orient« wird weitgehend mit der traditionellen islamischen Welt identifiziert, zu der tatsächlich immer enge Beziehungen von Europa aus bestanden. Die kulturellen Überlagerungen zeigen sich deutlich in der Medizin, der Hygiene (auch wenn es Jahrhunderte dauerte, bis die europäischen Standards sich den islamischen annäherten) und nicht zuletzt im Städtebau des späten Mittelalters. Die Idee, wie eine Stadt auszusehen habe, wurde in den Kreuzzügen gewonnen, als die barbarischen Ritter plötzlich mit einer »urbanen« Kultur konfrontiert wurden (Guidoni 1980). Der Fokus von Saids Studie ist die Schaffung des Orients. Er zeigt allerdings auch, dass nicht nur der Orient eine westliche Idee ist. Weder der Orient noch Europa sind einfach da oder einfach gegeben. Regionen und geographische Sektoren wie Orient und Okzident sind von Menschen geschaffen. Deshalb ist der Orient, ebenso wie Europa, vor allem eine Idee, die mit einer materiellen Vorstellung und Geistesgeschichte, mit Bildern und einem Vokabular zu einer Realität gemacht wurde (Said 1978: 4f.). Die Konstruktion und Kreation des Orients geht mit der Konstruktion und Kreation Europas einher. So wie die Kreation des Orients über Machtverhältnisse und Dominanz erfolgen konnte, so ist auch Europa auf der Grundlage von Machtverhältnissen und sich wandelnden Dominanzen geschaffen worden. Mehr noch, die Konstruktion Europas ist interdependent mit der Konstruktion des Orients verbunden, d.h., Okzident und Orient sind gleichzeitige Kreationen, denn die eigene Einheit lässt sich nur über die Referenz und in Konfrontation zu etwas anderem schaffen. Europa dient dabei 22

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als Begriff, um einerseits eine umfassende Kollektivität zu definieren, die es an sich nie gab, und um andererseits diese Fiktion von einer anderen Fiktion, dem Orient, abzusetzen. Aus dieser Perspektive möchte ich die These aufstellen, dass es bei der Konstruktion des Orients vor allem darum ging, ein Europa zu konstruieren. Inzwischen lässt sich derselbe Prozess mit anderem Vorzeichen nachweisen. Vor allem in den Staaten des Fernen Ostens wird ein »Okzidentalismus« (Lee 1994) betrieben, um das Konzept einer »asiatischen Modernisierung« zu ermöglichen. Asiatische Modernisierung heißt: Übernahme der Errungenschaften des Westens (Technologie, Wirtschaft), ohne asiatische Werte aufzugeben (Mahathir/Ishihara 1995; für eine zusammenfassende Diskussion siehe Wee 1996).

Dekonstruieren wir Europa In den modernen Diskursen sowohl innerhalb Europas als auch in der Kritik Europas wird von einer kulturellen Homogenität ausgegangen, die mehr oder weniger mit einer geographischen Einheit, die irgendwo im Westen liegt, identifiziert wird. Von asiatischen Wissenschaftlern und Politikern wird deutlich gemacht, dass mit »western thought« asiatische Gesellschaften nicht analysiert werden können und der europäische Weg zur Moderne für Asien nicht gilt bzw. modifiziert werden muss. »Western thought« meint in Südostasien natürlich nicht indische Philosophie, sondern bezieht sich auf »europäische« und »amerikanische« Soziologie, Anthropologie und Philosophie. Betrachten wir Europa auf der Landkarte und machen wir uns bewusst, was alles zum geographischen Europa gehört, dann sind die kulturellen, ökonomischen und politischen Differenzen unübersehbar. Geographisch beginnt Europa in Portugal und hört am Ural auf. Zu Europa gehören natürlich die westlichen Länder der heutigen EU, aber auch Teile der Türkei, die Tatarensteppe und die Schweiz. Andererseits trennt das geographische Europa kulturell und politisch zusammengehörige Gebiete wie den Mittelmeerraum, den Atlantik sowie die Länder Türkei und Russland. Nun mag ein Gebirge wie der Ural tatsächlich eine kulturelle Wasserscheide darstellen, doch gilt dieses kaum für einen Fluss wie die Wolga, der eher einer Hauptverkehrsstraße entspricht. Auch habe ich Zweifel, dass Istanbul eine Stadt ist, die kultu23

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rell durch den Bosporus getrennt wird. Kurz, die geographische Einheit »Europa« lässt sich kaum mit einer kulturellen Einheit verbinden. Was ist aber die kulturelle Einheit »Europa«? Ein Bestimmungshintergrund für Europa ist die Antike, die uns auch den Namen »Europa« vermittelt hat. Die Geschichte der Europa verdient eine kurze Erwähnung. Europa war Phönizierin, also Asiatin. Sie wurde von dem als Stier verkleideten Zeus erst ver- und dann entführt, um auf Kreta ›sitzen gelassen‹ zu werden. Bevor Europa mit Zeus in Kontakt trat, hatte sie einen Traum: Ihre Mutter – Asien – trauert um den Verlust der schönen Tochter. Sie wird aber von den Göttern mit dem Hinweis beruhigt, dass ihre Tochter die Mutter der Europäer sein werde (Le Goff 2001). Europa baut auf der griechischen und der römischen Antike auf, was sich deutlich in der Schrift, den Sprachen und dem allgemeinen europäischen Kulturgut zeigt. Wir alle haben griechische und römische Sagen gelesen; einige haben Latein und Griechisch gelernt, um eine wahre humanistische Bildung zu erfahren. Leider zeigt ein genauerer Blick, dass sich aus der Antike keine Bestimmung Europas ableiten lässt. Das Zentrum der griechischen Antike war die Ägäis, und das Römische Reich basierte auf dem Mittelmeer und nicht auf Europa. Auch das aus der Antike stammende Christentum hat eine nicht-europäische, nämlich eine semitische Wurzel. Darum muss die Frage berechtigt sein, warum die Einflüsse, die sich aus der langen Zeit der mongolischen Herrschaft über einen Großteil Europas ergaben, keine Rolle spielen sollten und nicht als europäische Kulturgüter gesehen werden. Warum werden germanische und slawische Kontexte nur selten als Bestandteil europäischer Kultur skizziert? Nach Brague (1996) lassen sich drei Bestimmungshintergründe Europas skizzieren. Das Problem ist jedoch, dass damit immer nur Teile Europas bezeichnet werden können. Diese Teile sind wiederum Bestandteile größerer Einheiten, die mit Europa nichts mehr zu tun haben. Europa ist demnach keine abgegrenzte Einheit, sondern ein Schnittpunkt.

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Bestimmungen Europas – Europa bestimmt sich durch die Antike, speziell durch das hellenistische Erbe. Zweifellos spielen die Antike und der Hellenismus als Grundlagen des Humanismus für die Geistesgeschichte Europas eine zentrale Rolle. Nun lag allerdings der größte Teil der hellenistischen Welt im heutigen Orient. Tatsächlich wurde im Orient das hellenistische Erbe erhalten – wie etwa die Schriften der griechischen Philosophen – und nicht in Europa. – Europa ist überwiegend christlich. Andere Religionen, allen voran der Islam, werden nur von Minderheiten gepflegt. Des Weiteren ist das Christentum ein sinnvolles Unterscheidungsmerkmal zwischen Europa und dem islamischen Orient. Zur Religion gehören Ethik und Moral, die einen prägenden Einfluss auf alle kulturellen Entwicklungen haben. Das Christentum ist jedoch nicht auf Europa begrenzt, und die heiligen Stätten des europäischen Christentums liegen in der muslimischen Welt. Obwohl heute das Christentum die dominierende Religion in Europa ist, hatte es diese Stellung bis in die Neuzeit hinein nicht inne. Der Islam wurde erst in der Folge vieler Kriege aus Europa herausgedrängt. Außerdem ist das Christentum in sich nicht einheitlich, sondern gliedert sich hauptsächlich in drei unterschiedliche Kirchen. Wird das orthodoxe Christentum einbezogen, läge ein weiteres Zentrum Europas, nämlich Byzanz, innerhalb der heutigen muslimischen Welt. Auch die Verkündigung von Iwan dem Schrecklichen, dass Moskau in der Nachfolge Konstantinopels das dritte Rom sei, beinhaltet nicht, dass die orthodoxe Christenheit problemlos Europa zugeschlagen werden kann. »Begnügen wir uns mit der Feststellung, dass die Gebiete der orthodoxen Christenheit irgendwo zwischen Byzanz und Europa angesiedelt sind. Folglich ist der Grad ihrer Nähe, das Ausmaß ihres Wunsches, der gleichen kulturellen Einheit wie Europa anzugehören, eine Frage, die nur an sie gestellt und nur von ihnen beantwortet werden sollte und nicht von Westeuropäern« (Brague 1996: 51).

– Europa lässt sich mit dem lateinischen Christentum identifizieren. Zwar bleibt so nur ein auf den Westen begrenztes Rest- oder Mini25

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maleuropa, doch lassen sich europäische Traditionen bis in die Antike nachweisen. Tatsächlich war die römische Kirche zweifellos der Hauptnachfolger der römischen Antike, und die Kirche dominierte für lange Zeit kulturell und teilweise auch politisch einen großen Teil Europas. Doch das lateinische Europa ist der westliche Nachfolger Roms. Das oströmische Reich, das bis ins 14. Jahrhundert zweifellos entwickelter als das westliche Europa war, ist der östliche Nachfolger Roms mit eigenen kulturellen Wurzeln und Hintergründen (Sprache, Schrift etc.). Das östliche Europa gehört zweifellos nicht zum Orient, lässt sich aber auch nicht zum lateinischen Europa zählen. Wollen wir ein Europa auf antiken Traditionen aufbauen, sollten wir uns nicht auf den »unterentwickelten« Teil beschränken. Weder von Traditionen (Antike) ausgehend, noch entlang religiöser Abgrenzungen (Christentum) lässt sich ein Europa bestimmen. Gibt es überhaupt ein Europa?

Hegemonie in Europa und Definitionen Europas Ähnlich wie die Bestimmung des Orients über seine Versuche erfolgte, Hegemonie zu erreichen, so vollzog sich die Konstruktion Europas in den Versuchen, eine Hegemonie in Europa durchzusetzen. So gesehen war Karl der Große tatsächlich der erste »Europäer«, und Napoleons Unternehmungen lassen sich als Versuche, eine »Europäische Gemeinschaft« zu schaffen, verstehen. Europa besteht aus Teilen, aus Regionen, die durch spezifische kulturelle Strömungen geprägt sind. Entscheidend ist, dass sich aus den Interaktionen dieser Strömungen neue Entwicklungen ergeben konnten. Allerdings stehen die Regionen nicht einfach nebeneinander, sondern in Beziehung zueinander durch Interdependenzen, die sich über Machtdifferenziale charakterisieren. Kennedy (1996) sieht darin einen wichtigen Grund, warum Europa sich rapide entwickelte, während die anderen Großreiche eher stagnierten. Die dezentralen und fragmentierten Herrschaftsverhältnisse machten eine umfassende Unterdrückung unmöglich, und die wirtschaftliche und militärische Konkurrenz der Königs- und Fürstentü-

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mer verlangte eine schnelle Adaption an neue Technologien, um bestehen zu können (Kennedy 1996: 48ff.). Aus der militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Konkurrenz der unterschiedlichen Einheiten Europas resultierten Versuche, eine bestehende Dominanz vor allem kriegerisch durchzusetzen. Parallel dazu oder als Alternative, falls militärische Dominanz sich nicht herstellen ließe, wurde versucht, sich selbst in kultureller Hinsicht als das eigentliche Europa zu stilisieren. Diese Strömungen lassen sich mit Regionen identifizieren, in deren Zentrum eine Stadt steht. Das latinisierte, traditionalistische Europa mit Rom als Zentrum Dazu gehört vor allem der südliche Teil Europas. Madrid, der Wohnort der »allerkatholischsten« Majestäten, lässt sich als abgeleitetes Zentrum beschreiben. Dieses Europa ist eng verbunden mit »Latein«-amerika. Einige der Päpste und die spanischen Habsburger versuchten, eine Dominanz über Europa sowohl kulturell (Katholizismus) als auch militärisch durchzusetzen. Beides hing eng miteinander zusammen, sodass die Hauptaufgabe der spanischen Habsburger tatsächlich der Kampf gegen den sich in Deutschland und Holland ausbreitenden Protestantismus (Schmalkaldischer Bund) und den osmanischen Islam war. Das byzantisierte, slawisch/orientalische Europa mit Moskau als Zentrum Dazu gehören Teile des Balkans und große Bereiche Osteuropas. Nicht nur politisch ragt dieser Teil Europas weit nach Asien hinein. Bis zur Zeit Peters des Großen war die russische Politik durch Abgrenzung zum westlichen Europa gekennzeichnet. Wenn der Zar, was sehr selten vorkam, ausländische Besucher empfing, musste er sich im Anschluss daran rituell waschen. Bis zur Gründung Sankt Petersburgs lebten Ausländer in eigenen spezifischen Vierteln Moskaus, getrennt von der russischen Bevölkerung. Von Russland ging deshalb weniger eine militärische Bedrohung als eine starke Abgrenzung aus. Militärische Auseinandersetzungen betrafen vor allem die Türken und bezogen sich auf die Dominanz des nördlichen Balkans und des Schwarzen Meeres.

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Das germanisierte, protestantische Europa mit Amsterdam und London als Zentrum Dazu gehören das nördliche, protestantische Europa und große Bereiche Nordamerikas. Tatsächlich ist das moderne Europa vor allem an der Ostküste der USA entstanden. Militärische Versuche, Dominanz durchzusetzen, fanden nicht statt. (Nur Gustav Adolfs Intervention im Dreißigjährigen Krieg ließe sich als ein – allerdings sehr begrenzter – Versuch interpretieren) Dieser Pol setzte sich vor allem kulturell und wirtschaftlich durch. Das latinisierte, universalistisch-rationalistische Europa mit Paris als Zentrum Man kann von Zentren sprechen, zu denen allerdings keine klar abgegrenzten Territorien gehören. Die Pole bezeichnen nur gewisse unterschiedliche politische und kulturelle Strömungen, die sich überlagern und verbinden können. Der Bezug auf Religionen (Katholizismus, Protestantismus und Orthodoxie) als erster Referenzpunkt begründet sich darin, dass diese Religionen für lange Zeit den Rahmen kultureller Integration, staatlicher Legitimation und gesellschaftlicher Sinngebung darstellten und noch in der Gegenwart einen Hintergrund für Kultur und Moral bilden. Die Polarität und das Gefälle zeigen sich in alltäglichen Meinungen. Einerseits existiert eine explizite Nord-Süd-Achse, in der der kultivierte Südländer, der Wein trinkend sein Leben genießt, dem über seinen Fleiß und Erfolg das Leben vergessenden Nordländer gegenübergestellt wird. Diese Sichtweise wird nicht nur vom Norden oder Süden propagiert, sondern beide finden sich darin wieder. Ähnlich gibt es eine West-Ost-Achse, durch die der aufgeklärte moderne, zivilisierte und vernünftige Westler dem Traditionen verbundenen, gemeinschaftsorientierten Ostler gegenübergestellt wird. Diese Nord-Süd- und West-Ost-Unterscheidung verläuft zum einen durch Europa als Ganzes, und zum anderen findet sie sich mehr oder weniger modifiziert in den jeweiligen Ländern wieder. In Deutschland gibt es den lockeren Rheinländer und den genussvollen Süddeutschen gegenüber dem unterkühlten Norddeutschen und den immer noch mit Sehnsucht an Nischen und preußische Ordnung denkenden Ostdeutschen. In Italien drückt sich diese Differenz als Konflikt zwischen der »modernen«, wirtschaftlich entwickelten Lombardei und dem unterentwickelten Mezzogiorno aus. 28

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Den geographischen Polen sind zwei Dynamiken inhärent: Einerseits Hegemonie in Europa, d.h., die spezifischen Charakteristika des Poles werden als die Charakteristika Europas insgesamt beschrieben und zu institutionalisieren versucht; andererseits die Abgrenzung gegenüber einem Orient und den anderen Polen Europas. Dieses wird vor allem in der Auseinandersetzung mit der slawisch-russischen Welt deutlich, die erst unter Peter dem Großen gegen starke interne und externe Widerstände als ein Teil Europas begriffen wurde. Russland wurde von den Westeuropäern kaum als Teil Europas gesehen. Ebenso gab es in Russland eine scharfe Kritik an den Politiken der Westorientierung unter Peter. Bis in die Gegenwart finden sich starke Strömungen einer »Ost«-Orientierung Russlands und der slawischen Welt. Während Westeuropäer sich alleine schon aus Gründen der Geographie als Europäer begreifen können bzw. müssen, gilt dieses für Russen nicht. In diesem Zusammenhang ist vor allem Sibirien interessant. Es fand eine starke Migration von Russen und anderen Europäern, vor allem Deutschen, nach Sibirien statt. Sibirien gehört zu Asien, doch als was bezeichnen sich die vor langer Zeit eingewanderten »europäischen« Sibirier? Der Unterschied zwischen Westeuropäern und den asiatischen Sibiriern besteht in mindestens drei Möglichkeiten: 1. sich als russischer Sibirier zu verstehen, 2. sich als Russe zu begreifen, der in Sibirien lebt, oder 3. als europäischer (russischer, deutscher etc.) Sibirier. Dieses gilt für die asiatischen Bewohner Sibiriens natürlich sehr viel weniger. Ähnliche Abgrenzungsbestrebungen bestanden und bestehen in Großbritannien, das sich immer nur bedingt als Teil Europas sah. Großbritannien war das Zentrum eines weltumfassenden Imperiums mit der Aufgabe, eine weltweite Pax Britannica zu etablieren, während die Involvierung in europäische Angelegenheiten seit Napoleon eher gezwungenermaßen eingegangen wurde. Deutschland ist in diesem Kontext ein interessanter Fall. In Mitteleuropa gelegen, verlaufen die Achsen mehr oder weniger mitten durch Deutschland. Historisch gesehen, hatten die Reiche, die sich als Nachfolger der römischen Antike sahen, dort ihren Schwerpunkt. Diese Kontinuität wurde schon im Namen des »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation« deutlich. Auch die späteren Habsburger Kaiser verstanden sich als Europäer, denn sie beherrschten weitgehend das latinisierte Europa. Die davon unabhängigen Reiche, im Grunde nur 29

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Frankreich und England, verfolgten eine Politik der nationalen Integration und später des Kolonialismus, also der Herauslösung aus Europa. Der Zusammenbruch des Kaiserreiches im Dreißigjährigen Krieg hatte eine Verstärkung und Festigung der unabhängigen Staaten (Frankreich, England, Holland, Schweden) zur Konsequenz und in Deutschland die Kleinstaaterei. Für die nächsten zwei Jahrhunderte, in denen anderwärts die Grundlagen für Nationalstaaten geschaffen wurden, war in Deutschland nur ein Bezug auf die Lokalität oder auf eine umfassendere Einheit »Europa« denkbar. So erstaunt es nicht, dass sich die Aristokratie im Hofprotokoll am französischen oder spanischen Hof orientierte und sich über Heiraten tatsächlich »europäisierte«. Die in den deutschen Kleinstaaten kaum geduldeten Intellektuellen mussten sich, nicht zuletzt wegen des Zwangs zur Emigration, als europäische Denker sehen, für die Grenzen ebenso wenig Bedeutung hatten wie für die Aristokraten. Mehr noch, sie mussten die Grenzen überwinden, um der Verfolgung durch die adligen Machthaber zu entgehen. Nachdem es in den Kämpfen gegen Napoleon und der Revolution von 1848 in Deutschland nicht gelang, nationale Institutionen aufzubauen und einen Nationalismus zu etablieren, glückte einem Mann der Aufbau einer Nation, der sich nie als Deutscher, sondern als preußischer Europäer verstand: Bismarck. Angesichts dieses Hintergrundes konnte in Deutschland nur ein pervertierter Nationalismus entstehen (Elias 1989). Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich in Deutschland wieder die alte Frage: Identifizierung mit einer kleinen Region oder mit einem Europa. Auch der Anschluss der DDR hat daran nichts geändert. Im Gegenteil, interne Abgrenzungen haben eine starke Wiederbelebung erfahren. Deutschland ist deshalb auf Europa als Einheit, mit der man sich identifizieren kann, angewiesen, denn ein deutscher Nationalismus, der auf mehr basiert als auf den Polemiken eines Kaisers oder denen gewalttätiger Skinheadgruppen, ist unwahrscheinlich. In Deutschland fehlen nationale Mentalitäten und nationale Traditionen. Hier treffen unterschiedliche europäische kulturelle Einflüsse zusammen. Weder Bonn noch Berlin sind kulturelle Zentren für die Deutschen, sondern Paris, London und Rom. Die Situation in Russland ist ebenfalls höchst interessant, denn Russland gehört nicht nur geographisch sowohl zu Europa als auch zu 30

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Asien. Diese Spannung bietet ein kreatives Potenzial, wie es u.a. in der Literatur ausgedrückt wird. Politisch stellt sich diese Spannung als ein Konflikt zwischen aufgeklärter, liberaler und von Vernunft geprägter Herrschaft gegen Formen des Despotismus dar. Bietet nicht auch das aktuelle Durcheinander in Russland die notwendigen Freiräume für neue Entwicklungen?

Das europäische Chaos Das europäische Chaos resultiert daraus, dass sich bislang nie eine europaweite hegemoniale Macht durchsetzen konnte. Nie hat ein unbestrittenes europäisches Reich bestanden. Dem am nächsten kommt, jedenfalls für Westeuropa, das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation«, das allerdings immer in einem Konflikt mit der anderen, nach Hegemonie in Westeuropa strebenden Macht stand: der katholischen Kirche. Ein politisch oder ein kulturell einheitliches Europa bestand niemals. Zwei Gründe lassen sich dafür aufführen: – Von Amin (1975) wird herausgestellt, dass in und nach der Antike Westeuropa eher als unterentwickeltes Gebiet angesehen werden müsse. Lewis (1996) belegt, dass die islamische Welt Westeuropa als eine von Barbaren bewohnte Wildnis angesehen habe, die eventuell über Missionstätigkeiten »entwickelt« werden könne. Ganz im Gegensatz zu Byzanz, das als ein konkurrierendes Reich wahrgenommen worden sei. Brague (1996) weist darauf hin, dass Westeuropa, geprägt durch einen Minderwertigkeitskomplex, ein Parvenü-Kontinent sei. Darüber hinaus meint er, dass »[d]ie lateinische Welt philosophisch gesehen arm [ist], und diese Armut öffnet sie nach außen« (Brague 1996: 60). – Von Service (1977) ausgehend sind feudale Herrschaftsformen nicht, wie noch Marx annahm, als Entwicklungsstadium aus der Antike zu verstehen, sondern als unterentwickelte Formen von Herrschaft, die sich aus einem Zusammenbruch ergeben. Da umfassendere Integrationsformen fehlen, entsteht eine stark fragmentierte Form der Herrschaft. Tatsächlich ist der westeuropäische Feudalismus nach dem Zusammenbruch der Antike auf der Grundlage simplifizierter germanischer Herrschaftsformen ent31

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standen. Die einzige überlokale Organisationsform war die Kirche. Die Schwäche der feudalen Herrschaften äußerte sich darin, dass sie nicht dazu in der Lage waren, räuberische Übergriffe etwa der Wikinger, Ungarn, Normannen usw. zu kontrollieren, eine funktionierende Ökonomie aufzubauen oder sich der in der Antike bekannten Technologien zu bedienen. Erst mit der Renaissance war die Entwicklung so weit fortgeschritten, dass an die Antike angeknüpft werden konnte. Eine Frage ist, warum diese Wildnis nicht von den starken Reichen (islamische Reiche, Byzanz) eingenommen wurde. Wahrscheinlich liegen die Gründe dafür zum einen in der peripheren Lage Westeuropas und zum anderen darin, dass es einfach nichts zu bieten hatte.

Die europäische Moderne Trotz der vorhergehenden Dekonstruktion Europas ist ein Fakt unbestreitbar: die Identifizierung von Europa mit Modernität. Jedoch gilt diese Identifizierung nur für einen kleinen Teil Europas, nämlich einerseits für den protestantischen und andererseits für den universalistisch-rationalistischen Teil Europas. Beide liegen im nördlichen Westeuropa. Dort entwickelten sich eben die Institutionen, die Modernisierung hervorbrachten und in denen Modernität erfunden wurde, wie der Nationalstaat, Zweckrationalität, Universalismus, Humanismus, Demokratie, Industrie etc. Mit der Modernisierung dieses Teiles von Europa ging eine massive Verlagerung der Machtdifferenziale einher, und es bestand einzig die Alternative, sich dem neuen Spiel anzupassen oder beherrscht zu werden. Mit der Weltherrschaft Englands als Kolonialmacht und Frankreichs als »rationaler« Macht ging das Entstehen eines modernen Europas einher. Trotzdem ist das Chaos nicht aufgehoben. Modernisierung betrifft weder alle Bereiche des Alltags in Europa noch alle Teile des Kontinents. Pluralität ist weiterhin das Hauptkennzeichen Europas.

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Globalisierung als Europäisierung? Globalisierungsprozesse verstärken die Konstruktion Europas noch. Wie Lee (1994) zeigt, wird Europa inzwischen nicht mehr nur von Europäern gebaut, sondern zunehmend auch von Asiaten und Afrikanern. Die Bilder, die in Asien und in Afrika von Europa gezeichnet werden, unterscheiden sich, doch haben sie gemein, dass Europa mit Modernität gleichgesetzt wird. Globalisierungsprozesse verstärken die interne Integration Europas in Form der EU und deren Abgrenzung zum Rest der Welt. Diese Abgrenzung zeigt sich am deutlichsten gegenüber Asylsuchenden, ebenso aber auch gegenüber wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen vor allem in Asien. Zwar gilt China als großer Markt und billiger Produzent einfacher Massengüter, doch nicht als wirklicher Konkurrent. Auch dass Computertechnologien und -komponenten vor allem in Ost- und Südostasien produziert werden, wird weitgehend ignoriert. Dies gilt nicht zuletzt auch für die deutsche Soziologie. In seiner Betrachtung der deutschen Soziologie der Gegenwart zeigt Albrow (1996), dass in vielen Arbeiten die deutschen Gegebenheiten ohne Bezug oder ohne Vergleich zu den Bedingungen andernorts analysiert werden. »The need clearly is for contemporary German sociology to review their working, in particular in relation to the rest of the world« (Albrow 1996: 442).

Hahn stellt in Bezug auf die deutsche Soziologie die nicht nur rhetorische Frage: »Nach dem Anschluß (und der daran folgenden Selbstbefassung) nun der Verlust der Anschlußfähigkeit an eine internationale Dimension von Gesellschaft und Gesellschaftstheorie?« (Hahn 1996: 403).

Dieses sich abgrenzende und von außen konstruierte Europa ist allerdings nicht mit dem Kontinent identisch. In beiden Fällen wird Europa mit dem nördlichen Westeuropa identifiziert. Die in den Bildern von Europa gezeichnete Einheit und Homogenität ist fiktiv. Auch heute noch ist Europa durch Diversität und Vielfalt gekennzeichnet. Verstehen wir Globalisierung als Zunahme von Diversität und Pluralisierung, 33

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so stellen wir fest, dass zunehmend die Kennzeichen Europas zu Kennzeichen der Welt werden. In diesem Sinne ist Globalisierung zweifellos »Europäisierung«.

Literatur Albrow, Martin (1996): »German Sociology under the Spell of Modernity«. In: Soziologische Revue 19 (4), S. 437-442. Amin, Samir (1975): Die ungleiche Entwicklung, Frankfurt a.M.: Syndikat. Brague, Rémi (1996): »Orient und Okzident. Modelle römischer Christenheit«. In: Otto Kallscheuer (Hg.), Das Europa der Religionen, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 45-67. Elias, Norbert (1989): Studien über die Deutschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Enzensberger, Hans Magnus (1988): Ach Europa, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Guidoni, Enrico (1980): Die Europäische Stadt. Eine baugeschichtliche Studie über ihre Entstehung im Mittelalter, Stuttgart: Klett-Cotta/ Electa. Hahn, Alois (1996): »Vorwort«. In: Soziologische Revue 19 (4), S. 401403. Kennedy, Paul M. (1996): Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt a.M.: Fischer. Le Goff, Jacques (2001): Le Goff erzählt die Geschichte Europas, Frankfurt a.M.: Campus. Lee, Raymond L.M. (1994): »Modernization, Postmodernism and the Third World«. In: Current Sociology 42 (2), S. 1-66. Lewis, Bernard (1996): »Die islamische Sicht auf und die moslemische Erfahrung mit Europa«. In: Otto Kallscheuer (Hg.), Das Europa der Religionen, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 67-96. Mahathir, Mohamad/Ishihara, Shintaro (1995): The Voice of Asia. Two Leaders discuss the coming Century, transl. by Frank Baldwin, London/New York: Kodansha International. Said, Edward W. (1978): Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London/New York: Penguin. 34

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Wo ist Europa?

Service, Elmar R. (1977): Die Ursprünge des Staates und der Zivilisation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wee, Wan-ling (1996): »The Clash of Civilizations? Or an Emerging East Asian Modernity?«. In: Sojourn 11 (2), S. 211-231.

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Hans-Dieter Evers, Markus Kaiser

Eurasische Transrealitäten – Das Erbe der Seidenstrasse 1 Hans-Dieter Evers, Markus Kaiser Europa und Asien: zwei Kontinente, zwei Zivilisationen, zwei pulsierende Wirtschaftszonen, doch eine Landmasse, die sich von Madrid bis Merauke, von Stockholm bis Singapur, von Moskau bis Madras, von Bonn bis Peking erstreckt. Man kann eine Bahnfahrkarte in Bielefeld kaufen, um in einen Zug nach Peking über Moskau zu steigen, oder man kann mit dem Auto von Rom nach Shanghai über Taschkent fahren. Die Aufteilung dieser riesengroßen Fläche in zwei Kontinente ist nur eine Fiktion des menschlichen Verstandes, ein gesellschaftliches und kulturelles Konstrukt, angewendet auf einen geographischen Raum. Die Geschichte dieser Aufteilung kann zurückverfolgt und historisch erklärt werden, und dennoch ist es ein imaginäres, wenn auch starkes und wirkungsvolles Konzept, das Grenzen setzt und Unterschiede wahrt. Im Dezember 1999 wurde die Türkei offizieller Beitrittskandidat der EU. Doch die Europäische Union will erst im Dezember 2004 über die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei entscheiden. Sie begründet diese zeitliche Aufschiebung mit den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen seitens des türkischen Staates sowie mit der wirtschaftlichen Instabilität der Türkei. Die türkische Regierung jedoch sieht in diesem Aufschub ihre Ansicht bestätigt, dass einige europäische Politiker Europa und die »asiatische« Türkei als kulturell verschieden und damit als inkompatibel ansähen. Das orientalistische Konstrukt einer »asiatischen Kultur« zur Unterscheidung von einer »europäischen Zivilisation«, die ihren Höhepunkt während der Kolonialzeit erreichte, in der sie der Legitimation der imperialistischen Expansion diente, ist immer noch aktuell. Dabei werden den vom Werteverfall betroffenen westlichen Werten gute, wenn nicht sogar bessere, überlegenere »asiatische Werte« gegenüber1

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die übersetzte und überarbeitete Fassung des Aufsatzes »Two Continents, One Area: Eurasia«. In: Peter Preston/Julie Gilson (Hg.) (2001), The European Union and Pacific Asia: InterRegional Linkages in a Changing Global System, Cheltenham: Edward Elgar Publishing House, S. 65-90. Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeber.

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Das Erbe der Seidenstrasse

gestellt. In den letzten zwei Jahrzehnten hat Malaysia nach erfolgter nachholender Modernisierung auf der Suche nach asiatischen Werten, Produktionstechniken, Regierungsstilen und wirtschaftlichem Wohlstand wie die meisten anderen ASEAN-Staaten in »Richtung Osten geschaut«. Ein weiteres eindrucksvolles Bild einer Region bzw. eines Kontinents wurde konsequenterweise vor kurzem geschaffen: der so genannte »asiatisch-pazifische Raum« (Asia-Pacific Rim). Dieser Begriff wurde kreiert, um eine Region zu beschreiben, die Nordamerika und Ostasien – mit einigen späteren Erweiterungen auf beiden Seiten des Pazifischen Ozeans bis nach Lateinamerika und Südostasien – umfasst. Seitdem ist er zu einem mächtigen politischen Instrument geworden, um den Freihandel sowie die wirtschaftliche Liberalisierung voranzutreiben und US-amerikanische Interessen zu unterstützen. Die enormen Kapitalströme, die in den ost- und südostasiatischen Teil des asiatisch-pazifischen Raums geflossen sind, haben der Region einen außergewöhnlichen Aufschwung und wirtschaftliche Hochkonjunktur beschert. Die zerstörerischen Kräfte dieses »Kasino-Kapitalismus« bekamen die asiatischen Regierungen, deren Behörden und in besonderer Weise die unteren Einkommensschichten der ost- und südostasiatischen Gesellschaften zu spüren. Der »Blick nach Osten«, eine von Malaysias Premierminister Mahathir vollzogene Politik, kam zu einem jähen Ende. Vielleicht ist es nun an der Zeit umzukehren und in Richtung des lange vernachlässigten Nordens und Westens zu schauen, in Richtung der riesigen Landmasse, zu der Südostasien ja letztendlich nur eine territoriale Verlängerung darstellt. Im Wesentlichen gab es zwei große Verbindungsrouten zwischen Asien und Europa: die alte Seidenstraße und den Seeweg durch den Indischen Ozean. Der Seeweg dient immer noch der modernen Schifffahrt, aber die alte Seidenstraße wurde lange Zeit nicht genutzt. Könnte sie neu belebt werden?

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Eurasische Transrealitäten: Wiederbelebung der Seidenstraße Das Erbe der Seidenstraße Die Seidenstraße von China nach Europa ist als ein geokulturell und geopolitisch konstruierter Korridor zu verstehen. Historisch gesehen war der Fernhandel über große Entfernungen (z.B. über die Seidenstraße), der verschiedene Kulturen, Glaubenssysteme und Wissenskulturen netzwerkartig verband, eine frühe Art von Globalisierung. Die Handelsrouten, die den Kontakt zwischen Europa und Asien herstellten, haben im Laufe der Jahrhunderte viele Wissenschaftler, Händler und Abenteurer fasziniert, und unter diesen Routen war die Seidenstraße der weltweit älteste und historisch wichtigste interkontinentale Handelsweg; seine Einflüsse erstreckten sich sowohl über die Kulturen Asiens als auch Europas, über den Osten und den Westen. Seit ihrer Entstehung lange vor Christi Geburt, über das Goldene Zeitalter der Tang-Dynastie in China hinaus, bis zu ihrem allmählichen Niedergang vor etwa sechs- bis siebenhundert Jahren spielte die Seidenstraße im Außenhandel und in den politischen Beziehungen, die weit über die Grenzen Asiens hinausgingen, eine einzigartige Rolle (Haussig 1983; Hedin 1938). Sie hinterließ ihre Spuren in der Entwicklung der Zivilisationen auf beiden Seiten des Kontinents. Archäologische Ausgrabungen in den Steppen Russlands und Kasachstans brachten neue Erkenntnisse über die Zähmung des Pferdes, den Beginn des Reitens und die Einführung des Wagens. Diese Innovationen im Transportwesen bildeten die Voraussetzung für die Verbreitung der alten indoeuropäischen Sprachen und für die Ausdehnung des transkontinentalen Handels und der Kommunikation weit über die eurasischen Steppen hinaus (Anthony 1995). Es entstand ein eurasischer geokultureller Raum. Auf der Ostseite des Kontinents entwickelte sich die Zivilisation Chinas und auf der gegenüberliegenden Seite die des Westens. Die Seidenstraße war mindestens 4000 Jahre lang der Hauptkommunikationsweg zwischen dem Mittelmeer und China (Franck/Brownstone 1986: 1), der diese beiden dynamischen Wachstumspole der damaligen Welt verband. Nur durch die von der modernen archäologischen Technik zur Verfügung gestellten Hilfsmittel und den Zugang zu historischen Dokumenten verschiedener eurasischer Kulturen können wir uns 38

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Das Erbe der Seidenstrasse

heutzutage ein Bild von der Vitalität und vom konstanten Strom dieses Handelssystems machen: »The fragile threads of the Silk Road were always changing, waxing, and waning at the mercy of history. Roles changed as well as routes, as traders were joined by a mortey crew of diplomats, invaders, refugees, pilgrims and proselytisers en route to outrageous new lands« (MacLeod/Mayhew 1997: 201).

Laut Shimizu und Yakushik (1998: 22) bedeutet eine Route im geographischen Sinne »Verbindung«. Die historische Seidenstraße birgt die Vorstellung von einer solchen Linie auf der Landkarte, wie etwa die heute existierende oder geplante Infrastruktur der Pipelines, Straßen und Wege, Luftfahrtverbindungen, Eisenbahnlinien, Kommunikationsverbindungen usw. Moderne Binnenverbindungen innerhalb des kaspischen Raumes, die aus der sowjetischen Vergangenheit stammen, und darüber hinausgehende Verbindungen mit anderen Regionen sind nur schwach entwickelt. Darin zeigt sich, dass die Region des Kaspischen Meeres im 20. Jahrhundert von den globalen wirtschaftlichen und politischen Systemen auf gewaltsame Art und Weise abgeschnitten war (Shimizu/Yakushik 1998: 22). Die Wiederaufnahme der Verbindung zwischen Asien und Europa und zwischen den geographischen Nachbarn der einst längsten und hermetischsten Grenze der Welt ist ein Ergebnis des Zusammenbruchs der früheren Sowjetunion. Das alte und das neu entstehende Transportsystem für Waren, Personen und Ideen deutet auf eine Verknüpfung und Überlappung von Asien und Europa hin, die einen ständigen Fluss von Geld, Waren, Ideen, Eindrücken, Gesprächen und Personen ermöglichen werden. Die hin und her reisenden »Mittler« lassen neue Netzwerke entstehen, indem sie soziale Beziehungen aufbauen, erweitern und verfestigen. Das »Materielle« und das »Soziale« verbinden sich dabei, und räumliche Vorstellungen entstehen (Thrift 1996). Das »Materielle« kann dabei mit verschiedenen Bedeutungsinhalten aufgeladen werden, die die Veränderungen – ausgelöst und bedingt durch die Marktexpansion auf unterschiedlichen Ebenen – widerspiegeln. In einer sich globalisierenden Wirtschaft können Waren »Konsumhaltungen« in andere kulturelle Kontexte transportieren (Chua 1992, 2000), die von den Akteuren neu interpretiert und relokalisiert werden. Dies führt zur Integration und zur kulturellen Aneignung großräumiger Handlungskontexte. 39

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Lokalitäten bleiben also bestehen, während die Globalisierung stattfindet. Im Folgenden soll versucht werden, den eurasischen Integrationsprozess, den Aufbau einer Makroregion, entlang verschiedener Dimensionen zu verfolgen. Wir werden dabei nicht zwischen materieller Kultur und epistemologischen Aspekten dieses Prozesses unterscheiden. Wir werden die Welt der Dinge mit der Welt der Bedeutung verbinden. Transnationaler Handel Etwa viertausend Jahre stellte der Handel die Verbindung zwischen Europa und Ostasien her. Er regte die kulturelle Kreativität an und aktivierte das Wirtschaftswachstum. Die Öffnung der Grenzen der früheren Sowjetunion in den letzten Jahren gestattete den erneuten Zugang zur »Kontinentalbrücke« der eurasischen Landmasse. Die beiden wirtschaftlichen Wachstumspole Europa und Südostasien konnten zum potenziellen Nutzen Zentralasiens neu verknüpft werden. Die folgende Tabelle (Tab. 1) zeigt, dass die zentralasiatischen Staaten über eine vergleichsweise geringe Bevölkerung mit niedrigem Bruttosozialprodukt verfügen, was auf eine »Entwicklungslücke« hindeutet. Doch die Entwicklung dieses riesigen eurasischen Korridors hat bereits begonnen und wird sehr wahrscheinlich zu einem raschen Anstieg der Wirtschaftsleistungen entlang der eurasischen Achse führen. Tabelle 1: Eurasien: Fläche, Bevölkerung und Pro-Kopf-Einkommen in ausgewählten Regionen 1998 Region

Land

Fläche (in 1.000 km2)

Bevölkerung (in Mio. 1998)

Pro-KopfEinkommen (US$ 1998)

EU Zentralasien

15 Mitgliedsstaaten

3.244

375

307.180

Kasachstan

2.717

16

1.310

199

5

350

Tadschikistan

143

6

350

Turkmenistan

488

5

640

Usbekistan

447

24

870

3.994

56

3.520

Kirgistan

insgesamt

40

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Das Erbe der Seidenstrasse Südostasien

Kambodscha Indonesien Demokratische Volksrepublik Laos

280 680

237

5

330

330

22

3.600

Myanmar

677

44

n.a. (760 oder weniger)

Philippinen

300

75

1.050

Singapur

1

3

30.060

Thailand

513

61

2.200

332

78

330

insgesamt

4.521

622

38.530

China (inkl. Taiwan)

9.597

1.239

750

378

126

32.380

Japan

NAFTA

11 204

Malaysia

Vietnam Ostasien

181 1.950

Korea, RP

99

46

7.970

insgesamt

10.074

1.411

41.100

drei Mitgliedsstaaten

21.293

397

53.330

Quelle: Weltbank: Weltentwicklungsbericht (2000)

Einige empirische Daten und Entwicklungstrends belegen, wie die neu entstehenden Handelsbeziehungen und ökonomischen Verflechtungen die Integration Eurasiens fördern. Neuere ökonomische Daten (siehe Tab. 2) zeigen, dass eine neue Makroregion als Alternative zum »asiatisch-pazifischen« Raum entsteht: Betrachtet man die zehn Hauptgeberländer, die in Tabelle 2 entsprechend ihrer Investitionsbeträge (einschließlich ausländischer Direktinvestitionen, Kredite und finanzieller Verbindlichkeiten unter Regierungsgarantien) aufgelistet sind, so stellt man fest, dass sich Europa und Asien in Zentralasien treffen und dort miteinander konkurrieren.

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Tabelle 2: Ausländische Direktinvestitionen, Usbekistan Ende 1997 Land

Anteil an den Gesamtinvestitionen (in Prozent)

Großbritannien

22,0

Malaysia

16,0

Türkei

12,6

USA

10,0

Japan

9,7

Korea

8,9

Deutschland

6,7

EBRD*

3,9

Indonesien

3,0

Frankreich

1,6

* EBRD ist die Abkürzung für »European Bank for Reconstruction and Development«. Quelle: Ministerium für Ausländische Wirtschaftsbeziehungen der Republik Usbekistan (1998: 74)

Empirische Forschungen2 in anderen Regionen der Welt zeigen, dass vor einer eher formellen regionalen Integration subtile und informelle Integrationsprozesse auf zukünftige Entwicklungen3 hinweisen. In Zentralasien hat der grenzüberschreitende Kleinhandel nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion enorm zugenommen. Für Usbekistan zeigt unsere Studie, dass 83 % der von Kleinhändlern von außerhalb der GUS importierten Waren aus Asien stammen. Dies könnte als

2 Wir beziehen uns hauptsächlich auf Studien, die im Forschungsschwerpunkt Entwicklungssoziologie und Sozialanthropologie der Universität Bielefeld durchgeführt wurden, sowie auf Forschungen anderer Einrichtungen mit entsprechenden Themen. 3 Um ein Beispiel zu nennen: Der zunehmende grenzüberschreitende Kleinhandel in Südostasien deutete frühzeitig auf den Zusammenschluss südostasiatischer Staaten zu einem Bund zur Förderung der wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit (ASEAN – 1967) hin.

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Das Erbe der Seidenstrasse

Indikator für eine potenzielle transasiatische und eurasische wirtschaftliche Integration gewertet werden. Abbildung 1: Herkunftsregionen der von Kleinhändlern nach Usbekistan importierten Waren

Südwestasien 27 %

Westasien 35 %

Südostasien 21 %

Osteuropa 5% Europa 12 %

Quelle: eigene Daten (Kaiser 1998a)

Die politischen Grenzen Zentralasiens zu China, Russland und zum Nahen Osten sind nicht zuletzt aufgrund nationaler Preisdifferenzen ein ebenso wichtiges Element in der Entwicklung des dortigen Handels wie die ausgedehnten informellen Netzwerke und die clanartigen Organisationen, die im Kontext der postkommunistischen Gegebenheiten neue transnationale Mikrostrukturen haben entstehen lassen (Kaiser 1998a). Zwischen transasiatischen bzw. eurasischen und osteuropäischen postkommunistischen Märkten gibt es augenfällige Parallelen: Die Öffnung der Grenzen beispielsweise hat in beiden Fällen dazu geführt, dass zunehmend Tagesreisen mit Handelsabsichten unternommen werden. Darüber hinaus geht mit dem Handel jedesmal ein Wandel der ökonomischen Moral einher; zudem erfolgt eine Einbettung der Marktbeziehungen in spezifische soziale und kulturelle Kontexte, die zum Teil noch aus Sowjetzeiten stammen und zum Teil im Verlauf der raschen Veränderungen entstanden sind (Evers/Schrader 1994; Kaiser 1998a). 43

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Des Weiteren provozieren die Parallelen zwischen den gegenwärtigen Strukturen des Fernhandels und denen der »Großen Seidenstraße« dazu, über die Idee ihrer Wiederbelebung zu spekulieren. Die Beschwerlichkeiten und Härten des Karawanenhandels, die Raubüberfälle entlang der Karawanenstraßen, die enormen Zeitunterschiede und die kulturelle Differenz entlang der Route führten zu einem verwobenen Netz von Handelsstraßen und Handelsbeziehungen. Transkontinentaler Handel, der vom Ausgangs- bis zum Zielort von denselben Händlern unternommen wurde, war theoretisch möglich, aber höchst unwahrscheinlich. So gelangte zwar chinesisches Glas nach Rom, doch es wird nichts über chinesische Händler in Rom berichtet. Auch heute noch treiben Banditen auf den Fernstraßen ihr Unwesen, und organisierte Banden mit mafiaähnlichen Strukturen versuchen ihren Anteil an den Handelsprofiten zu ergattern. Die Waren fließen – damals wie heute – in »Stop-and-Go-Manier« und werden von einem Markt zum anderen transportiert. Ähnlich wie in damaliger Zeit für die Karawansereien können wir die Errichtung neuer Handelsplätze und Grenzmärkte auf jeder größeren Kreuzung der transnationalen Straßen und an den nationalen Grenzen beobachten. In Grenzorten entstehen spezielle Container-Märkte. In Tschardschou, einer Grenzstadt zwischen Turkmenistan und Usbekistan, bildete sich solch ein Container-Basar, da die usbekische Regierung nur den Import von kleinen Warenkontingenten erlaubt. Diese werden von usbekischen Wiederverkäufern den zumeist türkischen und aserbaidschanischen Fernfahrern und -händlern abgekauft. Genau wie damals wechseln die Waren mit ihrer Übergabe ihre »Ethnizität«. Innerhalb der GUS-Länder gibt es große globalisierte Handelszentren, wie z.B. den Hypodrom-Markt in Taschkent (Usbekistan) und wegen seiner Küstenlage am Schwarzen Meer den Markt in Odessa (Ukraine). Auf den internationalen Märkten ist die interethnische Sprache Russisch. In Seoul – eine Stadt, die zum Zentrum für internationale Fernhändler aus der ganzen Welt geworden ist – ist der Pusan-Markt (Marktplatz) der Treffpunkt für russische bzw. aus der GUS stammende Fernhändler und der Inchon-Markt der Treffpunkt für Händler aus China (Shim 1997: 198). In Istanbul navigieren russische Frachtschiffe mittels kyrillischer Schifffahrtszeichen durch den Hafen. Um die steigende Nachfrage aus den neuen unabhängigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion sowie aus Osteuropa zu befriedi44

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Das Erbe der Seidenstrasse

gen, entstand in Städten wie Bangkok, Istanbul, Neu-Delhi, Kuala Lumpur, Seoul, Singapur eine globalisierte und russifizierte Infrastruktur aus Hotels, Restaurants, Touristenbüros usw. Auf Märkten, die eher regional bedeutend sind, ist die russische Sprache nicht mehr so maßgebend. So annoncieren z.B. die Geschäftseigentümer in Mazari-Sharif (Afghanistan) ihre Waren und Produkte zwar auf Russisch, doch beherrschen sie diese Sprache oft nicht selbst und müssen andere Personen bitten, die Werbeschilder für sie zu schreiben. Das kyrillische Alphabet ist zu einem Symbol für den Handel mit Waren geworden, die derzeit aus den unabhängigen zentralasiatischen Staaten stark nachgefragt werden. Die Verhandlungen, der Kauf und Verkauf unter den Geschäftsleuten und den pendelnden Fernhändlern werden jedoch auf Tadschikisch, Farsi, Usbekisch oder Turkmenisch geführt. Der Gebrauch einer dieser Sprachen während eines Transaktionsprozesses schließt automatisch Händler aus, die eine andere Sprache sprechen. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass in diesen Sprachen unterschiedliche Schriftzeichen benutzt werden. Russisch ist zur Lingua franca des grenzüberschreitenden Handels geworden, die alle verwenden. Ähnlich hielten es die Kaufleute mit der Sprache der Sogdian-Mittelsmänner in den Zeiten der Seidenstraße (Kaiser 1998a). Auch sie wurde als Instrument interethnischer wirtschaftlicher Kommunikation benutzt. Diese Beobachtungen aus dem Fernhandel stimmen mit den Beobachtungen bezüglich der stetig zunehmenden Pilgerfahrten der Muslime aus Zentralasien und China nach Mekka überein (Gladney 1992; Kaiser 1998a; Eickelmann, Piscatori 1990). Nagata (1994: 83) beschreibt die Wechselbeziehung zwischen wirtschaftlichen Aktivitäten und religiösen Angelegenheiten. Im Islam wird die ökonomische Betätigung nicht mit Sanktionen versehen, und Mobilität wird durch die Idee der Pilgerreisen eher noch gefördert. Ein Beispiel aus unserer Feldstudie bestätigt diese Einschätzung. Ahmed (42 Jahre, Usbeke), ein Pilger und Kleinhändler, meint: »Eine Pilgerfahrt nach Mekka geht Hand in Hand mit meinem Geschäft.« Im Allgemeinen sind Pilger wohlhabend und stets bemüht, neue wirtschaftliche Unternehmungen in die Wege zu leiten. Viele Kleinhändler kaufen die speziell für den Hadsch (al-hajj) subventionierten Flugtickets der Usbekistan Airways und nutzen dann die Zwischenlandung in Dubai, um hochwertige elektronische Geräte einzukaufen. Ökonomische, kulturelle und spirituelle Handlungen finden räumlich 45

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und zeitlich parallel statt und bilden eine Mikrostruktur der eurasischen Integration. Diese nationale Grenzen überschreitende islamische Mobilität kann als religiös-spirituelle Dimension einer eurasischen Vergesellschaftung betrachtet werden. Mobilität in wirtschaftlichen Dingen bietet klare Vorteile, und verbunden mit religiöser Mobilität (z.B. mit der Pilgerfahrten nach Mekka) sorgt sie darüber hinaus für einen enormen ökonomischen, sozialen und kulturellen Prestigegewinn. Die Entstehung transnationaler islamischer Beziehungen wird ferner durch die mannigfaltigen Aktivitäten religiöser Bewegungen unterstützt (Beller-Hann 1998a,b; Gladney 1992). In einer sich globalisierenden Welt wird Distanz zu einer Kategorie der sozialwissenschaftlichen Analyse. Sowohl Entfernungen als auch Grenzen sind gleichzeitig Hindernisse und Ressourcen. Händler z.B. nehmen Risiken auf sich und sind in fremden Kontexten der Gefahr der sozialen Ächtung und Ausgrenzung ausgesetzt – was bis zum Verlust der Handelsgewinne bzw. der ökonomischen Existenz gehen kann. Eine Ressource für mögliche Gewinne hingegen sind die variierenden Preise auf den verschiedenen Märkten. Von Taschkent nach Moskau steigen sie an, in südlicher Richtung dagegen fallen sie. In Almaty sind die Preise beispielsweise deutlich höher als in Taschkent, obwohl die Städte nur ca. 1,5 Flugstunden voneinander entfernt liegen. In den Erzeugerländern in Südost- und Südasien sind die Preise für Konsumgüter sogar noch niedriger. Gerade diese Preisunterschiede beleben den Fernhandel. Nationale Grenzen und Wirtschaftsplätze machen demnach mit ihren spezifischen Preisdynamiken den grenzüberschreitenden Handel und Verkehr erst möglich. Mit anderen Worten: Nationale Verschiedenheit führt also zumindest auf wirtschaftlicher Ebene zu Integration (vgl. hierzu Horstmann/Schlee 2001). Eine weitere Frage ist, ob sich entsprechend der transnationalen Handelsbeziehungen auch transnationale Identitäten herausbilden, bzw. ob dabei verwandtschaftliche Netzwerke entstehen, die sich auf die benachbarten Länder ausdehnen. Unsere eigenen Untersuchungen bestätigen eine solche Entwicklung hinsichtlich der Etablierung transnationaler Verbindungen und Familiennetzwerke. So reaktivierten die Chinesen ihre alten Netzwerke, nachdem sie seit 1986 wieder nach Kasachstan reisen dürfen. Viele Produkte werden in der nordwestlichen Provinz Chinas (Xinjiang) nicht hergestellt und müssen aus dem Ausland importiert werden, so z.B. Damenmode. Diese wird überwie46

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gend aus der Freihandelszone Shanghai oder aus Singapur bezogen. Dabei beauftragen Händler, die außerhalb ihrer Heimatregion eine Niederlassung haben, häufig ihre weiblichen Verwandten, an diesen Handelsplätzen zu leben, oder aber sie arrangieren Eheverbindungen, die eine Transaktion mit diesen Handelszentren ermöglichen. Diese Strategie soll die Inanspruchnahme der Mithilfe anderer ethnischer Gruppen obsolet machen und scheint ein weit verbreitetes Muster zu sein, wie auch unsere Feldstudien über arabische Händler in Indonesien und Chettiar-Geldverleiher4 in Malaysia gezeigt haben (Evers/ Schrader 1994; Evers 1988). Sie ermöglicht längere aus geschäftlichen Gründen notwendige Auslandsaufenthalte. Hier deutet sich die – ökonomisch begründete – Entstehung von Translokalitäten an. Andere Beispiele transnationaler Identitäten sind die typischen hybriden Joint Ventures (Gemeinschaftsunternehmen). Dazu gehört z.B. die UzDaewoo Bank, die von einer Gruppe von Finanzunternehmen und verschiedenen Einzelpersonen gegründet wurde. 55 % der Aktien (des Investmentfonds) besaß Daewoo Securities, 10 % die Koram Bank, 25 % die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, und 10 % hielten die National Bank for Foreign Economic Activity of Usbekistan und die Joint-Stock Bank of Consolidation Turon (vgl. Ministry for Foreign Economic Relations of the Republic of Uzbekistan 1998). Dieses Bankinstitut steht beispielhaft für die Institutionalisierungsbemühungen hinsichtlich der neu entstandenen eurasischen Wirtschaftsbeziehungen. Die Entstehung der neuen unabhängigen Staaten in Zentralasien und die zunehmende Bedeutung von Privathandel und Warenaustausch führten zu einer Neubelebung des Handels entlang der Seidenstraße. Dies erfolgte in Form des Fernhandels der postsowjetischen Staaten untereinander als auch mit Nachbarländern wie der Türkei, dem Iran, Afghanistan, Pakistan, den Arabischen Emiraten, Kuwait

4 Die südindischen Chettiar-Geldverleiher hatten weltweite Finanznetzwerke aufgebaut, deren Geldtransaktionen im Jahrhundert des Aufstiegs und Verfalls der Kolonialreiche von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von Südindien über Südostasien in den Pazifik bzw. bis nach Südafrika und Westindien reichten (vgl. Evers 1987).

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und China sowie Indien, Korea, Thailand und Malaysia. Aus türkischen Quellen geht hervor, dass der allein durch den Handelstourismus mit den Staaten der ehemaligen Sowjetunion entstehende geschätzte Jahresumsatz der türkischen Wirtschaft 10 Milliarden US-Dollar beträgt. Abbildung 2 und 3 zeigen die Einbindung der türkischen Wirtschaft in das postsowjetische Eurasien. Abbildung 2: Außenhandelsbeziehungen der Türkei 1997 16 % 14 % 12 % 10 % 8% 6% 4% 2% 0%

OECD

GUS

Turkstaaten

Export

Schwarzmeeranrainerstaaten 15,3 %

4,8 %

14,4 %

3,7 %

Organsiation der islamischen Konferenz 15,1 %

Import

8,2 %

2,3 %

6,8 %

0,9 %

10,3 %

Quelle: http://www.die.gov.tr

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Das Erbe der Seidenstrasse

Abbildung 3: Außenhandelsbeziehungen der Türkei 1997 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0%

Europ. Mittle- andere andere andere europ. afrikan. amerik. Europ. Freihanasiat. rer OECDStaaten Staaten Staaten Staaten Union delsOsten Staaten Staaten zone

Export 47,1 %

2,0 %

9,6 % 19,8 %

Import 54,4 % 2,8 % 13,5 %

OECD-Staaten

9,1 %

4,1 % 5,1 %

0,7 %

8,8 %

5,1 %

2,8 %

1,3 %

5,1 %

7,7 %

0,9 %

Non-OECD-Staaten

Quelle: http://www.die.gov.tr

Handelsgüter: Asiatische Waren mit westlichem Akzent Der transnationale Fernhandel verbindet verschiedene Welten und produziert eurasische Produkte, Märkte und Geschäfte. Außerdem fördert er ein »Verbraucherverhalten« und eine Art von Konsumverhalten, das Asien und Europa integriert (Chua 1992, 2000). Die Supermärkte am Broadway, wie die Flanier- und Einkaufsstraße im Zentrum der Stadt Taschkent genannt wird, sind – im wahrsten Sinne des Wortes – »eurasische Geschäfte«, wo sich all die bekannten westlichen Produkte finden: Marmelade von Schwartau, Granini-Saftgetränke, Cornflakes von Kellogg’s, Kekse von Bahlsen, Honig von Langnese, bayerisches Bier, Softgetränke von Coca-Cola und Levis Jeans – oftmals mit oder ohne Lizenz in asiatischen Ländern hergestellt. Die Konkurrenz dazu sind die usbekisch-türkischen Mir-Burger-Schnellrestaurants 49

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und Supermärkte, die im Januar 1996 eröffnet wurden und nur türkische Produkte führen. Ein anderes »eurasisches« Geschäft verkauft Babykleidung und Spielzeug, aber auch Moulinex-Elektrogeräte, Gefäße und Krüge, Töpfe, Geschirr und Bestecke. Alle Waren in diesem Geschäft sind bekannte Markenartikel und teurer als die Töpfe und Glasprodukte aus China oder südostasiatischen Ländern, die meistens in den anderen Läden im Umland von Taschkent angeboten werden. Werbung und Sortiment verkörpern die westliche und säkulare Türkei. Die Innenausstattung der »eurasischen Geschäfte« unterscheidet sich erheblich von den viel einfacher eingerichteten Warenhäusern aus der Sowjetära. Sowohl mit ihrem spezifischen Interieur als auch mit ihren Produkten sprechen sie eine ganz andere Kundschaft an. Sie sind Anziehungspunkte für die »Neuen Russen« – auf die wir noch näher eingehen werden – sowie für die Mitglieder der Nomenklatura, die nun über die erforderlichen Mittel verfügen, um in diesen Supermärkten einkaufen zu können. Teuer gekleidete Frauen und Männer in westlichem oder auch in modernem usbekischen oder muslimischen Outfit kommen zum Einkauf in die Warenhäuser, die mehr als einheimische Waren anbieten. Danach rasen sie wieder in ihren teuren Autos davon. Mit Geschwindigkeiten von 60 bis 80 Stundenkilometern jagen sie durch die Zentren der zentralasiatischen Hauptstädte, als ob ihnen die an jeder Kreuzung stehenden Milizionäre nichts anhaben könnten. Der BMW, der Anzug und die Aktentasche sind die Kennzeichen der neuen Geschäftsleute. So werden die neuen Verhältnisse demonstriert. Nach Fierman (1988) kann die sowjetische und inzwischen postsowjetische Jugend in den muslimischen Republiken nun ihre Wünsche und Sehnsüchte ausleben. Die neu entstehenden westlich orientierten Jugendkulturen ermöglichen ihnen, mit vorsowjetischen und sowjetischen Konzepten sowie mit den Regeln der älteren Generation, die in anderen asiatischen Gesellschaften noch handlungsweisend sind, zu brechen. Zu den Hauptmedien dieser neuen Jugendkultur gehören Musik, Diskotheken, Lucky-Strike-Bars, Hard-Rock-Cafés und Mir-Burger. Auch der türkische Vergnügungspark Aqua Park in Taschkent kann dazugezählt werden. Musik ist eine, wenn nicht sogar die große Gemeinschaftserfahrung, die auf Feiern jeglicher Art gesammelt wird. Kassetten und Mu-

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sikvideos werden als illegale Kopien verbreitet, Massenkonzerte sind Events, die gemeinsam erlebt werden. Als z.B. die Pop-Gruppe Boney M in Taschkent auftrat, war das für das jugendliche Publikum die Gelegenheit, seine Vorbilder als leibhaftige Personen zu erleben. Die dabei geteilten Gedanken und Gefühle sowie die gemeinsame Freizeiterfahrung schufen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer eurasischen Jugendkultur. Die Medien spielen bei der Verbreitung der westlichen Kultur und des westlichen Lebensstils eine Schlüsselrolle. Indische Seifenopern werden als Wiedergabe westlicher Konzepte von Liebe und Lebensstil empfunden. Fernsehserien sind geteilte Erlebnisse, und junge Leute treffen sich, um sie sich beim gemeinsamen Essen und Wodkatrinken anzusehen. Asiatische Waren mit westlichem Akzent können also als eine weitere Dimension von eurasischer Integration betrachtet werden. Die spezifischen kulturellen Bindungen mit Asien schaffen, zusammen mit der angestrebten Verwestlichung, einen besonderen transnationalen eurasischen Raum. Im Allgemeinen verschweigen die Händler auf dem Markt die asiatische Herkunft ihrer Waren im westlichen Stil. Sie lachen über die Naivität der Leute, die sich weismachen lassen, dass ein Parfum aus Frankreich oder ein Kleid aus Italien komme. Allerdings ist das Wissen um die tatsächliche Herkunft der Waren auf den Märkten ein »offenes Geheimnis«. Keiner der Kunden, mit denen wir sprachen, gab an, sich vom Etikett der Ware betrogen zu fühlen. Im Allgemeinen wurden solche falschen Auszeichnungen sowohl vom Kunden als auch vom Händler als unwichtig empfunden. Das folgende Gespräch stammt aus einem Interview auf einem Markt in Taschkent, Usbekistan: »Leute, die Reebok-Schuhe auf dem Hypodrom-Markt kaufen, wissen, dass es keine Reeboks sind, und ihnen ist es egal, ob da Reebok, Raabok oder Ruubok steht. Weder dem Kunden noch dem Händler macht das etwas aus. Sie denken nicht an solche Dinge. Für sie ist das kein Grund. […] Wenn jemand einen neuen Artikel entdeckt, der ein Reebok-Etikett hat, und wenn er meint, es sei ein gutes Produkt zum Verkaufen, dann wird er eine größere Menge kaufen und sie verkaufen, aber nicht wegen des Namens. Das bedeutet gar nichts. Ich weiß nicht, warum die Fabriken in China diese Namen kopieren, denn jeder-

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Hans-Dieter Evers, Markus Kaiser mann weiß, dass sie nicht echt sind. Ich weiß wirklich nicht, warum jene Betriebe diese Namen einnähen« (Marat, 42 Jahre alt, Tatare, Händler in Taschkent, Usbekistan).

Fälschungen werden legitimiert, indem man suggeriert, dass wirklich kein Unterschied zwischen dem kopierten Produkt und dem westlichen Original besteht, oder indem behauptet wird, dass das kopierte Produkt sogar noch besser sei als das Echte. Es gibt noch andere Diskurse über Echtheit. »Erst muss man wirklich fragen, was mit dem Wort ›echt‹ gemeint ist: AdidasSchuhe werden z.B. in Korea produziert und in Amerika verkauft. Sind die nun echt oder nicht? All diese Firmen wie Nike und Puma stellen ihre Waren in Korea oder anderen fernöstlichen Ländern her, weil dort die Arbeit billiger ist. Wenn ich manchmal etwas kaufe und da steht ›Made in Japan‹, dann denke ich, ich kaufe ein echtes Produkt, doch es gibt eine Menge Fälscher, die ähnliche Artikel produzieren. Manchmal kann man sie nur schlecht von den echten unterscheiden. Selbst die Japaner können das nicht immer« (Oleg, 44 Jahre alt, Russe, Händler in Almaty, Kasachstan).

In diesem Fall setzt Oleg ganz klar »original« mit »westlich« gleich. Das Prestige eines bestimmten Produkts wird von seinem »Westlichsein« abgeleitet. Schon zu Sowjetzeiten genoss westliche Kleidung weit verbreitet eine hohe Wertschätzung. Laut Shlapentokh (1989) waren der Westen und die westlichen Erzeugnisse in den 1980er Jahren in der Sowjetunion nicht nur beliebt, sondern wurden dort auch nachgemacht und als importierte Waren verkauft. »Die Verehrung für westliche Kleidung ist so groß, dass die sowjetische Bekleidungsindustrie mit der Produktion von Hemden, Blusen und Pullovern begonnen hat, die verschiedene, in England gedruckte Firmenembleme wie Marlboro, Mercedes Benz oder Levi-Strauss tragen. Die Fabriken versuchen diese Produkte als westliche Erzeugnisse auszugeben. Aufgrund des ideologischen Klimas im Lande in den 1980er Jahren ist dieses Verhalten der Fabrikdirektoren wirklich bemerkenswert« (Shlapentokh 1989: 151).

Außerdem wird berichtet, dass zu Sowjetzeiten in der Schattenwirtschaft »gefälschte Markenetiketten« produziert wurden. Diese Waren 52

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wurden nichtsdestotrotz von Konsumenten geschätzt, weil sie ein gewisses westliches Flair vermittelten. Andererseits haben, insbesondere in den letzten Jahren des ökonomischen Umschwungs, transnationale Unternehmen die neuen lokalen zentralasiatischen Märkte entdeckt, darunter Mercedes Benz und DAEWOO, die Europa und Asien repräsentieren. Theoretisch kann – aufgrund teilweise liberalisierter Importverordnungen – alles gekauft werden, jedoch ist nicht alles bezahlbar. Aber jenen, die es sich leisten können, ermöglichen diese neuen Märkte, sich einen als europäisch empfundenen Lebensstil zuzulegen. Die Neureichen und der neue Mittelstand Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff »Neue Russen« für all jene Personen aus der ehemaligen Sowjetunion verwendet, die schnell zu Geld gekommen sind und/oder durch Besitz von westlichen Prestigeobjekten – Autos aus dem Westen, eine große Wohnung oder ein großes Haus, Einkauf in Kaufhäusern westlicher Prägung usw. – die nötigen Statussymbole besitzen. »Neue Russen« ist ein Klischee, das sich auf eine nicht-sowjetische und fremde Mentalität bezieht, die laut Humphrey »rapacious, materialist and shockingly economically successful« (Humphrey 1997: 87) ist. Ihr haftet die Vorstellung an, dass auch mit illegalen bzw. illegitimen Mitteln Reichtum erworben wurde. Die »Neuen Russen« konstituieren eine soziale Gruppe mit neuen Wahrnehmungen. Sie sind anders als die alte sowjetische Nomenklatura, denn sie orientieren sich nach Westen und sind nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion überall in den neuen Staaten zu finden. Um sich selbst und ihre Unternehmungen zu beschreiben, benutzen sie Begriffe, die aus dem Englischen stammen bzw. abgeleitet sind, wie z.B. professionaly (Fachleute, Akademiker, Freiberufler), bisnesmeny oder delovyje ljudi (Geschäftsleute), dilery (Kaufleute, Händler, Dealer) und menedschery (Manager). Damit wollen sie ihre kosmopolitische Haltung und ihre Weltoffenheit ausdrücken. Darüber hinaus weisen diese Begriffe jedoch auch auf Aspekte einer Identitätsbildung hin, die sich zwar am Westen orientiert, aber bewusst weder so wahrgenommen noch öffentlich zugegeben wird.

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Hans-Dieter Evers, Markus Kaiser »[…] these new people are understood not to be intrinsically other but indeed to have derived and spun away from ›us‹, the unmarked mainstream, and furthermore it is felt that they may represent Russia’s future« (Humphrey 1997: 86).

Die »Neuen Russen«, die Geschäftseliten, befassen sich selten mit der Herstellung von Gütern. Die meisten betreiben Import-Export-Geschäfte oder arbeiten als Berater, Bankiers, Manager oder in ähnlichen Berufen. Im Lebensstil der »Neuen Russen« ist Konsum offensichtlich von großer Bedeutung, nicht nur für die Geschäftsmänner selbst, sondern auch für die Frauen, die sie umgeben. Der »Neue Russe« wird von der »Neuen Russin« begleitet: »The New Russian [...] is pictured as man, with glamorous female dependants« (Humphrey 1997: 87). Laut Humphrey basiert die Identität der »Neuen Russen« immer mehr auf einem widersprüchlichen Diskurs. Sie haben keine gemeinsame oder nur eine sehr kurze gemeinsame Geschichte. Eine geteilte kulturelle Praxis, in der sich ihre Abgrenzung zum Sowjetischen und eine Hinwendung zum imaginierten »Westlichen« manifestiert, ist jedoch der eigene Hausbau: Suburbane Villen oder Wohnviertel in der Nähe von wichtigen urbanen Wirtschaftszentren deuten eine sich neu entwickelnde Haus- und Wohnkultur an. In Taschkent entstand ein solches Wohngebiet rund um den Hypodrom-Markt. Dort wird mit dem eigenen Wirtschaftspotenzial, mit der eigenen wirtschaftlichen Lage geprotzt, weshalb auch gut ausgerüstetes Sicherheitspersonal dringend benötigt wird und den neuen Status zusätzlich manifestiert. Diese neu entstehenden Wohngebiete bilden eine eigene Welt, einen Lebensraum der oberen Mittelschicht, deren Grenzen von einem Wachmann kontrolliert werden. Das Phänomen der »Neuen Russen« legt einen Vergleich zwischen den aktuellen Forschungsarbeiten über die Neureichen (Robison/ Goodmann 1996) oder die neue Mittelschicht (Gerke 2000) in Ostund Südostasien einerseits und den Entwicklungen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropas andererseits nahe. Die Forschungsarbeiten liefern eine umfangreiche Darstellung des raschen Wachstums der Mittelschicht unter Berücksichtigung der sozialen Folgen des Wirtschaftswandels und der Demokratie. Asiatische und ehemals sozialistische Gesellschaften legen einen besonderen Wert auf geteilte kollektive kulturelle Werte, im Gegensatz zu den individualis54

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tisch geprägten euro-atlantischen Kulturen. Balzer (1997: 19) fragt deshalb auch, ob asiatische Werte tatsächlich eurasische Werte seien oder ob der Begriff »Aziope«5 – im Sinne einer Asiatisierung Europas – nicht treffender sei. Mit Blick auf Russland konstatiert er: »An issue that emerges clearly from comparison with Asian cases pertains to Russian intolerance for income inequality enshrined in folktales, anecdotes and ›national character‹« (Balzer 1997: 19).

Es überrascht nicht, dass Kritik an den wachsenden sozialen Ungleichheiten ein häufiges Thema in fast allen Übergangsgesellschaften ist. So stellen Robison und Goodman (1996) für die Chinesen fest, was auch für Russen, Osteuropäer und Zentralasiaten gelten kann: »Many Chinese remain equivocal about the existence of the new rich, who are simultaneously admired and despised for their wealth [...] Often an instinctive reaction is to attribute individual economic wealth solely to official corruption, or other illegal arrangements, rather than simply emphasising economic growth« (Robison/Goodman 1996: 227).

Diese gesellschaftlichen und kulturellen Folgen sind Teil globaler Transformationsprozesse vor dem Hintergrund der beschriebenen Marktexpansion (Evers 1996), die beide Kontinente charakterisieren und sie zu einem einzigen, zusammenhängenden Raum machen. Transport: Straßen, Eisenbahnlinien, Flugrouten, Pipelines Straßen, Eisenbahnlinien, Flugrouten Das eurasische Transportsystem ist ein Netz von Straßen und Schienen und wird metaphorisch mit der historischen Seidenstraße im heutigen Zentralasien verglichen. Die sich entwickelnden maritimen Handelswege zwischen Asien und Europa sowie der Eiserne Vorhang hatten das Ende der Seidenstraße bedeutet. Über sie waren Handelswaren, Ideen, Technologien und Religionen ausgetauscht und dabei die kulturellen und sprachlichen Unterschiede der verschiedenen eth5

Der Begriff »Aziope« setzt sich aus den Begriffen »Asia« und »Europe« zusammen und wird analog zum Begriff »Eurasien« verwendet.

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nischen Gruppen überwunden worden. Diese Vorstellung von der Seidenstraße, die nicht nur aus einem einzigen Verkehrsweg bestand, sondern eher ein fragiles »Straßennetz« für interkontinental verkehrende Karawanen war, wird heute für ein neu entstehendes eurasisches Transportnetz reaktiviert, das Europa wieder mit Asien verbinden soll. Verbindung schaffen soll auch die Erweiterung des Bahnnetzes – das zuvor nur zwischen Lanzhou und Urumchi bestand – bis zur Grenze von Kasachstan, wo es am 12. September 1990 dann endlich an das ehemalige sowjetische Eisenbahnsystem angeschlossen wurde und damit eine wichtige Route zu den neuen Republiken und darüber hinaus wurde. In Bezug auf das neu entstehende Transportsystem stellt Gladney (1992) fest: »The Trans-Eurasian railway was completed in the autumn of 1990, far ahead of the 1992 schedule, and has already led to a jump in Sino-Soviet trade. While the 1988 trade was reported at 100 million Swiss Francs (an increase from 21 million in 1987), contracts for 200 million signed in 1988 have already largely been met« (Gladney 1992: 5).

Um der Transsibirischen Eisenbahn Konkurrenz zu machen, wurde zusätzlich eine eurasische Kontinentalverbindung von Lian YunGang in der Provinz Jiangsu (an der Ostküste Chinas) nach Rotterdam (über Bielefeld) eingerichtet. Die erste Phase dieser Entwicklung ist bereits abgeschlossen, und die offizielle Eröffnung der Bahnlinie fand am 1. Dezember 1992 statt. Man hofft, dass der Transport auf dieser Strecke um mindestens 20 % billiger als auf dem Seeweg sein wird. Mit 11.000 Kilometern Länge ist diese Strecke auch wesentlich kürzer. Von China nimmt sie ihren Weg über Kasachstan, Russland, Weißrussland und Polen, bevor sie Deutschland und die Niederlande erreicht. Für die Chinesen hat nun die Realisierung der Doppelgleislinie von Lanzhou bis zur Grenze der GUS-Länder oberste Priorität. Laut Gladney (1992: 5) hat die neue Transport-Infrastruktur die Pilgerreisen enorm erleichtert, und sie wird besonders stark von den Muslimen wie den Uiguren, Hui, Kasachen und Kirgisen in Zentralasien und den Muslimen in Xinkiang (China) genutzt.

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Pipelines Ein weiteres sehr bedeutendes Phänomen für die sich herausbildende eurasische Infrastruktur ist die Erschließung der kaspischen Erdölquellen: Sie wirft die folgenreiche Frage auf, wie das Öl und das Erdgas zu den Konsummärkten in Europa und Asien transportiert werden sollen. »The calculations show that one of the best places to send the forthcoming oil and gas from the Caspian Sea Region would be through the Mediterranean to the European Market, ›as oil demand over the next 10-15 years in Europe is expected to grow by little more than one million barrels per day‹. However, there are even more promising regions – ›oil exports eastwards could serve Asian markets, where demand for oil is expected to grow by 10 million barrels per day over the next 10-15 years‹. That’s why one can mention two main possible directions of exports: to Western Europe and to East and Southern Asia« (Shimizu/Yakushik 1998: 23).

Die Nachfrage nach Öl und ihre Befriedigung schafft also eine weitere sichtbare Verbindung zwischen Europa und (Südost-)Asien. Die Türkei, Russland, Iran, Pakistan und China sind bestrebt, sicherzustellen, dass diese Pipelines durch ihre Gebiete verlegt werden (Rubinstein/ Smolansky 1995; Shimizu/Yakushik 1998). Sie würden wirtschaftlich von den Nutzungsgebühren, dem Transport und dem eventuellen Ölbzw. Gaskonsum profitieren und darüber hinaus noch an politischem Einfluss gewinnen. Zu Kasachstans langfristigen Zielen gehört es, sich mehrere Ölexport-Routen zu sichern, um von Russland unabhängig zu werden (Financial Times 1999). Kurzfristig jedoch hat der Zugang zu den Weltmärkten über Russland Priorität, was durch einen Terminal über Noworossijsk an der Küste des Schwarzen Meeres erreicht werden kann. Zusätzlich zu diesem kaspischen Pipeline-System sollen die kasachischen Kashagn- und Tengiz-Ölfelder über Samara und Russland mit dem baltischen Pipeline-System verbunden werden. Eine Pipeline, die etwa im Jahre 2005 eine Verbindung zwischen Kasachstan und China herstellen soll, wurde bereits bewilligt. Diese Abmachung war Bestandteil des Verkaufs zweier großer kasachischer Ölfelder an China. Eine Pipeline-Verbindung zwischen dem Iran und Südasien wird ebenfalls diskutiert (Financial Times 1999). Das Szenario zeigt einen regionalen Macht-Wettbewerb in der Weltpolitik, an dem auch andere global players teilnehmen. Die Strate57

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gie der USA fassen Shimizu und Yakushik (1998: 30) wie folgt zusammen: »The United States is pursuing a new strategy in the region, and with evergrowing impacts. One important strategic goal of the United States is to safeguard the ›independence‹ of the newly independent countries of the region, replacing Russia. Another strategic goal is to exclude Iran from participation in the production of Caspian oil and gas, and to prevent the development of transportation routes or pipelines that would lead from the Caspian region to either the Persian Gulf or the Indian Ocean via Iran. This second objective is not based on short-term economic considerations, but rather is closely linked to the United States world strategy, especially its Middle East strategy. It is related to the ongoing dual containment policy of the United States against Iran and Iraq, and the fact that Iran is to some extent opposed to the American-led Middle East peace process, but it is also anchored more deeply in the fundamental U.S. strategy in the Middle East, namely, the strategy of not permitting the emergence of any dominant regional power capable of influencing the oil market in the Persian Gulf« (Shimizu/Yakushik 1998: 30).

Dieser neue Wettbewerb erinnert an das »Great Game«, bei dem Großbritannien und Russland um die »allegiances of the bejewelled satraps, khans and emirs who ruled the Central Asian steppes in the 19th century« miteinander konkurrierten (Financial Times 1999). Die Unabhängigkeit Kasachstans wird heute genauso gesehen wie damals die Unabhängigkeit Afghanistans: als eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit für das Wohl der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union sowie für den Frieden in Asien. Mackinders (1904) Ausführungen betrachtend, formuliert Robbins (1994) wie folgt: »Who controls the silk pipelines controls the world.« Der Vergleich mit der alten Seidenstraße wird herangezogen, um sowohl die ökonomische Bedeutung zum Ausdruck zu bringen als auch den Tourismus zu forcieren (MacLeod/Mayhew 1997). Am Ende »ersetzt eine Pipeline-Superstraße die Seidenstraße« (Parrot 1997). Die Öl- und Gas-Produktion und der Transport dieser Ressourcen sind jedoch nur ein, wenn auch ein sehr wichtiger Aspekt der wirtschaftlichen Integration.

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Ethnizität und Religion Bei einer Zugfahrt von Bielefeld nach Peking werden unterschiedliche Kulturzonen durchquert. Je weiter man gen Osten reist, desto asiatischer werden die Gesichter der Zugestiegenen und das Essen auf den Bahnsteigen. Das angebotene Sortiment an Nahrungsmitteln reicht von süßen Brötchen, Keksen und Bier über Wodka und kolbasa (russische Wurst) oder getrockneten Fisch bis hin zu kumys (vergorene Stutenmilch), Melonen und den usbekischen Nationalgerichten plov und samsa. Eurasien als Ganzes – einschließlich Zentralasien – ist eine Region von großer ethnischer Vielfalt mit weit verstreuten Migrantengemeinden. Die Gebiete des ethnischen Zusammenlebens überschneiden nationale Grenzen und »Ethno-Räume« anderer ethnischer Gruppen. Entlang dieser quer-kontinentalen Achse liegt Kasachstan in der Mitte und teilt nicht nur 7.000 Kilometer Grenze mit Russland, sondern beheimatet auch eine slawische Minderheit, die ca. 40 % der Gesamtbevölkerung ausmacht, sowie eine Uigur-Minderheit im Südwesten. China hat territoriale Ansprüche an Kasachstan geltend gemacht, da u.a. das mongolische und das uigurische Gebiet als nordwestliche Provinzen Chinas aufgefasst werden (»Xi Yu«) (Financial Times 1999). Neuere Arbeiten über Migration legen nahe, dass Migrantengemeinden als transnationale und translokale Gemeinschaften und als soziale Realitäten jenseits eines Nationalstaates verstanden werden sollten (Gardner 1995; Schiller et al. 1992; Hall 1991; Hannerz 1996; Peleikis 2003; Pries 1996, 1997). All diese Ansätze betrachten Migration als neue plurilokale transnationale soziale Räume, die sich zwischen dem Herkunfts- und dem Ankunftsgebiet entwickelt haben (Pries 1997). In diesem Kontext werden geographisch getrennte Ortschaften durch die ständige Zirkulation von Menschen, Waren, Geld und Informationen effektiv zu einer einzigen Gemeinschaft. Russen, Koreaner und andere ethnische Gruppen in Zentralasien pflegen ihre Verbindungen mit Angehörigen der gleichen ethnischen Gruppe sowohl im »nahen Ausland« (gemeint sind andere Nachfolgestaaten auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion) als auch im »fernen Ausland« (Kaiser 1998b, 2001). Laut einer offiziellen Statistik lebten 1989 183.100 Koreaner in Usbekistan und 103.300 in Kasachstan. Die meisten waren von Stalin nach Zentralasien deportiert worden (Shim 1997). Dem Statistischen 59

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Amt von Usbekistan zufolge sind in der Stadt Taschkent 4,2 % der Bevölkerung Koreaner. Weitere 107.100 Koreaner lebten 1989 in Russland und bildeten die ethnische Basis für einen lebendigen asiatischen multilokalen Raum, der Asien, Zentralasien und Europa verbindet. Der Definition von Schiller entsprechend sind diese Menschen Transmigranten: »Transmigrants develop and maintain multiple relations – familial, economic, social, organizational, religious, and political that span borders. Transmigrants take actions, make decisions, and feel concerns, and develop identities within social networks that connect them to two or more societies simultaneously« (Schiller et al. 1992: 2).

Russen, Koreaner, Deutsche, Juden und andere Transmigranten bewegen sich nicht zwischen zwei in sich abgeschlossenen und getrennten Welten, sondern partizipieren an verschiedenen Orten an einer gemeinsamen translokalen Gemeinschaft. Sie selbst, ihre Kultur und die Vergesellschaftungsprozesse sind nicht mehr nur an einen einzigen geographischen Ort gebunden. Ihre Gemeinschaft bildet sich neu – und zwar translokal bzw. transnational – heraus. In diesem Prozess sind sowohl der Migrationsort als auch die Heimatgemeinde nicht statisch, beide verändern sich im Laufe der Zeit durch ihre Kopplung. Die Republik Usbekistan ist im Wesentlichen von drei unterschiedlichen translokalen sozialen Räumen geprägt: der postsowjetischen, der türkisch-nationalistischen und der islamischen Translokalität, die alle in Konkurrenz zueinander stehen (siehe Abb. 4). Sie etablieren neue unterschiedliche »translokale Öffentlichkeiten«, deren Akteure um Formen und Visionen eines usbekischen Nationalstaates konkurrieren (siehe Kaiser 2000). Die politische Vision wird gestützt und geprägt durch die gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen am Ankunftsort. Diese Verankerung führt wiederum zu Statthalterpolitiken bzw. Vertretungsansprüchen der Gastgesellschaft in Russland, der Türkei bzw. den islamischen Staaten. So tritt die russische Regierung für die »europäischen« bzw. »russischen« Minderheiten (siehe Kaiser »Die Russen im nahen Ausland – Russen als neue Minderheiten in Zentralasien«, i.d.B.) und für eine säkulare Staatsform in Usbekistan ein. Translokalitäten mit einer solchen Verankerung und entsprechenden staatlichen Fürsprechern sind sehr wirkungsmächtig. Im Falle der 60

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Republik Usbekistan divergieren die jeweiligen Visionen sehr stark, genau wie die allgemeinen Prognosen über die zukünftige Entwicklung der muslimischen Ex-Sowjetrepubliken, die zwischen einem säkularen Nationalstaat auf der einen und einem »islamistischen Staat« auf der anderen Seite liegen. In Usbekistan konkurrieren islamische Kräfte, die sich für die Wiederverankerung traditionell-islamischer Identität im Nationalstaat einsetzen mit der alten Nomenklatura, die für einen säkularen, aber auch autoritären Staat Usbekistan steht. Beide Strömungen organisieren sich explizit translokal und setzen dabei auf ihre soziokulturellen Ressourcen. Ob translokale gesellschaftliche Konfigurationen den usbekischen Nationalstaat stützen bzw. unterhöhlen, ist für Usbekistan und analog für die meisten Staaten der Region von vitaler Bedeutung. Einstweilen setzt der usbekische Nationalstaat diesen Fliehkräften eine systematische Nationalisierung von Geschichte, Sprache und Kultur entgegen. Abbildung 4: Die Translokalitäten Usbekistans

Moskau postsowjetische Translokalität

AralSee

Usbekistan

Istanbul türkisch-nationalistische Taschkent

isl a

m

isc

he

Tr

an slo ka

lit ä

t

Translokalität

Mekka

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Die konkurrierenden politischen und gesellschaftlichen Visionen zwischen Orient und Okzident zeigen sich demnach nicht nur entlang der transkontinentalen Achse, sondern sind, wie am Beispiel Usbekistans gezeigt wurde, kleinräumiger verankert und konstitutiver Bestandteil der eurasischen Staatenwelt. Als eine spezielle Dimension Eurasiens kann eine neue Art von translokaler Vergesellschaftung konstatiert werden. Sie generiert sich aus Menschen, deren Netzwerke, Beschäftigungen und Lebensmuster sowohl ihre Gast- als auch ihre Heimatgesellschaft einbeziehen. Ihr Leben überschreitet nationale Grenzen und verbindet zwei Gesellschaften – oder mehr – zu einem einzigen transnationalen sozialen Feld (Schiller et al. 1992: 2). So nennen sich z.B. die Koreaner in Usbekistan »asiatische Russen«, da die junge Generation nur noch Russisch spricht und russische Literatur liest. Aber auch Russen in Zentralasien bezeichnen sich als asiatische Russen. Es sind Russen mit einem asiatischen Lebensstil. Sie sagen von sich, dass sie weniger trinken als ihre Landsleute in Russland und dass sie die Sommerhitze Zentralasiens zum Leben brauchen. Geokulturelle oder makroethnische Faktoren sind auch in Bezug auf die Wirtschaft wichtig. Das Engagement der deutschen Regierung in Kasachstan kann zum Teil durch kasachische Deutsche oder zentralasiatische Juden erklärt werden, die an Entwicklungsprogrammen in der Region teilnehmen oder nach Deutschland migriert sind und durch spezielle Integrationsprogramme in Deutschland unterstützt werden. So wie die Deutsch sprechende Minderheit eine Verbindung zur Europäischen Union herstellt, spielen die Koreaner eine ähnliche Rolle in den Beziehungen zwischen Zentralasien und der koreanischen Halbinsel. Nach Shim (1997: 203) verändern sich zur Zeit die Beziehungen zwischen Korea und den Ländern Zentralasiens. Während der Sowjetära hatten sie aufgrund ideologischer Differenzen nur Beziehungen zu Nordkorea, doch jetzt, da die zentralasiatischen Länder großes Interesse an den Erfahrungen der koreanischen Wirtschaftsentwicklung haben, konnte und kann Südkorea Beziehungen zu den zentralasiatischen Ländern aufbauen, die auf gemeinsamen Wirtschaftsinteressen basieren. Shim (1997: 203) spricht von der »Brücken-Funktion« der zentralasiatischen Koreaner. 1993 war Südkorea eines der Haupt-Geberländer für Entwicklungshilfe. 1996 betrug der südkoreanische Anteil am Außenhandel 62

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Kasachstans 4,5 % und entsprach damit dem der Türkei (4,5 %) sowie ungefähr dem der Schweiz (5,3 %) (siehe Tab. 3). Tabelle 3: Außenhandel von Kasachstan 1996 Land

Prozentualer Anteil

Deutschland

13,8

Niederlande

10,5

China

8,0

USA

6,0

Italien

5,3

Schweiz

5,3

Türkei

4,5

Südkorea

4,5

Ungarn

3,7

Japan

3,6

Quelle: Institut für Entwicklungswirtschaft, Japan

Die Bedeutung Südkoreas wird sogar noch deutlicher, wenn das Import-Volumen durch Joint Ventures in Kasachstan im Jahre 1996 betrachtet wird (siehe Tab. 4). Tabelle 4: Importe von Joint Ventures mit ausländischer Beteiligung in Kasachstan 1996 Land

Volumen (in US$ 1.000)

Südkorea

47.307

USA

43.321

China

41.950

Deutschland

40.920

Polen

37.642

Singapur

34.079

Österreich

22.070

Türkei

15.949

Ungarn

15.948

England

14.515

Quelle: Institut für Entwicklungswirtschaft, Japan

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Ein weiteres, auf ethnischer Basis operierendes Netzwerk besteht unter den Russen, die – wirtschaftlich gesehen – die wichtigste Minderheit in den zentralasiatischen Republiken geworden sind. Die russische Sprache ist immer noch die Lingua franca, die den Informationsfluss zwischen Europa und Zentralasien aufrechterhält (Kaiser 2001). Ethnizität ist nur eine Ressource für gesellschaftliche Integration über nationale Grenzen hinweg. Transislamische Bewegungen stellen eine weitere Ressource in Richtung eines Eurasien-im-Werden dar (Piscatori 1987; Yaacov 1995). Von allen Ländern dieser Erde verfügte die ehemalige Sowjetunion über die fünftgrößte muslimische Bevölkerung (55 Millionen). Allein in Moskau leben heute mindestens 600.000 der 15 Millionen geschätzten Muslime der Russischen Föderation.6 Laut Eickelman und Pasha (1991) stehen die meisten Muslime Moskaus weiterhin in enger Verbindung mit ihren Ursprungsgemeinden. Die Muslime in Sankt Petersburg, Moskau, Taschkent und Kuala Lumpur hören die Koranrezitationen oder die Predigten im Kreise ihrer Freunde oder Familienmitglieder mittels derselben Medien. Junge Muslime kaufen sich Video- und Tonbänder mit Koran- und Sunna-Rezitationen von berühmten Scheichs. Diese Medien werden aus Saudi-Arabien, dem Mittleren Osten sowie Malaysia importiert und sind für die Aufrechterhaltung eines religiösen Milieus im muslimischen Eurasien entscheidend. Malaysia erkannte in dem religiös-spirituellen Vakuum der neuen zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Tadschikistan und insbesondere in Usbekistan ein neues religiöses Handlungsfeld (Nagata 1994: 83). Vor der Wirtschaftskrise in Asien verhandelten malaysische Beamte mit usbekischen Offiziellen, um eine islamisch geprägte Bildungseinrichtung in Taschkent zu errichten. Nagata berichtet: »Political and trading overtures, followed by a prime ministerial visit to Uzbekistan mark this new alignment for the region’s Muslim population and re-incorporation as members of the wider Muslim community. Also, in the name of the ummah, but outside the purview of the State, other Muslims, such as Dural Arqam, are forging their own independent connections with Central Asia, with 6 Die Angaben in der Literatur variieren zwischen 11,8 und 25 Millionen. Der Zensus von 1989 mit 11,8 Millionen gilt als Untergrenze.

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Das Erbe der Seidenstrasse emphasis on Usbekistan. Whereas the Malaysian government treads carefully in religious matters, Arqam is the centre of a lively religious revitalisation in Uzbekistan, active in the restoration of mosques and re-socializing of the youth, especially those in the university in Tashkent, in their ancestral faith. Arqam sweetens its overtures with offers of small-scale trade and investments, fruits of its own economic enterprises, and has already opened a Malay restaurant and invested in property in Tashkent« (Nagata 1994: 83).

Türkisch sprechende muslimische Aktivisten aus Deutschland sind als Sprach- und Religionslehrer nach Usbekistan und in andere zentralasiatische Republiken gekommen. Sie gründen Moscheen, organisieren religiöse Studiengruppen und wählen vielversprechende Jugendliche aus den zentralasiatischen Ländern aus, die sie zu einem Studium oder zu einer Fortbildung nach Deutschland schicken (Eickelman 1997). Krämer (1998) hat vier Frauen in Taschkent beschrieben, die aufgrund ihrer Erfahrungen in Mekka als kulturelle Mittler religiöse Beratung und Hilfestellung anbieten. Darüber hinaus stellt sie fest, dass sich, initiiert durch solche kulturellen Pendler, die islamisch-religiösen Praktiken und die religiösen Kenntnisse der Frauen allmählich verändern (Poliakov 1992; Polonskaya/Malashenko 1994). Im Zeitalter der Globalisierung stellen zudem die Medien zusätzliche Quellen für Ideen, Konzepte und Botschaften dar. Multilaterale Zusammenschlüsse Zehn Jahre nach der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Staaten kann eine Tendenz weg von bilateralen hin zu multilateralen Abkommen beobachtet werden, da benachbarte Staaten nun im Rahmen größerer wirtschaftlicher Zusammenschlüsse wie der ECO (Economic Cooperation Organization) oder der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) kooperieren. Ähnliche Beispiele wirtschaftlicher Integration finden sich auch im Westen mit der Europäischen Union und im Osten mit den Organisationen der südostasiatischen Länder wie ASEAN, APEC und EAEC. So erstreckt sich eine Linie aus sich teilweise überlappenden wirtschaftlichen und politischen Zusammenschlüssen entlang einer gedachten transkontinentalen eurasischen Achse (siehe Abb. 5).

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Abbildung 5: Wirtschaftliche Integration, Europa und Asien

EC

CIS BSECZCSO ECO EAEC APEC ASEAN

Anmerkungen: APEC – Asia-Pacific Economic Cooperation Conference; ASEAN – Association of South East Asian Nations; BSECZ – Black Sea Economic Corporation Zone; CIS – Commonwealth of Independent States; CSO – Caspian Sea Organization; EAEC – East Asian Economic Caucus; EC – European Community; ECO – Economic Cooperation Organization.

Die russische Außenpolitik ist ein weiteres Beispiel. Nach anfänglicher Konzentration auf innere Angelegenheiten und bilaterale Vereinbarungen und Verträge strebt die Russische Föderation nun eine neue Multilateralität innerhalb der GUS an. Bei militärischen Kooperationen kann jedoch weiterhin ein Festhalten an bilateralen Abkommen beobachtet werden, so z.B. bei Verträgen über zu leistende Militärhilfe, die 66

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zwischen Russland und den zentralasiatischen Staaten vereinbart werden und oftmals die Stationierung von Grenztruppen einschließen. Nach Erreichung ihrer Unabhängigkeit distanzierte sich z.B. die Mongolei zunächst von Russland, um später wieder bilaterale Abkommen und Verträge über Sicherheitsfragen mit Russland zu unterzeichnen. Die Mongolei hat außerdem bilaterale Vereinbarungen mit den USA getroffen, in der Hoffnung, dass so die Sicherheit trotz existierender Spannungen garantiert werde. Wirtschaftliche Zusammenschlüsse erfolgen dagegen multilateral. Nur Turkmenistan – obwohl Mitglied der ECO und Teilnehmer am Turk-Gipfeltreffen – verweigert multilaterale Abkommen. So lehnte es z.B. beim Gipfeltreffen 1993 in Minsk ab, ein Folgeabkommen der GUS-Charta zu unterzeichnen und begründete die Weigerung mit der Wahrung seiner staatlichen Souveränität. Die Türkei sucht ihrerseits meistens multilaterale Kooperationen im Rahmen der Turk-Gipfel, während sich die Hoffnungen Irans auf Kooperationen im Rahmen der ECO bis jetzt nicht erfüllt haben. Laut Puri (1995) hat auch Indien seine pragmatischen Beziehungen zu zentralasiatischen Staaten gefestigt. All dies zeigt ganz deutlich die wirtschaftliche und politische Bedeutung der interkontinentalen Achse, die sowohl in der Handelsstatistik als auch in der Entwicklung der Wirtschaftssysteme und der Architektur der politischen Zusammenschlüsse sichtbar wird. Wir haben sechs Dimensionen des Integrationsprozesses von Eurasien beschrieben: Fernhandel, Waren, die Entwicklung einer Mittelschicht, Ethnizität, Transport- und Infrastrukturnetze sowie internationale bzw. makroregionale Zusammenschlüsse. Sie alle tragen dazu bei, die transkontinentale Integration Eurasiens zu forcieren. Was nun fehlt, ist eine theoretische Konzeptualisierung der Phänomene. Eurasien ist bisher noch nicht, wie der Asia-Pacific Rim, zu einer kraftvollen und gewichtigen Vision geworden. Wir werden deshalb kurz bestehende Konzeptualisierungen Eurasiens beleuchten, die von verschiedenen Autoren und Politikern entwickelt worden sind.

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Eurasia: der umstrittene Raum Asien-Europa Der britische Geograph Sir Halford John Mackinder betrachtete die Geographie als eine Wissenschaft der räumlichen Teilung(en) und der Verteilung naturräumlicher Ressourcen. Er plädierte deshalb für die Untersuchung der Regionen. In einem 1904 gehaltenen Vortrag behauptete er, dass Zentralasien, als das »Kernland von Eurasien«, einen geographischen »Dreh- und Angelpunkt der Weltpolitik« darstellt (Mackinder 1904). Er wies auf einen geopolitischen Antagonismus zwischen der eurasischen Landmacht einerseits (ehemals Russland) und der führenden Seemacht andererseits (damals Großbritannien, später die Vereinigten Staaten) hin. Robbins (1994) fasste seine Aussagen wie folgt zusammen: »Whoever fully commanded and developed Eurasia’s vast wealth would inevitably dominate the world« (ebd.: 34).

In einer kurzen, aber signifikanten Monographie hat Frank (1992) der »Zentralität Zentralasiens« zugestimmt, doch gleichzeitig die unklare Haltung der Politiker und Wissenschaftler bezüglich dieser Region betont, einer Region, die vom globalen wirtschaftlichen und vom internationalen politischen System aufgrund einer künstlichen, den Kontinent durchquerenden Grenze und aufgrund der Rolle, die die Sowjetunion ihr zugedacht hatte, abgetrennt wurde (Olcott 1982, 1992). Neuere Studien über die räumliche und gesellschaftliche Entwicklung des neu entstehenden Eurasiens zeigen jedoch ganz deutlich, dass eine verständliche und systematische Evaluation dieser Region fehlt. Kalyuzhnova und Lynch (2000) führen in ihrer Studie »The Euro-Asian World« das Konzept »Euro-Asien« mit der Absicht ein, eine Diskussion über diejenigen europäischen und asiatischen Länder anzuregen, die Transformationsprozesse durchlaufen. Durch die Auseinandersetzung mit Fragen der Sicherheit und der wirtschaftlichen Entwicklung in der postkommunistischen Übergangszeit der letzten Dekade befassen sich die Autoren mit den entscheidenden Elementen des Veränderungsprozesses: den Konflikten und Friedensbemühungen, den geopolitischen Fragen und Problemen sowie den wirtschaftlichen Sachverhalten. All diese Punkte werden entweder aus einer Makroperspektive oder aus der eingeschränkten Sicht von Länderstudien beleuchtet. Politische 68

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Empfehlungen und Voraussagungen stützen sich oft auf nur wenige Fall- oder Länderstudien oder auf regional beschränkte Ethnographien (Goody 1990) und sind äußerst spekulativ. Außerdem besteht das Bedürfnis, die Auswirkungen des Zusammenbruchs der Sowjetunion auf Europa und Asien zu untersuchen.7 Kern dieser Makroregion und dieser beiden Kontinente ist Zentralasien, eine Region, die durch verschiedene sich ergänzende, aber auch gegensätzliche Ansprüche und Visionen auf die Probe gestellt wird. Michail Gorbatschow bezog sich in seinem Buch »Perestroika« auf Eurasien und stellte die Sowjetunion als einen eurasischen Staat dar, der für Europa und die asiatisch-pazifische Region eine Brückenfunktion übernimmt. Sein Ratgeber Igor Malaschenko behauptete, dass Russland ethnisch und kulturell einzigartig sei. Es läge sowohl in Europa als auch in Asien und sei damit ein echter eurasischer Staat sowie Anziehungspunkt für eine Vielzahl ethnischer Gruppen rund um Russland (Hauner 1994). Beide betrachten Russland und die GUS als Staaten, denen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Region zufällt. Im Gegensatz dazu nannte Huntington (1993), mit Blick auf ein neu entstehendes geokulturelles Eurasien, die Türkei ein »zerrissenes Land«, das sich nicht sicher sei, ob es zur westlichen Zivilisation gehöre oder nicht. Er schreibt hierzu: »Having rejected Mecca, and then being rejected by Brussels where does Turkey look? Taschkent may be the answer« (Huntington 1993: 42).

7 Viele Experten in Europa und Asien analysieren die Region des Kaspischen Meeres und ihre Binnenländer auf der Grundlage zweier Vorstellungen: »ein ›Korridor‹ und eine ›Route‹« (Shimizu/Yakushik 1998: 22). Shimizu und Yakushik folgend, kann ein Korridor als ein räumliches System geopolitischer, geoökonomischer, geokultureller und anderer Interessen definiert werden. Diese stützen sich (oder sollen sich stützen) auf Handelsbeziehungen und historische, kulturelle oder ethnische Verbindungen und Zusammenhänge auf globaler oder regionaler Ebene, wie die transatlantischen (Westeuropa – Nordamerika), die asiatisch-pazifischen (Nordamerika – Südostasien), die panamerikanischen (Nord- und Südamerika) und die iberoamerikanischen Korridore zeigen.

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Die Überwindung nationaler Grenzen, so spekuliert Huntington, kann zu einer Wiederbelebung der Turk-Zivilisation führen, die ein Territorium von Griechenland bis China umfasst. Bezeichnenderweise hat Suleyman Demirel, der ehemalige türkische Premierminister, häufig die einflussreiche Rolle der Türkei in Eurasien hervorgehoben. Es scheint, als ob der Begriff »Türkische Welt« (Winrow 1995a), der für ein ausgedehntes Gebiet zwischen Adria und Chinesischer Mauer benutzt wird, und Demirels Darstellung von Eurasien ein und dasselbe seien. Der in Istanbul lebende britische Wissenschaftler Winrow ist der Auffassung: »Hence in a speech to the nationalist Turkish Clubs Association in Ankara in February 1993, Demirel declared that in Azerbaijan and in Central Asia a new community has evolved known as ›Eurasia‹ which was inhabited by Turks [...] The Turkish president noted that ›Turkey lies at the very epicentre of the vast geography and the new geopolitics of Eurasia‹. This ›Eurasian reality‹ was inhabited by 200 million people spread from the Adriatic to the China Chinese Sea who shared common roots, languages, religions, and cultures« (Winrow 1995b: 15).

Zusammenfassend halten wir fest, dass die räumliche Dimension eines geokulturellen Eurasiens nicht eindeutig festgelegt ist und auch kein allgemein gültiges Konzept darstellt, das sich auf empirische Untersuchungen stützt (Humphrey 2002). Einige Ansätze und Initiativen heben das persische, indische oder chinesische Erbe hervor, andere wiederum das türkische oder auch russisch-sowjetische. So verbirgt sich hinter dem vom kasachischen Präsidenten Nasarbajew 1994 unterbreiteten Vorschlag, eine »Eurasische Union« als Alternative zu der »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten« zu gründen, die Absicht, den gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen russisch-sowjetisch-kasachischen Verflechtungsraum aufrechtzuerhalten und damit die Kontinuität der Zusammenarbeit zwischen Russland und Kasachstan sicherzustellen (Prasauskas 1995). Die Punjab Universität mit Sitz in Chandigarh, Indien, wiederum richtete ein Forschungszentrum für »Geopolitische Studien Zentralasiens« ein, das hauptsächlich indische Ansprüche berücksichtigt (Puri 1995). Die territorialen Begriffe solcher Konzeptualisierungen vom geographischen Raum folgen im Allgemeinen Huntingtons (1993, 1996) Argumentationslinie, die das Vorhanden70

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sein von Konfrontationen zwischen mehr oder weniger homogenen Kulturkreisen oder Zivilisationen fokussiert. Sein Ansatz gründet auf dem Konzept kultureller Integrationsformen jenseits von wirtschaftlicher Integration oder dem Wettbewerb der Nationen oder Regionen. Laut Wallerstein (1990, 1991) ist eine Zivilisation »a particular concatenation of worldview, customs, structures and culture. […] A civilisation refers to contemporary claim about the past in terms of its use, in the present to justify heritage, separateness, rights« (Wallerstein 1991: 187, 215, 235f.). Ein Defizit solcher Konzeptualisierungen ist, dass die Trennung in relativ homogene, kulturell integrierte räumliche Strukturen nicht der Realität entspricht. Wir haben es eher mit heterogenen, sich überlappenden Habitats verschiedener Kulturen bzw. verschiedener ethnischer und religiöser Gruppen von Asiaten und Europäern zu tun. Gladney (1992) z.B. präsentiert empirisches Beweismaterial für die Islamisierung der chinesischen Geopolitik und widerlegt damit die Annahme von der Unvereinbarkeit der islamischen und der konfuzianischen Zivilisationen. Er folgert, dass der Transislam ein wichtiger Faktor in Eurasien sei. Sowohl das makroethnische Bild als auch die Protagonisten eines Eurasiens weisen nicht eindeutig auf territorial segmentierte Zivilisationen hin. Die kulturelle Mischung entlang einer gedachten querkontinentalen Achse auf der eurasischen Landmasse variiert. Die in den letzten Jahren zu beobachtende Zunahme geographischer Mobilität hat dazu beigetragen, die regionale Integration zu stärken, trotz zunehmender Betonung der neuen nationalen Identitäten. Die Aussage, dass Globalisierung und Lokalisierung zwei Konsequenzen ein und desselben Prozesses seien, ist schon zu einem Allgemeinplatz geworden. Giddens bemerkt dazu treffend: »Globalisation can thus be defined as the intensification of world-wide social relations which link distant localities in such a way that local happenings are shaped by events occurring many miles away and vice versa. This is a dialectical process because such local happenings may move in an observe direction from the very distanciated relations that shape them. Local transformation is as much part of globalisation as the lateral extension of social connection across time and space« (Giddens 1990: 64).

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Giddens Standpunkt, dass lokale Veränderungen Teil des Globalisierungsprozesses seien, hilft zu erklären, warum lokaler Nationalismus sowie die »Fundamentalismen«, die in den 1980er und 1990er Jahren in Erscheinung traten, keine lokalen Entwicklungen gegen die Globalisierung sind oder gar Anzeichen für aufeinander prallende Zivilisationen. Sie sind vielmehr wesentliche Aspekte des Globalen. Darüber hinaus leben Mitglieder von »Wir-Gruppen« sehr häufig in translokalen, transnationalen oder sogar transreligiösen Nachbarschaften, die in ständigem Austausch mit den »anwesend Abwesenden« stehen (Peleikis 2003; Pries 1996; Kaiser 1998b). Die Konstanz und Langlebigkeit dieser Formen von (Trans-)Vergesellschaftung erfordert Untersuchungsansätze, die über nationale oder andere statische Formationen hinausgehen, sowie ent-territorialisierter Begriffe.

Fazit Said (1995: 5) behauptet sehr richtig: »[…] geographical and cultural entities […] are man-made«. Lokalitäten sind nicht gegeben, sondern werden sozial konstruiert (Appadurai 1995). Man sollte sich deshalb auf die Prozesse konzentrieren, wie Lokalität produziert (ebd.) oder konstruiert wird (Berger/Luckmann 1969). Die Produktion lokaler und translokaler Netzwerke, Nachbarschaften oder Lebenswelten wird immer mehr zum Kampf (Peleikis 2003). Unterschiedliche soziale Akteure sind in andauernde Aushandlungsprozesse involviert, in denen die Konstruktion und die Produktion von »Lokalitäten« und »Netzwerken« stattfindet. Bei der Aneignung des territorialen Raumes werden Diskurse immer wichtiger (Agnew/Corbridge 1995: 227). Die Wiederbelebung der Seidenstraße ist eine Erscheinungsform der Globalisierung, die durch »Akteurs-Netzwerke« forciert wurde. Der Übergang kann als eine Bewegung von lokaler Ebene hin zu verschiedenen globalen Netzwerken ohne Berücksichtigung von Nationalitäten interpretiert werden. Die Bedingungen der Übergangsgesellschaft spiegeln sich besonders in den asiatischen Handelsrouten und dem allgegenwärtigen Versuch wider, asiatische Waren zu verwestlichen. Die wirtschaftlichen Tätigkeiten der grenzüberschreitenden pendelnden Händler verbinden Europa und Asien. Menschen, Waren und Wissen sind die wesentlichen Elemente der soziokulturellen Integra72

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tion in diesem geokulturellen Raum. Die Vorherrschaft des US-Dollars auf den Märkten sowie die Tatsache, dass westliche Markenprodukte gefälscht werden, machen eine Diskrepanz zwischen dem imaginären Europa, dem imaginären Westen einerseits und den realen asiatischen Einflüssen andererseits augenfällig. Das »Eurasien im Entstehen« lebt mit dieser Diskrepanz der Identifikation mit dem imaginierten Westen und der tatsächlichen Nähe der eigenen Entwicklung zu den gesellschaftlichen Entwicklungen in den asiatischen Ländern. Aber selbst in Europa ist das westliche Wohlstands- und Wohlfahrtsmodell gefährdet und die Informalisierung Teil der gesellschaftlichen Entwicklung. Wo man hinschaut, sieht es so aus, als entstehe ein Eurasien jenseits nationaler Grenzen.

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Hans-Dieter Evers, Markus Kaiser

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Dimensionen der Raumaneignung

Postsowjetisches Eurasien – Dimensionen der symbolischen und realen Raumaneignung 1 Markus Kaiser Globalisierung oder multilokale Verortung und Lokalität werden nicht mehr ausschließlich – oder auch nur vorrangig – als Gegensätze verstanden, sondern als wechselseitig vermittelte Prozesse, die nur im gegenseitigen Bezug verständlich werden (Nederveen Pieterse 1994). Appadurai (1995, 1996) sieht hier jedoch zudem den Ausgangspunkt für den Auflösungsprozess eines territorial gebundenen Verständnisses von Gesellschaft: Die Enträumlichung des Sozialen stellt nicht nur die Ortsgebundenheit, sondern oft sogar die Ortsbezogenheit der Produktion von kollektiven Identitäten zunehmend infrage. Denn die von Appadurai und Nederveen Pieterse beschriebene Imagination möglicher Leben ist zunehmend eine Melange von Identifikationsangeboten, die zur eigenen Identitätskonstruktion herangezogen und neu kombiniert werden. Beck (1997) fordert deshalb, sich von der Idee zu verabschieden, es gebe klar zu definierende Kulturen, deren Träger ein Volk sei, welches wiederum im Territorium eines Staates beheimatet ist. Vielmehr gibt es wohl »Habitats of Meaning« (Hannerz 1996: 22) – Bedeutungsräume, in denen sich unterschiedliche kulturelle Symbole mit unterschiedlicher Reichweite ausdehnen und sich dabei – quer zu den Grenzen von Kulturen, Völkern und Staaten – überlappen (ebd.). Die new regional geography erörtert ihrerseits Fragen der Konzeptualisierung von zunehmend »multidimensionalen ökonomischen Geo1

Wesentliche Diskussionen im Rahmen meiner Forschungsarbeiten zum grenzüberschreitenden informellen Sektorhandel in Zentralasien mit Hans-Dieter Evers rankten um die These, dass die durch den Zerfall der Sowjetunion möglich gewordene Marktausdehnung zu soziokulturellen Integrationsprozessen entlang der historischen Seidenstraße führt. Die Thematisierung der Beziehungen zwischen Wirtschaft und Kultur, Markt und Ethnizität stand hierbei im Mittelpunkt. Diesen Gesprächen verdanke ich viele Anregungen, die in diesen Beitrag eingeflossen sind. Überarbeitete Fassung von »Eurasien: Ein Beispiel von Integration durch Marktexpansion?«, in: Heiko Schrader/Markus Kaiser/Rüdiger Korff (Hg.) (2001): Markt, Kultur und Gesellschaft. Zur Aktualität von 25 Jahren Entwicklungsforschung, Hamburg: LIT, S. 31-52.

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graphien« (Lynn 1999; O Tuathail 1996). Dem Konzept der Region kommt bei der Analyse sozialen Wandels und seiner Einbettung in spezifische raum-zeitliche Bezüge eine besondere Bedeutung zu. Ein gewisses Spannungsverhältnis ergibt sich dabei zwischen eher traditionellen politökonomischen (kontextunabhängigen) Ansätzen und neueren ethnographischen (kontextbezogenen) Ansätzen. Letztere verbinden sozialen Wandel mit den ihn bewirkenden sozialen Netzwerken, Beziehungen und Strukturen. Region wird als ein Konzept eingeführt, das Struktur, Raum und soziale Handlungen umfassen kann und das durch sie – und nicht mehr über territoriale Grenzen allein – definiert wird. Region »[…] as the place where social activity (everyday life) is played out through a complex mesh of life path« (Lynn 1999: 826). Diese Verbindung von Handlungskompetenz und Raum – oder die handlungstheoretische Betrachtung der Aneignung von Räumen – soll an den Begriff »Eurasien« angelegt werden, der vor dem Hintergrund der regionalen Transformation, Marktausdehnung und Globalisierung (Shlapentokh 1997; Tunander et al. 1997; Evers/Kaiser i.d.B.) für diese Region zunehmend Verwendung findet. Die Makroregion oder kleinräumiger gedachte Regionen »Eurasien« stellen nach Auflösung der Sowjetunion neue Identifikationsangebote dar, die einen inhaltsleer gewordenen »Bedeutungsraum« mythisch aufladen.

1. Die »Eurasier« und »Eurasien«: Begriffsbestimmungen Der »Eurasismus« ist ein Identitätskonstrukt, das unter russischen Emigranten in Sofia, Prag, Paris und speziell in Wien unter dem besonderen Einfluss des Fürsten und berühmten Sprachwissenschaftlers N.S. Trubezkoj zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der 1920er Jahre des letzten Jahrhunderts entstand (Geier 1996: 139f.; vgl. Kozlovsky i.d.B.). Verbreitet wurden die Ideen der »Eurasier« vor allem in dem 1921 in Sofia erschienenen Sammelband »Exodus nach Osten. Vorahnungen und Erfüllungen. Die Behauptung der Eurasier«, aber auch in einer so genannten Evrasijskaja Chronika sowie in der ab 1928 unter sowjetischem Einfluss in Paris herausgegebenen Zeitung Evrasija (Kozlovsky i.d.B.; Ignatow 1992). Mit dem »Eurasismus« verbindet sich eine Kritik des westlichen Fortschrittsmodells (Stichwort: »mili80

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tanter Ökonomismus«) mit einem relativistischen Kultur- und Geschichtsbild, das starke Anklänge an die Ideen Oswald Spenglers erkennen lässt. Aus einer 1925 veröffentlichten Schrift des Geographen und politischen Denkers Savizkijs, der als eigentlicher Begründer der Eurasischen Bewegung gilt, zitiert Ignatow wie folgt: »Die eurasische Konzeption ist ein resoluter Verzicht auf den kulturhistorischen Eurozentrismus: Ein Verzicht, der sich nicht aus irgendwelchen emotionalen Erlebnissen, sondern aus bestimmten wissenschaftlichen und philosophischen Voraussetzungen ergibt. Eine dieser Voraussetzungen ist die Verneinung der universalistischen Auffassung der Kultur, die in den neuesten ›europäischen‹ Begriffen herrscht« (Ignatow 1992: 10).

Vor diesem Hintergrund entwickeln die »Eurasier«, die sich im Übrigen zum orthodoxen Christentum bekennen, die Idee, dass Russland ein besonderes Drittes darstelle, das weder zu Europa noch zu Asien gehöre, also vielmehr ein »eurasisches« Phänomen sei. Obgleich von der Idee her sowohl gegen die »Slawophilen« als auch gegen die »Westler« gerichtet, sieht Ignatow die »Eurasier« – begründet durch die gemeinsame Abwehr westlich-europäischen Denkens – eher auf der Seite der »Slawophilen« (siehe hierzu auch Matl 1953; Luks 1986). Ähnlich ambivalent beurteilt Ignatow die Haltung der »Eurasier« zum Bolschewismus, der von ihnen offenbar als »das kleinere Übel im Vergleich zu der politischen Abhängigkeit des Landes vom Westen« (Ignatow 1992: 26) hingenommen worden war. »Eurasien« bezieht sich somit auf eine geographische, ethnische und kulturelle Identität Russlands, die in den Augen der Anhänger dieser Konzeptionalisierung – den »Eurasiern« – unabhängig vom restlichen Europa und Asien bestehe bzw. von der russischen Politik entwickelt und gefördert werden soll. Unter Asien, im Unterschied zu »Eurasien« (Russland), verstehen sie Japan, China (jenseits der Chinesischen Mauer), Indochina, den Iran und Vorderasien, unter Europa etwa die heutigen Staaten der Europäischen Union (Böss 1961: 26). Die Unterscheidung zwischen einem europäischen und einem asiatischen Russland wird als falsch angesehen. Stattdessen wird eine neue, einheitliche Identität für Russland angestrebt, die sich sowohl aus europäischen als auch aus asiatischen Einflüssen zusammensetzt. Bei der Beschreibung dessen, was die eurasische Identität ausmache und 81

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worin sie sich von Asien und Europa unterscheide, gab es aber auch unter den damaligen »Eurasiern« keine einheitliche Konzeptionalisierung. Einen Begriff »Eurasien«, der über Russland hinausgeht, führt der österreichische Geologe Eduard Süss in seinem dreibändigen Werk »Das Antlitz der Erde« (1885-1909) ein (Böss 1961: 25). Er betont darin den Zusammenhang der Landmassen Europas und Asiens (siehe auch Evers/Kaiser i.d.B.). Für die Analyse der heutigen Entwicklung der neuen unabhängigen Staaten, die nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden sind, stellt dieser Umstand einen zentralen Ausgangspunkt dar. Schon die Geschichte der Seidenstraße zeigt, dass Einflüsse aus verschiedenen Teilen Europas und Asiens in Zentralasien2 zusammentrafen, was auch den weiteren historischen Verlauf beeinflusste und immer noch beeinflusst. Bereits zur Blütezeit der Seidenstraße war die Marktexpansion – der Karawanenhandel entlang der Seidenstraße – ein Motor soziokultureller Veränderungen. Die Verwendung des Begriffs »Eurasien« in Zeitschriften, Forschungsinstituten, Stiftungen, kulturellen Projekten etc.3 erfährt nach 2 Es handelt sich dabei um die Mongolei, den chinesischen Xinjiang, Kasachstan und die Staaten des exsowjetischen Zentralasiens (Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan). »In demographic and economic terms all five states [of Central Asia, M.K.] are part of the Third World. All have high rates of fertility, each one’s population is disproportionately young, and life expectancy throughout the region is markedly lower than in the more developed world. All five countries have low per capita incomes, low rates of productivity, and a high proportion of their populations engaged in agriculture« (Mandelbaum 1994: 2). 3 Konkret kann hier auf eine Reihe von Umbenennungen bzw. Neugründungen verwiesen werden, die ein gewachsenes Interesse an »eurasischen« Fragestellungen anzeigen. Als Beispiele können genannt werden: Europe-Asia Studies (früher Soviet Studies), Eurasian Studies Yearbook, Eurasian Studies, Slavic Review (Untertitel: American Quarterly of Russian, Eurasian and East European Studies), Bibliographic Guide to Slavic, Baltic and Eurasian Studies, The Modern Encyclopedia of Russian, Soviet and Eurasian History (früher: The Modern Encyclopedia of Russian and Soviet History), The Modern Encyclopedia of East Slavic, Baltic and Eurasian Literatures (früher: The Modern Encyclopedia of Russian and Soviet Literatures).

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dem Zerfall der Sowjetunion eine Hochkonjunktur – daneben wird er aber auch politisch verwendet. Vom kasachischen Präsidenten Nasarbajew wird er benutzt, um die Zugehörigkeit zu Europa und Asien durch die geographische Lage und die Aufteilung in nahezu gleich große europäisch-russische und asiatische Bevölkerungssegmente zum Ausdruck zu bringen. Das Land soll dadurch und durch die Respektierung beider Teile in allen Politikfeldern (wie beispielsweise der Sprachpolitik) integriert werden, ohne eine Homogenisierung zu forcieren. In der heutigen Russischen Föderation wird der Begriff »Eurasien« überwiegend von denjenigen benutzt, die eher auf Distanz zu Europa gehen wollen und als Argumente das byzantinische Erbe und die gewaltige russische Landmasse auf dem asiatischen Kontinent anführen. Aber auch die politischen Analysten, die von West-, Mittel- und Osteuropa aus auf das »eurasische« Russland argumentativ verweisen, führen zaristrische und sowjetische obrigkeitsstaatliche Traditionen ins Feld, die politisch undemokratisch sind und kulturell gesehen dem Asiatischen entstammen: Traditionen also, die eine Positionierung gegen die Europa-Ambitionen Russlands untermauern. Die russischen kulturphilosophischen und realpolitischen Eurasien-Konzeptionalisierungen idealisieren ihrerseits alle asiatischen Einflüsse. Sie verweisen auf das reiche kulturelle Erbe des ca. 20 % betragenden muslimischen und (weit kleineren) buddhistischen Bevölkerungsanteils Russlands.4 Der Begriff »Eurasien« erfährt also die unterschiedlichsten Verwendungen (Bassin 1991). Es ist die in ihm enthaltene Synthese aus »Europa« und »Asien«, die ihn in der Anwendung so flexibel macht. Im Gegensatz zu dem die Distanz zwischen Russland und Europa betonenden Gebrauch, soll im vorliegenden Band mit dem Begriff »Eurasien« die geographische Makroregion zwischen Dunmore Head und Wladiwostok bezeichnet werden, die europäische, mittelasiatische, ost- und südostasiatische Staaten umfasst. Aktuelle Wirtschaftsdaten sowie wirtschaftliche und politische Prozesse lassen Integrationstendenzen innerhalb dieses geopolitischen Raumes erkennen, dessen 4 Eine Vielzahl jüngerer Veröffentlichungen bearbeitet das Spannungsverhältnis zwischen Europa und Asien in Russland und in den neuen unabhängigen Staaten (Neumann 1996, 1997a, 1997b, 1998; Hauner 1992, Chinyaeva 1996, Dawisha/Parrot 1994) sowie in der türkischen Politik (Tunander 1995).

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Grenzen mit dem Gebiet der legendären Seidenstraße zusammenfallen (Evers/Kaiser i.d.B.). Hierbei scheint wieder Marktexpansion – über die Grenzen der ehemaligen Sowjetunion hinaus – der entscheidende Faktor neuerlicher soziokultureller Veränderungen zu sein. Handelt es sich bei »Eurasien« lediglich um abgehobene diplomatische Diskurse, um einen Neoimperialismus, oder ist tatsächlich ein »eurasischer« Raum im Entstehen?

2. Das neue Eurasien: neoimperialistische Interessen? Mit dem Ende der Sowjetunion ist das geopolitische Interesse an Zentralasien nicht erloschen. Im Gegenteil: Konnten ausländische Staaten zu Sowjetzeiten keinen Einfluss auf die zentralasiatische Region nehmen, so konkurrieren sie heute um Einflussmöglichkeiten und die Gunst der neuen unabhängigen Staaten. Nach Mackinder (1904) entsprechen die geographischen Gegebenheiten der fünf zentralasiatischen Staaten denen einer Landmacht. Sie besitzen keinen Zugang zu den Weltmeeren, weshalb die Beziehungen zu den Nachbarstaaten und die Nutzung von deren Transitrouten eine entscheidende Rolle für die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Staaten spielen. Internationale Kooperationen sowie internationaler Handel können nur ausgeweitet bzw. beibehalten werden, wenn Verbindungsrouten bestehen. Usbekistan, Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan und Kirgistan haben sich vor allen Dingen zwei Ziele gesetzt: politische Unabhängigkeit und wirtschaftlichen Aufschwung. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, beide Ziele gleichermaßen zu verwirklichen. Der Erhalt bzw. die Stabilisierung der politischen Unabhängigkeit fordert eine stärkere Ablösung von Russland, dessen Einfluss nach wie vor sehr stark ist. Dies könnte sich aber wirtschaftlich fatal auswirken, weil Russland für diese Länder ein sehr wichtiger Handelspartner ist. Da bei der Hinwendung zu anderen Staaten die Gefahr besteht, nur den einen »Großen Bruder« gegen einen anderen auszutauschen, ist die beste Strategie, sowohl politische Unabhängigkeit als auch wirtschaftliche Entwicklung zu erreichen, eine breite Diversifizierung der Kooperation mit anderen Staaten. Genau diese Strategie scheinen die fünf

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zentralasiatischen Staaten zu verfolgen und dank zahlreicher Kooperationsangebote einer Vielzahl von Staaten scheint dies auch möglich. 2.1 Die EU und die neuen unabhängigen Staaten: TACIS5 Mit dem Zerfall der Sowjetunion initiierte die Europäische Union Ende 1991 das Programm TACIS, um mit den neuen unabhängigen Staaten zu kooperieren. Dabei stellt der Transfer von Wissen, z.B. im Bereich der Rechtsprechung oder des Finanzmanagements, einen Schwerpunkt des TACIS-Programms dar. Bei der Finanzierung von Projekten wird mit internationalen Finanzorganisationen zusammengearbeitet. »With the limited budget it is well accepted that Tacis’ role would primarily be one of catalyzing and supporting investments, rather than itself financing investments« (Explanatory Memorandum).

Die konkreten Initiativen bestehen vor allem aus Großprojekten wie TRACECA (für die Entwicklung von Infrastruktur) oder INOGATE (Ölund Gaspipelines). Das klare Ziel der Europäischen Union ist dabei die Etablierung von Demokratie und Marktwirtschaft. – Demokratie: »In this area [democracy, M.K.], assistance shall focus on the promotion of good governance through support to the policymaking process, and support for key institutions of the legislative, judicial and administrative machinery« (Explanatory Memorandum). Zusätzlich zu Reformen im staatlichen institutionellen Bereich soll vor allem die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Organisationen gefördert werden, indem beispielsweise die Aktivitäten von Konsumentenvereinigungen oder die Vertretungen von bestimmten Berufsgruppen unterstützt werden. – Marktwirtschaft: Da fehlende gesetzliche und administrative Rahmenbedingungen das Haupthindernis für einen Anstieg von ausländischen Investitionen darstellen, lag der Schwerpunkt der Initiativen im wirtschaftlichen Bereich bisher bei Reformen durch Privatisierung, Liberalisierung der Märkte und der Schaffung von 5

Die Beschreibung der TACIS-Initiative beruht hauptsächlich auf dem »Explanatory Memorandum« der EU (siehe hierzu http://europa.eu.int/ comm/dg1a/nis/reg_99/memo/1.html, Stand: 02.06.2000).

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marktwirtschaftlichen Institutionen sowie regulatorischen Strukturen. Da TACIS oft die finanziellen Mittel zur Unterstützung selbst empfohlener Reformen nicht bereitstellen kann, fehlen dringend benötigte Projekte und Studien zu Problemfeldern, die zwar bekannt sind, für die aber weder eigene noch fremde Mittel vorhanden sind. »The financing of feasibility studies not linked to potential follow up investment should not be supported« (Explanatory Memorandum). Infolge dieses Umstands bleiben wichtige Problemfelder wie hohe Arbeitslosigkeit, eine schwierige soziale Lage im Allgemeinen oder der Umweltschutz unberührt. »The closure of uncompetitive industries and the restructuring of the public service have produced large-scale unemployment. Social provisions have been scaled down« (Explanatory Memorandum).

Das Programm TRACECA (TRAnsport Corridore Europe Caucasus Asia)6 wurde im Mai 1993 anlässlich einer Konferenz der Europäischen Union in Brüssel gegründet. 1995 wurde mit CAETTTI (Central Asian External Trade and Transit Transport Initiative) bei der UNCTAD ein vergleichbares Programm der Vereinten Nationen etabliert. Das Ziel beider Programme ist die Förderung der und technische Hilfestellung für die Entwicklung von Transportwegen (Bahn, Autoverkehr, Flugzeuge und Schiffe) zwischen der Europäischen Union, den Staaten Zentralasiens und des Kaukasus (Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgistan, Turkmenistan und Tadschikistan). 1996 wurden die Mongolei und die Ukraine und 1998 Moldawien in den Kreis der Länder des TRACECA-Programms aufgenommen. Vom 7. bis 8. September 1998 fand in Baku, Aserbaidschan, die Konferenz »TRACECARestauration of the Silk Road« statt. Der große Teilnehmerkreis umfasste neben den Präsidenten von Aserbaidschan, Bulgarien, Georgien, Kirgistan, Moldawien, Rumänien, Türkei, Usbekistan und der Ukraine 6 Im Rahmen von TRACECA wurden bisher 25 »technical assistance projects« im finanziellen Umfang von 35 Mio. Euro und 11 »investment projects« im Umfang von 47 Mio. Euro verwirklicht (siehe hierzu http:// www.trcaca.org, Stand: 20.05.2000).

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Dimensionen der Raumaneignung

auch Vertreter der Europäischen Union sowie Regierungsmitglieder und Verkehrsminister aus insgesamt 32 Ländern weltweit (TRACECA 2000). Zusätzlich nahmen noch zwölf Repräsentanten internationaler Organisationen teil. »The most important achievement of the conference was the signing by the heads of delegations of Armenia, Azerbaijan, Bulgaria, Georgia, Kazakhstan, Kyrgyzstan, Moldova, Romania, Tajikistan, Turkey, Ukraine and Uzbekistan of the ›Basic Multilateral Agreement on International Transport for the Development of the Transport Corridor Europe-Caucasus-Asia‹ and Technical Annexes to the Basic Agreement on: international rail transport, international road transport, international commercial maritime navigation, customs procedures and documentation handling« (TRACECA 2000).

Das Erreichen dieser Ziele soll von einer permanenten Kommission in Baku gefördert werden, die von der Europäischen Union im Rahmen der TRACECA-Programms unterstützt wird. Die dadurch entstehenden Routen sollen mit den TENs (Trans European Networks) verbunden werden, um so die Kontakte zwischen Europa und den bisher international kaum integrierten Staaten Asiens zu fördern. Alle diese Initiativen widmen sich der großen Aufgabe der infrastrukturellen Erschließung Eurasiens und knüpfen dabei an den Mythos der Seidenstraße an. »Als ›Seidenstraße des 21. Jahrhunderts‹ wird jener ›eurasische Korridor‹ bezeichnet, den die Europäische Union mit Unterstützung der Vereinigten Staaten am südlichen Rand der Russischen Föderation einrichten will« (Radvanyi 1998: 14). Die infrastrukturelle Kopplung der europäischen und der asiatischen Landmasse durch ein Netz von Straßen und Eisenbahnlinien, von Pipelines und Häfen und durch einen Luftkorridor soll die neuen unabhängigen Staaten aus ihrer territorialen Isolierung befreien. Durch eine erfolgreiche Entwicklung der Transportwege ist eine schnellere und stärkere Integration der Regionen möglich. Einen entscheidenden Schritt in diese Richtung wird sicherlich auch die EU-Osterweiterung darstellen, durch die der Wirtschaftsraum der EU nicht nur größer wird, sondern durch die sich auch neue Grenzen nach Osten und ein direkter Zugang zum Schwarzen Meer ergeben. Bemerkenswert ist auch, dass man sich innerhalb der Europäischen Union ebenso wie bei den multilateralen Gebern einstweilen der Begriffe 87

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»Eurasien« oder der »Seidenstraße« bedient, um die Region zu benennen und dadurch symbolisch zu integrieren. 2.2 Die USA und die neuen unabhängigen Staaten Die USA initiierten sehr schnell nach der Unabhängigkeit der neuen Staaten Zentralasiens und des Kaukasus Kontakte, nach Kasachstan hinein sogar schon vor dem Zerfall der Sowjetunion. Die wichtigsten Ziele der amerikanischen Regierung sind: – die Beseitigung der Atomwaffen Kasachstans; – die Einflussnahme auf die Errichtung und Nutzung neuer Pipelines, die an Russland und dem Iran vorbeiführen sollen; – die Etablierung von Demokratie und Marktwirtschaft bei gleichzeitiger Zurückdrängung islamischer und russischer Einflüsse (Cohen 2000a). Die Bedeutung geopolitischer Ziele – Stärkung des US-amerikanischen Partners Türkei – zeigt sich dabei besonders deutlich in der Tatsache, dass die Pipelines nach den Wünschen der USA über den Schwarzmeerhafen Baku (Aserbaidschan) in die Türkei nach Ceyhan verlaufen sollen (und werden, wie es mittlerweile beschlossen wurde). Diese Route ist zwar weit kostspieliger als eine, die über Russland oder den Iran läuft, bewirkt aber, dass die strategische Rolle beider Länder minimiert wird, was durchaus beabsichtigt ist.7 Die Ziele der Europäischen Union und der USA scheinen sich im Allgemeinen zu gleichen (vgl. Brzezinski 1997). Aus der Sicht mancher zentralasiatischer Staaten bleibt aber das Ziel der Etablierung von Demokratie bei den Initiativen der USA hinter ihren anderen Zielen zurück. 7 »The strategic implications of trying to hinder Russia and Iran in their traditional areas of influence are yet to be fully played out, but the underlying assumption that economic and commercial progress can be subordinated to political and geostrategic objectives is problematic at best in a global oil market« (Hickok 2000: 18). »Millions of dollars are being spent for lobbying activities on behalf of oil companies, which want to do business in Iran regardless of U.S. strategic interests« (Cohen 2000b).

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Dimensionen der Raumaneignung »To preserve its geopolitical influence, the United States are willing to close and have closed its eyes to the existence of authoritarian regimes and successfully cooperating with them, if this meets its so called ›vitally important interests‹. In contrast, the European Union ultimately desires a politically and economically stable and predictable space on its doorstep which observes European parliamentary standards and consists of organized and mutually cooperative states built on the EU model« (Laumulin 2000).

Diese (geo-)politischen Leitlinien sind im »Silk Road Strategy Act« (Gesetzestext der USA) fixiert und auch dort bedient man sich der Analyseeinheit »Eurasien«. Auf dieser makropolitischen Ebene kann eine neoimperale Interessenpolitik konstatiert werden, die westlich-zentristische Züge trägt (Brzezinski 1997). Amerikanische Geostrategen wie Zbigniew Brzezinski sehen die Schwierigkeiten für die USA: Sie wären eine raumfremde Macht in Eurasien. Nur wenn es der USA, so Brzezinski, gelingt, in Eurasien Brückenköpfe oder Protektorate zu behalten oder auch neue zu bilden, können sie die einzige Weltmacht bleiben (vgl. Brzezinski 1997). Das westliche Interesse liegt in der Schwächung der Russischen Föderation, deren zentralasiatisches Hinterland über die Türkei oder direkt für westliche Interessen gewonnen werden soll: »Indem man die Souveränität der neuen unabhängigen Staaten stärke und den multinationalen Konzernen Zugriff auf ihre natürlichen Ressourcen gewähre, beschleunige man den Prozess, der Moskau zwingen werde, seine neoimperialistische Haltung endgültig aufzugeben« (Radvanyi 1998: 14). Die Reaktionen der zentralasiatischen Staaten variieren zwischen Ablehnung und Isolationismus in Turkmenistan und der Gewährung von Landerechten während des Irak-Krieges (2003) für USKriegsflugzeuge in Usbekistan. Zusätzlich und entsprechend dem historischen Vorbild der »Eurasier« folgt auf die anfängliche westlichmarktwirtschaftliche Ausrichtung eine geopolitische Gegenbewegung der (Re-)Orientierung einiger zentralasiatischer Staaten und seiner politischen Protagonisten in der Region an dem »japanischen Modell«, das dem Staat eine stärkere Rolle bei der Lenkung der Wirtschaft zuspricht.

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2.3 Japan und die neuen unabhängigen Staaten Im Juli 1997 verkündete der damalige japanische Premierminister Hashimoto den Beginn einer neuen »Eurasian Diplomacy« (Hickok 2000: 22). Trotz dieser im Vergleich mit den USA oder der Europäischen Union relativ spät einsetzenden Intensivierung der Kontakte zwischen Japan und den zentralasiatischen Staaten entwickelte sich der finanzielle Einsatz Japans schnell zu herausragender Größe. Lediglich für Projekte in Armenien übertrifft das finanzielle Engagement der USA das der Japaner in dieser Region.8 Die japanischen Initiativen, beispielsweise von Mitsubishi Cooperation, konzentrierten sich auf die wesentlichen Wirtschaftsfaktoren Zentralasiens, nämlich Energie und Transport. Nach der japanischen Entwicklungsstrategie soll der private Sektor in Japan die führende Rolle bei den Kooperationen mit zentralasiatischen Unternehmen einnehmen und mit der Unterstützung des japanischen Staates auch solche Projekte initiieren, die erst langfristig gewinnbringend sein werden (Hickok 2000).9 Für die zentralasiatischen Staaten ist Japan aus zweierlei Gründen ein besonders attraktiver Wirtschaftspartner: Erstens hat es eine viel geringere sicherheitspolitische Bedeutung als Russland, die USA oder die Europäische Union und ist somit ein politisch weit neutralerer Partner, und zweitens bietet das japanische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell aufgrund seiner asiatischen Provenienz sowohl eine interessante ökonomische als auch kulturelle Alternative zu westlichen Vorstellungen und Lebensweisen. Die Kooperationen zwischen der Europäischen Union, den USA und den zentralasiatischen Staaten hatten für alle Seiten neben ihrer 8 »If Armenian funds are discounted, Tokyo’s economic development aid has increased from approximately 36 % of Washington’s in 1994 to over 108 % in 1997« (Hickok 2000: 24). 9 »The Japanese trading houses appear to be interested in increasing Japanese presence in various regional markets with more concern on volume than profit margin, on long-term growth and alliances with local industries and governments, and on capital retention through asset acquisition while the barrier for entry into the market is still low« (Hickok 2000: 27).

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wirtschaftlichen Bedeutung auch immer einen klaren (geo-)politischen Zweck: Sie schwächten den Einfluss Russlands und des Irans. Für Zentralasien bedeutete dies aber eine starke Abhängigkeit vom Westen sowie die in Kooperationsabkommen eingeforderte Übernahme westlicher Wirtschaftsmodelle und eines westlichen Politikverständnisses. Bestärkt durch Japans Eurasieninitiative haben die Staatsoberhäupter Kasachstans und Usbekistans angekündigt, zukünftig nicht mehr ausschließlich den westlichen Reformplänen zu folgen, sondern sich auch am japanischen Modell zu orientieren.10 Den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Japan und den zentralasiatischen Staaten liegen auch kulturelle und ethnische Verbindungen zugrunde, die revitalisiert bzw. reimaginiert werden. »In part the Japanese interest in the Kyrgyz and the Kazakhs was similar to the Turkish rush to reestablish contact with the Turkic people of Central Asia in 1990. The Japanese felt cultural and ethnic ties to those people who shared Mongol/Northeast Asian heritage, and offered an acceptable pretext for choosing one state over another at time when the fundamentals of engagement had not been thought out« (Hickok 2000: 25).

Der Integration der Europäischen Union entspricht – wenn auch in Asien auf bisher niedrigerem Niveau – der Versuch einer zunehmenden Verflechtung und institutionellen Absicherung des ost- und südostasiatischen Wirtschaftsraums (ASEAN, Asia-Pacific Rim). Der Osterweiterung der Europäischen Union und der damit angestrebten Marktausdehnung entspricht in Asien möglicherweise die Öffnung Japans nach Westen, nach Zentralasien und demzufolge auch nach China. In Zentralasien wird im medialen Diskurs häufig in Bezug auf die Kooperationen mit den USA, der Europäischen Union und Japan auf 10 »He [Nasarbajew, M.K.] remains unwilling to support a Western development strategy that has as one of its core goals the reduction of Moscow’s influence. He sought a balanced foreign policy with strategic allies at the eastern end of the Silk Road like Japan, South Korea, Malaysia, Indonesia and Singapore as well as friends in the West« (Hickok 2000: 35f.).

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das eigene Asiatisch-Sein und auf asiatische Werte verwiesen und damit eine Abgrenzung zu den europäischen Transformationsländern vollzogen. Das Kollektiv stehe im asiatischen Denken traditionell vor dem Individuum, so populäre Argumentationen, die auch die ost- und südostasiatische Debatte um »Asian Values« (Cauquelin/Lim/MayerKönig 1998) prägen. Diese Kritik am westlichen Individualismus und Fortschrittsmodell stellt eine Renaissance der »eurasischen« Debatte der 1920er Jahre dar. Das asiatische Entwicklungsmodell, bei dem die Einführung der Marktwirtschaft der Demokratisierung vorangeht, wird so auch gegenüber osteuropäischen Modellen einer gleichzeitigen Demokratisierung bevorzugt. Obwohl neben der politischen Rhetorik bisher noch wenig beachtet, etablieren sich insgesamt zunehmend engere wirtschaftliche, staatliche, politische und virtuelle Beziehungen zwischen Asien und Europa – wie sich ja auch die Europäische Union um eine Osterweiterung bemüht und die westliche Wirtschaftskooperation die zentralasiatischen Republiken stärker berücksichtigt. Beispielsweise gaben 1997 das russische Monopolunternehmen GASPROM, die französische Ölfirma TOTAL und die malaysische Gesellschaft PETRONAS bekannt, dass sie beim Erdgasabbau in Zentralasien kooperieren (Radvanyi 1998: 15). Mit anderen Worten: Europa und Asien rücken einander näher (Evers/Kaiser i.d.B.) – oder doch nicht?

3. Die Gegenthese zur Integration im eurasischen Kulturraum: »The Clash of Civilizations« Der US-amerikanische Politologe Samuel Huntington formulierte 1993 in seinem Essay »The Clash of Civilizations?« angesichts des Zerfalls des Ostblocks ein Paradigma für eine neue Weltordnung, das die künftigen Bruchlinien der Weltgesellschaft an den verschiedenen Schnittstellen der »Weltkulturen« sieht. Ohne es explizit zu beanspruchen, liefert er damit ein geopolitisches Manifest für die Zeit nach dem Ost-West-Gegensatz. Huntingtons viel diskutierten und zumeist verworfenen Thesen liegt die Annahme zugrunde, dass unüberbrückbare Unterschiede in Bezug auf die Weltanschauung (der Gesellschaftsordnung, der individuellen Freiheit, des Glaubens usw.) die Kulturen voneinander trennen 92

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würden und dass den Akteuren diese Unterschiede im Zuge der Globalisierung zunehmend bewusster würden. Als besonders kritisch und konfliktgeladen beurteilt er den Islam mit seinen »blutigen Grenzen« und seinem Konfliktpotenzial in sämtlichen »gemischt-kulturellen Zusammenhängen« (Huntington 1993, 1996). Ausgehend von kulturellen Integrationsformen steht für Huntington die Aufteilung der Welt in Zivilisationen im Vordergrund, und kulturelle Auseinandersetzungen überlagern in Form eines »clash of civilizations« wirtschaftliche Konkurrenzbeziehungen zwischen Nationen und Regionen. Den »eurasischen« Kulturraum im Blick bezeichnete Huntington (1993) die Türkei als »torn country« (Huntington 1993: 43), d.h. als einen Staat, der nicht weiß, ob er zur westlichen Zivilisation gehört oder nicht (vgl. Evers/Kaiser i.d.B.). Er spekulierte über eine revitalisierte türkische Zivilisation, die – staatliche Grenzen überwindend – einen Raum von Griechenland bis China umfassen könnte. Jedoch sieht er in solchen Beispielen großräumiger Integration eher die Ausnahme als die Regel des Kulturkontaktes. Über die russische Präsenz im Kaukasus wurde in der Moscow News vom Februar 1992 kontrovers debattiert, wobei dieser Umstand von der einen Seite als historischer Fehler bewertet und von der anderen als notwendige Machtpräsenz bereits Jahre vor dem Tschetschenien-Krieg gerechtfertigt wurde. In dieser neuerlichen russischen »Eurasismus«-Debatte wird analog zu Huntington (1993, 1996) vor allem der Konflikt zwischen islamischer und christlicher Kultur herausgestellt. In den autonomen Gebieten des Kaukasus gibt es z.B. fundamentalistische Bestrebungen, die ihre russisch-sowjetischen Bezüge negieren und vor diesem Hintergrund ihre Unabhängigkeit fordern. Selbst diese Region weist eine heterogene Siedlungsstruktur mit einem europäischen Bevölkerungsanteil von mindestens 10 % in Dagestan und bis 68 % im benachbarten autonomen Gebiet von Adygeja auf. Die Bevölkerung Kasachstans besteht aus 46 % Kasachen und 43,8 % europäischen Bevölkerungsgruppen (Russen, Deutsche, Ukrainer, Weißrussen u.a.) (Kaiser 1998b). Entlang eines Kontinuums gehen europäische in asiatische Identitäten über, nehmen entsprechende Bevölkerungsanteile der jeweiligen spirituellen, soziolinguistischen Gruppen graduell zu oder ab. Heterogene Siedlungsstrukturen (insbesondere in den urbanen Zentren) und Siedlungsmuster, die gekennzeichnet sind durch sich überschneidende Siedlungsgebiete verschiedener soziolinguisti93

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scher Gruppen, überwiegen entlang einer gedachten transkontinentalen Achse zwischen Dunmore Head und Wladiwostok oder zwischen Sankt Petersburg und Singapur. Die Defizite des Konzepts von Huntington ergeben sich gerade daraus, dass er, ähnlich wie Wallerstein (1990, 1991), die Weltgesellschaft in abgegrenzte, in sich jedoch relativ homogene und wirtschaftlich und/oder kulturell eng integrierte Räume aufteilt – die sich so im »eurasischen« Kulturraum empirisch jedoch nicht finden lassen. Die Homogenität von Kultur wird nach Nederveen Pieterse (1994) generell überbewertet, bzw. es werde die Tatsache übersehen, dass ein Teil dieser Kultur das Ergebnis einer globalen kulturellen Vermischung ist. Demgegenüber zeichnet Huntington (1993, 1996) mit seinem (fragwürdigen) Entwurf homogener Zivilisationen unverrückbare Determinanten von Konfliktlinien auf und lässt dabei, wie schon gezeigt, pragmatische Aspekte internationaler Politik hinter einem alles erklärenden zivilisatorisch-kulturalistischen Ansatz zurücktreten. Ebenfalls vernachlässigt er ökonomische Faktoren als Konfliktauslöser. Huntingtons undifferenzierte Darstellung eines fundamentalistischen Islam bedient Feindbilder des Westens. Trotz weitgehend übereinstimmender Kritik an Huntingtons Thesen finden sich analoge Deutungsmuster in einigen Publikationen zur Region Zentralasien, die erst jüngst das wissenschaftliche und geopolitische Interesse auf sich ziehen konnten. Auch wenn dies dort nicht explizit erwähnt wird: Das Aufeinanderprallen der slawischen mit der muslimischen Bevölkerung gilt als Konfliktpotenzial der Zukunft, als destabilisierender Faktor in der Region und als große Herausforderung für die Regierungen der jeweiligen Länder.

4. Das Ineinanderlaufen von Asien und Europa in Eurasien: eine Realität? Einen ausschlaggebenden Faktor des Globalisierungsprozesses stellt die Entwicklung der Infrastruktur dar, die durch »kommunikative Erreichbarkeit« (Luhmann 1997: 618ff.) aller Menschen und die Möglichkeit des Transports aller Waren und Menschen an jeden Ort die Bedeutung des Raumes, der räumlichen Trennung verändert. Globalisierung stellt dabei einen Prozess dar, der für manche seine Anfänge 94

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schon vor Jahrtausenden, für andere vor vielen hundert Jahren, weit vor dem Aufstieg Europas zu einer Weltmacht (siehe z.B. die Geschichte der Seidenstraße), hatte. Allerdings herrscht Übereinstimmung dahin gehend, dass sich dieser Prozess in bestimmten Phasen immer wieder sprunghaft beschleunigt hat. Die Bedeutung geopolitischer Gegebenheiten verringert sich erst nach und nach mit der weiteren Entwicklung von Infrastruktur zur Erschließung eines Raumes und bleibt daher trotz fortschreitender Globalisierung sehr wesentlich (vgl. Agnew 1998). Die Auslöser für solch plötzliche Veränderungen stellen meist technische Weiterentwicklungen von Infrastrukturelementen, wie beispielsweise das Internet, oder politische Veränderungen dar. Die zunehmende Vernetzung der Welt durch die Verbreitung von Telefon, Kino, Print- und digitalen Medien, durch die intensive Auslandsberichtserstattung und den Ausbau von Handelsverbindungen, Schifffahrts- und Eisenbahnlinien sowie von Überlandstraßen brachte dramatische Veränderungen der Organisation von Raum und Zeit mit sich. Der Zerfall der Sowjetunion und der Integrationsprozess der neuen unabhängigen Staaten kann als einer dieser »Sprünge« interpretiert werden. 4.1

Transnationale Bewegungen und Translokalitäten: »Eurasische« Realitäten Im Zuge der neuen Migrationsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg sind in allen Industrieländern ethnische Gemeinschaften mit eigenständigen Milieus, Weltbildern und Institutionen entstanden. Klassische Migrationsstudien betrachten die Integrationsprobleme dieser Gemeinschaften vor dem Hintergrund einer analytischen Trennung zwischen Herkunfts- und Ankunftsregion. Nach Ashkenasi/ Blaschke (1994) und Pries (1997) muss diese analytische Trennung jedoch aufgehoben werden. Denn weder die Herkunfts- noch die Ankunftsregion alleine bestimmen die Lebenskonzepte der Migranten, sondern die transnationalen Netzwerke, die sich zwischen ihnen ausbilden. Dadurch wird die vollständige Integration und Assimilation der Migranten in die aufnehmende Gesellschaft erschwert bzw. verhindert. Sie erfolgt strategisch selektiv, sowohl auf Seiten der Migranten als auch auf Seiten der aufnehmenden Gesellschaft. Integrationsprozesse beschränken sich also nicht auf den kleinräumigen nationalstaatlichen 95

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Bereich, sondern finden auf einer den Nationalstaat überwindenden Ebene innerhalb großräumiger transnationaler Verbindungen statt (Pries 1997). Eine solche den Nationalstaat überwindende Makroregion stellt Eurasien dar, das aufgrund seiner zusammenhängenden Landfläche schon von jeher eine hohe Mobilität erlaubte und wo Migration als eine Dimension von Integration in Eurasien verstanden werden kann (Evers/Kaiser i.d.B.). 4.2 Integration auf der Mikro-Ebene: Händler und Migranten Europäische und zentralasiatische migrierte Händler und Händlerinnen aus den ehemals planwirtschaftlichen Staaten, die sich in Kuala Lumpur, Bangkok, Seoul, Delhi oder mittel- und osteuropäischen Städten niedergelassen haben oder dorthin pendeln, stellen eine Dimension von globalisierten Mikrostrukturen und ihrer multilokalen Verortung dar. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, dass Kleinhändler in Usbekistan Waren süd- und ostasiatischer Herkunft verkaufen, während sich in den süd- und ostasiatischen Städten (Delhi, Bangkok, Dhaka, Kuala Lumpur, Seoul und Singapur) Händlergemeinschaften aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion etablieren (Kaiser 1998a; siehe auch Evers/Kaiser i.d.B.). Die indischen sowie alle anderen Hotelbesitzer, Produzenten und Zwischenhändler haben sich auf ihre neue Kundschaft und ihre Lingua franca, das Russische, eingestellt. Es ist nicht mehr ungewöhnlich, im Hafen oder den Einkaufszentren von Singapur oder auf den Basaren in Süd- und Südostasien auf kyrillische Schriftzeichen zu stoßen oder Konversation in russischer Sprache zu hören. Auch Speisekarten, Einkaufsführer oder Werbung jeglicher Art in russischer Sprache sind keine Seltenheit mehr. Die Flüge zwischen Zentralasien und Süd- bzw. Südostasien werden von den zahlreichen Händlern häufig frequentiert. Genau wie in Kuala Lumpur kaufen und verkaufen Russisch sprechende Händler Waren auf dem Bongo-Bazaar in Dhaka, auf Märkten in Delhi oder in den shopping malls von Singapur. Diese Städte sind Teil der postsowjetischen »eurasischen« Warenökonomie geworden. Die urbanen Zentren, die als »Brückenköpfe« moderner Handelsstraßen dienen, verfügen über direkte Flugverbindungen nach Taschkent und/oder Almaty. Auch Shim (1997) konstatiert das Entstehen einer Infrastruktur, bestehend aus Hotels, Geschäftspartnern und Reisebüros, und vermutet den Austausch von 96

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Handelsinformationen an diesen Orten. Die Händler aus den Transformationsländern transportieren mit den materiellen Gütern, ihren trade secrets, auch attitudes of consumerism (siehe hierzu auch Evers/ Kaiser i.d.B.). Die Parallelen zwischen den derzeitigen Handelsmustern quer durch den »eurasischen« Raum und denen der »Großen Seidenstraße« bestärken die Idee ihrer Wiederbelebung. Bereits zu Zeiten der historischen Seidenstraße haben Unbequemlichkeit, Banditentum, zeitliche Verzögerungen und Risiken in der Fremde es eher unwahrscheinlich gemacht, den transkontinentalen Handel auf einem Handelsweg oder entlang einer einzigen Netzwerkverbindung durchzuführen. Vielmehr wurden die Waren von einer Karawanserei, die den Händlern Schutz bot, zur nächsten gebracht, um anschließend auf den Märkten angeboten zu werden. Auf diese Weise wechselten die Waren häufig ihren Besitzer und bewegten sich so, über eine Vielzahl von Zwischenhändlern, von Asien nach Europa und umgekehrt. Ethnische Grenzen wurden dabei überwunden. Handel hatte daher seit jeher eine integrative Funktion, und Marktplätze waren und sind Orte, an denen Verschiedenheit Handel eher fördert und Handel wiederum ethnische Differenzen aufrechterhält (Evers/Schrader 1994; Evers/Kaiser i.d.B.). Diese wenigen Beispiele sprechen sowohl für die Entstehung von Händlerminoritäten (Evers/Schrader 1994) als auch für den Umstand, dass ökonomisch motiviertes Handeln, moderne Kommunikationstechnologien, Mobilität von Personen, Waren und Ideen eine gemeinsame Welt und multilokale Verortung jenseits von Grenzen schaffen (vgl. Evers 1996). Empirische Untersuchungen11 auch in anderen Regionen der Welt zeigen, dass sich zukünftige Trends einer formalen regionalen Integration durch sehr viel subtilere und informelle Integrationsprozesse ankündigen. So ging der Etablierung von ASEAN auch eine zunehmende Integration durch Händler und religiöse Pendler voraus (siehe auch Evers/Kaiser i.d.B.). Gleichzeitig sind es gerade 11

Ich beziehe mich hauptsächlich auf Studien, die im Forschungsprogramm »Soziale und kulturelle Dimensionen von Marktausdehnung« unter der Leitung von Hans-Dieter Evers am Forschungsschwerpunkt Entwicklungssoziologie der Universität Bielefeld durchgeführt wurden (siehe Evers/Schrader 1994). Auch der klassische Gewürzhandel zwischen China, Indonesien und Europa hat seinerzeit zur Integration beigetragen.

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diese Grenzen, die einen solchen Handel ermöglichen (Evers/Schrader 1994). Der Grenzhandel ist in Zentralasien nach dem Zerfall der Sowjetunion beträchtlich angestiegen. Meine Untersuchung in Usbekistan ergab, dass 83 % der von außerhalb der GUS stammenden Importwaren, mit denen die Kleinhändler grenzüberschreitenden Handel betreiben, aus Asien stammen (Kaiser 1998a). Dies könnte als Vorläufer oder weiterer Indikator für das Potenzial einer Integration »Eurasiens« angesehen werden, die die idealistischen Eurasiendiskurse der Diplomatie mit empirischer Evidenz füllen (Evers/Kaiser i.d.B.). 4.3 Eurasien: Die virtuelle und mediale Dimension Über eine Vernetzung durch Pipelines, Flugstrecken und Straßen sowie über das Pendeln der Händler und Migranten hinaus wird Eurasien auch virtuell etabliert. So entstehen neben den einschlägigen Internetseiten von der »Eurasia Foundation« und den Webseiten anderer entsprechend umbenannter Institute12 virtuelle Netze und Fernsehsender, die Eurasien weiter integrieren. Die türkischen Fernsehsendungen, die seit Mai 1992 in den Turkrepubliken »Eurasiens« ausgestrahlt werden, sollen ein Motor der kulturellen Integration sein. Diese Programme des Fernsehsenders TRT-IMT AVRASYA (Eurasien) stammen zumeist aus der Türkei, obwohl auch einige wenige in Zentralasien produzierte Programme gesendet werden. Die türkische Sendeanstalt TRT-IMT verweist mit Stolz darauf, dass nun das staatliche türkische Fernsehen mit seinen Sendungen von Europa bis China und von Afrika bis Sibirien empfangen werden kann und somit fast so weit wie CNN reicht. Das erweiterte Spektrum symbolischer oder massenmedial vermittelter Inklusionsmodi könnte dabei sogar die ehemals herausragende Bedeutung von Sprache und Schrift für die Definition sozialer und kultureller Grenzen infrage stellen. Medialisierung bedeutet hier eine phänomenologische Eliminierung des Raumes, die Appadurai (1995, 1996) radikaler und grundsätzlicher – man könnte sagen: postmoderner – konzipiert als viele andere Globalisierungstheoretiker. 12

Die früheren Institute der Sowjetunionforschung (Soviet Studies) nennen sich heute Center for Russian and/or Eurasian Studies, wie bspw. das Center for Russian, East European and Eurasian Studies (University of Texas, RAND/University of California etc.)

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In Okinawa, auf dem Weltwirtschaftsgipfel der G-8-Staaten im Juli 2000, wurde in der »Charta von Okinawa über die globale Informationsgesellschaft« das Ziel formuliert, mehr Menschen Zugang zum Internet und anderen Informationstechnologien zu verschaffen. Auch in Zentralasien ist der Ausbau der nötigen Infrastruktur zur Nutzung des Internet schon stark gefördert worden. Ein Beispiel dafür ist das Projekt »DENEMA« (DEvelopment of NEw Markets for telematic products in central Asia) der UNESCO. Dessen Ziel ist die »Organisation of new direct contacts between health care, education and business professionals in Central Asia and telematics applications developers in Western Europe using new telecommunications. The project aims to determine which technologies are most efficient in these fields in Central Asia and how these technologies could increase the quality of the services« (UNESCO 2000).

1998 fand daher im Rahmen des DENEMA-Projektes die »EurasiaOnline ’98« statt, eine Konferenz, die die weitere Etablierung des Internet in Zentralasien fördern soll. »Interchanging information, sharing projects of development in vital areas such as education, health and electronic commerce, information exchange on the main research fields in Central Asia and the European Union – these areas constitute the main objective of Eurasia Online ’98« (Humphrey 2000).

Die Bedeutung des Internet liegt aber nicht nur in der Förderung der internationalen Integration, sondern auch in seiner innerstaatlichen Integrationsfunktion. Letzteres ist für die Länder Zentralasiens besonders wichtig, weil aufgrund der relativ großen Fläche der Staaten und der geringen Bevölkerungsdichte die Gefahr einer sehr heterogenen Entwicklung verschiedener Landesteile besteht. In einer ersten Phase der Etablierung des Internet wurde daher darauf abgezielt, zunächst Institutionen im eigenen Land untereinander zu vernetzen, beispielsweise Ministerien, Banken und Universitäten (Shaymardanova 2000). In einer zweiten Phase wurden dann Verbindungen mit dem globalen Datennetz hergestellt. Die Kooperationspartner waren bzw. sind dabei beispielsweise die Weltbank und die EBRD in Kirgistan oder die Soros Foundation und die Eurasia Foundation – beides private Organisationen aus den USA – in Tadschikistan (Dudin 2000). 99

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Die Anbindung an das globale Internet wird vermutlich noch einige Zeit dauern: »While in Great Britain there are 39 web hosts per thousand people, in Russia there are 2 per thousand and in Central Asia on the whole there are only 0.14 per thousand. Kazakhstan, Georgia and Armenia lead the group of southern NIS, with the others trailing far behind them« (World Economic Forum 2000).

Die Chancen der zentralasiatischen Staaten für eine erfolgreiche Etablierung des Internet und für einen dadurch mitbedingten gesamtwirtschaftlichen Aufschwung wurden dennoch auf dem Eurasia Summit des World Economic Forum im April 200013 durchaus positiv eingeschätzt und mit denen Indiens vor der dortigen Etablierung des Internet verglichen. So machte Kasperskaya14 auf dem Treffen deutlich, dass »three factors make this region, like Russia, an attractive place for Internet start-ups. The workforce is skilled, particularly in technical fields, they are motivated to work hard and the cost of labour is low. […] If we look at the situation in India, which has similar labour situation as Kazakhstan, we can see the potential« (Kasperskaya 2000).

In den »eurasischen« chat-rooms des Internet haben sich eigene Kunstsprachen etabliert: das Pseudo-Russisch (das insbesondere in der interethnischen Kommunikation innerhalb der GUS gebraucht wird) und ein Pseudo-Turk; beide stellen eine Mischung aus der Transkription aus dem kyrillischen in das lateinische Alphabet und einer vereinfachenden Lautschrift dar. Als sprachliche Vorreiter bedienten sich die chatter des lateinischen Alphabets, lange bevor offizielle Schriftrefor13

Das Eurasia Summit fand sowohl im April 2000 als auch im April 2002 in Almaty (Kasachstan) statt. Mit diesem Summit soll ein Forum geschaffen werden, innerhalb dessen sich führende Vertreter unterschiedlicher Nationen aus Politik und Wirtschaft miteinander austauschen. Dabei sind nicht nur die acht eurasischen Kernländer, sondern auch die umliegenden Nationen vertreten. Mehr dazu unter: http://www.webforum.org 14 Frau Natalya Kasperskaya ist leitende Direktorin des Anti-Viren-Softwareproduzenten Kaspersky Lab in Moskau.

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men in den Bildungseinrichtungen und den Medien der neuen unabhängigen Staaten durchgeführt wurden. Mit der virtuellen und medialen Vernetzung und Vergemeinschaftung wurde und wird eine weitere Dimension »Eurasiens« etabliert.

5. Fazit Für eine wachsende Anzahl von Menschen und Gruppen verlieren einzelne geographische Orte – sei es durch ihre physische oder virtuelle Mobilität – als primäre und ausschließliche Bezugspunkte der Identität und des Alltagslebens an Bedeutung und werden durch multioder translokale soziale Bündnisse und Organisationsformen abgelöst. Diese sozialen und kulturellen Prozesse in Eurasien sind nicht zuletzt Konsequenzen der Marktexpansion infolge des Zerfalls der Sowjetunion. Quer durch den zentralasiatischen Raum und darüber hinaus nach Russland, Europa und Asien erstrecken sich Handelsnetzwerke, und eine postsowjetische Warenwelt entsteht. Es kann von einer Wiederbelebung der Seidenstraße (siehe Evers/Kaiser i.d.B.) durch die postsowjetischen Kleinhändler gesprochen werden, parallel dazu entwickeln sich der Handel mit Konsumgütern sowie die Schwerindustrie. Kleinhändler ersetzen das Kamel durch moderne Transportmittel vom LKW bis hin zum Flugzeug. Insbesondere in diplomatisch-politischen Diskursen wird den an der Marktexpansion beteiligten Ländern durch die Verwendung der Metaphern von der »Großen Seidenstraße« oder von »Eurasien« eine hoffnungsvolle Zukunft in Aussicht gestellt. Das Ende der Ost-West-Konfrontation wird mit dem Bild der Revitalisierung der Seidenstraße mystifiziert. Dieser diskursiven Aneignung des Raumes entsprechen reale Aneignungen des Raumes mittels seiner physischen Durchdringung durch ein vernetztes Verkehrswegesystem, Öl- und Gaspipelines usw. Eine eurasische Semantik und Struktur etabliert sich, die sowjetische Teilungen und Unterbrechungen wieder verbindet. »Eurasien« wurde hier weitergehend als ein innovatives Milieu dargestellt, in dem neue Formen sozialen Lebens und neue Formen und Strukturen von Kultur geschaffen werden. Das bedeutet nicht das Verschwinden der lokalen, unmittelbaren Lebenswelt, in der sich Alltag, sinnliche Erfahrung, soziales Handeln und die »soziale Konstruk101

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tion der Realität« tatsächlich abspielen. Im Gegenteil: Gerade das Lokale wird zur Arena, in der eine Vielfalt global vermittelter Einflüsse aufeinandertreffen und – durch aktive Rekonstruktion in der sozialen Praxis – zu neuen Kombinationen von globaler und lokaler, europäischer und asiatischer Kultur gerinnen.

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Dimensionen der Raumaneignung

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Open-Air-Markt »Eurasien« in Almaty (Kasachstan)

Werbetürschild der Commerzbank-Repräsentanz in Moskau

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Die russische Debatte

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) vakat 110.p 39245534076

Einführung: Die russische Debatte

Einführung: Die russische Debatte und ihre Re-Orientierung zwischen Asien und Europa Markus Kaiser Im postkommunistischen Russland, in Kasachstan und in einigen anderen Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) kann man eine Art »Wiederbelebung« des Eurasien-Gedankens (evrasijstvo) beobachten. Die in diesem Kapitel vorgestellten Beiträge zur und über die russische Debatte beabsichtigen, sowohl die Diskussion und ihre Hintergründe zu analysieren als auch die ideologischen Anteile der Debatte zu identifizieren. In der aktuellen russischen wissenschaftlichen Literatur wird der Themenkomplex »Russland zwischen bzw. in ›Europa‹ und/oder ›Asien‹« vielstimmig debattiert, wobei die Theoriebildung und Konzeptionalisierung der 1920er Jahre des letzten Jahrhunderts immer wieder als Ausgangsbasis genommen wird (Roschanskij 1999a,b; Zymburskij 1998; Shnirel’man 1998b; Karlov 1998b; Alevras 1996).1 Der Beitrag »Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung einer russischen Bewegung« von Vladimir Kozlovsky, aber auch der Aufsatz »›Eurasien‹ – Phantom oder reales Entwicklungsmodell für Russland?« von Michael Kleineberg und mir referieren die russische Eurasien-Debatte. Autoren wie Alevras (1996), Zymburskij (1998) und Roschanskij (1999a,b) betonen die Parallelität des Auftretens von neuen philosophischen und geopolitischen Weltmodellen westlicher Wissenschaftler (Ratzel, Mackinder, Konent, Gobson u.a.) einerseits und der russischen Debatte andererseits. In den Aufsätzen von Vernadskij und Savizkij, die noch vor der Oktoberrevolution verfasst wurden, stehen geopolitische Deutungen der historischen Ereignisse sowie der Versuch, das »Schicksal Russlands« zu analysieren und eine neue »russische Idee« zu entwickeln, im Mittelpunkt (Alevras 1996). Mit der Kolonisation Sibiriens wächst das asiatische Element Russlands und es wird zunehmend zu einem Übergangsland zwischen Europa und Asien, was laut Alevras (1996) bereits Vernadskij in dem Aufsatz »Ge1

Insbesondere in der Geschichtswissenschaft erfolgte eine Aufarbeitung der Eurasien-Debatte und ihrer Protagonisten (Alevras 1996; Mehlich 2000; Luks 2000, 2002; Wiederkehr 2000, 2002), auf die hier verwiesen sei.

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gen die Sonne. Die Ausbreitung des russischen Staates nach Osten« überzeugend dargelegt hat. Folgt man den geographisch argumentierenden Eurasiern, bedingt die Größe dieses Raumes die Bildung einer besonderen Zivilisation, deren Merkmale die ständige Vergrößerung des Staates und eine verspätete Entwicklung der Peripherie seien. Russische Kolonien im Osten seien besondere Kolonien, da sie nicht durch einen Ozean abgetrennt seien. Die staatliche Kolonisation sei deswegen stärker und alle Gebiete durchdringender gewesen. Die machtvollen Prägungen und die gesellschaftliche Durchdringung des russischen Reiches sowie der Sowjetunion sind heute noch deutlich sichtbar an den Artefakten der gemeinsamen Metakultur (Architektur, Infrastruktur usw.), die das urbane Bild in allen SU-Nachfolgestaaten prägen, sowie an der gelebten Alltagskultur, die sich beispielsweise in geteilten Vorstellungen von Erholung in städtischen Erholungsparks, -heimen und anderen Einrichtungen des Massentourismus zeigt. Die Eurasier konstatieren in ihren Arbeiten, so Alevras (1996), den positiven Imperialismus einer kontinental-imperialistischen Kolonialmacht, der eine »übernationale« Kultur schafft: die eurasische.2 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es auch in Europa die Begriffe Eurasier und Eurasien. In »Geographische Achse der Geschichte« stellt Mackinder (1904) den lang währenden Kampf der Küstenregionen Eurasiens gegen die Nomaden aus dem Inneren des Festlandes (heartland of Euro-Asia) dar, wobei sein Eurasien-Begriff nach Zymburskij (1998) deckungsgleich mit dem russischen Begriff »Russland-Eurasien« ist. Zymburskij stellt in den Texten der Eurasier aus den 1920er Jahren zwei Begriffsverwendungen fest: Eurasien als Kontinent (Euroa2 Ob dabei die »tatarisch-mongolische Herrschaft« eine positive Voraussetzung für den russischen »Sonderweg« darstellt und damit als Ausgangspunkt für ein solches russisch-eurasisches Imperium gelten kann, oder ob sie im Gegenteil als entwicklungshemmend für Russland betrachtet werden muss, ist eine russische Debatte mit einer eigenen Kontinuität (Alevras 1996), auf die hier nicht weiter eingegangen wird. Die Autoren der Eurasien-Debatte, so Roschanskij (1999b), betrachten Russland als Einheit. Russland-Eurasien bedeutet für sie: ein besonderer Kontinent mit selbständiger Kultur, Geschichte und eigenen Gesetzen, der nach »slawisch-turanischer Einigkeit der eurasischen Volksgruppen strebt« (Roschanskij 1999b).

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Einführung: Die russische Debatte

siatic continent), womit Asien und Europa gemeint sind, sowie »Eurasien« zur Bezeichnung der inneren »Fläche« (Eurasiatic plains, Eurasian-plain), die weder Asien noch Europa ist. Der Eurasismus ist eine Lehre, die Russland einen »Sonderweg« und der russischen Bevölkerung eine spezifische Eigenart zuschreibt. Für Roschanskij (1999b) sind der Egozentrismus der europäischen Zivilisation und die Pflicht der anderen Zivilisationen, sich selbst zu verstehen und selbständig zu sein, Entstehungsursachen des Eurasismus. Die ideologische Funktion des Eurasismus im heutigen Russland besteht in der Bekämpfung des westlichen Einflusses auf Russland bzw. auf den eurasischen Raum, wobei insbesondere die westlichen liberal-individualistischen Werte abgelehnt werden. Die von Alexander Dugin, auf den Stefan Wiederkehr in seinem Beitrag »›Kontinent Evrasija‹ – Klassischer Eurasismus und Geopolitik in der Lesart Alexander Dugins« ausführlich eingeht, begründete »Eurasische Bewegung« wird von Präsident Wladimir Putin geduldet (Wiederkehr i.d.B.; Humphrey 2002: 373; Yasmann 2001), da er so bei Bedarf auf ihre Diskurse zur Abgrenzung und Abschottung gegenüber Europa und den westlichen Staatensystemen zurückgreifen kann. In Bezug auf die Außenpolitik wird eine Position zwischen Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber dem Westen gefordert. Der Beitrag »Europa versus Asien – Russische Außenpolitik im Spannungsfeld der Kulturen« von Elena Stepanova behandelt weiterführend die heutige russische Außenpolitik zwischen Europa und Asien. Die Neubelebung der eurasischen Ideen in den 1980er und 1990er Jahren führte zu einer erheblichen Modifizierung, sodass mit gutem Recht zwischen einem »Eurasismus« und einem »Neo-Eurasismus« unterschieden werden kann (Kochanek 1999: 177-244).3 Zymburskij (1998) zufolge beton(t)en die Eurasier ein »Eurasien von Werten und Gesetzen«, das auf der christlich-orthodoxen Religion, ihrer Kultur und einem spezifischen ethnischen Typus beruht (»Ideal des orthodoxen 3

Kochanek (1999) zeigt, dass bereits in der Breschnew-Ära erstaunlich offen nationales und eurasisches Gedankengut diskutiert und rezipiert werden konnte, obwohl es nicht ideologiekonform war. Die postsowjetische Eurasien-Debatte hat also Vorläufer, auf die in diesem Reader nicht eingegangen werden kann.

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Russland«). Im Gegensatz und in Abgrenzung zu dieser kolonial-imperialen Idee sprechen die Neo-Eurasier von einem »Eurasien der Gegebenheiten« und meinen damit, dass die vielen verschiedenen Volksgruppen Russlands durch den gemeinsamen Raum und durch ein gemeinsames Schicksal zur Kooperation gezwungen seien (»Föderation von Boden und Völkern«). Dieser Zwang bestehe im territorialen Eingeschlossensein (landlockedness) einiger Staaten und Gebiete. Zymburskij (1998) sieht in dieser neo-eurasischen Konzeption einen Sieg der Realität bzw. eine Niederlage der Geistlichkeit Russlands, da in der Homonymie von »Russland-Eurasien« das Konzept eines zukünftigen orthodoxen Kontinents enthalten war. Doch wie stehen die anderen »Volksgruppen«, die anderen Glaubensgemeinschaften Russlands zu solchen Konzeptionalisierungen der Russischen Föderation? Humphrey stellt fest, dass »die ethnologische Forschung den verschiedenen, von den Regierungen dieser Territorien entwickelten Ideologien und deren Beziehung zu ihren eigenen Kulturen bislang wenig Beachtung geschenkt« (Humphrey 2002: 373) habe. Im Kapitel »Eurasische Realitäten« wird somit wissenschaftliches Neuland betreten, und die Autorinnen und Autoren werden zu den internen Teilungen, den integrativen Momenten und den Vergesellschaftungsformen insbesondere der muslimisch geprägten Gesellschaften innerhalb des eurasischen Russlands bzw. innerhalb der GUS-Staaten näher eingehen. Humphrey ihrerseits hat die Frage aufgeworfen, wie das Konzept »Eurasien« den regierenden Eliten zahlreicher Regionen im asiatischen Teil Russlands geholfen habe, eigenständige Ideen über ihre Existenz innerhalb der Föderation zu entwickeln (ebd.). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sich viele Politiker und Intellektuelle in den asiatischen Regionen das Konzept zu Eigen gemacht und dabei aber die Zielrichtung modifiziert haben. Regionen wie Burjatien, das Altaj-Gebiet, Sacha-Jakutien, Tuwa oder Kalmückien können als innerasiatische Gebiete so »dem Unbekanntsein und der Bedeutungslosigkeit« (Humphrey 2002: 382) entkommen. Abajev und Baldanov (1999) bezeichnen Burjatien als Mikro-Modell einer eurasischen Gesellschaft, das seine geostrategische Rolle in einer Bindegliedfunktion zwischen Russland und der Region Asien-Pazifik (Asia-Pacific Rim) habe. Auf der Basis einer Mittelasien-Charta zwischen China, der Mongolei, Burjatien und anderen benachbarten Gebieten sollte, Abajev und Baldanov (1999) folgend, dann eine Charta Eurasiens verabschie114

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Einführung: Die russische Debatte

det werden. Analog befürwortet der Präsident Kalmückiens, Kirsan Iljumschinov, das Konzept »Eurasien«; die Verfassung Kalmückiens wird als »Code der Steppe« bezeichnet und schreibt die freiwillige, quasi natürliche Union mit Russland fest. Seine Ideologie beschwöre, so Humphrey (2002: 388), die Förderung des Buddhismus, aber auch des russisch-orthodoxen Glaubens sowie des Katholizismus. Danach befragt, wo Europa beginne und wo Asien ende, bezeichneten buddhistische Kalmücken sich selbst als »die einzigen Buddhisten Europas« (ebd.: 391). Was das Konzept »Eurasien« beinhaltet und was es wirklich meint, ist mit der neuen Debatte der Neo-Eurasier kaum klarer geworden, was seiner Attraktivität aber keinen Abbruch zu tun scheint. Es liefert die Basis sowohl zur Begründung territorial kleinräumiger politischer Vorstellungen als auch die Rechtfertigung für Großmachtsphantasien. So wird z.B. die territoriale Wiederherstellung der zerfallenen Sowjetunion durch einen der Neo-Eurasismen legitimiert. Im Jahre 1994 schlug der kasachische Präsident Nasarbajew die Schaffung einer »Eurasischen Union« als Alternative zur GUS vor (Nasarbajew 1997: 4; Prasauskas 1995: 173-178).4 Nasarbajew beobachtet parallel zur Etablierung der nationalen Staatlichkeit in den 15 Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion ein gemeinsames Streben nach mehr Integration. In einer »Eurasischen Union« hält er den Aufbau eines asiatischen Systems der kollektiven Sicherheit für leistbar. Dieses soll dem westlichen System aus NATO und EU-Sicherheitspolitik gegenübergestellt werden und vermeiden, dass Russland zu sehr in das westliche Staatensystem eingebunden wird. Dabei legt Kasachstan einen besonderen Akzent auf die Erweiterung der Zusammenarbeit mit den zentralasiatischen Nachbarstaaten wie Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan, Tadschikistan und außerdem mit Russland, der Türkei und China, was nach Nasarbajew vor allem in der Entwicklung ökonomischer Kontakte mit diesen Staaten zum Ausdruck kommen muss (Nasarba4 Das Buch des kasachischen Präsidenten Nursultan Abischewitsch Nasarbajew befasst sich mit der Idee der Notwendigkeit, auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion eine »Eurasische Union« zu bilden. Das Buch versammelt Veröffentlichungen und Ansprachen des Präsidenten und anderer Politiker aus den Jahren 1994-1997 und enthält eine ausführliche Biographie des kasachischen Präsidenten.

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jew 1997: 23-31; vgl. hierzu die geopolitische Argumentation von Tusikov 1999). Dieses Eurasien soll ein Staatenbund und eine »Zone der Stabilität« werden. Die offizielle Sprache der »Eurasischen Union« sollte Russisch sein, Staatsbürgerschaften sollten individuell wählbar sein und als Hauptstadt käme jede Stadt an der Grenze zwischen Europa und Asien, wie z.B. Kasan oder Samara, infrage. Weitere realpolitische Gründe für Nasarbajews Vision liegen in den kasachischen Emigrationsstatistiken (siehe hierzu meinen Beitrag: »Die Russen im nahen Ausland – Russen als neue Minderheiten in Zentralasien«, i.d.B.), der Beeinträchtigung der Interessen nationaler Minderheiten in den SU-Nachfolgestaaten, dem massiven Produktionsrückgang und in der Erkenntnis, dass »die ausländischen Investitionen Russland als Partner nicht ersetzen können« (Nasarbajew 1997: 56-59).5 Der russische Präsident Wladimir Putin hat in Kasachstan die Idee zwar rhetorisch gewürdigt, aber nicht einen Schritt in Richtung der politischen Umsetzung getan. Kehren wir zurück nach Russland. Der »Neo-Eurasismus« reflektiert dort die Suche nach neuen Wertvorstellungen und einer neuen Identität des postsowjetischen Russland und vertritt dabei, ähnlich wie die Eurasier, den Anspruch eines ganzheitlichen Erklärungskonzepts, das an die Stelle des vormals vom Marxismus-Leninismus angebotenen Erklärungsschemas tritt: Die ökonomische »Gesetzmäßigkeit« wird von der kulturellen »Gesetzmäßigkeit« abgelöst, der materialistische »Unterbau« durch den geistigen »Unterbau« ersetzt, wobei jedoch der Anspruch, »alles« zu erklären, derselbe bleibt (vgl. Kulpin 1996). Die kulturalistische Umorientierung geht davon aus, dass Russland ein eigenständiger »Organismus« mit einer eigenen Entwicklungsgesetzmäßigkeit ist, ein besonderer Zivilisationstyp mit einer eigenen kulturhistorischen und sittlich-moralischen Tradition (vgl. Scherrer 2003; Kochanek 1999). In Nasarbajews Worten ist es die Religion, die Kultur schafft, die Kultur wiederum produziere einen ethnischen Typ, einen Ethnos. Dieser suche sich ein Territorium aus und verändere es nach seinen Bedürfnissen (Nasarbajew 1997: 26-28). Diese These der Verbundenheit von Kultur, Ethnogenese und Geographie wird auf Eurasi-

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Aus dem Russischen übersetzt von Lidija Morkel.

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Einführung: Die russische Debatte

en bezogen und von Eurasiern, Neo-Eurasiern, Kulturologen und Mentalitätsforschern weitgehend geteilt. Aber der Eurasismus ist mehr als eine Ideologie. Diese Lehre enthält eine geschichts-, aber auch allgemeinphilosophische Konzeption (vgl. Karlov 1998a,b; Shnirel’man 1998a,b) und überschneidet sich mit politischen Vorstellungen der Bewohner Russlands. Der Eurasismus bietet nach Wiederkehr (2002: 51) »eine geschichtsphilosophische Alternative zum Modell des universalen, linearen Fortschritts […], das spätestens seit der Aufklärung dem Westen eine Vorbildrolle für den Rest der Welt zuwies«. Viele Staatsbürger Russlands empfinden diesen westlichen Überlegenheitsanspruch als belastend und der Eurasismus gibt ihnen ein neues Selbstbewusstsein. Transformations- und Modernisierungstheorien, die den westlichen Gesellschaftstypus zum Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung erklären, werden vor diesem Hintergrund abgelehnt.6 Der »Neo-Eurasismus« will einen autochthonen Aus- und Entwicklungsweg aus der Krise der russischen Gesellschaft aufzeigen, indem er auf ihre existenziellen Bedrängnisse und materiellen Nöte antwortet. Er stellt damit eine Art Lebensphilosophie dar, die bei der Identitätssuche des postkommunistischen Menschen helfen soll. Die Kritik am extremen Eurozentrismus der politischen Elite und die Betonung der Autonomie der unterschiedlichen Kulturkreise sind ferner ein positiver Beitrag zur interethnischen Koexistenz in Russland und der GUS. 6 Bemerkenswerterweise hat die innerrussische Transformationsdebatte die gesellschaftliche, ökonomische und politische Transformation für beendet erklärt. Weitere Veränderungen würden langsamer geschehen und seien vergleichbar mit dem gesellschaftlichen Wandel in anderen Ländern. Mit der erfolgten Transformation seien neue gesellschaftliche, ökonomische und politische Institutionen entstanden, die auch marktwirtschaftlich geprägt seien, aber möglicherweise nicht den westlichen Zielvorgaben entsprächen. Letzteres wird keineswegs bedauert, sondern mit dem Hinweis auf das Recht einer eigenen und nicht zwangsläufig alles nachholenden Entwicklung gerechtfertigt. Das erzielte Ergebnis der Transformation entspräche der russischen Geschichte und ihren Besonderheiten. – Gerade hier bietet sich als zukünftiges Forschungsfeld für die Entwicklungsländerforschung ein Vergleich zwischen Transformations- und Entwicklungsländern an.

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Markus Kaiser

Die Konstatierung des Eurasischen, der Europa-Asien-Hybride als eines realen Charakteristikums Russlands ist an sich zutreffend, mit dieser Feststellung soll einer Glorifizierung des asiatischen Elements jedoch kein Vorschub geleistet werden. Die Neo-Eurasier sind im Gegensatz zu den Eurasiern bereit, die islamischen Volksgruppen Russlands als mit den Russen gleichberechtigte Träger der eurasischen Zivilisation anzuerkennen. Die »Eurasische Partei« sieht sich als die Interessenvertretung von 15 Millionen russischen Muslimen7 und trägt mit »Union der Patrioten Russlands« einen symbolträchtigen Zusatznamen. Ihr Mitvorsitzender Pavel Borodin bekleidet das Amt des Staatssekretärs der GUS. Die Idee der Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes, bestehend aus Russland, Weißrussland, Kasachstan, der Ukraine, Aserbaidschan und Kirgistan, vertritt er daher von Amts wegen sowie als Parteivorsitzender (siehe Evers/Kaiser i.d.B.). Wenn sich der einheitliche Wirtschaftsraum durchsetzen sollte, ist auch ein einheitlicher Parteiraum absehbar. Die »Eurasische Partei« ist im Moment die einzige namhafte regionsübergreifende Partei, die die Interessen der Muslime vertritt. Sollte sie ihre Wahlkampagne erfolgreich durchführen, so werden ihr bei den russischen Parlamentswahlen im Dezember 2003 Chancen eingeräumt, den Sprung ins Parlament zu schaffen. Das Allrussische Zentrum für Meinungsforschung (VZIOM) hat Ende Mai 2003 die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage veröffentlicht.8 Die Erhebungen haben ergeben, dass drei Viertel der Bevölkerung davon überzeugt sind, dass Russland ein eurasischer Staat sei, der seinen eigenen 7 Die Angaben in der Literatur variieren zwischen 11,8 und 25 Mio. Der Zensus von 1989 mit 11,8 Mio. gilt dabei als Untergrenze. 8 In den Zeiträumen vom 21. bis zum 24. März und vom 23. bis zum 26. April 2003 führte das Zentrum russlandweit Befragungen durch. Dabei sollten folgende Aspekte ermittelt werden: Orientierung der Bevölkerung an den Entwicklungsmöglichkeiten Russlands, wobei der »westliche« und der »östliche« Entwicklungsweg sowie der »russische Sonderweg« in Betracht gezogen wurden; Grad der Informiertheit über die »Eurasische Partei – Union der Patrioten Russlands« unter Pavel Borodin und Abdulvached Nijasov; die Bereitschaft der Bevölkerung, bei den nächsten russischen Parlamentswahlen für die Eurasische Partei zu stimmen http://www.wciom.ru (Seite auf Russisch).

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historischen Entwicklungsweg gehe bzw. gehen solle (im Durchschnitt 74 %). Die Vorstellung, Russland sei ein Teil des Westens und müsse sich den europäischen Ländern sowie den USA annähern bzw. eine »westliche« Ordnung etablieren, teilten im Durchschnitt nur 12 % der Befragten. Die ausschließliche Zusammenarbeit mit den Ländern des Ostens (Japan u.a.) wurde nur von 6 % der Bevölkerung Russlands bevorzugt. Wie die Untersuchung gezeigt hat, dominiert die Vorstellung eines »russischen Sonderweges« in allen sozialen Schichten, besonders attraktiv ist sie aber für Menschen aus den gebildeteren (aber nicht wohlhabenderen) Schichten der russischen Gesellschaft: für Wähler mit Hochschulabschluss (79 %), Fachleute (81 %), Personen mit einem niedrigen Konsumstatus bzw. einem durchschnittlich niedrigen Familieneinkommen (75-79 %). Besonders viele Sympathisanten findet die Idee eines »russischen Sonderweges« in der Wählerschaft der Kommunistischen Partei Russlands (77 %) und in der Protest-Wählerschaft (jene, die bei den nächsten Wahlen »gegen alle« stimmen würden, 76 %). Darüber hinaus wurde diese Vorstellung besonders oft bei Einwohnern der mittelgroßen russischen Städte registriert (78 %). Dieses Ergebnis bestätigt den von Kochanek diskursanalytisch gewonnenen Befund, dass gerade »Intelligenzijakreise für pseudowissenschaftliche Welterklärungsmuster und Verschwörungstheorien mit den spezifischen sowjetischen Wissenschaftstraditionen« empfänglich sind (Noack 2001). Die »Eurasische Partei« als eine Bewegung, die diese politische Grundstimmung repräsentiert, gewann im Zeitraum zwischen Ende März und Ende Mai 2003 erheblich an Bekanntheit (14 % und 23 % zum jeweiligen Zeitpunkt der Erhebung). Etwa drei Viertel der erwachsenen Bevölkerung Russlands hatten zu diesem Zeitpunkt irgendetwas über diese Partei gehört. Wenn wir uns den Grad der Bekanntheit der »Eurasischen Partei« näher anschauen, so ist er in den gebildeteren städtischen Bevölkerungsschichten mit hohem beruflichen Status am höchsten. Während dieser zwei Monate wuchs auch die an bestimmte Bedingungen geknüpfte Bereitschaft, die »Eurasische Partei« zu wählen.9 Die Daten von VZIOM zeigen, dass im Moment nicht mehr als 1-2 % der Wahlberechtigten ihre Stimme für die »Eurasische Partei« 9 Zu den Ergebnissen der Wahlforschung siehe: http://www.wciom.ru (Seite auf Russisch).

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Markus Kaiser

abgeben würden. Gleichzeitig bekundeten aber 20 % der Befragten, dass sie sich vorstellen könnten, die »Eurasische Partei« unter bestimmten Bedingungen zu wählen, wenn z.B. das Wahlprogramm der Partei sie besonders ansprechen würde oder wenn bekannte und anerkannte Persönlichkeiten Mitglieder dieser Partei wären (dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass dies auch auf die Chancen anderer Parteien, wie z.B. die Sojus Pravych Sil [SPS]10 oder die »Jabloko«11, gewählt zu werden, zutrifft). Die Bereitschaft, die »Eurasische Partei« unter bestimmten Bedingungen zu wählen, ist unter Personen in Führungspositionen und Fachleuten mit Hochschulabschluss (26 % und 29 % jeweils) sowie unter den Einwohnern mittelgroßer Städte und Moskaus (28 %) etwas höher als in den anderen Gruppen, was etwa der schichtspezifischen Verteilung der »eurasischen« Einstellungen entspricht. Innerhalb der Bevölkerungsschichten mit einem niedrigen bzw. mittleren Einkommen nimmt die Bereitschaft, diese Partei zu wählen, ab, ungeachtet dessen, dass ihre Ideologie auch hier ihre Sympathisanten findet. Was die politischen Präferenzen betrifft, sind es eher die potenziellen SPS-Wähler (34 %) oder die Wähler von »Jedinaja Rossija« (Einiges Russland12) (28 %), die die »Eurasische Partei« wählen würden, und weniger die Parteigänger der »Kommunistischen Partei Russlands« (lediglich 14 %). 10 Bündnis rechter Kräfte 11 Der »Block: Jawlinskij – Boldyrev – Lukin«, abgekürzt Jabloko, entstand im Oktober 1993 als Wahlblock bzw. als Koalition von verschiedenen Parteien, die in Opposition zur Regierungspolitik standen. Zu Beginn gehörten dem Block verschiedene kleinere demokratische Parteien an: u.a. die »Republikanische Partei der Russländischen Föderation« (RPRF), die »Sozial-Demokratische Partei Russlands« (SDPR), die »Russländische Christlich-Demokratische Union« (RChDU). Die RPRF und die SDPR haben »Jabloko« inzwischen wieder verlassen. Sowohl programmatisch als auch organisatorisch stellte »Jabloko« eine bunte Mischung dar. So nahmen die Blockmitglieder zu wichtigen politischen Fragen, wie zur Bewertung der Präsidialverfassung oder zur Politik der Regierung und des Präsidenten insgesamt, teilweise geradezu entgegengesetzte Positionen ein. 12 »Einiges Russland« ist eine regierungsnahe Partei, die ein Zusammenschluss aus den Parteien »Einheit« (1999 zur Unterstützung Putins gegründet), »Vaterland« (Luschkow) und »Ganz Russland« ist.

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Fasst man die Untersuchungsergebnisse und die Auswertung der neueren russischen Literatur zusammen, so kann folgende Schlussfolgerung gezogen werden: Die gesellschaftliche »Nachfrage« nach eurasischer Ideologie und das Entfaltungspotenzial dieser Nachfrage scheinen zum gegenwärtigen Zeitpunkt erheblich höher zu sein als die Anerkennung der »Eurasischen Partei« in der Wählerschaft. Die Frage ist, ob eine solche Partei ihr offensichtliches Wählerpotenzial in zukünftigen Wahlen entfalten kann. Den westlich oder nach Europa orientierten Wähler wird sie vermutlich nicht erreichen, da dieser die Existenz Eurasiens verneinen und ein solches Konzept von sich weisen würde. Für ihn gehört die Orthodoxie, wie viele eigene Interviews und Gespräche ergeben haben, nicht zum asiatischen Kulturkreis, und er betont die gemeinsame europäische Geschichte und Kultur. Das Potenzial an Wählern des Typs »überzeugter Eurasier« dürfte trotz der niedrigen Bekanntheit und der Wahlprognosen für die »Eurasische Partei« bereits mobilisiert sein. Der »überzeugte Eurasier« betont die Eigenständigkeit Russlands, erklärt die Transformation für beendet und konstatiert, dass sie etwas anderes als erwartet hervorgebracht habe. Der dritte Wählertyp, der Moderate, der mit dem eurasischen Gedankengut sympathisiert, könnte, je nach politischer Programmatik, mobilisiert werden, denn in seinen Augen würde ein Aufstieg Russlands auch eine Verbesserung seiner Lebensverhältnisse bewirken.13 Das »Eurasien«-Konzept ermöglicht es, die Erniedrigungen der Vergangenheit und die Unsicherheiten der Transformation vergessen zu machen. Gerade die Attraktivität für Nichtrussen ist deutlich. So ist nicht ausgeschlossen, dass 15 Millionen russische Muslime doch noch ihre eigene Fraktion in der neu gewählten Duma bekommen werden, und dass die »Eurasische Partei« andere Bewegungen zur Seite stoßen sowie kleinere islamische Bewegungen in sich aufnehmen wird. Daher werden die Beiträge im Kapitel »Eurasische Realitäten« auf die muslimisch geprägte Bevölkerung Russlands (Gontscharova, Schrader/ Skvorzov/Wiener sowie Sabirova i.d.B.) und die muslimisch geprägten Landesteile als Herkunftsort (Damberg i.d.B.) oder Wohnort (mein 13

Diese Einschätzungen verdanke ich vielen Gesprächen mit russischen Kollegen, wobei ich mich namentlich bei Leonid Ionin, Alexander Sogomonov und Sergej Kuchterin bedanken möchte, da sie wiederholt bereit waren, meine Beobachtungen mit mir zu reflektieren.

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Markus Kaiser

Beitrag »Die Russen im nahen Ausland – Russen als neue Minderheiten in Zentralasien« i.d.B.) näher eingehen und alltagsweltliche Aneignungen von Asiatischem und Europäischem illustrieren.

Literatur Abajev, Nikolaj/Baldanov, Bato-Munko (1999): »Respublika Burjatija: strategija rasvitija v kontekste geopolititscheskoj situazii v Zentralnoj Asii« (Die Republik Buratjen: Entwicklungsstrategien aus der geopolitischen Situation in Zentral- und Nordostasien). In: Acta Eurasica – Vestnik Evrasii 1-2 (6-7), Moskau, S. 127-147. Alevras, Natalja (1996): »Natschala evrasijskoj konzepzii v rannem tvortschestve G.V. Vernadskogo i P.H. Savizkogo« (Anfang der eurasischen Konzeption in früheren Arbeiten von G. Vernadskij und P. Savizkij). In: Acta Eurasica – Vestnik Evrasii 1 (2), Moskau, S. 5-17. Alexandrov, Jurij (1999): »Etnosozialnyje ismenenija i stabilnost evropejskich obschestv« (Ethnosozialer Wandel und die Stabilität der Eurasischen Gesellschaften). In: Acta Eurasica – Vestnik Evrasii 1-2 (6-7), Moskau, S. 131-144. Humphrey, Caroline (2002): »›Eurasianismus‹ – Ideologie und politische Vorstellungen in der russischen Provinz«. In: Chris Hann (Hg.), Postsozialismus – Transformationsprozesse in Europa und Asien, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 373-396. Karlov, Vladimir V. (1998a): »On Eurasianism, Nationalism, and the Methods of Scholarly Polemics«. In: Anthropology and Archaeology of Eurasia 36 (4), S. 75-88. Karlov, Vladimir V. (1998b): »The Idea of Eurasianism and Russian Nationalism«. In: Anthropology and Archaeology of Eurasia 36 (4), S. 32-50. Kochanek, Hildegard (1999): Die Russisch-Nationale Rechte von 1968 bis zum Ende der Sowjetunion, Stuttgart: Franz Steiner Verlag. Kulpin, Eduard (1996): »Rossija v evrasijskom prostranstve« (Russland im Eurasischen Raum). In: Acta Eurasica – Vestnik Evrasii 1 (2), Moskau, S. 145-153.

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Einführung: Die russische Debatte

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Eurasismus und Geopolitik in der Lesart A. Dugins

»Kontinent Evrasija« – Klassischer Eurasismus und Geopolitik in der Lesart Alexander Dugins 1 Stefan Wiederkehr Anfang 2001 rief Alexander Dugin in der nationalpatriotischen Zeitung Savtra zur Gründung einer »Gesellschaftlich-Politischen Bewegung ›Eurasien‹« (Obschestvenno-polititscheskoje dvischenije »Evrasija«) unter seiner Führung auf. Im Manifest »Eurasien über alles« skizzierte er die ideologischen Grundlagen der geplanten Bewegung wie folgt: »Der Neoeurasismus als soziale, philosophische, wissenschaftliche, geopolitische und kulturelle Strömung begann sich Ende der 80er zu formieren. Ausgehend vom Erbe der russischen Eurasier der 20er und 30er Jahre nahm er die geistigen Erfahrungen der altgläubigen Tradition der russischen Orthodoxie in sich auf, bereicherte sich an der Sozialkritik der russischen Narodniki und Sozialisten, begriff die Errungenschaften der sowjetischen Etappe der vaterländischen Geschichte auf neuartige Weise, eignete sich die Philosophie des Traditionalismus und der Konservativen Revolution sowie die geopolitische Methodologie an […] [So] wurde der Neoeurasismus zur einzigen seriösen weltanschaulichen Plattform im gegenwärtigen Russland und konstituierte sich als wissenschaftliche Schule sowie als System sozialer und kultureller Initiativen. Der Neoeurasismus legte die Grundlagen der zeitgenössischen russländischen Geopolitik und erwarb sich ein mächtiges Potenzial von Anhängern in den Machtstrukturen« (Dugin 2001: 8).

Dugin unterschied also zwischen seiner eigenen Ideologie, die er als Neoeurasismus (neoevrasijstvo) bezeichnete, und dem klassischen Eurasismus. Letzterer stelle nur eine Wurzel des Ersteren dar. Als eine weitere wichtige Quelle seines Denkens erwähnte Dugin die Geopolitik. Auf diese beiden Aspekte in Dugins Ideologie zielt meine Fragestellung: In welcher Absicht knüpft Dugin an Eurasismus und Geopolitik an? Angesichts seines Eklektizismus schließt sich die Frage an, in welcher Form er diese zwei Denktraditionen wieder aufleben lässt. Mit anderen Worten: Welche spezifischen Aspekte des eurasischen und des 1

Überarbeitete Fassung eines Vortrages vom 18.11.2001 am American Association for the Advancement of Slavic Studies (AAASS) 33rd National Convention in Arlington VA.

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geopolitischen Denkens ziehen Dugin an? Schließlich gilt es, das Verhältnis zu klären, in dem diese beiden Seiten von Dugins Ideologie zueinander zu stehen. Im Folgenden werde ich anhand ausgewählter Publikationen Dugins intellektuelle Biographie seit Beginn der 1990er Jahre rekonstruieren. Ein solches chronologisches Vorgehen ist aufschlussreich, weil es manche der Inkonsistenzen in seiner Interpretation von Eurasismus und Geopolitik erklärt. Ausgeklammert bleiben Dugins Biographie2 und organisatorische Aspekte der (Neo-)Eurasischen Bewegung im postsowjetischen Russland.3 Beide Themen wurden bereits mehrfach bearbeitet (Kochanek 1999: 177-244; Verchovsky 2000; Dunlop 2001; Laruelle 2001; Shenfield 2001: 191-194; Mathyl 2002).

Von der Geopolitik Eurasiens zum Eurasismus Als unmittelbare Reaktion auf den Untergang der Sowjetunion begann die Zeitung Den, der Vorläufer von Savtra, eine eurasische Kampagne. Im Januar 1992 erschienen unter dem Titel »Eurasischer Widerstand« die Materialien eines Runden Tisches (Evrasijskoje soprotivlenije 1992: 2 Alexander Geljevitsch Dugin (*1962) verließ das Moskovskij aviazionnyj institut ohne Abschluss. Seine Sprachkenntnisse, seine breit gefächerte Allgemeinbildung sowie seine Kenntnisse über die traditionalistische und faschistische Philosophie erwarb er sich im berühmten Golovin-Zirkel. Auf einer Reise nach Westeuropa 1989 schloss er persönliche Kontakte mit Vertretern der westlichen Neuen Rechten. Ende der 1980er Jahre gehörte Dugin einige Monate der Pamjat-Führung an. Von 1993 bis 1998 war er der Chefideologe der National-Bolschewistischen Partei Eduard Limonovs. 3 Im Zusammenhang mit der Propagierung des Neoeurasismus ist die National-Bolschewistische Partei weniger wichtig als Dugins Verlagshaus Arktogeja, seine Zeitschrift Elementy (vgl. Luks 2000), seine regelmäßigen Beiträge in Savtra, seine Radio- und Fernsehsendungen sowie nicht zuletzt seine Sites im Internet (http://www.arctogaia.com; http://www.dugin.ru; http:// www.eurasia. com.ru). Über diese Kanäle eröffnete er sich den Zugang zu einem breiteren Publikum. Der Gründungskongress der oben erwähnten Evrasija-Bewegung fand im April 2001 statt. Im Mai 2002 erfolgte ihre Umwandlung in eine Partei.

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Eurasismus und Geopolitik in der Lesart A. Dugins

2f.). Unter dessen Teilnehmern waren – neben Dugin – Sergej Baburin und Generalleutnant Nikolaj Klokotov, Leiter des Lehrstuhls für Strategie an der Generalstabsakademie, sowie zwei prominente Vertreter der europäischen Neuen Rechten: Alain de Benoist und Robert Steuckers.4 Mit Letzteren war Dugin Ende der 1980er Jahre während einer Reise nach Westeuropa in Kontakt gekommen. Das Ende der Sowjetunion wurde im Editorial zu diesem Runden Tisch als »geopolitische Tragödie« (ebd.: 2) bezeichnet. Sämtliche Diskussionsteilnehmer benutzten geopolitische Kategorien und den Begriff »Eurasien«, um die aktuelle politische Situation zu analysieren. Sie zitierten geopolitische Klassiker wie Halford Mackinder und Karl Haushofer. Dugin bezog sich außerdem auf Jean Thiriart und andere Geopolitiker der jüngsten Zeit, die der europäischen Neuen Rechten zuzurechnen sind.5 Diese Debatte über die Geopolitik Eurasiens stellte freilich keinen Eurasismus im Sinne der Emigrantenbewegung zwischen den beiden Weltkriegen dar. Denn die zentrale These des klassischen Eurasismus lautete, es gebe einen dritten Kontinent »Eurasien« zwischen Europa und Asien. Die Ausdehnung dieses dritten Kontinents »Eurasien« setzten die Eurasier der 1920er Jahre ungefähr gleich mit dem Territorium des russischen Zarenreiches. Damit verfolgten sie die Absicht, die weitere Existenz eines Staates auf diesem Territorium zu legitimieren und gleichzeitig der europäischen eine fundamental davon verschiedene »eurasische« Kultur entgegenzusetzen.6 Dugin erwähnte zwar den klassischen Eurasismus beiläufig, als er seinen Gesprächspartnern die Geschichte des russischen geopolitischen Denkens in Erinnerung rief, verwechselte aber Nikolaj Trubezkoj mit dessen Onkel Evgenij und nannte Pjotr Savizkij fälschlicherweise N. Savizkoj (ebd.). Diese Irrtümer machen deutlich, wie wenig vertraut Dugin zu diesem Zeitpunkt mit dem klassischen Eurasismus war. Er benützte bereits den 4 Zur europäischen Neuen Rechten vgl. Cremet (1999). 5 Zur Renaissance der Geopolitik im postsowjetischen Russland vgl. Oswald (1996); Ignatow (1998); Tsygankov (1998); zur Geopolitik generell vgl. Hauner (1992); Ebeling (1994); Dodds/Atkinson (2000). 6 Zum klassischen Eurasismus vgl. Böss (1961); Riasanovsky (1967); Luks (1986); Hagemeister (1989: 417-457); O Evrasii i evrasijzach (1997); Vandalkovskaja (1997); Laruelle (1999).

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Begriff »Eurasien«, aber im Sinne des westlichen geopolitischen Denkens. Der Unterschied zwischen den beiden Konzepten macht die Gegenüberstellung zweier Zitate deutlich. Die Schlussthese im allerersten eurasischen Text der Zwischenkriegszeit lautete: »Es gibt nur einen wahren Gegensatz: die Romanogermanen und die übrigen Völker der Welt, Europa und die Menschheit« (Trubezkoj 1920/1999: 90). Demgegenüber äußerte sich Dugin 1992 folgendermaßen: »Im geopolitischen Koordinatensystem der beiden letzten Jahrhunderte lässt sich klar die fundamentale Opposition zweier Kontinente zurückverfolgen: Amerika und Eurasien […] Das Grundprinzip dieses Gegensatzes lautet: Europa zusammen mit Russland gegen Amerika. Seine Fortsetzung ist die Opposition von Eurasismus und Atlantismus. Der Begriff ›Westen‹ existiert in dieser Konzeption ganz einfach nicht, Europa ist hier die geopolitische Antithese des Westens« (Evrasijskoje soprotivlenije 1992: 2).

Sowohl Dugin als auch die Eurasier der Zwischenkriegszeit vertraten in der Theorie eine polyzentrische Konzeption der Weltgeschichte. Sie reduzierten diese in der politischen Praxis auf eine manichäische bipolare Weltsicht. Denn die historische Mission Russland-Eurasiens bestand in ihren Augen darin, all diejenigen zu vereinen, die die Vielzahl der Kulturen gegen den einen Hauptfeind verteidigen. Diesem unterstellten sie die Absicht, sein eigenes kulturelles Modell weltweit als Standard durchsetzen zu wollen. Nun ersetzten aber bei Dugin die Vereinigten Staaten das »romanogermanische Europa« als Feindbild: »Die USA sind eine chimärenhafte, antiorganische, transplantierte Kultur, die keine sakralen staatlichen Traditionen und keinen kulturellen Boden besitzt, gleichwohl aber versucht, den anderen Kontinenten ihr antiethnisches, antitraditionalistisches, ›babylonisches‹ Modell aufzudrängen« (ebd.: 3).

Nach Ansicht der Neoeurasier sind es der amerikanische »Mondialismus« und Globalismus, das Streben der Vereinigten Staaten nach der Weltherrschaft, die die kulturelle und politische Vielfalt der Welt bedrohen (Ochotin 1991; Ideologija mirovogo pravitelstva 1992). In Anlehnung an Thiriarts Konzept der Pax eurasiatica argumentierte Dugin 128

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Eurasismus und Geopolitik in der Lesart A. Dugins

für ein »Eurosowjetisches Imperium« von Dublin bis Wladiwostok, da »die wahren, geopolitisch gerechtfertigten Grenzen Russlands bei Cadiz und Dublin liegen und Europa dazu bestimmt ist […] der Sowjetunion beizutreten« (Evrasijskoje soprotivlenije 1992: 2). Er verstand also unter Eurasien die kontinentale Landmasse von Europa und Asien. Diese stellte er – in der geopolitischen Tradition Haushofers und der westlichen Neuen Rechten – in einen grundlegenden Gegensatz zu den Seemächten unter Führung der Vereinigten Staaten. Der originelle Beitrag Dugins zur undemokratischen Tradition eines geopolitischen Denkens, das die Expansion mit militärischen Mitteln rechtfertigt, sind Esoterik und Konspirologie (vgl. Dugin 1996). So vertrat er die Ansicht, in der Gegenwart trete der »Große Krieg der Kontinente« in die Entscheidungsphase, der jahrhundertelange Kampf zwischen den Geheimorden von Eurasiern und »Atlantikern« um die Weltherrschaft werde in allernächster Zukunft entschieden (Dugin 1992). An anderer Stelle führte er die Konfrontation zwischen Landund Seemächten in letzter Konsequenz auf den Zusammenprall alchemistischer Elemente zurück (Dugin 1997: 553-567). Beides lässt sich damit erklären, dass sich Dugin in den 1980er Jahren als Mitglied des Golovin-Kreises mit orientalischer Mystik und europäischen Traditionalisten beschäftigte. Letztere inspirierten nicht nur Dugin, sondern auch die europäische Neue Rechte (Shenfield 2001: 192). In der Einleitung seiner »Grundlagen der Geopolitik« verteidigte Dugin die Geopolitik gegen den Vorwurf, bloße Scharlatanerie zu sein, die die Expansionspolitik Nazi-Deutschlands auf pseudowissenschaftliche Art und Weise legitimiert habe.7 Seine Argumentation stützte sich freilich weniger auf die »kritische Geopolitik« der Nachkriegszeit (vgl. Weiser 1994) als auf eine Verschwörungstheorie: »Der Hauptgrund für die historische Unterdrückung der Geopolitik ist der Umstand, dass sie zu offen die grundlegenden Mechanismen der internationalen Politik aufzeigt, welche die verschiedenen Regimes zumeist hinter nebliger Rhetorik oder abstrakten ideologischen Schemata zu verbergen bevorzugen« (Dugin 1997: 6).

7 Zum Verhältnis von deutscher Geopolitik und Nationalsozialismus vgl. Kost (1986); Ebeling (1994); Sprengel (1996); Osterhammel (1998).

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Er definierte Geopolitik als »Weltanschauung der Macht« und als »Wissenschaft über und für die Macht« (ebd.: 13), die auf dem Grundgesetz des planetaren Dualismus beruhe (ebd.: 91f.). Um den Kampf gegen die Bedrohung durch »Atlantismus« und »Mondialismus« erfolgreich zu führen, habe Russland die strategischen Achsen MoskauBerlin, Moskau-Tokyo und Moskau-Teheran zu stärken (ebd.: 214-249). Die Russen, so Dugin weiter, seien eine imperienbildende Nation (ebd.: 193-213). »Russland ohne Imperium« ist für ihn schlicht »undenkbar« (ebd.: 193). Gemäß dem Prinzip des Großraums, das nach Dugin ein weiteres Grundgesetz der Geopolitik darstellt, war der Untergang der Sowjetunion wissenschaftlich falsch (ebd.: 422f.). Die »Grundlagen der Geopolitik« sind nicht nur als Handbuch für die politische und militärische Führung gedacht. Sie enthalten auch eine Geschichte der Geopolitik und eine Übersicht über geopolitische Theorien der Gegenwart. Bei der Diskussion der unterschiedlichen Schulen hob Dugin hervor, dass sich der Gegensatz zwischen Landund Seemächten, zwischen Tellurokratien und Thalassokratien, in zwei Grundrichtungen der Geopolitik widerspiegele (ebd.: 94-96). Es überrascht wenig, dass er mit den Fürsprechern der Kontinentalmächte sympathisierte, das heißt mit Haushofer, Thiriart und anderen Vertretern der westlichen Neuen Rechten (ebd.: 99-104), sowie mit Savizkij, einem der Anführer des klassischen Eurasismus (ebd.: 82-90). 1997 veröffentlichte Dugin neben den »Grundlagen der Geopolitik« die Anthologie »Kontinent Evrasija«, die Savizkijs wichtigste Aufsätze versammelt (Savizkij 1997). In seiner Einleitung erhob Dugin Savizkij zu einem Geopolitiker ersten Ranges und stellte ihn auf eine Stufe mit Mackinder, Haushofer und Carl Schmitt. Gleichzeitig hielt er fest, dass »die eurasische Doktrin in vielem eine geopolitische Doktrin« sei (Dugin 1997a: 9). Die kontinentale Natur Eurasiens war zweifellos der Kerngedanke in Savizkijs geopolitischen Arbeiten. Dennoch ist Dugins Blick auf Savizkij (Dugin 1997b: 435-447) einseitig, denn Letzterer war weniger am Gegensatz zwischen einem thalassokratischen und einem tellurokratischen geopolitischen Block als an der ökonomischen Autarkie und politischen Unabhängigkeit der Kontinentalmacht Eurasien interessiert (Savizkij 1921/1997). Geopolitische Aspekte und Außenpolitik nehmen unter den »Prioritäten der Bewegung ›Eurasien‹« eine zentrale Stellung ein. Im eurasischen Manifest von 2001 erklärte Dugin die Umwandlung der Ge130

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meinschaft Unabhängiger Staaten in eine Eurasische Union zum Hauptziel. Als unterstützende und begleitende Maßnahmen seien strategische Allianzen in Asien, Europa und im pazifischen Raum zu schließen. In Bezug auf Europa hielt er unzweifelhaft fest: »Das heutige Europa ist nicht mehr die Verkörperung des ›globalen Bösen‹ (dies ist heute die Funktion der USA) […] Das eurasische Russland muss [deshalb] in die Rolle des Befreiers Europas von der amerikanischen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Okkupation treten« (Dugin 2001: 8).

Den Eurasismus definiert das Manifest zwar als weltumspannendes Bündnis der Globalisierungsgegner: »Auf planetarem Niveau findet der Eurasismus seinen Ausdruck im aktiven und allgegenwärtigen Widerstand gegen die Globalisierung. Alle Antiglobalisierungstendenzen sind per Definition ›eurasisch‹« (ebd.).

Ohne die »Wiedergeburt des russischen Volkes (als eines imperienbildenden)« aber sei das eurasische Projekt unmöglich zu verwirklichen (ebd.).

Vom Traditionalismus zum Eurasismus Ein zweites Leitmotiv in Dugins Savizkij-Edition war neben der Geopolitik die Präsentation des Eurasismus als einer Ideologie des »Dritten Weges«. Mit dem Werk europäischer Traditionalisten und Vertretern der »Konservativen Revolution« (René Guénon, Julius Evola, Carl Schmitt, Ernst Jünger), an die auch die europäische Neue Rechte anknüpft, war Dugin seit den 1980er Jahren vertraut (Shenfield 2001: 191f.). Am bereits erwähnten Runden Tisch von 1992 stützte er sich ausschließlich auf diese westlichen Autoren und den anwesenden Alain de Benoist, als er die Existenz universeller Werte und einer einheitlichen Menschheit in Abrede stellte (Evrasijskoje soprotivlenije 1992: 2). Der Tatsache, dass die Eurasier in den 1920er Jahren dasselbe getan hatten, war er sich nicht bewusst. Erst in den folgenden Jahren beschäftigte sich Dugin näher mit dem evrasijstvo der Zwischenkriegszeit und gab schließlich dessen 131

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Schlüsseltexte in mehreren Reprintsammlungen (Savizkij 1997; Alexejev 1998; Trubezkoj 1999) heraus. Dabei richtete er sein Hauptaugenmerk auf Vertrautes, auf diejenigen Aspekte also, die der klassische Eurasismus mit der Philosophie des Traditionalismus und der Ideologie des »Dritten Weges« gemeinsam hatte (Dugin 1997a, 1997b; vgl. auch Dugin 1994, 1997c). Falsch war dies nicht, interpretiert doch die moderne Forschung den Eurasismus als die russische Variante der Ideologie der »Konservativen Revolution«8 (Luks 1986) und machten die Eurasier selbst auf ihre Nähe zum Faschismus aufmerksam (Sadovskij 1925: 402-404; Trubezkoj 1934: 10f.). Es war aber auch nicht ausgewogen. Durch seinen spezifischen Zugang zum klassischen Eurasismus, der bestimmt war durch seine intellektuelle Biographie, übersah Dugin anfänglich die epistemologische Argumentation der frühen Eurasier (Trubezkoj 1920/1999: 35 und passim; Trubezkoj 1927/1999) und vernachlässigte die inneren Widersprüche, die das klassische evrasijstvo trotz seines gegenteiligen Anspruches aufwies (Trojanov 1992: 100f.; Laruelle 1999: passim). Ausgehend vom Konzept der »Konservativen Revolution« strich Dugin später die paradoxe und alogische Natur der eurasischen Ideologie heraus (Dugin 1997b: 436, 439). Kohärenz war daher gar kein Anspruch mehr, den er an sein eigenes eurasisches Gedankengebäude stellte. So konnte Dugin den Eurasismus im Reprintband von 1997 als geopolitische Theorie fassen und Savizkij die »Seele« des Eurasismus nennen (ebd.: 435), zwei Jahre später aber Trubezkoj in genau denselben Worten dafür preisen, dass er den radikalen Dualismus von »romanogermanischer« und eurasischer Kultur entdeckt habe (Dugin 1999: 6-8). Der tiefgreifende Widerspruch zwischen Europa als Teil Eurasiens (in den geopolitischen Begriffen der Neuen Rechten) und Europa als Verkörperung des Eurasien entgegengesetzen Prinzips (in den Begriffen der Kulturtheorie Trubezkojs) war für Dugin unerheblich. Er konnte den Eurasismus als Bollwerk gegen die Aggression und das Weltherrschaftsstreben der »Romanogermanen« verstehen, wenn er Trubezkoj auslegte (ebd.: 8f.), während er in der Einleitung der Alexejev-Ausgabe dazu aufrief, das eurasische Staatsmodell weltweit zu 8 Zur »Konservativen Revolution« in Deutschland vgl. Mohler (1994) und Breuer (1995).

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verbreiten, und in eschatologischer Terminologie von der Heilsmission des auserwählten russischen Volkes sprach (Dugin 1998: 19; vgl. auch Dugin 1997b: 452). Als Anhänger der Ideologie der »Konservativen Revolution« sah Dugin kein Problem darin, den Eurasismus als traditionalistische und avantgardistische Bewegung zugleich zu beschreiben. Dies ist nicht nur der Fall in den Klassikerausgaben (Dugin 1999: 8, 25), sondern auch im Manifest von 2001: »Die Entwicklung des kulturellen Prozesses sieht der Eurasismus in der Rückkehr zu den Wurzeln, in der organischen Synthese des Alten und des Heutigen. Prioritär muss […] die Fortsetzung und Wiedergeburt der Tradition sein. Als neue, avantgardistische Ideologie richtet sich der Eurasismus in erster Linie an junge Leute« (Dugin 2001: 8).

Diese paradoxe Selbstbeschreibung ist typisch für faschistische Bewegungen im Sinne von Stephen Shenfields Definition (Shenfield 2001: 17, 195).

Fazit Alexander Dugin kam in Kontakt mit Vertretern der europäischen Neuen Rechten, rezipierte traditionalistische Autoren und geopolitisches Schrifttum, bevor er den Eurasismus entdeckte. Deshalb fasste er den Eurasismus anfänglich als geopolitische Theorie sowie als russische Variante des europäischen Traditionalismus und der »Konservativen Revolution« auf. Das geopolitische Denken zog Dugin an, weil es die Weltgeschichte als ewigen Kampf zwischen Land- und Seemächten erklärt und dabei die russische Dominanz auf der eurasischen Landmasse scheinbar wissenschaftlich legitimiert. Dugins Konzept der Geopolitik fehlt freilich der demokratische Geist der »kritischen Geopolitik« nach 1945. In Einklang mit Haushofer und der europäischen Neuen Rechten befürwortet er offen eine imperiale Expansion, die angeblich durch geographische Fakten determiniert sei. In seiner Reduktion auf eine geopolitische Theorie dient der Eurasismus Dugin dazu, die Restauration eines imperialen russischen Staates zu rechtfertigen. 133

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Die Entwicklung von Dugins Denken erklärt zwei wichtige Unterschiede zwischen seinem Neoeurasismus und dem klassischen evrasijstvo: 1. Der Begriff »Eurasien« bezieht sich nicht auf dasselbe Territorium. Die Existenz eines dritten Kontinents »Eurasien« zwischen Europa und Asien, dessen Gebiet ungefähr mit demjenigen der Sowjetunion zusammenfällt, war der zentrale Gedanke des klassischen Eurasismus. In Dugins Werken hingegen ist »Eurasien« ein Homonym, das zwischen einer engeren und einer weiteren Bedeutung oszilliert. Wird der Begriff »Eurasien« von Dugin bisweilen im Sinne des klassischen Eurasismus verwendet, so steht er häufiger für die ganze kontinentale Landmasse von Dublin bis Wladiwostok, das heißt wie in den geopolitischen Konzepten der europäischen Neuen Rechten für Europa plus Asien. 2. Es verschiebt sich nicht nur der Fokus des russischen Imperialismus, sondern im Gleichschritt damit auch das Feindbild. Der klassische Eurasismus errichtete einen Gegensatz zwischen dem »romanogermanischen Europa« und Russland-Eurasien. In Dugins manichäischer Weltsicht stehen sich Eurasismus und »Atlantismus« gegenüber. Europa und Russland-Eurasien sind nun vereint gegen den gemeinsamen Feind USA, die in diesem Weltbild das Böse in Form von Globalisierung und »Mondialismus« verkörpern. Wiederum ist Dugin beeinflusst von der europäischen Neuen Rechten. Außerdem erklärt Dugins geistige Biographie seine konspirologischen Ansätze, die im klassischen Eurasismus völlig fehlen. Bereits bevor er mit dem klassischen Eurasismus in Berührung kam, hatte er eine Neigung zu Esoterik und Mystik. Erst ab einem gewissen Zeitpunkt seiner intellektuellen Entwicklung beschäftigte sich Dugin mit dem klassischen Eurasismus und gab schließlich mehrere Anthologien mit eurasischen Texten der Zwischenkriegszeit heraus. In diesen Sammelbänden stellte er den Eurasismus als Ideologie des »Dritten Weges« dar und unterstrich diejenigen Aspekte, die der klassische Eurasismus mit zeitgenössischen faschistischen Bewegungen gemeinsam hatte. In seiner Auslegung der Schriften Savizkijs, Trubezkojs und Alexejevs machte Dugin nicht einmal den Versuch, Widersprüche zwischen diesen Autoren aufzulösen. Ebenso wenig kümmerte es ihn, dass er ihre Werke inkohärent interpretierte. Stattdessen betonte er unaufhörlich, dass die eurasische Ideologie inhärent paradox sei. Dies machte es ihm leicht, den Eurasismus gleichzeitig als archaisch und avantgardistisch zu charakterisieren. 134

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Eurasismus und Geopolitik in der Lesart A. Dugins

Die Idee, vormoderne Werte in einer Ordnung wiederherzustellen, die auf revolutionärem Weg etabliert wurde, war dem klassischen Eurasismus nicht fremd. In Dugins esoterischen neoeurasischen Werken wird sie aber genauer ausgearbeitet und auf die paradoxe Natur des Eurasismus zurückgeführt. Es ist diese Interpretation des Eurasismus als die russische Variante der Ideologie der »Konservativen Revolution«, die Dugin eindeutig zu einem Faschisten im Sinne der Definition Shenfields macht. Die grundlegende Funktion der Geopolitik ist es dabei, den Feind des Traditionalismus geographisch zu lokalisieren und den russischen Imperialismus als Verteidigung gegen die Moderne zu legitimieren.

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Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung

Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung einer russischen Bewegung 1 Vladimir Kozlovsky »Den Eurasismus darf man nicht für eine überholte Lehre halten. Ganz im Gegenteil, er befand sich im Zustand zeitweiliger Anabiose und dem muss man die günstigsten und vielversprechendsten Aussichten zusprechen.« Vladimir Iljin (1982)

Der russische Dichter Jurij Kublanovskij verwendete vor etwa zehn Jahren auf den Seiten der in Paris herausgegebenen Zeitung Russkaja Mysl (Der Russische Gedanke) beiläufig eine Formulierung: »Die Eurasische Versuchung«. Wahrscheinlich erinnerte er sich an einen gleichnamigen Artikel von Georgij Florovskij, der als einer der Begründer des Eurasismus gilt. Florovskij hatte in seinem Aufsatz die ihm einst nahen und wichtigen Ideen streng kritisiert. Vielleicht passte dieser Ausdruck aber auch nur einfach gut zu dem, was Kublanovskij mitteilen wollte. Jedenfalls erwartete er keine Erwiderung darauf – und erst recht keinen Protest. Dieser wurde jedoch bald energisch geäußert. Fürstin Sinaida Alexejevna Schachovskaja2 reagierte mit einem umfangreichen Aufsatz, in welchem sie Kublanovskij vorwarf, die Ideen des Eurasismus nicht verstanden und verzerrt dargestellt zu haben. Darüber hinaus beklagte sie, dass weder in der Sowjetischen Republik noch in der so genannten freien Welt ausführliche und systematische Untersuchungen zum Thema Eurasismus vorlägen.3 Kublanovskijs 1

Dieser Beitrag basiert auf Informationen und Materialien zum Aufsatz »Evrasijskoje buduscheje Rossii« (Die eurasische Zukunft Russlands), den ich 1992 gemeinsam mit Igor Savkin verfasst habe. 2 Sinaida Alexejevna Schachovskaja (geb. 1906) war mit dem Eurasier P.N. Malevskij-Malevitsch verheiratet und von 1969 bis 1978 Chefredakteurin der in Paris herausgegebenen Zeitschrift Russkaja Mysl. 3 Dieses Urteil übersieht die Tatsache, dass der deutsche Geschichtswissenschaftler Otto Böss 1961 seine umfangreiche Untersuchung zum Eurasismus veröffentlichte. In seiner Arbeit »Die Lehre der Eurasier: Ein Beitrag zur russischen Ideengeschichte des 20ten Jahrhunderts« zeigte er neben den ideologischen Quellen, aus denen sich der Eurasismus speist, auch seine Verquickung mit anderen politischen und ideologischen Konzepten auf.

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Vladimir Kozlovsky

Artikel betrachtete sie als einen weiteren Beweis dafür, dass über den »Eurasismus« nur vage und fragmentarische Vorstellungen und Kenntnisse vorherrschten. »Ich werfe Kublanovskij nicht vor, dass er wenig über den Eurasismus, über diese originellste und neue ideologische Strömung der russischen Emigration weiß. Nach dem Krieg ist keine einzige große Untersuchung zum Eurasismus erschienen […]. Der Eurasismus begann mit dem Erscheinen des Buches von Professor Fürst N.S. Trubezkoj ›Evropa i tschelovetschestvo‹ (Europa und die Menschheit) in Sofia und mit der ersten Ausgabe der Zeitschrift ›Evrasijskij Vremennik. Ischod k vostoku. Predtschuvstvija i sverschenija. Utverschdenije Evrasijzev‹ (Der Exodus nach Osten. Vorahnungen und Erfüllungen. Die Behauptungen der Eurasier) unter der Redaktion von N.S. Trubezkoj und P.N. Savizkij. Unter den Begründern der Bewegung werden wir solche Professoren wie W.N. Iljin4, G. Vernadskij, B. Vyscheslavzev5, V. Sesemann, L. Karsavin, R. Jakobson, N. Alexejev […] finden. Sie hatten, wie auch andere Eurasier – Linguisten, Orientalisten, Philosophen, Theologen, Historiker, Ethnographen, Wirtschaftswissenschaftler, Geopolitiker – die besten Lehrstühle in Berlin, London, Prag und anderen europäischen Städten inne […]. Ich bin nur kurz mit der Vgl. auch Utechin (1966), Varschavskij (1992) und Williams (1972). – Agurskijs (1980) Auffassung, dass der Eurasismus bereits gut erforscht sei, kann jedoch als übertrieben bewertet werden. Leider verwechselt Agurskij in seiner Arbeit Namen und Daten und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf eher weniger zentrale Personen. Somit liegt mit Ausnahme der vierzig Jahre alten Arbeit von Böss in der Tat keine Monographie bzw. kein Sammelband vor, der speziell dem Thema »Eurasismus« gewidmet ist. Aufgabe der künftigen Sozialwissenschaftler wird es sein, die Umstände des langen »Schweigens« über den Eurasismus zu klären. 4 Vladimir N. Iljin (1891-1974), orthodoxer Theologe und Philosoph, war Schüler des evangelischen Theologen Adolf v. Harnack. 5 Meines Erachtens kann Vyscheslavzev nicht zu den »Begründern« des Eurasismus gezählt werden. Seine öffentlichen Diskussionen zur Unterstützung der Eurasier sind eher auf seine Feindseligkeit gegenüber Miljukov und anderen liberalen Opponenten der Eurasischen Bewegung zurückzuführen. Bestenfalls kann man ihm Sympathie gegenüber einigen Ideen der neuen Strömung, gegenüber ihrem Pathos und Enthusiasmus zuschreiben.

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Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung Ideologie des Eurasismus in Berührung gekommen, als die Frau eines Menschen, dem sie nah war. Ich kann aber nicht vergessen, dass ich dank des Eurasismus den hervorragenden Persönlichkeiten (sowohl von ihrem Wissen als auch von ihren menschlichen Eigenschaften her) begegnet bin. Ich bin wahrscheinlich die Letzte, die sich an sie erinnert und vielleicht auch das Interesse der neuen Forscher der russischen Welt erwecken kann« (Schachovskaja 1983).

Aus diesem Zitat geht hervor, dass der »Eurasismus« eine politische Ideologie war, die in den Kreisen der russischen Emigranten im Europa der 1920er Jahre des letzten Jahrhunderts anzutreffen war. Als der »erste« Eurasier gilt Fürst Nikolaj Sergejevitsch Trubezkoj (1890-1938), dessen Vorstellungen darüber, wie das Verhältnis Russlands zur Vergangenheit, zur Gegenwart und zur Zukunft zu begreifen sei, in eine zentrale Idee mündeten: Aufgrund seiner besonderen geographischen, ethnischen und kulturellen Lage zwischen Asien und Europa würde Russland zu keinem dieser Kontinente gehören, sondern ein eurasisches Gebilde mit ethnischen, sprachlichen und kulturellen Besonderheiten darstellen. Um die Ideen des »Eurasismus« besser verstehen zu können, sollte daher zunächst der Blick auf die Person des Fürsten sowie auf sein zentrales Werk »Europa und die Menschheit« gerichtet werden. Trubezkoj, ein weltweit bekannter Sprachwissenschaftler und Begründer des so genannten »Prager Sprachwissenschaftlichen Arbeitskreises«, stammte aus dem Moskauer Zweig der aristokratischen Familie der Fürsten Trubezkoj.6 Kartaschev sagte einmal über die Brüder Trubezkoj, dass sie »eine Verkörperung der hellen Gestalt unserer alten Aristokratie des Blutes und der Begabung« gewesen wären. Diese Familieneigenschaften, »die Bildung, der Verstand, das Familienvermächtnis des hohen Idealismus« und ein »russisch-ritterliches« Einhalten der »moralischen Reinheit, der Uneigennützigkeit und der Gunst zu den Leuten« (Pamjati 1930: 26) hätte auch Nikolaj Sergejevitsch Trubezkoj geerbt. Um die Bedeutung von Trubezkojs Buch besser einschätzen zu können, sollte man sich vor Augen halten, dass die russischen Emi6 Sein Vater war der Religionsphilosoph Sergej Trubezkoj, der auch zum ersten Rektor der Universität Moskau gewählt wurde. Auch sein Onkel, Evgenij Trubezkoj, war ein anerkannter religiöser Philosoph.

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Vladimir Kozlovsky

grantengemeinden der verschiedenen europäischen Zentren zu jener Zeit vielfältig zusammengesetzt waren. Sie bestanden aus Anhängern unterschiedlicher politischer und religiöser Richtungen, die verschiedenen sozialen Schichten entstammten. Allein die Überzeugung von der Notwendigkeit des (bewaffneten) Kampfes gegen die Bolschewiken, gegen die revolutionären Kräfte in der sich neu bildenden Sowjetunion, konnte sie mehr oder weniger vereinen. Unter diesen Emigranten waren Gefühle wie Verzagtheit, Hoffnungslosigkeit und Verbitterung über die andauernden Niederlagen vorherrschend. Beständig wurden hierfür »Verräter« und »Schuldige« ausgemacht. Viele der Emigranten waren der Meinung, dass die bis dahin vorherrschenden Ideen des Monarchismus und der Bewegung der Weißen Garde (Belaja Gvardija) versagt hätten und dass deshalb die militärischen Niederlagen im russischen Bürgerkrieg unvermeidbar gewesen wären. Ihre Enttäuschung über die ehemaligen Verbündeten von Antanta, Großbritannien und Frankreich, war groß. Unterstützung erhielt die russische Emigrationsbewegung lediglich von Deutschland und der Tschechoslowakei. In Berlin und Prag entstanden Anfang der 1920er Jahre russische wissenschaftliche Einrichtungen und Hochschulen, die von den Regierungen finanziell gefördert wurden. Die Gleichgültigkeit – ja sogar Feindseligkeit – der slawischen »Brüder« gegenüber den Millionen von Russen, die ihr Vaterland verlassen mussten, gegenüber ihrem Elend und ihren Hoffnungen, wurde von vielen Emigranten als Verrat gewertet. Sie glaubten, dass der Zusammenbruch der traditionellen russischen Staatlichkeit vielen zupass komme und dass lediglich bedauert wurde, dass der »Verstorbene« seine Schulden noch nicht beglichen hatte. Komplettiert wurde diese Demütigung noch durch die Niederlage der russischen Armee, bzw. des von ihr übrig gebliebenen Restes, 1915 in Gallipoli (Türkei). In dieser bedrückenden Atmosphäre erschien Trubezkojs Buch, das neue Diskussionen unter den Emigranten anregte, weil es ihnen eine Perspektive eröffnete und dadurch neuen Lebensmut vermittelte. Insgesamt kann das Werk als »glänzender Misserfolg« betrachtet werden. Einerseits zog es Aufmerksamkeit auf sich und löste heftige Diskussionen über die in ihm beschriebenen Prinzipien und Ideen aus. Andererseits muss es deshalb als ein Misserfolg gelten, weil es zu Halbwahrheiten und unzähligen Missverständnissen geführt hat – Folgen, die der Autor jedoch selbst erkannte. Trubezkoj sah sich oft 142

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Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung

gezwungen, zusätzliche Erklärungen zum Sinn seines Werkes abzugeben. So schrieb er am 7. März 1921 in einem Brief an seinen Freund, den bekannten Philologen Roman Jakobson7: »Sie haben den Sinn und den Zweck meines ›Europa und die Menschheit‹ nicht ganz richtig verstanden. Das Buch wurde von mir schon vor langem (1909-1910) als erster Teil einer Trilogie mit dem Titel ›Opravdanije nazionalisma‹ (Rechtfertigung des Nationalismus) beabsichtigt. Der erste Teil sollte den Titel ›Ob egozentrisme‹ (Über Egozentrismus) tragen und dem Andenken an Kopernikus gewidmet sein; der zweite Teil sollte ›O istinnom i loschnom nazionalisme‹ (Über den wahren und unwahren Nationalismus) heißen und dem Andenken an Sokrates gewidmet sein; der letzte Teil unter dem Titel ›O russkoj stichii‹ (Über die russische Naturkraft) sollte schließlich dem Andenken an Stenka Rasin und Emelka Pugatschev gewidmet sein. Jetzt habe ich den Titel des ersten Teiles durch den auffallenderen ›Europa und die Menschheit‹ ersetzt und die Widmung an Kopernikus als zu anspruchsvoll ausgelassen. Die Botschaft dieses Buches ist rein negativ. Es muss gar keine positiven, konkreten Leitprinzipien abgeben. Es soll die bekannten Götzenbilder stürzen und den Leser vor die leeren Sockel stellen und dazu führen, dass er selbst, in der Suche nach dem Ausweg, seinen Verstand anstrengt. Auf den Ausweg sollte in den weiteren Teilen der Trilogie hingewiesen werden. Im ersten Teil wollte ich nur die Richtung andeuten, in der dieser Ausweg zu suchen ist. Ich gebe es zu, dass ich dies schlecht gemacht habe« (Trubezkoj zit. nach Jakobson 1975: 12).

Auf die rethorische Frage von Jakobson, wie der Sinn des zu beobachtenden »Aufstandes der Stämme« unter der Führung von Russland gegen die Romano-Germanen zu verstehen sei, antwortete Trubezkoj, dass das instinktive, unterbewusste Wesen des »Volksbolschewismus« darin bestehe, dass das Wort »Bourgeois« für das russische Volk nicht den Reichen, sondern den Menschen einer anderen Kultur bezeichne, der sich wegen dieser kulturellen Zugehörigkeit einbilde, einen höheren Status zu besitzen. Folglich, so fasst der Fürst zusammen,

7 Roman Ossipovitsch Jakobson (1896-1982) war russisch-amerikanischer Abstammung, Linguist und Literaturfachmann für Poetik und Semiotik. Er versuchte, den linguistischen Beweis für die Existenz eines »eurasischen Sprachverbandes« (jasykovoj sojus) anzutreten.

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Vladimir Kozlovsky »setzt ein richtiger kommunistischer Staat als Erzeugnis romanisch-germanischer Zivilisation bestimmte kulturelle, soziale, ökonomische, psychologische usw. Verhältnisse voraus, die in Deutschland vorhanden sind, in Russland aber fehlen. Mit Hilfe dieser Vorteile und der negativen Lehre des russischen Bolschewismus werden die Deutschen einen sozialistischen Musterstaat bilden und Berlin wird die Hauptstadt dieser das ganze Europa umfassenden oder sogar weltweiten sowjetischen ›Bundesrepublik‹. In der weltweiten sowjetischen Bundesrepublik werden die Deutschen Herren sein und wir, d.h. alle übrigen, die Sklaven. […] [N]ichtromanische Völker brauchen eine neue, nicht eine romanisch-germanische Kultur. Die unteren Schichten der romanischgermanischen Völker brauchen keine prinzipiell neue Kultur, sie wollen nur mit den herrschenden Klassen die Plätze tauschen, um weiter das zu tun, was diese Klassen bisher gemacht haben: In den Fabriken zu wirtschaften und die ›farbigen‹ Söldnerheere zu kommandieren, die ›Schwarzen‹ und die ›Gelben‹ zu unterdrücken, indem man sie zwingt, die Europäer nachzuahmen, europäische Waren zu kaufen und Rohstoffe nach Europa zu liefern. Wir haben einen anderen Weg« (Trubezkoj zit. nach Jakobson 1975: 15-16).

Trubezkoj wollte seiner Leserschaft das Bewusstsein der Bedeutung einer anderen Unterscheidung als jener der Klasseninteressen vermitteln. Er wollte ihnen die Differenziertheit der Kulturen in ihrem Verhältnis zur Welt aufzeigen und stellte deshalb die Begriffe »Europa« und »Menschheit« einander gegenüber. Mit »Menschheit« bezeichnete er jedoch keine homogene Masse und auch keine ideologische Fiktion, wie man sie etwa bei Comte8 (1969) findet. Unter »Menschheit« verstand Trubezkoj eine Ansammlung von Ethnien und Superethnien, von »Angesichtern« und »mehrvölkigen Persönlichkeiten« (Jakobson 1975: 13). Er zog die Selbstverständlichkeit der eurozentristischen Dominanz in Zweifel und meinte, dass der Egozentrismus der romanisch-germanischen Völker den »Exzentrismus« aller übrigen Völker voraussetze. 8 Comte ging zunächst davon aus, dass es mit Hilfe der Wissenschaften, insbesondere der Soziologie, möglich sei, neue soziale Ordnungen zu entwickeln. Diese Annahme stellte sich jedoch als illusorisch heraus. Enttäuscht von den begrenzten Möglichkeiten der Wissenschaften, soziale Umstrukturierungen zu verwirklichen, entwickelte Comte die Idee der Notwendigkeit einer »zweiten theologischen Synthese« und meinte damit, dass den Kulturen der Menschen ein einheitliches »Großes Wesen« zugrunde liegt.

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Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung

Mit »Exzentrismus« meinte er dabei das Fehlen eines inneren Mittelpunktes und die daraus resultierende Orientierung am Äußeren. Dem »kulturellen Chauvinismus« der romanisch-germanischen Völker stellte Trubezkoj den Begriff des »wahren Nationalismus« gegenüber, dem, seiner Meinung nach, das Recht und die Pflicht zur Selbsterkenntnis des Volkes zugrunde liegt. »Wahrer Nationalismus« bedeutete für Trubezkoj, dass sich eine Nation weder kulturelle Werte und Ideen fremder Völker aneignet noch die eigenen anderen Völkern aufzwingt, sondern dass sie ihr wahres Wesen erforscht und zur Geltung bringt. Auf der Suche nach diesem »wahren Wesen« schrieb er: »Die positive Seite eines turanischen Seelenlebens hat in der russischen Geschichte unzweifelhaft eine wohltätige Rolle gespielt […]. Das Bewusstsein seiner Zugehörigkeit nicht nur zum arischen, sondern auch zum turanischen Seelentypus, ist für jeden Russen notwendig« (Trubezkoj 1927 zit. nach Tschizevskij 1961: 155). Gumilev9 (1991) glaubt, dass das von Trubezkoj behauptete Prinzip des Polyzentrismus10 seinen methodologischen Wert auch heute nicht verloren habe. Mit Bezug auf Trubezkoj konstatiert er, dass eine homogene, für alle Völker gleiche Kultur unmöglich sei und dass gerade die Mosaikartigkeit der Menschheit ihr die nötige Flexibilität verleihe, die sie zum Überleben als Gattung brauche. Bemerkenswert ist, dass Trubezkoj schon in der Anfangsphase des sich formierenden Eurasismus behauptete, dass »Russland, das lange Zeit sich selbst und der asiatischen Orientierung überlassen war, entweder seine Führer zwingt, den Umsturz zu machen, oder sie durch andere ersetzt, die zu diesem Umsturz fähiger sind« (Jakobson 1975: 16). Mit »Umsturz« meinte er dabei das Ablegen der sich als falsch erweisenden »eurozentristischen« Werte. 9 Lev Nikolajevitsch Gumilev (1912-1992), Sohn des russischen Dichters Nikolaj Gumilev und der Poetin Anna Achmatova, war ein bekannter russischer Historiker und Geograph. Er begründete Passionarnost, eine Theorie der Ethnogenese, die »Menschheit« und »Ethnos« als biosoziale Kategorien definiert und bioenergetische Einflüsse auf die Kulturentwicklung berücksichtigt. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit der Geschichte der türkischen, mongolischen und slawischen Völker Eurasiens. 10 Dieser kann auch als Prinzip der »ursprünglichen Vielfalt der Kulturen« bezeichnet werden.

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Trotz einer gewissen Originalität kann der Eurasismus der alten russischen Tradition antiwestlicher Haltungen zugeordnet werden. Der Versuch einer Abgrenzung gegenüber zunehmender Europäisierungstendenzen mittels der Etablierung eines eigenen Identifikationsangebotes ist offensichtlich.

Anfänge und Grundlagen des Eurasismus Wie Sobolev (1991) feststellt, fand das Ideengut des Eurasismus zum ersten Mal auf der Sitzung des religiös-philosophischen Arbeitskreises in Sofia am 3. Juni 1921 seinen Weg in die Öffentlichkeit. Trubezkoj und Florovskij11 hielten dort Vorträge zum Thema. Schon im Juli desselben Jahres setzte Trubezkoj Jakobson von seiner Absicht in Kenntnis, ihm ein neues Buch mit dem Titel »Ischod k vostoku. Predtschuvstvija i sverschenija. Utverschdenije Evrasijzev« (Exodus nach Osten. Vorahnungen und Erfüllungen. Die Behauptung der Eurasier) schicken zu wollen. »Das ist ein Sammelband von vier Autoren: Suvtschinskij, Florovskij, Savizkij und mir. Wir haben uns aufgrund einer gemeinsamen Stimmung und eines gemeinsamen Weltgefühls zusammengeschlossen, obgleich jeder von uns seinen eigenen Ansatz und seine eigenen Überzeugungen hat. Mir steht Suvtschinskij am nächsten; Florovskij ist von mir weiter entfernt, insbesondere wegen der größeren Abstraktheit seines Denkens […]. Meine Beiträge in diesem Sammelband stellen eine verkürzte Fassung des zweiten und des dritten Teils der Trilogie dar, von der ich Ihnen geschrieben habe […]. Ihre Meinung über diesen Sammelband wäre sehr interessant. Sein Anliegen ist es, einer gewissen neuen Richtung Bahn zu brechen, die wir mit dem Terminus ›Eurasismus‹ bezeichnen, der wahrscheinlich nicht sehr gut, aber auffallend herausfordernd und deswegen für die Agitation und auch andere Zwecke geeignet ist« (Trubezkoj zit. nach Jakobson 1975: 21).

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Georgij Vassiljevitsch Florovskij war ein bekannter russischer christlichorthodoxer Theologe und Historiker. Seit 1920 lebte er im Exil. Er veröffentlichte mehrere Werke über das Patriarchat, die byzantinische Theologie sowie über die Geschichte des russischen religiösen Bewusstseins.

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Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung

Sobolev vermutet, dass der eigentliche Initiator dieser Veröffentlichung Fürst Andrej Alexandrovitsch Livin war, ein russischer Aristokrat, der sich wie Trubezkoj mit traditionellen Themen beschäftigte. Auch Pjotr Petrovitsch Suvtschinskij (1892-1985) steuerte erheblich zu diesem Sammelband bei. Er war Essayist und Musikwissenschaftler und übte später großen Einfluss auf die europäischen Komponisten der 1950er und 1960er Jahre aus. 1919 gründete Suvtschinskij in Sofia den »Russisch-Bulgarischen Verlag«, in welchem Trubezkojs Buch veröffentlicht wurde. Dank seines Engagements konnte der erste eurasische Sammelband innerhalb von wenigen Monaten hergestellt und verbreitet werden. Unter den Autoren gab es, wie Florovskij zu Recht bemerkte,12 eigentlich nur einen »Eurasier«, und zwar Savizkij13, der gleich drei Artikel beisteuerte: »Der Exodus nach Osten«, »Die Kulturmigration«, »Kontinent-Ozean (Russland und der Weltmarkt)«. Einige der Beiträge wiesen futuristische Züge auf und enthielten optimistische Zukunftsprognosen, was manchen Kritiker dazu veranlasste, von einem spezifischen »Futurismus« der Eurasier zu sprechen. Zweifelsohne zeigte der Band einen neuen und eigenständigen Entwicklungsweg für Russland auf. Savizkij betrachtete das zukünftige Russland als einen »Mittelkontinent« mit noch verschwommenen Umrissen. Aus dem »Steppenreich« von Tschingis Khan hervorgegangen, werde es sich zu einem »Kontinent-Ozean«, einem Russland-Eurasien herausbilden. Allerdings wies er darauf hin, dass der Platz »in der schönen neuen Welt« schon vergeben sein könnte (Savizkij 1921). Savizkij zufolge unterscheidet sich das Russland seiner Zeit stark von den »Ozeanmächten«, deren blühender Wohlstand auf Seehandel, Kolonialeroberungen und ungleichem Tausch beruhe. Er betrachtete Russland als einen »Binnenozean« mit einer spezifisch russisch-eurasischen Bevölkerung und Kultur. Auch übte er scharfe Kritik an der 12 13

In einem Brief an J.N. Ivask vom 8. April 1965. Pjotr Nikolajevitsch Savizkij (1895-1968) war Wirtschaftswissenschaftler, Geograph und Soziologe. Er zählt zu den Begründern und Führern der Eurasischen Bewegung und hatte ebenfalls an der »Weißen Bewegung« teilgenommen. Von 1922 bis 1945 lebte und unterrichtete er in Prag. 1945 wurde er verhaftet und bis 1954 in einem mordovischen Lager gefangen gehalten.

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europäischen Orientierung des Zaren Peter der Große und meinte, dass Russland-Eurasien dadurch keinerlei Vorteile gewonnen, sondern eher seine Orientierung verloren hätte. So sei es unsinnig für Russland, die Herrschaft über strategisch günstige Hauptwasserwege anzustreben. Jedoch unterstützte Savizkij die Idee einer mächtigen russischen Verteidigungsflotte. Dem Eurasier war es ein elementares Anliegen, den die Weltozeane kontrollierenden europäischen Mächten alle Möglichkeiten zu nehmen, den »Steppenozean« Russland-Eurasien zu unterwerfen. Wenn Russland sich nicht zum Rohstofflieferanten und zum Anbieter billiger Arbeitskräfte für die Westmächte degradieren lassen wolle, solle es seinen geopolitischen Interessen treu bleiben und seine Verbündeten mit Vorsicht wählen. Als eines der Hauptargumente für die Existenz eines kulturell und national eigenständigen Sozialzusammenhangs »Russland-Eurasien« wird oft das von Savizkij entwickelte Konzept der »Raumentwicklung« (mestorasvitije) angeführt. Er definierte diese als eine unauflösliche Verwobenheit von Landschaft, Kultur und Volk. Die sozial-historische Umwelt und ihr Territorium würden zu einem einheitlichen Ganzen, zu einem »geographischen Individuum« verschmelzen. Kennzeichnend für Russland-Eurasien sei, dass sich seine unterschiedlichen Volksgruppen durch die Fähigkeit »zum Erreichen eines solchen Grades der gegenseitigen Verständigung und solcher Formen des brüderlichen Zusammenlebens, die von den Völkern Europas und Asiens nur schwer erzielbar sind«, auszeichnen (Savizkij 1921: 124). Die Ausprägungen des Raumes werden bei Savizkij (1921) nicht nur durch die Auswirkungen der geographischen Umwelt auf die jeweiligen in ihr lebenden Volksgruppen, auf ihre sozial-historische Umwelt bestimmt, sondern auch durch die wechselseitige Beeinflussung der benachbarten geographischen und sozial-historischen Räume. Darauf basiere das Wesen und die Einzigartigkeit der Geschichte eines jeden Volkes, die sich als eine »symphonische« Persönlichkeit in jedem menschlichen Individuum wiederfinde. Für Savizkij (1927) deckten sich die Grenzen der räumlichen Ausdehnung von Russland-Eurasien ungefähr mit denen der Sowjetunion zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er teilte diesen geographischen Raum ein in ineinander übergehende Klima- und Bodenzonen (Tundra, Wald, Steppe, Wüste), die durch ein weit verzweigtes Flussnetz verbunden sind. Aufgrund eines Straßen- und Schienennetzes konnten 148

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Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung

sich, seiner Meinung nach, einzelne Regionen in Russland-Eurasien zu Handelszentren entwickeln. Savizkij bezeichnete das Gebiet als »Kontinent-Ozean«, ein Begriff, der verdeutlichen sollte, dass es sich um eine riesige Landmasse ohne direkten Zugang zum Meer handelt. Er entwickelte ein geopolitisches, geopsychologisches und geohistorisches Konzept, welches die Eigenart und die Besonderheiten, aber auch die Einheit und Zusammengehörigkeit von Russland-Eurasien hervorhob. In ihrem Manifest von 1929 stellten die Eurasier fest: »Wir ersehen die Form des symphonisch-persönlichen Daseins eurasischrussischer Welt in ihrem Staatswesen. […] Aus unserer Sicht führte die Revolution zur Entstehung der Form, die die eurasische Idee am besten ausdrückt – zur Form der Föderation. Denn die föderative Ordnung spiegelt nicht nur äußerlich die Vielfalt eurasischer Kultur unter Beibehaltung ihrer Einheit wider. Sie fördert auch die Entwicklung und den Aufschwung einzelner national-kultureller Gebiete, indem sie endgültig mit Tendenzen einer unbedachten ›Verrussung‹ bricht. Dies ist der Wandel des kulturellen Selbstbewusstseins, seine unbestrittene und wichtige Erweiterung und Bereicherung« (Evrasijstvo [Eurasismus] 1926: 45, 53).

Die Eurasier glaubten, dass die Völker Russland-Eurasiens eine nationale Einheit bilden, die nicht auf dem Prinzip genetischer Abstammung beruhe, sondern auf Ähnlichkeiten und Konvergenzen, die durch jahrhundertelangen Kontakt und Austausch entstehen. Eine Absonderung von dieser eurasischen Einheit müsse hingegen zwangsläufig zum Untergang des entsprechenden Volkes führen. Für die Eurasier garantiert diese Zusammengehörigkeit – ganz im Gegensatz zur sozialistischen Einheit – »[…] die Möglichkeit einer wirklich freien kulturellen Entwicklung, einer wahren Selbstverwaltung und Zusammenarbeit aller eurasischen Nationalitäten. […] Dies alles fehlt unter dem kommunistischen Regime« (Deklarazija Pervogo sjesda evrasijskoj organisazii [Deklaration des ersten Kongresses der eurasischen Organisation] 1990: 152). Als vordringliche Aufgabe betrachteten die Eurasier die Umwandlung des vom Internationalismus und Kommunismus geprägten Staates in 149

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eine »übernationale« Ordnung auf »nationaler Basis«. Die russische Kultur sollte dabei die Basis dieser übernationalen (eurasischen) Einheit bilden. Ihrer Meinung nach würde diese den Bedürfnissen aller Völker Russland-Eurasiens gerecht werden, ohne jedoch deren nationale Eigenarten zu beschränken. In wirtschaftlicher Hinsicht lehnten die Eurasier sowohl das kapitalistische als auch das sozialistische System ab, da beide mit ihren Wertvorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und menschlicher Würde unvereinbar waren. Sie sprachen sich vielmehr für einen »Mittelweg« aus, ohne diesen jedoch näher zu beschreiben. Ihre Absicht war, mithilfe der Ideen des Eurasismus die politisch divergierenden Kräfte innerhalb der russischen Emigranten zu vereinen und unter ihnen ein nationales »eurasisches« Bewusstsein zu schaffen.

Anerkennung und Kritik der eurasischen Ideen Das Konzept des Eurasismus rief verschiedenste Reaktionen hervor. So gab und gibt es neben Befürwortern und Kritikern auch viele, die ihm eher gleichgültig gegenüberstanden. Eine einheitliche, geschlossene »Eurasische Bewegung« konnte sich nicht herausbilden, weshalb die Ideologie bereits gegen Ende der 1920er Jahre an Bedeutung verlieren sollte. Zu den Kritikern des Ideenguts gehören u.a. Iljin und Stepun. So meint Stepun (1962), dass der Eurasismus in Stil und Form starke Ähnlichkeiten mit der faschistischen Ideologie habe: Wie der Faschismus sei er nationalistisch und erhebe Anspruch auf Universalität. Allerdings fehle der eurasischen Ideologie jegliches Machtstreben. Darüber hinaus enthalte sie keine Aussagen zum Aufbau und zum Handlungsspielraum des Staates, weshalb sie eine einflusslose Bewegung der Intellektuellen bleiben werde. Für Aufruhr unter den Befürwortern der Ideenbewegung sorgte eine Rede des ehemaligen Eurasisten Florovskij (1928). Er sprach von der eingangs erwähnten »eurasischen Versuchung«, die in eine Sackgasse führe. Der Eurasismus sei eine Selbsttäuschung, die kleinere Wahrheiten mit großen Träumen verbinde. Für ihn stellte sich die Bewegung der Eurasier zuletzt als ein geistiger Misserfolg dar. Je mehr sich die 150

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Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung

Eurasier konkreten Fragen der gesellschaftlichen und politischen Zukunft Russlands widmeten, um so weiter distanzierte sich Florovskij von ihnen. Berdjaev14 (1926) konstatierte, dass der Eurasismus die Freiheit des menschlichen Geistes nicht schütze, sondern die Individuen zum einheitlichen Denken und Handeln zwinge. Obwohl er die Eurasier als Kollektivisten und Kommunisten betrachtete, fand er »zahlreiche treffende Überlegungen, die [seine] volle Unterstützung verdienen« (1926: 128-133). Seiner Meinung nach habe »die Bewegung der Eurasier […] ein reales Russland im Blick, die realen Lebensprozesse. Sie erkennt die Tatsache der vollendeten Revolution mit ihrer Umverteilung sozialer Gruppen als unwiderruflich an, sie will arbeiten und lebt deswegen nicht von Emigrantenphantasien und -halluzinationen, sondern von einer realen Wirklichkeit. Im politischen Programm von Eurasiern ist ohne Zweifel das Erraten dessen enthalten, wozu jetzt die innerhalb Russlands ablaufenden Prozesse führen« (Berdjaev 1928). Berdjaev behauptete dies zu einem Zeitpunkt, als sich nach der skandalösen Enthüllung von »Trest« viele der ehemaligen Befürworter mit Verachtung vom eurasischen Ideengebäude abwandten. Weiterhin bemerkte er, die »moralischen Vorwürfe gegen Eurasier, sie seien Anhänger des ›Smena Vech‹ (Wechsel der Wegzeichen), sie passten sich der bolschewistischen Macht an und seien sogar Agenten der Bolschewiken, scheinen mir nicht nur unrichtig, sondern auch empörend. Sie zeugen davon, wie unangenehm für unterschiedliche Alt14 Nikolaj Alexandrovitsch Berdjaev (1874-1948) war ein bekannter religiöser russischer Philosoph und Mitbegründer des russischen Existenzialismus. 1922 wurde er aus Sowjetrussland verbannt und verbrachte zunächst zwei Jahre in Deutschland, bevor er bis zu seinem Tod in Frankreich lebte. Er war Herausgeber der religiös-philosophischen Zeitschrift Put (Der Weg) (Paris, 1925-1940) und hinterließ ein umfangreiches geistiges Erbe. Zu seinen bekanntesten Werken zählen »Subjektivism i individualism v obschestvennoj filosofii« (Subjektivismus und Individualismus in der Sozialphilosophie, 1901), »Duchovnyj krisis intelligenzii« (Geistige Krise der Intelligenzija, 1910), »Sudba Rossii« (Das Schicksal Russlands, 1918), »Smysl istorii« (Der Sinn der Geschichte, 1923), »O nasnatschenii tscheloveka« (Über die Bestimmung des Menschen, 1931) und »Russkaja ideja« (Die russische Idee, 1946).

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Immigranten-Richtungen der Hinweis auf ihre Pleite ist« (Berdjaev 1928: 143). Darüber hinaus wies er auf die Ähnlichkeit der eurasischen Gedanken mit seinen Überlegungen hin, die er in »Novoje Srednevekovje« (Das neue Mittelalter) veröffentlicht hatte. Berdjaev gehörte zu den wenigen prominenten russischen Intellektuellen, die die »Eurasische Bewegung« unterstützten, ohne ihr anzugehören. Pjotr Struve (1922)15, einer der ideologischen Anführer der konterrevolutionären »Weißen Bewegung«16, sympathisierte zunächst mit den Eurasiern, warf ihnen aber Russophobie vor. Er meinte, dass die eurasische Ideologie auf eine merkwürdige Art und Weise die Lehre des Russland ablehnenden, nach Paris emigrierten Polen Franciszek Duchinski (1817-1893)17 reproduzieren würde, da sie die Gemeinsamkeiten und engen Verbindungen zwischen der russischen und asiatischen Kultur besonders hervorhebe und diese als das zentrale Element der russischen Eigenart darstellen würde. Duchinski (1864) hatte mehr als 50 Jahre zuvor angenommen, die »Moskoviten« wären eine östliche, turanische Rasse, die nur eine oberflächliche Verbindung mit westlicher, slawischer Kultur habe und sich die skandinavischen Bezeichnungen »Russen« und »slawische Sprache« zu Eigen gemacht hätte. 15

Pjotr Berngardovitsch Struve (1870-1944) war russischer Politiker, Publizist, Wirtschaftswissenschaftler, Philosoph und Soziologe. In den 1890er Jahren war er Herausgeber der Zeitschriften Novoje slovo (Das neue Wort) und Natschalo (Der Beginn). Anfang der 1900er gab er »Osvoboschdenije« (Die Befreiung) heraus, einige Jahre später »Russkaja Mysl« (Der russische Gedanke). Während der Oktoberrevolution war er in der »Weißen Bewegung« aktiv. In der Emigration veröffentlichte er die Zeitschrift Vosroschdenije (Die Wiedergeburt). 16 Die Weiße Armee wird auch als Zaristische Armee bezeichnet, deren Freiwillige dem mystifizierten »Heiligen Russland« gegen die Bolschewiken dienen wollten. 17 In seinem geschichtsphilosophischen Werk mit dem Titel »Peuples aryâs et tourans« ordnete er die Polen (einschließlich der ruthenischen und litauischen Bevölkerung in den ehemaligen östlichen Grenzgebieten) den »Ariern« (»Iranern«) zu, während er die »Moskoviten« (Großrussen) zu den kulturlosen »Turanern« zählte. Heute würden wir von einer Hybridisierung von westlicher und östlicher Kultur sprechen.

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Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung

Das Volk der Polen ordnete Duchinski der »arischen« bzw. »iranischen Rasse« zu, die sich von der »turanischen Gefahr«, verkörpert durch die Russen, bedroht fühlte. »Die Moskoviter sind weder Slawen noch Christen im Sinne [wahrer] Slawen oder anderer indoeuropäischer Christen. Bis zum heutigen Tage sind sie Nomaden, und sie werden ewig Nomaden bleiben« (Duchinski 1864: 22).

Struve (1922) war einer der ersten Kritiker, die den Eurasiern vorwarfen, sie würden den Smena Vech (Wechsel der Wegzeichen) nachahmen und zum »National-Bolschewismus« neigen. Diesem Argument hält jedoch Agurskij (1980) entgegen, dass sich die Eurasier ganz im Gegenteil von Smena Vech abgrenzen wollten. »Sie tadeln jede Art von Nationalismus, die sich nicht auf nationale Kultur stützt. Da sowohl ›Smena Vech‹ als auch das Skythentum die orthodoxe Religion als Grundstein russischer Kultur verwarfen, sind sie einem heftigen Tadel ausgesetzt. Die Angriffe auf den National-Bolschewismus nehmen einen bedeutenden Rang in den Veröffentlichungen der Eurasier ein« (Agurskij 1980: 100-101).

Smena Vech und der Eurasismus stimmten nach Agurskij lediglich in zwei Punkten überein. Beide nahmen eine passive Haltung gegenüber der Revolution ein und sahen die geschichtliche Entwicklung als einen unumkehrbaren Vorgang an. Weitere Gemeinsamkeiten konnte Agurskij jedoch nicht feststellen. Für Struve (1922) war die bolschewistische Revolution »eine soziale und politische Reaktion egalitärer niedriger Schichten auf die jahrhundertelange soziale und wirtschaftliche Europäisierung Russlands«. Bereits nach der ersten russischen Revolution kam Struve zu dem Schluss, dass »das Vorbild staatlicher Mächtigkeit und die Idee der Arbeitsdisziplin des Volkes zusammen mit der Idee des Rechts und der Rechte« zum Vorbild des politischen Denkens und des kulturellen Selbstbewusstseins in Russland werden müsse (Struve 1922 zit. nach Poltorazkij 1978: 17). Jedoch sei die Bildung eines Staates ohne eine nationale Idee und ohne Einheit zwischen den Regierenden und dem Volk unmöglich. Staat und Nation müssen, nach Struve, zu einem 153

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unteilbaren Ganzen zusammenwachsen. Der Nationalstaat sei ein »Organismus, der im Namen der Kultur das Leben des Volkes der Disziplin, einer der grundlegenden Voraussetzungen staatlicher Mächtigkeit, unterwirft« (ebd.). Struves Ideen wiesen in Ansätzen Gemeinsamkeiten mit den programmatischen Forderungen der Eurasier auf – jedoch plädierte er für einen starken Staat und sprach sich gegen die freie Entfaltung und Selbstbestimmung der dem russischen Imperium angehörenden Völker aus. Er wünschte sich einen »gesunden, politisch wie wirtschaftlich starken und mächtigen Staat« (Struve 1911: 74), dessen Interessensbereich nicht nur den Nahen Osten, sondern auch Europa umfassen sollte. So meinte er in Bezug auf den Verbleib des polnischen Königreichs: 18 »Jeder Staat ist darum bestrebt, seine ›Bestandteile‹ bis zur letzten Kraft festzuhalten, obwohl es auch keine zwingenden wirtschaftlichen Gründe dafür geben kann. Von diesem Gesichtspunkt aus ist es für Russland notwendig, in seinem ›Imperiumsgebilde‹ das polnische Königtum zu behalten« (ebd.: 85).

Struve selbst war wie die Eurasier auf der Suche nach einem »dritten Weg«, der sowohl die traditionellen Werte russischer Staatlichkeit als auch die neue historische Wirklichkeit berücksichtigen sollte. So schrieb er in seinem programmatischen Aufsatz »Naschi Idei« (Unsere Ideen), der 1924 in der von ihm editierten Pariser Zeitung Vosroschdenije (Die Wiedergeburt) erschien: »[W]enn wir die falschen Ideen und den bösen Geist der Revolution, die sich selbst in ihren Zerstörungen beseitigte und überlebte, ablehnen, nehmen wir Rücksicht auf den großen Wandel, der sich im Leben des Volkes vollzogen hat.« Er warnte vor der Fiktion, die alte Ordnung wiederherstellen zu können. Mitte der 1920er Jahre entwickelte Struve ein Konzept des liberalen Konservatismus, das auch konservativer Liberalismus genannt wurde und die Grundlage seiner späteren philosophisch-wissenschaftlichen Arbeiten bildete. Poltorazkij wertet dieses Konzept als einen Versuch, neben der Frage der Freiheit auch die Frage der Macht positiv zu lösen. Der Begriff »Freiheit« implizierte für Struve sowohl die Befreiung der Person als auch das Problem des »Ordnens staatlicher 18 Das polnische Königreich gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zum russischen Zarenreich.

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Macht, ihrer Verrechtlichung und des In-Einklang-Bringens mit Bedürfnissen und Wünschen der Bevölkerung« (Poltorazkij 1978: 17). Dies bedeutete die Suche nach einem ausgewogenen Verhältnis von Ordnung und Freiheit »in Bezug auf die historische Entwicklung und die gegenwärtigen Bedürfnisse« (ebd.). In Bezug auf künftige Staats- und Machtausübungsformen sind zwischen dem Ideengebäude des Eurasismus und dem des konservativen Liberalismus Ähnlichkeiten festzustellen. So kann postuliert werden, dass der Eurasismus eine Variante des konservativen Liberalismus darstellte, welche Struve und Iljin als verzerrt und deshalb besonders gefährlich einschätzten. Die Eurasier beschäftigten sich intensiv mit der regierenden Elite (pravjaschij otbor) (Isajev 1989: 215ff.), die sich aus jenen zusammensetzen sollte, die sich bereitwillig den Leitideen des Eurasismus unterwerfen. »Die Ergebenheit gegenüber der eurasischen Idee vereinigt die Gleichgesinnten und stellt eines der wesentlichen Kriterien für die führende Auswahl dar. Die Rechte der führenden Auswahl werden im Grundgesetz des Rechts fixiert und sichern das Prinzip der Kontinuität und Beständigkeit staatlicher Ordnung ab. Auf der Grundlage der Ideokratie und der führenden Auswahl wird die eurasische Partei gebildet, die die Ziele des Programms von Eurasiern durchsetzt. Es ist eine Partei der besonderen Art: eine regierende Partei, eine autokratische Partei, die sogar die Existenz anderer solcher Parteien ausschließt. Es ist eine staatlich-ideologische Union« (Evrasijstvo 1928: 52).19

Auch Iljin (vgl. Poltorazkij 1989) hatte Ideen zur Auswahl der Regierenden20 entwickelt, die trotz seiner Kritik an den eurasischen Konzepten mit diesen im Großen und Ganzen korrespondieren. 19 Nach Meinung der Eurasier zeichnet sich im Gegensatz zur repräsentativen Macht des Volkes (Demokratie) eine ideokratische Ordnung, die auf der eurasischen Lehre basiert, durch eine direkte Machtausübung des Volkes (Demotie) aus (Alexejev 1927). Die Eurasier hielten die »Sowjeträte« am angemessensten für die russischen Verhältnisse, da ihrer Meinung nach politische Parteien keine Volksorgane darstellen (Trubezkoj 1927). 20 Nach Iljin sollte sich die führende Schicht wie folgt zusammensetzen und folgende Aufgaben haben:

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Der 1923 erschienene eurasische Sammelband »Rossija i latinstvo« (Russland und der Latinismus) wurde von Iljin (1923) zunächst als ein Akt der nationalen und religiösen Selbstverteidigung begrüßt. Er hob die Bestimmtheit, Kampflust und Schärfe der einzelnen Beiträge hervor, vermisste aber philosophische Tiefe sowie nationale und konfessionell-apologetische Scharfsichtigkeit. Auch bemängelte er, dass histo-

1. »Die führende Schicht ist weder eine geschlossene Kaste noch ein Stand, dessen Kontinuität durch die Vererbung gesichert werden kann. […]« 2. »Die Zugehörigkeit zur führenden Schicht, von einem Minister bis zum gewöhnlichen Richter, von einem Bischof bis zu einem Offizier, von einem Professor bis zum Lehrer an einer Volksschule, ist kein Privileg, sondern die Erfüllung einer schwierigen und verantwortungsvollen Pflicht. […]« 3. »Die öffentlichen Ämter, vom kleinsten bis zum bedeutendsten, müssen dem Einzelnen eine befriedigende Belohnung einbringen und von ihm nicht als Ernährung, sondern als Dienst wahrgenommen werden.« 4. Die neue führende Schicht »ist dazu berufen, die Menschen zu führen und nicht zu jagen, nicht einzuschüchtern, nicht zu unterjochen. Sie ist dazu berufen, das freie Schaffen des geführten Volkes zu achten und zu fördern. […]« 5. Die neue führende Schicht muss »Russland nicht durch Willkür, sondern durch Recht aufbauen. […] Das Gesetz bindet alle: sowohl das Staatsoberhaupt als auch einen Minister, einen Richter, einen Polizisten und einen gewöhnlichen Bürger. […]« 6. Die neue russische Elite muss »die Autorität staatlicher Macht aufrechterhalten und stärken. […]« 7. »Die neue russische Auswahl muss von einer schöpferischen nationalen Idee begeistert sein. Das Volk und der Staat brauchen keine ideenlosen Intellektuellen. Diese können das Volk nicht führen. […]« Für Iljin bestand die Hauptaufgabe in der »nationalen Rettung« und im Wiederaufbau Russlands durch die »Besetzung führender Positionen durch die besten Leute, welche Russland treu sind, nationale Gefühle und staatliche Denkmuster aufweisen, welche tatkräftig und schöpferisch sind, welche dem Volke nicht Rache oder Zerfall, sondern den Geist der Befreiung, der Gerechtigkeit und der klassenübergreifenden Einheit bringen« (ebd.: 221).

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rische, religiöse und staatliche Weisheiten des russisch-orthodoxen Christentums nicht dargestellt wurden. Iljins Verhältnis zum Eurasismus ähnelte dem von Struve. Diese Übereinstimmung bestand in den zunächst positiven Reaktionen auf die ersten Veröffentlichungen der Eurasier. Später wandelte sich die Sympathie jedoch in scharfe Kritik, die sich vor allen Dingen auf persönliche Motive sowie die Enttäuschung über die Misserfolge der Bewegung zurückführen lässt. Der Eurasismus wurde von vielen Anhängern des liberalen Konservatismus als ein Zeichen der Spaltung des eigenen Lagers, als Verrat an den eigenen Ideen betrachtet.

Der Niedergang des Eurasismus Nach Averintzev (1988) ist der Eurasismus als eine Ideenbewegung an der gefährlichen Schnittstelle zwischen Philosophie und Politik entstanden. Seine Begründer kamen 1921 in Sofia zusammen und veröffentlichten ihr erstes kollektives Manifest »Ischod k Vostoku« (Der Exodus nach Osten). Bald gingen sie wieder auseinander,21 blieben aber in intensivem Briefkontakt. Die Stadt Prag sollte sich im Laufe der Zeit zum wichtigsten Zentrum der Eurasier entwickeln. Nach der Besetzung der Stadt durch die Rote Armee wurden die Archive der Eurasier nach Moskau verlegt. Erst seit kurzem sind sie für die Wissenschaft zugänglich. Laut Sobolev (1991) waren die ersten öffentlichen Auftritte der Eurasier in hohem Maße erfolgreich, sodass eine Gruppe von jungen Offizieren für die Finanzierung des zweiten Sammelbands »Na Putjach« (Auf den Wegen) gewonnen werden konnte. Das Buch wurde 1922 in einem von Eurasiern gegründeten Verlag in Berlin veröffentlicht und hatte – ebenso wie das erste – großen Erfolg. Insbesondere unter den russischen Intellektuellen führte die Publikation zu einem intensiven Austausch. 21

Suvtschinskij ging zunächst nach Berlin, Trubezkoj nach Wien, Savizkij und Florovskij gingen nach Prag. Florovskij nahm eine Einladung des orthodoxen Philosophen Sergej Bulgakov an und ging nach Paris, wohin später auch Suvtschinskij übersiedelte.

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Die anti-westliche Ausrichtung der eurasischen Lehre fand ihre Fortsetzung im »Anti-Latinismus«, der sich gegen den zunehmenden ideologischen Einfluss der katholischen Kirche wandte. Der Sammelband »Rossija i latinstvo« (Russland und der Latinismus) verdeutlichte diese Haltung. Die Herausgabe des Buches kann als ein politischer Akt gewertet werden, denn den über ganz Europa verstreuten russischen Emigranten drohte die Gefahr, sich einander zu entfremden. Die Bezugnahme auf die orthodoxe Religion sollte dazu dienen, sie durch die Abgrenzung zum Katholizismus zu einer einheitlichen Diaspora zu integrieren. Dieser Versuch war jedoch nur zum Teil erfolgreich. Der nächste Sammelband »Evrasijskij Vremennik« (Eurasische Zeitschrift) erschien 1924 und bekam den Untertitel »Kniga tretja« (Das dritte Buch); zwei weitere folgten im Abstand von jeweils einem Jahr. In den ersten Jahren konnte die Eurasische Bewegung beträchtliche Erfolge verzeichnen. Doch bereits ab 1924 lassen sich erste Anzeichen einer inneren Krise erkennen. Aus der Autorenliste der Sammelbände verschwand zunächst der Name von Florovskij.22 Er wurde durch Lev Platonovitsch Karsavin, einem ehemaligen Professor für Mittelalterkunde und Rektor der Petrograder Universität, ersetzt.23 22 Der Rückzug von Florovskij verlief über einen Zeitraum von einigen Jahren. Schon nach der Übersiedlung nach Paris veröffentlichte er einen polemischen Aufsatz »Okameneloje bestschuvstvije« (Die versteinerte Gefühllosigkeit) in Berdjaevs Zeitschrift Put (Der Weg) (1926: 128-133). Allerdings unterzeichnete er noch im selben Jahr eine kollektive Antwort von Eurasiern auf die Kritik des Fürsten Trubezkoj an dem Sammelband »Rossija i latinstvo« (Russland und der Latinismus). »Dieser Brief ist wahrscheinlich das einzige Dokument, in welchem die Unterschriften von Florovskij und L.P. Karsavin, des führenden Theoretikers des Eurasismus auf seiner nächsten Pariser Lebensstufe, nebeneinander stehen« (Horuschij 1991: 24). Der endgültige Bruch mit den Eurasiern erfolgte mit der Veröffentlichung seines Aufsatzes »Evrasijskij soblasn« (Die eurasische Versuchung) (Florovskij 1928), der nach der Aufdeckung der »Trest«-Affäre erschien. 23 Mehlich schreibt dazu, dass »Karsavins Bewerbung um den Lehrstuhl für Patrologie des neu eröffneten Orthodoxen Theologischen Institutes in Paris […] abgelehnt [wird]. Den Lehrstuhl übernimmt G. Florovskij, der daraufhin die Eurasische Bewegung verlässt und später zu einem ihrer schärfsten Kritiker wird. ›Eine Überschneidung der Schicksale‹ bemerkt

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Karsavin erhielt 1923 von Suvtschinskij den Auftrag, alle bisherigen eurasischen Veröffentlichungen zu rezensieren – ein Unterfangen, das in der Emigrantenpresse Spott und schonungslose Kritik hervorrief.24 Karsavins Rezension der ersten beiden eurasischen Sammelbände erschien 1923 in der auflagenstärksten Zeitschrift der russischen Emigrantengemeinde »Sovremennyje sapiski« (Aufzeichnungen der Gegenwart). Neben der Würdigung der Verdienste einiger Autoren verwies Karsavin auf die Inkonsistenz und den Eklektizismus der eurasischen Doktrin. Ihre theoretischen Bestandteile seien nicht nur unvereinbar, sondern wiesen auch keinen Zusammenhang auf. Des Weiteren würden eurasische Theoretiker in Fragen, die über ihren Fachbereich hinausgehen, nicht bewandert sein. »Die eurasischen Themen können ihrem Wesen nach nur auf philosophischmetaphysischem Wege begründet werden. Um so trauriger ist es, dass wir bei den Eurasiern bislang keine philosophische Begründung sehen. […] Es gibt keine philosophische Analyse, keine philosophische Argumentation« (Karsavin 1923: 307).

Er hielt die Wortschöpfung »Eurasismus« und deren Derivate für artifiziell sowie misslungen und protestierte gegen das übermäßige »Antiwestlertum« der Eurasier.25 Diese hingegen würdigten Karsavin

dazu S. Horuschij, ›der abgelehnte Bewerber Karsavin wird zum Eurasier‹« (2000: 74). 24 Suvtschinskij hätte sich auch an Iljin wenden können, der zu der Zeit ebenfalls in Berlin lebte. Allerdings schätzte er diesen als zu herrisch ein, um Kritik zu dulden, und für zu orthodox, um Nachsicht mit der »Suche« der Eurasier und ihrer unklaren Haltung zur Revolution üben zu können. 25 »Wir warten auf die russische Kultur, glauben an sie und erfassen die Zeichen ihres Wachstums und ihrer Blüte. Wir wollen, dass sie das unvollendete durch ihr besonderes Dasein ergänzt. Wir sind aber nicht nur Russen, sondern auch Europäer. Das Europäische in uns zu vernichten, indem man Kannibalismus predigt, heißt, sich selbst zu vernichten. […] Es wird zu einem großen Unglück für uns, wenn Europa als eine selbständige Persönlichkeit stirbt und lediglich schöne Gräber hinterlässt. Dann werden wir eine doppelte Bürde tragen müssen« (Karsavin 1923: 314).

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für seine objektive Rezension und boten ihm ein Stipendium26 an. Später sollte ihm auch eine führende Rolle in der Eurasischen Bewegung zukommen. Die Eurasier kritisierten vor allen Dingen den westlichen Individualismus, der sich ihnen als ein Gegenpol zur eurasischen Idee darstellte. Den Marxismus bzw. Kommunismus hingegen behandelten sie in der Regel als parallel zur eurasischen Idee, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede illustrieren zu können. Dabei skizzierten sie den Marxismus als zu materialistisch – der Eurasismus dagegen »vereinige das Körperliche und Geistige als Einheit der Vielfalt (mnoschestva)« (Mehlich 2000: 76). Ihrer Meinung nach sollte Russland weder den Weg, den Europa eingeschlagen hat, noch den Weg, den die Marxisten anstrebten, gehen. »Die Revolution offenbare einen dritten Weg, den der eurasischen Idee – Eurasien« (Mehlich 2000: 97). Politische und geheimdienstliche Verwicklungen sollten schließlich zum Untergang der Eurasischen Bewegung führen. Zu Beginn des Jahres 1924 begann die Geheimpolizei GPU27 mit der Unterwanderung der Eurasischen Bewegung durch Anhänger der von Tschekisten28 kontrollierten monarchischen Organisation »Trest«. Im Juli 1923 reiste Alexander (Fjodorov) Jakuschev, ein Mitglied von »Trest«, nach Berlin, 26 Karsavin teilte im inflationsgeschüttelten Berlin das Schicksal vieler russischer Emigranten: Er lebte mit seiner Frau und seinen drei minderjährigen Töchtern am Rande des Existenzminimums. Deshalb nahm er das achtmonatige Stipendium sehr gerne an, welches mit insgesamt 60 Pfund dotiert war (zum Vergleich: Savizkij erhielt in Prag 80 Pfund, Arapov in Berlin und Suvtschinskij in Paris erhielten für den Zeitraum von 12 Monaten eine Summe von 260 Pfund; vgl. »Bjudschet za 1926 god« [Haushalt für das Jahr 1926]). 27 Abkürzung für Gosudarstvennoje Polititscheskoje Upravlenije (Staatliche Politische Verwaltung). Aus der 1917 gegründeten Tscheka und der 1922 eingerichteten GPU ging der NKVD (Abk. für narodnyj komissariat vnutrennich del, Volkskommissariat des Inneren der UdSSR) als sowjetischer Geheimdienst hervor, der nach Stalins Tod (1953) zum KGB umgewandelt wurde. 28 Ve-Tsche-Ka: Außergerichtliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage, Vorgänger des inländischen Sicherheitsdienstes GPU/NKVD/KGB.

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um dort Kontakt mit einflussreichen monarchischen Kreisen aufzunehmen. In einem Geheimbericht über diese Reise, den er für die Führung der GPU verfasste, notierte Jakuschev: »In Berlin habe ich meine Verhandlungen mit den jungen Leuten – mit Arapov und Artamonov – fortgesetzt. Ihre Stimmung war so, dass der Gedanke von der Bildung einer oppositionellen Jugendpartei innerhalb des Monarchischen Rates auftauchte. Arapov ist natürlich ein überzeugter Monarchist, aber einer der besonderen Art. […] Ich habe ihn davon überzeugt, dass wir den Umsturz nicht dafür vorbereiten, um danach die Macht an die Greisen zu übergeben, die nichts gelernt und nichts vergessen haben. ›Wir müssen das Programm und die Taktik‹, sagte ich, darauf ausrichten, dass ›Russland aufgrund seiner geographischen Lage über Europa und Asien waltet. Und deshalb treffen die Wege von Trest und die der Bewegung der Eurasier zusammen‹. Dies habe ich gesagt, und da wurde mir bange: Werden sie bei so einem Quatsch anbeißen? Und stellen Sie sich vor – sie haben angebissen« (Jakuschev 1923 zit. nach Nikulin 1987: 109).

Die Operation »Trest« war von Dserschinskij, Menschinskij und Artosov geplant worden. Als man in der GPU das unter den Emigranten rasch zunehmende Interesse an den Ideen des Eurasismus und den steigenden Einfluss seiner Vertreter bemerkte, »benötigte Arbusov einen Mann für die Verbindung mit der Emigrantenjugend im Ausland« (Nikulin 1987: 165). Man entschied sich für Alexander Langovoj, einen jungen Kommandeur der Roten Armee.29 Seine erste Aufgabe war es, nach Warschau zu fahren und dort mit Vertretern des polnischen Generalstabs die Organisation einer »Grenzlücke« in der Nähe von Vilno zu vereinbaren. Anschließend überquerte er im Winter 1924 illegal die polnisch-sowjetische Grenze. Er traf sich mit Artamonov, der 29 Im Ermittlungsfall Nr. 16416 – die Anklage gegen Karsavin – gibt es einen Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll von Alexander Alexejevitsch Langovoj vom 9. Juli 1939, in dem einige Informationen über dessen Person zu finden sind: Russe, 1896 geboren, Sohn eines Medizinprofessors, seit 1927 Mitglied der VKP(b), ehem. Mitarbeiter für besonders wichtige Aufträge beim Volkskommissariat für Verteidigung, Teilnehmer am ersten Kongress der Eurasier in Berlin, Teilnehmer an der Konferenz für ideologische Fragen in Prag im Winter 1926-1927, 1964 in Moskau gestorben.

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ihn in die eurasischen Kreise einführte. So konnte Langovoj über Aktivitäten der Eurasier nach Moskau berichten. Nikulin, der Zugang zu Geheimmaterialien über den Fall »Trest« hat, schreibt in einer offiziellen Fassung über die provokativen Operationen der GPU: »Im Frühjahr 1924 kam durch die estländische ›Lücke‹ ein Freund von Arapov, der Eurasier Mukalov. An der Grenze verhielt er sich arrogant, vorlaut, nannte sich Revisor. Später, in Moskau, hat er einen Schreck bekommen, und man musste sich mit ihm lange beschäftigen. […] Man hat Mukalov in eine Kirche geführt, man organisierte die konspirativen Treffen mit den Scheinkommandeuren der Militärabteilungen« (Nikulin 1987: 169).

Im Sommer 1924 inszenierte die GPU eine Konferenz der eurasischen Fraktion von »Trest«. Die Rollen waren schon im Voraus verteilt, Reden und Repliken vorbereitet worden. Jakuschev brachte für die Teilnahme an der Konferenz den Eurasier Arapov aus Revel (Tallinn) mit. Er wurde der höchsten Führung von »Trest«, den ehemaligen Generälen der zaristischen Armee Sajontschkovskij und Potapov, vorgestellt, die zu der Zeit im Generalstab der Roten Armee (RKKA30) tätig waren. Bei diesem Treffen erklärte Potapov, dass der Eurasismus auf englischem Boden gewachsen sei und deswegen von den Engländern zum Schaden der patriotischen russischen Organisation »Trest« eingesetzt werden würde (Nikulin 1987). Mit dieser Äußerung spielte er darauf an, dass einige einflussreiche Personen in der Eurasischen Bewegung, darunter auch Arapov, längere Zeit in Großbritannien gelebt hatten. Außerdem speiste sich ein Teil der Finanzierung aus unbekannten englischen Quellen. Der erste Eurasische Kongress wurde im Dezember 1925 in Berlin einberufen, in der Wohnung des ehemaligen Verteidigungsministers der Provisorischen Regierung Gutschkov. Der Vortrag von Langovoj, der als Vertreter der eurasischen Fraktion von »Trest« zum Kongress eingeladen worden war, dauerte neun Stunden. Seine Ausführungen 30 RKKA stand für Rabotsche-Krestjanskaja Krasnaja Armija (Rote Arbeiterund Bauernarmee).

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bewertet Nikulin unter Bezugnahme auf Langovoj, der ihm 1963 seine Eindrücke vom Kongress schilderte sowie eine Zusammenfassung des Vortrags gab, wie folgt: »Er hat fürchterlich gelogen. Blühender Blödsinn galt hier für die höchste Weisheit« (ZGAOR, delo [Akte] 477).

Auf der Rückreise vom Kongress schrieb Langovoj nach Warschau folgende Zeilen: »[…] Ich kann völlig zurecht behaupten, dass […] vielleicht noch früher die eurasischen Ideen bei uns entstanden sind und ihre Keime getrieben haben; sie wurden lange Zeit vernachlässigt, nicht gestaltet und nicht in ein klares einheitliches Weltbild umgewandelt. Diese Bewegung ist aber gerade dadurch stark, dass sie spontan entsteht und immer mehr Bevölkerungsschichten umfasst. […] Man kann ruhig sagen, dass alles, was in der russischen Intelligenzija lebendig ist, alles, was die moralische Kraft besaß, den schwierigen Verhältnissen der letzten Jahren zu widerstehen […], wer, nachdem er von den Kommunisten ein Stück Brot bekommen hatte, nicht ›Gott sei Dank, mehr brauche ich nicht‹ gesagt hat, wer nicht, unerwartet für sich selbst und die anderen, an einem schönen Morgen zum Materialisten-Marxisten wurde, kurz gesagt, alle diejenigen, die Russen im guten Sinne des Wortes geblieben sind und die ihre Heimat nicht verflucht haben, sondern an ihre zukünftige Größe glauben, ein großes Mitleid mit ihr haben – alle diese Leute kommen sowieso zu den Ideen der Eurasier. Gibt es viele solche Leute? Ich glaube, ja« (ZGAOR, delo 477).

1927 schrieb Langovoj einen »Beichtbrief«, in dem er gesteht, dass er den Eurasiern nachspioniert habe und sie deshalb um Verzeihung bitte. Für seine persönliche Sicherheit war dieser Schritt gefährlich, denn er musste damit rechnen, dass der Brief von der GPU-NKVD abgefangen werden würde.31 31

Auf der ersten Seite dieses Briefes steht ein Kommentar von P.N. Savizkij: »Das soll ein Brief an P.S. Arapov von A.A. Langovoj (z.Z. Oberst Langovoj) sein. Geschrieben wurde er in Warschau. Langovoj stammt aus einer sehr berühmten Moskauer Familie. Sein Vater ist Arzt, Besitzer einer wertvollen Bildersammlung russischer Maler, die er Mitte der 1930er der Tretjakow-Galerie übergab. In einem Brief vom 2. Oktober 1922 gesteht

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Die ideengeschichtlichen Grundlagen und die machtpolitischen Entwicklungen bewertend, kann mit Bezug auf Florovskij (1928) festgehalten werden, dass die Gründe für das Scheitern des Eurasismus im Ideengebäude selbst liegen. Die Provokation von »Trest« und das Einschleusen von Agenten haben den Prozess des Niedergangs lediglich beschleunigt. Wie den Aufzeichnungen des Fürsten Trubezkoj zu entnehmen ist (ZGAOR, delo 411: 111-115; Urchanova 1991: 134), wurden die Beziehungen zwischen der Eurasischen Bewegung und »Trest« noch im Jahre 1926 abgebrochen – also lange vor der Entlarvung der skandalösen Aktivitäten von »Trest«. Die Beendigung der Beziehungen ist darauf zurückzuführen, dass »Trest« den Eurasismus als ein nützliches Instrument betrachtete, um die Emigranten zu einer »einheitlichen Front« zusammenschließen und dadurch besser kontrollieren zu können. Jakuschevs32 Bemühungen, die handlungsfähigen und damit potenziell gefährlichen Kräfte der Emigranten um den Großfürsten Nikolaj Nikolajevitsch33 zu vereinigen, waren sehr erfolgreich. Zur Zementierung dieses Erfolges wurden die Eurasier aufgefordert, sich ebenfalls dieser Vereinigung anzuschließen. Im Gegenzug wurden ihnen erhebliche Vorteile versprochen. Suvtschinskij und Arapov erlagen dieser Versuchung und bemühten sich, Trubezkoj und Savizkij davon zu überzeugen, die Monarchisten und »Trest« zu unterstützen. Sie stießen bei beiden jedoch auf Widerstand und mussten schließlich zurücktreten, denn sowohl Trubezkoj als auch Savizkij beharrten auf der Unabhängigkeit der Eurasischen Bewegung (Urchanova 1991: 134). Abschließend soll hier kurz die letzte Phase und das Ende der Eurasi-

Langovoj seine Verbindung zur GPU ein. In welcher Reihenfolge er diese ›Aufträge‹ auszuführen beabsichtigte – auf diese Frage kann nur das Archiv der GPU eine Antwort geben« (ZGAOR, delo 477). 32 Alexander (Fedorov) Jakuschev war ein Beamter des Zarenreiches und stieg in den 1920er Jahren, zu Beginn der Sowjetunion, zum Präsidenten der TSCHK-OGPU auf, als deren bevollmächtigter Vertreter er bei »Trest« fungierte. 33 Dieser nahm im russischen Exil eine eher marginale Rolle ein. Seine Person wurde von Anhängern des Monarchismus lediglich zu politischen Zwecken instrumentalisiert.

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Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung

schen Bewegung dargestellt werden.34 Auf einem 1925 in Berlin abgehaltenen Kongress wurde die Zusammensetzung des Rates der Eurasischen Organisation (EO), zu dem ursprünglich auch Langovoj gehörte, bestätigt. Der nach Paris übergesiedelte Karsavin wurde ein Jahr später in den Rat aufgenommen. Ein weiterer Kongress fand 1926 statt, auf dem ein Politbüro gewählt wurde. Dieses, bestehend aus Trubezkoj, Suvtschinskij, Savizkij, Malevskij-Malevitsch, Arapov und Karsavin, sollte als das höchste exekutive Organ fungieren, während der Rat der EO die Legislative bleiben sollte. Darüber hinaus wurden auf diesem Kongress das Programm sowie die Satzung der Organisation, aber auch Fragen bezüglich der Publikation eurasischer Literatur diskutiert. Karsavin (1949) schrieb, dass er mit Savizkij schon während der ersten Sitzung heftige Dispute über die zukünftige Satzung geführt habe. Er war der Meinung, dass der von Savizkij vorgeschlagene Entwurf der Organisationsordnung nicht nur nicht umsetzbar, sondern darüber hinaus auch vom Statut der Kommunistischen Partei abgeschrieben worden wäre. Karsavins Protest richtete sich auch gegen die Pläne der Führung, die Eurasische Bewegung als eine politische Partei zu konstituieren. Mit der Herausbildung weiterer eurasischer Gruppen, deren Netz faktisch schon ganz Europa umspann (die größten Zentren befanden sich in Paris und Prag, darüber hinaus gab es eurasische Gruppen in Berlin, Brüssel, London, New York, Belgrad, Sofia und in den ehemaligen Besitzungen des Russischen Reiches: Polen, Litauen, Lettland und Estland), gewannen die Publikationen an Bedeutung.35 Die Monographien und Beiträge der dem Eurasismus nahe stehenden Autoren wurden in Paris, Prag, Berlin, Brüssel und London veröffentlicht. In regelmäßigen Abständen erschien die Zeitschrift Evrasijskaja chronika (Eurasische Chronik), darüber hinaus wurde die Herausgabe einer wöchentlichen Zeitung Evrasija (Eurasien) geplant. Auf einer der Sitzungen des Politbüros in Paris 1928 wurden Fragen bezüglich der 34 Diese Darstellung beruht auf Informationen, die aus Karsavins Aussagen vor dem Untersuchungsausschuss in Wilna 1949 gewonnen wurden (vgl. Karsavin 1949; Untersuchungsakte Nr. 16416). 35 Der Haushalt der Eurasier sah für das Jahr 1926 800 Pfund für Publikationen vor (Summe des Gesamthaushaltes: 4.500 Pfund).

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Herausgabe von Evrasija sowie das Problem, wie eurasische Literatur am besten in die UdSSR einzuschleusen sei, diskutiert. Die erste Ausgabe von Evrasija36 erschien am 24. November 1928 in Paris. Bis September 1929 wurden insgesamt 35 Ausgaben publiziert. Die Herausgabe einer eigenen, regelmäßig erscheinenden Zeitung weist auf den Erfolg hin, den der Eurasismus bis zum Anfang der 1930er Jahre genoss. Allerdings traten nun auch Diskrepanzen und Meinungsverschiedenheiten zwischen führenden Eurasiern offen zu Tage. Bereits in der siebten Ausgabe (Evrasija vom 5. Januar 1929), in der ein Brief des Fürsten Trubezkoj an die Redaktion veröffentlicht wurde, tauchten die ersten Kontroversen auf. In diesem Brief erklärte Trubezkoj, dass er aus der Redaktion und aus der eurasischen Organisation austreten werde. Anfang 1929 erschien eine Broschüre mit dem Titel: »Die Zeitung ›Eurasien‹ gehört nicht zur eurasischen Presse«, die neben Erklärungen von Savizkij, Alexejev und Iljin auch den genannten Brief von Trubezkoj und eine Stellungnahme der Belgrader Gruppe beinhaltete. Der unversöhnliche Konflikt zwischen den beiden Fronten, der »linken« Pariser und der »rechten« Prager Gruppierung, sollte bald zur Spaltung und zur Auflösung der Eurasischen Bewegung führen. Ein unbeteiligter Beobachter des Untergangs der Bewegung, ein Reporter der Rigaer Zeitung Segodnja (Heute), berichtete aus Paris: »Savizkijs Partei, die mit ›Eurasien‹ gebrochen und gegen die Zeitung eine feindliche Haltung eingenommen hat, steht doch weiter mit der eurasischen Organisation in Verbindung. […] Die Anhänger von Savizkij, die zur Zeit in Paris sind, haben auf der Konferenz am 19. Januar 1929 eine neue ›Prager Gruppe‹ gebildet, die von N.A. Klepinin, N.A. Dunajev und G.N. Elatschitsch geleitet wird. Somit vollzog sich auch die formelle Organisationsspaltung. […] Wahrscheinlich liegen gerade in der Besorgnis, dass der Zerfall der eurasischen Organisation die Schließung der Finanzierungsquelle nach sich ziehen könnte, die Gründe dafür, dass, trotz der stattgefundenen Entzweiung der Pariser Gruppe, Savizkijs Partei eine offene und endgültige Organisationsspaltung noch nicht eingeht. Und die Frage nach der Zusammensetzung der eurasischen Leitung bleibt offen« (Kurganskij 1929). 36 Der vollständige Titel lautete: Evrasija – Eschenedelnik po voprosam kultury i politiki (Eurasien – Wochenschrift für Kultur und Politik).

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Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung

Alle Versuche, die Meinungsverschiedenheiten durch Verhandlungen zu beseitigen, scheiterten, sodass auf dem Kongress der ständigen Vertreter des Rates der EO in Klamar 1930 die Auflösung der Eurasischen Bewegung beschlossen wurde. Die ideologischen und politischen Gräben erwiesen sich als zu tief. Der Eurasismus, der als eine breite Bewegung begann und Personen mit unterschiedlichen Charakteren, Ideen sowie politischen Idealen vereinen konnte – wenn auch nur für kurze Zeit –, löste sich auf. »Gegen Ende der 30er Jahre hat sich die Eurasische Bewegung gespalten: Ein Teil der Mitglieder, die sich am politischen Verhalten der Smenovechovzy (Wechsel der Wegzeichen) und Ustrjalovzy (in Charbin) orientierten, haben alle Reformen, die in der UdSSR Ende der 1920er und 30er Jahre durchgeführt wurden, als Sieg der ›eurasischen Idee‹ betrachtet und sind nach Russland zurückgekehrt. Ein anderer Teil begann, […] sich Gruppen der ›neuen sozialen Bewegung‹ und anderen ultrarechten Bewegungen […] und dem Faschismus immer mehr anzuschließen […]« (Isajev 1991: 205).

Der Vorwurf, dass sich die Eurasier letztendlich dem Faschismus angenähert hätten, ist nicht neu, dennoch konnte er bislang nicht bestätigt werden. Eine ausführliche Untersuchung, die sich mit den späteren »Eurasischen Bewegungen« befasst, steht noch aus. Pavel Fjodorovitsch Belikov schreibt in einem Brief an Linnik: »Die Eurasier haben ohne Zweifel weit in die Zukunft geschaut. Und ihre Idee kann man bis in die weitere Geschichte Russlands verfolgen, sie hat also eine reale Perspektive. Es gab aber verschiedene Menschen unter ihnen, die oft die große Idee in ihre engen Gassen lenkten. Das gilt insbesondere für rein politische Angelegenheiten. Ich glaube, dass der Eurasismus viel mehr ist als nur eine Politik. Das ist eigentlich eine dauerhafte und reale Idee, die mehrere politische Formationen überleben kann.«37

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Brief von P.F. Belikov an J.A. Linnik vom 16. März 1981. An dieser Stelle möchte ich mich bei K.P. Belikov dafür bedanken, dass ich mit dem Familienarchiv arbeiten konnte. Über Belikov siehe auch: Nadtotschij-Sannikova (1984, 1986).

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Schlussbetrachtung Der Eurasismus war nicht nur eine ideologische Antwort auf die Orientierungslosigkeit Russlands, die mit dem Untergang des Zarenreiches und der bolschewistischen Revolution einsetzte, sondern auch ein Versuch, dem sowjetischen Regime und seiner marxistisch-leninistischen Ideologie eine Alternative entgegenzusetzen. Trotz der anfänglichen Begeisterung für dieses neue Ideengebäude wirkte die Eurasische Bewegung nur kurz, denn politische sowie geheimdienstliche Verwicklungen, aber auch die Auseinandersetzungen und Machtkämpfe innerhalb der Bewegung führten zu ihrem Ende. Seit der Perestroika hat die eurasische Ideologie in Russland wieder Konjunktur und es erscheinen eurasisch orientierte Periodika (Geier 1996). Kulturelle wie politische Gruppierungen entwickeln die »Lehre« der Eurasier weiter oder schließen ideologisch »nahtlos« an sie an. Das gegenwärtige Interesse an der eurasischen Lehre erklärt sich gleichermaßen aus ihrer Entstehungsgeschichte wie ihrem Ansatz – nämlich: in einer Zeit tief greifender Transformationsprozesse eine auf Russland orientierte Perspektive zu entwickeln.

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Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung

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Vladimir Kozlovsky

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Der Eurasismus – Ideengeschichte und Entwicklung

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Vladimir Kozlovsky

ZGAOR f. 5783 op. 1 Delo (Akte) 477: Aus: »Pismo k odnomu is evrasijzev nazionalno mysljaschego tscheloveka, prijechavschego is-sa rubescha« (Der Brief an einen Eurasier von einem national denkenden Menschen, der aus dem Ausland angekommen ist).

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»Eurasien« – Phantom oder reales Entwicklungsmodell?

»Eurasien« – Phantom oder reales Entwicklungsmodell für Russland? Michael Kleineberg, Markus Kaiser Eine der beliebtesten Übungen, der sich Intellektuelle und Publizisten im heutigen Russland mit viel Engagement unterziehen, ist die Suche nach geeigneten Selbstbildern für das nach dem Zerfall der Sowjetunion scheinbar orientierungslos dahintreibende ehemalige Riesenreich. Beklagt wird ein allgemeines Vakuum an verbindlichen Ideen, die dem Land nach dem Scheitern des marxistisch-leninistischen Gesellschaftsentwurfs inneren Halt geben könnten. Dabei entsteht der Eindruck, dass der Ruf nach solchen Einheit stiftenden Leit- und Selbstkonzepten umso lauter wird, je mehr die tatsächliche ideologische Fragmentierung der pluralen Gesellschaft Russlands ein solches Unterfangen unmöglich macht. Jedenfalls scheint die bisherige Erfolglosigkeit der Bemühungen zur Stiftung solcher Einheitsbilder die Suche nach nationalen Mythen nicht zum Stoppen gebracht zu haben (vgl. Heinemann-Grüder 2001). Auffallend an diesen Debatten ist die Beteiligung der Sozial- und Politikwissenschaften.1 Gesellschaftswissenschaftler haben mit dem Thema der Zukunft und Identität Russlands offenbar ein Betätigungsfeld gefunden, das den mit dem Verfall der wissenschaftlichen Infrastruktur erlittenen Statusverlust zu kompensieren verspricht. Deutlich wird dies etwa im Falle der so genannten »Kulturologija«, einer eklektizistischen Pseudowissenschaft, deren Siegeszug in den russischen Universitäten und Buchläden nicht wenigen der früheren Dozenten für Marxismus-Leninismus das wissenschaftliche Überleben sichert (vgl. hierzu Scherrer 2001). Aber noch etwas anderes zeigt sich hier: Offensichtlich ist die Institutionalisierung der Sozialwissenschaften noch nicht so weit vorangeschritten, dass sich die Profilierung und Reputation von Forschern nach den internen Regeln der scientific community richten würden. Wie Stykow und Wielgohs am Beispiel der Politikwissenschaft aufgezeigt haben, wird in Russland »die Entwicklung der ›akademischen Kultur‹ […] vornehmlich durch externe Referenzsysteme gesteuert«, zu denen insbesondere parteipoli-

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Die sich etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, mit der Zeitschrift Acta Eurasica ein entsprechendes Publikationsorgan geschaffen haben.

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Michael Kleineberg, Markus Kaiser

tische und staatliche Auftraggeber sowie die Aufmerksamkeitsregeln der populären (und nicht der Fach-)Medien gehören (Stykow/Wielgohs 1996: 53f.). Mit der Nähe zu den kommerziellen und parteinahen Einrichtungen der Politikberatung verbindet sich ein primär normatives Verständnis von Wissenschaft, weshalb Kontroversen häufig nicht auf der Grundlage unterschiedlicher wissenschaftlicher Ansätze, sondern entlang politisch-ideologischer Strömungen ausgetragen werden. Damit geht einher, dass Begriffe und Konzepte selten auf der Basis empirischer Befunde entwickelt werden. Politische Debatten (gerade auch solche zu Großthemen wie Staat, Nation, Gesellschaft) kommen daher zumeist ohne empirische Belege aus und weisen folglich einen deutlichen Hang zum Spekulativen auf (ebd.: 52). All dies zeigt sich auch an der politischen Debatte, die nun schon seit längerem unter den Stichworten »Eurasien« und »Eurasismus« geführt wird. Seit Mitte der 1990er Jahre ist der Begriff Eurasien fester Bestandteil des politischen Diskurses in Russland. Als eine scheinbar selbstverständliche Größe taucht er in Stellungnahmen und Analysen von Publizisten, Intellektuellen und Politikern auf, die damit Russlands gegenwärtige und zukünftige Rolle in der Weltpolitik, seine außenpolitische Mission und nicht zuletzt seine besondere »Identität« zu beschreiben versuchen. Unter eher lockerer Anknüpfung an die historischen Wurzeln dieses Begriffskonzepts, die bis in die Emigration der 1920er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückreichen, steht der heutige Eurasismus für eine generelle Hinwendung zu geopolitischen und geostrategischen Betrachtungsweisen, die Aufschluss geben sollen über Russlands Stellung in der nachkommunistischen Staatenordnung. In diesem Sinne bezeichnet Eurasien eine vorwiegend normative Kategorie, die – mit durchaus unterschiedlichen und z.T. kontrovers diskutierten Inhalten – in den Beiträgen einer politisch-ideologischen Selbstverständigungsdebatte zur Anwendung kommt (Smith 1999: 50ff.; Ignatow 1998; Ionin 1996). Daneben setzte sich gleichfalls in den 1990er Jahren noch eine andere Verwendungsweise des Begriffs Eurasien durch. Eine ganze Reihe von Umbenennungen bzw. Neugründungen auf dem internationalen Markt sozialwissenschaftlicher Zeitschriften und Periodika macht deutlich, dass dem Begriff vonseiten der Sozialwissenschaften in zunehmendem Maße auch analytisch-beschreibende Funktionen

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»Eurasien« – Phantom oder reales Entwicklungsmodell?

zugetraut werden.2 Ganz offensichtlich findet mehr und mehr die Annahme Verbreitung, dass Eurasien nicht nur eine geographische Größe darstellt, sondern darüber hinaus auch einen spezifischen geokulturellen und soziokulturellen Raum bezeichnet, der sich als gemeinsamer Bezugspunkt ganz unterschiedlicher Forschungsanstrengungen eignet. Doch trotz der unverkennbaren Popularität des Begriffs fehlt es an Kriterien, die Auskunft darüber geben, was genau es rechtfertigen soll, einen geographischen Raum, der wahlweise Russland und die Länder Zentralasiens, teilweise aber auch angrenzende Regionen Westeuropas und des pazifisch-asiatischen Raums umfasst, als Eurasien zu bezeichnen (vgl. Evers/Kaiser i.d.B.). Im Folgenden werden beide Perspektiven auf den heutigen Eurasismus, die empirische und die politisch-ideologische, miteinander in Beziehung gesetzt. Zunächst wird ein Blick auf die postsowjetischen Kontroversen um die Eurasier und den Eurasismus in Russland geworfen. Stärker als dies andernorts zumeist geschieht, wird dabei auf die interne Heterogenität des Eurasismus-Konzepts abgestellt, das nicht von vornherein auf rückwärts gewandte, nationalistische Politikmuster festgelegt ist, sondern im Prinzip auch pragmatischeren Lesarten offensteht – die sich aber ganz offensichtlich in den jüngsten Debatten nicht haben durchsetzen können. Sodann wird danach gefragt, ob Russland im Laufe seiner jüngsten Entwicklung tatsächlich »asiatischer« geworden sei. Auch wenn sich gegenwärtig noch kein eindeutiges Bild ergibt, so zeigen sich doch gewisse Tendenzen, die für eine solche »Osterweiterung« Russlands sprechen. Dabei ist aber entscheidend, dass diese nicht mehr ausschließlich in den traditionellen Bahnen einer machtstaatlichen Sicherung von Räumen und Ressourcen 2 Als Beispiele lassen sich nennen: Europe-Asia Studies (früher Soviet Studies); Eurasian Studies Yearbook; Acta Eurasica; Eurasian Studies; Slavic Review (Untertitel jetzt: American Quarterly of Russian, Eurasian and East European Studies); Bibliographic Guide to Slavic, Baltic and Eurasian Studies; The Modern Encyclopedia of Russian, Soviet and Eurasian History (früher: The Modern Encyclopedia of Russian and Soviet History); The Modern Encyclopedia of East Slavic, Baltic and Eurasian Literatures (früher: The Modern Encyclopedia of Russian and Soviet Literatures). Auch über das Internet findet der Begriff zunehmend Verbreitung, wie beispielsweise am Informationsdienst http://www.eurasianet.org deutlich wird.

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Michael Kleineberg, Markus Kaiser

verläuft, sondern als ein komplexes Zusammenspiel vielfältiger gesellschaftlicher, ökonomischer, politischer und kultureller Entwicklungen zu verstehen ist. Es erscheint fraglich – so die These, die es im Weiteren zu begründen gilt –, dass die derzeitige Eurasiendebatte geeignet ist, die hieraus erwachsenen Herausforderungen für die politische Kultur des Landes zu reflektieren und in realitätstaugliche Deutungsmuster umzusetzen.

Die Stellung Asiens in den geschichtlichen Deutungen Russlands Russland hatte immer eine ambivalente Beziehung zu Asien. Im Laufe der im 16. Jahrhundert einsetzenden ostwärts gerichteten Expansion des russischen Reiches gelangte ein Drittel der asiatischen Landmasse in den Herrschaftsbereich eines Landes, das durch seine Geschichte und seinem Selbstverständnis nach europäisch geprägt war.3 Sei es in der Ära des Zarismus oder in der des Kommunismus – in beiden Fällen speiste sich die Wahrnehmung Asiens aus Programmatiken und Ideologien (Imperialismus im 19. Jahrhundert, Marxismus-Leninismus im 20.), die fester Bestandteil der europäischen Kultur jener Zeit waren (Kerr 1995: 978). Zwar entwickelte die slawophile Bewegung des 19. Jahrhunderts ein ausgeprägtes Bewusstsein von der geographischen und kulturellen Besonderheit Russlands als einem Land zwischen Europa und Asien, keineswegs aber war damit eine Aufwertung der asiatischen Kultur oder gar ihre Bevorzugung gegenüber der europäischen Kultur verbunden. Auch der in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts aufkommende Eurasismus nahm eine ambivalente Haltung gegenüber Asien ein. Zu Recht wird diese von Vertretern der russischen intellektuellen Exilelite ins Leben gerufene Denkströmung in eine Kontinuitätslinie mit slawophilen Theoretikern gerückt (Ignatow 1992; Smith 1999: 52). Wie diese gründeten die frühen Eurasier ihre Überlegungen auf eine Kritik des 3

Damit ist auch ein Hinweis darauf gegeben, warum in der Eurasiendiskussion zumeist allein auf die asiatischen Elemente Russlands abgestellt wird, die offenbar sehr viel stärker erklärungs- und legitimationsbedürftig sind, als dies für die europäischen Aspekte der Fall ist.

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»Eurasien« – Phantom oder reales Entwicklungsmodell?

westlichen Fortschrittsmodells und seiner Idee des Individualismus, dem sie stark romantisierende Vorstellungen von einem überindividuellen Organismus aus Volk und Staat entgegensetzten. Die Verneinung universalistischer Auffassungen, die als Kennzeichen der europäischen Kultur galten, verband sich mit einem relativistischen Kultur- und Geschichtsbild, das mit der Vorstellung von einer »Kultureinheit Eurasiens« (Böss 1961: 58) einherging. Kernland dieser euro-asiatischen Kultur sollte Russland sein, das dieser Idee nach ein besonderes Drittes darstellt, das weder zu Europa noch zu Asien gehört. In diesem Punkt aber, in der Behauptung einer Sonderstellung Russlands zwischen den Kontinenten, waren die Eurasier jener Zeit sehr viel radikaler als ihre slawophilen Vorläufer (hierzu Bassin 1991: 13ff.). Während diesen als Grundelement der russischen Kultur die Einheit aller Slaven vorschwebte, basierte der Eurasismus auf einem sehr viel breiter gefassten nationalen Ethos. Das Russland der Eurasier war ein separater historisch-kultureller Komplex, der nicht einfach mit den slawischen Siedlungsgebieten zusammenfiel, sondern einen Raum mit ganz eigenen geographischen, ethnischen, historischen und sozioökonomischen Merkmalen bezeichnete. Zum festen Bestandteil dieser Vorstellungswelt gehörte die Idee eines jahrhundertelangen Homogenisierungsprozesses, an dessen Ende so etwas wie ein eurasischer »Schmelztiegel« entstanden sei.4 Die russische Gesellschaft galt den Eurasiern als ein multiethnisches Gebilde, das auf einzigartige Weise russisch-slawische, finnisch-ugrische, tatarisch-turkstämmige sowie mongolische Elemente zu einer neuen anthropologischen Größe vereinte (ebd.: 15). Wenngleich der Eurasismus im Vergleich mit seinen national-konservativen Vorläufern somit sehr viel »asiatischer« war (allein die Einbeziehung Zenralasiens in eine Vision Russlands war für die Slawophilen des 19. Jahrhunderts noch undenkbar), wäre es verfehlt, hieraus auf eine positive Neubewertung der asiatischen Kultur zu schließen. Ganz im Gegenteil: Kennzeichnendes Merkmal der Eurasischen Bewegung blieb die Idee einer Sonderstellung Russlands, für die die Äquidistanz gegenüber Europa und Asien identitätsstiftende Bedeutung hatte.5 4 Der Begriff des »assimiljazionnyj kotjol« stammt aus einer 1931 in Paris erschienenen Schrift von K.A. Tschcheidse (hier zit. nach Bassin 1991: 15) – und ähnelt sehr dem »sovetskij narod« der offiziellen Sowjetideologie. 5 In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, dass ein Theoretiker wie

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Der Neo-Eurasismus der 1990er Jahre Diese Idee eines besonderen »Dritten« als Kern der Identität Russlands ist es folglich auch, die dem Neo-Eurasismus der 1990er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu seiner Popularität verholfen hat. Die Wiederbelebung eurasischer Ideen fand vor dem Hintergrund eines politischen Richtungswechsels statt, den die Außenpolitik Russlands Anfang der 1990er Jahre vollzog. War die frühe Jelzin-Administration noch von liberalen Kräften bestimmt, die an einer engen Kooperation mit der Atlantischen Allianz interessiert waren, gewannen bald diejenigen Positionen das Übergewicht, die eine kritische Haltung gegenüber dem Westen und eine deutliche Abkehr vom Atlantizismus einforderten (Smith 1999: 68ff.). In der Bündnispolitik wurde dieser Politikwechsel von einer Aufwertung der Partnerschaften in Asien (China, Indien, z.T. auch Japan) und dem Nahen Osten (vor allem Iran) begleitet, während in der politischen Rhetorik eine verstärkte Rückbesinnung auf Russlands eigene Größe und Stärke angemahnt wurde. Der Eurasismus der 1990er Jahre lieferte in vielerlei Hinsicht das ideologische Begleitprogramm zu dieser Neujustierung der russischen Außenpolitik. Sein Kerngedanke einer politisch-kulturellen Sonderstellung Russlands, die weder an westlich-europäischen noch an asiatischen Maßstäben gemessen werden dürfe, legitimierte die Abkehr von atlantischen Experimenten und ließ zugleich ein selbstbewussteres Auftreten gegenüber dem asiatischen Osten plausibel erscheinen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass um diesen Kerngedanken herum offenbar verschiedene Lesarten des Eurasismus existieren (bzw. existierten), weshalb es verfehlt wäre, hier von einem geschlossenen politischen Programm zu sprechen. Für das Verständnis der politischen Kultur Russlands ist es wichtig, die internen Fraktionierungen zu beachten, die das Lager der dem Westen gegenüber kritisch eingestellten Deutungsproduzenten durchziehen. Im Folgenden soll dies am Beispiel des Eurasismus eingehender betrachtet werden. Anhand dreier Varianten des Konzepts wird gezeigt, dass anfängVsevolod N. Ivanov, der in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre seine Idee eines von spiritueller Staatsverherrlichung getragenen Asiatismus entwickelte, von den Eurasiern zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht wirklich der eigenen Bewegung hinzugerechnet wurde (Shlapentokh 1997: 134).

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lich noch eher moderate und weltoffene Interpretationen in den vergangenen Jahren an Terrain verloren haben und durch zunehmend enger werdende, auf Nationalismus und Hegemoniestreben setzende Ausdeutungen abgelöst wurden.6 Der moderne Eurasismus Ein Kennzeichen des neuen Eurasismus der frühen 1990er Jahre war seine Hinwendung zu ökonomischen Problemstellungen. Die Forderung nach einem Politikwechsel von westlichen zu östlichen Allianzen hatte ein starkes Motiv im wirtschaftlichen Aufschwung Asiens, an dem Russland partizipieren müsse, wolle es nicht den Anschluss an die Weltökonomie verlieren. Entscheidend ist hierbei, dass mit dieser Argumentation in das eurasische Denken erstmals ein pragmatischer Zug Eingang fand, wie er dem frühen Eurasismus noch völlig fremd gewesen war. Zwar wurde durchaus der Anspruch formuliert, Russland als ernst zu nehmenden Akteur auf der weltpolitischen Bühne zu installieren, die hierfür adäquaten Mittel sah man aber weniger in klassischer Militärpolitik und der Kontrolle über Ressourcen als vielmehr in der erfolgreichen Teilnahme am Wettbewerb um Märkte und Produkte (vgl. Kerr 1995). Seinen konkreten Ausdruck fand diese Haltung in dem Bemühen, neue ökonomische Koalitionen mit den prosperierenden Nachbarn im Osten, namentlich China und Japan, aufzubauen, wovon insbesondere die zwar rohstoffreichen, aber lange Zeit vernachlässigten Landesteile Sibiriens profitieren würden. Unter Verzicht auf nationalistische und isolationistische Töne meldete sich hier

6 Es gehört zu den Eigenarten der Eurasismusdebatte, dass unter ihrem Dach heterogene Deutungsmuster oft unverbunden nebeneinander stehen. Auch lässt sich der Kreis der an ihr beteiligten Deutungsproduzenten nur ungenau auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen eingrenzen: Journalisten und Publizisten gehören ebenso zu den Protagonisten wie Politiker und Wissenschaftler – und dies in z.T. wechselnden Rollen. In der Literatur zum Thema finden sich kaum Ansätze, Ordnung in die leicht unübersichtliche Diskurslandschaft zu bringen (eine gewisse Ausnahme bildet Ionin 1996). Die hier unterschiedenen Begriffsvarianten stellen einen solchen Ordnungsversuch dar, indem sie einzelne, wiederholt auftretende Positionen zu typischen Deutungsmustern zusammenfügen.

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ein moderater Eurasismus zu Wort, der Russland eine zwischen Asien und Europa vermittelnde Brückenfunktion zudachte. Ein weiteres Merkmal dieser Variante des Eurasismus ist sein Bekenntnis zu einer multiethnischen Gesellschaft. In der besonderen geographischen Lage an der Schnittstelle zweier Kontinente wird eine Bereicherung für die Kultur des Landes gesehen, die auf einzigartige Weise die Traditionen und Lebensweisen unterschiedlicher Völker in sich vereine. Man mag hierin einen Widerhall von Ideen der klassischen Eurasier sehen, die gerade in der Verbindung slawischer und turanischer Elemente die kulturelle Besonderheit Russlands glaubten ausmachen zu können. Indem der moderate Eurasismus aber allen Tendenzen eines national-kulturellen Protektionismus eine klare Absage erteilt, betont er noch stärker als seine frühen Vorläufer den pluralen Charakter des eurasischen Gesellschaftsmodells. Nicht die Abschottung gegenüber der kulturellen Vielfalt, die die Welt zu bieten habe, sondern die schöpferische Aneignung fremder Erfahrungen und Traditionsbestände sei die richtige Antwort auf die Herausforderungen und Verlockungen, denen sich Russland gegenübersähe (Ionin 1996: 215f.). In diesem Zusammenhang sind die Überlegungen Alexander Panarins von Bedeutung, der die Frage nach den Integrationsmöglichkeiten einer multiethnischen Gesellschaft aufwirft. Neben der Forderung nach einer konsequenten Anwendung des Prinzips der Gewaltfreiheit findet sich bei ihm die Idee einer »rationalen Askese« als probates Mittel zur Konfliktregulierung im Vielvölkerstaat Russland: »Die Wiederbelebung des großen multinationalen Staates in Eurasien ist ohne heroische Opferbereitschaft unmöglich. Ein großer Staat setzt in erster Linie den Verzicht auf Ethnozentrismus und Xenophobie seitens des russischen Volkes und auf Separatismus seitens der anderen Völker voraus« (Panarain 1993, zit. nach Ionin 1996: 216). Dieses Plädoyer für eine reflexive Selbstbeschränkung und Zurückhaltung im Umgang ethnischer Gemeinschaften untereinander bildet gleichsam das innenpolitische Pendant zum ökonomischen Pragmatismus, der in der Frage von Russlands Stellung in der internationalen Staatengemeinschaft die Stellungnahmen der moderaten Eurasier durchzieht. In beiden Fällen geht es um eine Zurückweisung der in der russischen Geschichte angelegten Elemente eines östlichen Autoritarismus und Despotismus, »mit der für sie charakteristischen totalen staatlichen Reglementierung des gesellschaftlichen Lebens und dem Bestreben zum Uniformismus« 180

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(ebd.: 215f.). Nicht die Selbstisolation einer uniformierten eurasischen Gemeinschaft, sondern die Vermittlung asiatischer und europäischer Elemente in einer prinzipiell als offen und plural gedachten russischen Gesellschaft – so lässt sich das Leitbild der moderaten und pragmatischen Eurasier zusammenfassen. Gleichwohl kann nicht übersehen werden, dass diese Variante des Eurasismus allenfalls bruchstückhaft entwickelt ist. Es fehlt an detaillierten Ausformulierungen und einer plausiblen Gesamtkonzeption. Zudem ist diese Position mit einem gravierenden Problem behaftet, auf das Ionin (1996) aufmerksam macht: Indem die Vertreter eines moderaten Eurasismus erkennbar darum bemüht sind, sich von nationalistischen und autoritären eurasischen Ideen abzugrenzen und ihren Vorstellungen einen rationalen demokratischen Unterbau zu geben, wird nach und nach unklar, wodurch sie sich eigentlich von den liberalen Positionen der so genannten »Westler« und ihren Modernisierungskonzepten für Russland unterscheiden (Ionin 1996: 217). Welche Aussicht auf Erfolg, so ließe sich weiter fragen, genießt überhaupt der Versuch zur Liberalisierung einer Denkströmung, die ihre Wurzeln in der anti-liberalen und anti-rationalistischen Zivilisationskritik der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts hat? Auch den moderaten Eurasiern geht es letztlich »um die Bildung einer spezifischen Zivilisation, mit eigenem Kodex, eigenem kulturellen Stil, eigenem ›Zeitgeist‹« (ebd.: 216) – worin eine solche behauptete Besonderheit der russischen Zivilisation genau besteht und wie sie sich mit der gleichfalls postulierten Offenheit gegenüber kulturellen Einflüssen von außen verträgt, bleibt aber ungeklärt. Es mag mit solchen offenen Fragen und Aporien zusammenhängen, dass die Positionen der moderaten Eurasier mittlerweile ganz offensichtlich an Bedeutung verloren haben. Im heutigen Diskurs über Russlands eurasische Zukunft sind deutlich erkennbar die »härteren«, sehr viel stärker machtpolitisch argumentierenden Spielarten des Konzepts in den Vordergrund gerückt (zur Bezeichnung »harter Eurasismus« vgl. Timmermann 1993). Der etatistische geopolitische Eurasismus Wesentliche Aspekte des moderaten Eurasismus sind heute, so lässt sich mit Blick auf neuere Beiträge zu dieser Debatte feststellen, von einer Position aufgesogen worden, die man als etatistischen Eurasismus 181

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bezeichnen kann (Alexandrova 1996: 10ff.; Smith 1999: 63f.). Wie bei den Moderaten, so findet sich auch hier zunächst ein ausgeprägter ökonomischer Pragmatismus, der in den asiatischen Wachstumsmärkten eine Chance für die russische Wirtschaft erblickt. Die Haltung gegenüber dem westlichen Wertesystem ist zwar kritisch, was aber ein klares Bekenntnis zu kapitalistischen Wirtschaftsformen und einer raschen Modernisierung des Landes nicht ausschließt. Auch wird auf die Artikulierung kultureller Überlegenheitsgefühle gegenüber dem Westen weitgehend verzichtet. Entscheidend an der etatistischen Variante des Eurasismus ist aber, dass sie geopolitische Überlegungen in den Mittelpunkt rückt, die Russland als eine eurasische Großmacht konzipieren. Nach der Distanzierung vom Atlantizismus früherer Jahre wird die Zukunft Russlands nicht mehr im gesamteuropäischen Kontext verortet, wo es zwangsläufig eine untergeordnete Rolle spielen müsste, sondern im asiatischen Osten, der für Russland viel eher die Möglichkeit eröffne, den Status eines weltpolitischen Akteurs zurückzugewinnen. Eine Sonderrolle im Verhältnis zu den asiatischen Nachbarn wird als Mittel zur Erlangung einer erneuten Großmachtstellung gesehen. Die frühere Metapher einer Brücke zwischen den Kontinenten ist hier weitgehend aufgegeben; an ihre Stelle tritt der Anspruch auf die Rolle des Hegemons im eurasischen Raum. Ein Geflecht eurasischer internationaler Beziehungen soll dazu dienen, ein Gegengewicht gegenüber dem euro-atlantischen System aufzubauen und zugleich verhindern, dass Russland zwischen diesem und dem Asia-Pacific Rim in eine isolationistische Lage gerät. Auch hier gilt aber, dass nicht die klassischen Instrumentarien der Außen- und Militärpolitik, sondern die ökonomische Erschließung von Ressourcen und Märkten Basis der angestrebten Vormachtstellung sein soll. Darin zeigt sich ebenfalls der pragmatische Grundzug des etatistischen Eurasismus, der flexibel genug ist anzuerkennen, dass auch eine eurasische Großmacht Russland auf die Eingebundenheit in globale Kommunikationsund Handelsbeziehungen angewiesen ist.7

7 Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist etwa die Rede, die Russlands Präsident Putin im vergangenen Herbst vor dem Forum der APEC gehalten hat. Der Anspruch einer eurasischen Führungsmacht wird hier geschickt mit einer Reihe langfristiger ökonomischer Projekte in Zusammen-

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In ihrem Verhältnis zur Demokratie betont die etatistische Variante im Vergleich mit den moderaten Protagonisten des Eurasismus sehr viel stärker einen Sonderweg Russlands, der sich von westlich-europäischen Demokratiekonzepten deutlich abgrenzt (Heinemann-Grüder 2001: 331f.). Ausgangspunkt ist hier die Überzeugung, dass Russland im Unterschied etwa zu den USA oder Großbritannien kaum über liberale Traditionen verfügt, weshalb ein staatszentristisches politisches System nichts sei, was es zu überwinden gelte. Vielmehr wird ein starker Staat als Garant von Sicherheit und Stabilität gesehen, der allein den tief greifenden gesellschaftlichen Wandel beherrschbar mache. Spätestens seit der Übernahme des Präsidentenamtes durch Wladimir Putin ist dies gleichsam die regierungsoffizielle Haltung zu Fragen der inneren Staatsführung, die beispielsweise auf der Internetseite der Moskauer Regierung bereitwillig offengelegt wird (http://www.pravitels tvo.gov.ru). Mit der Absage an die liberale Demokratie und der damit einhergehenden Glorifizierung der Autorität des Präsidenten soll offensichtlich eine deutliche Abkehr von früheren politischen Reformversuchen vollzogen werden, die als für die Bedürfnisse der russischen Gesellschaft wesensfremd zurückgewiesen werden.8 Noch ist es zu früh, um absehen zu können, in welche Richtung sich diese bisher weitgehend im Deklamatorischen verbleibenden Vorstellungen konkretisieren werden. Radikalere, offen despotische Positionen, die ebenfalls im Rahmen der Eurasismus-Diskussion artikuliert werden, haben bisher jedenfalls in die regierungsoffizielle Rhetorik keinen Eingang gefunden. Der national-konservative Eurasismus Einige der Bestandteile der etatistischen Spielart des Eurasismus tauchen heute in gesteigerter und radikalisierter Form am rechten Rand des politischen Spektrums Russlands auf. Hier verschafft sich seit arbeit mit den Ländern der asiatisch-pazifischen Region in Verbindung gebracht (http://www.strana.ru, Stand: 13.11.2000). 8 Heinemann-Grüder (2001: 332) urteilt demnach auch: »Mit Putin kommt die antisowjetische und antistaatliche Phase der Transformation offensichtlich zum Abschluss.« In der vor nicht allzu langer Zeit beschlossenen Wiedereinführung früherer sowjetischer Staatssymbole kommt diese Entwicklung beispielhaft zum Ausdruck.

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einigen Jahren ein loses Bündnis aus Intellektuellen, Publizisten und Politikern zunehmend Gehör, das sich die Verbreitung eines nationalkonservativen Eurasismus auf seine Fahnen geschrieben hat. Wortführer dieser sich selbst als »Eurasische Bewegung« apostrophierenden Gruppierung ist Alexander Dugin (siehe Wiederkehr i.d.B.), ein ebenso umtriebiger wie schillernder Exponent geopolitischer Denkströmungen im heutigen Russland. Nachdem er zu Beginn der 1990er Jahre seine Überlegungen zunächst in der extremistischen Zeitung Den (der späteren Savtra) veröffentlicht hatte, gründete er nach dem gescheiterten Putschversuch von 1991 unter der Überschrift Elementy ein eigenes Publikationsorgan, das insbesondere den Ideen der europäischen Neuen Rechten breiten Raum bot (zu Dugin siehe Financial Times v. 2.12. 2000). Mittlerweile hat Dugin eine Vielzahl an Schriften zum Thema »Eurasien« veröffentlicht, die u.a. über das Internet verbreitet werden (http://www.arctogaia.com). Hier findet sich, neben bibliographischen Hinweisen und diversen Links, auch das so genannte »Manifest der Eurasischen Bewegung«, das unter dem aufschlussreichen Titel »Eurasien über alles« neben dem russischen Original in englischer, italienischer und deutscher Sprache angeboten wird. Ausgangspunkt der hier zum Vorschein kommenden Variante des Eurasismus ist die explizite Anknüpfung an die eurasischen Ideen der russischen Exilintellektuellen der 1920er Jahre. Als Kern dieser Denkströmung wird ein antiwestliches Modernisierungsprojekt identifiziert, an das das heutige Russland anknüpfen müsse, wolle es seine einstige Größe und Weltgeltung wiedererlangen. Das Verdienst der frühen Eurasier sei es gewesen, ihre radikale Zurückweisung des säkularen Rationalismus westlicher Provenienz mit der Einsicht in die Notwendigkeit eines eigenen russischen Entwicklungsweges zu verknüpfen – eine Haltung, die mit dem Schlagwort von der »Modernisierung ohne Westernisierung«9 zusammengefasst wird. Der Neo-Eurasismus, wie er von Dugin und seinen Mitstreitern vertreten wird, nimmt gegenüber seinen Vorläufern insofern eine Konkretisierung vor, als der diffuse antiwestliche Impetus zu einem konsequenten Anti-Amerikanismus zugespitzt wird. Die USA werden als »Weltmonstrum« gesehen, das mittels westlicher Zivilisation und Liberalismus die »Amerikanisierung Russlands und 9 Dieses und alle folgenden Zitate sind dem genannten »Manifest« entnommen.

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der ganzen Welt« anstrebt. Dementsprechend erscheint das westliche Europa nicht mehr per se als »die Quelle des Weltbösen« (eine Rolle, die nunmehr allein den USA zufällt), sondern eher als ein verirrtes politisches Gebilde, das von Russland aus seiner atlantischen Umklammerung befreit werden müsse: »Das eurasische Russland muss in der Rolle des Befreiers Europas auftreten, diesmal von der amerikanischen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Okkupation.« Damit das heutige Russland diese Funktion des Befreiers von amerikanischer Vorherrschaft erfüllen könne, müsse es konsequenterweise erneut Großmachtstatus erlangen. Unverkennbar wird darunter das Wiederaufleben der früheren Sowjetunion verstanden: Ein neu zu gründender »Eurasischer Bund« soll als »Analogon zur UdSSR auf neuer Ideengrundlage sowie neuer wirtschaftlicher und administrativer Basis« Russland seine Weltmachtstellung sichern, die es zugleich durch strategische Allianzen auf der »Achse Moskau-Teheran-DelhiPeking« zu stabilisieren gelte. Bezüglich der Integration im Inneren setzt die »Eurasische Bewegung« vordergründig auf eine multiethnische Gemeinschaft, in der sich eine »blühende Kompliziertheit der Völker, der Religionen und der Nationen« findet. Zugleich wird aber kein Zweifel daran gelassen, dass innerhalb dieser vermeintlich auf Vielfalt und wechselseitigem Interessenausgleich setzenden Gemeinschaft der russischen Nation eine herausragende Stellung zukommt: »Ohne Wiedergeburt der russischen Nation hat das eurasische Projekt keine Chance, Wirklichkeit zu werden.« Diese russisch-zentrierte Sichtweise wird mit einer dezidiert anti-individualistischen und anti-liberalen Integrationskonzeption verbunden, die ganz auf die ungebrochene Vorherrschaft eines traditionellen kollektiven Wertehorizonts setzt. »Das kollektive Gemeindeprinzip der Wirtschaft«, wie es für die russische Geschichte kennzeichnend sei, wird den »liberal-kapitalistischen«, auf »persönlicher Bereicherung« beruhenden Wirtschaftsmodellen des Westens entgegengestellt – freilich ohne, dass die Frage erörtert würde, wie ohne Anleihen an diese perhorreszierten Modelle das erklärte Ziel einer technisch-materiellen Modernisierung Russlands zu erreichen sei. Es ist genau hier, in der Betonung der Gemeinschaft vor den Schutz- und Repräsentationsansprüchen der Individuen, wo die Parallelen zu den etatistischen Eurasiern am deutlichsten zutage treten. In beiden Fällen findet sich eine Vorstellung von Demokratie, die primär vom Staat her denkt und – ohne bürgerrechtliche Rückversicherungen 185

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– ein mögliches Abgleiten in autoritäres Regimehandeln billigend in Kauf nimmt. Die Bedeutung dieser in mancher Hinsicht sicherlich exaltierten Version des Eurasismus innerhalb des gesamten Spektrums der EurasienDiskussion ist schwer abzuschätzen. Dugin selber nimmt für sich in Anspruch, einen wesentlichen Einfluss auf die eurasischen Positionsbestimmungen der gegenwärtigen russischen Regierung auszuüben. Hierfür spricht zumindest, dass seine Ansichten beispielsweise regelmäßig auf den Seiten des regierungsnahen Internetdienstes strana.ru veröffentlicht werden. Auch der Umstand, dass er als offizieller Berater des Vorsitzenden der Staatsduma, Gennadij Selesnjov, geführt wird, deutet auf gute Kontakte zur Seite der »Macht«. Eine wachsende Popularität von Dugins Thesen in den Kreisen politischer Entscheidungsträger dürfte daher in nächster Zeit zu erwarten sein. Der Ende April 2001 in Moskau abgehaltene Gründungskongress der »Eurasischen Bewegung« hat jedenfalls schon breite Aufmerksamkeit auf sich gezogen (siehe Moskovskije Novosti v. 1.-14.5.2001).

Russland – eine eurasische Zivilisation? Eurasien ist nicht einfach eine Erfindung russischer Intellektuellenzirkel und ihnen nahe stehender politischer Akteure. Die geopolitischen und geokulturellen Veränderungen, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion im Raum zwischen Asien und Europa zugetragen haben, sind in den letzten Jahren verstärkt in das Blickfeld der internationalen sozialwissenschaftlichen Forschung gerückt. Dabei mehren sich Beiträge, die eine zunehmende ökonomische, soziale und kulturelle Verflechtung dieses Raumes ausmachen und hierfür – wenngleich in rein deskriptiver Absicht und unter Ausblendung aller normativ-ideellen Konnotationen – den Begriff »Eurasien« verwenden. In der Tat weist eine Reihe empirischer Faktoren auf eine eurasische Entwicklungstendenz hin (vgl. zum Folgenden vor allem Evers/Kaiser i.d.B.). Alte und neue Transportsysteme lassen weiträumige Überlappungszonen zwischen Asien und Europa entstehen, in denen ein kontinuierlicher Strom nicht nur von Geld, Gütern und Personen, sondern auch von Wahrnehmungsmustern und Ideen traditionelle geographisch-politi186

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sche sowie soziolinguistische Grenzziehungen infrage stellt. Diverse soziale Verbindungen fügen sich zu konsistenten Netzwerken mit z.T. beträchtlichen Ausmaßen zusammen. In diesem Prozess kommt es zu einer beständigen Vermischung materieller und sozialer Größen in allen erdenklichen Kontexten, einschließlich der Entwicklung räumlicher Konzeptionen. Das »Materielle« wird dabei mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen, in denen sich die durch die Marktexpansion auf verschiedenen Ebenen verursachten Transformationen widerspiegeln. So transportieren Güter spezifische Konsumenteneinstellungen der globalen Ökonomie, die von den Handelnden vor Ort rekontextualisiert werden müssen. Die Folge ist eine Vorstellung sozialräumlicher Integration, in der globale Prozesse und der Erhalt von Lokalitäten gleichermaßen Platz haben. Konkret lässt sich der Prozess der eurasischen Integration anhand mehrerer Dimensionen beschreiben (ebd.). So zeigt sich beispielsweise im Bereich der Ökonomie und der Verkehrswege eine deutliche Zunahme des Fernhandels, der manche Autoren bereits von einem Wiederaufleben der legendären »Seidenstraße« sprechen lässt, die in früheren Zeiten China mit Europa verband. Dabei sind es gerade die informellen ökonomischen Prozesse, die einer mehr formal-organisatorischen Integration zeitlich vorangehen. In Zentralasien etwa verzeichnete der grenzüberschreitende Kleinhandel nach dem Ende der Sowjetunion einen beträchtlichen Aufschwung. So stammten z.B. in Usbekistan gut 80 % der in jüngster Zeit von Kleinhändlern von außerhalb der GUS in das Land importierten Waren aus Asien (siehe hierzu Evers/Kaiser i.d.B.). Eng verbunden mit der Ausweitung ökonomischer Aktivitäten sind Entwicklungen im Bereich der Kultur bzw. der Religion. Nachdem 1990 zum ersten Mal in der Geschichte sowjetischer und arabischer Beziehungen für Muslime aus Zentralasien eine Pilgerfahrt nach Mekka (hajj) organisiert wurde, hat sich seitdem – parallel zum grenzüberschreitenden Handel – ein grenzüberschreitender transnationaler Islam herausgebildet, der sich von Zentralasien über den Iran und die arabischen Staaten bis nach Malaysia erstreckt. Innerhalb dieses transislamischen Netzwerks fungieren religiöse Führungspersönlichkeiten – zumeist Muslime, die den hajj absolviert haben – oft als Multiplikatoren, deren Wissen die Herausbildung neuer lokaler muslimischer Identitäten prägt. Gerade die Einbindung lokaler religiöser Institutionen in translokale muslimische Verbindungen, wie sie in Zentralasien 187

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besonders zutage tritt, kann als Indiz für eine spezifisch religiöse Form der eurasischen Integration gesehen werden (vgl. Kaiser 2000, 2001). Wie fügt sich nun Russland in dieses Bild eines entstehenden Eurasien ein? Die wirtschaftliche Integration des russischen fernen Ostens in den asiatisch-pazifischen Raum Die wirtschaftliche Entwicklung lässt sich vor allem am Beispiel der russischen Fernostgebiete verfolgen (vgl. Wacker 1999). Die ökonomische Integration des russischen Fernen Ostens in die Wirtschaftsprozesse des asiatisch-pazifischen Raums kann als Indikator für Russlands Anschluss an Eurasien gesehen werden. In dieser Region lagert ein hoher Anteil der russischen Rohstoffvorkommen wie große Mengen an Kohlenvorräten, Erdgas, Eisenerz und Holz. Vonseiten Russlands wird immer wieder auf diesen weitgehend unerschlossenen Ressourcenreichtum verwiesen, um die wirtschaftliche Bedeutung und das Entwicklungspotenzial dieser Gebiete zu betonen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion kam es hier zu einer deutlichen Anspannung der sozialökonomischen Lage. Der Anstieg der Transportkosten führte zu einem Bedeutungsrückgang der Verbindungen im europäischen Teil Russlands – mit dem Ergebnis, dass der herkömmliche Warenaustausch (Lieferung von Rohstoffen gegen Einfuhr von Nahrungsmitteln und Konsumgütern) empfindlich gestört wurde. In der Folge kam es zu einer Aufwertung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit den angrenzenden Ländern, insbesondere China, aber auch Japan und Südkorea. In der Tat führte dies Anfang der 1990er Jahre zunächst zu einer beträchtlichen Ausweitung des russisch-chinesischen Grenzhandels.10 Aber schon kurze Zeit später brach diese Entwicklung ab. Ungeachtet der für einen wechselseitigen Austausch prinzipiell förderlichen komplementären Wirtschaftsstruktur der beiden Regionen (natürliche Ressourcen und Maschinen aus Russlands Fernem Osten gegenüber Konsumgütern und Nahrungsmitteln aus Chinas Nordwestregion) kam es 1994 zu einem Einbruch von 34 % in den russisch-chinesischen Handelsaktivitäten. Zwar hat sich die Situation seither wie10 1993 entfielen auf den grenzüberschreitenden Handel mehr als zwei Drittel des gesamten russisch-chinesischen Handelsvolumens in Höhe von 7,68 Mrd. Dollar (Wishnick 2000: 92).

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»Eurasien« – Phantom oder reales Entwicklungsmodell?

der leicht erholt (mit einem Handelsvolumen von 5,48 Mrd. Dollar in 1998), bleibt aber immer noch weit hinter der von der russischen und chinesischen Regierung Mitte der 1990er Jahre vereinbarten Zielgröße von 20 Mrd. Dollar zurück (Wishnick 2000: 93). Fragt man nach den Gründen für das Ausbleiben einer stärkeren wirtschaftlichen Kooperation mit dem asiatisch-pazifischen Raum, so zeigt sich ein Umstand, der zu den bekannten, auch in den übrigen Landesteilen Russlands anzutreffenden negativen Rahmenbedingungen wie fehlende Rechtssicherheit, eine unzureichende Steuergesetzgebung, Kriminalität und Korruption erschwerend hinzukommt: Aufbauend auf historisch gewachsene Ressentiments gewannen in der Regulierung der postsowjetischen Beziehungen mit China sowohl in den russischen Grenzregionen selbst als auch in Moskau traditionelle sicherheitspolitische Motive rasch die Oberhand. Durch das demographische Ungleichgewicht entlang der chinesisch-russischen Grenze genährte Ängste vor einer »Sinisierung« der russischen Fernostgebiete entwickelten sich zu einer Barriere gegen eine konsequentere Nutzung vorhandener Kooperationschancen (ebd.: 95f.; Wacker 1999: 15). So führte Mitte der 1990er Jahre die Furcht vor einer chinesischen Massenimmigration (die im Übrigen durch die tatsächliche Entwicklung in keiner Weise begründet war) zu verschärften Visabestimmungen, denen zugleich mit groß angelegten Razzien in den Städten entlang der Grenze Nachdruck verliehen wurde. In solchen Maßnahmen (ebenso wie in den verbreiteten Ressentiments gegenüber koreanischen Einwanderern aus Zentralasien) zeigt sich eine Überbetonung nationaler Sicherheitsinteressen, deren negative Auswirkungen auf die Entwicklung grenzüberschreitender Wirtschaftskooperationen offen zutage liegen.11 Mittlerweile sind sich viele Beobachter darin einig, dass von einer wirtschaftlichen Integration des russischen Fernen Ostens in den asiatisch-pazifischen Raum keine Rede sein kann (vgl. Buszynski 2000; Wacker 1999; Wishnick 2000). Dabei sind es gerade selbst verantwortete 11

Wacker (1999: 15) führt als Beispiel für ein wirtschaftliches Projekt, das u.a. aufgrund politischer Bedenken vonseiten Russlands erheblich behindert wurde, die von der UN geförderte Tumen-Entwicklungszone im Dreiländereck Russland-China-Nordkorea an. Sie war ursprünglich als groß angelegtes Transport-, Dienstleistungs- und Industriezentrum geplant, wird bisher aber faktisch nur von chinesischer Seite unterstützt.

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außerökonomische Restriktionen, die im wirtschaftlichen Bereich einer euro-asiatischen Brückenfunktion Russlands wirksam entgegenstehen. Russlands Beziehungen zu den neuen zentralasiatischen Staaten Die Frage nach der Entwicklung der Transportwege, zu denen neben Straßen, Eisenbahnlinien und Luftkorridoren auch das weit verzweigte Pipelinenetz für Öl- und Gaslieferungen gehört, richtet den Blick auf das Verhältnis Russlands zu den zentralasiatischen Ländern (vgl. Halbach 1999; Jonson 1998). Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat Russland in seiner »Südpolitik« einen empfindlichen Einflussverlust hinnehmen müssen, der sich am deutlichsten in ökonomischen Größen ausdrückt. Der Einbruch der Handelsbeziehungen auf nationaler Ebene mit den neuen unabhängigen Staaten im Süden Russlands wird durch den Aufbau regionaler grenzüberschreitender Wirtschaftskooperationen (z.B. zwischen Sibirien und dem Norden Kasachstans) nur teilweise kompensiert. Das Bestreben der zentralasiatischen Länder nach größerer Unabhängigkeit gegenüber dem übermächtigen Russland bewirkte ein verstärktes Auseinanderscheren ihrer außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Beziehungen. Ihren Ausdruck fand diese Entwicklung nicht zuletzt in einem neu entstehenden Verkehrswegenetz, das sich in naher Zukunft zu einem »eurasischen Korridor« zusammenfügen könnte – und zwar unter Umgehung Russlands (vgl. Radvanyi 1998). So zielen verschiedene von der EU initiierte Programme (wie das 1993 gestartete Traceca-Programm: Transport Corridor Europe-Caucasus-Asia) auf den Aufbau zuverlässiger Handelswege, die eine Alternative zu den von Russland kontrollierten Exportrouten eröffnen sollen (siehe hierzu Kaiser: Postsowjetisches Eurasien – Dimensionen der symbolischen und realen Raumaneignung, i.d.B.). Während sich Traceca auf das klassische Transportnetz (Straßen, Eisenbahn, Häfen) bezieht, ist mittlerweile um die Nutzung der Erdölvorkommen im Kaspischen Raum ein internationaler Streit entbrannt, der nur vordergründig von rein ökonomischen Interessen bestimmt wird. Dabei hat sich die Frage der Routenführung neuer Pipelines zu einem erneuten geopolitischen great game ausgeweitet, in dem die beteiligten Investoren aus USA, Europa und China gemeinsam mit ihren zentralasiatischen Partnern die Strategie verfolgen, das russische Monopol auf den Transport kasachischen Öls zu brechen. Russische 190

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Energieunternehmen reagieren hierauf in durchaus pragmatischer Weise, indem sie sich um wirtschaftliche Kontakte in einem größeren geographischen Rahmen bemühen, wie das Beispiel des maßgeblich von LUKoil betriebenen russisch-aserbaidschanischen Abkommens über Erdölförderung von 1993 sowie diverse andere Pipelineprojekte zeigen (ebd.; Halbach 1999: 12). Ob eine solche primär kommerzielle Interessenverfolgung die internationalen Pläne zum Aufbau eines »eurasischen Korridors« maßgeblich beeinflussen kann, dürfte dabei auch davon abhängen, ob es der russischen Politik gelingt, den Übergang von einer »machtpolitischen« zu einer »pragmatischen« Linie zu vollziehen (ebd.: 12f.; ähnlich auch Jonson 1998: 3f.). Gegenwärtig scheint Russland den Einflussverlust gegenüber dem »Süden« mit den klassischen Instrumenten einer machtgestützten Militär- und Sicherheitspolitik kompensieren zu wollen – wofür der erneute Krieg gegen Tschetschenien nur der augenfälligste Beweis ist. In der Tat ist die russische Militärpräsenz in den meisten Ländern Zentralasiens noch deutlich erkennbar, so wie zugleich die Streitkräfte dieser Staaten in hohem Maße auf russische Ausrüstung und Ausbildung angewiesen sind. Doch der zumindest teilweise selbst auferlegte Zwang zur strategischen Präsenz hat für Russland nicht nur immense finanzielle Kosten – angesichts der im zentralasiatischen Raum wachsenden Skepsis gegenüber gemeinsamen supranationalen Strukturen nach dem Modell der GUS und einer erkennbaren Diversifizierung der Außenbeziehungen sehen immer mehr Beobachter in der primär auf Macht und Militär gestützten Politik Russlands selbst ein zentrales Hindernis auf seinem Weg zur Erlangung größeren Einflusses in einer komplizierter gewordenen Staatenlandschaft. Der Islam in Russland Eine besondere Bedeutung für das Selbstbild der Eurasier hat das Verhältnis zum Islam. Die jahrhundertelange Begegnung zwischen christlich-orthodoxen Ostslaven und muslimischen Ethnien gehört zum Kernbestandteil der Vorstellung einer spezifischen eurasischen Zivilisation. Betrachtet man aus dieser Perspektive die Stellung des Islam im heutigen Russland, so ergibt sich ein differenziertes Bild (Halbach 1996; Sabirova i.d.B.; Gontscharova i.d.B.; Schrader et al. i.d.B.). Der Islam bildet in der Russischen Föderation nach der russisch-orthodoxen Kirche die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft. Der 191

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Begriff »Muslim« wird allerdings sehr unbestimmt gebraucht, er ist eher ethnisch als religiös determiniert, d.h., er umfasst in der Regel Angehörige islamischer Nationalitäten (Tataren, Baschkiren, Kaukasier), die sich nur bedingt als einer Glaubensgemeinschaft zugehörig verstehen würden. Dementsprechend schwanken auch die Angaben über die Zahl der Muslime in Russland, die irgendwo zwischen 8,5 und 21 Millionen liegen dürfte. Gleichwohl kann davon ausgegangen werden, dass sich nach der Auflösung der Sowjetunion in Russland eine »islamische Wiedergeburt« vollzogen hat, sofern darunter das Wiederaufleben islamischer Gemeinden und Institutionen verstanden wird (Halbach 1996). Dabei hat das heutige Russland durchaus Teil an einer Entwicklung, auf die erst der Fall des Eisernen Vorhangs den Blick freigegeben hat: die Islamisierung Europas bzw. die Europäisierung des Islam. »Länder wie Bosnien, Albanien, Tatarstan und die muslimischen Gemeinden Russlands traten stärker ins europäische Bewusstsein als zuvor, muslimische Staaten der GUS hielten Einzug in die OSZE« (ebd.: 20). Dennoch wäre es verfehlt, hieraus bereits auf eine spezifisch kulturelle Form der eurasischen Integration Russlands zu schließen. Denn das Bild des Islam im heutigen Russland weist viele Facetten auf, die sich nicht umstandslos zu einer, nämlich »eurasischen« Interpretation zusammenfügen lassen. So sind zunächst ethnisch-regionale Differenzierungen zu beachten, die eine Vielfalt islamischer Kulturen hervorgebracht haben. Während etwa in Teilen des Nordkaukasus (vor allem in Dagestan) ein islamischer Traditionalismus auf der Basis ethnokultureller Pluralität anzutreffen ist, haben die Muslime im Wolgagebiet (insbesondere in Tatarstan) eine Modernisierungs- und Vereinigungsbewegung hervorgebracht, die das Ergebnis einer jahrhundertelangen wechselseitigen Beeinflussung zwischen Europa, Russland und muslimisch geprägten Gesellschaften darstellt (ebd.: 20; Sabirova i.d.B.; Gontscharova i.d.B.; Schrader et al. i.d.B.). Des Weiteren finden sich innerhalb der islamischen Wiederbelebung sowohl integrative als auch desintegrative Tendenzen. So sieht die Mehrheit der Muslime ihr vatan (»Mutterland«) in einem multinationalen und multikonfessionellen Russland und steht dem Erhalt der postsowjetischen staatlichen Einheit positiv gegenüber. Während das politische Gewicht anti-russisch/nationalistisch gesonnener Bewegungen somit im Prinzip relativ gering ist, wurde die tschetschenische Sezession und insbesondere die militärische Reaktion der Zentralge192

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walt zu einer Belastung integrativer Strömungen unter den Muslimen Russlands. Schließlich tragen auch die unterschiedlichen Islam-Diskurse innerhalb der russischen Medien und der politischen Publizistik zum uneindeutigen Erscheinungsbild des Islam in Russland bei. Einerseits lässt sich durchaus eine seriöse, um realistische Einschätzungen bemühte Auseinandersetzung mit der islamischen Dimension Russlands beobachten. Sowohl in russischen Publikationen, wie etwa der Zeitschrift Rossija i Musulmanskij Mir (»Russland und die muslimische Welt«), als auch in muslimischen Periodika, wie der Islam Minbare (»Tribüne des Islam«), werden laufend Artikel zu den russischmuslimischen Beziehungen und zum kulturellen Austausch zwischen Russentum und Islam veröffentlicht. Andererseits gibt es eine (zumal im Zuge der Tschetschenienkriege) stärker werdende islamophobe Tendenz, die sich in wiederholten Warnungen vor einem »islamischen Fundamentalismus« und im Bedrohungsszenario einer »Expansion des Südens« Bahn bricht. Ob die muslimischen Gemeinschaften Russlands somit eingebunden werden in einen transnationalen Islam, wie er insbesondere in Zentralasien zu entstehen scheint, lässt sich gegenwärtig noch gar nicht feststellen. Hierzu stehen noch Untersuchungen zu den grenzüberschreitenden Verbindungen russischer Muslime aus, die zugleich die Vielfalt der Erscheinungsformen des Islam in Russland in Betracht ziehen.

Das »eurasische« Russland – eine Phantomdiskussion Der eurasische Diskurs als Teil der nationalen Selbstverständigung im postsowjetischen Russland und die empirische Bezugnahme auf ein vermeintlich oder tatsächlich entstehendes Gebilde namens »Eurasien« stehen gegenwärtig weitgehend unverbunden nebeneinander. Weder sind die selbst ernannten Eurasier im besonderen Maße um eine empirische Untermauerung ihrer Thesen bemüht noch wird in der entsprechenden Forschungsliteratur eine normativ-ideelle Verständigung über das, was als Eurasien bezeichnet werden soll, eingefordert. Der hier gemachte Versuch, beide Perspektiven einander gegenüberzustellen, zeigt in der Tat, so unser Fazit, wie weit beide Verwendungsweisen des Begriffs Eurasien voneinander entfernt sind und wie wenig insbesondere die politisch-programmatische Diskussion zum Verständnis aktu193

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eller Entwicklungsprozesse beizutragen hat. Konfrontiert mit empirischen Forschungsergebnissen (die hier nur fragmentarisch präsentiert werden konnten), erscheint die von russischen Publizisten, Politikern und Intellektuellen geführte Eurasiendebatte weitgehend als Phantomdiskussion, die an den tatsächlichen Gegebenheiten vorbeiführt. Eine Phantomdiskussion stellt sie zunächst in dem Sinne dar, dass das, von dem sie wie selbstverständlich ausgeht – nämlich ein eurasisches Russland – allenfalls rudimentär vorhanden ist. Russland scheint in das Eurasien, das heute in Umrissen erkennbar wird, gar nicht oder nur am Rande einbezogen zu sein. Darüber hinaus verfehlen die Eurasier die gegenwärtigen Entwicklungen in einem weiteren Sinne: Denn gerade diejenigen Anzeichen, die, wie versteckt auch immer, auf eine mögliche »Eurasisierung« Russlands hindeuten, können mit den Denkschablonen der eurasischen Weltanschauung kaum erfasst werden – und dies gilt im Prinzip für alle drei der oben vorgestellten Varianten des Eurasismus. Kleinräumige grenznahe Kooperationen, die pragmatische Verfolgung ökonomischer Interessen oder religiös-ethnische Integrationsprozesse sowie die damit jeweils einhergehenden Verschiebungen in den relevanten Deutungs- und Wahrnehmungsmustern – all dies entzieht sich einem Blick, der primär auf machtpolitische und geostrategische Parameter ausgerichtet ist. Hier macht sich die Herkunft der Eurasiendiskussion aus der in Russland derzeit wieder auferstandenen Geopolitik bemerkbar. Politik wird hier als stetiger Machtkampf zwischen Staaten verstanden, die in Abhängigkeit von den jeweiligen natürlich-geographischen Gegebenheiten um eine beständige Ausweitung ihrer Einflusszonen bemüht sind. Gesellschaftliche Entwicklungen, die außerhalb der staatlichen Machtarena ablaufen, haben in einem solchen »Forschungsprogramm« hingegen keinen Platz. Die Formulierung einer realitätstauglichen Sichtweise auf Russlands Position in einer zugleich globaler und regionaler werdenden Welt ist somit von den Eurasiern wohl kaum zu erwarten.

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Russische Aussenpolitik im Spannungsfeld der Kulturen

Europa versus Asien – Russische Aussenpolitik im Spannungsfeld der Kulturen Elena Stepanova Angesichts der intensiven außenpolitischen Tätigkeiten des heutigen russischen Präsidenten Wladimir Putin fragt sich der Westen wieder, welche Strategien und Ziele Russland in seinen Außenbeziehungen verfolgt. Wie sind die russischen Präferenzen? Nach welchen Kriterien werden sie gesetzt? Ist Putin ein Freund oder ein Gegner des Westens? Nach den Ereignissen am 11. September 2001 in den USA waren viele sowohl in Russland als auch außerhalb der Russischen Föderation erstaunt, wie sehr Wladimir Putin die Freundschaft mit der NATO und besonders mit den USA gesucht hat. Das Geheimnis der Sphinx »Putin« bleibt für viele bestehen, denn nur wenige westliche Kommentatoren versuchen, sich mit den Motiven der russischen Entscheidungsträger auseinander zu setzen. Die Auflösung der UdSSR führte in Russland nicht nur zu tiefen ökonomischen, politischen und sozialen Umwandlungen, sondern zog auch die Entstehung neuer geographischer Konturen des Landes mit neuen, oft unbestimmten Grenzen nach sich und das in einer unbeständigen, sich verändernden regionalen und globalen Umwelt. Darüber hinaus gibt es auch eine historische Dimension des Wandels – zweideutige Großmachtansprüche und eine jahrhundertealte tiefe Ambivalenz der Beziehungen Russlands zum »Westen«. Diese Ambivalenz umfasst einerseits Russlands real existierende Beziehungen mit Europa und den Vereinigten Staaten und seine Orientierung nach »Westen« sowie andererseits das stete Bestreben des russischen Staates und der russischen Gesellschaft, sich vom Westen abzugrenzen und einen eigenen, »russischen« Weg zu finden. Unter diesen Umständen ist es klar, dass internationale Faktoren, besonders die »westliche« Dimension, und die Beziehungen zu den ehemaligen Sowjetrepubliken von primärer Bedeutung im Prozess der postsowjetischen Identitätsbildung sind. Die Unklarheiten in Bezug auf die russische Identität und ihre Außenabhängigkeit wird zweifellos von der russischen politischen Elite wahrgenommen, die Anfang der 1990er Jahre eine lebhafte Debatte über nationale Identität und Russlands Rolle und Interessen in der Weltpolitik führte. Die mangelnden Kenntnisse der Geschichte und 197

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des philosophischen Erbes Russlands machen es für externe Beobachter schwierig, die Hintergründe dieser Diskussion und des außenpolitischen Denkens der heutigen Russischen Föderation richtig einzuschätzen. Es bestehen Unterschiede in Kultur und Mentalität zwischen Ost und West, die einen anderen Bezug zur Politik bewirken. Dies hat der Westen besonders in den 1990er Jahren ignoriert. Deshalb ist es wichtig, näher auf die Geschichte des russischen außenpolitischen Denkens einzugehen, weil eine gewisse Kontinuität in der russischen Wahrnehmung des Westens besteht. Diese Wahrnehmung beeinflusst den russischen politischen und gesellschaftlichen Diskurs und hat darüber hinaus eine starke Wirkung auf die westliche Dimension der russischen Außenpolitik.

Rückblick und historische Einordnung der außenpolitischen Denkschulen Der Streit zwischen den verschiedenen Denkschulen in der außenpolitischen Orientierung Russlands ist nahezu so alt wie die russische Geschichte selbst. Besonders stark war er im 19. Jahrhundert in der Debatte zwischen den so genannten Westlern und den Slawophilen ausgeprägt. Der Dissens entzündete sich an der Außenpolitik Peters des Großen. Er näherte Russland dem Westen an und führte damit, nach Meinung der Slawophilen, das Land in die Katastrophe: Durch die Nachahmung westlicher Werte verlöre Russland unwiederbringlich seine eigenständige Kultur. Die Westler orientierten sich primär an einem »idealisierten« Europa, das dem »barbarischen« Russland das Licht der Aufklärung gebracht habe. Gemeinsam war beiden Strömungen – ebenfalls ein wenig idealisiert – die Liebe zu Russland, dessen Wohl man wünschte und für das man den besten Weg in eine sichere Zukunft suchte. »Die beiden Strömungen blicken, einem Janus oder einem doppelköpfigen Adler gleich, in verschiedene Richtungen, während doch ein Herz in ihnen schlägt«, – schrieb der russische Revolutionär, Schriftsteller und Philosoph Alexander Herzen (Herzen in: Ivanov 1996). Dieser Streit mündete nach der Oktoberrevolution 1917 in eine große Diskussion unter den russischen Emigranten der 1920er und 1930er Jahre. Der Begriff »Eurasismus« kam auf, demzufolge Russ198

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land weder zu Europa noch zu Asien oder zu einer Mischung von beidem gehöre, sondern eine eigene, organisch in sich abgeschlossene Kulturwelt bilde: Eurasien (Evrasija). Bedeutende russische Denker in Prag, Sofia, Paris und Belgrad bekannten sich zur »eurasischen Idee«, die ein politisch-ideologisches Konzept für die Entwicklung Russlands darstellte. Zu den wichtigsten Vertretern des Eurasismus zählten die Philosophen und Historiker Nikolaj Trubezkoj, Lev Karsavin und Antonij Florovskij, sowie der Geograph Pjotr Savizkij. Sie entwickelten die eurasische Idee mittels einer Neudeutung der Tataren-Herrschaft, die Russland von 1240 bis 1480 von Westeuropa abtrennte. Als Folge dieser Herrschaft gab es in Russland keine Renaissance, die im Westen die Basis für die gemeinsame europäische Identität legte. Doch im Kampf gegen die Fremdherrschaft der Mongolen vereinigten sich die zahlreichen russischen Fürstentümer zu einem einheitlichen Staat unter der Führung Moskaus. Nationalbewusstsein und kulturelle Identität wuchsen. Für die politische Positionierung des Eurasismus waren folgende Ideen wichtig: – Die Eurasier lehnten das westliche »individualistische Menschenbild« ab. Es ignoriere die Gemeinschaft und die Existenz eines überindividuellen Geistes. Auch heute noch sind die meisten Russen von der Existenz einer »Volksseele« überzeugt. Das westliche Menschenbild, so fürchteten viele Intellektuelle im 19. Jahrhundert, wie z.B. Fjodor Dostojewskij, wäre das Ende der »weiten russischen Seele«. Das Resultat war eine klare Absage an den Eurozentrismus, an die Rationalisierung sozialer Verhältnisse und die Emanzipation des autonomen Individuums. – Russlands geographische Lage, seine Mittlerstellung zwischen Asien und Europa, trug zur Besinnung auf einen »eurasischen« Kulturtypus bei, der sich fundamental vom westeuropäischen unterscheidet. Die Fläche zwischen Europa und Asien bezeichnet den eurasischen Raum, der sich nicht einem der beiden Kontinente zuoder unterordnen ließ. Der »eurasische« Kulturtypus wurde durch die Abgrenzung zum Westen definiert. Dabei wurden »eurasische« und »westliche« Werte strikt voneinander unterschieden. Westlicher Rationalität und westlichem Individualismus wurden Kollektivität, Vergeistigung, Spiritualität und leidenschaftliche Selbstaufgabe gegenübergestellt. Die Geschichte wurde als göttliches Myste199

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rium und Wachsen sozialer Organismen empfunden, im Gegensatz zu den Fortschrittsvorstellungen und der Vorstellung von der Evolution des Bewusstseins der »westlichen« Aufklärer. – Die Eurasier entwickelten die Idee eines autoritären, ideokratischen, starken Staates, der auf der organischen Einheit von Person und Staat, der so genannten »symphonischen Persönlichkeit«, und dem orthodox religiösen Gemeinschaftsprinzip, der »sobornost«, beruhte. Der Staat galt als Solidargemeinschaft auf der Basis des gemeinsamen Glaubens, der Traditionen und der Sitten. Das einfache Volk betrachteten die Eurasier als Träger traditioneller Werte. Auch die sowjetische Außenpolitik war stark von den eurasischen Ideen geprägt. Einige politisierte linke Eurasier sahen in der kommunistischen Machtergreifung das Ende der mehr als 200-jährigen Periode der Europäisierung und betrachteten den Bolschewismus als Revolte gegen die westliche Kultur. Russland sah seine Mission daher in der Befreiung der asiatischen und afrikanischen Völker vom westlichen Einfluss und in der Gründung eines »Sowjeteurasiens«. Die sowjetische Regierung versuchte, diese Strategien in die Tat umzusetzen, indem sie der Ideologie des Imperiums folgte.

Auf der Suche nach einer neuen Identität Das Wiederaufleben der eurasischen Ideologie verlief parallel zum Untergang der Sowjetunion. An der erneuten Debatte über den russischen historischen Weg hatte der Historiker und Ethnologe Lev Gumilev einen großen Anteil. Seine spekulative Theorie über die Entstehung und Entwicklung von Ethnien in Russland (Gumilev 1989, 1997) genießt heute eine breite Anerkennung. Von Gumilevs Ethnienlehre gingen jedoch auch maßgebliche Impulse für eine neue nationale Entwicklung aus. Die intellektuelle »Neue Rechte«, die sich in der postkommunistischen Zeit seit 1991 bildete, erweitert die eurasische Idee zur imperialistischen Ideologie. Sie verbindet die Außenpolitik eng mit den Begriffen »Geopolitik« und »Imperium«. Die Selbstwahrnehmung Russlands als Zentrum und Führer eines geopolitischen Raumes »Eurasien« soll dem neuen außenpolitischen Konzept zugrunde gelegt werden. Sogar Präsident Putin bezeichnet Russland als ein »eurasi200

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sches Land«. Diesen in der Bevölkerung populären Slogan greifen viele Radikale auf, wenn die Reformen zur Modernisierung des Landes zu scheitern drohen. Im Gegensatz zu breiten Bevölkerungsschichten orientiert sich die politische Elite des Landes, allen voran Präsident Putin, in Richtung Westen – zahlreiche Kooperationen mit der EU und der NATO zeugen von dieser Westorientierung. Vor allem den Deutschen gegenüber hat Putin mehrmals deutlich gezeigt, dass er in seinem außenpolitischen Denken ein »Westler« ist. Wo ist dann das wahre Gesicht der russischen Außenpolitik? Zu Beginn der 1990er Jahre kristallisierten sich die unterschiedlichen außenpolitischen Orientierungen Russlands heraus. Sie stehen unter dem Einfluss von vier Hauptmustern: – Die volle und meist unreflektierte Integration in den westlichen Zivilisationstyp, betrieben vor allem während der so genannten »romantischen Periode« des »Westlers« Andrej Kosyrev. Im Kern geht es darum, das Land mittels Demokratisierung, De-Ideologisierung und Demilitarisierung als Partner an den Westen anzubinden. – Eine großrussisch-nationale Programmatik, deren Kern eine vage und mystische »russische Idee« bildet. Angestrebt wurde eine Restauration des Imperiums, eine russische Version der amerikanischen »Monroe-Doktrin«. Die Nationalisten, Hauptverfechter dieser Programmatik, lehnen eine Verwestlichung und »Kapitalisierung« Russlands kategorisch ab. – Der so genannte Neo-Eurasismus betrachtet Russland geopolitisch als eine eurasische Macht und nicht als Teil einer gesamteuropäischen Gemeinschaft. Die neo-eurasischen Vorstellungen sind antiwestlich und speziell gegen die USA gerichtet. Die Welt wird als eine Kampfarena zwischen einer kontinentalen (eurasischen) und einer insularen bzw. atlantischen (angelsächsischen) Zivilisationen gesehen. Die Grenzen zwischen der russisch-nationalistischen und der eurasischen Denkschule sind oftmals fließend und gehen ineinander über. – Der so genannte »geopolitische Realismus« wird durch globalistische Großmachtansätze charakterisiert und nimmt Elemente der drei anderen Denkschulen in sich auf. Diese Richtung hat an Einfluss auf die russische Außenpolitik der letzten Zeit gewonnen, ihre 201

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Elena Stepanova

Vertreter werden in Russland oft »Pragmatiker« oder »Zentristen« genannt. Die Debatte, die, wie dargelegt, in Russland nicht neu ist, illustriert gut die russische Ambivalenz gegenüber Europa. Für die Beziehung zwischen Europa und Russland ist das Verständnis dieser Denkweise enorm wichtig. Die alten Fragen: »Wer sind wir?«, »Wo treiben wir hin?« werden in Russland immer häufiger gestellt, ohne sich ihrer Gefahren bewusst zu sein. Erschreckend zeigt sich eine Parallele zur Diskussion über einen deutschen »Sonderweg« in den 20er Jahren der Weimarer Republik, der in die Katastrophe des Dritten Reichs führte und der nach der Wiedervereinigung angesichts der neuen Rolle Deutschlands in Europa unter dem Motto »Wir sind wieder wer« neu aufgegriffen wurde. Europa will Russland integrieren, während Russland nicht weiß, ob es in Europa integriert werden will. Die Frage, ob es zu Europa oder zu Eurasien gehört, hat Russland für sich noch nicht beantwortet. Es ist sich über seine eigene Identität nicht im Klaren. Welche Konsequenzen muss man daraus ziehen? Russland braucht eine multipolare/multidimensionale Außenpolitik. Es braucht sowohl gute Beziehungen zu China und Indien als auch zu Europa und den USA. Dabei geht es nicht um politische Allianzen, um die altbekannten »Freundschaften mit und gegen jemanden«. Die Entwicklung guter Beziehungen zum Westen ist nach dem Ende des Ost-West-Konflikts durchaus logisch und natürlich. »Der Kalte Krieg ist vorbei«, hat Wladimir Putin in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag gesagt. Jetzt ist die Zeit gekommen, ein neues Verhältnis zueinander zu entwickeln, um gemeinsam globale Probleme zu lösen und eine konstruktive Antwort auf die Herausforderungen der modernen Welt zu geben. Deshalb darf Europa Russland nicht von den wichtigen Ereignissen isolieren, die sich in Europa abspielen. Die Isolierung stärkt die nationalistischen Kräfte, die wieder Großmachtsansprüche hegen und gefährliche Mythen schaffen. Ein demokratisches Russland in stabiler Umgebung muss das politische Interesse Europas sein. Der deutsche Russland-Experte, Alexander Rahr, schreibt: »Ohne ein friedlich gestelltes und kooperierendes Russland kann der europäische Einigungsprozess nicht erfolgreich vonstatten gehen« (Rahr 2002).

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Russische Aussenpolitik im Spannungsfeld der Kulturen

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) vakat 204.p 39245534340

Eröffnung der interkonfessionellen Messe »Mit Glaube, Hoffnung und Liebe in das 3. Jahrtausend«, Moskau 2003

Eingangsbereich der Memorial-Moschee in Moskau (1997 erbaut)

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Eurasische Realitäten

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) vakat 208.p 39245534420

Einführung: Identität, Ethnizität und Religion

Einführung: Identität, Ethnizität und Religion im eurasischen Raum Markus Kaiser Die Zweiteilung Eurasiens wird heute zumeist mit dem kulturellen Unterschied zwischen Europa und Asien begründet. Russland wird dabei in ein europäisches (christliches) und ein asiatisches (muslimisches, buddhistisches, schamanisches) Russland geteilt (vgl. Mehlich 2000). Die zunehmende Anerkennung der Europa-Asien-Hybride als ein reales Charakteristikum Russlands kann an der neueren sozialwissenschaftlichen Literatur (Alexandrov 1999; Lurje 1999; Galljamov 1996; Gryslov 1999; Kosatsch 1999; Landa 1995) abgelesen werden. In anderen Arbeiten wird die wachsende Bedeutung des konfessionellen Faktors in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und im kulturellen Leben Russlands beschrieben (Tsekhanskaja 2002; Furman 2000). Darüber hinaus widmen sich russische Autoren auch vermehrt der soziokulturellen Situation und den Verortungspolitiken von und in den Regionen bzw. Städten (Abajev/Baldanov 1999; Galljamov 1996; Gryslov 1999; Kosatsch 1999; Laumulin 2000). Somit kann festgestellt werden, dass implizit oder explizit die soziopolitischen, sozioökonomischen und soziokulturellen Konfigurationen in und zwischen Europa und Asien aufmerksam beobachtet werden. Die zunehmende Bedeutung des religiösen Faktors wird durch ein jüngeres politisches Ereignis bestätigt: Am 6. Juni 2003 setzte sich auch in der Staatsduma die Idee eines »Interreligiösen russischen Rates« durch, in dem sich die Deputierten der von der russisch-orthodoxen Kirche als traditionell-religiös definierten Gemeinschaften – orthodoxe Christen, Muslime, Juden und Buddhisten – zusammenschließen und so eine »Kirchenlobby« in der unteren Kammer des Parlaments bilden können.1 Am selben Tag fand auch eine erweiterte 1

Der Meschreligiosnyj Sovet (Interreligiöser Rat) existiert bereits seit 1998 als zivilgesellschaftliche Organisation (siehe http://www.m-s-r.ru). Die Revitalisierung des bis dato eher ineffektiven Religiösen Rates auf parlamentarischer Ebene wird von Sergej Glasjev, dem Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche, als Teil des Wahlkampfes betrieben. Bemerkenswert ist die Idee der Konzentration auf die »traditionellen Religionen«, die eine Diskussion über den Begriff »traditionell« initiiert hat.

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Markus Kaiser

Sitzung der fraktionsübergreifenden Abgeordnetenvereinigung »Für die Unterstützung traditioneller geistig-moralischer Werte in Russland« statt, an der neben den Abgeordneten der Sekretär des Interreligiösen Rates Russlands, Roman Silantjev, und der Metropolit des Moskauer Patriarchats der russisch-orthodoxen Kirche, Kirill, teilnahmen. Nach Auffassung des Metropoliten Kirill können durch den Interreligiösen Rat die Rechte der vier »traditionellen« Konfessionen besser geschützt werden. Die Zusammensetzung des Rates spiegelt die religiöse Vielfalt in Russland wider: Insgesamt sind neun Abgeordnete in den erweiterten Rat der fraktionsübergreifenden Abgeordnetenvereinigung gewählt worden, einer aus jeder Fraktion und vier Abgeordnete, die jeweils eine religiöse Gemeinschaft vertreten: Sergej Glasjev (russisch-orthodoxe Kirche), Gadschi Machatschev (Muslime), Gasan Mirsojev (jüdische Gemeinschaft) und Bato Semjonov (Buddhisten).2 Zeitlich fast parallel, und zwar vom 9. bis 12. Juni 2003, tagten im Hotel »Kosmos« die Leiter der geistlichen Verwaltung der Muslime aus ganz Russland. Das Thema der Tagung lautete: »Finanzielle Beziehungen im Islam und ihre Durchsetzungsperspektiven innerhalb der muslimischen Gemeinschaft Russlands«. Zur Diskussion standen folgende Themen: Finanzierungsformen im Islam, islamisches Bankensystem, Steuerungsmethoden für die Spenden sammelnden Organisationen, Prinzipien der Finanz- bzw. Unternehmensdokumentation im Rahmen der shariat, Möglichkeiten der Entfaltung wirtschaftlicher Tätigkeit für religiöse Organisationen in Russland, Anwendungsmöglichkeiten islamischer Wirtschaftsprinzipien bei wirtschaftlichen Tätigkeiten im Rahmen des russischen Rechts und schließlich die Perspektiven einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen den islamischen Organisationen und staatlichen Einrichtungen.3 An der Tagung beteiligten sich die Leiter des Rates der Muftiate4 Russlands sowie der regionalen 2 Siehe http://www.religare.ru/article4991.htm; Stand: Juli 2003. 3 Solche Konferenzen und Agenden sind typisch für Länder mit muslimischen Minderheiten. Konferenzen zu Finanzierungsformen im Islam, islamisches Bankensystem usw. finden beispielsweise auch in Nordthailand statt, wo die Muslime an der Grenze zu Malaysia eine bevölkerungsstarke Minderheit stellen. 4 Die Muslime in Russland bilden keine homogene organisatorisch geschlossene Gemeinschaft. Dementsprechend sind die Verwaltungsstruktu-

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Einführung: Identität, Ethnizität und Religion

geistlichen Verwaltungen der Muslime, Duma-Abgeordnete und Mitglieder des Föderationsrates, Vertreter der Bildungs-, Wirtschafts- und Finanzministerien, russische Unternehmer und Wissenschaftler sowie ausländische Gäste aus Saudi-Arabien, Kuwait und aus anderen hauptsächlich muslimisch geprägten Ländern. Im Nachfolgestaat der atheistischen Sowjetunion ist jetzt zweifellos der religiöse Faktor in der Politik angekommen. Die zeitliche Parallelität der Veranstaltungen steht symbolisch für das Nebeneinander von Kooperation, Integration und Verflechtung einerseits und internen Teilungen, die die Form der Institutionalisierung der Religion und der religiös geprägten Aktivitäten nachhaltig prägen (Pfaff-Czarnecka 2002: 566) und die nicht selten mittels getrennt ablaufender Institutionalisierungsprozesse verfestigt werden, andererseits.5 Rufen wir uns in Erinnerung, dass die Neo-Eurasier im Gegensatz zu den Eurasiern sowohl die Europa-Asien-Hybridität als einen realen Faktor6 als auch die islamischen Volksgruppen in Russland als den Russen gleichberechtigte Träger der eurasischen Zivilisation anerkennen. Die Popularität ihrer politischen Vision, geprägt durch eine innergesellschaftliche interreligiöse und -ethnische Koexistenz, liegt vermutlich gerade in der kulturrelativistischen Akzeptanz der Gegebenheiten. Das »Eurasien der Gegebenheiten« entspricht der Vorstellung der Neo-Eurasier, dass die verschiedenen Volksgruppen durch ein Siedlungsmuster von sich überlappenden bi- und multinationalen Lebensräumen zur Kooperation gezwungen sind. Die folgenden Beiträge zum Thema »Eurasische Realitäten« beschreiben diese realen Lebenswelten, ren stark zersplittert. In sowjetischer Zeit existierten auf dem Territorium der heutigen Russischen Föderation zwei Geistliche Verwaltungen (Muftiate), eine in Ufa und eine im Nordkaukasus. Nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden in den neuen unabhängigen Staaten sowie in den Regionen der Russischen Föderation weitere Muftiate auf regionaler, lokaler und ethnischer Basis (vgl. Halbach 2003). 5 Die Begriffe »interne Teilungen« und »Institutionalisierung« verdanke ich Joanna Pfaff-Czarnecka, die sie in unseren gemeinsamen Diskussionen über die Forschungslinie des ZDES eingeführt hat (ich verweise zusätzlich auf Pfaff-Czarnecka [2002] und Baumann [2000]). 6 Zu den historischen Vorläufern des diese Akzeptanz begünstigenden Kulturrelativismus eines Teils der Eurasier siehe Wiederkehr (2000).

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Markus Kaiser

die Identitäts- und Verortungspolitiken, in denen Asien auf Europa, Östliches auf Westliches trifft. Natalja Gontscharova, Heiko Schrader, Nikolaj Skvorzov, Boris Wiener und Guzel Sabirova analysieren interne Teilungen und Verflechtungen, Ausdifferenzierungen und Integration, Verortungen und Abgrenzungen in den postsowjetischen muslimisch und russisch-orthodox geprägten Gesellschaften Tatarstans und Dagestans. Identifikation und Verortung erfolgt, wie alle Beiträge dieses Teils zeigen, in der Abgrenzung zum jeweils »Anderen«. Russland und seine es umgebenden GUS-Staaten sind durchzogen von kulturellen Kontinua, wobei Europa und Asien von West nach Ost ineinander übergehen, aber zumindest als Referenz an jedem Ort präsent sind. Zugleich sind Europa und Asien von grenzüberschreitenden Netzwerken aus Migranten, Pendlern, Händlern und vielen anderen mehr überzogen. Die Landmasse erscheint so als ein kultureller Kontaktraum, in dem Europa und Asien überall zugleich präsent, aber nie identisch sind. Wegen des hohen islamischen Bevölkerungsanteils im Kaukasus sowie in anderen postsowjetischen Staaten, aber auch wegen der politischen Brisanz, die der Kulturkontakt zwischen Islam und Christentum bzw. zwischen Islam und Orthodoxie derzeit erfährt, soll in der vorliegenden Anthologie genau diese Thematik: das Aufeinandertreffen von Islam und Orthodoxie im Vordergrund stehen. Die ausgewählten Mikrostudien beleuchten islamische wie russisch-orthodoxe Identitäten und Koexistenzen aus unterschiedlichen Richtungen. Nichtsdestotrotz können sie nur einen kleinen Ausschnitt islamisch-orthodoxer Realitäten in Russland-Eurasien und damit nur einige wenige der eurasischen Realitäten insgesamt präsentieren. Die Konzentration der westlichen Medien auf die Auseinandersetzungen in Tschetschenien sowie in den anderen kaukasischen Republiken erweckt den Eindruck, dass die Begegnungen zwischen Islam und Orthodoxie eher konfliktgeladen sind. Ist also der Kampf der Kulturen als Antithese zur eurasischen Integration zu verstehen? Im Gegensatz dazu gilt Kasan als Modell für die Koexistenz von russisch-orthodoxer Kirche und aufgeklärtem, nach europäischem Verständnis modernisiertem Islam auf der Basis eines gleichberechtigten Zusammenlebens von russisch-slawischer und tatarisch-mongolischer Bevölkerung. Es ist traditionell das Zentrum des russischen, genauer: des euro-asiatischen Islam. Symbolisiert es 212

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Einführung: Identität, Ethnizität und Religion

deshalb einen Kulturkontakt ohne Kampf der Kulturen? Ist das Eurasien der Zukunft also eher ein Kontaktraum und weniger ein »Schlachtfeld der Zukunft«?7 Die Aktualität dieser Fragen sowie der Fragestellungen der einzelnen Beiträge spiegelt sich in Ereignissen wie der Gründung der »Tatarischen Nationalfront« (»Tatarskij Nazionalnyj Front«, TNF) am 1. Juni 2003 in Baschkirien wider. Die TNF sieht ihre Aufgabe darin, die politischen und gesellschaftlichen Interessen der tatarischen Bevölkerung zu schützen. Das schließt unter anderem die Unterstützung jener Vertreter der tatarischen Öffentlichkeit mit ein, die bei den Wahlen zum russischen Parlament im Dezember 2003 oder bei den baschkirischen Präsidentschaftswahlen, die ebenfalls im Dezember 2003 stattfinden, kandidieren wollen. Der Vorsitzende der Bewegung, das Oberhaupt der national-kulturellen Autonomie der Ufaer Tataren, Sagir Hakimov, schloss die Möglichkeit der Bildung einer Wahlvereinigung mit potenziellen Gleichgesinnten wie der politisch-gesellschaftlichen Bewegung »Rus«, den islamischen Organisationen und/oder der »Eurasischen Partei« kurz vor der Wahl nicht aus.8 Politischer Pragmatismus scheint demnach jedwede Differenz zu überwinden. Die bereits von Trubezkoj (1920/1922) aufgestellte These, dass Russland aus »zwei formativen Strömungen«, der arisch-slawischen und der turanischen (d.h. türkischen, mongolischen und finnisch-ugrischen) Kultur, eine eigene dritte »messianische Zivilisation« (Humphrey 2002: 394) schuf, benennt einen Kulturkontakt, der heute noch identitätspolitisch aktuell ist und im Zuge dessen imaginierte Differenz identitätspolitisch (Schlee 2002) aufrechterhalten wird. Um seine Bindungen zu den anderen Turkvölkern zu wahren, verabschiedete die madjlis, das Parlament der russischen Teilrepublik Tatarstan, 1999 ein Gesetz, das die künftige Benutzung eines angepassten lateinischen Alphabets vorbereitet.9 In Kasan werden bereits alle öffentlichen Ge-

7 Diese Formulierung ist dem Buchtitel von Peter Scholl-Latour (1996) »Das Schlachtfeld der Zukunft. Zwischen Kaukasus und Pamir« entlehnt. 8 Siehe http://www.religare.ru/article4991.htm, Stand Juli 2003. 9 Bereits 1991, gleich nach der Unabhängigkeit von Moskau, beschlossen die zentralasiatischen Staaten die Rückkehr zur lateinischen Schrift. Mit

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Markus Kaiser

bäude sowohl in Russisch (in kyrillischer Schrift) als auch in Tatarisch (in lateinischer Schrift) beschildert. Schließlich garantiert Russlands Verfassung die Integrität lokaler Sprachen und Schriften.10 Im November 2002 allerdings beschloss die russische Staatsduma ein Sprachengesetz, wonach die Nationalsprachen aller Volksgruppen Russlands allein in kyrillischer Schrift geschrieben werden dürfen. Gegen dieses Gesetz protestier(t)en die Vertreter Tatarstans sowie die Kareliens, denn auch im Finnisch-Ugrischen wird noch das lateinische Alphabet benutzt.11 Presseberichten zufolge berge die Übernahme des lateinischen Alphabets die Gefahr einer Orientierung auf kulturelle Brückenköpfe außerhalb der Russischen Föderation, die mit der vom Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, zur Staatsräson erhobenen Straffung der Machtvertikale auch gegenüber den Regionen nicht vereinbar sei. Darüber hinaus nimmt die russische Regierung translokale Verbindungen, die durch den aufnehmenden Staat protegiert werden – durch Gewährung von Exil sowie materieller und ideeller Unterstützung –, als eine besondere Bedrohung wahr.12 Mit gut sieben Millionen Menschen sind die Tataren das zweitgrößte russländische Volk. Sie empfinden das neue Gesetz als eine unnötige Bevormundung und Gängelung durch das Zentrum. Die lokalen wie plurilokalen Verortungs- und Identitätspolitiken erfolgen vor diesem Hintergrund. Wie in der wohlhabenden Republik den Sprachgesetzen, die sich die asiatischen GUS-Staaten gaben, drängten sie nicht nur das Russische, sondern auch das kyrillische Alphabet zurück. 10 Teil 2, Artikel 8 des russischen Grundgesetzes überlässt den Teilrepubliken die Entscheidung über die Amtssprachen. 11 Der Nichtrusse Josef Stalin setzte auf die Russifizierung des homo sovieticus und verordnete 1939 allen Volksgruppen der UdSSR die Übernahme des kyrillischen Alphabetes. Einzige Ausnahme: die Georgier und Armenier. 12 Als Beispiel kann hier die Protektion der Usbeken und Tataren aus Usbekistan und Tatarstan durch den türkischen Staat genannt werden. Usbeken aus Usbekistan, darunter viele Exilpolitiker, leben in der Türkei. Sie werden vom türkischen Staat finanziell und ideell unterstützt. Translokale Gruppen, die einen sie unterstützenden dritten Staat hinter sich wissen, sind in ihren transnationalen politischen Visionen weitaus wirkungsmächtiger (vgl. Kaiser 2000).

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Einführung: Identität, Ethnizität und Religion

Tatarstan, die sich traditionell zu einem toleranten, weltoffenen Islam bekennt, nationale und religiöse Faktoren Alltagsbeziehungen und politische Vorstellungen prägen, wird in den Beiträgen über »Russische Muslime in Tatarstan und Dagestan – Zwischen Autonomie und Integration« von Natalja Gontscharova, über »Islam und Turksprachlichkeit als Faktoren bei Identitätsbildungs- und Sezessionsprozessen – Dagestan und Tatarstan im Vergleich« von Heiko Schrader, Nikolaj Skvorzov und Boris Wiener und in dem Beitrag von Guzel Sabirova über »›Russische[n] Muslime‹ – Der Islam in Tatarstan und Dagestan« beschrieben und analysiert. Neben den ortsbeständigen »eurasischen Realitäten« entstehen neue soziale Welten durch Zu- oder Abwanderung. Aufgrund der offeneren Grenzen wurden die Russische Föderation und die GUS-Staaten in das globale Migrationsregime integriert. Die Russische Föderation ist heute Einwanderungsland für Migranten aus der GUS (siehe Damberg i.d.B. und mein Beitrag »Die Russen im nahen Ausland – Russen als neue Minderheiten in Zentralasien« i.d.B.) und anderen Nachbarstaaten (Kaiser 2001). Im Zuge ihrer zunehmenden Professionalisierung entwickelte sich aus den fahrenden chinesischen Händlern einerseits sowie durch weitere Zuwanderungen aus der Volksrepublik China andererseits in Irkutsk eine chinesische Diaspora. Darüber hinaus ström(t)en viele Zuwanderer aus der Mongolei nach Irkutsk, weshalb in der russischen Literatur oft von einer Asiatisierung der Region, insbesondere der Märkte und des Konsums, gesprochen wird (Dyatlov/Dorokhov/ Lyustritski/Palyutina 1998; Dyatlov 2000). Thematisiert wird auch die Fremdenfeindlichkeit, die durch die Migrationen und die sie begleitenden Veränderungen ausgelöst wird (Dyatlov 2000). Ortswechsel führen zu neuen Verortungspolitiken, die Herkunftsund Ankunftsort umspannen können (Kaiser 2001). Dies würde Asien und Europa näher zusammenbringen sowie neue eurasische Realitäten schaffen (Abajev/Baldanov 1999). Aber es können sich auch an einem Ort vorhandene Spaltungen vertiefen und ausweiten, die dann ein nicht unerhebliches Konfliktpotenzial in sich bergen. Verortungspolitiken werden oft über Sprache manifestiert und ausgetragen. Sprachpolitik ist offensichtlich ein zentraler Faktor von In- und Exklusion, wie Sergej Damberg in seinem Beitrag »Andere Russen – ›Ethnisches Wissen‹ im Alltagsbewusstsein von Russen aus 215

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Markus Kaiser

Zentralasien in der Russischen Föderation« und ich in dem Beitrag »Die Russen im nahen Ausland – Russen als neue Minderheiten in Zentralasien« anhand weiterer empirischer Belege unterstreichen. Sergej Damberg untersucht zentralasiatische, »andere Russen« in Sankt Petersburg. Mein Beitrag reflektiert die Situation der »asiatischen Russen« in Zentralasien, wo die ethnischen Hierarchien mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf den Kopf gestellt wurden.

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Einführung: Identität, Ethnizität und Religion

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Markus Kaiser

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Natalja Gontscharova

Russische Muslime in Tatarstan und Dagestan – Zwischen Autonomie und Integration Natalja Gontscharova Der Zerfall der UdSSR hat ihren einzelnen Republiken die Möglichkeit eröffnet, den eigenen Platz in der Weltgesellschaft, die eigene Nische im geopolitischen Raum zu suchen. Mit der Bildung der GUS1 sollte zunächst die gefährliche Geodynamik des weitergehenden Zerfalls vermieden werden. Sie sollte als Instrument der politischen Integration und des Erhaltes des arbeitsteiligen Wirtschaftsraumes fungieren, konnte jedoch nicht die Desintegrationsvorgänge weder in der Gemeinschaft selbst noch in der Russischen Föderation verhindern. Innerhalb der Russischen Föderation bilden die ethnischen Russen die zahlenmäßig stärkste Volksgruppe. Nur in wenigen ihrer Republiken2 dominiert das »Titular«-Volk, das der jeweiligen Republik seinen Namen gegeben hat. Im Nordkaukasus sind es: Dagestan, Inguschien, Kabardino-Balkarien, Nordossetien. Im Wolgagebiet ist es Tschuwaschien und in Sibirien Tuwa. Nordossetien ist außerdem die einzige autonome christliche Republik im islamischen Nordkaukasus. Keine einzige Republik der Russischen Föderation ist ethnisch homogen. In allen Republiken leben unterschiedliche Volksgruppen, jede mit ihrer eigenen Sprache und ihren kulturellen Eigenheiten. Das sowjetische Regime gab mit seiner Ideologie von der Einheit des Proletariats einen ideologischen Rahmen vor, innerhalb dessen diese verschiedenen Volksgruppen miteinander agierten. Neben der ethnischen bildete sich auch eine »sowjetische« Identität heraus, die in manchen Regionen das Selbstverständnis der Menschen stärker bestimmte als die ethnische Zugehörigkeit (vgl. hierzu den Beitrag von Sabirova i.d.B.). Nach dem Zusammenbruch der UdSSR ertönten in den Straßen der Republiken nationalistische Parolen. Konflikte brachen zwischen 1

Die Abkürzung GUS bedeutet »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten«. Dazu gehören die Russische Föderation, Weißrussland, Moldawien, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kirgistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan, Kasachstan und Tadschikistan. 2 Die Russische Föderation besteht aus 21 Republiken, 6 Provinzen (kraj), 50 Verwaltungseinheiten (oblast) und 10 autonomen Territorien (okrug). Näheres hierzu siehe unter: http://odur.let.rug.nl, Stand Juni 2003.

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Russische Muslime in Tatarstan und Dagestan

verschiedenen ethnischen Gruppen aus, die zuvor friedlich koexistierten. Damberg (siehe Beitrag i.d.B.) führt diese Entwicklung auf eine zunehmende Ethnisierung des gesellschaftlichen Diskurses sowie auf eine Umkehrung des ethnischen Stratifikationssystems zurück. Seiner Meinung nach sind es »vor allen Dingen politische und ökonomische Interessen, die sich in dem Wandel des ethnischen Stratifikationssystems der postsowjetischen Staaten manifestieren« (Damberg i.d.B.). Viele der sowjetischen Republiken spalteten sich nach dem Zusammenbruch von Moskau ab, wobei ihre jeweiligen Regierungen die zu diesem Zeitpunkt erstarkenden nationalistischen Bewegungen z.T. massiv unterstützten, um eine Trennung zu forcieren. Nicht so Tatarstan und Dagestan. Beide sind nach wie vor Republiken der Russischen Föderation und eine Abspaltung oder auch nur zunehmende Souveränität in bestimmten Bereichen ist nicht in Sicht. Dafür spricht u.a., dass beide Republiken nicht die günstigsten Voraussetzungen für eine Unabhängigkeit mitbringen. Während Dagestan politisch wie wirtschaftlich von Moskau abhängig ist und der anhaltende Tschetschenien-Konflikt die Einheit dieses Vielvölkerstaates nach wie vor bedroht, entstanden in Tatarstan Anfang der 1990er Jahre starke Unabhängigkeitsbewegungen, die seine Regierung unter Präsident Mintimer Schajmijew nutzte, um von Moskau größere politische wie wirtschaftliche Freiheiten zu erlangen. Doch war es nie ihr Ziel, für Tatarstan eine vollständige Unabhängigkeit von Moskau zu erreichen. Dagegen spricht vor allen Dingen auch seine geographische Lage, da es mitten in Russland liegt und keine gemeinsamen Grenzen mit anderen Staaten hat. Vor diesem Hintergrund der unterschiedlichen historischen und sozioökonomischen Bedingungen in den beiden Republiken Tatarstan und Dagestan will dieser Beitrag die politische Ebene verlassen und auf der Ebene des Alltags beleuchten, wie ihre Bevölkerungen die derzeitige Situation einschätzen, wie sie sich selbst definieren und welche Zukunftsvorstellungen sie über die Beziehungen zu Russland haben. Dazu werden Interviews herangezogen, die zwischen 1996 und 1999 im Projekt »Islam, Ethnizität, Nationalismus im postsowjetischen Raum« mit 291 Personen in Tatarstan und Dagestan durchgeführt wurden (vgl. Pilkington/Yemelianova 2002).

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Natalja Gontscharova

Identitäten in Tatarstan und Dagestan Tatarstan Die Republik Tatarstan ist im Gegensatz zu Dagestan ethnisch relativ homogen (vgl. Sabirova i.d.B.). Die Mehrheit der Bevölkerung bilden die Tataren mit ca. 48 %, gefolgt von den Russen mit ca. 43 %.3 So kann es auch nicht verwundern, dass die meisten der befragten Tataren ihre ethnische Identität in Abgrenzung zu den Russen formulierten. Auf die Frage: »Als was empfinden Sie sich?«, gab ein großer Teil zur Antwort: »Natürlich als Tatarstaner, als Russländer (rossijanin)4 hab ich mich nie empfunden« (Tatarstan, ein Tatare). Die Abgrenzung zu den Russen erfolgte vor allen Dingen vor dem Hintergrund der Jahrhunderte währenden Unterdrückung tatarischer Kultur und Sprache durch Russland. Schon 1552 fiel das Tatarenkhanat von Kasan als erster muslimischer Staat unter russische Herrschaft. Seitdem gelten die Tataren als dasjenige Volk, das sich am längsten unter russischer Oberhoheit befand. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR förderte die Regierung der tatarischen Republik das Wiederaufleben tatarischer Kultur und erklärte Tatarisch zur zweiten Amtssprache. Darüber hinaus halten islamische Symbole verstärkt Einzug in die Öffentlichkeit, islamische Schulen sowie Universitäten werden errichtet und islamische Feste öffentlich gefeiert. Die Frage nach »typischen tatarischen Eigenschaften« beantworteten viele der befragten Tataren ebenfalls mit einem Vergleich zwischen Russen und Tataren. Während sie die Russen als »rüpelhaft«, wenig gastfreundlich, dem Alkohol verfallen und wenig familienorientiert beschrieben, bezeichneten sie Fleiß, Gastfreundlichkeit, Ordnungsliebe und Gutmütigkeit als »typisch tatarisch«. Tatarische Identität wurde stets zunächst in Abgrenzung zu den Russen formuliert, darüber hinaus aber, in einem zweiten Schritt, weiter differenziert. So unterschieden die Interviewten z.B. zwischen Tataren, die in oder außerhalb von Tatarstan leben. Sie verbanden mit

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Siehe hierzu: http://odur.let.rug.nl/~bergmann/russia/regions/rus16ta.htm, Stand: 2002. 4 Der Interviewte verwendet den Begriff »Russländer« im Sinne von Einwohner Russlands. Diese Bedeutung wird im gesamten Beitrag beibehalten.

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Russische Muslime in Tatarstan und Dagestan

den Mischar-Tataren andere Eigenschaften als mit Tschelny- oder Kasan-Tataren. Letztere galten im Allgemeinen als die »wahren« Tataren und wurden von den Nicht-Kasan-Tataren oft als stolz und arrogant beschrieben. »Ich halte mich für eine Tatarin, selbstverständlich für eine Kasaner Tatarin. Wir sind doch bei Kasan geboren. Ich bin, wir sind Kasaner Tataren. Mischaren sind wir nicht, ungetauft sind wir, und natürlich sind wir keine kaukasischen Tataren und keine Krimtataren« (Tatarstan, eine Tatarin).

Neben der ethnischen und der territorialen stellt vor allen Dingen die religiöse Zugehörigkeit den wichtigsten Faktor tatarischer Identitätsbildung dar. »Und so blieb man im Grunde des Herzens … immer Muslim. Und deswegen, was immer man auch gemacht hat, wer an seinem Glauben festhielt, hielt sich nicht für einen Muslim, für einen Muslim hielt man sich nicht allzu sehr, für einen Tataren, für Tataren – die sind die gleichen geblieben, egal, ob man es verboten hat oder nicht« (Tatarstan, eine Tatarin).

Dies wird besonders in der Beziehung der muslimischen Tataren zu den Kriaschenen deutlich, Nachkommen von Tataren, die zur Zeit Iwan des Schrecklichen (1530-1584) zum Christentum konvertierten. Diese wurden von den meisten der Interviewten als eine eigenständige, quasi-ethnische Gruppe wahrgenommen, deren Angehörige zwar tatarisch sprechen und zur Zeit der Sowjetunion als christliche Tataren unterdrückt wurden, aber dennoch aufgrund ihres Verrats am Islam keine »echten« Tataren darstellen. Auf die Frage: »Welche Gruppen stehen Ihnen am nächsten?«, gaben viele der Interviewten eine Rangfolge an: »Welche Gruppen sind Ihnen … am nächsten? – Natürlich die Kasaner Tataren, dann Tataren aus Tatarstan, andere Tatarstaner, Muslime, Araber, Türken, Tschetschenen, Mischaren, Kriaschener, Dagestaner, Aserbaidschaner, Kasachen, Baschkiren, Russen aus Tatarstan, Russen aus Russland« (Tatarstan, eine Tatarin).

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Natalja Gontscharova

Am nächsten standen allen die Tataren der eigenen Region, gefolgt von den Tataren Tatarstans und den Muslimen. Die Russen aus Russland wurden erst zu einem späteren Zeitpunkt genannt. Dagestan In der Bergrepublik Dagestan lebt eine Vielzahl von ethnischen Gruppen, von denen die Awaren, Darginen und Kumücken zahlenmäßig am stärksten vertreten sind.5 Die meisten von ihnen sind Muslime und gehören der Rechtsschule der Schafiiten6 an. Der Anteil der russischen Bevölkerung beträgt nur ca. 9 %. Trotz oder gerade wegen dieser ethnischen Vielfalt bildeten sich in Dagestan bislang nur wenige nationalistische und separatistische Bewegungen aus. Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen tauchten in der Vergangenheit zwar auch hier verstärkt auf, doch ging es dabei weniger um ethnische Abbzw. Ausgrenzung als vielmehr um die Verteilung wirtschaftlichen und sozialen Kapitals (Omel’chenko/Pilkington/Sabirova 2002). So hängen die Zugangsmöglichkeiten zu Status erhöhenden sowie die wirtschaftliche Lage verbessernden Ressourcen nicht nur von ethnischen, sondern auch von Familienbindungen ab, da jeder Dagestaner, der eine Position mit hohem gesellschaftlichen Status erreicht hat, sich schnell mit Familienangehörigen umgibt und so ein familiäres Netzwerk aufbaut, das für Nichtangehörige eine nur schwer einnehmbare Barriere darstellt (Omel’chenko/Pilkington/Sabirova 2002). Innerhalb einer Familie werden durchaus interethnische Beziehungen eingegangen, denn neben der ethnischen Zugehörigkeit ist auch die regionale Herkunft für eine Heirat entscheidend. Viele der Interviewten bezeichneten sich in erster Linie nicht als Dagestaner bzw. Einwohner Dagestans. Sie nannten sich Gubdenen, Kubachen oder Majalis, entsprechend der Regionen, aus denen sie kamen. Darüber hinaus betonten sie, dass es kulturelle und religiöse Unterschiede zwischen den Angehörigen dieser Gruppen gäbe. Ebenso antworteten die Interviewten auf die Frage: »Wer steht Ihnen am nächsten?«, überwiegend in familiären und regionalen Kategorien: 5

Siehe hierzu: http://odur.let.rug.nl/~bergmann/russia/regions/rus05da.htm, Stand 2002. 6 Eine von Muhammad Ibn Idris as-Schafi’i (767–820 n. Chr.) gegründete Rechtsschule

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Russische Muslime in Tatarstan und Dagestan »Am nächsten sind uns die Leute aus dem eigenen Haus, dann – die Angehörigen, die Verwandten, dann die Nachbarn und weiter … die Leute aus dem Dorf« (Dagestan, ein Aware).

Die in Dagestan vorherrschenden Identifikationsmuster sind also im Gegensatz zu Tatarstan sehr viel komplexer. Die Identifikation mit der eigenen ethnischen Volksgruppe (Aware, Darginer, Kumücke) findet zwar statt, sie stellt aber neben dem familiären und dem territorialen Identifikationsmuster nur ein weiteres dar. Demtentsprechend erfolgt die Abgrenzung gegenüber den Russen bei weitem nicht in dem Maße wie in Tatarstan. Viele der interviewten Dagestaner identifizierten sich selbst als Russländer (rossijane): »Wir sind Angehörige Russlands«, aber auch die in Dagestan lebenden Russen äußerten eine innere Verbundenheit mit Dagestan: »Wir sind Russen von Dagestan. Solange wir in Dagestan leben, sind wir Russen Dagestans« (Dagestan, eine Russin). »Wir sind Dagestaner, nur russischer Nationalität« (Dagestan, eine Russin). Die meisten der interviewten Russen fühlten sich der dagestanischen Kultur näher als der russischen und hoben als dagestanische Eigenschaften besonders Gastfreundschaft, Familien- und Nachbarschaftshilfe sowie den Respekt vor den Alten hervor. Die »eigenen Leute«, womit sie die außerhalb Dagestans lebenden Russen meinten, beschrieben sie als rüpelhaft, egoistisch, faul und dem Alkohol verfallen. Der hohe Grad der Integration der Russen, ihrer Anpassung an die dagestanische Kultur mag zum einen auf ihre unbedeutende Anzahl zurückzuführen sein, zum anderen aber auch auf das allgemeine Klima der ethnischen Toleranz.

Das Bild über Russland und die Russen Die Einstellung zu Russland wird sowohl von den Interviewten in Tatarstan als auch in Dagestan unabhängig von ihrer Haltung zur restlichen Welt gebildet. Dabei wird die Zugehörigkeit zu Russland von manchen als gegeben hingenommen: »Sobald wir in Russland leben, eine russische Regierung haben und ein russisches Föderationsorgan sind, müssen wir die einheitlichen russischen Gesetze einhalten« (Dagestan, ein Zachur). Von anderen wiederum wird sie als Notwen225

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Natalja Gontscharova

digkeit betrachtet: »Tatarstan soll Russland angehören« (Tatarstan, ein Tatare). »Ohne Russland kommen wir nicht aus« (Dagestan, eine Darginerin). Bei der Formulierung ihrer Haltung zu Russland unterschieden die Interviewten zwischen der Bevölkerung Russlands, den in ihrer Republik lebenden Russen und der russischen Regierung. Besonders in Dagestan wurde eine solche Unterscheidung häufig geäußert. Während die meisten der interviewten Dagestaner der russischen Regierung gegenüber eher negativ eingestellt waren, zeigten sie für die Bevölkerung Russlands und für die »eigenen« Russen ein hohes Maß an Verständnis und Solidarität. Am russischen Staat wurde insbesondere dessen Kaukasuspolitik kritisiert. Teilweise wurde sogar Angst vor Russland geäußert. »Ich habe die Einstellung nicht zur russischen Nation selbst, sondern eher zur Regierung. Man schafft eine negative Einstellung zur kaukasischen Nationalität. Und worin besteht meine Schuld, dass ich Kaukasier bin? … Jetzt ist mir bange. Nicht gerade bange … Ich bin früher durch Russland gereist, als ich studierte. Jetzt bin ich seit sieben Jahren nicht in Russland gewesen … Wie man es zeigt: Razzien usw.« (Dagestan, ein Darginer). »Die Einstellung zu Russland ändert sich ständig. Sie wird immer schlechter, weil sie dazu beiträgt, die russische Regierung. Obwohl: Wer ist dort Russe? Gäbe es dort zumindest einen Russen, dann wäre es in Ordnung. Es gibt keine russische Regierung« (Dagestan, ein Aware).

Als Russländer bezeichneten die befragten Dagestaner alle Einwohner Russlands, »die Russländer – nicht als Russen – gelten als eine, als unsere Nation« (Dagestan, ein Darginer), während in Tatarstan der Begriff des Öfteren nur zur Beschreibung der ethnischen Russen verwendet wurde. Dies weist darauf hin, dass die Identifikation mit der Russischen Föderation in beiden Republiken unterschiedlich ausgeprägt ist. Während die Mehrheit der befragten Dagestaner den Zusammenbruch der UdSSR und damit den Wegfall gewisser stabilisierender Mechanismen bedauerte sowie sich für einen Verbleib in der Russischen Föderation aussprach, konnten sich viele Tatarstaner eine

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Russische Muslime in Tatarstan und Dagestan

Abspaltung von Moskau vorstellen oder aber wünschten sich zumindest mehr Souveränität innerhalb der Föderation. In Dagestan äußerten viele der Interviewten die Ansicht, dass sich sowohl ihre als auch die Einstellungen ihrer »Landsleute« gegenüber den Russen kaum oder gar nicht geändert hätten, dass aber die Russen insbesondere seit dem Ausbruch des Kaukasuskonfliktes eine veränderte Haltung gegenüber den anderen ethnischen Volksgruppen eingenommen hätten. So würde gerade das negative Bild, das die außerhalb Dagestans lebenden Russen vom Kaukasus und seinen Menschen entwerfen, die ethnischen Konflikte in dieser Region anheizen und den separatistischen Strömungen einen guten Nährboden bieten. »Wir sind verschieden, aber man behandelt uns gleich – wie schwarze Kaukasier eben« (Dagestan, ein Darginer). Die »eigenen« Russen hielten die Dagestaner für gut in ihre Gesellschaft integriert. »Zu Russen hatte man in Dagestan immer eine wunderbare Einstellung. Eine solche Einstellung hat man auch heutzutage. Haben Sie jemals gehört, dass es in Dagestan etwas gegen russische Familien oder russische Personen gäbe? Nein. Und Sie werden so etwas nicht hören. Es gibt keine andere Republik im Kaukasus, die sich den Russen gegenüber so gut verhält« (Dagestan, ein Darginer).

In Tatarstan dagegen unterschieden die Befragten weniger zwischen »in«- und »ausländischen« Russen. Ihrer Meinung nach seien die meisten Russen »Nationalisten«, was bedeutete, dass sie an Tatarstan als einer der Russischen Föderation angehörenden Republik festhielten. Die Beziehungen zu den Russen wurden oft vor dem Hintergrund der russisch-tatarischen Vergangenheit beschrieben, die durch Unterdrückung der tatarischen Sprache, Kultur und des Islam gekennzeichnet war. »Früher haben die Russen die Tataren gekränkt. Wir fuhren z.B. in Kasan mit der Straßenbahn und wenn wir begannen Tatarisch zu sprechen – sofort, als ob es eine Fremdsprache wäre, haben uns die Russen gehasst. Jetzt gibt es eine rechtliche Gleichstellung. Früher hat man [uns] stark unterdrückt« (Tatarstan, eine Tatarin).

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Natalja Gontscharova »Egal ob Russen oder Tataren – sie sind in Tatarstan gleichberechtigt. Keiner macht da Unterschiede. Jetzt gibt es eine rechtliche Gleichstellung, eine hundertprozentige Gleichstellung« (Tatarstan, ein Tatare).

Omel’chenko, Pilkington und Sabirova (2002) sprechen in diesem Zusammenhang auch von einem »national grievance complex« (ebd.: 211), in dem sich die tatarische Identität ausdrückt. Für die Umschreibung der Beziehungen zu Russland haben viele der Befragten sowohl in Tatarstan als auch in Dagestan das Bild der Familie benutzt. Russland wurde entweder als der ältere Bruder, die nährende Mutter oder als Nachbar betrachtet: »Wir haben das russische Volk für den älteren Bruder gehalten. … Nachdem es für den älteren Bruder unter allen Nationen gehalten wurde, weil es ja älter ist – es ist doch schon ein Greis. Und der Nachwuchs wird bald seinen Platz einnehmen« (Tatarstan, ein Tatare). »Heutzutage ernährt Russland Dagestan nicht mehr. Man verzögert die Auszahlung der Rente, man verzögert die Auszahlung des Kindergeldes, Löhne bekommt man gar nicht. Russland wird uns ohnehin nicht ernähren. Man muss an den Tag denken, an dem uns Russland nicht mehr ernähren wird. Man denkt schon jetzt daran. Aber sie müssen doch die Leute unterhalten!« (Dagestan, ein Kumücke). »Man sollte sich von Russland abgrenzen, es ist sogar notwendig, denn es bindet unsere Wirtschaft. Dass wir stets von den russischen bzw. von den Moskauer politischen Umwälzungen abhängig sind, das lässt uns zittern, lässt uns nicht arbeiten, uns ruhig entwickeln. Natürlich sollte man keine Grenzen ziehen. Die Wirtschaft sollte uns nahe stehen, wir sollten ein gutes Verhältnis zueinander haben. Alte Wirtschaftsbeziehungen sollen erhalten bleiben, neue sollen entstehen. Aber die Herren über das Land – das müssen wir selbst sein, eine eigene Verfassung haben, ein eigenes Parlament, eine eigene Armee« (Tatarstan, ein Tatare).

Vor allen Dingen in Tatarstan wurde häufig das Bild des älteren Bruders »Russland«, der ge- und enttäuscht hatte, verwendet, während in Dagestan das Bild von der nährenden Mutter oder des Nachbarn vorherrschte. 228

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Russische Muslime in Tatarstan und Dagestan »Wir haben das russische Volk für den älteren Bruder gehalten, er hat uns allerdings in der letzten Zeit im Stich gelassen, er trinkt viel Wodka und arbeitet nur in Abständen, mal gibt es Revolutionen, mal Fünfjahrespläne. Gerade diese Politik gegenüber den anderen Völkern, und die Undiszipliniertheit dazu – das wirkt sich auf die Gesellschaft nicht sehr gut aus« (Tatarstan, ein Tatare).

Der Islam in Tatarstan und Dagestan Sowohl in Tatarstan als auch in Dagestan herrschen sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Rolle des Islam in der Gesellschaft vor. Insgesamt zeigten die Interviews jedoch, dass der Islam als politische Kraft in beiden Republiken mehrheitlich abgelehnt wird. Viele der Befragten empfanden die Einführung der shariat als reaktionär und vermuteten hinter den islamischen Bewegungen, Bekundungen und Demonstrationen eher machtpolitische Bestrebungen sowie wirtschaftliche Interessen. »Wenn der reine Islam herrschen würde, würde dasselbe wie in Tschetschenien passieren. Dort wird heute Blut für reinen Glauben vergossen. … In Afghanistan ist das auch so, man sagt, dass man dort auch für den reinen Glauben kämpft. Und jetzt zeigt es sich, dass man dort nicht um den Glauben, sondern um Drogen und um Geld kämpft. Sie suchen Absatzmärkte. Und deswegen hat man den ganzen Krieg dort angefangen« (Tatarstan, eine Russin).

Darüber hinaus hielten viele der Interviewten »ihren« Islam für gemäßigter. Für sie hing die Art und Weise, wie der Islam in einer Gesellschaft gelebt und ausgeübt wird, stark von ihren kulturellen Eigenheiten und Traditionen ab. »Fundamentalisten sind sehr aggressiv. Davon gibt es genug in der islamischen Welt. Das liegt aber nicht am Islam. Hier treten in mancher Hinsicht nationale Eigentümlichkeiten zutage. Islam in der Hand eines Volkes – das ist eine Sache, in der Hand eines anderen Volkes … Hier kommt mehr Psychologie, Mentalität zum Vorschein, eine Art des Geisteskampfes sozusagen mit Waffen in der Hand« (Tatarstan, ein Tatare).

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Natalja Gontscharova

Während also die meisten der Befragten die Einführung der shariat ablehnten, befürworteten sie die Rolle des Islam als moralisch-ethischer Wegweiser innerhalb der Gesellschaft. Sie begrüßten den Bau neuer Moscheen, die (Er-)Öffnung islamischer Bildungseinrichtungen und die wiedergewonnenen Freiheiten in der Ausübung ihrer Religion. Gegenüber dem Christentum betonten sie, dass die Ausübung der Religion die persönliche Angelegenheit des Einzelnen bleiben sollte und somit keine Möglichkeit zur Konfrontation bestünde. Manche äußerten sogar die Ansicht, dass Christentum und Islam eins seien, weil sie zum gleichen Ziel hinführen: den Glauben an Gott. »Ich glaube nicht, dass er sich unterscheidet. Wir glauben alle an einen Gott, wir beten alle einen Gott an, wir können halt verschiedene Begriffe für ihn haben. Wenn der Glaube auch verschieden ist, das Wesen ist doch eins. Ich habe nichts über das Christentum gelesen, aber es gibt doch nur einen Gott. Sie [die Bücher – Anm. der Autorin] sind bloß in verschiedenen Sprachen geschrieben« (Tatarstan, eine Tatarin). »Als mein Mann gestorben war, habe ich alles ohne Ausnahme gelernt – das Russische und Nichtrussische. Ich bin eben der Meinung, dass wir unterschiedliche Sprachen sprechen, aber nur einen Glauben haben. Wir haben die Menschen in Christen, in Muslime geteilt. Wenn es einem schlecht geht, ist es gleich, welcher Religion er angehört. Mir scheint, dass es keinen Unterschied macht, welchen Glauben man hat, wenn man nur gutherzig, gut ist« (Dagestan, eine Darginerin).

Der Islam in Tatarstan Schon im 16. Jahrhundert fiel Tatarstan unter die Oberherrschaft des russischen Zaren. Somit unterlagen die Tataren von allen muslimischen Völkern Russlands am längsten den Einflüssen russischer Kultur und Politik sowie den wiederholten, teilweise mit massiver Gewalt ausgeübten Missionsbestrebungen der orthodoxen Staatskirche. Dennoch blieb die Mehrheit der Tataren muslimisch, und im 19. Jahrhundert entwickelte sich Kasan sogar zu einem intellektuellen Zentrum der damaligen islamischen Welt (Halbach 1996: 20f.). Aus dieser Konstellation heraus, dem engen Zusammenleben von Muslimen und orthodoxen Christen, der Beeinflussung durch russische Politik und Kultur und der daraus resultierenden Orientierung an Europa und seinen 230

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Russische Muslime in Tatarstan und Dagestan

Ideen der Aufklärung, entwickelte sich im 19. Jahrhundert der Dschadidismus, eine Reformbewegung des Islam, die sich um seine Neubestimmung in der Moderne bemühte. Philosophie und Wissenschaft sollten nicht mehr der shariat unterworfen, sondern autonom sein (Rorlich 1986). Viele der führenden Mitglieder dieser Bewegung fielen den stalinistischen Säuberungen zum Opfer (Halbach 1996: 21f.), sodass sie insgesamt zum Erliegen kam. Obwohl die spätere sowjetische Religionspolitik die islamischen Bildungsinstitutionen liquidierte und den Islam auf nationales Brauchtum und rituelle Praxis reduzierte, konnte sie ihn letztendlich nicht aus ihrem Machtbereich beseitigen. Wie Sabirova in ihrem Beitrag (i.d.B.) aufzeigt, hielten zur Zeit der Sowjetunion große Teile der tatarischen Bevölkerung an islamischen Ritualen und Bräuchen fest und betrachteten diese überwiegend als ein »nationales« Erbe. Darüber hinaus weisen Omel’chenko und Sabirova (2002) auch darauf hin, dass die ethnische Identifikation als Tatar gleichzeitig eine Identifikation als Muslim impliziert. »Islam in Tatarstan is thus an ethno-religious phenomenon in which Muslim identity is a genetic inheritance« (ebd.: 177). Die Prozesse der »nationalen« und »islamischen Wiedergeburt« in Tatarstan sind also eng miteinander verbunden. Hinsichtlich ihrer Rückbesinnung auf den Islam knüpften die meisten der befragten Tataren an die gemäßigten Haltungen des Dschadidismus an. So lehnten sie die Einführung der shariat als Rechtssystem konsequent ab, wünschten sich andererseits aber eine stärkere Verbindung zwischen Staat und Islam, ohne jedoch näher darauf einzugehen, wie eine solche aussehen könnte. Einige wenige präzisierten, dass bestimmte Vorschriften und Gesetze der shariat – hier meinten sie insbesondere die zivilrechtlichen Regulierungen – vom Staat übernommen werden sollten. Allerdings konnte im Verlauf der Interviews festgestellt werden, dass fast alle der Befragten nur vage Vorstellungen darüber hatten, wie ein Staat funktioniert. Oft setzten sie Staat mit Gesellschaft gleich, in anderen Fällen meinten sie die Regierung. Darüber hinaus besaßen die wenigsten genaue Kenntnisse über die shariat und ihre Inhalte. Nur eine sehr kleine Minderheit der Befragten sprach sich für einen islamischen Staat Tatarstan aus.

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Natalja Gontscharova

Der Islam in Dagestan Der Islam in Dagestan zeigt entsprechend der dort vorherrschenden ethnischen Differenzierung ein sehr uneinheitliches Erscheinungsbild. Größtenteils gemeinsam ist allen dagestanischen Muslimen, dass sie Schafiiten sind und bei der Auslegung der Sunnah einer mystischsufischen Methode folgen. Je nach ethnischer und territorialer Zugehörigkeit praktizieren sie jedoch unterschiedliche örtliche Kulte, die u.a. Heiligenverehrungen, Wundererlebnisse und die Verehrung heiliger Stätten beinhalten. In Dagestan hatten die islamischen Gelehrten (ulama) schon von jeher einen großen Einfluss auf das geistige und politische Leben. Über 2.000 religiöse Schulen existierten vor 1917, in denen die arabische Sprache, die arabische Literatur und islamische Theologie gelehrt wurden. Eine breite geistliche Schicht bildete sich aus, die in regem Kontakt zur arabischen Welt stand. Deshalb blieb Arabisch auch bis in die sowjetische Zeit hinein die Lingua franca in Dagestan. Nach 1917 verschwand der Islam aus dem öffentlichen Bereich und driftete in die Informalität der trotz der sowjetischen Politik der »nationalen Konsolidierung«7 größtenteils intakt bleibenden ethnischen Sippenverbände ab. Während der Perestrojka bekam er wieder die Möglichkeit, sich öffentlich darzustellen sowie für sich zu werben, sodass allmählich ein Prozess einsetzte, der als »islamische Wiedergeburt« bekannt ist. Die Zahl der Moscheen wuchs stetig. Waren es 1988 nur 27, so konnten 1998 ca. 2.000 erfasst werden (Eremin 1997). Darüber hinaus wurden fünf islamische Institute gegründet: in Machatschkala, Gergebil und Kisljar eins, in Bujnaksk zwei. Bujnaksk gilt als das islamische Bildungszentrum im Nordkaukasus. Diesen Prozess als fundamentalistische Gefahr zu deuten, wie er in der russischen Presse durchaus gerne dargestellt wird, hieße, ihm ein das Völkergemisch vereinigendes Potenzial zuzuschreiben, das er 7 Diese Politik verfolgte das Ziel, kleinere Volksgruppen an größere zu assimilieren und betraf insbesondere die muslimischen Bergvölker. Dies hatte zur Folge, dass sich zwischen ihnen und der betreffenden dominanten Volksgruppe die Auseinandersetzungen um Personen und Posten in lokalen Machtstrukturen häuften. Diese Politik schuf somit ein ethnopolitisches Konfliktpotenzial, das wegen gewisser Stabilisierungsmechanismen des sowjetischen Herrschaftssystems nicht an die Oberfläche drang.

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bei weitem nicht hat. Der Prozess der islamischen Wiedergeburt vollzieht sich unter den verschiedenen Volksgruppen sehr unterschiedlich. So zeigt er im Nordwesten, in den Verwaltungsgebieten der Awaren, Darginen und Kumücken eine stärkere Ausprägung als in der übrigen Republik. Darüber hinaus haben einige ethnische Gruppen eine eigene geistliche Verwaltung eingerichtet: so z.B. die Kumücken in Machatschkala, aber auch die Darginen, Laken und Lesginen. Eine monolithische islamische Bewegung wird also durch die ausgeprägte polyethnische Struktur eher verhindert. So kann es auch nicht verwundern, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten in Dagestan, von denen den meisten die Völkervielfalt der Republik und die potenziellen ethnischen Konflikte bewusst waren, einen islamischen Staat und die Einführung der shariat als staatliches Gesetz ablehnte. Sie sprach sich für einen laizistischen demokratischen Staat und uneingeschränkte Religionsfreiheit aus. Darüber hinaus glaubten viele der Befragten, dass die Inhalte und Regeln der shariat im Widerspruch zu den Adat-Traditionen stünden und hielten deshalb deren Einführung und Einhaltung für wenig realistisch. Insgesamt konnte anhand der Interviews festgestellt werden, dass die meisten der Befragten kaum Kenntnisse über den Islam und die shariat besaßen. Diejenigen, die eine Einführung des islamischen Rechts befürworteten, betrachteten es als das einzige adäquate Mittel zur Bekämpfung der sprunghaft angestiegenen Kriminalität und zur Behebung der desolaten wirtschaftlichen Lage. Die Wahhabiten »Warum entstand die Bewegung der Wahhabiten? Das ist eine politische Frage« (Dagestan, ein Kumücke).

In der russischen Politik und Presse werden mit dem Begriff »Wahhabiten« verschiedene staatsfeindliche und z.T. radikalisierte islamische Bewegungen bezeichnet, die sich selbst nicht immer als solche betrachten. Der Begriff geht zurück auf die in Saudi-Arabien vorherrschende »puritanische« Variante des sunnitischen Islam, die sufische Auslegungen und Praktiken kategorisch ablehnt und sich auf den »reinen

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Islam«, auf die »eigentliche Lehre« des Propheten und seiner unmittelbaren Nachfolger beschränkt. Charakteristisch für viele der politisierten islamischen Bewegungen im Kaukasus ist, dass sie die völlige Trennung ihrer Republik von Russland anstreben. Dies gilt insbesondere für die radikalen islamischen Gruppen in Tschetschenien, die über die Loslösung ihrer Republik hinaus auch die »Befreiung Dagestans« zum Ziel haben. Dabei berufen sie sich auf das Imamat Schamils8, das zwischen 1840 und 1859 Tschetschenien sowie weite Teile Dagestans zu einem islamischen Staat zusammenfasste. Allerdings praktizierte der Imam Schamil den »Müridismus«, eine Lehre des Islam, die eher der im Kaukasus vorherrschenden sufischen Theosophie und Mystik nahe stand und sich deshalb, im Gegensatz zu dem den »reinen Islam« propagierenden Wahhabismus, gut mit der traditionellen Lebensweise des »Adat« verbinden ließ. Der Name »Müride« bedeutet »Wahrheitssucher«.9 Schon die Annahme, dass die Wahrheit gesucht werden muss, muss den Anhängern des Wahhabismus ein Gräuel sein, da die Wahrheit für sie im Koran und in der Sunnah enthalten ist. Die radikalen islamischen Gruppen Tschetscheniens verwenden in ihrer Selbstdarstellung weder den Begriff »Müridismus« noch den Begriff »Wahhabismus«. Dies mag u.a. daran liegen, dass nicht der Islam Motiv und Grundlage ihres Handelns darstellt, sondern ein säkularer tschetschenischer Nationalismus mit dem Ziel, sich von Russland loszulösen. Ebenso bezeichnen sich nur wenige islamische Gruppen oder Muslime in Dagestan als »Wahhabiten« und dies insbesondere dort, wo islamische Missionare aus dem Nahen Osten predigen (vgl. Poljakova 1998). Das Bild, das sich die meisten der Befragten in Dagestan und Tatarstan vom wahhabitischen Islam und dessen Anhängern machten, war diffus und eher negativ gefärbt. Viele setzten den Wahhabismus mit einem gewaltbereiten islamischen Fundamentalismus und die 8 Der Imam von Dagestan und Tschetschenien, Schamil, konnte im 19. Jahrhundert gegen die zaristisch-russischen Eroberungen im Kaukasus 30 Jahre lang Widerstand leisten. Erst 1859 musste er sich mit seinen Truppen ergeben. Zunächst ging er ins Exil nach Russland, später auf eigenen Wunsch nach Medina in Saudi-Arabien, wo er starb. 9 Ausführlich dazu: Schimmel 1985

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Wahhabiten mit Terroristen gleich, was u.a. auf ihre mangelnden Kenntnisse über den Islam und die wahhabitische Lehre zurückzuführen ist. Besonders in Tatarstan war dieser Informationsmangel deutlich zu spüren. So wurde oft entsprechend der russischen Presse argumentiert und der Wahhabismus für die radikalisierte und gewaltträchtige Situation in Tschetschenien verantwortlich gemacht. Auch das Argument, dass die arabischen Länder, insbesondere Saudi-Arabien mit seinen »Dollar-Millionen«, die Bewegung trügen und den Kaukasus missionieren wollten, wurde des Öfteren angeführt. Insgesamt hielten die meisten Tatarstaner eine Ausbreitung des Wahhabismus in ihrer, wie sie meinten, »europäisierten« Republik für abwegig. In Dagestan dagegen besaßen viele der Befragten Angehörige, die zum Wahhabismus konvertiert waren, oder aber sie konnten selbst an Gottesdiensten und ähnlichen Veranstaltungen der Wahhabiten teilnehmen. Somit haben die meisten über die Informationen aus der russischen Presse hinaus eigene Erfahrungen mit Wahhabiten gesammelt. Insgesamt lehnte die überwiegende Mehrheit der Befragten in Dagestan den Wahhabismus ab. Sie betrachteten ihn als eine »nicht islamische«, »gewaltbereite«, »fanatische« Lehre, »geschaffen, um die Muslime Dagestans zu entzweien«. »Jetzt wird es bei uns ja Wahhabismus … genannt, es ist nicht gut … auch zur Gewalt … geht schon in diese Richtung. Das nehmen wir nicht an. Nicht in dem Sinne, dass dies etwas Nichtislamisches sei, sondern dass es sich um Gewalt handelt. Denn ich möchte nicht, dass es sich verbreitet. Die Menschen, die etwas davon verstehen, lehnen das auch alles ab« (Dagestan, eine Darginerin).

Seine Anhänger wurden auch als »Abtrünnige des Islam«, als »Verräter des Propheten bezeichnet«, und nicht selten wurde darauf hingewiesen, dass die Riten und Rituale der Wahhabiten den Adat-Traditionen widersprächen. Einige der Informanten hatten sich sogar organisiert, um die Bevölkerung des eigenen Dorfes sowie der Nachbardörfer über die wahhabitische Bewegung aufzuklären. »Und als Bürger dieses Rajons, als intelligenter Mensch, gehört es zu meinen Funktionen und zu meinen Pflichten als Muslim, diesen Wahhabismus bei uns im Rajon nicht zuzulassen. Wir pflegen die Ortschaften zu besuchen und

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Natalja Gontscharova warnen die Menschen dort. Das ist eine gefährliche Bewegung. Ich weiß nicht, wer an ihrer Spitze steht, aber dieser Mensch hat gewiss seine eigenen Interessen. … Wir beschützen unsere Leute vor der Bewegung der Wahhabiten. Wir beschützen sie gründlich« (Dagestan, ein Zachur).

Besonders in Dagestan wurde des Öfteren die Meinung geäußert, dass sich der Wahhabismus von den arabischen Ländern, insbesondere von Saudi-Arabien oder von Tschetschenien aus nach Dagestan verbreite. Die Befragten beschrieben ihn als ein externes Phänomen sowie als ein für einige politische Persönlichkeiten und Gruppen geeignetes Instrument, um interethnische Spannungen im multiethnischen Dagestan zu säen.

Der Tschetschenien-Konflikt und seine Auswirkungen Der Tschetschenien-Konflikt wird in Tatarstan und Dagestan unterschiedlich wahrgenommen. Dies ist u.a. auf den unterschiedlichen Grad an Betroffenheit zurückzuführen. Während Tatarstan einige Tausend Kilometer entfernt liegt und nur wenig historische sowie keine ethnisch-kulturellen Gemeinsamkeiten mit Tschetschenien aufweist, grenzt Dagestan nicht nur an Tschetschenien, sondern beide Regionen sind ethnisch sowie kulturell eng miteinander verbunden und teilen eine höchst ereignisreiche Geschichte des gemeinsamen Widerstands gegen die Einverleibung in das russische Kaiserreich, die ihren Höhepunkt in einem gemeinsamen islamischen Staat unter der Führung des Imam Schamil hatte. Auf Tatarstan haben die Konflikte in Tschetschenien dementsprechend keinen besonderen Einfluss, während sie in Dagestan äußerst destabilisierende Wirkungen zeigen. Besonders die durch sie ausgelösten unkontrollierten Migrationen haben die Stabilität des »Vielvölkerlabyrinths« Dagestan, die auf einer »in den staatlichen Strukturen der Republik austarierten ethnopolitischen Balance« (Halbach 1999: 18) fußt, empfindlich gestört. Während des Krieges wurde Dagestan zeitweise zu einem Zufluchtsort für 200.000 Flüchtlinge (ebd.: 12), davon kamen 70.000 Tschetschenen besonders in den grenznahen Gebieten, die ursprünglich zu Tschetschenien gehörten, bei Verwandten und Bekannten unter. Wie viele dieser Tschetschenen sich heute noch dort aufhalten, ist unbekannt. 236

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Zusätzlich kehrten während der Perestrojka die unter Stalin zwangsumgesiedelten tschetschenischen Stämme in diese Region zurück, in die jedoch zwischenzeitlich Kumücken, Awaren und Laken angesiedelt worden waren, und forderten die Rückgabe ihres Landes als Entschädigung für ihre damalige Deportation. Konflikte zwischen den einzelnen Volksgruppen brachen immer häufiger aus, sodass sich die dagestanische Regierung gezwungen sah, Umsiedlungsprogramme einzuleiten. So drängte sie die Laken, die Grenzgebiete zu verlassen und sich in der Umgebung der Hauptstadt Machatschkala anzusiedeln. Allerdings schuf die Regierung nicht die nötigen materiellen Anreize, sodass die Laken blieben, sich bewaffneten und Selbstschutzgruppen auf ethnischer Grundlage organisierten. Zu Beginn des Tschetschenienkrieges äußerten die meisten Dagestaner sehr viel Sympathie für die Tschetschenen und betonten die historischen und ethnisch-kulturellen Gemeinsamkeiten. Gegen Ende 1990 hatte sich ihre Haltung jedoch stark verändert. Dagestanische Grenzdörfer waren aufgrund der nicht kontrollierbaren Grenze häufig von Tschetschenen angegriffen und geplündert sowie zahlreiche dagestanische Reisende und Geschäftsleute gekidnappt und freigepresst worden. In den Augen vieler Dagestaner haben die Tschetschenen mit diesen Maßnahmen den Verhaltenskodex der Kaukasier und die Regeln des Islam verletzt und somit das nachbarschaftliche Verhältnis gestört. »Ich kann die Tschetschenen, ehrlich gesagt, nicht leiden. Wir mögen sie hier nicht. Ich halte keinen Tschetschenen für meinen Bruder« (Dagestan, ein Rutuler).

So kann die derzeit in Dagestan vorherrschende anti-tschetschenische Haltung als das Ergebnis einer »history of marauding and lifestock rustling along the Chechen border« (Ware/Kisriev 2000: 28) betrachtet werden, was auch durch die Schilderungen der Befragten in Dagestan bestätigt wurde. Die meisten stellten die Tschetschenen als eine introvertierte, sich nach außen abgrenzende Volksgruppe dar, die kein Interesse daran habe, mit den anderen Gruppen Dagestans zu interagieren. Einige führten die in Tschetschenien vorherrschenden Probleme und Konflikte u.a. auch auf die Bewegung der Wahhabiten zurück, die, ihrer Meinung nach, von dort aus nach Dagestan vordringe. 237

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Natalja Gontscharova »Ich mag solche Leute nicht, die in Tschetschenien sind. Da gibt es auch Wahhabiten. … Was geben sie dem Volk? Sie lehren dort nur Töten und Stehlen« (Dagestan, ein Rutuler).

Viele Dagestaner äußerten die Angst, dass sich die Konflikte in Tschetschenien, insbesondere die nationalistischen tschetschenischen Strömungen, destabilisierend auf Dagestan auswirken könnten. So gaben einige in diesem Zusammenhang an, dass sich auch in Dagestan bereits nationalistische Bewegungen herausgebildet hätten, die mit ihren Forderungen das sensible Gleichgewicht der Vielvölkergemeinschaft langsam zerstören würden. »Wenn in Dagestan so ein Konflikt wie in Tschetschenien ausbricht, wird es noch schlimmer als in Tschetschenien sein. In Tschetschenien sind nur Tschetschenen, aber Dagestan ist multinational« (Dagestan, eine Darginerin). »In der letzten Zeit haben diese Umgestaltungen gewissermaßen zu Störungen geführt. Die einen stellen ihre Interessen höher als die der anderen, und die anderen, sobald ich stark genug bin, sollen sich mir unterordnen. In letzter Zeit sind solche Strömungen in unserem Rajon aufgetaucht. So wurden etwa eine awarische und eine darginische Bewegung geschaffen – sie schaffen alle Feindlichkeit zwischen den Völkern« (Dagestan, ein Zachur).

Dagestan wird neben den interethnischen zunehmend von sozialökonomischen Problemen heimgesucht, wobei sich beide Problemarten gegenseitig verschärfen. Durch den Zusammenbruch der UdSSR entfielen nicht nur die umfangreichen Subventionen aus Moskau, auch die von der Rüstung geprägte Industrie brach komplett zusammen und entließ Tausende in die Arbeitslosigkeit. Zusätzlich verteuerten sich durch die »Rückkehrer« aus den Bergen und die Flüchtlinge aus Tschetschenien die Bodenpreise im Flachland, was die Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Volksgruppen um diese knappe Ressource erst recht anheizte. In dem weniger betroffenen Tatarstan dagegen wurde die Haltung gegenüber Tschetschenien von der Idee der »muslimischen Einheit« geprägt. Im Gegensatz zu denen in Dagestan bezeichneten die Befragten in Tatarstan die Tschetschenen als »aufrichtige« Muslime und bewunderten ihren nationalen Stolz. Weil Tschetschenen wie Tataren 238

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Muslime sind, sollten ihrer Meinung nach die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern intensiviert werden. Einige wenige, die sich selbst als besonders religiös beschrieben, forderten sogar die muslimische Einheit mit Tschetschenien. »Alle Muslime sollen sich zu einer geballten Faust zusammenschließen, sich in einer Faust halten, Einheit muss sein. Die Vereinigung muss auf der Grundlage der Religion und Kultur sein« (Tatarstan, eine Tatarin).

Die meisten der interviewten Tatarstaner lehnten die russische militärische Invasion in Tschetschenien ab und hielten vor diesem Hintergrund die terroristischen Bewegungen und Aktionen der Tschetschenen für gerechtfertigt. »Als sich das tschetschenische Volk verteidigen musste, haben sie natürlich zu terroristischen Mitteln gegriffen; sie haben sie aber viel seltener angewandt als Russland gegen sie« (Tatarstan, ein Tatare).

Dies gilt auch für viele der Befragten in Dagestan, die trotz aller Kritik und den geäußerten Befremdungen gegenüber den Tschetschenen die militärische Intervention Russlands entschieden ablehnten. »Warum tun die Tschetschenen so? … Gäbe man ihnen die Chance: Da habt ihr sie, lebt! Da habt ihr euren Raum. Und dass man sie sich selbst zurechtfinden lässt, wie sie wollen. Sagt: Lasst uns die äußere Grenze [das ist unser Territorium eines einheitlichen Russlands] und macht hier, was ihr wollt – das steht euch frei. Da ist eure Wirtschaft, wir greifen nicht ein. Der Effekt dürfte ein anderer sein. Aber dass man mit Panzern, mit Maschinengewehr zähmt … Soll man morgen zu uns kommen – ob ich will oder nicht – da greife ich auch zur Waffe. Ob nun die Deutschen oder die Araber kommen – ich muss meine Heimat verteidigen« (Dagestan, ein Darginer).

Souveränität oder Teil der Russischen Föderation? Die gesellschaftlichen Diskurse in Tatarstan und Dagestan über die Souveränität bzw. Autonomie der eigenen Republik unterscheiden sich stark voneinander. Während die tatarische Regierung in den 1990er 239

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Jahren die Unabhängigkeitsbewegungen und nationalistischen Aktivitäten nicht nur duldete, sondern darüber hinaus auch unterstützte, um in Moskau größere Zugeständnisse in Richtung wirtschaftlicher und politischer Autonomie zu erreichen, versuchte die Regierung Dagestans die nationalistischen Bestrebungen im eigenen Land zu unterdrücken. Sie betrachtete den Verbleib in der Russischen Föderation als Garant für die Einheit des Vielvölkerstaates. Darüber hinaus war sie sich der starken wirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland bewusst. Ein Wegfall der finanziellen Unterstützung aus Moskau hätte katastrophale Folgen für die ohnehin schon desolate wirtschaftliche und soziale Situation in Dagestan gehabt. Dagegen spricht in Tatarstan schon die geographische Lage gegen eine Abspaltung: Es liegt mitten in Russland und hat keine gemeinsamen Grenzen mit anderen Staaten. »Hätten wir, wie in Tschetschenien, an der Grenze gelebt, so hätten wir uns schon lange von Russland abgetrennt. Wir aber befinden uns in der Mitte. Wir können nirgends mehr hin, wir sind umgeben von Russland. Wir können nirgendwo hin. Wir wünschen eine Unionsrepublik wie sie – an der Grenze – zu sein, aber wir befinden uns in der Mitte« (Tatarstan, ein Tatare). »Tatarstan kann sich nicht abtrennen, … denn es befindet sich mitten im Herzen Russlands« (Tatarstan, ein Tatare).

Diese unterschiedlichen Entwicklungen und Hintergründe wurden auch in den Interviews deutlich. So fiel in Tatarstan auf, dass die meisten der Befragten den Begriff »Souveränität« nicht im Sinne einer vollständigen Unabhängigkeit verwendeten, sondern im Sinne einer Teilsouveränität bzw. (kulturellen) Autonomie, die sich auf einzelne Bereiche der Wirtschaft, der Politik und des gesellschaftlichen Lebens bezieht. »Tatarstan soll souverän sein … für die Erziehung des Nachwuchses, Erziehung im Geiste des Islam. Souveränität muss sein« (Tatarstan, eine Tatarin). »Mit Russland zusammenbleiben, aber eine selbständige Lebensweise führen« (Tatarstan, ein Tatare).

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In Dagestan dagegen wurde der Begriff »Souveränität« selten verwendet. Die Abspaltung von Russland wurde meistens mit dem Verweis auf die wirtschaftliche Abhängigkeit und die Gefahr für die Einheit abgelehnt. »Einerseits ist es historisch bedingt – die Existenz eines einheitlichen volkswirtschaftlichen Komplexes auf dem Territorium der UdSSR. Aber heutzutage bleibt Dagestan – im Gegensatz zu Tatarstan – in sozialökonomischer Hinsicht mehr auf Russland angewiesen. Im vorigen Jahr hat man die Analyse der Formierung des Republikhaushalts durchgeführt. 87 % des Haushaltes kommen vom Zentrum, aus Russland, das ist halt ein Gnadengeschenk. 13 % des Haushaltes werden von der Republik erwirtschaftet. Das besagt, dass es in der Republik keine Produktion gibt. Wenn die Produktion nicht funktioniert, gibt es keine Steuereinnahmen. Daraus folgt, dass es keine Arbeitsplätze usw. gibt. Die Menschen leben nur noch von Sozialleistungen« (Dagestan, eine Darginerin).

Insgesamt herrschten unter den Befragten weder in Tatarstan noch in Dagestan Sezessionsideen vor. Und während in Tatarstan verschiedene Konzepte föderaler Beziehungen zu Russland formuliert wurden, die sich in Art und Ausmaß der Souveränität unterschieden, besaßen in Dagestan nur wenige genaue Vorstellungen über mögliche Föderationsformen mit Russland. »Ich glaube, es sollte eine Konföderation werden. Und wenn es doch eine Föderation wird, dann soll sie normal sein, und nicht so, wie sie heute ist. Und die Gesetze sollen nicht von der Staatsduma, sondern von einem Föderationsrat verabschiedet werden, in dem die Stimmen von Tatarstan und Russland gleichwertig sind …« (Tatarstan, ein Tatare). »Ich glaube, dass es irgendein anderes Gesetz von Föderalismus geben sollte [und] andere Beziehungsmechanismen zwischen dem Zentrum, den Regionen usw., damit sich der Staat entwickelt und jede Region ihren Verhältnissen entsprechend leben kann. Wie man arbeitet, so soll man leben« (Dagestan, ein Darginer).

Unabhängig davon, ob die Befragten die Unabhängigkeit für ihre Republik oder den Verbleib in der Russischen Föderation wünschten, alle 241

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betrachteten Russland als den wichtigsten politischen wie wirtschaftlichen Partner. »Die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kontakte soll Tatarstan in erster Linie … mit Russland entwickeln« (Tatarstan, ein Tatare).

Die Orientierung nach Europa oder Asien sollte stets in Übereinstimmung mit Russland erfolgen. Einige der Befragten verwiesen sogar darauf, dass die GUS als Kooperationsform der ehemaligen sowjetischen Republiken ein Anfang sei, den es auszubauen gelte. Neben Russland als wichtigsten Partner wurden vor allen Dingen die zentralasiatischen Staaten sowie Indien, Japan, Korea und China genannt. Die überwiegende Mehrheit der Befragten sprach sich weniger für eine Orientierung nach Europa als vielmehr für gute Beziehungen zu Asien aus. »Ich glaube, dass wir uns in Europa nicht einmischen sollten. Wir müssen in China eindringen. Deshalb glaube ich, dass wir uns völlig in Richtung Asien wenden sollten« (Tatarstan, ein Tatare). »Ich möchte, dass wir uns mit China, Indien und Japan gemeinsam fortentwickeln. Na ja, Korea kann auch dabei sein« (Tatarstan, eine Tatarin).

Gute Beziehungen zu Europa wurden seltener und nur in wirtschaftlicher Hinsicht genannt. Auf der kulturell-religiösen Ebene wünschten sich viele der Befragten engere Verbindungen zur Türkei oder den arabischen Staaten. »Man denkt, dass dort der Anfang der Religion war … und deshalb muss man danach streben. In Bezug auf Religion – mit arabischen Ländern« (Dagestan, ein Zachur). »Kulturelle Beziehungen sollten mit der arabischen Welt aufgebaut werden« (Tatarstan, eine Tatarin).

Insgesamt zeigten die Interviews eindeutig eine Orientierung der Befragten in Richtung Asien. Russland galt jedoch für alle als der wichtigste Partner. 242

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Tatarstans Weg zur Souveränität – ein Exkurs Seit Jelzins berühmtem Ausspruch: »Nehmt euch so viel Souveränität, wie ihr tragen könnt«, den er 1990 bei seinem ersten Besuch in Kasan leichtfertig von sich gegeben hatte, beherrscht das Thema »Souveränität« den öffentlichen Diskurs in Tatarstan. Seitdem kämpft die tatarische Regierung unter Schajmijew für mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit, Steuervergünstigungen und juristische Selbständigkeit. Verschiedene starke Unabhängigkeitsbewegungen entstanden, und Kasan wurde zum Schauplatz zahlreicher nationalistischer Aktivitäten.10 Besaß Kasan zur Sowjetzeit nur wenig Industriegüterproduktion, so verfügt es heute über die meisten wichtigen Wirtschaftszweige. Als Tatarstan Mitte der 1990er Jahre begann, eigenständig mit Erdöl zu handeln und darüber hinaus die Steuerzahlungen an Moskau einstellte, fand Jelzin, dass der tatarische Wunsch nach Souveränität allmählich zu teuer würde. Langwierige Verhandlungen über die Kompetenzverteilung zwischen Russland und Tatarstan begannen, die schließlich 1994 in der Unterzeichnung eines Vertrages über die Abgrenzung der Rechte und Kompetenzen zwischen Russland und Tatarstan endeten. Seither dient dieser Vertrag als Verhandlungsgrundlage bei der Lösung von Streitfragen zwischen Moskau und Kasan. Die tatarischen Souveränitätsbestrebungen fanden ein Ende, als der Tschetschenienkrieg begann. Jelzin machte deutlich, dass er Tatarstan keine Zugeständnisse mehr machen würde, und die tatarische Führung hörte auf, nationalistische Bewegungen zu unterstützen oder auch nur zu dulden. Schajmijew hatte seine ökonomischen und politischen Ziele bereits erreicht. Er ist unumschränkter Herrscher in der eigenen Republik und hatte es geschafft, sich von Moskau einen insbesondere in ökonomischer Hinsicht großen Handlungsspielraum zu verschaffen. Heute, unter Putins Politik der Stärkung der Zentralgewalt in Moskau, scheint Tatarstan jedoch wieder an Freiheiten zu verlieren. Die überwiegende Mehrheit der Befragten in Tatarstan stimmte der bisherigen Politik ihrer Regierung zu. Einige betrachteten den 10 Bis zur Unterzeichnung des Vertrages zwischen Russland und Tatarstan 1994 gingen in Kasan Tausende auf die Straße. Mit Parolen wie »Asatlik!« verbrannten sie russische Fahnen und zerstörten russische Wappen. Schajmijew duldete diese Aktivitäten, da sie ihnen bei den Verhandlungen mit Moskau als Druckmittel nützlich waren.

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russisch-tatarischen Vertrag sogar als Modell, das anderen Republiken als Beispiel dienen und auf dem eine Russische Föderation aufgebaut werden könne. »Tatarstan hat faktisch ein richtiges Modell ausgewählt, deshalb muss man dieses Modell weiterentwickeln« (Tatarstan, ein Tatare).

Raviot (1996) beschreibt die russisch-tatarischen Beziehungen auch als eine Konstruktion des »Föderalsystems von unten«, das nicht auf der Föderalverfassung, sondern auf gegenseitigen Vereinbarungen beruht.

Tatarstan und Dagestan: zwei islamische Republiken in der Russischen Föderation. Ein Ausblick Die Republiken Tatarstan und Dagestan unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Gemeinsam haben sie die sowjetische Vergangenheit, die Zugehörigkeit zur Russischen Föderation und die Tatsache, dass der größte Teil ihrer Bevölkerung muslimisch ist. Doch während in Dagestan eine mystisch-sufische Ausrichtung vorherrscht, folgt man in Tatarstan eher den gemäßigten, nüchterneren Haltungen des Dschadidismus. Ebenso unterschiedlich sind die historischen und politischen Erfahrungen, insbesondere nach dem Zusammenbruch der UdSSR. Während Tatarstan es sich aufgrund seiner ethnischen Homogenität erlauben konnte, national-separatistische Strömungen zu unterstützen und mit ihrer Hilfe sogar größere wirtschaftliche sowie politische Freiräume von Moskau durchsetzte als andere Republiken der Russischen Föderation, stellen für Dagestan die Zugehörigkeit sowie die guten Beziehungen zu Russland die Garantie für seine Einheit dar. Diese Unterschiede wurden auch in den Interviews deutlich. So definierten sich die Befragten in Tatarstan mehr über ihre ethnische und religiöse Zugehörigkeit als diejenigen im ethnisch pluralistischen Dagestan, bei denen die familiären und regionalen Verbindungen im Vordergrund standen. Unterschiede konnten auch in der Haltung der Befragten zum Tschetschenien-Konflikt festgestellt werden. Während viele Tatarstaner mit den Tschetschenen sympathisierten und z.T. deren terroristische Aktivitäten vor dem Hintergrund der russischen Invasion rechtfertigten, gingen die meisten Dagestaner auf Distanz 244

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Russische Muslime in Tatarstan und Dagestan

und verurteilten die gewalttätigen Aktionen und Strategien der Tschetschenen. Ausschlaggebend dafür war vor allen Dingen ihre Angst, dass die nationalistischen Ideen und aggressiven Strömungen auch auf Dagestan übergreifen und den Vielvölkerstaat zerreißen könnten. Die Konfliktbearbeitung und das Arrangieren mit Moskau entsprechen dem Szenario territorialer Konflikte mit separatistischen Bestrebungen einer bevölkerungsstarken, lokal konzentrierten Gruppe. In autoritären Staaten, die in ihrer Verfassung und der politischen Wirklichkeit Minderheiten nicht genügend Freiraum gewähren, werden diese versuchen, sich abzuspalten oder sich einem anderen Land anzuschließen. Gewalteskalation, Verlust von Gruppenmitgliedern durch Assimilation oder Auswanderung und Einwanderung anderer Ethnien wirken als Katalysatoren in separatistischen Prozessen, was an den anderen kaukasischen Konfliktverläufen ebenfalls erkennbar wird. Aufgrund der politischen Erfahrungen und Entwicklungen in Bezug auf Souveränität konnten viele der Befragten in Tatarstan jedoch konkrete Vorstellungen über zukünftige Beziehungsmodelle mit Russland äußern, wobei sie dem derzeitigen Föderationsvertrag zwischen ihrer und der russischen Regierung einhellig zustimmten. In Dagestan dagegen waren die Vorstellungen diffus, jedoch gingen alle davon aus, dass die Union mit Russland unbedingt bestehen bleiben müsse. Die insbesondere gegenüber Tatarstan gewährten Territorialautonomien sind Vorkehrungen, die den ethnischen und anderen Gruppen erlauben sollen, mehr Kontrolle über diejenigen Belange auszuüben, die für sie von besonderem Interesse sind, während gesamtgesellschaftliche Interessen auf einer höheren Ebene organisiert werden. Die Vorteile dieses Modells der Konfliktbearbeitung liegen in der Partizipation, in der Fragmentierung der Souveränität, der höheren Flexibilität in der politischen Entscheidungsfindung und Implementierung sowie in einer (möglichen) Dezentralisierung. Aus der multikulturalistischen Perspektive haben in den föderalistischen Modellen die spezifischen Minderheitenziele mehr Raum zur Entfaltung und mehr Potenzial zur Realisierung. Die Gewährung einer beschränkten regionalen und kulturellen Autonomie leistet in der Russischen Föderation bisher keineswegs der Desintegration Vorschub, sondern bietet offensichtlich ein effektives Mittel zur Bewältigung regionaler Konflikte. Russland blieb für die Mehrheit der Befragten, ob in Tatarstan oder Dagestan lebend, der wichtigste Partner. Eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Ent245

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Natalja Gontscharova

wicklung ohne Russland konnten sich die wenigsten vorstellen. Darüber hinaus sahen die meisten die politische und wirtschaftliche Zukunft ihrer Republik im asiatischen Teil Russlands und in den asiatischen Nachbarstaaten verankert. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit erscheint im Kulturkonflikt zwischen Europa und Asien in Tatarstan und in Dagestan eine die Bewohner zufrieden stellende Koexistenz erreicht worden zu sein.

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Russische Muslime in Tatarstan und Dagestan

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Heiko Schrader, Nikolaj Skvorzov, Boris Wiener

Islam und Turksprachlichkeit als Faktoren bei Identitätsbildungs- und Sezessionsprozessen – Dagestan und Tatarstan im Vergleich Heiko Schrader, Nikolaj Skvorzov, Boris Wiener Die Auflösung der Sowjetunion hat zahlreiche politische Probleme hervorgebracht, die in engem Zusammenhang mit Ethnizität stehen. Einige der früheren Republiken suchten die binnenpolitische Autonomie innerhalb der Russischen Föderation, andere wurden unabhängige Staaten innerhalb der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) unter der Führung Russlands, andere grenzten sich völlig von der Vergangenheit ab und suchen nun den Anschluss an die Europäische Union. Während in der Sowjetzeit als Folge der Russifizierungspolitik ethnische Russen in vielen Regionen die Mehrheitsposition einnahmen und die wichtigsten Sphären des öffentlichen Lebens dominierten, sind sie nun Minoritäten in den unabhängigen Staaten im Grenzgebiet zu Russland (Kaiser: Die Russen im nahen Ausland – Russen als neue Minderheiten in Zentralasien, i.d.B.) und in den autonomen Republiken. Die Restrukturierungen seit Anfang der 1990er Jahre haben Migrationswellen ethnischer Russen zurück nach Russland und anderer ethnischer Gruppen in ihre neuen Staaten ausgelöst. Ethnizität ist jedoch nicht der einzige Faktor, der Differenz schafft. Religion und kulturelle Herkunft sind eng mit ethnischen Identitätsmustern verknüpft. Die Entstehung neuer nationaler Identitäten ist nicht nur schwierig im Hinblick auf die Schwäche der Staaten und Provinzen hinsichtlich der Lösung sozialer und wirtschaftlicher Probleme der Transformation und hinsichtlich der nach wie vor zentralen Rolle der alten Eliten im wirtschaftlichen und politischen Leben, sondern ethnische, religiöse und kulturelle Identitätsmuster verlaufen oftmals quer zur nationalstaatlichen Identität. Während der Sowjetzeit waren ethnische und religiöse Vielheit unterdrückt1 und hinter der vereinheitlichenden Ideologie des »Sowjetmenschen« verborgen, während an der Oberfläche der offizielle Multikulturalismus als Folklore 1

Offiziell war die Sowjetunion atheistisch und zielte auf die Ausmerzung der Religion als Identifikationsmuster. Allerdings duldete Moskau bis zu einem gewissen Grad den Islam (Abduvakhitov 1993), wobei Formen des Sufi-Islam nur im Untergrund überleben konnten.

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Islam und Turksprachlichkeit in Dagestan und Tatarstan

zur Schau gestellt wurde. Die nachlassende Kontrolle durch Moskau in der späten Sowjetzeit und insbesondere unter Gorbatschow und Jelzin hatte sofortige Auswirkungen nicht nur auf dem Gebiet wirtschaftlicher Privatinitiative, sondern auch hinsichtlich der Revitalisierung ethnischer und religiöser Identitäten. Unter der Führung von Putin ist nun die gerade gewonnene größere Freiheit der halb-autonomen Regionen wieder eingeschränkt worden.2 In vielen peripheren Gebieten der vormaligen UdSSR herrschen aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen anti-russische Gefühle vor (Robbins 1994; Kaiser: Postsowjetisches Eurasien – Dimensionen der symbolischen und realen Raumaneignung, i.d.B.). Dort, wo neue Staaten entstanden, haben diese Gefühle zum politisch gewollten Prozess der Sezession beigetragen. Die Unabhängigkeit macht allerdings nur dort Sinn, wo die neu entstehende politische Einheit wirtschaftlich und politisch nachhaltig überlebensfähig ist. In der Tat wurden gerade diejenigen Gebiete unabhängig, die über reiche Rohstoffvorkommen verfügen: Öl, Kupfer und Gas (Wallerstein 1991; O Tuathail 1996; Neumann 1997). Dies allerdings berührt wiederum die geopolitischen Interessen Russlands und des Westens – mit unterschiedlichen Vorzeichen.3 So sind nun politisch relativ unbedeutende, aber geopolitisch wichtige Staaten in Zentralasien und im Kaukasus in die miteinander konkurrierenden Interessen der Vereinigten Staaten, Russlands und der Europäischen Union bzw. ihrer Einzelstaaten gerückt, um mit 2 Putin ernannte Gouverneure mit weiten Vollmachten, die die gewählten Regierungschefs der autonomen Gebiete kontrollieren, und schränkte die Repräsentation dieser Regionen in der russischen Gesetzgebung ein. 3 So planen und bauen die USA eine Pipeline von Zentralasien unter dem Kaspischen Meer hindurch über Georgien in die Türkei. Trotz der enormen Kosten hat dieses Projekt den großen Vorteil, zwei für die USA ideologisch und real schwer kalkulierbare Länder zu umgehen: Russland und den Iran, die bei einer Verschlechterung des politischen Klimas den Transport der Rohstoffe behindern könnten. Die laizistische Türkei hat sich dagegen als ein relativ zuverlässiger Partner erwiesen, sofern es um ökonomische Interessen geht, und strebt die Mitgliedschaft in der EU an. Russland bemüht sich darum, dieses Pipeline-Projekt zu verhindern, damit weiterhin seine Pipelines genutzt werden und diese geopolitische Kontrolle nicht verloren geht.

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ihnen gute politische und wirtschaftliche Beziehungen aufzubauen und Förder- und Handelsverträge abzuschließen. Um aber am Reichtum dieser Rohstoffvorkommen teilhaben zu können, bedarf es politischer Stabilität in der gesamten Region, doch insbesondere der Kaukasus gleicht einem Pulverfass mit brennender Lunte. Der nördliche Kaukasus war lange Zeit unter der Kontrolle Russlands, während der südliche Kaukasus (Georgien, Armenien) die politische Unabhängigkeit erlangte. Mit dem Streben der Tschetschenen und Dagestaner nach Unabhängigkeit hat sich der nördliche Kaukasus in eine Krisen- und Kriegsregion verwandelt. Hinzu kommen zahlreiche ethnische, religiöse und Clankonflikte, die zu einem Flächenbrand in der gesamten Region führen können. Die südlichen Regionen der früheren Sowjetunion stellen auch eine Grenze zwischen christlich-orthodoxer und islamischer Zivilisation4 dar.5 Russlands islamische Bevölkerung wird auf etwa 20 Millionen Einwohner geschätzt. Viele von ihnen leben fern ihres Herkunftsgebietes in ethnischen Clustern, betreiben ethnische Geschäfts4 In der deutschen Literatur wurde der Huntington’sche (1993) Zivilisationsbegriff oftmals mit »Kultur« übersetzt. Neuere Überlegungen lassen jedoch den Begriff der Zivilisation angemessener erscheinen (Mazlish 2001). 5 Dies soll nicht bedeuten, dass wir hier die hegemonistische, sehr undifferenzierte und kulturalistische Perspektive eines Samuel Huntington (1993) einnehmen wollen, der schon lange vor dem 11. September 2001 argumentierte, der Islam bedrohe mit seiner grundsätzlich expansionistischen Ideologie den christlich-demokratischen Kulturkreis. Der fundamentalistische Islam, den Huntington anspricht, stellt in vielen säkularisierten islamischen Gesellschaften nur eine Minderheitsposition dar, und Demokratisierungsprozesse selbst in orthodoxen islamischen Ländern verdeutlichen, dass er trotz der Rückschläge in der jüngsten Geschichte insgesamt schwächer geworden ist (Waldmann 1998; Heine 2001; Hoffmann 2001; Tibi 2001). Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Ideologisierung des dschihad im Tschetschenienkrieg oder in Afghanistan und im Irakkrieg zahlreiche ausländische Muslime als »Brüder« zu den Waffen gegen die Andersgläubigen greifen lässt oder einige als Terrorkommandos den bewaffneten Kampf im feindlichen Ausland aufnehmen. Wir weisen aber eine Sichtweise zurück, die dem Islam eine latente Aggressivität unterstellt.

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Islam und Turksprachlichkeit in Dagestan und Tatarstan

zweige und sind aufgrund ethnischer, religiöser und beruflicher Merkmale als Minorität erkennbar und angreifbar. Vor dem Hintergrund des Tschetschenien- und Dagestankriegs benutzt Moskau nach dem 11. September 2001 die Anti-Terror-Allianz als Angriff auf den Islam. So war in der St. Petersburg Times zu lesen: »Muslims here have complained bitterly of a backslash or ›Islamphobia‹« (St. Petersburg Times, 17. September 2002: 22). Aus allen Regionen Russlands berichten Muslime von Belästigungen und Schikanierungen, die oftmals mit rassistischen Äußerungen gegen die »Kaukasier« vermischt sind. Ein Skinhead ermordete sogar vor laufender Videokamera einen aserbaidschanischen Melonenhändler (ebd.: 1). Die Brisanz der kulturellen Spannungen wird verstärkt, wenn die anti-islamische Moskau-Politik mit einer pro-islamischen Politik islamischer ethnischer Gruppen und Regierungen beantwortet wird, die einen pan-islamischen Identitätsfaktor darstellen könnte.

Pan-islamische Identität Wir gehen davon aus, dass der islamische Faktor6 in der Identitätsbildungspolitik und in den Identitätsbildungsprozessen der gesamten Region Zentralasien und im Kaukasus eine wichtige Rolle spielt. Die islamische Rhetorik wird in separatistischen Diskursen als verbindendes Element gegen den russischen (und je nach Diskurs auch westlichen) kulturellen und wirtschaftlichen Imperialismus aufgenommen (Barber 1996), um ethnische und Clandifferenzen gegenüber dem gemeinsamen Feind herunterzuspielen. »Islamische Kultur und Tradition« wird zu einem Label für die Auflehnung gegen Fremdherrschaft und wirtschaftliche Ausbeutung. Dieses Label wird nicht nur von separatistischen Bewegungen, politischen Parteien, religiösen Führern oder Geschäftsleuten instrumentalisiert, um sich eine Klientel aufzubauen; es verdichtet sich im Alltag der Menschen zu einem Bewusstsein, so dass auch einfache Menschen sich gegen die Gesetze der Russischen

6 Dieser islamische Faktor wurde in der regionalen Entwicklung des Kaukasus schon von anderen Autoren beobachtet (Ware/Kisriev 2000; Rau 2002; Halbach 1996).

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Föderation mit der Begründung auflehnen, diese seien mit ihrem Glauben und den religiösen Anforderungen nicht vereinbar.7 Auf der Ebene der Autonomen Republik Tatarstan sieht sich die pro-russische Regionalregierung zunehmend einer starken politischen Opposition gegenüber, die eine stärkere Unabhängigkeit oder sogar die Loslösung von Russland fordert. Auf der überregionalen und transnationalen Ebene fürchten Russland und der Westen das Aufkommen eines Pan-Islamismus (Landau 1992; Schulze 1990). Die Idee einer »Islamischen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten im nördlichen Kaukasus«, die bereits von Dagestan und Tschetschenien formuliert wurde, hat eine lange Tradition und mag andere Regionen mit islamischer Mehrheit dazu verleiten, diesen Diskurs aufzunehmen (Dawisha/Parrot 1997; Kloucek 2000).

Pan-turksche Identität Daneben gibt es aber noch einen weiteren Faktor, der als Basis für transnationale Identitätsstiftung aktiviert worden ist: Die Zugehörigkeit zu den Turksprachen8 bzw. in einem geringeren Umfang die turanische Herkunft9 (Evers/Kaiser i.d.B.; Ignatow 1992; Kaiser: Postsowjetisches Eurasien – Dimensionen der symbolischen und realen Raumaneignung, i.d.B.). Pan-turksche Ideologien und Bewegungen wurden 7 Dies werden wir später an einem Beispiel in Tatarstan verdeutlichen. 8 Die pan-turksche politische Bewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zielte darauf ab, alle zu den Turksprachen zählenden Menschen des Osmanischen Weltreiches, Russlands, Chinas, des Irans und Afghanistans zu vereinen. Diese Bewegung wurde von den turksprachigen Menschen der Krim und an der Wolga ins Leben gerufen. 9 Während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entstand eine Bewegung, die darauf abzielte, alle türkischen, tatarischen und uralischen Völker von Ungarn bis zum Pazifik zu vereinen. Diese Bewegung wurde als Pan-Turanismus bekannt – hergeleitet vom arabischen Wort für Turkistan. Er war insbesondere populär unter Intellektuellen, die an der inzwischen widerlegten Theorie festhielten, Türkisch, Mongolisch, Tungusisch, Finnisch, Ungarisch und andere kleinere Sprachen gehörten zur selben Sprachgruppe (Encarta Encyclopedia online 2002).

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Islam und Turksprachlichkeit in Dagestan und Tatarstan

in der Sowjetunion unterdrückt (Landau 1995a,b), von der türkischen Regierung während des Ersten Weltkrieges dagegen gefördert. Die kemalistische Türkei betonte allerdings einen türkischen Nationalismus anstelle einer pan-turkschen Ideologie (Dirgen 1994). Die Wiederbelebung des Pan-Slavismus unter Joseph Stalin und die russische Bedrohung türkischer Autonomie belebten wieder das Interesse an einer pan-turkschen Bewegung, und die Forderung nach einer Föderation von Turkstaaten wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den zu den Turksprachen zählenden Sprachgruppen und der islamischen Religion angehörigen Ethnien in der Sowjetunion fortgesetzt (Encyclopedia Britannica 2000). Mit der Unabhängigkeit der Turkrepubliken in Zentralasien wurde auch in der Türkei der pan-turksche Gedanke wiederbelebt. Hier ist das Ziel, alle zu den Turksprachen zählenden Völker in einer Nation zu vereinen.10 In einem gewissen Grad arbeiten die pan-turksche Bewegung und der Pan-Islamismus Hand in Hand (Kaiser: Postsowjetisches Eurasien – Dimensionen der symbolischen und realen Raumaneignung, i.d.B.).

Imaginierte Identitäten In der Tradition von Barth (1969), Anderson (1983) und Hobsbawm/ Ranger (1983) gehen wir davon aus, dass Ethnizität und Identität nicht primordiale, gegebene Fakten darstellen (Bromley 1974), sondern auf konstruktivistische Weise geschaffen und geändert, bewusst gemacht, instrumentalisiert und manipuliert werden können, wenn dies ökonomische oder politische Vorteile mit sich bringt (Schlee/Werner 1997). Darüber hinaus muss darauf hingewiesen werden, dass die meisten Menschen zur selben Zeit verschiedene Identitäten haben, die sowohl geographische, als auch nichtlokale Aspekte beinhalten, »sinngebende 10 Zu den etwa 30 Turksprachen, einem Zweig der altaischen Sprachen, die von etwa 80 Mio. Menschen in Klein- und Zentralasien gesprochen werden, zählen die Sprachgruppen Türkeitürkisch/Osmanisch, Uigurisch, Usbekisch, Kiptschakisch (Baschkirisch, Tatarisch, Kasachisch, Kirgisisch), nordsibirische (Dolganisch, Jakutisch) und südsibirische Turksprachen (Chakassisch, Tuwinisch, Altaitürkisch), Tschuwaschisch und das mittelpersische Chaladschich (Encarta Encyclopedia online 2002).

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Heimaten« (habitats of meaning; Hannerz 1996: 21-23), die über Kulturen, ethnische Gruppen und Staaten hinausreichen. Während solche diffusionistische Prozesse historisch unter dem Aspekt von Migration und Fernhandel diskutiert wurden, gewinnen sie im Rahmen der Globalisierung als translokale Diskurse eine neue Bedeutung. Unsere Terminologie des islamischen und turksprachigen »Faktors« bezieht sich daher sowohl auf die nationale als auch auf die transnationale Ebene von Identitätsbildungsprozessen. Identitätsbildungsprozesse ereignen sich selbstverständlich nicht von heute auf morgen, sondern sie stellen einen langen, intergenerationalen, sehr komplexen Prozess dar, der sich auf eine geteilte reale oder erfundene Geschichte sowie auf Glaubenssysteme, historische Beziehungen und Erfahrungen, auf impression management, auf Sozialisation durch häusliche Erziehung, Sekundarerziehung in Schulen, Universitäten und religiösen Institutionen sowie auf die Beeinflussung durch Politik und Massenmedien bezieht. Wenn wirklich Prozesse der Islamisierung und der Kohäsion turksprachiger Ethnien in den postsowjetischen Staaten stattfinden, stellt sich die Frage, woran solche Prozesse empirisch festgemacht werden können. Sicherlich in den Massenmedien, in Publikationen und Reden. Wo findet sich die Basis, die diese Bewegungen unterstützt – in den größeren und kleineren Städten oder in ländlichen Gebieten? Für Tschetschenien wurde darauf hingewiesen, dass die islamistische (fundamentalistische) Bewegung ländlich verwurzelt ist, während in den Städten ein wesentlich moderateres und weltoffeneres politisches sowie religiöses Klima herrscht. Eine demographische Erklärung für dieses Muster ist, dass in den Städten zahlreiche Russen nach wie vor wichtige politische, militärische und ökonomische Positionen einnehmen und die Lebens- und Denkweise beeinflussen. Die ideologische Rhetorik, die auch die russische Politik und das Militär vertreten, bezeichnet den Islam als anti-modernistisch, sodass hier eine nicht zufällige Symbiose von Tradition, Dorf und Islam bzw. Moderne, Stadt und Säkularisierung erzeugt wird. Wir argumentieren jedoch gegen diese Sichtweise, dass die Islamisierung selbst Ausdruck des Prozesses der Modernisierung auf einer eigenen kulturellen Grundlage und in scharfer Abgrenzung zur westlichen Modernität ist (Schrader 2003; Stauth 1998; Eisenstadt 2001). Eine ähnliche Argumentation kann für die

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Islam und Turksprachlichkeit in Dagestan und Tatarstan

räumlich verstreuten Turkvölker und hier ggf. stattfindende Identitätsbildungsprozesse vorgebracht werden. Wenn wir davon ausgehen, dass Islamisierung und »Turkisierung« längere, intergenerationale Prozesse darstellen, so sind wir der Auffassung, dass dem religiösen und dem Erziehungssystem eine wichtige Aufgabe in diesem Prozess der Identitätsbildung und -manipulation zukommt. Charakteristisch für islamische religiöse Institutionen ist, dass sie ihr eigenes Bildungssystem etablieren: islamische Schulen und Universitäten, in denen sowohl die türkische als auch die arabische Sprache und Schrift gelehrt werden. Auf diesem Wege wird die klare Trennung zwischen Religion und Erziehungssystem aufgehoben, und es erfolgt eine stärkere Ausrichtung auf den Mittleren Osten und die Türkei. Handelt es sich bei den Staaten um säkularisierte Staaten, entsteht ein paralleles Bildungssystem, das ggf. diametrale Werte und Orientierungen vermittelt. Darüber hinaus schafft der Islam spezifische Institutionen wie islamische Banken, die nach den religiösen Anforderungen konstruiert sind und symbolisieren, dass gerade die russischen und westlichen Banken nicht in Einklang mit dem Koran, den islamischen Werten und Gesetzen stehen.11 Die symbolische Differenz zum Westen und zu Russland hilft, die islamische Identität zu stärken. Ähnliches kann im Hinblick auf die Turkvölker und die Förderung der Turksprachen festgestellt werden. In den folgenden zwei Teilen dieses Beitrags wollen wir die hier angesprochenen Prozesse anhand zweier unterschiedlicher Republiken betrachten: Dagestan und Tatarstan (siehe hierzu auch: Gontscharova i.d.B.; Sabirova i.d.B.). Beide blicken auf eine lange islamische Geschichte zurück.12 Einen starken Bezug zur Turk-Bewegung finden wir eher in Tatarstan als in Dagestan. In beiden Regionen gibt es auch separatistische Bestrebungen, die aber eine unterschiedliche Intensität und Direktheit aufweisen.

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Die nähere Analyse des islamischen Bankwesens zeigt, dass das Zinsverbot zwar in der Tat eingehalten wird, dass es aber Zinssubstitute gibt, die letztendlich ähnlich funktionieren (Schrader 2000). Dies stellt z.B. einen Unterschied zu Tschetschenien dar, wo die Islamisierung erst mit dem Sezessionsprozess einsetzte.

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Tatarstan und Dagestan Die Republiken Tatarstan und Dagestan sind sehr unterschiedlich im Hinblick auf ihre geographische Lage, die soziale und ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung, die Sprachkomposition, die wirtschaftliche Situation und ihre Geschichte. Gemeinsam ist beiden, dass die islamische Bevölkerung die Majorität darstellt, und dass in der jüngeren Geschichte Islamisierungstendenzen beobachtet wurden. Allerdings ist das Spektrum islamischer Gruppierungen sehr breit. Es reicht von moderaten, säkularisierten Politikern, die sich im Trend der Zeit eine islamische Rhetorik zueigen machen, aber den Schulterschluss mit Moskau suchen, bis zu radikalen Fundamentalisten, die die Anwendung der shariat auf das Gebiet der Republik und die Loslösung von Russland fordern. Außerdem hilft die Untersuchung der religiösen und politischen Situation in den beiden Regionen, islamische Tendenzen innerhalb Russlands zu verstehen, die zur Destabilisierung durch radikale, separatistische Bewegungen, zu Auseinandersetzungen mit der Zentralregierung und sogar zu Bürgerkriegen führen können. Das Thema der Islamisierung hat in Russland in der jüngsten Zeit einige Beachtung erfahren und wird nun im wissenschaftlichen Diskurs aufgegriffen. Aus den Jahren 1999 und 2000 gibt es Untersuchungen zu religiösen und politischen Eliten. Dagegen fehlt aber bisher vollkommen die Analyse der Alltagsebene, und nach unserer Auffassung wird sich insbesondere hier zeigen, ob diese Identitätsbildungsprozesse erfolgreich verlaufen und wohin der Weg in die Zukunft führt. Auch die Thematik der Turk- und pan-turanischen Bewegungen wurde von Wissenschaftlern aufgegriffen, die über Zentralasien und die Türkei arbeiten (Landau 1995a,b; Zenkovsky 1996). Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Diskurs auch in Tatarstan an Bedeutung gewinnt, das ja eine starke Verbindung zu dieser Thematik aufweist. Publikationen hierzu gibt es allerdings noch nicht. Aufgrund der Heterogenität der Sprachgruppen ist das Aufgreifen dieses Themas in Dagestan weniger wahrscheinlich, wobei allerdings zu beachten ist, dass einige der dort anzutreffenden Sprachgruppen (Aseri, Kumükisch und Tatarisch) ebenfalls zu den Turksprachen zählen, während die anderen Sprachgruppen zumeist zur kaukasischen Sprachfamilie gehören. 256

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Islam und Turksprachlichkeit in Dagestan und Tatarstan

Wir werden uns nun der Geschichte Dagestans und Tatarstans und den jüngsten Forschungsergebnissen verschiedener Wissenschaftler zu dieser Thematik zuwenden. Tatarstan Die Republik Tatarstan liegt an der Wolga, umgeben von drei russischen Regionen und vier Republiken (Mordovien, Mari El, Udmurtien und Baschkortostan), die wiederum an Gebiete angrenzen, in denen ethnische Russen die Mehrheit bilden. Der heutige tatarische Staat ist ein Nachfolger des Wolga-Bulgarischen Königreichs (10. Jh.-1236), der Goldenen Horde (13.-15. Jh.) und des Kasanschen Khanats (1438-1552). Die Vorfahren der heutigen Tartaren verloren ihre Unabhängigkeit, als Iwan der Schreckliche Kasan einnahm. Im Jahr 1920 schufen die Bolschewiken die Tatarische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik. Aufgrund der Ölexporte in andere Regionen der Russischen Föderation, aber auch in andere Länder, und wegen einer relativ starken Industrialisierung (Automobil- und Flugzeugproduktion, chemische und ölverarbeitende Industrien) ist die ökonomische Situation Tatarstans relativ gut und diese Republik somit geopolitisch wichtig für die Russische Föderation. Nach der Volkszählung im Jahr 1989 lebten zu dieser Zeit 5.552.096 ethnische Tartaren auf russischem Gebiet, davon 1.765.404 in Tatarstan. Die Kasansche Staatliche Universität zählt zu den ältesten Russlands. Im Hinblick auf orientalische Sprachen ist die ältere Bevölkerung eher am Arabischen, die jüngere mehr am Türkischen interessiert (Musina 1997: 92f.). Traditionell zählen ethnische Russen, Ukrainer, Tschuwaschinier, Mordwinier (Mordowier) und Udmurten zur russisch-orthodoxen Kirche, und viele von ihnen sind praktizierende Gläubige. Die Vorfahren der heutigen Tartaren konvertierten bereits im 10. Jahrhundert zum Islam. Nach der russischen Eroberung Kasans im Jahr 1552 wurde der Islam stark unterdrückt. Islamische Intellektuelle wurden ermordet, deportiert oder zur Migration gezwungen. Aufgrund des Fehlens einer islamischen intellektuellen Führung erlebte der Islam in Tatarstan einen enormen Rückschritt. Eine größere religiöse Toleranz gab es erst unter Katharina der Großen (1729-1796). Sie räumte dem Islam in der Verfassung Russlands ein Recht der Religionsausübung ein und holte tatarische Intellektuelle in die Politik. Der intellektuelle tatarische 257

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Islam erlebte eine Erneuerung. Zu jener Zeit erfuhr Tatarstan auch einen starken wirtschaftlichen Aufschwung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten die Muslime und andere nichtrussische Ethnien ein stärkeres Selbstbewusstsein, schlossen sich in Bewegungen und Organisationen zusammen und artikulierten ihre Forderungen. Die intellektuellen und religiösen Eliten schufen den tatarischen Modernismus namens Dschadidismus (Erneuerung), der auf eine Melange zwischen islamischer Kultur und Modernismus mit einer Öffnung nach Europa abzielte und so eine Besonderheit des tatarischen Nationalismus darstellte, weil er nicht auf eine Loslösung von Russland ausgerichtet war, sondern auf einen demokratischen, multikulturellen Staat mit denselben Rechten für Tartaren und andere Ethnien, für Muslime und Andersgläubige. Nach der Revolution hielten die meisten tatarischen Führer an diesem Kurs fest und strebten nach einer höheren Autonomie innerhalb der Sowjetunion auf altem tatarischem Gebiet, das weitere Republiken umfasste. Die Bolschewiken gestanden ihnen aber nur die wesentlich kleinere Tatarische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik zu, deren Nachfolgestaat das heutige Tatarstan ist. Die Anerkennung dieser autonomen Republik teilte jedoch die ethnischen Tartaren, die nun verschiedenen Republiken zugeordnet sind. Nach der Auflösung der Sowjetunion weigerte sich Präsident Schajmijew, das föderale Abkommen von 1992 zu unterzeichnen, votierte aber auch nicht für die vollständige Unabhängigkeit, sondern für eine fundamentale Reform der Russischen Föderation: eine Dezentralisierung der Macht und Stärkung der regionalen Rechte und Verantwortlichkeiten. Dies ist eine Anknüpfung an den vorrevolutionären Kurs des Dschadidismus. Unterstützt von der tatarischen nationalistischen Bewegung, unterzeichneten er und die Vertreter anderer Regionen 1994 einen mit Jelzin geschlossenen Vertrag, der diesen Republiken einen speziellen innenpolitischen autonomen Status einräumte, während sie wiederum Moskaus Führungsrolle in der Russischen Föderation anerkannten (Yemelianova 1999: 606f.). Die tatarische Verfassung von 1992 erhebt daher den Anspruch, über der russischen Verfassung zu stehen (Raviot 1998: 193). Putins Regionalpolitik stellt nun allerdings einen Rückschritt für die tatarische Autonomie dar und zwingt Schajmijew in eine defensive Position gegenüber der Zentralregierung. Putin hat verlangt, den Vertrag aufzugeben, und Tatarstan ist derzeit die einzige der vormals 89 258

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autonomen Regionen, die noch an dem Vertrag festhält. Schajmijew verhandelt derzeit mit Moskau über den Nachfolgestatus Tatarstans. Untersuchungen von 1994 haben gezeigt, dass 66,6 % der Tartaren nominell Muslime sind, in ländlichen Regionen liegt dieser Prozentsatz sogar bei 86 %.13 Eine kleine Gruppe der Tartaren, die Kriaschenen (5,0 %) sind allerdings russisch-orthodox (Musina 1994: 92; Baltanova 1994: 89). Nach Yemelianova (1999: 611) ist der Islam in Tatarstan stark säkularisiert und spielt in der politischen Diskussion nur eine untergeordnete Rolle bzw. unterstützt den nationalistischen Kurs in Richtung größerer Unabhängigkeit innerhalb der Russischen Föderation. Präsident Schajmijew forderte sogar die islamischen Autoritäten auf, sich von den föderalen islamischen Strukturen loszusagen, die das »Zentrale Religiöse Komitee der Muslime in Russland und den europäischen Staaten der GUS« (TSDUMR) als Forderung aufgestellt hat. Eine Minorität der Tataren verfolgt aber einen Kurs des islamischen Traditionalismus. Trotz der säkularisierten Staatsform bedeutet Tatarisierung aber Islamisierung der Kultur. Erkennbar ist die Re-Islamisierung daran, dass eine große Anzahl der Bevölkerung die islamischen Feiertage zelebriert. 700 islamische Gemeinschaften gibt es derzeit in Tatarstan. Die Regierung gab ihnen die Moscheen zurück, die während der Sowjetzeit verstaatlicht worden waren und unterstützt den Neubau von Moscheen. Zur Zeit gibt es etwa 700 in Tatarstan (Musina 1998: 266). Darüber hinaus wurden Medressen (islamische Schulen) eingeführt, und das Lernen der arabischen Sprache ist ziemlich populär. Einige Studenten studieren den Islam in der Türkei und in den arabischen Ländern (Musina 1997: 87). Die tatarische herrschende Elite unter Schajmijew hat die »tatarische nationale Ideologie« nach folgenden Prinzipien entwickelt: 1. die Anerkennung der geographischen Grenzen der Republik, wie sie von der Sowjetunion geschaffen wurden; 2. die Gleichberechtigung ethnischer Gruppen; 3. einen »weichen« Einstieg in die Marktwirtschaft 13

Hierzu muss allerdings festgestellt werden, dass diese Prozentsätze wesentlich höher ausfallen als bei Musina (1997: 85), die für 1989-90 für die städtischen Gebiete 30,4 % und für die ländlichen Regionen 43,4 % konstatierte. Diese Inkonsistenz ist vermutlich auf die schlechte Qualität der Daten zurückzuführen.

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ohne radikale ökonomische Reformen (Raviot 1998: 1987-1988). Die politische Führung vertritt einen Kurs der Gleichberechtigung der Religionen. So sind z.B. Weihnachten und kurban bayram staatliche Feiertage. Schajmijews Reformpolitik und seine Verhandlungen mit Moskau haben allerdings die tatarischen Nationalisten nicht befriedigt, die nun in Opposition zu ihm gegangen sind und versuchen, mit den Kommunisten und der islamischen Geistlichkeit ein Bündnis gegen ihn aufzubauen. Sie haben eine radikale islamische Rhetorik aufgenommen, erhalten aber bisher von der Bevölkerung wenig Unterstützung (Yemelianova 1999: 614). So kann der von der Mehrheit praktizierte Islam als »Euro-Islam« bezeichnet werden (Musina 1997: 91). Obwohl die Tartaren eine vergleichsweise hohe Ebene ethnischer Identität haben, gibt es zahlreiche Tendenzen von Assimilierung. Interethnische Heiraten zwischen Tartaren und Russen sind trotz der religiösen Gebote relativ häufig.14 Als Konsequenz dieser interethnischen Heiraten haben zahlreiche Kinder dieser Ehen eine stärker russische Identität angenommen, wie eine Untersuchung an 450 höheren Schulen in den Jahren 1991 und 1992 in Kasan zeigte (Titova 1999). Tatarstans gebildete, junge religiöse Führer haben mit den alten, korrupten und theologisch inkompetenten religiösen Führern gebrochen, die eng mit kriminellen Strukturen verbunden waren und der religiösen Unterstützung von außen bedurften. Das Spektrum der islamischen Bewegungen und Parteien ist allerdings sehr heterogen. Das »Tatarische Öffentliche Zentrum« (TPC) ist eine zentristische, moderate Partei. Seine Führung instrumentalisiert den Islam, um die politischen Ziele zu erreichen (Musina 1997: 94). So z.B. unterstützt diese Partei die Publikation religiöser Zeitschriften und Bücher über islamische Philosophie, Geschichte und Kultur in tatarischer Sprache und nimmt Einfluss auf die Lehrpläne der Schulen und Universitäten (Sharipova 1998: 149). »Ittifak« und »Milli Mejlis« am anderen Ende des Spektrums sind radikale religiöse Organisationen, die die orthodoxe Islamisierung der Republik voranzutreiben versuchen (Musina 1997: 94). Ein Teil der islamischen Geistlichkeit versucht ebenfalls, die Religion zu radikalisieren. 1996 entstanden zwei Organisationen: die 14 Der Islam verbietet islamischen Frauen, Nichtmuslime zu heiraten und die russisch-orthodoxe Kirche verurteilt die Heirat mit Nichtchristen.

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»Muslime von Tatarstan« und die »Vereinigung der tatarischen muslimischen Jugend« (ebd.: 93). Nach Yemelianova (1999: 623) glauben die meisten tatarischen Intellektuellen, dass der Islam für ihre Identität eine wichtige Rolle spielt und dass sie die Stärkung religiöser Aspekte im Alltag und in der Politik begrüßen würden. Die nichtmuslimischen Intellektuellen sind natürlich von dieser Haltung und vom fortschreitenden Prozess der Re-Islamisierung nicht sehr angetan und votieren für eine strikte Trennung zwischen Religion und Staat. Auch andere Nichtmuslime beobachten argwöhnisch die Entwicklung, aber sind bisher recht passiv geblieben. Während bisher die interethnische Koexistenz als friedlich und der politische Kurs als gemäßigt beschrieben wurde, ist die Stimmung seit dem 11. September 2001 angeheizt. Zum einen nimmt das muslimische Selbstbewusstsein zu. So wurde z.B. berichtet, dass eine 64 Jahre alte tatarische Muslimin sich weigerte, für ein Passfoto, das sie bei den Behörden einreichen sollte, ihr Kopftuch abzunehmen. Sie und mehr als 1.000 andere muslimische Frauen reichten eine Klage mit der Begründung ein, diese und andere Verordnungen beeinträchtigten ihr Recht auf Freiheit der Religionsausübung. Den folgenden Prozess verloren sie allerdings. Andere muslimische Frauen, die gemäß des islamischen Gebots in der Öffentlichkeit ihren Kopf mit einem Tuch bedecken, berichteten, dass sie auf der Straße belästigt und ihnen die Tücher heruntergerissen wurden. Für viele ist die Khul Sharif Moschee, die mit Geldern der Islamic Development Bank Group15 gebaut wurde, zum Symbol des Widerstands gegen Moskau geworden. Die tatarische Regierung versucht jedoch, einem Prozess der Radikalisierung des Islam entgegenzusteuern. Radikale Mullahs werden zu öffentlichen Veranstaltungen nicht mehr eingeladen. Beamte der Zentralregierung untersuchen Fälle des Extremismus unter tatarischen Muslimen und die Behörden in Nabereschnyje Tschelny schlossen vor kurzem eine Medresse mit der Begründung, dort würden extremistische Lehren verbreitet. Zahlreiche Lehrer an Schulen und Universitäten, die ihre Ausbildung in Saudi-Arabien oder in anderen muslimischen Ländern absolvierten, wurden durch staatlich geprüfte Lehrer,

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Siehe hierzu http://www.isdb.org/, Stand: Aug. 2003.

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die an den islamischen Universitäten in Ägypten und Jordanien studierten, ersetzt (St. Petersburg Times, 17. September 2002: 22). »It is Schajmijew’s own fight with Moscow that has helped make Tatarstan’s Muslim renaissance into a political issue, according to government officials and religious activists here. Schajmijew has adopted symbols of the Tatars’ Muslim heritage […] to advance his own cause of maximum autonomy for the republic« (ebd.).

Dagestan Dagestan liegt im nordöstlichen Kaukasus am Kaspischen Meer. Im Südosten schließt sich Tschetschenien an, im Süden Aserbaidschan. Das Territorium Dagestans umfasst drei geographische Zonen: die Bergregion, die Hügelregion und die Ebene. Russland eroberte Dagestan im Zuge des russisch-persischen Krieges von 1812-1814, das aufgrund von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen geschwächt war. Ein Teil der Dagestaner (Awaren und Laken) nahm an Shamils berühmtem Aufstand gegen Russland teil. 1921 erhielt Dagestan den Status einer Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik. Seit dieser Zeit bis zum Ende der Sowjetunion betrieb die Zentralregierung eine Umsiedlungspolitik von den Bergen in die Ebene. Dies verursachte ethnische Spannungen zwischen den alteingesessenen Gruppen (Kumüken, Nogaiern, Russen u.a.) und den Migranten (Awaren, Darginen, Laken, Lesginen u.a.) (Ibragimov 1991) – eine ethnische Situation, die Yemelianova (1999: 609) als Zeitbombe betrachtet. Aufgrund seiner Nachbarschaft zu Tschetschenien, das sich von Moskau losgesagt und einen radikal-islamischen Kurs eingeschlagen hat, ist Dagestan für Moskau strategisch sehr wichtig. Die Reaktion auf die Perestrojka war in Dagestan ganz anders als in Tatarstan. Sie löste ein Verlassenheits- und Frustriertheitsgefühl aus. Die staatlichen Behörden trauerten der Sowjetunion nach und dieser Zustand hielt viel länger als andernorts an. Auch die »Kommunistische Partei« blieb ein starker politischer Faktor. Dagestan ist viel weniger industrialisiert als Tatarstan und hat eine hauptsächlich ländliche Basis. Es verfügt auch nicht über nennenswerte Rohstoffe. Wegen der vielen Berge ist die landwirtschaftlich nutzbare Fläche begrenzt. Der hohen Arbeitsnachfrage in den Städten, die durch 262

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Landflucht erzeugt ist, steht ein viel geringeres Arbeitsangebot gegenüber, weshalb die Arbeitslosenquote entsprechend hoch ist. Im Gegensatz zu Tatarstan, das gegenüber Moskau auch aufgrund seiner ökonomischen Basis eine selbstbewusste Haltung einnehmen kann, hängt Dagestan an dessen Tropf, und die Politiker betonen beständig ihre Loyalität. So verweigerten die Behörden auch, islamische Elemente, wie etwa die shariat, in die Verfassung aufzunehmen, die in den 1920er Jahren galt, oder die Einführung des Freitags als Feiertag (Yemelianova 1999: 612f.). Die ethnische Zusammensetzung der Republik ist sehr heterogen16 und einige der ethnischen Gruppen haben rigide Clanstrukturen. Diese Clans folgen patriarchalen Normen, dem Adat-Recht und der offiziell nicht anerkannten shariat. Die Mehrzahl der hier aufgezeigten Ethnien gehören der Sprachgruppe der kaukasischen Sprachen an. Aseri, Kumükisch und Tatarisch zählen dagegen zu den Turksprachen. Einige ethnische Gruppen gehören zur iranischen Sprachfamilie, andere zu den slawischen Sprachen. Armenisch stellt eine eigene Sprachfamilie dar. Ein bestimmter Teil der Bevölkerung betrachtet heute Russisch als seine Muttersprache. Die meisten ethnischen Gruppen bekennen sich zum Islam. Historisch ist der Islam seit dem 8. Jahrhundert in Dagestan von Bedeutung und zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert wurde die Mehrheit der Bevölkerung islamisiert. Sie folgte der Rechtsschule Shafi’i Mahabat des sunnitischen Islam.17 Im 15. Jahrhundert stellte Dagestan ein wichtiges islamisches Zentrum spiritueller Aufklärung dar. Zusätzlich zu diesem hoch intellektuellen Islam entwickelte sich ab dem 11. Jahrhundert ein sufischer Volksislam. Heute gibt es etwa 50 SufiTariqas (Bruderschaften), von denen einige in ihren Ansichten und

16 Nach der Volkszählung von 1989 zählte die Dagestanische Bevölkerung 1.802.188 Menschen. Von ihnen sind 27,53 % Awaren, 15,56 % Darginen, 12,86 % Kumüken, 9,21 % Lesginen, 5,09 % Russen, 4,34 % Laken, 4,34 % Tabassaranen, 4,19 % Aserbaidschaner, 3,21 % Tschetschenen. Daneben leben noch zahlreiche andere ethnische Gruppen verschiedener Religionszugehörigkeiten in Dagestan. 17 Die drei weiteren sunnitischen Rechtsschulen sind die Hanafi-, die Maliki- und die Hanbali-Tradition.

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Handlungen sehr radikal sind, 23 von ihnen nehmen Bezug auf lebende sheikhs. Der Sufismus diente als Basis der Vereinigung der verschiedenen ethnischen Gruppen und als anti-russische Kraft, die z.B. im »Islamischen Heiligen Krieg« von 1877 bis 187818 zum Ausdruck kam, wobei die Niederlage zur Eingliederung ins Russische Reich führte (Yemelianova 1999: 608f.). Die ethnischen Russen gehören zumeist der russisch-orthodoxen Kirche an. Hinzu kommen verschiedene jüdische Gruppierungen (Ibragimov 1991: 119). Exogene Heiratsbeziehungen zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen islamischen Glaubens und teilweise mit Russen sind mit 41 % relativ hoch (Ibragimov 1978: 130). Traditionell gehören die Kinder interethnischer Ehen der Ethnie des Vaters an. Nach Yemelianova (1999: 616ff.) und Bobrovnikov (1995: 133) hat die Zunahme der Korruption, Inkompetenz und Kriminalität der seit der Sowjetzeit fortbestehenden Beamtenschaft und ihre starke Moskauorientierung eine starke dagestanische nationalistische Opposition ins Leben gerufen, die zumeist entlang der ethnischen Gruppen organisiert ist (awarische, lakische Bewegung usw.). Ihr Programm beinhaltet die Föderalisierung, Stärkung ethnischer Rechte und Loslösung von Moskau. Leider entwickelten sich zahlreiche dieser Bewegungen bis 1995 in halb-kriminelle mafiose Organisationen, die ihren Bezug zur Basis verloren und untereinander in Konflikte gerieten. Nur die »Ledskin Sadval« ist der föderalistischen Idee treu geblieben. 1992 zerfiel die Islamische Organisation der Muslime des Nordkaukasus nach ethnischen Kriterien. Seit 1994 gibt es nur ein offiziell anerkanntes Muftiat19, den »Spirituellen Beirat der Muslime Dagestans« (SBMD). Die Beziehung vieler dieser nationalen bzw. ethnischen Organisationen mit dem Islam ist instrumentell. Sie benutzen eine islamische Rhetorik, haben aber einen atheistischen sowjetischen Hintergrund. Unzufrieden mit der Regierung und diesen ethnischen Organisationen, entstand ebenfalls eine muslimische Opposition, die aus vielen kleinen Organisationen und Parteien besteht. Außerdem gibt es Zweigstellen russischer islamischer Organisationen und Parteien wie 18 Hierbei handelt es sich um den russisch-türkischen Krieg von 1877-1878, der mit einer Niederlage der Türkei endete. 19 Als Muftiate werden islamische Verwaltungseinheiten bezeichnet.

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etwa die »Russische Vereinigung aller Muslime« und die sehr populäre Bewegung »Nur« (Licht), die sich als »Partei der russischen Muslime« (PRM) organisierte. Die »Islamische Demokratische Partei« hat unter dem Druck der Regierung einen gemäßigten Kurs angenommen und votiert nun für eine islamisch-demokratische Regierung und gegen Korruption. Der gemeinsame Hass auf den Wahhabismus hat viele politische, religiöse, nationale und ethnische Gruppen vereint, aber diese Rückweisung wird nicht von der gesamten Bevölkerung und allen religiösen Eliten geteilt. Unter den radikalen Bewegungen und Parteien sind die »Islamische Renaissance Partei« (IRP) und die »Al-Islamiyya«, die beide Ähnlichkeiten zur »Muslimbruderschaft« aufweisen. Sie machen sich für einen Staat nach islamischem Recht unabhängig von Moskau stark, und ihr Programm spricht viele Menschen an. Drei Dörfer im bujnakischen Verwaltungsgebiet erklärten sich bereits zu einem islamischen Territorium, in dem die shariat gelte. Menschen und Gruppierungen, die sich dem Wahhabismus zugehörig fühlen, befürworten auch bewaffnete Konfrontationen, denn für sie sind auch diese Ausdruck ihres Glaubens. Deshalb rufen sie auch zum dschihad auf. Aus ihrer Sicht ist der Wahhabismus die reinste Form des Islam und muss seine ursprüngliche Lehre schützen. So greift der Wahhabismus als strenger Monotheismus auch den Sufi-Islam an. Die Volksversammlung versucht, diese radikal-islamische Bewegung zu unterdrücken, indem sie 1997 den Wahhabismus auf dem Gebiet Dagestans verbot. Im Alltag sind einige Dörfer zwischen Anhängern des Wahhabismus und des Sufismus geteilt. Beide haben ihre eigene Moschee, ihren Imam oder ihren Amir. In einigen Fällen stehen sie sich feindlich gegenüber, in anderen kooperieren sie. Es gibt darüber hinaus auch Wahhabiten, die bestreiten, dass der Wahhabismus fundamentalistische Ziele verfolgt. Viele Dagestaner rufen nach einem starken islamischen Führer, um über die Staatskrise hinwegzukommen. Nichtmuslime stehen diesem Ruf weniger aufgeschlossen gegenüber und fürchten eine fortschreitende Islamisierung zum Nachteil religiöser Minoritäten. Experten schätzen, dass hinsichtlich der Problematik die islamistischen Aktivitäten im heutigen Kaukasus an zweiter Stelle hinter dem Tschetschenien-Konflikt einzuordnen sind. Es ist allerdings klar, dass die zahlreichen, miteinander zerstrittenen islamischen Bewegungen 265

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sehr weit davon entfernt sind, sich miteinander vereinigen zu können, da sie nach ethnischen oder religiös interpretativen Unterschieden segregiert sind. Dennoch ist die Islamisierung in Dagestan seit 1980 durch viele Symbole sichtbar. Schon 1994 gab es 5.000 Moscheen, und Hunderte von ihnen haben ihre eigenen religiösen Schulen, in denen sie die islamische Lehre und die islamischen Gesetze verbreiten. Viele der Schulabgänger werden dann an islamische Universitäten im Ausland weitergeleitet und kehren als intellektuelle Elite nach Dagestan zurück – teilweise inspiriert von modernistischen Ideen, teilweise von fundamentalistischen Idealen. Die islamische Wiederbelebungs- und Erneuerungsbewegung hat sich allerdings nicht über ganz Dagestan ausgebreitet. Sie ist besonders stark in den nordwestlichen Gebieten, in den Bergen und im Hügelland, wo viele Laken, Darginen und andere ethnische Gruppen leben. Der ethnische Wettbewerb um die höchsten religiösen und politischen Positionen ist heftig – ähnlich der Situation zur Zeit der Sowjetunion, als es um die Besetzung politischer Positionen in der Kommunistischen Partei durch ethnische Gruppen ging. So dominierten während der 1930er Jahre die Lesginen, in den 1940er Jahren die Aserbaidschaner und von den 1950er bis 1980er Jahren die Awaren. Heutzutage unterstützen die meisten Awaren die dagestanische Regierung. Der regierungsfeindliche Wahhabismus ist besonders populär unter den Kumüken, Darginen, Lesginen und Laken. Die Situation in der Republik wird weiter durch eine lesginische Bewegung verkompliziert, die die Wiedervereinigung der geteilten Ethnie anstrebt, die zum Teil auch auf aserbaidschanischem Gebiet lebt, sowie durch den Konflikt zwischen Akin-Tschetschenen und Laken, die nach der Deportation durch Stalin in tschetschenischen Dörfern angesiedelt wurden.

Fazit Sowohl in Tatarstan, als auch in Dagestan gibt es Islamisierungstendenzen im öffentlichen und privaten Leben. In Tatarstan nimmt aber der Islam wesentlich säkularisiertere und modernistischere Formen an als in Dagestan. In beiden Regionen weisen islamische Strömungen eine enge Beziehung zum Nationalismus auf, der sich in Dagestan vor allen Dingen gegen die Inkompetenz der eigenen Regierung sowie der 266

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religiösen Führer und deren Neigung wendet, sich über ihre Ämter persönlich zu bereichern. Eine spontane Re-Islamisierung scheint Unterstützung von »unten« zu finden, und in Dagestan entstanden neben ethnischen zahlreiche religiöse Gruppierungen. Bisher haben diese sich aber nicht gegen die Regierung und ihren moskaufreundlichen Kurs zusammenfinden können, um einen islamischen Staat Dagestan oder sogar eine islamische Föderation im nördlichen Kaukasus zu verwirklichen. Wahrscheinlicher ist eher, dass die politischen und religiösen Führer weiterhin um Schlüsselpositionen in Staat und Gesellschaft kämpfen, über die sie sich und ihre Clans bereichern können. Allerdings kann es in Konfrontationen mit einem gemeinsamen äußeren Feind – wie etwa Russland im Tschetschenien-Krieg – trotz rivalisierender Interessen zum vorübergehenden Bündnis kommen. Amerikas imperialistische Politik im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und Russlands Eintritt in diese Allianz aus innenpolitischen Gründen können die anti-westlichen und anti-russischen Gefühle verstärken. Wir wollen allerdings noch einmal betonen, dass die Re-Islamisierung und die Zunahme islamischer Institutionen im öffentlichen, religiösen und politischen Leben über Sekundärerziehung in Schulen und Universitäten, Medien, Publikationen, islamische Institutionen wie Banken usw. einen nachhaltigen Einfluss auf die Identitätsbildung ausüben können. Es ist möglich, dass sich dadurch in Dagestan vielleicht längerfristig eine übergreifende islamische Identität ausbildet, die die zahlreichen ethnischen Identitäten überwinden und sich gegen die Regierung richten kann.

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Islam und Turksprachlichkeit in Dagestan und Tatarstan

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Guzel Sabirova

»Russische Muslime« – Der Islam in Tatarstan und Dagestan Guzel Sabirova Das verstärkte soziologische Interesse am modernen Islam in Russland ist vor allem auf die zunehmende Repräsentation islamischer Symbole in den öffentlichen Räumen des pluralistischen postsowjetischen Russlands zurückzuführen – ein Phänomen, das regional in unterschiedlicher Weise in Erscheinung tritt. Der Islam in Russland hat eine jahrhundertelange Geschichte. Kulturell und sozial sehr verschiedene Völker sind islamischen Glaubens, wobei jedes Volk seine spezifische Geschichte der Annahme der islamischen Identität oder des Widerstandes gegen sie hat. Im Unterschied zu den europäischen Staaten, in denen Muslime vorwiegend in Migrantengemeinden leben, ist der Islam in Russland eine Religion, die eng an die unterschiedlichen Volksgruppen gebunden ist.1 Diese traditionell muslimischen Völker sprechen unterschiedliche Sprachen und haben äußerst unterschiedliche Kulturen ausgeprägt. Unter ihnen stellen die Tataren die bevölkerungsstärkste Volksgruppe dar. Ethnische Heterogenität und territoriale Zersplitterung sind somit die wichtigsten Faktoren, die den Islam in Russland kennzeichnen. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass Forschungen über islamische Religiosität eng mit Studien über Ethnizität verbunden sind. Das ethnische und das konfessionelle Selbstverständnis der Muslime im vorwiegend orthodoxen Russland sind solchermaßen miteinander verwoben, dass russische Sozialwissenschaftler nicht von einem Prozess der »ReIslamisierung«, sondern von einem »Prozess der Wiedergeburt und des Wiederaufbaus ethno-konfessioneller Traditionen« (Malaschenko 1998: 7) sowie von einem »religiösen Nationalismus« sprechen (Musina 2001: 291). Anfang der 1990er Jahre wurden überwiegend quantitative Untersuchungen zum Wiedererwachen, zur Konsolidierung und auch zur Stagnation der Interessen an Religion im Allgemeinen und am Islam 1

Nach unterschiedlichen Schätzungen gehören heute in Russland ca. 11 bis 22 Mio. Menschen Volksgruppen an, die den Islam als kulturellen Hintergrund haben (Malaschenko 1998: 7).

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Der Islam in Tatarstan und Dagestan

im Besonderen durchgeführt2. Mit diesem Beitrag sollen diese quantitativen Untersuchungen ergänzt, bestätigt oder, wo notwendig, auch widerlegt werden. Als Analysehintergrund dienen dabei Ergebnisse einer qualitativen Feldforschung, die mit ihren erzählungsgenerierenden Fragen darauf abzielte, über die rein äußeren Merkmale islamischer Identitätsstiftung (Besuch der Moschee, Einhaltung religiöser Rituale und Pflichten) hinaus subjektive Definitions-, Wahrnehmungsund Zuschreibungsprozesse der Muslime in Tatarstan und Dagestan zu erfassen. Denn den Kern von Religion bilden nicht allein die Dogmen, sondern die Individuen, die ihre Religiosität leben, gestalten und verändern. »Here too we can no longer proceed from an Islam by which the subjects – in the truest sense of the word – are subdued. We are obliged to base our discussions on subjects who ›become‹ Islam« (Schulze 1998: 194).

Kurzer Abriss zur Feldforschung, zu Dagestan und Tatarstan Die diesem Beitrag zugrunde liegenden Daten sind Ergebnisse des Projektes »Islam, Ethnizität, Nationalismus im postsowjetischen Russland«, das 1997/98 unter der Leitung von Hilary Pilkington in Tatarstan und Dagestan durchgeführt wurde.3 Hauptziel des Projektes war es herauszufinden, wie die Bevölkerung in den beiden Republiken der Russischen Föderation – in Tatarstan und Dagestan – die »Re-Islamisierung« ihres soziokulturellen und politischen Lebens wahrnimmt und welchen Platz dieser Prozess im globalen Kontext der ethnischkulturellen und nationalen Wiedergeburt einnimmt. Folgenden Forschungsfragen wurde dabei nachgegangen: Welches Bild hat die Bevöl2 Siehe hierzu Kaariainen/Furman (2000: 17-19). 3 In dem Zeitraum 1997/1998 wurden 291 Interviews durchgeführt, davon 154 in Tatarstan und 137 in Dagestan. Insgesamt wurden 514 Personen interviewt. Die Interviews wurden sowohl in Städten wie Kasan, Nabereschnyje Tschelny, Machatschkala, Derbent als auch in verschiedenen kleineren Orten Dagestans und Tatarstans durchgeführt. Die Ergebnisse der Forschung sind publiziert in Pilkington/Yemelianova (2003).

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Guzel Sabirova

kerung beider Republiken vom Islam? Wie schätzen sie ihre eigene »Gläubigkeit« ein, wie die »Gläubigkeit« ihrer Mitmenschen? Was bedeutet es für sie, ein Muslim zu sein? In welchem Maße wird ihr Alltags- und Familienleben vom Islam geprägt? Im Laufe der Untersuchungen wurde deutlich, dass die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in beiden Republiken vollziehen, nicht zu vergleichen sind. Die ist u.a. auf die unterschiedlichen sozioökonomischen, kulturellen und historischen Entwicklungen sowie auf die unterschiedliche geographische Lage und territoriale Begebenheit zurückzuführen. Dagestan liegt im Nordkaukasus und ist durch ein ausgeprägtes ethnisch-kulturelles Mosaik gekennzeichnet. Ungefähr 30 ethnische Gruppen leben in Dagestan, von denen die Awaren (27,5 %), die Darginen (15,5 %), die Kumücken (13 %) und die Lesginen (11,5 %) die bevölkerungsstärksten sind (Ware/Kisriev 2001: 114). Mehr als 85 % der Bevölkerung Dagestans gehören zu den traditionsgemäß islamisch orientierten ethnischen Gruppen.4 Der Anteil der russischen Bevölkerung beträgt nur 7,9 %. Heute erlebt Dagestan eine starke sozioökonomische Krise, die sich vor allen Dingen in einer Zunahme der Kriminalität zeigt. Darüber hinaus bewirkt die Nähe zu Tschetschenien, dass die Bevölkerung Dagestans zunehmend in die ethnischen und religiösen Konflikte des Kaukasus hineingezogen wird. Tatarstan liegt im zentralen Flachland Russlands und ist deshalb in größerem Maße in die russische Kultur und in deren Modernisierungsprozess integriert als Dagestan. Die Mehrheit der Bevölkerung bilden die muslimischen Tataren5 mit 48 %, als zweitgrößte Volks4 Die meisten Dagestaner gehören zur Gruppe der Shafi Amdhab, eine sunnitische Ausrichtung. In Dagestan entstanden die ersten muslimischen Gemeinden schon im 7. Jahrhundert. Bis zum 19. Jahrhundert wurden Kriege mit dem Ziel der islamischen Expansion geführt. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert galt Dagestan als ein Zentrum der islamischen Bildung (vgl. Ware/Kisriev 2000; Bobrovnikov 2001). 5 Die Tataren sind seit dem 10. Jahrhundert Sunniten und gehören der hanafistischen Schule an. Der tatarische Islam unterscheidet sich mit den so genannten dschadidistischen Traditionen der Erneuerungsbewegung des

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gruppe sind die christlich-orthodoxen Russen mit 43,3 % zu nennen. In den Zeiten des Anwachsens ethnischen Selbstbewusstseins zu Beginn der 1990er Jahre wurde Tatarstan berühmt durch seinen Präsidenten Mintimer Schajmijew, der das »tatarische Modell« propagierte und durchsetzte, das die Existenz einer nationalen tatarischen Republik innerhalb des postsowjetischen Russlands vorsieht. In beiden Republiken, Tatarstan und Dagestan, sind seit Beginn der 1990er Jahre verstärkt islamische Symbole im öffentlichen Raum präsent, islamische Rituale und Pflichten können seitdem wieder öffentlich praktiziert werden. Dies führt zu einer Redefinition islamischer Begriffe und zu einem Wandel in der Selbstwahrnehmung und Selbstzuschreibung der Bevölkerung beider Republiken als Muslime.

Die Muslime zur Zeit der Sowjetunion Die berühmte Aussage von Karl Marx: »Religion ist das Opium des Volkes« (Marx/Engels 1957: 378), die Lenin in das bekanntere Schlagwort: »Religion ist Opium für das Volk« umformulierte, wurde zum symbolischen Ausdruck der atheistischen Ideologie der Sowjetzeit. Dabei wurde dieser staatlich propagierte Atheismus in den beiden Republiken Tatarstan und Dagestan unterschiedlich umgesetzt. Während in Tatarstan der Atheismus konsequent und z.T. sogar mit repressiven Methoden gegenüber den Gläubigen durchgesetzt wurde, pflegten in Dagestan selbst Parteifunktionäre und ihre Angehörigen im Verborgenen und unter dem Schutze des Privaten ihren islamischen Glauben und befolgten die wichtigsten islamischen Rituale. In der gesamten Sowjetunion wurde eine umfassende antireligiöse Propaganda betrieben, die Maßnahmen wie die gewaltsame Unterbrechung des religiösen Fastens6, das Ausschließen von Gläubigen aus Bildungseinrichtungen, die Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis sowie das Ausschließen aus der Partei umfassten. Volksfeste an religiösen Islam am Ende des 18. und 19. Jahrhunderts (vgl. Noack 1998; Kemper 1998). 6 Unsere Befragten gaben an, dass z.B. im Monat Ramadan die Muslime gezwungen wurden, während der Fastenzeit von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang Wasser zu trinken oder Schweinefleisch zu essen.

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Guzel Sabirova

Feiertagen wurden untersagt, stattdessen wurde versucht, eigene, die atheistische Ideologie unterstützende Feste zu kreieren.7 »Das alles zu verbieten – so eine Richtung gab es. Und die Organe der Staatssicherheit haben dafür gearbeitet. Ich erinnere mich, man hat einen 70-jährigen Greis verhaftet, weil er einen 7-jährigen Knaben das Koranlesen gelehrt hat. Ich weiß nicht, was daran schlecht ist« (Dagestan, ein Aware).

In den Augenzeugenberichten sowie den Sagen und Legenden aus jener Zeit ist die Erinnerung an die repressive Politik des Sowjetstaates gegenüber den Religionsgemeinschaften und der Ausübung religiöser Praktiken lebendig geblieben. Sie geben die Atmosphäre wieder, innerhalb derer sich der Islam in der Gesellschaft positionieren musste. Es waren vor allen Dingen die Älteren, die am Glauben und an den islamischen Ritualen festhielten. »Sie glaubten weiter. Zum Beispiel mein Großvater, ich weiß, dass er immer jeden Freitag auf den Friedhof zum Gebet ging. Er beachtete den Glauben, beachtete den Islam. Und als da … Es war ein Vorfall in Tschelny, als man das Gebet verbot, und unsere örtliche Macht auch … mein Großvater ist mit seinem eigenen Geld nach Kasan gefahren, und als man Kasan ebenfalls verbot, ist er nach Moskau gefahren und in den Kreml geraten« (Tatarstan, eine Tatarin).

Dieser staatlich propagierte Atheismus führte zu einer Polarisierung der Gesellschaft: Die einen glaubten oder sympathisierten mit den Gläubigen, die anderen setzten sich vehement für den Atheismus ein. Die meisten der Interviewten hatten Geschichten von solchen Polarisierungen innerhalb der eigenen Familie zu berichten. Den Kern der Gläubigen bildeten die Alten, die noch vor oder in den ersten Jahrzehnten nach der Revolution eine religiöse Ausbildung an den Koranschulen genießen konnten. Viele von ihnen beteten und nahmen deshalb nicht selten eine besondere Stellung innerhalb ihrer Familien ein. 7 Hierzu gehören u.a. der Internationale Tag der Frauen am 8. März, der 1. Mai (Tag der Internationalen Solidarität der Arbeiter), der 9. Mai (Tag des Siegs über Hitlerdeutschland), das Neujahrsfest am 1. Januar, der 23. Februar (Tag der sowjetischen Armee) und der Tag der Oktoberrevolution am 7. November.

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Der Islam in Tatarstan und Dagestan

Darüber hinaus aber konnten sie ihr religiöses Wissen, die islamischen Traditionen, zumindest aber den Respekt vor der Religion an die jüngeren Generationen weitergeben. Zu den religiösen Bräuchen, die am ehesten von den Jüngeren übernommen wurden, gehörten die islamischen Initiationsrituale. So konnte sich der staatlich propagierte Atheismus trotz der massiven Repressionen nicht bis in letzter Konsequenz unter der islamischen Bevölkerung der damaligen Sowjetunion durchsetzen. Einige noch zu Sowjetzeiten durchgeführte Forschungsarbeiten wiesen darauf hin, dass besonders in den ländlichen Regionen sowie unter den Alten und Frauen ein stärkeres Festhalten an islamischen Traditionen zu beobachten sei (Urasmanova 1984; Isimbetov 1963). Während also die einen Familien weiterhin die im Islam vorgeschriebenen Rituale verrichteten (z.B. Gebete, Beschneidung, Fasten), die Pflichten erfüllten (z.B. Almosensteuer) und die muslimischen Feste feierten (z.B. id al-fitr), verlor die praktische Ausübung des Islams für die anderen an Bedeutung. Letzteres galt vor allen Dingen für Kleinfamilien, die in den Städten lebten. So ist es nicht verwunderlich, dass viele der heute 35- bis 40-jährigen Dagestaner bis zu einem Alter von 15 Jahren noch Gebete verrichtet haben. Danach zogen die meisten Heranwachsenden in die umliegenden Städte, um eine Ausbildung zu beginnen, und übten dort die religiösen Praktiken nicht weiter aus. Die Abwanderung in die Städte bedeutete für die jüngere Generation eine Herauslösung aus dem familiären Zusammenhang und damit aus der Gemeinschaft, innerhalb derer die islamischen Praktiken gemeinsam ausgeübt wurden. Ohne diese Gemeinschaft wurden die islamischen Rituale allmählich vernachlässigt oder sogar aufgegeben. Verstärkt wurde dies durch das staatliche Verbot der öffentlichen Ausübung religiöser Praktiken, wodurch der Islam aus dem öffentlichen Raum herausgedrängt und durch staatliche Institutionen8 ersetzt wurde. Dieses Phänomen ist vor allen Dingen in Tatarstan zu beobachten, da dort im Gegensatz zu Dagestan der Urbanisierungsprozess weiter fortgeschritten ist. 8 Staatliche Feiertage statt religiöser; staatliche Schulbildung statt islamischer; vom Staat vorgegebener Arbeitsrhythmus versus vorgeschriebener Fasten- und Gebetszeiten für Muslime.

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Guzel Sabirova

Das sowjetische Regime konnte unter den traditionell islamisch geprägten Völkern den Islam nicht verdrängen, doch hat ihre repressive Politik, gekoppelt mit einer forcierten Verbreitung der staatstragenden kommunistischen Ideologien, dazu geführt, dass die Religion an Bedeutung verlor. Der Islam war nicht mehr die alleinige Quelle von Glaubens-, Deutungs- und Denkmustern. Seine Verdrängung aus dem öffentlichen Leben in den privaten Bereich bewirkte, dass er auch als Ordnungs- und Regelungssystem des Alltags immer weniger eine Rolle spielte. Der Islam und die Ausübung seiner Rituale wurden zur »Privatsache«. Viele der Muslime konnten die religiösen Praktiken nicht mehr in der Gemeinschaft ausüben (Schließung von Moscheen und Medressen), sie hörten nicht mehr die Worte und damit die Interpretationen des für ihre Gemeinde zuständigen Imams. So wurde es zur Angelegenheit eines jeden Einzelnen, den Islam auszulegen und seine Bedeutung für das Alltagsleben zu bestimmen. Diese Verdrängung des Islam in den privaten Bereich führte dazu, dass sich innerhalb der Bevölkerung die Vorstellung von einer »Vererbung der Religion«, »das geht ins Blut« oder »wird mit der Muttermilch eingesaugt« entwickeln konnte. Die Zugehörigkeit zur Religion wird dementsprechend folgendermaßen definiert: »Ich bin Muslim, weil meine Eltern, deren Eltern und ihre Vorfahren auch Muslime sind.« Paradoxerweise unterstützten also die staatlichen Sanktionsmaßnahmen gegen den offiziellen Islam die Entwicklung eines nichtoffiziellen, privaten Islam (Ro’i 2000: 36; Saroyan 1997). Durch das Verbot der öffentlichen Ausübung des Islam und auch bedingt durch die schlechte Infrastruktur, gab es keine Möglichkeit mehr, sich mit den muslimischen Gemeinden anderer Dörfer auszutauschen oder gemeinsam religiöse Feste zu feiern. So entstanden unter dem Einfluss lokaler Bräuche und Traditionen eine Vielzahl an Deutungs- und Ausübungsmustern islamischer Rituale, die sich von Dorf zu Dorf unterschieden. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass der staatlich propagierte Atheismus der Sowjetunion sowohl in Tatarstan als auch in Dagestan Prozesse einleitete, die sich gut mit den Begriffen »Privatisierung«, »Lokalisierung« und »Ethnisierung« des Islam beschreiben lassen. Während »Lokalisierung« den Einfluss der lokalen Traditionen auf die Wahrnehmungs-, Deutungs- und Ausübungsmus-

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Der Islam in Tatarstan und Dagestan

ter des Islam bezeichnet, verweist »Ethnisierung« auf den Einfluss der jeweiligen Volkskultur.

Die Muslime im postsowjetischen Russland Mit dem Sturz des sowjetischen Regimes und der zunehmenden Autonomie der einzelnen Republiken und Verwaltungseinheiten der Russischen Föderation begann eine Entwicklung, die von manchen russischen Sozialwissenschaftlern auch als »islamische Wiedergeburt« oder »Reislamisierung« bezeichnet wird (vgl. Musina 2001; Drobischeva 1998). Quantitativ lässt sich diese aus der seitdem stetig anwachsenden Zahl an wiedereröffneten bzw. neu errichteten Moscheen und islamischen Bildungseinrichtungen ermitteln. So wuchs die Zahl der registrierten muslimischen Gemeinden in Russland von 1216 im Jahr 1992 auf 2891 im Jahr 1998 an (Ministerstvo justizii RF 1998: 32). Darüber hinaus aber machen die von uns durchgeführten Interviews deutlich, dass der Islam als Deutungs-, Regelungs- und Ordnungssystem des Alltags wieder an Bedeutung gewinnt. Der plötzliche Sturz der sowjetischen Ideologien, der Verfall ihrer Werte und Moralvorstellungen führte zu einem ideologischen und geistigen Vakuum. Es sind die Religionen, die mit ihren Normen und Wertvorstellungen diese Leere wieder auffüllen. »Früher gab es eine Ideologie, heute gibt es nichts für die Erziehung, nichts blieb übrig, und man muss vom Bösen abhalten, denn es ist notwendig. Es gibt keine Pionier- und Komsomolorganisationen, keine politische Schulung … Man muss das durch etwas ersetzen … Es entsteht ein luftleerer Raum, der sich mit etwas erfüllt, und es soll eine notwendige Sache sein« (Tatarstan, ein Tatare).

Mit dem Regime und seiner Ideologie stürzte auch die Idee von der internationalen Idee der Arbeiterschaft, von einer Arbeiterschaft ohne ethnische und konfessionelle Unterschiede. Nie zuvor wurden Themen ethnischer Selbstwahrnehmung so offen diskutiert und politisch instrumentalisiert, drangen Symbole ethnischer Zugehörigkeit in den öffentlichen Raum ein wie nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes. Für die meisten der traditionell islamischen Volksgruppen der

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Guzel Sabirova

postsowjetischen Staaten stellt dabei der Islam ein zentrales, wenn nicht das zentrale Element der nationalen Identifizierung dar. So z.B. in Tatarstan, wo er seit dem Verlust der Souveränität im 16. Jahrhundert vor allen Dingen auch als Instrument der Abgrenzung gegenüber der orthodoxen russischen Vorherrschaft fungiert. Im multinationalen Dagestan dagegen bestimmen familiäre sowie regionale Zugehörigkeiten die Identifikationskonzepte der Bevölkerung. Deshalb konnte der Islam hier kaum die integrierende Mittlerrolle zwischen den unterschiedlichen Volksgruppen, von denen jede ihre eigenen Adat-Traditionen ausgebildet hat, übernehmen. Für die traditionell islamischen Völker der postsowjetischen Staaten wird der Islam zum wichtigsten Bestandteil ihrer Identität und Kultur. Was früher in der Sowjetzeit verboten bzw. in die Abgeschiedenheit des privaten Raumes verbannt wurde, gewinnt jetzt innerhalb der Öffentlichkeit an Bedeutung und Ansehen. Das Wissen über den Islam, die Einhaltung seiner Rituale und Pflichten sowie der Besitz islamischer Titel sind zu einem bedeutungsvollen sozialen Kapital geworden. Auch wenn kritische Stimmen von einer »Massenislamisierung« der Bevölkerung sprechen, kann die mit der Perestrojka eingetretene Entwicklung nicht als eine solche bezeichnet werden. Der Sturz der sowjetischen Ideologien und die darauf folgende Legalisierung der Religionen vollzogen sich schnell und unerwartet. Die Bevölkerungsgruppen, die ihre islamischen Traditionen bewahren konnten, nehmen diese Entwicklung als »Geschenk Gottes« für ihre strenge Einhaltung der islamischen Gebete wahr. Andere jedoch, die eine »sowjetische Sozialisation« durchlaufen haben, die ihnen beigebracht hat, dass Religion ein Mittel zur »Volksverdummung« sei, fühlen sich von der neuen Entwicklung betrogen. Sie haben sich neu zu orientieren in einem sozialen Raum, dessen alte Werte plötzlich als »unzureichend« gelten. Dabei können sie sich ebenso wenig schnell in einen konsequenten Muslim verwandeln wie überzeugte Kommunisten in Apologeten des Kapitalismus. Dennoch vollzieht sich die »islamische Renaissance« bzw. der Prozess der »islamischen Wiedergeburt« nicht ohne Missstimmungen. Der Tschetschenienkonflikt und die daraus resultierende, sich immer weiter verbreitende Furcht vor der Gefahr eines islamischen Fundamentalismus sowie die Skandale und Enthüllungen, die einigen der 280

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Der Islam in Tatarstan und Dagestan

religiösen Führer anhaften, sorgen für eine zunehmend kritische und zum Teil auch negative Haltung gegenüber der fortschreitenden »Massenislamisierung«. Das Bild von den »roten Mullahs« entstand, die die Zeichen der Zeit erkannt hatten und ihre Parteibücher gegen tjubetejkas9 tauschten. An der Aufrichtigkeit ihrer religiösen Haltung wird gezweifelt. Eine 1997 in den Städten Tatarstans durchgeführte Umfrage zeigt auf, dass sich 81 % der Tataren und 74 % der Russen eher für gläubig als nichtgläubig hielten (Drobischeva 1998: 235). Bei einer ähnlichen Untersuchung in Dagestan (1997) bezeichneten sich 95 % der Befragten als gläubige Muslime. Die Hälfte von ihnen gab an, alle islamischen Rituale und Pflichten zu erfüllen (Bobrovnikov 2001: 73). Diese Daten weisen lediglich darauf hin, dass trotz der atheistischen Periode die Religion bzw. der Islam für den Einzelnen immer noch oder wieder von Bedeutung ist. Sie geben jedoch keine Auskunft darüber, welcher Art oder wie ausgeprägt diese Bedeutung ist. Was heißt es eigentlich, ein gläubiger Muslim zu sein? Was macht die Gläubigkeit aus? Wie äußert sich die Gläubigkeit der Muslime Tatarstans und Dagestans? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden, wobei zur Analyse auf die in Tatarstan und Dagestan durchgeführten Interviews zurückgegriffen wird.

Muslim, ohne »gläubig« zu sein Wie gläubig sind die islamischen Bevölkerungsgruppen von Tatarstan und Dagestan eigentlich? Um diese Frage klären zu können, gilt es zunächst, ein wichtiges methodologisches Problem zu lösen, nämlich das der Operationalisierung des Schlüsselbegriffs »Gläubigkeit«. In der Tradition des sowjetischen wissenschaftlichen Atheismus betrachtete man Religion als einen Komplex aus drei miteinander verbundenen Komponenten: einer intellektuellen, einer emotionalen und einer Verhaltenskomponente (Demjanova 1984: 15). Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre setzte sich im sowjetisch-russischen akademischen Diskurs die Auffassung durch, dass zur Bestimmung des »Gläubigkeitsniveaus« nicht nur das religiöse Be9 Kappe der muslimischen Männer

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wusstsein, sondern auch das religiöse Verhalten des Individuums von Bedeutung sei (vgl. Ugrinovitsch 1985). Nicht allein der Glaube an Gott mache aus einem Individuum einen »Gläubigen«, sondern diese Zuschreibung verlange, dass alle drei Komponenten der Religionsdefinition berücksichtigt würden: die Vorstellung, die Verfassung, die Handlung (ebd.). Dieser Ansatz reduzierte die Anzahl der »Gläubigen« in den gängigen Statistiken beträchtlich. Eine andere, von den westlichen Orientalisten entwickelte und z.T. von einigen russischen Islamforschern noch heute vertretene Sichtweise über »Gläubigkeit« schließt die Handlungskomponente aus und betrachtet die Selbstdefinition des Einzelnen (vgl. Baltanova 1991; Musina 1994). »Die Frage, ob der Mensch Muslim ist oder nicht, hängt nicht davon ab, wie er lebt, sondern davon, wie er sich selbst in Bezug auf die Welt begreift« (Akiner 1986: 1).

Nach dieser Definition ist der Einzelne dann ein Muslim, wenn er sich als solcher begreift. Nicht die strikte Einhaltung der islamischen Rituale und Pflichten macht also einen Muslim aus, sondern sein Zugehörigkeitsgefühl zum Islam (Landa 1995: 75). Die meisten der Befragten in Tatarstan und Dagestan hielten sich für Muslime. Nur zeigen die Interviews, dass der Begriff »Muslim« unterschiedlich angewandt wurde. Ein Großteil verwendete Abstufungen, um seine Zugehörigkeit zum Islam auszudrücken: »einfacher Muslim«, »natürlich, Muslim!«, »echter Muslim«, »echter, wahrer Muslim«, »konsequenter Muslim«. Jede dieser Abstufungen steht sowohl für die subjektive Einschätzung des eigenen »Gläubigkeitsniveaus« als auch für die Selbstpositionierung in Bezug auf die Welt. »Mein Vater betet ja manchmal, bemüht sich die Rituale zu beachten, Namas zu verrichten … Die Rituale, die ich für Volksrituale halte, kenne ich nicht … etwa zum Andenken des Vaters, der Eltern zu beten, zum Friedhof zu gehen, beim Begräbnis irgendwelche Rituale zu verrichten – er befolgt das alles. Aber ein wahrer Gläubiger – so kann man ihn nicht nennen … Ich weiß wirklich nicht, was es heißt, ein Muslim zu sein. Jedermann versteht etwas eigenes unter dem Wort Muslim« (Tatarstan, ein Tatare).

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So wurde der Terminus »einfacher Muslim« oft dazu verwendet, die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gemeinschaft, die gleichzeitig islamisch ist, auszudrücken. Begründet wurde diese Zuschreibung mit dem Hinweis auf die Tradition. Man selbst ist Muslim, weil die Vorfahren auch schon Muslime waren. Vor allen Dingen in Tatarstan trafen wir auf diese »einfachen Muslime«, die die islamischen Rituale selten bis gar nicht beachteten und für die der Islam auch auf der intellektuellen und emotionalen Ebene keine Rolle mehr spielte. Dieses Phänomen der Selbstbeschreibung als Muslim, ohne jedoch zu praktizieren und »gläubig« zu sein, veranlasste einige russische Islamforscher, nach nicht religiösen Wurzeln der islamischen Identifikation zu suchen.10 Insgesamt machten die Interviews deutlich, dass kein einheitliches Idealbild von einem Muslim existiert. Das ist vor allen Dingen auf die sich zu Sowjetzeiten vollzogenen Prozesse der »Privatisierung«, »Lokalisierung« und »Ethnisierung« des Islam zurückzuführen, die zur Herausbildung unterschiedlicher Wahrnehmungs-, Deutungs- und Ausübungsmuster religiöser Praktiken führten sowie dazu, dass sich keine von allen anerkannte islamische Autorität entwickeln konnte.

Muslim sein zwischen Pflichten und Aufrichtigkeit Viele Geistliche in Tatarstan und Dagestan vertreten die Vermutung, dass der Islam erst durch die Ausübung seiner Rituale lebendig werde. Ein Muslim ist dann ein Muslim, wenn er seine Pflichten befolgt (Gebete, Pilgerfahrt, Almosensteuer, Fasten im Ramadan, Besuch der Moschee). Darüber hinaus muss er auch seine Religion kennen, d.h. nicht nur Wissen über die praktischen, sondern auch über die theoretischen Elemente besitzen: den Koran, das Leben des Propheten und seiner Nachfolger. 10 Viele westliche Islamwissenschaftler meinen, dass die Zugehörigkeit zum Islam nicht nur eine konfessionelle, sondern auch eine nationale und internationale sei. Diese Betrachtungsweise wurde jedoch von vielen russischen Islamwissenschaftlern vor dem Hintergrund des sowjetischen Atheismus abgelehnt. Die Gleichstellung des Islam mit nationaler Zugehörigkeit hielten sie für unbegründet.

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Guzel Sabirova »Ein strenges Einhalten der Richtlinien des Korans. Das ist ein wahrer Muslim« (Dagestan, ein Zachur).

Im Gegensatz dazu glauben viele Angehörige der ethnisch-kulturellen Elite, dass das starre Festhalten an den Ritualen ein »hinterwäldlerisches« Überbleibsel sei. Nur die »ungebildeten« Imame würden glauben, dass »man unbedingt fünfmal beten muss – sonst bist du kein Muslim« (Tatarstan, ein Tatare). Vor allen Dingen in Tatarstan ist diese Sichtweise weit verbreitet. Sie ist geknüpft an die Vorstellung, dass Aufrichtigkeit den Glauben ausmache. »Nicht alle Betenden sind wahre Muslime« (Tatarstan, ein Tatare). Von dieser Vorstellung nährt sich die Kritik an der bestehenden Geistlichkeit. Beispiele über ihre Verlogenheit, Unehrlichkeit und Inkonsequenz werden angeführt. Ein »wahrer Muslim« zeichne sich durch die Reinheit seiner Absichten aus – ein Muslim lüge nicht, stehle nicht, töte nicht, er trinke keinen Alkohol. Ob er die vorgeschriebenen Rituale und Pflichten einhalte, sei zweitrangig. Viele der Interviewten, die diese Sichtweise teilten, gaben jedoch an, dass sie in naher Zukunft die Gebete einhalten wollen. Diese beiden Positionen, das strikte Einhalten islamischer Gesetze sowie die Ausübung der Rituale unabhängig von der inneren geistigen Haltung einerseits und die »wahre islamische Aufrichtigkeit« losgelöst von den religiösen Praktiken andererseits, bilden die Koordinatenachsen eines Feldes, in dem sich die gläubigen Muslime Tatarstans und Dagestans unterschiedlich verorten. Während die befragten Tataren bei ihrer Selbstwahrnehmung und Identifizierung als gläubige Muslime mehr Aufmerksamkeit auf die innere geistige Haltung legten, betonten die Dagestaner darüber hinaus die Ausübung religiöser Praktiken. Solche unterschiedlichen Verortungen lassen sich sowohl zwischen den Muslimen, die in den ländlichen und städtischen Regionen Tatarstans und Dagestans leben, als auch zwischen der intellektuell-weltlichen und der geistlichen Elite feststellen.

Der Islam und der Alltag: Rituale und alltägliches Leben Den Stellenwert, den die islamischen Rituale für den Einzelnen bzw. für die unterschiedlichen Volksgruppen in Tatarstan und Dagestan 284

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haben, sowie die Art und Weise ihrer Ausübung variieren je nach ethnischem und soziokulturellem Zusammenhang. In beiden Republiken existiert eine Vielfalt islamischer Praktiken, die noch durch das Fehlen islamischer Institutionen (wie z.B. Bildungseinrichtungen), durch den Informationsmangel über die islamischen Pflichten und die Art ihrer Ausübung sowie durch den Einfluss der Adat-Traditionen gestützt und verstärkt wird.11 Manche der Interviewten äußerten die Vermutung, dass gerade durch diese Verschiedenartigkeit der religiösen Praxis die Autorität des Islam untergraben und die Vorstellung von dem »selbstverständlichen Recht auf eine freie Deutung« gefestigt würden. »Jeder zieht sein eigenes Ding durch und deswegen verlieren die Leute den Glauben an den Islam. Wenn es eine Religion ist, eine christliche Religion zum Beispiel, ist sie allein so fest – mit eigener Ordnung, eigenen Gesetzen, eigenen Richtungen, eigenen, sagen wir … Beerdigungsgebeten« (Dagestan, ein Zachur).

Dieses Zitat spiegelt auch das Bedürfnis nach einem einheitlichen Islam wieder, dem die Vorstellung eines idealen, wahren Islam zugrunde liegt. So wurde die Forderung laut, dass der zur Zeit praktizierte Islam u.a. von den Adat-Traditionen bereinigt werden müsse, um zu seiner eigentlichen einheitlichen Gestalt zurückzufinden. Dagegen argumentierten diejenigen, die weniger in der Einhaltung der islamischen Pflichten als in der »Aufrichtigkeit« den Schlüssel zur »wahren Gläubigkeit« sahen, dass viele der islamischen Rituale als traditionelle und nicht als religiöse wahrgenommen würden. Sie würden eingehalten, »weil es so üblich ist«, und seien deshalb eher ein Indikator für die Verbundenheit mit der Tradition als mit dem Islam. Einige gingen sogar so weit, zu behaupten, der Islam sei eine »Clubreligion für Rentner und Arbeitslose«. Sie meinen damit, dass nur diejenigen die religiösen Rituale einhalten könnten, die von allen weltlichen Pflichten (wie Arbeit, Kindererziehung, Haushaltsführung) frei seien. Die Zuschreibungen und Selbstbeschreibungen der interviewten russischen Muslime zeigen, wie mit In- und Exklusion Identitätspolitik 11

Vgl. Korff (1998), der dies analog für die Situation in Südostasien beschreibt.

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betrieben wird. Gerade die Pluralität der Aussagen macht deutlich, dass gesellschaftliche Verortungen neu gesucht werden. Die religiöse Praxis verändert sich durch die neu gewonnene Möglichkeit der öffentlichen Religionsausübung in der Russischen Föderation und den jetzt ebenso bestehenden Einflüssen von außen. Die fünf Säulen der islamischen Lebensgestaltung und ihre Einhaltung werden in der Wiederaneignung von religiöser Praxis in den Mittelpunkt der diskursiven Verortung in der postsowjetischen Gesellschaft gestellt. Wie im Folgenden dargestellt wird, werden die islamischen Regeln regional unterschiedlich und kontrovers gehandhabt.

Die fünf Säulen des Islam in der diskursiven Identitätspolitik russischer Muslime ash-shahadat (Zeugnis abgeben) Trotz aller Unterschiede in den subjektiven Definitionen und Wahrnehmungen von »Gläubigkeit« in der Einstellung zu den Ritualen und ihrer Bedeutung gaben alle Interviewten an, dass der Glaube an die Einheit Allahs (tauhid) das zentrale Element muslimischer Identität sei. Darüber hinaus wurden die weiteren vier Säulen des Islam (das rituelle Gebet, das Almosengeben, das Fasten, die Pilgerreise nach Mekka) als identitätsstiftende Faktoren genannt. Jedoch hatten die Interviewten unterschiedliche Einschätzungen über den Grad der Bedeutung jeder dieser Pflichten für ihre muslimische Identität. as-salat (das fünfmalige Gebet) Betrachten wir das rituelle Gebet, das fünfmal am Tag zu bestimmten Zeiten verrichtet werden soll, so weisen die Interviews darauf hin, dass die Muslime in Dagestan die Gebetszeiten öfter einhalten als in Tatarstan. Während in Dagestan die Betenden in allen Altersgruppen zu finden sind, bestehen sie in Tatarstan überwiegend aus Rentnern. Junge betende Tataren sind seltener zu finden. Diese haben dann entweder an einer islamischen Universität oder einer anderen islamischen Bildungseinrichtung studiert (bzw. studieren dort noch) oder kommen aus einem der wenigen religiösen Dörfer Tatarstans. In vielen Dörfern Dagestans lernen die Kinder schon früh zu be-

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ten. Eine 17-jährige Gubdenin, die zum ersten Mal mit neun Jahren betete, erzählte: »Ich habe in der Stadt gelebt. Dort gab es niemanden, der lehren konnte und ich kam hierher. Hier lehrte man. Ich bin hierher gekommen und dort habe ich alles vergessen. Deswegen habe ich spät angefangen, man beginnt gewöhnlich mit sieben Jahren – sowohl die Jungen als auch die Mädchen.«

Die Gebetstexte12 sind auf Arabisch, einer fremden Sprache, die sowohl in Dagestan als auch in Tatarstan kaum einer lesen bzw. verstehen kann. Um das fünfmalige Gebet verrichten zu können, muss nicht nur der entsprechende Gebetstext, sondern auch der vorgeschriebene Ablauf gewusst werden. Wie oft soll der Text wiederholt, wie oft soll sich in welche Richtung verbeugt werden? Welche Kleidervorschriften sind zu beachten? Zu jedem Gebet gehört nicht nur ein Text, sondern auch ein Ritual, das eingehalten und gelernt werden muss. In vielen Dörfern Dagestans werden die zu betenden Suren und das dazugehörige Ritual innerhalb der Familien an die folgenden Generationen weitergegeben. Die Kinder »erleben« das Gebet bei ihren Großeltern und Eltern und »ahmen« es nach. In den Städten dagegen lernen viele junge Menschen das Beten nur noch, wenn sie an einer islamischen Bildungseinrichtung studieren. Nur wenige der Interviewten kannten noch andere als das fünfmalige Gebet. Bei ihnen handelte es sich überwiegend um ältere Menschen, die mit den religiösen Traditionen fest verbunden sind. Man erzählte uns z.B. von einer alten Frau aus Kubatschi, die täglich mehrere Stunden im Koran lese und viele islamische Rituale kenne. Sobald ein Mitglied ihrer Familie eine längere Reise antrete oder sich in einer schwierigen Situation befinde, spreche sie für ihn ein spezielles Gebet oder vollziehe ein spezielles Ritual. So sei sie z.B. barfuß zur Moschee des nächsten Dorfes gegangen, um für ihren Enkel Allahs Beistand bei der Aufnahme an einer Hochschule zu erbitten. Aufgrund dieses religiösen Wissens und Eifers übernehme sie die Rolle der »Vermittlerin« zwischen Allah und ihrer Familie. 12

Jedes Gebet beginnt mit der Fatiha und einer bestimmten Anzahl an Verbeugungen. Danach erfolgt eine Sure aus dem Koran, die der Betende selbst wählt.

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Die Bedeutung der Gebete als identitätsstiftende Faktoren wurde von den Befragten unterschiedlich beurteilt. Einige hielten die Gebete für ein absolutes Muss, zusammen mit dem Glaubensbekenntnis für den Kern islamischer Identität, andere sahen in ihnen nur eine formale Hülle. Die »Aufrichtigkeit des Glaubens« spiegelt sich ihrer Meinung nach nicht in festgelegten Handlungen wieder. »Ich glaube, dass man im Herzen glauben muss. Die Frau muss nicht unbedingt beten, wenn sie Muslimin ist, oder noch etwas, fünfmal pro Tag beten, Waschungen vornehmen und a.m. Das ist nicht verbindlich. Nun, man muss die Gebete kennen, der Muslim muss zumindest ein Gebet kennen« (Dagestan, eine Tabasaranin).

as-saum (das Fasten) In Tatarstan und Dagestan wird das Fasten unter der islamischen Bevölkerung immer populärer. Selbst diejenigen, die nicht beten, halten den Ramadan13 ein. Die Haushalte, in denen Personen fasten, können leicht an den vor Sonnenaufgang erleuchteten Fenster erkannt werden. Unter den Fastenden finden sich mehr Frauen als Männer. Bei unseren Interviews stellten wir fest, dass die weiblichen Befragten die religiösen Rituale und Pflichten insgesamt ernster nahmen und diese eher einhielten. Zur Begründung des Fastens werden nicht nur religiöse, sondern auch alltagspraktische Motive genannt. So gaben viele der Interviewten an, aus gesundheitlichen Gründen zu Fasten. Der Entzug von Nahrung über einen begrenzten Zeitraum sei gut für den Körper. Sehr wenige der Interviewten äußerten, dass sie aus Respekt vor den Fastenden zumindest in der Öffentlichkeit auf Essen und Trinken verzichten. Das Fasten scheint also zunehmend zu einer öffentlichen Erscheinungsform zu werden. In der Regel wird einen Monat, während des Ramadan, gefastet. In Dagestan hörten wir jedoch von Muslimen, die noch darüber hinaus fasteten. Sie bauten Fastenschulden ab, aus Zeiten, in denen sie den 13

Der Fastenmonat Ramadan ist der neunte Monat des islamischen Mondkalenders. In dieser Zeit sind dem gläubigen Muslim von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang das Essen, Trinken, Rauchen und auch der Geschlechtsverkehr untersagt.

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Ramadan nicht einhalten konnten. So erzählte man uns von einem älteren Darginer aus Madschalis, dass er schon seit 13 Jahren drei Monate im Jahr fastete, um seine Schulden aus der Armeezeit zu begleichen. Am Ende des Ramadan wird eines der beliebtesten und größten der islamischen Feste gefeiert (id al-fitr). Begonnen wird kurz nach Sonnenaufgang mit einem gemeinsamen Feiertagsgebet in der Moschee. Anschließend wird im größeren Familienkreis gegessen. Im Mittelpunkt des Festes stehen gegenseitige Besuche von Verwandten, Bekannten und Nachbarn mit dem Ziel, die Gemeinschaft zu festigen. Dabei werden kleine Geschenke, in der Regel für die Kinder, ausgetauscht. al-hajj (der Hadsch) Der Hadsch14, der in der Sowjetära nicht durchgeführt werden konnte, ist heute keine Seltenheit mehr. In vielen Dörfern Dagestans wird er seit 1991 verstärkt vollzogen. So zeigte sich im Laufe unserer Interviews, dass in Gubden15 rund 60 % der Bevölkerung die Pilgerfahrt unternommen haben. Nicht selten wird eine zweite Reise für die Verstorbenen oder diejenigen angetreten, die sie selbst nicht durchführen können. In Tatarstan dagegen haben bislang nur wenige den Hadsch vollzogen. Dies mag u.a. mit den höheren Reisekosten aufgrund der größeren Entfernung zusammenhängen. Der Hadsch wird als eine heilige Pflicht des Muslim angesehen, jedoch soll er nur von denjenigen unternommen werden, die mit den religiösen Ritualen vertraut sind. Dem Hadsch wird nachgesagt, dass durch ihn Herz und Verstand geöffnet, der Körper geheilt und die Wahrheit offenbart würden. Die Pilgerfahrt und ihre Vorbereitungen werden mit feierlichem, sakralem Ernst betrieben. So erzählte uns eine 18-jährige Studentin der islamischen Universität in Machatschkala, dass sie erst den Hadsch unternehmen wolle, wenn sie verheiratet sei, damit »diese erste Pilgerfahrt zeitlebens im Gedächtnis haften bleibt«. Aufgrund der hohen Reisekosten treten nur diejenigen die Pilger14 Pilgerfahrt nach Mekka oder Medina 15 In diesem Dorf werden nicht nur die islamischen Rituale und Pflichten von einem Großteil der Bevölkerung eingehalten, sondern es werden darüber hinaus weder Alkohol noch Tabakwaren verkauft.

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reise an, die das nötige Geld dazu haben. Der Hadsch wurde somit zu einem Statussymbol der Bessergestellten. Viele Muslime mit geringerem Einkommen betonten deshalb, dass die Reise nur unter entsprechenden Voraussetzungen verpflichtend sei. »Wenn ich mir von jemandem Geld geliehen habe und meine Kinder sind hungrig, und ich fahre und gebe sieben Millionen für den Hadsch aus, dann ist das kein Hadsch. Das ist gegen den Islam« (Dagestan, ein Zachur).

Neben den finanziellen Schwierigkeiten bedeutet die Pilgerfahrt nach Mekka auch eine außergewöhnlich hohe körperliche Strapaze. Viele Dagestaner fahren mit einfachen Bussen Tausende von Kilometern nach Mekka. Die meisten betrachten diese extremen Belastungen jedoch als eine »heilige Prüfung«. So handeln auch einige Legenden von der Ausdauer, Leidensfähigkeit und Standhaftigkeit selbstloser Greise, die den Hadsch zu Fuß absolvierten oder während der Reise starben. Das Almosengeben Das Almosengeben ist sowohl in Tatarstan als auch in Dagestan weit verbreitet. Die Jahre des sowjetischen Atheismus konnten dieser Tradition in beiden Republiken nichts anhaben. Die meisten der Befragten gaben an, dass sie vor allen Dingen während der religiösen Feste Almosen an Bedürftige geben. Aber auch zu anderen Gelegenheiten werden Almosen verteilt, so z.B. vor und nach dem Hadsch, auf Beerdigungen oder aber in schwierigen Lebenssituationen, die bewältigt werden müssen. Steht man z.B. kurz vor einer Prüfung oder hat sich um einen Posten beworben, so wird gespendet, in der Hoffnung, dadurch Allahs Beistand zu erhalten. Unabhängig davon, ob sich die Interviewten als streng oder eher weniger gläubig bezeichneten, alle gaben Almosen. »Wissen Sie, man lädt die alten Frauen ein und man liest das Gebet, man kocht das Mittagessen oder man besucht jemanden und gibt Almosen. Geht jemand auf Reisen, gibt man Almosen [Jul Chaere]. Kommt er von einer langen Reise zurück – so gibt man wieder Almosen. Man gibt dem Kind oder dem Erwachsenen, wenn er zu beten versteht. Den Armen gibt man insbesondere« (Tatarstan, eine Tatarin).

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So verschieden wie die Gelegenheiten, zu denen gespendet wird, so unterschiedlich sind auch die Empfänger. Wie das Zitat zeigt, sind es vor allen Dingen die Armen und Bedürftigen, die Almosen erhalten. Darüber hinaus werden häufig auch ältere Muslime beschenkt. Das Almosengeben ist sowohl in Dagestan als auch in Tatarstan zu einem wichtigen gesellschaftlichen Instrument geworden, das hilft, soziale Missstände auszugleichen und die muslimische Gemeinschaft zu festigen.

Die islamischen Initiationsrituale Zu diesen Ritualen gehören die Namensgebung, die Beschneidung, die Hochzeit und die Beerdigung. Sie wurden bzw. werden von den meisten der Befragten eingehalten, egal wie gläubig sich die Einzelnen einschätzten, und wurden auch während der Sowjetzeit praktiziert. »Nun, unsere Bräuche, sie waren niemals tot, sie wurden und werden immer in unseren tatarischen Familien bleiben. Die Namensgebung – es gibt so ein Ritual, der Mullah gibt quasi dem Kind einen Namen. Bei mir gab es eine solche Namensgebung sowohl für den Sohn als auch für die Tochter. Mein Sohn wurde auch beschnitten. Früher hat ein Mullah die Beschneidung vollzogen, jetzt vollzieht sie das Krankenhaus unter ärztlicher Betreuung. Ja, und auch das Beerdigungsritual hat man natürlich immer eingehalten, und so hat man ja auch uns den nikach vorgelesen, und wir lesen ihn unseren Kindern … Mein Mann und ich haben nach dem Ritual des nikach geheiratet« (Tatarstan, eine Tatarin).

Die Tatsache, dass diese Rituale in der Sowjetunion trotz der Verbote und Unterdrückung auch weiterhin befolgt wurden, war den sowjetischen Forschern bekannt. Diesem Phänomen schenkten sie jedoch nur insoweit Beachtung, dass sie sich auf die Vereinfachungs- und Veränderungsprozesse, die diese Zeremonien durchliefen, konzentrierten (Urasmanova 1984: 125). Die Bedeutung und der Wert, den diese Rituale für die Bevölkerung hatten, wurde nicht untersucht. Ende 1980 zeigte eine Untersuchung über die rituellen Praktiken in Tatarstan, dass mehr als die Hälfte der tatarischen Familien an den islamischen Initiationsritualen festhielten: 78 % führten bei ihren 291

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Kindern die rituelle Namensgebung durch, 72 % heirateten nach islamischem Brauch, und 67 % der Familien ließen ihre Söhne beschneiden (Musina 2001: 298). Interessant wäre es, zu ermitteln, wie die Ergebnisse einer solchen Untersuchung heute aussehen würden. Die von uns durchgeführten Interviews und Gespräche legen die Vermutung nahe, dass ein noch größerer Teil der Bevölkerung Tatarstans, aber auch der Dagestans, auf die islamischen Initiationsrituale zurückgreift. Das Ritual der Namensgebung In Tatarstan wurde das Ritual der Namensgebung öfter genannt und von ihm weit häufiger und ausführlicher erzählt als in Dagestan. Es handelt sich dabei um ein großes Familienfest, auf dem der geladene Mullah die eigentliche Zeremonie vollzieht. Das Kind erhält zwei Namen: einen von den Eltern gewählten und den des Propheten. Die Beschneidung Die Beschneidung ist für heutige Muslime ein wichtiges, aber nicht verpflichtendes Ritual. Sie ist identitätsstiftend, denn ein Unbeschnittener kann kein Muslim sein. Ein beschnittener Penis signalisiert die Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft. Die Befragten führten sowohl religiöse und traditionelle als auch gesundheitliche Gründe zur Erklärung dieses Rituals an. »Die Beschneidung hat man immer gemacht, egal, welche Ordnung wir hatten. Es ist sogar aus Sicht der Gesundheitspflege, aus medizinischer Sicht eine Phimose. Das ist eine Entzündung, wenn sich der Harn ansammelt. Die Beschneidung ist kein Übel, sie wird sogar von der Medizin begrüßt. Früher war es jedoch verboten, man wurde dafür verurteilt und bestraft. Aber selbst ich, Kommunistin, ich habe das auch bei meinen Söhnen machen lassen … Heute wird das alles in medizinischen Einrichtungen gemacht, unter Beachtung der Keimfreiheit … Früher geschah es zu Hause, heimlich. Und heute geht das alles frei« (Dagestan, eine Kalmückin).

Bevor die Beschneidungen in Krankenhäusern unter ärztlicher Kontrolle stattfanden, wurden sie in Tatarstan, aber auch in Dagestan, von speziell ausgebildeten Männern (sunnatschi) ausgeführt. Sie gingen von

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Dorf zu Dorf, um ihre Dienste anzubieten. Familien, die in den Städten lebten, fuhren in die Dörfer, um dort ihre Söhne beschneiden zu lassen. Das Heiraten Sowohl in Tatarstan als auch in Dagestan gibt es keine einheitliche Heiratszeremonie. Je nach Region wird sie unterschiedlich durchgeführt. In einem Gebiet Dagestans wird z.B. die Eheschließung in Abwesenheit der Eheleute vollzogen. Lokale Sitten und Bräuche spielen also bei der Ausgestaltung der Zeremonie eine erhebliche Rolle. Neben den religiösen Heiratsritualen gibt es in beiden Republiken nach wie vor die zur Zeit der Sowjetunion eingeführte »Zivilehe«. Die meisten der Befragten gaben jedoch an, dass sie sich »natürlich« islamisch trauen ließen bzw. islamisch heiraten wollten. Eine »Zivilehe« komme für sie nicht infrage. Sie begründeten dies zum einen mit der Tradition: Ihre Vorfahren, sämtliche Familienangehörige und Nachbarn ließen sich islamisch trauen, und deshalb würden auch sie es tun. Zum anderen wollten sie mit dieser Heirat die »Reinheit der Ehe und der in ihr geborenen Kinder« nach außen symbolisieren. Die Beerdigung Auch die Beerdigungsrituale sind in Tatarstan und Dagestan je nach Region sehr unterschiedlich. Alle Interviewten äußerten, dass die Einhaltung der überlieferten Beerdigungszeremonie für sie äußerst wichtig sei. »Hier geben wir uns besondere Mühe. Man soll dem Verstorbenen diese Pflicht erfüllen. Insbesondere wenn der Mensch stirbt, sagen wir mein Angehöriger, mein Nächster, mein Vater ist gestorben, meine Mutter ist gestorben. In dieser Zeit wendet sich ja die Seele besonders der Religion zu, verstehen Sie … Das gibt eine Erleichterung, und man überlebt den Verlust leichter. Deshalb halten wir unbedingt diese Rituale ein« (Tatarstan, eine Tatarin).

Andere gaben an, dass die Verstorbenen nun vor Gott Rechenschaft für ihre Taten ablegen müssten. Waren sie Ungläubige oder hatten oft gesündigt, dann sind die Angehörigen besonders bemüht, das islamische Beerdigungsritual akribisch genau zu befolgen. Aus demselben

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Grund wollen in der Stadt lebende Familien ihre verstorbenen Mitglieder in ihrem Heimatdorf beisetzen, da sie annehmen, dass dort die islamischen Regeln am ehesten eingehalten würden. Die Kosten für Bestattungen sind sowohl in Dagestan als auch in Tatarstan in den letzten Jahren erheblich angestiegen. Das liegt zum einen an den hohen Preisen für das Leichengewand und das Grabmal, zum anderen aber auch an den großen Summen, die für Almosen (sadakat) ausgegeben werden. Viele Familien sind oft gezwungen, sich das für die Bestattung nötige Geld bei reichen Nachbarn oder Verwandten zu leihen, das sie in Raten über mehrere Jahre hinweg zurückzahlen. In einigen Dörfern Dagestans blieb das Ritual der siebentägigen Beweinung des Verstorbenen und des vierzigtägigen Besuchs des Grabes nach der Beerdigung erhalten. Aufgrund der hohen Kosten verkürzte sich jedoch in manchen Orten die Dauer der Gedenkfeiern. Viele der Interviewten gaben an, dass es für die Männer besonders wichtig sei, das kurze Gebet zu kennen, das jeder beim Eintreffen auf einer Beerdigung zu rezitieren habe. Manche erwähnten sogar, dieses Gebet nur mit großer Mühe gelernt zu haben, um zur Gemeinschaft dazuzugehören. Als Fazit unserer bisherigen Betrachtungen kann festgehalten werden, dass nach dem Fall der Sowjetdiktatur und mit der zunehmenden Autonomie der einzelnen Republiken die Bevölkerung sowohl in Tatarstan als auch in Dagestan wieder vermehrt auf islamische Rituale zurückgreift und diese vollzieht. Manche dieser Praktiken wurden »modernisiert« bzw. den heutigen Lebensumständen angepasst. So finden Beschneidungen nicht mehr zu Hause, sondern überwiegend in medizinischen Einrichtungen unter ärztlicher Aufsicht statt. Andere wiederum vermischen sich mit Elementen lokaler Traditionen. Diese Vermischungen wurden von einigen der Interviewten durchaus wahrgenommen, weshalb sie auch den Wunsch nach einer Vereinheitlichung und »Bereinigung« der Rituale äußerten.

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Der Islam in Tatarstan und Dagestan

Der muslimische Alltag zwischen Tradition und Erneuerung Um festzustellen, in welchem Maße islamische Traditionen und Vorschriften das Alltagsleben der Muslime in Tatarstan und Dagestan bestimmen, haben wir die Wohnungseinrichtungen der Befragten, ihre Essgewohnheiten und die Bekleidungsstile der Menschen auf der Straße genauer betrachtet. Dabei stellten wir fest, dass in den Städten Tatarstans sowohl in den Wohnungen als auch an der Kleidung der Menschen nur wenige Elemente vorhanden sind, die auf eine islamische Herkunft oder Tradition hindeuten. So fanden wir in den meisten Wohnungen einen Gebetstext über der Eingangstür (schamail) und den Kumgan, einen Wasserkrug zur Durchführung der rituellen Waschung. Die Kleidung der Tataren ist stark europäisiert, und der größte Teil der Befragten äußerte, dass er nicht zur traditionellen muslimischen Kleidung zurückkehren wolle. Allerdings sind in den Straßen von Kasan und Nabereschnyje Tschelny des Öfteren junge Mädchen zu sehen, die lange Kleider türkischer Herkunft und auf türkische Weise gebundene Tücher tragen.16 Diese Bekleidung ist jedoch keine traditionell tatarische, und die Einstellung der sozialen Umgebung dazu ist nicht eindeutig. Für den tatarischen Mann gibt es ebenfalls keine Kleidervorschriften. Lediglich zum Beten muss er eine Kopfbedeckung tragen. In Dagestan werden die Haus- bzw. Wohnungsausstattung und die Kleidung der Muslime eher durch nationale sowie regionale als durch religiöse Traditionen bestimmt. Beidem wird dort mehr Aufmerksamkeit geschenkt als in Tatarstan. Das Kopftuch ist in manchen Dörfern Dagestans ein unentbehrliches Kleidungsstück für die Frau. In Machkala trafen wir Frauen in parandschas17 an. Die Einstellung der Bevölkerung Dagestans zur parandscha und zur türkischen Art der Tuchbindung ist nicht eindeutig. Einerseits wird betont, dass man in Dagestan nie Parandschas getragen habe, andererseits äußerten einige Frauen die Bereitschaft, diese zu tragen. Ob und wo die Parandscha sich als Kleidungsstück für Frauen durchsetzen wird, hängt stark von der öffentli16 Hierbei handelt es sich um eine spezifische Art, das Tuch um Kopf und Hals zu binden. 17 Es handelt sich hierbei um eine Vollverschleierung in dunkler Farbe.

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Guzel Sabirova

chen Meinung und den gesellschaftlich geltenden Verhaltensstandards ab. In Dagestan sind die Bekleidungsvorschriften für den Mann strenger als in Tatarstan. Nach der öffentlichen Meinung hat der Mann gepflegt, sauber und wohlhabend auszusehen. Was die Essgewohnheiten anbetrifft, so waren alle Gesprächspartner außerordentlich gut über die geltenden islamischen Ver- und Gebote informiert: kein Schweinefleisch essen, nur Fleisch von Tieren essen, die entsprechend den islamischen Regeln geschächtet wurden, und keinen Alkohol trinken. In Dagestan erwähnten einige der Befragten darüber hinaus, dass auch das Fleisch des Störs nicht gegessen werden sollte. »Schweinefleisch darf man nicht essen, Speck und Schweinefleisch darf man nicht essen. Störfleisch darf man nicht essen … wir haben das nicht gewusst. … hier hat ein Alter gelebt, er war durchreisend hier, der Verstorbene. Wir haben Störfleisch gekauft und er hat gesagt: ›Das dürft ihr nicht essen‹. Meine Frau isst seitdem kein Störfleisch, aber mir ist es egal. Ich bin doch ein weltlicher Mensch« (Dagestan, ein Aserbaidschaner).

Diese Verbote werden jedoch nicht als unumgänglich angesehen. Das Verbot, kein Schweinefleisch zu essen, wird von den meisten muslimischen Familien beachtet. Sie kaufen kein Schweinefleisch und können es somit nicht zubereiten. Außerhalb der Familie beharrt nicht jeder unbedingt auf die Einhaltung dieses Verbots. »Ich esse eigentlich kein Schweinefleisch. Man isst bei uns in der Familie kein Schweinefleisch. Aber wenn ich zu Besuch gehe, wühle ich nicht besonders im Fleisch« (Tatarstan, ein Tatare).

Darüber hinaus gibt es Lebensumstände, in denen dieses Verbot ebenfalls nicht beachtet werden kann (z.B. während des Militärdienstes). Das Verbot, Alkohol zu trinken, wird am wenigsten beachtet. In beiden Republiken, wie in der gesamten Russischen Föderation, werden erhebliche Mengen Alkohol konsumiert. Sowohl in Tatarstan als auch in Dagestan werden weltliche und islamische Feiertage gleichermaßen geschätzt. Die populärsten islamischen 296

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Der Islam in Tatarstan und Dagestan

Feste sind id al-fitr18 (uraza-bayram) und id al-adha19 (kurban bayram). Trotz der Unterdrückungsmaßnahmen wurden sie auch während der Sowjetzeit in einigen Dörfern Tatarstans und Dagestans gefeiert. Bei beiden handelt es sich um große Familienfeste, in deren Mittelpunkt das gemeinsame Essen, das Lesen von Gebeten und die Verteilung von Almosen an die Armen und Älteren steht. »Für uns … nun ist der Monat Ramadan zu Ende – das ist uraza, uraza-bayram. Das ist ein normaler Feiertag, aber der wichtigste Feiertag, weil alle Verwandten kommen. Man unterhält sich, man spricht über alles mögliche, man geht auch zu Besuch. Es ist doch angenehm, mit Verwandten zu sprechen« (Dagestan, eine Darginerin).

Nach dem Ende der Sowjetherrschaft gelangten diese Feste zunehmend in die Öffentlichkeit. Sie werden heute nicht mehr hinter verschlossenen Türen gefeiert. Man kann sich frei über sie und ihre Bedeutung austauschen und sie offen vorbereiten. Dies hat dazu geführt, dass in beiden Republiken zunehmend mehr Muslime diese Feste begehen. Bei dem Versuch, die bekannten islamischen Feste aufzuzählen, nannten viele der Befragten auch traditionelle Volksfeste wie z.B. das Neujahrsfest oder sabantuj, ein Feiertag, der im Anschluss an die Aussaat begangen wird. Dies weist darauf hin, dass im Bewusstsein der muslimischen Bevölkerung islamische und volkskulturelle Elemente miteinander verschmolzen sind. Wie schon im Vorfeld angemerkt – und was durch die Interviews auch bestätigt wurde –, gibt es sowohl in Tatarstan als auch in Dagestan keine einheitlichen islamischen Rituale und damit auch keine einheitliche islamische Kultur. Zwar werden bestimmte Feste überall gefeiert, doch sind die dabei durchgeführten Zeremonien oft sehr unterschiedlich. Islamische und volkskulturelle Elemente haben sich miteinander vermischt. Lokale Traditionen spielen demnach bei der Interpretation 18 Fest des Fastenbrechens, das am Ende des Monats Ramadan gefeiert und auch id as-sagir genannt wird. 19 Fest zur Erinnerung an Abraham, der bereit war, seinen einzigen Sohn zu opfern. Es bildet den Abschluss der jährlichen Wallfahrt nach Mekka.

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und Ausgestaltung der religiösen Rituale eine große Rolle. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass der Islam wieder zunehmend in den öffentlichen Raum tritt. Was zu Sowjetzeiten in der Abgeschiedenheit des Privaten stattfinden musste, wird nun öffentlich. Zeremonien werden offen vollzogen, Rituale in aller Öffentlichkeit ausgeführt. Eine islamische Infrastruktur entsteht – mit Bildungseinrichtungen, Moscheen, Diskussionszirkeln, Gemeindezentren und Hilfswerken. In diesen übergeordneten Strukturen verlieren die lokalen Traditionen an Bedeutung. Forderungen nach einer »Bereinigung des Islam« werden laut. In den nächsten Jahren könnte sich die Vielfalt der islamischen Rituale sowie die Pluralität der islamischen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die durch den Einfluss lokaler Traditionen entstanden sind, aufgrund der Verdichtung des Kontaktes der lokalen Gemeinden untereinander und mit der ummah der Weltmuslime verringern.

Ortsbezogene Differenz: Tatarstan und Dagestan Der Islam in Tatarstan Nach dem Ende der Sowjetherrschaft erlebte Tatarstan eine so genannte »kulturelle Renaissance«. Tatarisch wurde als zweite Amtssprache zugelassen, Theater-, Musik- und Fernsehstücke werden seitdem auch auf Tatarisch inszeniert und traditionelle Volksfeste wie sabantuj oder der tatarische Unabhängigkeitstag gefeiert. Zahlreiche Kleinkünstlerclubs entstanden, die Volkskunst präsentierten. Die tatarische Regierung unterstützt viele dieser Volkskunstinitiativen. Die Vermischung islamischer Rituale mit Elementen der Volkskultur wurde auch von einem Großteil der Interviewten unterschwellig wahrgenommen: »… der Islam unterscheidet sich doch auch, er hat bestimmte Nuancen. Bei uns in Tatarstan ist ein solcher Islam, und sagen wir in der Türkei, im Irak, im Iran ist er ganz anders. Mir scheint es, dass unser Islam dem Leben am nächsten ist« (Tatarstan, ein Tatare).

Sie stellten zunächst fest, dass der Islam nicht einheitlich praktiziert werde und führten dies dann auf die unterschiedlichen Lebenssituatio298

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Der Islam in Tatarstan und Dagestan

nen, aber auch auf ein Ausmaß an »Gläubigkeit« zurück, das in jeder Region, in jedem Land verschieden ist. Als Vergleichsländer dienten ihnen dabei Tschetschenien, Dagestan, die Türkei sowie die arabischen Länder. So behaupteten die tatarischen Befragten, dass der Islam in Tatarstan »weicher« und »friedliebender« sei als in Tschetschenien oder den arabischen Ländern. Diese Einschätzung mag mit der ablehnenden Haltung gegenüber dem Krieg und den Aggressionen der arabischen Fundamentalisten zusammenhängen. Andererseits werden die Tschetschenen als »starke Gläubige« wahrgenommen, die für ihren Glauben töten würden. Manche der Befragten betrachteten ihre Landsleute, die heutige Generation der Tataren, als »sowjetisiert« und angepasst. Sie waren es auch, die in ihren Ausführungen den Mut und die Tapferkeit der Tschetschenen sowie deren Entschlossenheit, ihren Glauben gegen die russischen Invasoren zu verteidigen, in den Vordergrund stellten. Folgendes Zitat spiegelt die Ambivalenz der Beziehungen zu Tschetschenien wieder: »Natürlich muss man mit Tschetschenien, Aserbaidschan die religiösen Beziehungen herstellen, aber im Grunde des Herzens möchte ich das nicht so sehr. Weil sich die Tschetschenen, die Aserbaidschaner, an einen kriegslüsternen Islam halten, wie mir scheint. Aber ich kann mich irren. Man muss mit ihnen die Beziehungen wiederherstellen, man muss ihre Geistlichen zu uns einladen, vielleicht müssen wir bei ihnen etwas lernen, insbesondere den Glauben. Wir haben doch einen oberflächlichen Glauben. Vielleicht die Rituale, die Bräuche, den Mut muss man bei ihnen lernen. Ich persönlich nehme sie nicht so gut wahr« (Tatarstan, eine Tatarin).

Ein Großteil der interviewten Tataren erklärten den Krieg in Tschetschenien und den ihrer Meinung nach dort vorherrschenden »aggressiven Islam« in ethnischen Dimensionen. Sie betrachteten die Tschetschenen als ein hitziges kaukasisches Volk, das zu kriegerischen Auseinandersetzungen neige, während sie selbst, die Tataren, eher ruhig seien und ihren Islam mit friedlichen Mitteln verteidigen würden. Ohne Zweifel werden die sich zur Zeit entwickelnden Kontakte zu den islamischen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens das religiöse Leben in Tatarstan und die religiöse Identität der Tataren verändern. Durch die arabisch-islamischen Lehrer in den eigenen Bildungsein299

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richtungen, die Teilnahme von hohen arabisch-islamischen Würdenträgern an islamischen und nationalen Festen, durch den zunehmenden Tourismus in beide Richtungen und die beginnende, noch in den Kinderschuhen steckende wirtschaftliche Zusammenarbeit rückt das arabisch-islamische Ausland in eine Nähe, die ein Beobachten, Abschätzen und Übernehmen von Elementen arabisch-islamischer Lebensart erst recht möglich macht. Folgende Tabelle fasst stichpunktartig zusammen, wie die tatarischen Gesprächspartner den eigenen und den Islam der arabischen Länder wahrnehmen: Islam in den arabischislamischen Ländern Art des Islam

organisiert, streng, hart

Islam in Tatarstan unorganisiert, schwach, weich

religiöse Sozialisation von Kindheit an durchgängig

Unterschiede in der primären Sozialisation zwischen Dorf und Stadt; sekundäre Sozialisationsinstanzen (islamische Schulen) befinden sich im Aufbau

allgemeine historische Bedingungen

wurde nicht unterdrückt, von keiner ethnischen Gruppe beeinflusst

wurde in der Sowjetzeit verboten

Charakter des Islam

grausam, kriegslüstern, streng gegenüber den Frauen

friedlich, zivilisiert, loyaler gegenüber den Frauen

Daneben gaben einige der befragten Tataren an, dass der Islam in Tatarstan sich deshalb von dem der arabischen Länder unterscheide, weil er sich auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe in einem Prozess der »Wiedergeburt« befinde. Erst wenn er diesen Prozess durchlaufen habe, sei er mit dem arabischen Islam vergleichbar. Allerdings betonten auch sie die Einzigartigkeit des »tatarischen Wesens« und schlossen nicht aus, dass sich der Islam in Tatarstan in eine andere Richtung entwickeln könne. »Im Allgemeinen ist unser Volksgeist freiheitlicher und toleranter anderen

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Der Islam in Tatarstan und Dagestan Völkern gegenüber. Sogar die Kriege, wie es mir scheint, die man bei uns mit Nachbarn geführt hat, sie … sind nicht auf dieser Grundlage, nicht auf religiöser Grundlage entstanden. Ja, gerade unserem Volk ist das nicht eigen, obgleich unser Volk immer stark war, immer war es stark, und kriegslüstern genug, es las immer gern und hat sich zum Islam bekehrt« (Tatarstan, eine Tatarin).

Nicht nur die arabischen Staaten, sondern auch die Türkei wurden von den Interviewten oft als Vergleichsland herangezogen. Dies mag mit der geographischen Nähe, aber auch mit der sprachlichen und ethnischen Verwandtschaft zusammenhängen. Viele äußerten Sympathie für die Türkei, waren jedoch der Meinung, dass der Islam dort weniger entwickelt sei als in den arabischen Ländern. »Sie [die Türken, die Verf.] sind begeistert, dass wir diese arabische Kultur nicht in dem Maße übernommen haben wie sie. Bei ihnen ist es ein Problem. … wir, sagen sie, sehen euch an, ihr, sagen sie, habt eure Kultur bewahrt. Ihr habt eure Sprache bewahrt … Deswegen sehen sie uns sogar mit Hoffnung an, weil wir nicht diesen arabischen Akzent haben. Bei uns ist der Islam in einer abgeschwächten Form angenommen, ohne Akzent« (Tatarstan, eine Tatarin).

Die meisten Tataren fühlen sich jedoch mit den islamischen Völkern der Russischen Föderation stärker verbunden als mit der Türkei. »Nun ich habe, wie es scheint, kein besonderes Vertrauen zu den Türken. Ich denke, es ist zu den ehemaligen Sowjetrepubliken größer … Ja, so denke ich. Ja, gerade die russischsprachige Sphäre … uns vereinigt alles, selbst die russische Sprache« (Tatarstan, ein Tatare).

Der Islam in Dagestan Die Republik Dagestan ist durch eine enorme kulturelle, ethnische und sprachliche Vielfalt gekennzeichnet. Allein 30 verschiedene ethnische Gruppen leben dort, und jede von ihnen hat sich, auch während der Sowjetherrschaft, Elemente ihrer eigenen Volkskultur bewahrt. Diese spielen im alltäglichen Leben sowie bei der Interpretation und Ausgestaltung islamischer Rituale eine enorme Rolle. »Ich habe Ihnen gesagt, was unsere Eigentümlichkeit ist. Wenn wir in Dagestan einen orthodoxen Islam haben, beachten wir sowohl den islamischen shari-

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Guzel Sabirova at, als auch den Adat, den uns unsere Vorfahren geschaffen haben. Es gibt solche Adaten, Bräuche, sie waren auch vor dem Islam. Und sie werden auch bis jetzt befolgt« (Dagestan, ein Rutuler).

Auch in Dagestan wird der Islam als in einem Entwicklungsprozess befindlich begriffen, der zur Zeit allerdings ins Stocken geraten ist: »Jetzt ist der Islam ein klein wenig ins Stocken geraten. Eine Zeitlang ging er sehr bergauf. Man fing an, Institute für die geistige Verwaltung zu bauen, es begannen die Einstellungen des Personals. Die Moscheen waren überall. Man konnte eine Zeitlang ein großes Durcheinander beobachten. Dieser Aufschwung ist nicht zu Ende, aber er ist schwächer geworden. Hier öffnet sich eine Moschee, und dort – eine Diskothek« (Dagestan, ein Darginer).

Ähnlich wie in Tatarstan verglichen die Befragten in Dagestan den eigenen Islam mit dem anderer islamischer Länder (überwiegend der Türkei und der arabischen Staaten). Unterschiede wurden dabei in den Abläufen der Rituale, in den Haltungen zur Stellung der Frau und in der Rolle des Islam als staatstragende Ideologie und staatlicher Ordnungsfaktor wahrgenommen. Darüber hinaus wiesen die meisten der Befragten auf die »Europäisierung« des dagestanischen Islam hin, d.h., in Dagestan gestalte jeder Muslim seine Lebensweise selbst und praktiziere den Islam nach seinen Vorstellungen vom Glauben. Allerdings bemerkten sie zusätzlich auch eine Zunahme der islamischen Bewegungen und dadurch bedingt entsprechende Veränderungen in der Alltagswelt. »In der Türkei durfte ich mit meiner Schwester im Restaurant sitzen und wir durften jedes Gericht bestellen. In der Türkei durften wir Shorts tragen, in den Emiraten war es genauso: Tragt ihr, was ihr wollt, im Iran ist es unmöglich. Im Iran sollst du unbedingt ihre Oberbekleidung anziehen. In Dagestan kann ich mir alles erlauben, was ich will. Im vergangenen Jahr hörte ich auch Gespräche … und nun plötzlich, als alle diese islamischen Bewegungen stark zugenommen haben, die religiösen Bewegungen, und einige Frauen, die sich früher frei anzogen, tragen es jetzt umgekehrt – zugedeckt und sie tragen unbedingt eine Kopfbedeckung, bemühen sich, den islamischen Ländern näher zu sein« (Dagestan, eine Kumückin).

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Der Islam in Tatarstan und Dagestan

Neben den großen religiösen Festen werden in Dagestan islamische Rituale vollzogen, die in Tatarstan entweder nie praktiziert wurden oder in Vergessenheit geraten sind. Zu diesen gehören z.B. Pilgerfahrten zu anderen Heiligtümern als Mekka und das Aufsuchen heiliger Gräber. Viele der in Dagestan praktizierten Rituale sind sufischen Ursprungs und auf bestimmte Regionen begrenzt.

Ausblick: Offene und umstrittene Identitätspolitik russischer Muslime Russische Muslime unterscheiden sich durch ihre differente religiöse Praxis, die durch lokale Traditionen geprägt ist. Durch das Zurückdrängen der religiösen Praxis in den privaten Raum wurden kulturelle Unterschiede in der Zeit der Sowjetunion konserviert. Der Islam war lokal, privat und kulturell ethnisiert. Inwieweit trotz oder durch die Verschiedenheit (Horstmann/Schlee 2001) der Islam eine integrative Funktion haben wird, kann nicht endgültig gesagt werden. Wichtige Faktoren sind dabei die Kontakte zu anderen muslimisch geprägten Gesellschaften und die Religionspolitik der Russischen Föderation. In den Republiken Tatarstan und Dagestan vollzog sich ein gesellschaftlicher Wandel, der sich zumindest bis heute nur unzureichend mit den Begriffen der »islamischen Wiedergeburt« oder »Reislamisierung« (vgl. Musina 2001; Drobischeva 1998) bezeichnen lässt. Der Islam gewann zwar als Deutungs-, Regelungs- und Ordnungssystem des Alltags – sowie des Lebens – für die traditionell muslimischen Volksgruppen wieder an Bedeutung, jedoch wird er derzeit in beiden Republiken auf höchst vielfältige und unterschiedliche Weise interpretiert und praktiziert. Je nach Region und ethnisch-kulturellem Zusammenhang werden anders ausgestaltete Rituale vollzogen und gelten andere islamische Regeln. Die islamische Identität der Tataren beinhaltet, dass sie ihre islamische Religionszugehörigkeit in engem Zusammenhang mit ihrer ethnischen Identität betrachten: Tatar sein heißt, Muslim zu sein. Es bedeutet jedoch nicht, dass darunter auch die Zugehörigkeit zu einer größeren islamischen Gemeinde (ummah) verstanden wird. Der Einfluss, den die Volkskulturen auf die Wahrnehmung und Auslegung des Islam sowie auf das Bild haben, das die unterschiedlichen islamischen Volksgruppen von einem Muslim 303

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zeichnen, ist nach wie vor erheblich. Die religiöse Alltagspraxis verändert sich durch den Rückgriff auf islamische Rituale und Normen einerseits und eine Anpassung an das moderne Leben andererseits. Allerdings zeichnet sich schon heute ein dritter Faktor der Veränderung islamisch geprägten Lebens in der Russischen Föderation ab: Durch die Herausbildung einer übergeordneten islamischen Infrastruktur, die Verdichtung des Kontaktes der lokalen Gemeinden untereinander sowie durch die zunehmend stärker werdende Einbettung in die islamische Weltgemeinde (ummah) verlieren die lokalen Traditionen – regional jedoch sehr unterschiedlich – an Einfluss und Bedeutung. Forderungen nach einer »Bereinigung des Islam« sowie nach der Einhaltung des »wahren Islam« werden als Reaktion auf Modernisierungsprozesse laut und meinen damit den Rückgriff auf islamische Dogmen, den die in der Russischen Föderation missionarisch tätigen arabischen Islam-Gelehrten empfehlen. Die durchgeführte Untersuchung zeigt aber auch, dass der Islam in den muslimisch geprägten Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens von den russischen Muslimen als fremd, stärker entwickelt und gesellschaftlich verwurzelt wahrgenommen wird. Frauen erfahren in den traditionell islamischen Staaten – so die Perzeption der russischen Muslime – eine andere, Befremden hervorrufende soziale Verortung als in den öffentlichen Räumen und Diskursen der sowjetisch geprägten islamischen Landesteile der Russischen Föderation. Ob der postsowjetische Islam zu einem Euro-Islam (Noack 1998) eigener Prägung wird – wie in Tatarstan – oder ob seine regionale Heterogenität erhalten bleibt, ohne das Gemeinsame und Verbindende zu artikulieren oder ob die Kontakte nach außen zu Anleihen bei arabisch-islamischen, oder beim türkischlaizistischen Modell führen, sind offene und strittige Fragen der Identitätspolitik der russischen Muslime.

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Sergej Damberg

Andere Russen – »Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein von Russen aus Zentralasien in der Russischen Föderation Sergej Damberg Die Fragestellung zu diesem Beitrag entstand als ein nicht intendiertes Nebenprodukt eines Forschungsprojektes zum Thema »Die anderen Russen: die mobilisierte Mentalität«, das, unterstützt von der McArthur Stiftung, von Juni 2000 bis Februar 2002 an der Europäischen Universität Sankt Petersburg durchgeführt wurde. Dabei wurden »Russen«1 oder solche, die in ihren Herkunftsländern dafür gehalten wurden und nach dem Zerfall der Sowjetunion aus den neu entstandenen Staaten in die Russische Föderation emigrierten2, hinsichtlich ihrer Biographie sowie hinsichtlich ihrer »alten« und »neuen« Lebenssituation interviewt. Bei der Auswertung der Interviews fiel auf, dass die Befragten zur Beschreibung ihrer Lebensläufe und Lebenslagen ethnische sowie nationalistische Kategorien verwendeten und ganz in den derzeit verstärkt stattfindenden nationalistischen Alltagsdiskursen verhaftet zu sein schienen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion3 und der Transformationsprozess der 1990er Jahre hatten die Herausbildung neuer Natio1

In diesem Beitrag sollen die Begriffe »Russen« oder »Russischsprachige« auf diejenigen verweisen, die in den postsowjetischen Staaten von den Angehörigen der Titularnationen als solche wahrgenommen werden. In den mittelasiatischen Staaten gehören neben den »ethnischen Russen« auch Juden, Deutsche, Tataren, Ukrainer, Weißrussen und Esten als Russischsprachige dazu. Im postsowjetischen Baltikum dagegen zählt man zu den »Russen« Tadschiken, Georgier, Tataren etc. 2 Nach dem Zerfall der Sowjetunion migrierten viele »Russen« aus Mittelasien, aber auch aus dem Baltikum (Estland, Lettland und Litauen) in die Russische Föderation. Die meisten ließen sich in Moskau, Sankt Petersburg und Umgebung nieder. 3 Halbach (1992) beschreibt sehr ausführlich die hauptsächlichen Faktoren, die zum Zusammenbruch der UdSSR führten. Der Autor dieses Beitrags stimmt im Großen und Ganzen mit den Ausführungen Halbachs überein, distanziert sich aber von den statistischen Daten, die seiner Meinung nach erhebliche Mängel aufweisen.

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nalstaaten zur Folge und mit ihnen das Aufkommen neuer nationalistischer Parolen wie »Georgien für Georgier«, »Tadschikistan für Tadschiken« oder »Usbekistan für Usbeken« etc. Millionen Russen wurden zu Flüchtlingen und zu Remigranten. Zur Zeit der Sowjetunion nahmen sie in allen sowjetischen Republiken überwiegend hohe Positionen in der Wirtschaft ein, und zwar insbesondere in den technischindustriellen Berufen. Sie hatten das gesellschaftliche Leben in den Bereichen Bildung, Kultur und Wissenschaft dominiert und gelenkt. Aber schon Anfang 1992 trat die neue ideologiebehaftete Renationalisierung von den »Eingeborenen« oder den »Titularnationen« an die Stelle der Doktrin von Völkerfreundschaft und vom »großen Bruder«, was von vielen »Russen« bzw. »Russischsprachigen« als Racheakt, Ungerechtigkeit oder sogar als Undankbarkeit empfunden wurde (Grotzky 1991: 88ff.). Im Laufe der 1990er Jahre verschlechterte sich die wirtschaftliche und soziale Situation dieser mittelasiatischen »Russen«.4 Viele entschlossen sich zu emigrieren und brachen in ihre »historische Heimat« Russland auf, in der Hoffnung, dort ein ebenso privilegiertes Leben wie in ihren asiatischen Herkunftsländern führen zu können. Der Sinn der Migration bestand für sie darin, den verloren gegangenen relativ hohen gesellschaftlichen Status wiederzugewinnen und eine gleichwertige wirtschaftliche Position zu erhalten. Dies konnten sie, ihrer Meinung nach, jedoch nur in einer wirtschaftlich wie kulturell höher entwickelten Region wie Russland erreichen. Darüber hinaus betrachteten sie Russland als ihre »historische Heimat«, als den Ort, von dem sie ursprünglich (d.h. vor Generationen) aus aufgebrochen waren. Die Hoffnungen der Migranten erfüllten sich jedoch nicht. Sie bekamen weder Wohnungen noch Arbeit noch gesellschaftliche Anerkennung, denn von der einheimischen Bevölkerung wurden sie als die »anderen«, die »schwarzen« oder die »asiatischen« Russen wahrgenommen und sozial exkludiert. Der soziale Status der Migranten war nach der Migration ein erheblich niedrigerer als in ihren Herkunftsländern. Sie erkannten ihre missliche soziale Lage und auch die Tatsa4 Seit ca. 1992/1993 werden sie von der einheimischen Bevölkerung Russlands auch als die »anderen Russen« bezeichnet, ein Begriff, der in den Titel unseres Forschungsprojektes aufgenommen wurde.

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che, dass sie trotz aller Anstrengungen niemals mehr ein ähnlich privilegiertes Leben als »Russen« wie in ihren Herkunftsländern zu Sowjetzeiten führen können. Aus den ehemals »weißen Russen«, als die sie in den sowjetisch-asiatischen Gebieten galten, sind nun »schwarze, asiatische Russen« in dem neuen Heimatland Russland geworden. Von dem Zeitpunkt an, als die Flüchtlingsströme begannen, bezeichneten die Medien die Bevölkerung Russlands als »aufnehmende Bevölkerung«.5 Dies steigerte sich wenig später in einen xenophobischen Diskurs über die »Wirte« und die »Gäste«, der mit ethnischen sowie quasiethnischen (wie z.B. der Begriff »die anderen Russen«) Begriffs- und Identitätskonstruktionen geführt wurde. Im Rahmen dieses Diskurses interpretiert die »aufnehmende Bevölkerung« Russlands die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation der postsowjetischen asiatischen Staaten in ethnischen bzw. quasiethnischen Kategorien. So gilt der ökonomische und kulturelle Aufschwung in den Regionen von Moskau und Sankt Petersburg als Verdienst der dort lebenden »echten Russen«, weil sie »fleißig«, »diszipliniert« und »zivilisiert« seien. Die Armut, die politischen und gesellschaftlichen Konflikte in den postsowjetischen asiatischen Staaten werden einer gewissen »Wildheit« und »Unzivilisiertheit« der dort lebenden Volksgruppen zugeschrieben. In diesen Diskursen entwickelte sich eine neue ethnisierte Weltanschauung nicht nur im Bewusstsein der Russen der Russischen Föderation6, sondern auch im Bewusstsein der Remigranten heraus. Die große Zahl der russischsprachigen Einwanderer aus den mittelasiatischen Staaten regte also einen Prozess an, der Ende der 1990er Jahre zu einer »Ethnisierung« des öffentlichen Diskurses in der Russischen Föderation sowie des Alltagsbewusstseins der »Russländer« (rossijane) führte. Die Angst vor dem Kaukasus ist nur das Produkt von sich in ethnischen Kategorien äußernden Wahrnehmungen, Deutungen und Zuschreibungen. Die Medien in Moskau und Sankt Peters5

Damit waren vor allen Dingen die Moskauer und Petersburger gemeint, was ihrer Selbstwahrnehmung als Stadtbewohner mit besonderem Prestige entsprach. 6 Die Begriffe »russländische Russen« oder »Russländer« sollen im Folgenden verwendet werden, um ethnische Russen, die seit Generationen in Russland leben und dort als »Ansässige« gelten, zu bezeichnen.

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burg beschrieben die antikaukasische Haltung der Russländer als Reaktion auf die nationalistische Orientierung der mittelasiatischen Staaten. Sie bezeichneten diese als »Ethnokratien«, als Staaten, die den Nationalismus vorantreiben würden. Allerdings unterstützt und konstruiert auch die russische Regierung solche nationalistischen Diskurse und schafft ihren eigenen, indem sie über die Medien bestimmte Begriffe und Ideen in die öffentliche Diskussion bringt und über politische Kampagnen (z.B. die Tschetschenienkampagne) das Massenbewusstsein lenkt. Dies geschieht so geschickt, dass sie sich bislang dem Vorwurf der Unterstützung eines »russischen Nationalismus« zu entziehen vermochte. Viele der Untersuchungen, die den russländischen (rossijskij) Nationalismus zum Gegenstand hatten, konzentrierten sich weniger auf den russischen Präsidenten und seine Regierung als vielmehr auf politische Kräfte, die keinen Zugang (mehr) zur politischen Macht haben (vgl. z.B. Williams/Sfikas 1999).7 Bei der Auswertung der Interviews stellte sich heraus, dass die Befragten gesellschaftliche Prozesse sowohl in Russland als auch in den anderen postsowjetischen Staaten überwiegend in ethnischen Kategorien und Zusammenhängen beschrieben. Aber auch die Wahrnehmung des »Anderen«, des Eingewanderten im Unterschied zum »Alteingesessenen« erfolgte stets als Zuordnung zu einer Volksgruppe und daraus ableitend als Antizipation zugeschriebener Verhaltensmuster. Zuordnung und Zuschreibung geschahen dabei so »selbstverständlich« und in so ähnlicher Weise – obwohl die Interviewten unterschiedlichen Volksgruppen angehörten und aus unterschiedlichen Regionen stammten –, dass die Interviewer daraus schlossen, dass diese ethnischen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu einer für den ehemaligen sowjetischen Raum geltenden »objektiven Tatsache der gesellschaftlichen Wirklichkeit« (Berger/Luckmann 1970: 37) geworden seien. Trotz der massiven »Sowjetisierung« zur Zeit der Sowjetunion waren sie ein fester, wenn auch unterschwellig wirkender Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung.8 Heute, in Zeiten aufkeimender 7 Inwieweit die im Dezember 2003 anstehenden Parlamentswahlen in Russland dieses politische Kräfteverhältnis bestätigen, wird sich zeigen. 8 Der Begriff »Ordnung« wird hier verstanden als »Ordnung in Form von Wirklichkeitsvorstellungen, Wahrnehmungsmustern, Erfahrungswissen,

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nationalistischer Strömungen, treten sie nicht nur offen zu Tage, sondern scheinen für die Einzelnen zum Verständnis, zur Beschreibung und Erklärung ihrer Lebenswelten (Schütz 1993) von großer Bedeutung zu sein. Dieses Phänomen, der Rückgriff auf ethnische Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im alltäglichen Handeln sowie in der Konstruktion und Strukturierung der Alltagswelt, aber auch die Veränderungen, die diese Muster aufgrund der zuvor beschriebenen ethnisierten Diskurse durchlaufen, sollen im Folgenden genauer betrachtet werden. In Anlehnung an Berger/Luckmann (1970) soll dieser Komplex aus in ethnischen Kategorien gefassten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern als ethnisches Wissen bezeichnet werden, das zur objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit geworden ist.9 Neben Unterscheidungs- und Zuschreibungskriterien umfasst das ethnische Wissen auch Vorstellungen über Verhaltensmuster sowie Statuszugehörigkeiten, die den jeweiligen ethnischen und territorial verorteten Volksgruppen zugeordnet werden. Zur Zeit der Sowjetunion spielte das ethnische Wissen als Referenzsystem zur Strukturierung und Deutung der Alltagswelt nur eine untergeordnete Rolle. Heute deutet alles darauf hin, dass es als solches wieder zunehmend relevant wird.

Ethnische Typisierungen Der kirgisische Russe unterscheidet ohne zu zögern einen Kasachen von einem Usbeken. Ein Russe aus Moskau erkennt einen Juden oder Aserbaidschaner. Der Rückgriff auf das ethnische Wissen ermöglicht auf besondere Weise, Gesichter, sprachliche Idiome, Wohnungseinrichtungen, Bildungsgüter oder Namensendungen zu lesen und anhand der Reisepässe die Konfession zu ermitteln. Diese Zuordnungen und Beurteilungsmaßstäben, gesellschaftlichen Konventionen und Normen« (Reuter 2002: 13). 9 Es ist als Teil des Alltagswissens (»Jedermannswissen«) zu begreifen, desjenigen Wissens also, welches die Individuen einer Gesellschaft in der normalen selbstverständlichen Routine des Alltags gemein haben (Berger/ Luckmann 1970: 26).

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Zuschreibungen erfolgen unabhängig von der ethnischen Identität, der sozialen Position und der politischen Einstellung der Einzelnen. Sie sind zum Allgemeingut und zur Gewohnheit geworden. Ethnisches Wissen konstruiert gesichtsabhängige Beziehungen und Handlungsstrukturen, bei denen die jeweils Anderen (ne naschi) ausgeschlossen oder einem »vorsichtigeren Umgang« unterzogen werden. Äußere Merkmale bilden eine wesentliche Grundlage der ethnischen Zuschreibungen. Darüber hinaus werden manchmal zusätzlich Ortsbzw. regionale Angaben gemacht, um genauere Aussagen über die betreffende ethnische Gruppe zu treffen. »Die (Tadschiken, d.A.) aus Pamir … ja, sie sind völlig anders. Die aus Pamir haben erstens etwas rötliche Haare, wie manche sagen. Alexander der Große war ja dort, ein Blutgemisch. Sie sind so rötlich, so rötlich, Schwarzhaarige gibt es wenige. Sie sind hellhaarig, blauäugig, sie sprechen ganz anders. Nun, sie sind weicher …« (eine russische Migrantin aus Duschanbe, Tadschikistan). »Sie unterscheiden sich voneinander, die Usbeken und Tadschiken, sie unterscheiden sich. Sogar die aus Takov und Leninabad, sie haben, … sie unterscheiden sich an den Viereckhütchen. Wie soll ich es Ihnen noch sagen, an der Kleidung – sie haben verschiedene Volkstrachten. Sie sind zwar ähnlich, aber die Ornamente sind anders« (eine russische Migrantin aus Buchara, Usbekistan).

In dem zweiten Zitat wird deutlich, dass bestimmte Ausprägungen des ethnischen Wissens lokal begrenzt sind. Nur wer dort gelebt, wer Tadschiken und Usbeken in Tadschikistan erlebt hat, ist mit ihren unterschiedlichen Volkstrachten vertraut. Mit der ethnischen Zuschreibung sind Vorstellungen über Status und Lebensstil der betreffenden Personen verbunden. Zu den verschiedenen Volksgruppen in ihrem ehemaligen Heimatland befragt, äußerten sich alle Interviewpartner ähnlich. So könnte folgende Aussage einer Russin aus Tadschikistan ebenso von einem dort lebenden Armenier, Georgier oder Griechen gemacht worden sein. »Nun ja, wie soll ich das sagen, wie die Juden aus Buchara, sie sind sehr wie sie

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Sergej Damberg selbst, sind schwarz: schwarze Haare haben sie … Sie arbeiten hauptsächlich in Frisörläden, verkaufen Gas, Wasser, arbeiten als Schuhmacher – das sind ihre Berufe, das ist zum einen; und zum andern sie sind ganz in Gold: solche Ohrringe, solche Ketten – damit unterscheiden sie sich schon zu hundert Prozent …« (eine russische Migrantin aus Buchara, Usbekistan).

Die Interviews machen deutlich, dass nicht nur die Regeln der ethnischen Zuschreibung von allen »geteilt«, »gewusst« und »angewendet« wurden, sondern dass darüber hinaus auch die jeweiligen Statuszuschreibungen, die einer ethnischen Zuschreibung folgen, und die Vorstellungen über den Lebensstil der jeweiligen ethnischen Gruppe allgemein geteilt wurden. Ein Georgier, ein Armenier oder ein Russe aus Tadschikistan erkennen einen Juden und teilen dieselben Vorstellungen über sein Leben. Ebenso sicher wissen Juden, Tadschiken und Georgier, wer ein Armenier ist, und haben ein gemeinsames Bild darüber, wie er lebt. Ethnisches Wissen ist demnach ein Komplex aus ethnischen Zuschreibungen, auf den in einer Face-to-Face-Beziehung zur Typisierung des Anderen zurückgegriffen wird, um ihn zu verstehen und das eigene Handeln ausrichten zu können. Neben diesen Typisierungen umfasst das ethnische Wissen Verhaltensmuster, die den jeweiligen Typen zugeordnet werden. Das Wissen um diese Typisierungen und um die Verhaltensmuster (das ethnische Wissen also) wurde von den Interviewten unabhängig von ihrer tatsächlichen ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Herkunft und ihrem sozialen Status geteilt. »Die Ethnizität existiert nicht außerhalb des Vergleichens und der Kommunikation, nur im Prozess der Wechselwirkung mit einer anderen ethnischen Gruppe kann sie ihre Besonderheit ›Individualität‹ entwickeln« (Sikevitsch 1999: 57).

Ethnische Typisierungen werden in Interaktionen produziert. Jede ethnische Gruppe typisiert Merkmale und Handlungen der anderen und umgekehrt. Dadurch kann jede von beiden die Handlungen der anderen voraussagen. Was vor sich geht, wird zur »Normalität«, zum Alltagsleben beider.

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»Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein »Stereotypen sind ein unentbehrliches Element des Alltagsbewusstseins. Kein Mensch ist in der Lage, auf alle Situationen, mit denen er in seinem Leben konfrontiert wird, selbständig, kreativ zu reagieren. Stereotypen, die gewisse standardisierte kollektive Erfahrungen akkumulieren und dem Individuum im Laufe der Bildung und des Umgangs mit anderen eingeprägt werden, helfen ihm, sich im Leben zu orientieren, und steuern auf eine bestimmte Weise sein Verhalten« (Kon 1996: 187-205).

Berger/Luckmann (1970) sprechen in diesem Zusammenhang auch von Typisierungsprozessen, die die gesellschaftliche Wirklichkeit der Alltagswelt bestimmen. Die Typisierungen werden umso anonymer, je mehr sie sich von den Face-to-Face-Situationen entfernen (ebd.: 34). Dies gilt insbesondere auch für die ethnischen Typisierungen.

Ethnisches Wissen als subjektiv angenommene objektive Wahrheit »… das kann ich Ihnen nicht erklären, man muss dort leben, man muss mit ihnen Umgang haben, dann kann man unterscheiden, und so kann ich es nicht erklären« (eine russische Migrantin aus Buchara, Tadschikistan).

»Das kann ich Ihnen nicht erklären« deutet auf die Selbstverständlichkeit der ethnischen Unterscheidungen hin. Alles, was erfahrungsgemäß aus routinierter Praxis bekannt ist, was unwillkürlich angeeignet wird, bedarf keiner Reflexion. Es ist für das Individuum selbstverständlich – und fast nicht verbalisierbar. Das Verbalisieren verlangt eine Idee mit einer mehr oder weniger logischen Struktur, verlangt nach einer Reflexion. Im angeführten Zitat deuten die Schwierigkeiten bei der Verbalisierung darauf hin, dass die Informantin auf einen Wissensbereich zurückgreift, der ihr so selbstverständlich, so offensichtlich erscheint, dass sie ihn dem Gegenüber nicht darstellen kann. »Die Offensichtlichkeit kann absolut oder anders adäquat sein, d.h. dass die weitere Erfüllung einer entsprechenden Intention in Bezug auf das, was offensichtlich ist, nicht möglich ist. Wir können hier aus einer Fülle den Gegenstand bestimmen; wir wissen alles über ihn, was man nur unter diesen Umständen über ihn wissen kann« (Tschernjak 2002).

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Die Offensichtlichkeit ist eine Schlüsseleigenschaft des ethnischen Wissens. Die ethnische Zuschreibung, die Erklärung der Alltagswelt in ethnischen Kategorien erfolgen nach dem Motto: »Es ist so, war schon immer so und wird immer so sein«. Das ethnische Wissen, auf das dabei zurückgegriffen wird, wird über Sozialisation an die folgenden Generationen weitergegeben. Ihnen erscheint es als Bestandteil der gegebenen Wirklichkeit (vgl. Berger/Luckmann 1970). Die Zuschreibung der Ethnizität erfolgt »selbstverständlich« und lässt keinen Zweifel daran, dass sie »richtig« und nicht irgendwie zufällig ist. Darüber hinaus wird die eigene Lebenssituation ethnisch begründet: »Es gab also einen Streit zwischen Georgiern und Abchasen. Und außer Georgiern und Abchasen kamen auch andere Nationalitäten zu Schaden. Russen, Armenier, Griechen. In dieser Republik dort lebten 150 Nationalitäten. Ich bin zum Beispiel aus Gagry, aus Pizunda. Ich arbeitete als Malermeister im Haus der Filmemacher und Journalisten der UdSSR. Meine Freunde sind alle Schauspieler, Journalisten … von ihnen allen habe ich Portraits gemalt. Ich besitze eine Galerie. Das ist die Geschichte. Geflohen sind wir, weil ich Armenier bin und meine Frau Russin. Mein Schwiegersohn ist Georgier und meine Enkeltochter eine ›explosive Mischung‹. Deshalb packte der Schwiegersohn die ganze Familie zusammen und floh hierher« (ein Armenier aus Tadschikistan).

Das Verhalten des Schwiegersohns wird ebenfalls ethnisch interpretiert. Ob dieser tatsächlich seine Sachen packte, weil er als »Georgier« nicht mehr in Tadschikistan leben konnte, oder ob für ihn andere Beweggründe ausschlaggebend waren, konnte im Verlauf des Interviews nicht festgestellt werden. Einiges deutete darauf hin, dass sich der Schwiegersohn nicht als Georgier definierte. Von seinem Schwiegervater, seinen Nachbarn, von seinem gesamten sozialen Umfeld jedoch wurde er als »Georgier« betrachtet und somit den nichtasiatischen Volksgruppen Tadschikistans, den »Weißen« bzw. »Russen« zugeordnet. Im postsowjetischen Tadschikistan haben aber »Russen« mit einer erheblichen Verschlechterung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage sowie mit erheblicher Diskriminierung zu rechnen, weshalb Tausende von ihnen auswanderten.10 10 Authentische Bericht über erlebte Diskriminierungen finden sich im An-

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»Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein

Während der Interviews zeigte sich immer wieder, dass die »fremd« zugeschriebene und die selbst zugeschriebene Ethnizität voneinander abwichen. So führte beispielsweise die Kaukasierphobie in Russland nicht nur zu einer Diskriminierung »tatsächlicher« Kaukasier, sondern auch zu einer Diskriminierung von Tadschiken, die für »Kaukasier« gehalten und dieser Typisierung entsprechend »behandelt« wurden. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen der eigenen und fremd zugeschriebenen ethnischen Identität erfahren auch die aus den zentralasiatischen Staaten nach Russland immigrierten ethnischen Russen. Sie werden von den Russländern nicht als solche, sondern als »Kasachen«, »Tadschiken« oder »Asiaten« bzw. als »andere Russen« wahrgenommen und behandelt. Mit der Nationalstaatenbildung in Zentralasien wurden die ethnischen Russen bzw. die Russischsprachigen zu einer Minderheit (vgl. Kaiser: Die Russen im nahen Ausland – Russen als neue Minderheiten in Zentralasien, i.d.B.) und verloren ihre privilegierte soziale Position. Der Statuswechsel zeigt sich auch im interethnischen Alltagsumgang. Sergej S.: »Eine Zeitlang hatte ich als Gehilfen einen kleinen Kasachen. Mein Gehilfe war im Urlaub, und es wurde mir dieser Kasache zugeteilt, ein junger Bursche. Und diese […] kamen öfter mit einem Bagger vorbei, um ihn zu besuchen, und saßen dann herum. Ich arbeite, sie sitzen dort hinten und reden untereinander kasachisch. Ich sage zu ihnen: ›Na los, redet mal russisch!‹. ›Na, was ist denn mit dir, wir machen doch nichts.‹ Und ich sage: ›Hinter meinem Rücken will ich kein Kasachisch haben! Wer weiß, worüber ihr da redet, vielleicht redet ihr über mich.‹ Russisch können sie ja alle wunderbar, alle sprechen sauber Russisch. ›Ist ja schon gut, sei doch nicht beleidigt, wir machens nicht.‹ Ich sage: ›Ja, ist gut, so bin ich nicht beleidigt.‹ Na und sie reden mal Kasachisch, mal Russisch.«

Die interethnische Hierarchie der Sowjetzeit, die von allen geteilt wurde, ermöglichte es dem russischsprachigen Sergej, sich in dieser Situation durchzusetzen. Weil er »Russe« und darüber hinaus noch der Älteste war, war er in der Position, die soziale Kontrolle auszuüben. Umgekehrt wäre es zu Sowjetzeiten unvorstellbar gewesen, dass ein schluss an diesen Beitrag unter: Auszüge aus den Anträgen zur »Gewährleistung des Status eines Zwangsaussiedlers«.

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älterer Kasache junge Russen mit dem Satz anredet: »Hinter meinem Rücken will ich kein Russisch haben! Wer weiß, worüber ihr da redet, vielleicht redet ihr über mich.«11 Mit der Unabhängigkeit und der Sprachpolitik der kasachischen Regierung haben sich die Vorzeichen geändert. Dieser Statuswechsel – neben ökonomischen Gründen – ließ viele wie Sergej auswandern. In der Russischen Föderation erhofften die Remigranten auf Anerkennung ihrer Leistungen als Werktätige im »nahen Ausland«, auf eine Statuskontinuität. Jedoch wurden ethnische Stereotypen für Zentralasiaten auf sie übertragen und sie wurden zu »anderen Russen«, eine neue ethnische Subkategorie,12 deren Wertungen in der postsowjetischen Kontinuität des ethnischen Wissensbestandes begründet sind. »Die nächsten Jahrzehnte werden wir mit der Integration unserer Kinder beschäftigt sein«, sagte uns ein Informant, »und dann ist das Leben auch schon vorbei.« Diese Beispiele zeigen zum einen deutlich, dass die fremd zugeschriebene Ethnizität damals wie heute maßgeblich die Lebenssituation der Betroffenen bestimmt. Ob und inwiefern diese Fremdzuschreibung dabei die eigene ethnische Selbstwahrnehmung beeinflusst, konnte im Verlauf der Interviews nicht festgestellt werden. Darüber hinaus zeigen sie auch, dass in der Interaktion mit den »anderen Russen«, zum Verständnis und zur Deutung ihrer Immigration, die russländische Bevölkerung auf ethnische Typisierungen zurückgreift. Das ethnische Wissen über Tadschiken, Georgier, Usbeken etc. wird herangezogen, um der Situation der plötzlich und unerwartet eingetretenen massenhaften Einwanderungen zu begegnen. Dabei ist es irrelevant, ob der »Andere« tatsächlich z.B. ein Georgier ist. Seine 11

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»Erwachsener Kasache« bezeichnet sowohl eine ethnische Rolle als auch eine des Alters; trotz der traditionell hohen Bedeutung des Alters in Mittelasien, d.h. einer strengen Statusdifferenz nach Alter, spielte zur Zeit der Sowjetunion in der Interaktion mit Russischsprachigen der ethnische Status eine größere Rolle. Ein älterer Kasache hätte es sich einem jüngeren Russen gegenüber nie erlaubt, sich der Statusposition seines höheren Alters zu bedienen. Die Bezeichnung »neue Russen« für neureiche Russen stellt eine ähnliche Subkategorie dar, bei der die Bewertung von Reichtum und Lebensstil anhand der geteilten persistenten Werte erfolgt.

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»Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein

dunklen Haare, seine Kleidung, sein Akzent machen ihn zu einem solchen und bewirken seine Ausgrenzung aus der russländischen Gesellschaft.

»Ethnisches Wissen« und Sprache Für das Verständnis der Wirklichkeit der Alltagswelt ist Sprache unentbehrlich. Mit ihrer Hilfe werden Erfahrungen und Bedeutungen gespeichert und angehäuft. Sprache bezieht sich auf die Alltagswelt. Über sie wird das alltagsweltliche Wissen von Generation zu Generation weitergegeben (vgl. Berger/Luckmann 1970). Zur Zeit der Sowjetunion wurden die unterschiedlichen Sprachen der einzelnen Volksgruppen aus dem öffentlichen Raum verbannt und durch Russisch ersetzt. Somit entstand ein einheitlicher Sprachraum, der vom Schwarzen Meer und der Ostsee über Zentralasien bis zum Pazifik reichte. Der einheitliche Sprachgebrauch hatte eine enorme integrative Wirkung. Gemeinsame Erfahrungen wurden in der russischen Sprache vergegenständlicht und dadurch allen, die dem russischen Sprachraum angehörten, als Wissen zugänglich gemacht. Neben dem lokalen Wissen13 entwickelte sich also ein spezifisch »russischer Wissensbestand«, der allein in russischer Sprache vergegenständlichte – sowjetische – Erfahrungen umfasste und dem gesamten russischsprachigen sowjetischen Raum zur Verfügung stand. »Alle sprachen Russisch, Usbeken sprachen Russisch, und Kasachen sprachen Russisch, und Russen sprachen Russisch … und wer Usbekisch? Ich hatte in der Schule eine Vier in der usbekischen Sprache, und was weiß ich heute noch? Wenn, dann kann ich eine Runde schimpfen, das ist alles« (ein Einwanderer aus Utschkuduk, Usbekistan).

Ethnisches Wissen ist ein spezifischer Bereich dieses »russischen Wissensbestandes«. Es entwickelte, vergegenständlichte und reproduzierte 13

Bei Schultze (1998: 3) wird dieser Begriff wie folgt beschrieben: »Kenntnisse, Fähigkeiten, Weltbilder, die in einer bestimmten natürlichen Umwelt und einem bestimmten kulturellen Rahmen entstanden sind und sich verändern«.

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sich in der Interaktion und Kommunikation zwischen den verschiedenen sowjetischen Volksgruppen mit Hilfe der russischen Sprache. Die Interviews zeigten auf, dass das Wissen um die ethnischen Typisierungen, um die zugeschriebenen Verhaltensmuster und um die Statuszuweisungen von allen Interviewten, unabhängig von ihrer tatsächlichen ethnischen Zugehörigkeit, ihren Herkunftsländern und ihrem sozialen Status, geteilt wurden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Entstehung einzelner Nationalstaaten wurde die Sprache der jeweiligen Titularnation zur Nationalsprache deklariert. Russisch wurde zunehmend aus dem öffentlichen Raum gedrängt und durch die neue Nationalsprache ersetzt. Selbst das Einkaufen konnte nur noch auf Kirgisisch, Tadschikisch oder Turkmenisch (u.a.) erfolgen, sodass es für die Russisch sprechenden Bevölkerungsgruppen zur Bewältigung des Alltags notwendig wurde, die neue Landessprache zu erlernen. Immer mehr Schulen mit Russisch als Unterrichtssprache mussten schließen. Die Medien führten diese Phänomene oft als Hauptursachen für die darauf einsetzenden Migrationen an. »Ja, sie haben sich schon abgespalten, die Republiken, haben einen eigenständigen Status angenommen und fingen gleichzeitig damit an, dass wir die tadschikische Sprache lernen sollten. Die ganze Dokumentation wird jetzt in der tadschikischen Sprache erstellt, alles wurde überall tadschikisch. Es ist aber so, dass manche Wörter in die tadschikische Sprache gar nicht übersetzt werden können, z.B. in der Medizin, in verschiedenen Betrieben. Sie haben dann verstanden, dass sie einen Fehler gemacht haben. … hauptsächlich unterrichten alle Institute: Es gibt tadschikische Fakultäten, aber dort gebrauchen sie auch russische Wörter. Auch wenn Tadschikisch gesprochen wird, wird trotzdem mal ein russisches Wort benutzt. Es gibt Wörter, die können nicht übersetzt werden …«

Auf der anderen Seite gibt es Wörter und idiomatische Wendungen mit zentralasiatischen Bezügen, die in den Sprachgebrauch der »asiatischen Russen« aufgenommen wurden. Sie sprechen beispielsweise vom Basar als Marktplatz. Solche sprachlichen Unterschiede lassen wiederum Rückschlüsse auf den Herkunftsort eines Gesprächspartners zu, ermöglichen einem Petersburger zu erkennen, dass es sich um einen »anderen Russen« handelt. 320

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»Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein

»Ethnisches Wissen« und Nationalismus Baku, die Hauptstadt von Aserbaidschan, galt zur Zeit der Sowjetunion als »Schmelztiegel«, in dem Volksgruppen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeiten in friedlicher Koexistenz lebten und arbeiteten. Doch der Mythos der bakinischen »Völkerfreundschaft« wurde jäh zerstört, als aserbaidschanische Flüchtlinge aus Armenien und Karabach in die Stadt kamen. Viele der Interviewten berichteten uns, dass die ethnische – sie sprachen von »nationaler« – Zugehörigkeit auf einmal wieder von Bedeutung war. Die Tochter einer armenischen Familie durfte nur noch einen Armenier heiraten. Ebenso konnten unter einem armenischen Vorgesetzten nur Armenier Karriere machen. Alle Interviewten, die uns diese Situationen beschrieben, waren der Meinung, dass zur Zeit der Sowjetunion die ethnische Zugehörigkeit im alltäglichen Zusammenleben kaum eine Rolle gespielt habe. Das folgende Zitat gibt ein eindrucksvolles Beispiel, wie sich nach der Erlangung der nationalen Souveränität in Usbekistan die Beziehungen zwischen den Angehörigen unterschiedlicher ethnischer Volksgruppen verschlechterten. Sergej, ein Russe aus Utschkuduk (Usbekistan), erzählt: »Bei meinem Vater im Betrieb arbeitete auch ein Kasache. Zusammen mit seinem Sohn bin ich zur Schule gegangen. Er ist ein rein städtischer Kasache, er selbst ist aus Almaty. Ein rein städtischer Kasache. Und dann kam diese Perestrojka, und er fing irgendwie plötzlich an, meinen Vater verbal anzugreifen. Mein Vater sagte: ›So ein Mist, du und ich schrauben schon seit über zwanzig Jahren an diesen Muttern, machen uns die Finger mit Heizöl schmutzig, und du fängst an, mir zu erzählen, dass du … Überlege dir doch mal, was du da tust.‹ Er [der Vater – Anm. d.A.] meinte wirklich, was das denn sollte. ›Davon wirst du doch kein Direktor, dass du angenommen ein Nationaler bist, und ich – bin … Wenn du dein ganzes Leben lang mit mir zusammen hier als Schlosser gearbeitet hast.‹ Vor allem überlege mal, als Vater in den Sechzigern, in welchem Jahr war’s? Im Jahre 1964 zogen wir wohl her. Ja, 1964, also seit dem Jahr 1964 ist er ja immer noch in demselben Betrieb. Zusammen mit diesen Typen, sehr abgearbeitet.«

Zur Zeit der Sowjetunion arbeiteten Sergejs Vater und sein kasachi321

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Sergej Damberg

scher Kollege auf einer Ebene, d.h., innerhalb des Betriebes besaßen sie den gleichen sozialen Status. Für ihre alltägliche Interaktion spielte ihre ethnische Zugehörigkeit eher nur eine untergeordnete Rolle. Dies änderte sich jedoch mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ihre Beziehung wurde in einen breiteren gesellschaftlichen Transformationsprozess einbezogen, der u.a. einen Wandel des Systems ethnischer Statuszuschreibungen zur Folge hatte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es in der Sowjetunion keine ethnischen Diskriminierungen gab. Trotz ihrer Doktrin von der »Gleichheit aller Arbeiter« nahmen die ethnischen Russen in allen sowjetischen Republiken übergeordnete Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft ein und besaßen einen höheren sozialen Status. Darüber hinaus hatte sich, unter Rückgriff auf das ethnische Wissen, ein Stratifikationssystem ausgebildet, das die unterschiedlichen ethnischen Volksgruppen einteilte und gleichzeitig die damit verbundenen sozialen Ungleichheitsverhältnisse wiederspiegelte. »Und so wurde begonnen, diese Kasachen einzustellen – sie wollen aber nicht arbeiten, sie sind faul. Dann wurden Usbeken eingestellt. Usbeken sind fleißig, sie sind es gewohnt zu arbeiten. Diese, die Kasachen … leben in der Steppe, in der Wüste, hüten ihre Schafe. Sie kannten ja faktisch keine physische Arbeit. Und die Usbeken, sie leben in … na, im Gebirgsvorland, mit Gärten, Gemüsegärten, Feldern, Baumwolle, dies und jenes, sie sind beim Arbeiten also fleißig. Daher wurden sie eingestellt« (Sergej aus Utschkuduk/Usbekistan).

Neben der Tatsache, dass in der sowjetischen Republik Usbekistan russische Arbeitgeber lieber Usbeken als Kasachen einstellten, weist dieses Zitat noch auf ein in Bezug auf die Konstruktion des ethnischen Wissens wichtiges Phänomen hin: Es sind die Unterschiede in Sprache, Religion, regionaler Herkunft und Kultur, die sich im ethnischen Wissen manifestieren. Diese Unterschiede werden nicht nur den verschiedenen ethnischen Gruppen zugeschrieben, sondern sie liefern erst den Grund, die Existenz verschiedener ethnischer Gruppen zu postulieren. Das bedeutet, dass in den subjektiven Grenzziehungsprozessen des Alltags, die unter Rückgriff auf das ethnische Wissen erfolgen, primordialistische Argumente und Konzepte vorherrschen. Obwohl in der Interaktion produziert, verliert das ethnische Wissen durch Objektivation seinen konstruktivistischen Charakter und spielt im Kontext jener 322

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»Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein

Prozesse, die zu Essentialisierungen von Ethnizität führen, eine große Rolle. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und mit der Erlangung der Souveränität veränderte sich in den postsowjetischen Staaten das ethnische Stratifikationssystem. Hatten zuvor noch Kasachen, Usbeken, Tadschiken etc. einen niedrigeren sozialen Status sowie schlechtere wirtschaftliche Chancen, so sind es nun die ethnischen Russen oder solche, die dafür gehalten werden. Das System der ethnischen Statuszuschreibungen kehrte sich also um, wodurch sich auch die sozialen Ungleichheitsverhältnisse verschoben haben. »Sie sind jetzt alle aus ihren Aulen [Siedlungen im Kaukasus und in Mittelasien] hergekommen – alle in die Stadt! Sie denken, dort gibt es viel Arbeit … Und laufen hier in 15er, 20er Gruppen durch die Gegend …« (ein Russe aus Aktjubinsk, Kasachstan). »In der letzten Zeit sieht man immer mehr Kasachen im Betrieb. In der Stadt sieht man, als die Russen nach und nach weggingen, dass die Wohnungen billiger wurden. So kamen sie dann auch in die Stadt« (Sergej aus Utschkuduk/ Usbekistan).

Die »Russen« wurden aus den staatlichen Ämtern verdrängt, ihrer vergleichsweise hohen wirtschaftlichen Positionen beraubt und zum Teil zur Migration gezwungen. Einen Eindruck über die Diskriminierungen, die sie seit Beginn der »Nationalisierungsbewegungen« in den postsowjetischen Staaten erleiden mussten, liefern die Auszüge aus den Anträgen zur »Gewährleistung des Status eines Zwangsaussiedlers«14 im Anschluss an diesen Beitrag. 14 Aus den postsowjetischen Staaten nach Russland immigrierte »Russen« erhalten vom russischen Staat nur dann eine finanzielle oder eine andere Unterstützung, wenn sie als »Zwangsaussiedler« gelten. Wirtschaftliche und ökologische Gründe oder auch mangelnde Sprachkenntnisse reichen jedoch für die »Gewährung des Status eines Zwangsaussiedlers« nicht aus. Diesen erhalten nur diejenigen, die nachweisen können, dass sie politisch verfolgt und diskriminiert wurden. Um die staatlichen Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen zu

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Sergej Damberg

Es sind vor allen Dingen politische und ökonomische Interessen, die sich in dem Wandel des ethnischen Stratifikationssystems der postsowjetischen Staaten manifestieren. Mit Blick auf ökonomische und politische Machtansprüche werden unter Rückgriff auf das ethnische Wissen ethnische Identitäten postuliert und eingefordert. Ethnizität ist also zu einer wichtigen strategischen Ressource im innergesellschaftlichen Konkurrenzkampf um Anerkennung, Rechte und materielle Chancen geworden. Die zu »anderen Russen« gemachten Einwanderer Sankt Petersburgs waren die vormals privilegierten, gut ausgebildeten, entsandten Kader, die ihren sozialen Status in Zentralasien verloren haben. Also wanderten sie aus. Mit der Erfindung der ethnischen Subkategorie »andere Russen« wurden sie als soziale Gruppe am Ankunftsort exkludiert, und ihnen wurde eine kaum von anderen in Petersburg lebenden Zentralasiaten unterscheidbare soziale Position zugeschrieben.15 Diese Phänomene lassen sich mit dem Begriff der Ethnisierung der sozialen Welt am besten erklären. Unter Ethnisierung soll hier die soziale Praxis des Abgrenzens und Unterscheidens verstanden werden, in der Gruppen und Identitäten unter Rückgriff auf das objektivierte und damit sich in primordialistischen Konzepten ausdrückende ethnische Wissen konstituiert werden. Die in den postsowjetischen Staaten stattfindenden Ethnisierungsprozesse sind Strategien des sozialen Interagierens zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen. Es handelt sich dabei um Abgrenzungsprozesse, die interessengeleitet und situationsabhängig sind. Wer zur Zeit der Sowjetunion in Usbekistan als »Russe« galt, wird heute in Russland als »Usbeke« bzw. »asiatischer Russe« betrachtet und dementsprechend »behandelt«. Dies widerspricht der leicht primordialistisch anmutenden Auffassung von

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können, müssen die Betroffenen einen »Antrag zur Gewährung des Status eines Zwangsaussiedlers« stellen und unter Punkt 12 die Gründe für ihre Migration nennen. Die hier erwähnten Auszüge stammen aus den Anträgen, die im Oktober 2000 beim Migrationsamt in Sankt Petersburg eingereicht wurden. An dieser Stelle möchte ich auch Frau Irina Kiseljova danken, die das Material zusammengestellt und vorbereitet hat. Zu den Integrationsproblemen und -strategien der russischen Emigranten aus Zentralasien siehe auch die Dokumentation von Igor Rotar im Anschluss an diesen Beitrag.

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»Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein

Kaiser (»Die Russen im nahen Ausland – Russen als neue Minderheiten in Zentralasien«, i.d.B.), nach der sich ethnische Zugehörigkeiten anhand von konstatierbaren kulturellen Merkmalen definieren und abgrenzen lassen, denn die Ursachen der ethnischen Differenzierung in den postsowjetischen Staaten liegen weniger in den kulturellen Differenzen als vielmehr in den situationalen und interessengeleiteten Grenzziehungen. Zwar wird bei diesen Grenzziehungen auf kulturelle Merkmale zurückgegriffen, dies geschieht jedoch selektiv, künstlich und wahrscheinlich auch mit strategischer Absicht. In diesem Sinne kann die primordialistische Art und Weise, wie der Begriff »Ethnizität« in den Massenmedien und von Seiten der Politik verwendet und dadurch vermittelt wird, auch nur kritisiert werden, lassen sie ihn doch als einen »natürlichen« Zustand einer Gruppe erscheinen, der hauptsächlich auf das Teilen einer vermeintlich einheitlich gewachsenen Kultur und Herkunft beruht. Tischkov (2002a,b) bemerkt dazu: »Unter den Wissenschaftlern […] gibt es keine Übereinstimmung in der Definition der Ethnizität, jedoch gibt es einige Basischarakteristiken, die alle Gesamtheiten kennzeichnen, die es erlauben, sie für ethnisch zu halten oder über die Präsenz der Ethnizität als solche zu sprechen. Zu solchen Charakteristiken zählen folgende: – Präsenz der von den Gruppenmitgliedern geteilten Vorstellungen über die gemeinsame territoriale und historische Herkunft, einheitliche Sprache, gemeinsame Merkmale materieller und geistiger Kultur, – politisch geformte Vorstellungen über die Heimat und besondere Institutionen wie z.B. Staatlichkeit, die auch als ein Teil dessen, was die Vorstellung vom Volk ist, gesehen werden können, – das Gefühl des Sich-Unterscheidens, d.h. die Erkenntnis der Gruppenmitglieder über ihre Dazugehörigkeit, und die darauf basierenden Formen der Solidarität und gemeinsame Handlungen.«

Ähnlich wie Ethnizität ist auch »Nationalität (nationhood) […] keine offenkundige soziale Tatsache. Sie ist eine umstrittene und häufig eine strittige politische Forderung. Folglich kann weder das Nationalitätsprinzip noch das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung als eine klare und definitive Anleitung zur Reorganisation eines politischen Raumes dienen« (Brubaker 2000). Hinter dem Begriff »Nation« verbirgt sich die Tatsache, dass 325

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Sergej Damberg

Machtausübung deshalb legitim ist, weil sie im Namen einer auf eine postulierte gemeinsame Identität gegründeten Einheit erfolgt. Wenn also im »Interesse der Nation« argumentiert wird, so werden Machtansprüche geltend gemacht. Genau an diesem Punkt offenbart sich die in den postsowjetischen Staaten stattfindende unheilvolle Verquickung von ethnischer Identität und Macht. »Usbekistan den Usbeken« oder »im Namen unserer kasachischen Nation« drücken nichts anderes als die Tatsache aus, wer als Herr in dem jeweiligen »Hause« gewünscht wird.

Schlussbemerkung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich in den Ethnisierungsprozessen der postsowjetischen Staaten vor allen Dingen politische sowie wirtschaftliche Interessen und Machtansprüche manifestieren. Trotz der Ideologie von der »Gleichheit aller Arbeiter« herrschten in der Sowjetunion massive soziale Ungleichheitsverhältnisse vor, die einer ethnischen Segregation des Arbeitsmarktes entsprachen. Schon zur sowjetischen Zeit beeinflusste die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe die Zugangsmöglichkeiten zu wirtschaftlichen und politischen Ressourcen bzw. war sie selbst eine strategische Ressource im innergesellschaftlichen Konkurrenzkampf um materielle Chancen, Status und Macht. Dieses Phänomen konnte der sowjetische Staat mit Hilfe der kommunistischen Ideologie, der Ideologie vom assimilierten Sowjetvolk, entsprechenden Kampagnen und repressiven Maßnahmen erfolgreich verschleiern. Nach dem Zusammenbruch trat es jedoch offen zu Tage. Unter Rückgriff auf das ethnische Wissen werden die aus den Sowjettagen bestehenden ethnischen Abgrenzungen mobilisiert. Die Angehörigen der bislang »unterdrückten« – jetzt unabhängigen – Titularnationen fordern nun eine Umkehrung der interethnischen Machtverhältnisse. Dieses Anliegen versuchen sie zum Teil mit repressiven Mitteln zu verwirklichen, die überall auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zu Migrationsbewegungen in Richtung der jeweils – gebliebenen oder gewordenen – »eigenen« Staatlichkeit oder Gebietskörperschaft (teilweise mit kultureller Autonomie) führten. Diese Entmischung und Homogenisierung der Bevölkerung führt parallel zu neuen Distinktionen auf der Basis stereotypenhafter ethnischer Codes, 326

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»Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein

wobei neue Ethnonyme wie »andere Russen« etabliert werden. So wird Verschiedenheit – wie gezeigt wurde – aufgrund kontinuierlich bestehender ethnischer Wissensbestände in neo-ethnischen Kategorien verkodet, also ethnisiert. Gerade in der Ethnisierung sozialer Prozesse ist eine postsowjetische gesellschaftliche Kontinuität zu erkennen. Vertikale gesellschaftliche Stratifikationsprozesse erfolgen weiter entlang ethnischer bzw. ethnisierter Kategorien. Die Ethnisierungsprozesse der postsowjetischen Staaten lassen sich folglich anhand der folgenden zwei Fragen analysieren: In welchem Zusammenhang wird Bezug auf Ethnizität genommen? Und: Wer profitiert davon? Oder: Die Frage von Sollors (1996), »When did ›ethnicity‹ grow so important as an area of cultural expression and identification, but also as a sign of existential connectedness that it has made people ready to kill – and to die – for it?«, lässt sich für den postsowjetischen Raum wie folgt beantworten: Solange die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe für die materiellen Chancen, für den Zugang zu politischen und wirtschaftlichen Positionen sowie für den sozialen Status maßgebend ist, bleibt Ethnizität selbst eine strategische Ressource in genau diesem innergesellschaftlichen Verteilungskampf.

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Anhang 1 Dokumentation: Die anderen Russen: Die Tragödie der mittelasiatischen Emigranten Igor Rotar (übersetzt von Anna Schewtschenko), in: Nesavisimaja Gaseta, Moskau, 2. Juni 1993 Der erbarmungslose Bürgerkrieg hatte eine Massenauswanderung der russischsprachigen Bevölkerung aus Tadschikistan zur Folge. 300.000 von 388.000 Slawen, die vor Beginn der Unruhen in Tadschikistan lebten, haben die Republik bereits verlassen. Die meisten von ihnen wanderten nach Russland aus. Das größte Problem, dem sich die Emigranten aus Tadschikistan in Russland gegenübergestellt sehen, ist ein finanzielles. Zur Zeit kostet eine Einzimmerwohnung in Duschanbe ca. 150.000 Rubel, eine vergleichbare Wohnfläche in Moskau jedoch ca. 25.000 US-Dollar. Darüber hinaus sind der Verdienst sowie die gesamten Lebenshaltungskosten in Tadschikistan wesentlich niedriger als in der ehemaligen Metropole. Am neuen Ort haben die Immigranten nichts, womit sie sich ihr neues Zuhause einrichten bzw. eine neue Zukunft aufbauen können. Die russische Regierung ist nicht in der Lage, annehmbare Lebensbedingungen für sie zu schaffen. »Bestenfalls können wir einer Flüchtlingsfamilie aus Tadschikistan ein Zimmer in einer ›Kommunalen Wohnung‹ anbieten. Für etwas Besseres reicht unser Geld einfach nicht aus«, sagt Larissa Kablukova, stellvertretende Vorsitzende des Amtes für die Realisierung der Migrationsprogramme des föderalen Migrationsdienstes Russlands. Die materiellen Schwierigkeiten sind zwar das hauptsächliche, nicht aber das einzige Hindernis für den Aufbau einer Existenz am neuen Ort. Psychologie und Lebensweise der mittelasiatischen Russen unterscheiden sich wesentlich von den Russen der Russischen Föderation. Die Slawen Mittelasiens erwiesen sich als reichlich empfänglich für die Traditionen und Bräuche der sie umgebenden Völker. »Der mittelasiatische Russe trinkt um vieles weniger Wodka und ist viel gastfreundlicher als sein Stammesgenosse aus Russland. Als ich in der russischen Provinz ankam und diese grauen Säufergesichter sah, dachte ich mit Schrecken: Mein Gott ist es wirklich mein Volk!« So teilt die Emigrantin aus Tadschikistan, Svetlana Nasarova, ihre Eindrücke mit. 330

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»Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein

Wegen der Adaptionsprobleme am neuen Ort schlossen sich die slawischen Immigranten zusammen, um gemeinsam und aus eigener Kraft kompakte Siedlungen in ländlichen Gebieten von Russland zu errichten. Dies ist auch das hauptsächliche Anliegen der größten Organisation der russischsprachigen Bevölkerung Tadschikistans – der Gesellschaft Migrazija. »Es ist Zeit, zu verstehen, dass wir andere Russen sind. In Russland wurde in den letzten 70 Jahren eine wahnsinnige Selektion durchgeführt: Andersdenkende wurden aussortiert [wörtl.: weggeräumt, d. Übers.], die Säufer und Nichtstuer wurden begrüßt. In Mittelasien aber nahmen diese Aktivitäten nicht solche globalen Maßstäbe an. Dazu kommt, dass wir in den Städten eh keinen Wohnraum finden und es wird für uns, die Tadschikistan im Gedächtnis haben, leichter sein, gemeinsam zu überleben«, sagt die Vorsitzende der Gesellschaft Migrazija, Galina Belogorodskaja. Da die Mehrheit der tadschikischen Flüchtlinge aus Städten kam, planten die Mitglieder der Gesellschaft Migrazija den Bau der Wohnsiedlungen in den Randgebieten großer Städte. Aber keine der hundert von den Flüchtlingen befragten Rajon-Zentralen wollte Land für den Bau zur Verfügung stellen. Darauf beschlossen die Mitglieder der Gesellschaft Migrazija, ihre Siedlungen in ländlichen Gegenden anzulegen. Derzeit wird an 35 solcher Siedlungen gebaut. Den Aussagen von Galina Belogorodskaja nach ähneln sich die Probleme der Neusiedler aus Tadschikistan überall im ländlichen Russland. Zuerst sind es die Hindernisse, die durch hauptstädtische und örtliche Beamten verursacht werden und dann die Ablehnung der neuen Nachbarn durch die Alteingesessenen. Die Genossenschaft »Neusiedler« in der Nähe des Dorfes Saschkino im Fersikowskij-Rajon, Kuluschki Oblast, ist die erste Siedlung der Slawen aus Tadschikistan. Der Bau dauert hier schon ca. zwei Jahre. Es gibt bisher aber keine spürbaren Ergebnisse: Die Siedlung erinnert an eine schlecht ausgestattete Kolonie von Wochenendhäusern. Die Flüchtlinge erklären die traurigen Resultate mit der Dürftigkeit der von der russischen Regierung zur Verfügung gestellten Mittel. Moskau aber behauptet, dass die vergebenen Kredite, bei planvoller Ausgabe, zur Fertigstellung des Baus vollkommen ausgereicht hätten. Unter dem Druck der Bevölkerung beschlossen die Rajon-Verwaltungen vor kurzem, einen Teil des den Flüchtlingen zugeteilten Landes wiedereinzuziehen. »Die Bauern protestierten dagegen, dass die 331

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Flüchtlinge die Absicht hatten, das Land zu besiedeln, welches seit Jahrhunderten als Heuland diente. Und, urteilen Sie selbst, wozu brauchen sie zwei Grundstücke, wenn sie nicht einmal das eine bebauen können?«, so begründet der stellvertretende Vorsitzende des Fersikowskij-Rajons, Vladimir Bukalov, die Entscheidung der RajonVerwaltung. Die Repräsentanten der Siedler erklärten den Versuch zur Beschlagnahmung des Landes mit der »Regel der drei Bs«: bednyje: arm, bolnyje: krank, besdarnyje: unbegabt [d. Übers.]. Ihrer Meinung nach liebte man in Russland von alters her nur die Armen, die Kranken und die Unbegabten. Die Neusiedler verbargen nicht ihren Wunsch, mit Komfort und Geschmack leben zu wollen. Die neuen Häuser wurden mit allem Komfort – mit beheizter Toilette und mit Bad – ausgestattet. Die Landbevölkerung, der solcher Luxus fremd war, äußerte unverhohlen ihr Entsetzen darüber. »Wir selbst waschen uns einmal die Woche in der Sauna«, brummte die örtliche Obrigkeit. Es reizte auch der übertriebene ästhetische Anspruch der Neuankömmlinge. So beschlossen die Slawen aus Tadschikistan, einen eigenen Kindergarten zu organisieren, obwohl es in Saschkino bereits einen gibt. »Wir wollen nicht, dass unsere Kinder von ihren örtlichen Altersgenossen lernen, zu fluchen«, erklärten die Flüchtlinge ihr Vorgehen. Die Gereiztheit zwischen den Ortsansässigen und den Neuankömmlingen wächst. Die Leitung des Föderalen Migrationsdienstes Russlands überzeugte sich durch eine Untersuchung von der Unzweckmäßigkeit des Bauens kompakter Siedlungen. Nach der Meinung von Larissa Kablukova »können die kompakten Siedlungen schon ein ›Nagornyj Karabach‹ in Russland selbst provozieren«. Ob nun dieses Projekt der Gesellschaft Migrazija utopisch ist oder nicht: Viele der slawischen Flüchtlinge aus Tadschikistan setzten ihre Hoffnungen darauf. Ein Scheitern unter Umständen, in denen Russland nicht in der Lage ist, seine Stammesgenossen aus den »heißen Punkten« des zerfallenen Imperiums zu versorgen, nimmt ihnen die letzte Hoffnung. »Die Auswanderung aus Tadschikistan ist nur ein Vorspiel der Massenabwanderung der russischsprachigen Bevölkerung aus Zentralasien. In den letzten Jahren wuchs die Geschwindigkeit der Repatriierung aus diesen Regionen um fast das 10fache. Es ist am wahrschein332

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»Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein

lichsten, dass der Großteil der drei Millionen hier lebenden Slawen nach Russland emigriert«, sagt die Leiterin der Informationsabteilung des Föderalen Migrationsdienstes Russlands, Olga Vorobjova. Im Durchschnitt ist die russischsprachige Bevölkerung Mittelasiens konservativer eingestellt als die Bürger Russlands. Viele von ihnen stellen einen Zusammenhang her zwischen ihrer Tragödie und der Perestrojka. Mit Wehmut erinnern sie sich an die gute alte Zeit, als die »Nationalitätenkonflikte« einfach unmöglich waren. Besonders kritisieren sie Jelzin, der in ihren Augen die »Union zerstörte«. So ist das niedrige »Rating« der Demokraten in Russland auf ihre unflexible Politik gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung im jetzigen nahen Ausland zurückzuführen. In den ersten Perestrojka-Jahren schlossen die russischen Demokraten die Augen vor der Vielzahl ihrer Fehler – berauscht von dem Antikommunismus ihrer Bundesgenossen aus den national-befreienden Bewegungen in der Peripherie des Imperiums. Mehr als das, im demokratischen Establishment galt es als taktlos, die Probleme der Russischsprachigen in den Randgebieten des Imperiums zu erörtern. Das Ergebnis war, dass sich die so genannten »Patrioten« und die Kommunisten des Rechtsschutzes der russischsprachigen Minderheit in den nationalen Republiken annahmen. Im Vorfeld des kürzlich abgehaltenen Referendums rief die Vorsitzende der Gesellschaft Migrazija, Galina Belogorodskaja, die Flüchtlinge dazu auf, den Präsidenten Russlands zu unterstützen. Aber die Geduld der Immigranten ist nicht grenzenlos. Und wer weiß, ob diese Menschen mit der Zeit nicht zur »fünften Kolonne« werden, die bereitwillig dem ersten Aufruf der Kom-Patrioten, die Regierung zu stürzen, Folge leisten wird?

Anhang 2 Auszüge aus den Anträgen zur »Gewährleistung des Status eines Zwangsaussiedlers« – »Die Mitglieder meiner Familie und ich verließen die Republik Usbekistan aufgrund von Bedrängnissen hinsichtlich nationaler Merkmale. Als ich in der AG Orgres arbeitete, war ich gezwungen, Dienstreisen durch Usbekistan zu unternehmen. Als ich mich 1998 in der Siedlung Nuristan aufhielt, wurde ich von einer Gruppe Us333

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Sergej Damberg

beken zusammengeschlagen. Am 25. Februar 1996 wurde ich aufgrund meines nationalen Merkmals mehrmals beleidigt und hinterher an der Station der Siedlung Nurabad auf dem Heimweg von einer Dienstreise (mit Fußtritten) zusammengeschlagen. […] Als ich auf einer Dienstreise in Nurabad war [der Antragsteller arbeitete als Ingenieur – Anm. d.A.] bekam ich mehrfache Morddrohungen. Ich meldete am 26.04.96 meinen Wohnsitz ab, um mit meiner Familie zu meinen Eltern nach Sankt Petersburg zu ziehen. Doch man entließ mich nicht von der Arbeit, da meine Themen zu den Nurabader und Talimandscharer Wasserkraftwerken nicht abgeschlossen waren, deshalb kam ich 1999 zu meiner kranken Mutter nach Sankt Petersburg, meldete mich an und fuhr zurück.« – »Meine Frau wurde auf dem Heimweg von der Arbeit [Usbekische Gesellschaft der Blinden – Anm. d.A.] in der mahallah von usbekischen Typen sexuell belästigt und mit dem Tod bedroht. Nach der Geburt unserer Tochter Anastasija am 01.05.98 bekam meine Frau die Geburtsurkunde und Meldebescheinigung für das Kind nicht, solange sie ihren Pass der UdSSR gegen einen usbekischen nicht eintauscht, was sie dann auch machen musste. Mein Sohn wurde auf dem Weg von der Schule und seinen Sporttrainings mehrfach in der mahallah zusammengeschlagen. Meine Familie und ich sind russisch, meine russischen Eltern leben in Sankt Petersburg und wir wollen in unserem Land – Russland – leben«. – »[…] Drohungen seitens der kasachischen Bevölkerung, dass es nicht unser Land ist […]. Russen werden massenhaft entlassen, stattdessen Kasachen eingestellt. Die Zeitschriftenauflagen und Fernsehsendezeiten auf Russisch werden gekürzt. Als leitende Angestellte und Angestellte im Ministerium für innere Angelegenheiten von Kasachstan werden überall Kasachen eingestellt, infolgedessen wohin man sich mit seinen Problemen auch wendet, hört man nur, dass das nicht unser Land ist, wir keine Herren hier sind, und man wird offen schikaniert. Wir haben Angst, die Tochter im Hof spazieren gehen zu lassen, weil sie von einem Kasachen mit einem Stock geschlagen wird, wir haben schon versucht, mit seinen Eltern zu reden, doch sie lachen nur darüber, und kränken darf man sie nicht, sonst wird man von der Miliz abgeholt, und dort ist das Gespräch mit einem Russen kurz, sie können einen zusammenschlagen, eine Klage aber kann man nirgendwo einreichen, da 334

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»Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein









es bei Kasachen überall so eine Art Absprache gibt. Ich komme täglich spät von der Arbeit zurück und meine Frau muss sich ständig Sorgen machen, vor allem an den Tagen, an denen ich meinen Lohn ausbezahlt bekomme. Kasachische Milizionäre halten einen an und nörgeln dann und wenn man einmal falsch antwortet, so kann man zur Miliz gelangen, zusammengeschlagen werden und ohne Geld nach Hause kommen. Meine Bekannten mussten danach sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden […] Die Dokumente meiner Frau sind für die Ausstellung der russischen Staatsbürgerschaft eingereicht, deshalb ist kein Antrag von ihr beigefügt.« »Die ehemalige Bergarbeitersiedlung wird zerstört, die Menschen verlassen ihre Häuser und gehen in die Russische Föderation und andere Republiken. Das Mehrfamilienhaus ist halbzerstört, ohne Fenster und Türen. Die Heizung wurde abgestellt. Mein Mann wurde wegen des Geldes ermordet, das wir vom Verkauf unseres Hauses hatten.« »[…] man hört ständig die Worte: ›Geh in deine Heimat zurück‹. Man wird gezwungen, die kasachische Sprache zu lernen, doch ich brauche sie nicht […] Ich wurde in einem Kinderheim großgezogen, ich bin eine Blockadefrau. Meine Mama ist nach der Evakuation aus Leningrad gestorben. Man hat mir meine Kindheit und mein Alter genommen. Ich bekomme seit zwei Monaten keine Rente mehr, da ich nur angemeldet bin. Ich habe keine Bedingungen zum Existieren. Wenn Sie können, geben Sie mir die Wohnfläche meiner Mama zurück. Ich bin daran nicht schuld, dass unsere Regierung uns Russen für ihre Zwecke verraten hat.« »Ich selbst wurde mehrfach zum Objekt solcher Angriffe. Besonders deutlich kommt es in Kischlaken zum Vorschein, wo ich mich meiner spezifischen Arbeit wegen aufhalten musste. Daran erinnert man sich wie an einen Albtraum. Alle Bewohner kommen aus ihren Häusern raus, scharen sich um ihre Tore, und ihre Kinder schmeißen nach einem mit Lehmstückchen und schimpfen. Die Eltern bringen ihre Kinder nicht weg, sondern beobachten das Ganze nur ruhig. In Mehrfamilienhäusern werden den Russen die Kabel durchgeschnitten – ›eine Art Scherz‹.« »Es war sehr seltsam zu beobachten, wie Menschen, mit denen man erst vor kurzem noch einen angenehmen Umgang hatte, einen nicht mehr kennen wollen, nur weil man russisch ist […]« 335

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Sergej Damberg

– »Im Unterricht mussten wir den Schülern die Schönheit von Usbekistan preisen, seine Bräuche, Feste, den Präsidenten, jedoch hatten wir kein Recht, etwas über Russland zu erzählen, seine Feste und Bräuche. Ich bekam eine Rüge vom Direktorat dafür, dass ich den Kindern über die heiligen Osterfeiertage erzählte. ›Unsere Religion ist Islam, so erzählen Sie was darüber.‹ Es gab viele Fälle der Erniedrigung – man wurde mit Steinen beworfen und beleidigt […] Doch der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war der Zwischenfall mit meinem Sohn im Mai 1999. Im Sportunterricht im Schulstadion riss ein Oberstufenschüler, ein Usbeke, ihm sein kleines orthodoxes Kreuz vom Hals, wobei er mit der Kette den Hals des Kindes schnitt und die Kette zerriss. Das Kreuz wurde von einem zum anderen hin und her geworfen, und mein Sohn weinte und lief mit den Worten: ›Gebt es zurück‹ hinterher. Letztendlich warf man das Kreuz auf die Erde und trat es mit dem Absatz und dann ging man lachend auseinander. Mein Sohn hatte einen hysterischen Anfall, wir mussten sogar Hilfe von einem Psychotherapeuten holen. Seitdem weigert sich mein Sohn kategorisch, in die Schule zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt lebte ich mit meinem kleinen Sohn seit vier Jahren allein in Taschkent […]« – »Ich war gezwungen wegzugehen, weil nach dem Zusammenbruch des UdSSR die nationale Frage schlagartig wichtiger wurde. Einfach so konnte man auf der Strasse, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, auf dem Markt und selbst in Behörden beleidigt werden. Nur deswegen, weil man russisch ist. Ich musste meine Arbeitsstelle aufgeben, weil die ganze Dokumentation nur noch auf Usbekisch geführt wurde, und ich kann die Sprache nicht, und sie in meinem Alter zu lernen, stellte sich als schwer heraus. Selbst das ist nicht das Wichtigste. Besonders viel Angst hat mir der Telefonterror gemacht – ›Wann haust du ab oder wartest du darauf, dass du mit den Füßen nach vorne herausgetragen wirst?‹ Und so ging das etwa ein Jahr lang. Und seit dem Attentat auf den Präsidenten Karimov wurden die Anrufe häufiger, da die russischsprachige Bevölkerung jetzt massenweise wegging und die Wohnungen entweder einfach verlassen oder zu sehr niedrigen Preise verkauft wurden. Es wurde unerträglich, mit der ständigen Angst zu leben, und ich war gezwungen wegzugehen […] Ich weiß nicht einmal, wie das alles erklärbar ist, was geschehen ist. Nachdem ich mich in den Zug 336

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»Ethnisches Wissen« im Alltagsbewusstsein

gesetzt hatte, dachte ich, dass alle meine Ängste vorbei sind. Doch es stellte sich heraus, dass alles erst begann. Kaum waren wir hinter Taschkent, kamen die Kontrollen. Sie öffneten gleich den Pass und schauten auf den Meldeeintrag. Wenn man abgemeldet ist, so hat man wohl Geld, Gold und vielleicht irgendwas Antiquarisches. Sie schmissen die Mitfahrer raus (bei mir sind zwei junge usbekische Burschen mitgefahren) und fingen an, meine Sachen und mich zu durchsuchen. Was sie wollten, nahmen sie mir weg unter dem Vorwand, dass man dies nicht ausführen darf, obwohl ich nichts Unerlaubtes dabei hatte. Auf der Suche nach ›Bucks‹, wie sie sie nannten, zogen sie mich komplett aus. Bis zu unserem Zoll hatte ich nicht einmal Zeit, in Ruhe sitzen zu bleiben, geschweige denn zu schlafen. Aufgrund der nervlichen Belastung bekam ich Fieber. Diese Grobheit hat mich in einen Schockzustand versetzt, als ich in Moskau ankam, konnte ich mich an nichts mehr erinnern. In den Taschen fehlte die Hälfte der Sachen. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so eine erniedrigende unmenschliche Behandlung erlebt.«

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Markus Kaiser

Die Russen im nahen Ausland – Russen als neue Minderheiten in Zentralasien 1 Markus Kaiser Seit Beginn der sowjetischen Herrschaft bis zur Gegenwart durchliefen die zentralasiatischen Staaten unterschiedliche Transformationsprozesse, die sich je nach gesellschaftspolitischem Standpunkt in Paradigmen wie Modernisierung, Sowjetisierung oder Russifizierung und in jüngerer Zeit auch mit neuen Parametern wie Nationalisierung, Islamisierung und Unabhängigkeit fassen lassen. Die Durchsetzung und die sozialen Auswirkungen dieser gesellschaftspolitischen Modelle waren und sind für die ethnischen Beziehungen in Zentralasien2 von entscheidender Bedeutung. Die Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion führte durch die Entsendung russischsprachigen Fachpersonals und aufgrund einer Art ethnischem Quotensystem dazu, dass die Angehörigen der Titularnationen neben denen der russischsprachigen einen bevorzugten Zugang zum bürokratisch-politischen Apparat ihrer Republiken erhielten (Roeder 1991). Durch dieses System der Repräsentation ethnisch-nationaler Gruppen nach Quoten in Partei, Wirtschaft und Bürokratie wurde der »Kampf um den Staat« (Wimmer 1995: 469) institutionalisiert. Zur Zeit der Sowjetunion entschieden ihn, trotz der Politik der Nationalisierung der Kader »korenisazija«, vor allen Dingen 1

Ich bedanke mich für die Anregungen und konstruktiven Kritiken von Joanna Pfaff-Czarnecka. 2 Die Begriffe Mittelasien und Zentralasien sind nicht synonym. Mittelasien, russ. srednjaja asija, bezeichnet in der russischen kulturgeschichtlichgeographischen Tradition die im 19. Jahrhundert eroberten transkaspischen Provinzen des Zarenreiches, später die dortigen Sowjetrepubliken. Aus historisch-geographischen Gründen rechnete man zu diesem Raum auch die südlichen Zonen Kasachstans. In der westeuropäischen Terminologie ist dies »Russisch Turkistan« oder »West-Turkistan«: Turkmenistan, Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan (Letzteres in der Hauptsache von iranischsprachigen Ethnien bewohnt). Unter Zentralasien (zentralnaja) verstand die russische Tradition hingegen hauptsächlich »Ost-Turkistan« (d.i. Xinjiang in West-China), die Mongolei und Tibet. Die westeuropäische Forschung pflegt alle diese Gebiete, dazu Afghanistan und Teile Süd-Sibiriens, unter dem Begriff »Zentralasien« – wie er hier benutzt wird – zusammenzufassen.

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Russen als neue Minderheiten in Zentralasien

die ethnischen Russen für sich. Nach dem Zerfall aber änderte sich das gesellschaftliche Gefüge in Zentralasien erheblich zu ihren Ungunsten. Aus den Angehörigen der früheren Mehrheitsbevölkerung einer Großmacht wurden jetzt Mitglieder einer Minderheit mit umstrittener Identität und ungewisser Zukunft in neu etablierten, ethnisch-national fremden und vergleichsweise schwachen Staaten.3 Vor diesem Hintergrund eines ethnisierten Kampfes um den Staat untersucht der vorliegende Beitrag die Entwicklung der Beziehungen zwischen Russen und Zentralasiaten. Die politischen und sozioökonomischen Transformationsprozesse haben nicht nur »neue« Minoritäten, sondern auch neue Definitionen für Mehrheitsidentitäten geschaffen. Im Zentrum der Betrachtung stehen hier die Republiken Kasachstan und Usbekistan, die aus der Sowjetunion als unabhängige zentralasiatische Staaten mit klar definierten nationalen Zielen hervorgingen.4 Darüber hinaus wird auch die russische Sichtweise auf das Problem der neu entstandenen russischen Minderheiten in den Anrainerstaaten der Russischen Föderation, die auch als »externes nationales Heimatland« bzw. »nahes Ausland«5 bezeichnet werden, behandelt. 3

Achim Schmillen, Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt und langjähriger Vertrauter von Außenminister Joschka Fischer, konstatierte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Mai 2001 (Seite 10), dass es – wenn die europäische Integration und die Nato-Erweiterung den erwarteten Weg nähmen – bald nur noch einen Raum mit einem einheitlichen politischen Willen zwischen Europa und Zentralasien geben werde, nämlich die Russische Föderation. Jede Instabilität in der Region Zentralasien wird unmittelbare Auswirkungen auf die europäische Politik haben. Zentralasien sei – so Schmillen – die ethnisch gemischteste und kulturell diversifizierteste Region der Welt. Sie werde beeinflusst von einem Wiederaufkommen eines Nationalismus, auf den sich die Machthaber stützten, durch Clans, die Autonomie suchen und nicht vor Abspaltung zurückschrecken. Die ethnischen Russen, die »Europa« in Zentralasien vertreten, sowie die Minderheitenpolitik in der Region sind für Schmillen ein Gradmesser der dort stattfindenden Demokratisierung und des vorhandenen Konfliktpotenzials. 4 Der Beitrag basiert auf Feldforschungs-Aufenthalten in Usbekistan und Kasachstan in den Jahren 1995, 1996, 1999 und 2001. 5 Hierbei handelt es sich um eine allgemein gebräuchliche Terminologie in Russland, die aber kaum in Zentralasien verwendet wird.

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Markus Kaiser

Nationalstaatenbildung und Ethnizität Während der 1980er Jahre stand in der westlichen sozialwissenschaftlichen Literatur vor allen Dingen die »ethnische Frage« im Mittelpunkt der Nationalstaats-Diskussionen (Glazer/Moyniham 1975; Smith 1981; Brass 1985). Dabei bezog sich der Ethnizitätsbegriff auf die Ausbildung von ethnisch-kultureller bzw. nationaler Identität. Schlee (1989, 1994) und Cohen (1981) argumentieren, dass ethnisch-nationale Identitätspolitiken sich zumeist auf die vermeintlich ursprüngliche Einzigartigkeit einer Gruppe beziehen und diese instrumentalisieren. Eine Gruppe identifiziert sich selbst als ethnisch – oder, im Kontext der früheren Sowjetunion, als Nationalität (nazionalnost) –, sobald sie bestimmte emische Diskurse und kulturelle Praktiken ausprägt, die ihre Besonderheiten festlegen (Schlee 1989, 1994). Eine über Sprache, Religion und Kultur definierte Ethnizität ist auch für moderne Staaten von Bedeutung. Mit der Nationalstaatenbildung wird die Frage von Mehrheiten und Minderheiten relevant, da die Staaten für die Definition einer kollektiven Identität6 – wie auch in fast allen postsozialistischen Staaten – auf den »Mehrheitsbeschluss« (Tilly 1975) und das Umfeld einer bestimmten ethnischen Gruppe zurückgreifen. Ethnische Minderheitsgruppen stellen häufig für das integrative Bestreben der assimilatorisch ausgerichteten Politiken ein Hindernis dar. Deshalb wird, um ein notwendiges Maß an »Homogenisierung der Bevölkerung« zu erreichen, die Beschäftigung mit ethnischen Fragen unumgänglich (ebd.) Konfrontation und Assimilation bilden so die möglichen Pole einer Begegnung verschiedener ethnischer Kulturen in einem Staat. In der sozialwissenschaftlichen Literatur stehen assimilatorischen Ansätzen multikulturalistische Auffassungen gegenüber (Wimmer 1995). Der Begriff »Multikulturalismus« bezeichnet das Neben- oder Miteinander verschiedener Kulturen in einer Gesellschaft.7 Er geht 6 Ein ethnisch definiertes »Kollektiv« umfasst natürlich nie alle, die aufgrund ihrer Herkunft zur entsprechenden ethnischen Gruppe gezählt werden können. »Vielmehr sind es meist der männliche Teil und die politisch überhaupt handlungsfähigen Sektoren der Bevölkerung, welche sich eine ethnisierte Sicht auf die politische Landschaft zu eigen machen und damit die Blockbildung vorantreiben« (Wimmer 1995: 472). 7 »Kultur« wird in diesem Zusammenhang als Gesamtheit aller Merkmale

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Russen als neue Minderheiten in Zentralasien

von der Annahme aus, dass die Minorität sich aus Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen zusammensetzt, die weitgehend nach den Traditionen ihrer Herkunftsländer lebend von der Majorität der Bevölkerung toleriert werden. Das Zusammenleben ist durch friedliche Koexistenz gekennzeichnet. Im Gegensatz zu solchen multikulturellen Modellen setzen die postsowjetischen zentralasiatischen Regierungen gegenwärtig eher auf assimilatorisch-nationalisierende gesellschaftspolitische Agenden (Kaiser 2001), weshalb die Multinationalität ihrer Bevölkerungen eines ihrer Hauptprobleme im Transformationsprozess bleiben wird.

Die Ethnisierung der postsowjetischen Nationalstaatenbildung Bei allen postsowjetischen Staaten, die Russische Föderation eingeschlossen, handelt es sich um multinationale Staaten. Folglich stehen sie alle vor der Aufgabe, Minderheiten zu integrieren. Russland sieht sich u.a. mit den nationalen Bestrebungen der Tataren (siehe die Beiträge von Gontscharova, Schrader et al. und Sabirova i.d.B.), der Baschkiren und der Tschetschenen konfrontiert. Trotz ihrer ethnischen Heterogenität begreifen sich die postsowjetischen Staaten heute aber als auf einer bestimmten ethnischen Majorität basierende Nationalstaaten. Gefördert wird jeweils die Sprache, Kultur, demographische Position, wirtschaftliche Entwicklung und politische Hegemonie derjenigen ethnischen Gruppe, die dem betreffenden Staat ihren Namen gibt. Eine Fortsetzung des ethnisierten »Kampfes um den Staat« wurde damit vorprogrammiert. Wimmer (1995) zufolge entstehen ethnische Konflikte, »wenn im Prozeß der Staatsbildung oder der krisenhaften Reorganisation staatlicher Institutionen die ethnischen Unterteilungen so mit politischer Bedeutung geladen werden, daß ein Kampf darum entbrennt, welchem ›Volk‹ der ›Staat‹ gehören soll oder welchen Anteil daran es legitimerweise beanspruchen darf« (Wimmer 1995: 467). Die »Nationalisierung« des politischen Raumes in Zentralasien entlang verstanden, die das soziale, wirtschaftliche und geistige Leben einer ethnischen oder religiösen Gruppe bestimmen. Wesentlich ist hierbei der kreative Aspekt der Kultur und deren schöpferische Dimension.

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Markus Kaiser

ethnischer Identifikationen führt nun dazu, dass sich eine große Anzahl von Menschen außerhalb »ihres eigenen« nationalen Territoriums befindet bzw. über keines verfügt. Darüber hinaus hat die »Nationalisierung« bewirkt, dass mit jeder Phase der Nationalstaatenbildung erneut Fragen über »nationale Mehrheiten« oder »nationale Minderheiten« in den Vordergrund rücken. Zu Sowjetzeiten konzentrierte sich das akademische Interesse des Westens auf den Umstand, dass die sowjetische Elite die Existenz unterschiedlicher nationaler Identifikationen verleugnete bzw. ihre Auflösung in der klassenlosen Gesellschaft beschwor. Dies galt als einer der zentralen Schwachpunkte des sowjetischen Systems. Heute wird deutlich, dass auch in der früheren Sowjetunion die ethnische Frage für die dort lebende Bevölkerung von enormer Bedeutung war. Dies zeigte sich insbesondere in den letzten Jahren des Sowjetregimes, als es in den armenischen Enklaven von Nagornyj-Karabach sowie in Aserbaidschan und sogar in Kasachstan zu gewaltsamen ethnischen Auseinandersetzungen kam. Diese Konflikte wirkten sich später auch auf das usbekisch-kirgisisch-tadschikische Dreiländereck im Fergana-Tal aus (Kaiser 1994). Der ossetisch-georgische Konflikt, der ossetisch-inguschische Krieg, der georgisch-abchasische Konflikt und der subregionale Konflikt in Tadschikistan sind postsowjetische Manifestationen von Problemen, deren Ursprünge ebenfalls in der sowjetischen Vergangenheit liegen (Dorenwendt 1994). Schon im zaristischen Russland stellte Ethnizität die Grundlage nationaler Identität dar, eine Tatsache, deren Aufhebung vom Sowjetregime zwar beabsichtigt, aber nicht realisiert werden konnte. Die sowjetische Nationalitätenpolitik beruhte auf der Annahme, ethnische Unterschiede seien bürgerliche Relikte, die durch Modernisierung letztendlich dazu verurteilt seien, sich aufzulösen.8 Die Aufteilung der Sowjetunion in ethnisch-linguistisch definierte Republiken mit jeweils einer Titularnation sorgte allerdings für den Fortbestand des ethnischen Faktors – mit zwiespältigen Folgen. In einigen der Republiken 8 Die zeitgeschichtlich parallele Konzeptionalisierung der Vereinigten Staaten von Amerika als melting pot unterscheidet sich in Bezug auf das Wunschdenken einer nationalen Homogenisierung nicht wesentlich vom Zeitgeist in der damaligen Sowjetunion.

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Russen als neue Minderheiten in Zentralasien

erwuchs aus diesem Prozess ethnischer Identifikation ein Impuls, der ganz gemäß assimilatorisch geprägter Vorstellungen die Identitäten von Minderheiten in der Titularnation aufgehen ließ. So erklärte die sowjetische Zentralregierung die Tadschiken am 5. Oktober 1925 zur Nation und fasste damit die aus unterschiedlichen Volksgruppen bestehende und überwiegend Persisch sprechende Bevölkerung dieser Region zusammen. Zur Etablierung dieser Nation und eines historisch geprägten Identifikationsmusters wurde eine besondere tadschikische Nationalgeschichte geschaffen und das kollektive Bewusstsein eines seit ›urdenklichen Zeiten existierenden Kulturvolkes‹ vermittelt. In der westlichen Literatur wird die Künstlichkeit dieser Nationskonstruktion betont. Rubin beispielsweise führt aus: »Tajikistan lacked coherence as a territory or society. The Soviet Union defined all speakers of Central Asian dialects of Persian and related languages as ›Tajiks‹, but this identity had little historic resonance. ›Tajiks‹ had never ruled an empire or identified themselves as a group« (Rubin 1993: 74). Das Auswählen einer Sprache als Grundlage der Gruppenidentifikation stellte zumindest partiell sicher, dass sich eine ethnisch-kulturelle Identifikation entwickeln konnte. Moskau deklarierte einzelne lokale Dialekte zu Nationalsprachen, die dann für die Titularnationen zunehmend zu wichtigen Instrumenten der Identifikation wurden. Heute wird nicht nur die auf Sprache und Religion basierende Nationenbildung hinterfragt, sondern auch die zentralstaatliche Entscheidung des Sowjetregimes, aufgrund derer eine Vielzahl von ethnischen Identitäten unter die größeren Identitäten der titularen Nationalitäten subsumiert wurden.9 Und selbst diese Identitäten, die mit der Identi9 In der frühen sowjetischen Nationalitätenpolitik sollte eine »Titularnation« über eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsames Territorium, ein gemeinsames Wirtschaftsleben und über eine gemeinsame »psychische Wesensart« im Sinne von »Nationalcharakter« verfügen (Halbach 1992: 22). Damit war die Grundlage gelegt »[...] für eine hierarchische Einteilung von Völkern [...], die nach Nationen, Nationalitäten, Völkerschaften und ethnischen Gruppen unterscheidet und der späteren Nationalitätenpolitik ihren Stempel aufdrückt« (Halbach 1992b: 22 [Hervorhebung im Original]). Fehlte eines dieser Elemente (oder ging es verloren), sank die betreffende ethnische Gruppe auf die Stufe einer »Nationalität« herab. Die Hierarchisierung nach sozioökonomischen Gesichtspunkten ergab im Wesentlichen drei Grup-

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Markus Kaiser

tät der Titularnation verschmolzen, weisen »fluid boundaries and multiple elements« (Tishkov 1995) auf. So zählen zu den Tadschiken zahlreiche kleinere Sprach- und Religionsgruppen wie z.B. die Pamiris, die vom Glauben her Ismailiten sind, oder die Tschagatais, die turkisierte usbekischsprachige Mongolen sind, die aber auch zunehmend Tadschikisch sprechen. Die Grenzen der sowjetischen Republiken basierten auf der zahlenmäßigen Überlegenheit einer ethnischen Gruppe, was zwangsläufig dazu führte, dass auch Minderheiten in ihnen lebten. An einigen Orten bildeten diese sogar die Mehrheit der lokalen Bevölkerung. Als Beispiele können hier Buchara und Samarkand in Usbekistan mit einer mehrheitlich tadschikischen Bevölkerung genannt werden. Für beide Städte ist die Zweisprachigkeit und die kulturelle Vielfalt ihrer Bewohner charakteristisch. Dennoch wurden sie per Dekret sowjetischer Politiker einer bestimmten Nation, und zwar der usbekischen, zugeordnet. Wollte die sowjetische Zentralmacht mit Hilfe der Aufteilung der Sowjetunion in ethnisch-linguistische Republiken und über die Beteiligung der Titularnationen am politisch-bürokratischen Apparat das ethnisch, religiös und kulturell äußerst pluralistische Land politisch pen: Völker mit entwickelten Wirtschaftsräumen, vorindustrielle Völker und diejenigen, die auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe standen und noch keine bestimmte Klassenstruktur und kein bestimmtes Territorium besaßen. Solche »fließenden Völker« waren ethnischer »Abfall«, bei denen sich der historisch zwangsläufige Prozess der Völkerverschmelzung als Erstes ereignen würde (Halbach 1992: 47). Das Ordnungsprinzip, welches die Nationalitätenpolitik, für die als Volkskommissar der Georgier Stalin zuständig war, bestimmen sollte, war das der sprachlich-national definierten Territorien (Kappeler 2001: 302). In der Praxis verkam die Nationalitätenpolitik unter Ausnutzung sozialer und ethnischer Antagonismen zu einem Machtinstrument der KPdSU. Diese Hierarchisierung beinhaltet die Geringschätzung ethnischer Gruppen, »[...] auf die jene ›objektiven‹ Nationskriterien nicht zutreffen und die deshalb der Assimilierung durch größere Nationen anheimfallen dürfen« (Halbach 1992: 22). Nicht zuletzt war diese Hierarchisierung von ethnischen Gruppen Teil ihrer Instrumentalisierung. Nur vor dem Hintergrund dieser Teilungen sind die heutigen sozialen Konfigurationen des Ethnischen zu verstehen und ihr Konfliktpotenzial erklärbar.

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Russen als neue Minderheiten in Zentralasien

wie gesellschaftlich stabilisieren, mit dem Ziel der Verschmelzung aller Volksgruppen zu einem Sowjetvolk, so wirkte die von ihr aufgrund ökonomischer und politischer Erfordernisse (Industrialisierung, Neulandgewinnung etc.) angeordnete Entsendung russischen Fachpersonals in die verschiedenen Republiken diesem Ziel entgegen. Die Zuwanderung ethnischer Russen und deren privilegierte Stellung in Wirtschaft und Politik bauten im Gegenteil ein enormes Konfliktpotenzial auf, das nach dem Zerfall offen zu Tage trat. Entsprechend diesem sowjetischen Erbe bilden die einzelnen ethnisch-nationalen Gruppen in Zentralasien, aber auch die Individuen, im Alltag ihre Identität hauptsächlich über Sprache und Religion aus, beides Faktoren der In- und Exklusion, der Unterscheidung zwischen naschi (unsere) und ne naschi (nicht zu uns Gehörende).10 Die geläufigste und wohl auch prägnanteste Differenzierung ist dabei die zwischen Russen und ethnischen Zentralasiaten, denn hier manifestiert sich das Trennende sowohl in der Sprache (bspw. Russisch vs. TurkSprachen) als auch in der Religion (christlich-orthodox vs. muslimisch) am deutlichsten. Alle zentralasiatischen Staaten weisen beträchtliche russische Minderheiten auf.11 Neben dem zugewanderten Fachpersonal sind es vor allen Dingen auch Russen, deren Vorfahren bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zur Zeit Katharina der Zweiten (1729-96), nach Zentralasien kamen. Viele Russen leben also schon seit Generationen dort. Mehrheiten- und Minderheitenkonstellationen sind in allen staatlichen Gebilden eine zentrale Variable für das Gelingen der Nationalstaatsbildung. Dies erscheint umso bedeutender, wenn quasi über Nacht ein Wechsel von einer Mehr- zur Minderheit stattgefunden hat. Veränderte politische Konfigurationen schufen in den postsowjetischen Staaten »neue« Minderheiten und machten es sowohl für die Mehrheits- als 10 Der Beitrag von Sergej Damberg (i.d.B.) zeigt den Rückgriff auf »ethnisches Wissen« im Alltagsleben als Ressource von In- und Exklusion am Beispiel der russischen Remigranten auf. 11 So sind in Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan ca. 6-10 % der Bevölkerung Russen, in Kirgistan sind es 22 % und in Kasachstan noch 34 % (vgl. Dawisha/Parrot 1994, siehe Tab. 1-3), worauf im Folgenden noch genauer eingegangen wird.

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Markus Kaiser

auch für die Minderheitspopulation notwendig, nach neuen Identifikationsmustern zu suchen. Im Folgenden soll zunächst die Entwicklung der Beziehungen zwischen Russen und Zentralasiaten in Kasachstan dargestellt werden. Anschließend werden diese Beziehungen in Bezug auf den spezifischen Fall Usbekistan als »nationsbildendem Staat« und den dort lebenden Russen als »neue nationale Minderheit«12 untersucht, wobei auch der Frage nachgegangen wird, wie die Russen ihren neuen Minderheitenstatus in ihrem neuen »externen nationalen Heimatland« wahrnehmen und erleben.

Russen und Zentralasiaten – Majorisierung mit wechselnden Vorzeichen Die Bemühungen der Russen, Beziehungen mit Zentralasien zu knüpfen, reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück, als russische Emissäre dorthin entsandt wurden, um günstige Handelsmöglichkeiten zu erkunden. Das gegenseitige Interesse hielt sich jedoch in Grenzen. Darüber hinaus war das Reisen zu beschwerlich, um dauerhafte Verbindungen zu ermöglichen, weshalb es zwischen Moskau und Zentralasien bei sporadischen Kontakten blieb. Unter Peter dem Großen lebte das imperialistische Interesse an dieser Region in gewissem Umfange wieder auf. Allerdings konzentrierte sich diese Aufmerksamkeit nach seinem Tod hauptsächlich auf die kasachischen Steppen, welche nach und nach in dem Maße, wie sich die kasachischen Horden ergaben, inkorporiert wurden. Darüber hinaus bemühten sich die Russen darum, diplomatische Beziehungen mit den Khanaten von Buchara, Kokand und Chiva aufzubauen. Nachdem die kasachischen Steppen um 1847 gänzlich erobert worden waren, drangen die Russen in Zentralasien ein. Dabei vermieden sie die direkte Konfrontation mit Buchara und Chiva und griffen verstärkt das Gebiet an den Grenzen zu Kokand an. Nach dem Fall von Taschkent, das in ein separates Generalgouvernement umgewandelt wurde, wurde 1865 unter der Gerichts12

Die Begriffe »nationale Minderheit« und »nationsbildende Staaten« verwendet Brubaker (1995) in seiner Untersuchung über die Situation in Jugoslawien. Sie lassen sich gut auf die Situation in Usbekistan und im übrigen Zentralasien übertragen.

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Russen als neue Minderheiten in Zentralasien

barkeit des Orenburger Generalgouverneurs eine turkestanische Provinz gegründet. 1884 mussten auch die letzten Widerstandsbastionen in dieser Provinz die russische Autorität anerkennen. Im Jahre 1886 wurde das Generalgouvernement von Turkestan in drei Teile aufgeteilt: Syr Darja, Fergana und Sarafschan. Zwei große Aufgaben nahmen die zaristische Administration in Anspruch: der Baumwollboom in Turkestan und die erste, in gewaltigem Umfang einsetzende Migrations- und Siedlungswelle von Slawen in die Steppen, insbesondere in den Norden Kasachstans. Letzteres führte unter der lokalen Bevölkerung häufig zu Protesten, da das beste Land im Rahmen der Kolonisierung für Siedlungszwecke vereinnahmt wurde. Mobilität war im zaristischen Russland ein wesentlicher Faktor der Integration eines größer werdenden Raumes. Nach der Oktoberrevolution unternahm das Sowjetregime den Versuch, die Region nach den Parametern der revolutionären Umwandlungen zu assimilieren. Anfangs gab es auch Ansätze, den aus den Zeiten der zaristischen Administration stammenden großrussischen Chauvinismus in der Region zu bekämpfen, doch angesichts der turksprachigen Expansion akzeptierte Moskau ihn später als das kleinere Übel. Heute scheinen sich die neuen politischen Eliten eher auf die negativen Auswirkungen des hochgradig zentralisierten sowjetischen Planungs- und Administrationssystems zu konzentrieren. An die zu Sowjetzeiten durchgeführten Modernisierungsmaßnahmen hingegen wird nahtlos angeschlossen, da sie in positiv besetzter Kontinuität als Errungenschaften angesehen werden. Die in den 1990er Jahren erfolgte Rückwanderung von ca. fünf Millionen ethnischen Russen aus Zentralasien, dem Kaukasus und dem Baltikum nach Russland kann letztendlich als Resultat eines Entkolonisierungsprozesses interpretiert werden.13 Durch diese Migrationsbewegungen verändert sich die ethnische Bevölkerungsstruktur der einzelnen Republiken, wie anhand der drei folgenden Tabellen deutlich wird.

13

Vergleichbar damit ist die Rückwanderung von Briten, Franzosen und Niederländern aus den Kolonialgebieten in ihre Heimatländer, die in den 1950er Jahren in großem Umfang stattfand.

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Markus Kaiser

Tabelle 1: Ethnische Struktur der Bevölkerung in Kasachstan in Prozent Nationalitäten

1989

1994

1995

Kasachen

39,7

44,3

46,0

Russen

37,8

35,8

34,8

Deutsche

5,8

3,6

3,1

Ukrainer

5,4

5,1

4,9

Usbeken

2,0

2,2

2,3

Tataren

2,0

2,0

1,9

Weißrussen

1,1

1,1

1,0

Quelle: FBIS-SOV, 7. September 1995

Tabelle 2: Ethnische Struktur der Bevölkerung in Usbekistan Usbekistan Kategorie/Jahr Bevölkerung

1979 15.389.307

1989

Taschkent 1992

1979

1989

1992

19.810.077 21.400.000

1.759.919

2.060.206

2.400.000

Usbeken

68,7 %

71,4 %

74,5 %

40,8 %

44,2 %

53 %

Russen

10,8 %

8,3 %

6,9 %

38,4 %

34,0 %

29 %

18,6 %

20,8 %

21,8 %

18,0 %

Andere Davon

20,5 %

20,3 %

Tadschiken

3,9 %

4,7 %

Kasachen

4,0 %

4,1 %

1,2 %

1,5 %

Tataren

3,5 %

2,4 %

7,0 %

6,3 %

Karakalpaken

1,9 %

2,1 %

0,1 %

0,2 %

Ukrainer

0,7 %

0,8 %

2,5 %

2,9 %

3,2 %

2,5 %

Juden Koreaner

1,1 %

0,9 %

1,7 %

2,1 %

Sonstige

5,4 %

5,3 %

5,1 %

6,3 %

Quellen: Yurkova 2003: 216; Nowak 1995: 15ff.; Islamov 2000: 187, 195. Die Daten für 1979 und 1989 basieren auf eigenen Angaben der Befragten bei Volkszählungen; die Daten für 1992 sind Fortschreibungen.

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Tabelle 3: Migrationsdynamik in Kasachstan in den Jahren 1993 und 1994 Anzahl der in eine Republik Ziehenden (pro 1.000 Einwohner)

Anzahl der aus einer Republik Fortziehenden (pro 1.000 Einwohner)

Emigranten (pro 1.000 Neuankömmlinge)

Alle Nationalitäten 1993

6,9

19,74

2.995

1994

4,21

28,73

6.824

Russen 1993

7,59

27,87

3.672

1994

5,29

47,94

9.062

Deutsche 1993

6,24

134,69

21.585

1994

4,98

165,18

33.169

1993

7,73

26,88

3.477

1994

5,45

43,99

8.072

Ukrainer

Quelle: FBIS-SOV, 7. September 1995

In der Zeit nach 1985 war es insbesondere die soziokulturelle Vorherrschaft der Russen, gegen die sich die Unzufriedenheit der lokalen Bevölkerung richtete. Doch es bleibt eine nicht zu leugnende Tatsache, dass die zentralasiatischen Republiken gegen eine Abtrennung von der Union votierten. Eine Mehrheit stimmte im März 1991 zugunsten des Referendums von Michail Gorbatschow, das die Notwendigkeit betonte, die Union zu erhalten (Kaiser 1994). Dies zeigt im Wesentlichen das Dilemma, vor dem die Republiken heute stehen. Auf der einen Seite bewirkt ihre Renationalisierung, dass sie die Russen zunehmend als Fremde betrachten, auf der anderen Seite aber verbieten praktische Zwänge, dies allzu forciert zu tun. Außerdem haben die politisch Verantwortlichen erkannt, dass ein positives Verhältnis zwischen einheimischen Russen und ethnischen Zentralasiaten für die Zukunft Zentralasiens entscheidend ist – nicht nur, weil dadurch mögliche negative Auswirkungen auf die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland vermieden werden, sondern auch, weil das wirtschaftliche und technische Fachwissen der einheimischen Russen 349

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nicht oder nur ungenügend durch qualifizierte einheimische zentralasiatische Arbeitskräfte ersetzt werden kann. Darüber hinaus führte die aus der Sowjetära stammende Spezialisierung der einzelnen Republiken auf die Produktion eines Gutes, wie z.B. der Baumwollanbau in Usbekistan, zu einer quer durch die zentralasiatischen Republiken und durch Russland verlaufenden, höchst interdependenten Wirtschaftsstruktur. Es gibt etliche Konfliktpotenziale, die die Beziehungen zwischen Russen und Zentralasiaten belasten. In dem Maße, wie die politische Reichweite Moskaus abnimmt, nehmen in den zentralasiatischen Republiken die Möglichkeiten zu, lang angestauten Emotionen und Ärger freien Lauf zu lassen. Ein Vers über die heutige Lage am AralSee gibt dieses Klima wieder: »When God loved us He gave us the Amu Dariya When he ceased to love us He sent us Russian Engineers« (Thubron 1995: 125).

Die Russen werden zunehmend als Kolonisatoren und Fremde angesehen, insbesondere deshalb, weil ein großer Teil sich weigert, die Sprachen und Traditionen der ethnischen Zentralasiaten zu erlernen. Einige zentralasiatische Staaten haben das fließende Sprechen der örtlichen Sprachen für alle Staatsangehörigen zur Priorität erklärt. Obgleich diese deklaratorischen Maßnahmen von den jeweiligen Regierungen nicht nachdrücklich durchgesetzt wurden, bleibt das Thema »Sprache« dennoch eine höchst heikle Angelegenheit. Der prozentuale Anteil an einheimischen Russen mit ausreichender Kenntnis der relevanten zentralasiatischen Sprachen reicht von weniger als 1 % in Kasachstan bis zu 4,6 % in Usbekistan (Dawisha/Parrot 1994). Die Abwehrhaltung der einheimischen Russen den zentralasiatischen Sprachen gegenüber wird von der lokalen Bevölkerung als »Lustlosigkeit« (FBIS-SOV, 31. Juli 1995) angesehen, zumal sie früher selbst gezwungen worden war, Russisch zu lernen. Solche geteilten Ansichten haben vor allem in Kasachstan, wo die Russen eine zahlenmäßig starke Minderheit darstellen, zur Bildung von pro- und anti-russischen Gruppen geführt. Beispiele dafür sind die »Einheits-Partei« und die anti-russische »Alash-Partei«. 350

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Kein Verständnis findet auch der Umstand, dass die gut bezahlten technischen und leitenden Berufe überwiegend von Russen ausgeübt werden.14 Nancy Lubin (1984) konstatierte allerdings für die sowjetische Periode, dass die westliche Wahrnehmung, die Slawen hätten eine privilegierte Elite gebildet und die einheimische Bevölkerung sei auf den Rang zweiter Klasse reduziert worden, nicht ganz der Realität entspräche. Soziokulturelle Faktoren und das Fortbestehen einer traditionalen Sozialstruktur konnten durchaus für die individuelle Berufswahl und die wirtschaftliche Position eines Individuums entscheidend sein, was möglicherweise aus statistischen Daten nicht erkennbar sei. Für die Situation auf dem Arbeitsmarkt waren nach Lubin (1984) ökonomische und soziale Faktoren relevant, die über Fragen der positiven oder negativen Diskriminierung von Slawen hinausgingen und die Beziehungen zwischen den Nationalitäten implizit widerspiegelten. Auf dem formalen Arbeitsmarkt war nur derjenige Teil der kasachischen Bevölkerung tätig – und nur dieser wollte dort tätig sein –, bei dem das gesellschaftliche Leben weitgehend auf der russischen bzw. sowjetischen Kultur beruhte, die ihrerseits die kasachische überlagern konnte.15 Für die postsowjetische Phase gilt in Bezug auf die ethnische Arbeitsteilung zwischen Kasachen und Russen, dass jede der beiden Gruppen solche Nischen auf dem Arbeitsmarkt besetzt, in denen die jeweils andere Gruppe unterrepräsentiert ist. 1989 stellten die Kasa14 Da die industrielle Modernisierung in Kasachstan weitgehend von qualifizierten Fachkräften aus dem europäischen Teil der UdSSR, vor allem aus Russland, getragen wurde, ergab sich während der 1950er und 1960er Jahre eine weitreichende ethnische Teilung der Arbeitswelt Kasachstans. Eine grobe Einteilung wagend, könnte man sagen, dass die autochthone Bevölkerung, allen voran die Kasachen, hauptsächlich in der Landwirtschaft, in der Wissenschaft (vor allem in den Geisteswissenschaften) sowie in Lehrund Pflegeberufen vertreten war. Die Immigranten, insbesondere die Russen, dominierten dagegen in der Industrie (vor allem stellten sie einen Großteil der Facharbeiterschaft) sowie in den technischen und naturwissenschaftlichen Berufen (Peter 1999: 16). 15 So zeigt beispielsweise die ehemalige Hauptstadt Almaty ein sehr russisches Gesicht und weist zudem mit 70 % einen hohen russischen Bevölkerungsanteil auf.

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chen lediglich 25 % der Industriearbeiterschaft, demgegenüber waren 52 % der berufstätigen Russen in der Industrie tätig. Auf dem Agrarsektor waren die Proportionen umgekehrt: 57 % der in der Landwirtschaft Beschäftigten waren Kasachen und nur 18 % Russen. Sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie hatten die Russen die höher qualifizierten Stellen inne (Peter 1999: 16). Gegenwärtig ist die ethnische Arbeitsteilung in Kasachstan von einer fortschreitenden »Indigenisierung« der Arbeitskraft gekennzeichnet, die darin besteht, dass in allen Berufssparten der Anteil der Kasachen zunimmt. Die Titularnation ist zwar in vielen Bereichen immer noch unterrepräsentiert – jedoch mit abnehmender Tendenz. In den traditionell von Russen dominierten Branchen, insbesondere in der Industrie, haben die Kasachen stark aufgeholt, was gleichzeitig ein Zurückdrängen der Russen bedeutet (Kaiser 1995: 91ff.). Die aufgrund der Remigration von Russen vakanten Stellen werden häufig mit Kasachen besetzt. Ethnisch heterogene Systeme, in denen die unterschiedlichen ethnischen Gruppen spezielle Nischen besetzen, sind nicht per se instabil und führen nicht zwangsläufig zu Konflikten, da die Konkurrenz und die Abhängigkeit zwischen den ethnischen Gruppen aufgrund der getrennten Lebens- und Wirtschaftsbereiche relativ gering bleiben. Dies gilt selbst dann, wenn mit der ethnischen Arbeitsteilung große soziale Ungleichheiten einhergehen (Wimmer 1995: 470f.). Gleichwohl stellt ethnische Arbeitsteilung eine mobilisierbare gesellschaftliche Differenzierung dar. Viele einheimische Russen befürchten heute eine ethnisch motivierte Gegenbewegung, obgleich bislang fast nur nicht-russische Gruppen miteinander in Gewalttätigkeiten verwickelt waren.16 Dennoch gibt es eine latent anti-russische Stimmung, die viele Russen dazu bewegte, Zentralasien zu verlassen. Die eigentliche Abwanderung der Russen begann in den 1980er Jahren, wobei überwiegend jüngere, gebildete Russen emigrierten. So offenbarten Forschungsberichte Ende der 1980er und 1990er Jahre, dass z.B. in und um Taschkent, der Hauptstadt von Usbekistan, die Anzahl der Dörfer mit russischer Mehrheit rapide abgenommen hatte (Rywkin 16 Diese reichten von alltäglichem Rassismus bis hin zu pogromartigen Vertreibungen aus Betrieben und Dörfern. Siehe hierzu auch Fußnoten 33 und 34.

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1986; Eckert 1996). Zwischen 1989 und 1991 verließen annähernd so viele Russen die zentralasiatischen Staaten wie in den vorhergehenden zehn Jahren zusammen. Auch in Kasachstan hat sich seit Beginn der 1990er Jahre der Anteil der Russen an der Gesamtbevölkerung durch Abwanderung verringert. Betrug er 1989 noch 38 %, so belief er sich 1997 auf rund 32 %.17 Darüber hinaus liegt die Geburtenrate bei dem kasachischen Bevölkerungsteil höher als bei dem slawischen, sodass die Titularnation bereits deutlich in der Mehrheit ist (gegen 50 %, vgl. Tab. 1). Viele dieser »Zwangsmigranten« genießen in Russland keinen besonders hohen Status, da sie dort als »Asiaten« bzw. »andere Russen« (vgl. Damberg i.d.B.) gelten. Sie bilden eine potenzielle Wählerschaft für Nationalisten des rechten Flügels im Schirinowskij-Stil18 und ihre stetig steigende Zahl könnte dieser politischen Richtung zunehmendes Gewicht verleihen. Ihre spezielle Interessenlage könnte auf diesem politischen Weg zu einem Einklagen von russischen Sanktionen gegen die zentralasiatischen Nationalstaaten führen. Interethnische Beziehungen innerhalb der Staaten unterscheiden sich von solchen, die zwischenstaatlich instrumentalisiert und somit nicht nur von der Demographie, sondern auch von der politischen Situation bestimmt werden. In diesem Zusammenhang ist die Republik Kasachstan von besonderer Bedeutung, da ein Großteil der zentralasiatischen Russen in Nordkasachstan lebt und das nahe Russland ihre Interessen vermeintlich vertritt. Vielleicht fanden auch gerade deshalb hier die ersten anti-russischen Ausschreitungen statt. Ausgelöst wurden sie durch die symbolträchtige Amtsenthebung des kasachischen Ersten Sekretärs, Dinmuchamed Kunajev, und dessen Ersetzung durch einen ethnischen Russen, Gennadij Kolbin, im Dezember 1986. Seit dem 19. Jahrhundert wurde Kasachstan intensiv russisch besiedelt. Gemäß dem Zensus von 1989 belief sich der Anteil der Kasachen auf 40 % der Bevölkerung, womit er den Anteil der Russen von 38 % nur knapp überstieg. Werden andere nicht-zentralasiatische Gruppen miteinbezogen, so betrug die Quote der eingeborenen Bevölke17

1994 erreichte die Remigration ihren zahlenmäßigen Höhepunkt, als 480.000 Personen – darunter 283.000 Russen – allein Kasachstan den Rücken kehrten (Peter 1999: 10). 18 Schirinowskij ist ein russischer Ultranationalist.

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rung in Kasachstan weniger als 50 %. Diese Teilung zwischen der europäischen und der kasachisch-zentralasiatischen Bevölkerung ist auch durch eine geopolitische Dimension geprägt. Während die Slawen große Mehrheiten in den nördlichen Gebieten bilden, dominieren die Kasachen in den südlichen Teilen des Landes. Die Nord-Süd-Teilung wird darüber hinaus noch durch eine Stadt-Land-Dimension kompliziert, da im Norden viele Kasachen im ländlichen Raum leben und im Süden viele Russen in den Städten wohnen. Indes haben Migrationsprozesse, unterschiedliche Fertilitätsraten und unterschiedliches Reproduktionsverhalten der Bevölkerung zum Anwachsen einiger ethnischer Gruppen und zur Reduzierung anderer in nahezu umgekehrtem Verhältnis geführt (siehe Tab. 1 und 3). Die überwältigende Mehrheit der Emigranten (91,6 %) wählte die Russische Föderation zu ihrem neuen Wohnsitz, nur 3 % entschieden sich für die Ukraine (FBIS-SOV, 7. September 1995). Die Tatsache, dass während der Sowjetära eine große Anzahl von Kasachen umkam oder zwangsweise ins Exil verbannt wurde, vermittelt heute ein Gefühl von historischer Ungerechtigkeit. Das mag sehr wohl zu nationalistischer Selbstverherrlichung mit anti-russischen Untertönen führen. In Almaty stellten Mitte der 1990er Jahre propagandistische Nachrichten die Russen zunehmend als Aggressoren dar (FBIS-SOV, 29. Juni 1995). Außerdem sind die gegenwärtig über Asien und Europa verstreut lebenden Kasachen bestrebt, sich in ihrem Heimatland zusammenzuschließen. Im Jahre 1992 wanderten mehr als 60.000 Kasachen aus der Mongolei und der GUS in Kasachstan ein, wo nahezu alle Arbeit fanden und mit Landparzellen und Material für den Hausbau ausgestattet wurden. Finke und Sancak (2000: 96-103) berichten von dem Ort Nurli, der 1984 als Musterdorf gegründet wurde. Seit 1991 erlebte Nurli eine Zuwanderung von Kasachen aus der Mongolei und andere ethnische Gruppen wie z.B. die Russen wanderten ab. Den Zuwanderern wurde das brachliegende Land zugeteilt. Kasachstan gewährt darüber hinaus allen Kasachen, die außer Landes leben, das Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft – ein Recht, das keiner anderen ethnischen Gruppe eingeräumt wird (Bremmer/Welt 1995). Diese nationalisierenden Anstrengungen der Kasachen und deren sichtbare Spuren, wie sie sich in einigen Verfügungen der kasachischen Verfassung niederschlagen, haben dazu geführt, dass die nicht354

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asiatischen Gruppen, ganz besonders die Russen, eine weitestgehend defensive, d.h. politisch apathische Haltung einnehmen. Nationalistische russische Gruppen, die ihre historischen Ansprüche auf NordKasachstan geltend machen, haben trotzdem in letzter Zeit unter den europäischen Bevölkerungsgruppen an Popularität gewonnen. Die moderateren und mit der kasachischen Regierung kooperierenden Gruppen werden durch Maßnahmen der kasachischen Regierung wie die Umbenennung russischer Städte- und Straßennamen ins Kasachische19, die Verunglimpfung der russischen Kultur gegenüber der kasachischen und – höchst emotional besetzt – durch die Erhebung des Kasachischen zur Landessprache für die russische Bevölkerung unglaubwürdig und unattraktiv. Da nur ein Prozent der Russisch sprechenden Bevölkerung die kasachische Sprache fließend spricht, werden diese Maßnahmen als eindeutig diskriminierende Politik empfunden. Diskriminierung wurde von den von mir während der Feldaufenthalte befragten Russen auch in zahlreichen anderen Bereichen festgestellt, wie im Wohnungswesen und im Beschäftigungssektor. Am offenkundigsten manifestierte sich die slawische Unzufriedenheit im Dezember 1992 in der im Norden gelegenen Stadt Öskemen (das frühere Ust Kamenogorsk), wo es in Demonstrationen um die Forderung nach Anerkennung des Russischen als Landessprache neben dem Kasachischen ging. Massenkundgebungen für eine freie Wirtschaftszone mit Russland und die Einführung des Russischen als zweite Landessprache wurden auch in Petropavlovsk, einer kasachischen Stadt nahe der russischen Grenze (60 km), organisiert (Moskovskije Novosti, Nr. 20, 20.-26. Mai 1994). Darüber hinaus drohte die russische Minderheit, eine Trans-Irtysch-Republik nach dem Modell der Trans-Dnestr-Republik in Moldawien zu gründen, falls auf die gestellten Forderungen nicht eingegangen werden würde. Diese geopolitische Konstellation der Teilung Kasachstans in ethnisch unterschiedlich besiedelte Regionen birgt die Gefahr der Sezession. Vor allem dort, wo ethnische, religiöse oder sprachliche Grenzen mit administrativen zusammenfallen, kann die bestehende teilweise Autonomie bzw. Integration in den russischen Wirtschafts- und Kulturraum Forderungen nach größerer Autonomie zur Folge haben. Die kasachische Politik will der Desinteg19 So wurden z.B. Alma-Ata in Almaty, Ust Kamenogorsk in Öskemen und Semipalatinsk in Semey umbenannt.

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ration des Staates durch die Gewährung regionaler Autonomie keineswegs Vorschub leisten und ist bestrebt, der Russischen Föderation keinen Anlass zur Parteinahme für die Separatisten zu bieten. Während ethnische Diskriminierungen ein Konfliktpotenzial darstellen, gibt es andererseits Faktoren, die Konflikte vermeidend wirken. So ist den Kasachen bewusst, dass sie in ihrem eigenen Land nur eine schwache Mehrheit bilden. Die kasachischen Russen ihrerseits unterscheiden sich bezüglich der Lebensweise und in der politischen Artikulation von den Russen jenseits des Urals. Die politischen Beziehungen zu Russland sind nicht immer reibungslos, da aber Kasachstan wirtschaftlich stark von Russland abhängig ist, bemüht sich die kasachische Regierung auch aus diesem Grund zunehmend um ein freundschaftliches Verhältnis. Dies wirkt sich ebenfalls konfliktvermeidend aus. In Moskau herrscht eher ein pragmatisches Engagement für die kasachisch-russischen Beziehungen vor, da Auseinandersetzungen mit Kasachstan fast automatisch zur Verschlechterung der Beziehungen zu den anderen Turk-Zentralasiaten führen können, von denen viele innerhalb der Grenzen der Russischen Föderation leben. Daher ist es nicht in Moskaus Interesse, eine dominante ethnische Nation zu verärgern, die zudem noch im Besitz der bedeutenden Weltraumstation Bajkonur ist. Kasachstan wird als wichtiges geopolitisches Bindeglied zwischen den sich überlappenden sozialen und kulturellen Verbindungen zwischen Europa und Asien gesehen und sieht sich selbst ebenfalls als solches (vgl. Evers/Kaiser i.d.B.). Die politischen Maximen im Verhältnis zwischen Kasachstan und Russland sind daher Interessensausgleich und Koexistenz. Der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew war seinerseits in der Lage, aus diesem im Hintergrund wirkenden Geist »interethnischer Mäßigung« (Befragter in Almaty) Nutzen zu ziehen und ergriff politische Maßnahmen, die beide Seiten zufrieden stellten, die Kasachisch und die Russisch sprechenden Bevölkerungsgruppen.20 Diese Maßnahmen schlagen sich in verschiedenen Bestimmungen der 1993 eingeführten Verfassung nieder. So wurde hinsichtlich der Sprachenfrage festgelegt, dass Kasachisch zwar Landessprache ist, Russisch aber den Status der Sprache der interethnischen Kommunikation erhält. 20 Siehe zu den anderen Minderheiten den noch folgenden Exkurs »NichtRussische Minderheiten in Zentralasien«.

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Auch konnte Nasarbajew die nationalistische Forderung der Kasachen, der Präsident von Kasachstan müsse ein ethnischer Kasache sein, abmildern, indem er in der Verfassung festlegen ließ, dass der Präsident zumindest die kasachische Sprache fließend beherrschen müsse. Ein Kompromiss wurde auch zur doppelten Staatsbürgerschaft erzielt. Sie wird unter der Bedingung genehmigt, dass der betreffende andere Staat sie im Gegenzug ebenso für kasachische Bürger einräumt. Schließlich wurde die kasachische Sorge bezüglich der russischen Sezessionsbestrebungen weitestgehend durch die Definition des kasachischen Staates als Einheitsstaat ausgeräumt (Bremmer/Welt 1995). Wie es auch anders gehen kann, zeigt der kirgisische Fall: Der russische Exodus aus Kirgistan war Folge eines diskriminierenden Bodenrechts, das im April 1991 in Kraft trat und festlegte, dass das »Land in der Republik Kirgistan [...] Eigentum der Kirgisen« ist. Erst nach mehreren Versuchen gelang es Präsident Askar Akajew, diesen Wortlaut in »das Land gehört dem Volk von Kirgisien« umzuwandeln (Current Digest of Post Soviet Press 1993). Im Gesetz zur Staatsangehörigkeit wurde eine doppelte Staatsbürgerschaft in Kirgistan jedoch ausgeschlossen. Ebenso wie andere Sowjet-Nachfolgestaaten führt Usbekistan gegenwärtig intensiv Nationalisierungsprojekte zur Schaffung einer »nationalen Identität« durch. Symbole des Nationalismus gibt es reichlich – neue Flaggen, neue Währung und Aeroflot-Verkehrsflugzeuge, gestrichen in den grellen Farben der neuen nationalen Luftfahrtlinie; alles weist auf ein konzertiertes Bemühen hin, einer nationalen Identität Geltung zu verschaffen (Cuthbertson 1994). Dennoch ist bis heute trotz dieses neu gewonnenen »Nationalismus« und der neuen »nationalen Identität« ein Gefühl von Unsicherheit in den Straßen usbekischer Städte spürbar. Inmitten der Ungewissheit über die politische und sozioökonomische Zukunftsfähigkeit des Landes behauptet sich in der offiziellen politischen Rhetorik ein hartnäckiges Bestreben, das »Usbekisch-Sein« der Nation zu betonen: »[...] kennzeichnend für Usbekistan ist dessen originäre ethnische Struktur. Obwohl auf dem Territorium der Republik Menschen aus mehr als 100 Nationen und ethnischen Gruppen leben, sind die Mehrzahl der Bewohner Usbeken« (Karimov 1993: 12).

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Ein anderer Weg als der nationale soll ausgeschlossen werden. Darüber hinaus wird versucht, klarzustellen, dass die usbekische Republik das Heimatland aller Usbeken sei. »Da das Territorium von Usbekistan faktisch das einzige Staatsgebiet usbekischer nationaler Souveränität ist, wurde die Republik ausersehen, ein kulturelles und spirituelles Zentrum aller Usbeken, ungeachtet ihres Wohnsitzes, zu werden. Die Staatsbürgerschaft der Republik steht allen Usbeken zu, die selber oder deren Vorfahren während der tragischen Ereignisse der Vergangenheit aus Usbekistan emigrieren mussten« (Karimov 1993).

Zu dieser transnationalstaatsbildenden Haltung wurde der Präsident Islam Karimov möglicherweise auch durch die Notwendigkeit veranlasst, den national geprägten und zugleich sowjetische Kontinuitäten ablehnenden Charakter der Opposition zu neutralisieren. Die Propaganda der »titularen Ethno-Nationalisten« basiert auf der Annahme, dass die ethnisch-usbekische Bevölkerung von Usbekistan auf dem Territorium ihres Nationalstaates lebt, da ihre Vorfahren bereits einer usbekischen Nation angehörten. Auf der anderen Seite sind amtliche Verlautbarungen im Hinblick auf Minderheitenrechte im Wortlaut sehr viel allgemeiner gehalten. »Usbekistan ist ein Staat, der die Rechte und Freiheiten aller Bürger, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, ihres Glaubens, ihres sozialen Status oder ihrer politischen Überzeugung sicherstellt«, oder »[der] den Schutz der Interessen und Rechte ethnischer Minderheiten durch die Einführung von Garantien zur Erhaltung und Entwicklung ihrer [jeweiligen] Kultur, Sprache, nationalen Bräuche und Traditionen, wie auch die Teilnahme an den Aktivitäten der Regierung und des öffentlichen Lebens [sicherstellt]« (Karimov 1993).

Diese verallgemeinernden amtlichen Erklärungen dienen dem Zweck, die Existenz eines jeglichen ethnischen Problems zu verschleiern. Im öffentlichen Diskurs der Medien und Politik treten diese Minderheiten vor allem in kulturellen oder folkloristischen Zusammenhängen auf.21 21

Wohl am deutlichsten zeigt sich dies an den großen nationalen Feiertagen wie ›Navrus‹ (Frühlingsfest, 21. März) oder ›Mustakillik‹ (Unabhängigkeitstag, 1. September), wenn auf einem der wichtigsten Plätze Tasch-

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Die »verordnete« Völkerfreundschaft, der Internationalismus und die Zugehörigkeit zu dem Verbund der UdSSR wich einer (Trans-)Nationalisierung des politischen Raumes. Eigene nationale usbekische Symbolik und Identität wurden und werden (re-)aktiviert. Die regionale Geschichte wird in diesem Prozess – in bester sowjetischer Tradition – uminterpretiert und umgeschrieben, um nationale Interessen zu legitimieren und Identitätsbildungsprozesse zu fördern. So wird Amir Timur22 heute als usbekischer Nationalheld verehrt (Hegarty 1995). Das Bemühen und Instrumentalisieren nationaler Symbolik dient dazu, einen eigenständigen, »kleineren« nationalen Vergesellschaftungsraum23 zu etablieren (vgl. Kaiser 2001). Dabei werden Identitäten über Kategorien wie Nationalität (nazionalnost) oder Religion gebildet, während andere mögliche sozialstrukturelle Kategorien wie Klasse, Alter, Einkommensgruppe, Stadt-/Landdifferenz oder Geschlecht in den Hintergrund treten. Die massive Politisierung des Raumes stellt sich als eine Kontinuität aus der Russifizierung mittels Sowjetisierung und als Resultat aus dem Entstehen eines Nationalstaates in Usbekistan dar. Zur Legitimation nationaler Politik wird immer wieder die Bevölkerungsstruktur bemüht: »Eine Besonderheit Usbekistans ist die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung. In der ethnischen Struktur nimmt die bodenständige Bevölkerung die vorherrschende Stellung ein. Daneben leben jedoch im Hoheitsgebiet kents, dem Halklar dustligi maidoni (Platz der Völkerfreundschaft) die Mitglieder der nationalen kulturellen Zentren ihre Volkstänze und Lieder vorführen. 22 Amir Timur wurde im Jahre 1336 geboren und starb 1405 bei einem Feldzug gegen China. Er hat zu seinen Lebzeiten ein Großreich erobert und organisatorisch geordnet. Ein Reiterstandbild von ihm löste 1993 auf einem der zentralen Plätze von Taschkent ein Denkmal von Karl Marx ab. Ferner wurde zu seinem 660. Geburtstag ein Amir-Timur-Museum in Rekordbauzeit ebenfalls in Taschkent errichtet. 23 Wohl wissend, dass sich um den Begriff der Vergesellschaftung in der soziologischen Literatur eine Vielzahl von Bedeutungen rankt, wird er hier allgemein als die prozesshafte Verfestigung sozialer Beziehungen verstanden, die sich z.B. anhand von Herrschaftsstrukturen, Austauschformen oder auch Institutionen herausarbeiten lässt.

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Markus Kaiser der Republik Vertreter von über 100 Nationalitäten mit eigener Kultur und Tradition« (Karimov 1993: 12).

Karimov lehnt sich damit stark an die sowjetische Terminologie und Konzeptionalisierung der Sowjetrepubliken als Titularnationen an. Er verweist darauf, dass der Anteil der ethnischen Usbeken, die auch als die ursprüngliche Bevölkerung (korennoje naselenije) bezeichnet werden, an der Gesamtbevölkerung im postsowjetischen Vergleich mit 71,4 % relativ hoch ist.24 In Usbekistan und in den anderen postsowjetischen Staaten in Zentralasien wurde folglich die sowjetische Nationalitätenterminologie konserviert; es wurde gewissermaßen lediglich das ethnische Vorzeichen ausgetauscht. Usbekistan wird als Heimatland aller Usbeken gesehen und anstatt vom »großen Bruder« des russischen Volkes wird heute vom usbekischen Volk gesprochen, das friedlich und freundschaftlich mit seinen nicht-usbekischen Minderheiten zusammenlebt. Dabei wird die sowjetische Tradition fortgesetzt, die »Nationalität«, d.h. die ethnische Zugehörigkeit, im Reisepass zu vermerken.25 Einer Identifikation der Minderheiten mit dem usbekischen Nationalstaat ist dies sicherlich nicht förderlich. Die neuen unabhängigen Republiken existieren inzwischen seit etwa zehn Jahren: Sie sind für eine spezielle ethno-kulturelle Nation legitimiert, haben sich Verfassungen gegeben, ökonomische und politische Veränderungen wurden durchgesetzt und nationale Währungen eingeführt (Kaiser 1994). Der Prozess der Nationalstaatenbildung ist eng mit dem Vorgang verflochten, staatliche Institutionen einzurichten, mittels derer die herrschenden Eliten die Gesellschaft kontrollieren können 24 In anderen Unionsrepubliken wie Kasachstan (39,7 %) oder Kirgistan (52,4 %) war dieser Anteil wesentlich geringer. Zieht man jedoch in Betracht, dass in der Hauptstadt Taschkent der Anteil der Usbeken bei 44 %, der der Russen bei 34 % und der anderer Ethnien bei 22 % lag, so wird deutlich, wie problematisch diese Aussagen sind. Alle Angaben für 1989 (vgl. Tab. 1-3; Islamor 2000). 25 Usbekische Reisepässe enthalten die Persönlichkeitsdaten zweimal – sowohl auf Englisch/Usbekisch, als auch auf Usbekisch/Russisch. Bei ethnischen Russen steht in der englisch/usbekischen Variante unter »Nationalität« »Usbekistan«, in der usbekisch/russischen dagegen »russisch«.

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(Eckert 1996). Dementsprechend liegt bei den zentralasiatischen Regierungen ein besonderes Gewicht auf der Schaffung einer »nationalen Kultur«, etwas, das die postsozialistischen Staaten in ihrer Entstehungsphase offensichtlich gemeinsam haben. Somit stellt die »nationale Frage« und ihre Beherrschung auch für den kasachischen Präsident Nasarbajew ein zentrales Instrument seiner Herrschaftssicherung dar (Peter 1999: 35ff.). Ähnlich motiviert ist Präsident Karimovs Sorge um das kulturelle Erbe des usbekischen Volkes und um die künftige Entwicklung der usbekischen Sprache als Ausdruck nationaler, kultureller und ethnischer Identität (Karimov 1993). Die Frage der Sprache ist für die usbekische Intelligenz das wichtigste und symbolträchtigste Anliegen geblieben. Die Mehrheit der Russen in Usbekistan ist der Ansicht, dass es zwei Amtssprachen geben sollte, Russisch und Usbekisch. In einer 1989 ins Parlament (oliy madjlis) eingebrachten Gesetzesvorlage unter dem Titel »Sprachen-Gesetz der Usbekischen Sowjetischen Sozialistischen Republik« wurde gefordert, dass sowohl Usbekisch als auch Russisch offizielle Sprachen bleiben. Doch dieser Entwurf wurde nicht angenommen, worauf einige Klagen, auch seitens der oppositionellen Birlik-Plattform, laut wurden.26 Das Usbekische ist heute Nationalsprache und gewinnt gegenüber dem Russischen immer mehr an Bedeutung. Die usbekische Regierung hat sich ein lateinisches Alphabet zugelegt, welches mit keinem anderen der türkischen Staatenwelt völlig übereinstimmt.27 Neue 26 Birlik (Einheit) wurde 1988 von Intellektuellen gegründet. Sie hat sich 1990 in einen radikalen Flügel Birlik, der vor allem Umweltengagement, Sprachregelungen und Bürgerrechte vertritt, und einen gemäßigten Flügel mit der Bezeichnung Erk (Freiheit) gespalten. Birlik hatte im Dezember 1990 nach Angaben eines Birlik-Vertreters in Taschkent 700.000 Mitglieder. 27 Die Entscheidung fiel zugunsten des lateinischen Alphabetes mit 31 Buchstaben und einem Apostroph aus, das allerdings am 6. Mai 1995 geringfügig verändert worden ist. Das Alphabet besteht nun aus folgenden Buchstaben: A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, X, Y, Z, O’, G’ und den drei Konsonantenverbindungen Sh, Ch und Ng. Unter den durch die Kulturpolitik der Turkstaaten festgelegten Buchstaben dürfen sich die türkischen Nationen ihre nationalen Alphabete zusammenstellen. Zusätzlich vereinbarten die Turkstaaten, dass alle Buchstaben

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Markus Kaiser

Schulbücher werden bereits erprobt und eingesetzt. Die usbekische Regierung unter Präsident Islam Karimov ist bestrebt, den Islam und andere türkische Identifikationsmuster zur Usbekisierung zu nutzen (vgl. Halbach 1991, 1993). So erlernten der Präsident und seine Familie die usbekische Sprache, die der sowjetisierte Alt-Kader zuvor nicht gesprochen hatte. Er pilgerte nach Mekka und schwor – mit dem Koran in der Hand – den Eid auf die Verfassung (Richter/Baumann/Liebner 1999: 298).

»Externes nationales Heimatland« – Nationalismus und Transnationalismus Im Folgenden werden bezogen auf Usbekistan sowie auf die Russen in Usbekistan und in Russland »nationale Minderheiten«, »nationsbildende Staaten« und »externes nationales Heimatland« als erklärungsmächtige Konzeptionen rund um Nationalismus und Transnationalismus vertiefend dargestellt. Wie Macartney es ausdrückt, »[I]n almost every aspect of social existence, there will be found a majority and a minority [...] Practically every state in the world contains minorities. But so long as the state confines itself to strictly political functions thus serving equally all nations belonging to it, it is impossible to speak of the national minority in the true sense of the term. A minority becomes a ›national minority‹ properly speaking only when its national aspiration conflicts with those of the state« (Macartney 1934).

Demnach unterscheiden sich die Vorstellungen einer Minderheit von denen einer Mehrheit. Brubaker weist im Verlauf seiner detaillierten Analyse der Situation in Jugoslawien auf Folgendes hin:

in den Schulen gelehrt werden sollen, auch dann, wenn ein Land nicht alle Buchstaben in sein Alphabet aufnimmt. Damit existiert mehr oder weniger eine Verpflichtung zum Erlernen des gesamten türkischen Alphabetes (siehe hierzu Kaiser 2001).

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Russen als neue Minderheiten in Zentralasien »A national minority is not something that is given by facts of ethnic demography. It is a dynamic political stance or more precisely a family of related yet mutually competing stances, not a static ethno-demographic condition. Three elements are characteristic of this political stance or family of stances 1) the public claim to membership of an ethno-cultural nation different from the numerically or politically dominant ethno-cultural nation 2) the demand for state recognition of this distinct ethno-cultural nationality and 3) the assertion on the basis of this ethno-cultural nationality of certain collective cultural and or political rights [...]« (Brubaker 1995: 112).

Bezogen auf den vorliegenden Fall heißt das: Es gibt verschiedene Vorstellungen davon, was es heißt, heute ein Russe in Usbekistan zu sein. Unter »Russen in Usbekistan« können Personen von ethnisch russischer Herkunft verstanden werden, die Russisch als ihre Muttersprache sprechen und dennoch der usbekischen Nation angehören. Dabei wird Letztere als eine politische, territoriale oder (staats-)bürgerliche Nation verstanden, als eine Nation von und für alle Bürger, ungeachtet ihrer Sprache und Ethnizität, und nicht als eine Nation nur von und für ethnische Usbeken. Hätten die Russen in Usbekistan tatsächlich diese Vorstellung von sich und ihrer usbekischen Heimat, gäbe es dort keine russische »nationale Minderheit«. Sie würden dann lediglich zu einer Personengruppe ethnisch russischen Ursprungs gehören, die Russisch als Muttersprache spricht. Sie würden aber keinen Anspruch auf die russische Nationalität oder darauf erheben, Mitglieder der russischen Nation zu sein. Allerdings wird diese Vorstellung sowohl von den usbekischen Russen als auch von den politischen Machthabern des neuen Nationalstaates Usbekistan nicht geteilt. Das Konzept der »nationalen Minderheiten« muss demnach eine Betrachtung der Definition von »Minderheit« seitens des Staates miteinbeziehen. Dies betrifft die ethnisch heterogenen Staaten, die sich nichtsdestoweniger bemühen, sich selbst als Nationalstaaten zu definieren. Sie stehen nicht nur vor der Aufgabe, ihre Gegenwart zu gestalten, sondern auch vor der Notwendigkeit, ihre Vergangenheit neu zu definieren (Anderson 1988). Brubaker spricht von diesen als »nationsbildenden« Staaten, um zu betonen, dass der Bezugsrahmen wiederum ein dynamischer politischer Standpunkt ist.

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Markus Kaiser »Characteristic of this stance or set of stances is the tendency to see the state as an ›unrealised‹ nation-state, as a state destined to be a nation-state, the state of and for a particular nation, but not yet in fact a nation-state (at least not to a sufficient degree); and the concomitant disposition to remedy this perceived defect, to make the state what it is properly and legitimately destined to be by promoting the language, culture, demographic position, economic flourishing or political hegemony of the nominally state bearing nation« (Brubaker 1995: 114).

Das charakteristische an einem nationsbildenden Staat ist vielleicht weniger die Tatsache, dass seine Repräsentanten, Begründer oder Handlungsbefugte ihn als einen noch unfertigen, sich auf dem Weg zur Nation befindenden verstehen und artikulieren, sondern vielmehr, dass er von den nationalen Minderheiten als ein Nationalstaat empfunden wird. Brubaker belegt den Wettstreit um die Gestaltung der Nationsbildung anhand der Sprachpolitiken. So teilen seiner Meinung nach die Machteliten aller Sowjet-Nachfolgestaaten die Ansicht, dass es notwendig und wünschenswert sei, die Sprache der nominell den Staat tragenden Nation zu fördern. Allerdings sind sie verschiedener Meinung darüber, wie dies umgesetzt werden könnte. Über die unterschiedlichen Sprachen der verschiedenen ethnischen Gruppen hinaus gibt es, wie Gharabaghi (1994) aufzeigt, jedoch noch weitere Aspekte, die eine Nationsbildung erschweren, denn: »Identifying ideological tenets within Central Asia either at the level of the region, the state or national societies is no simple task. Ruling elites throughout Central Asia have been searching for some form of ideological identification in order to gain legitimacy, within their respective political jurisdictions [...] because of the problematic pertaining to regime legitimacy on the one hand and the absence of historical precedents of statehood on the other, the ruling elites of all Central Asian states have at varying times and to varying degrees promoted nationalism within their respective states« (Gharabaghi 1994).

Keine der zentralasiatischen Republiken existierte je zuvor als unabhängiger Nationalstaat und abgesehen von ihrer Existenz als Teil des Sowjetsystems verfügen sie nicht über eine Geschichte souveränen Bestehens (vgl. Kemper 1998). Hieraus könnte auf einen Mangel an 364

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nationalem Zusammenhalt geschlossen werden sowie auf die Notwendigkeit, neue Identitäten zu bilden. Die Schaffung einer Identität und deren Übersetzung in politische Formen haben sich als problematisch herausgestellt, da die Region schon immer eine amorphe Ansammlung multipler und konkurrierender Identitäten aufwies. Diese Staaten sind im Wesentlichen »neue« Nationen, und es überrascht kaum, dass sie jetzt alle intensiv auf der Suche nach kulturellen und historischen Wurzeln sind. Jede Führung in Zentralasien unterstützt und fördert die Wiederherstellung eines vernachlässigten »nationalistischen« Erbes einschließlich der Geschichte, Kultur, Sprache und politischen Identität. Zurzeit wird auch die Geschichte der usbekischen Nation unter diesem neuen Blickwinkel betrachtet und erforscht. Die Sowjetisierung Zentralasiens wird hinterfragt; auch gab es Vorschläge, den präsowjetischen Terminus »Turkestan« zur Bezeichnung der Region wiederaufzunehmen (Batalden/Batalden 1993). Es wird eine neue »nationalistische« Geschichte geschrieben, in der der Timur-Lan der Sowjetära in »Amir« Timur rückbenannt und heute von den Usbeken als türkischer Volksheld und einender Herrscher reklamiert wird (Nassyrow/Schreiber 1996). Einige der befragten Russen reagierten mit achselzuckender Belustigung oder gar mit Befremden auf diese nationalen Projektionen. Des Weiteren wächst bei den Usbeken das Interesse an den mündlichen historischen Überlieferungen, in denen Heldenepen wie das Alpamysh – vergleichbar mit dem deutschen Nibelungenlied – als Teil des nationalistischen Programms zu neuem Leben erweckt werden. Dieses Sichbeschäftigen mit einer präsowjetischen Vergangenheit, das sich im derzeitigen nationalistischen Diskurs widerspiegelt, könnte auf die Tendenz hindeuten, Assoziationen, die mit der Sowjetära verbunden sind, zu verdrängen. Die Suche nach kontinuierlichen Zusammenhängen mit einer unverfälschten präsowjetischen Vergangenheit impliziert einen immer kritischer werdenden Blick auf die Projekte der Sowjetära. Außerdem kommt heute, beim Betrachten historischer Erinnerungen, wie des Mythos der Großen Seidenstraße, und vergessener kultureller Traditionen ein Gefühl von Verlust auf. Alle diese Umstände haben den Prozess der Staatsbildung noch weiter erschwert, eine Aufgabe, die wegen der Erfordernis, »Institutionen ganz von vorn beginnend« aufzubauen, ohnehin schon schwierig genug ist (Dorenwendt 1994). Dass derzeit in Usbekistan versucht wird, beim Staats365

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aufbau an präsowjetischen Institutionen anzuknüpfen, zeigt sich u.a. am Beispiel der mahallah28, die, auf der untersten Administrationsebene gelegen, zugleich staatliche und traditionelle öffentliche Institutionen sind (Coudouel/Marnie/Micklewright 1999; Massicard/Trevisani 2000). Vor diesem Hintergrund ist die Remigration von Russen ein zentrales Thema in den usbekischen und anderen zentralasiatischen Medien, die vor allem ökonomische Gründe als Migrationsursache konstatieren. Die in den letzten Jahren zurückgehenden Zahlen von Remigranten dienen ihnen als Beleg dafür, dass sich die wirtschaftliche Lage verbessert habe (vgl. z.B. Islamov 2000). Das bestehende staatliche Meinungsmonopol verhindert, dass sich die betroffenen Menschen selbst in den Diskurs einschalten und so eine eigene Identität – z.B. als Russen in Usbekistan oder als asiatische Russen – konstruktiv entwickeln. Diese hier geschilderte Situation führte dazu, dass eine große Anzahl von in Usbekistan geborenen ethnischen Russen derzeit in einem Dilemma zwischen »hier nicht mehr leben zu können und dort nicht leben zu wollen« gefangen ist. Dies kommt vielleicht am besten in den Worten Nataschas, einer Schullehrerin in Samarkand, zum Ausdruck: »Es ist nicht eine Frage von Rückkehr nach Russland. Ich habe nie dort gelebt. Ich bin geboren und aufgewachsen in Samarkand, und meine Eltern haben den größten Teil ihres Lebens hier verbracht und sind eingebunden. Ich liebe diesen Ort, und mein ganzes Leben liegt hier. Ich habe nicht die Absicht, nach Russland zu gehen. Ich kenne es kaum. Ich verabscheue Moskau, und ich denke, die Leute dort sind aggressiv. Also bin ich gefangen zwischen zwei Kulturen. Das Leben geht hier langsamer und ist angenehmer. Es gibt hier einen Witz, der den Unterschied zwischen Usbeken und Russen schildert. Zwei Usbeken hören, dass einem Freund das Auto gestohlen wurde, woraufhin sie beschließen, Geld zu sammeln, um ihm ein neues zu kaufen. Zwei Russen hören, dass ein Freund ein Auto gekauft hat, und sie sagen: ›Prima, lasst es uns stehlen‹. Zunehmend werden wir als Ausländer betrachtet, und ich denke, es wird nicht lange dauern, bis wir Rufe wie ›Russen geht heim‹ hören werden. Nationalismus kann nicht vom Islam getrennt werden, und wir fürchten, 28 Mahallah ist eine Form der Nachbarschaftsgemeinschaft, die in Usbekistan seit der Unabhängigkeit zunehmend an Bedeutung gewinnt.

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Russen als neue Minderheiten in Zentralasien dass in dem Maße, wie der Nationalismus Raum greift, islamisches Bewusstsein wachsen wird.«

Die ethnische Identität vieler Russen und ihre Einstellungen zu ethnischen Beziehungen haben sich mit dem Kollaps der Sowjetunion signifikant verändert. Laut Leokadia Drobizheva (1995) haben dabei drei Faktoren eine Rolle gespielt: 1. der Schock, ihren Status als herrschende Nation zu verlieren, 2. der politische Kampf, in welchem sich führende Gruppen auf ethnischen Patriotismus stützen, und 3. die krasse Verschärfung der ethnischen Konkurrenz in den sozialen und arbeitsbezogenen Bereichen. Obwohl die Russen ihren Herrschaftsstatus erst in den Jahren 1988-1989 verloren haben und erst in den letzten Jahren verstärkt in die politischen Auseinandersetzungen hineingezogen wurden, hatten sie den ethnischen Konkurrenzkampf schon weitaus früher zu spüren bekommen. Andere dominante Bevölkerungsgruppen forderten vor dem Hintergrund der Stagnation der Sowjetunion in zunehmendem Maße kulturelle und wirtschaftliche Eigenständigkeit. Das abrupte Ende der russischen Vorherrschaft bedeutet für die Russen, dass sie über ihre russische Identität, die zur Zeit der Sowjetunion nicht zur Diskussion stand, neu nachzudenken haben und dass sie eine neue Identitätspolitik finden müssen. Die Fragen, mit denen sie sich heute hauptsächlich beschäftigen, sind: Können sie vollwertige Bürger sowohl der Russischen Föderation als auch einer anderen Republik sein? Wo genau enden Russlands Grenzen? Eine im November und Dezember 1990 unter 1.500 Russen durchgeführte Meinungsumfrage29 gab Einblick in die Gefühle von ethnischen Russen in den sowjetischen Randrepubliken. Sie zeigte, dass ein Drittel oder mehr der ethnischen Russen in Zentralasien (ausgenommen Kasachstan) sich wünschte, in Russland wieder eingebürgert zu werden, und dass trotz der hohen ökonomischen und sozialen Kosten (höhere Lebenshaltungskosten, höhere Kosten für Wohnraum in Russland, Verlust der aufgebauten Lebensumwelt etc.) der Migration ein starkes Bestreben besteht, zu immigrieren (Dunlop 1993).

29 Die Ergebnisse wurden in einem Beitrag »Wollen die Russen fliehen?« in den Moskovskije Novosti (Moskauer Nachrichten, Nr. 4, 27. Januar 1991) veröffentlicht.

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Drobizheva (1995) schildert in anschaulicher Weise die dramatische und plötzliche Statusänderung der Russen zu »neuen Minoritäten«: »[...] for the Russians in Uzbekistan the loss of ruling status with the formation of the CIS was most unexpected. On December 8, 1991, they woke up as members of another state. The shock was severe since the declaration of independence in Uzbekistan just recently in autumn 1991 was not regarded as repudiation of the Union or as an event of personal significance for anyone« (Drobizheva 1995).

Während sich auf offizieller Ebene nichts Besonderes verändert zu haben schien und in der Öffentlichkeit keine lautstarken Forderungen nach Ausweisung der Russen geäußert wurden, konzentrierten sich anti-zentristische Bewegungen und Einstellungen doch noch immer auf die Russen. Die Suche nach einem unabhängigen Entwicklungsweg bedeutete zugleich auch eine wachsende Verstimmung über Moskaus Interventionen zugunsten seiner ethnischen Landsleute. In diesem Zusammenhang ist der Kommentar eines Radiosprechers aus Taschkent bemerkenswert: »[...] wenn jemand außerhalb von Russland Russen beleidigt, dann kommt deren Onkel, und sie zu verteidigen, ist zumindest eine Absicht, an der der russischen Führung gelegen ist. Warum drückt Russland diese Absicht mit einer Drohung aus? Meiner Ansicht nach muss diese Aufgabe eine innere Angelegenheit eines jeden Staates sein, der dabei ist, zu versuchen, seine Autorität in der Welt zu wahren. Und hier gilt es nicht nur, die Interessen von ethnischen Russen zu schützen, sondern gleichermaßen auch die von anderen ethnischen Minderheiten« (FBIS-SOV, 20. April 1995).

Die ethnischen Identitätspolitiken der Russen in Zentralasien sind heute »komplex und spannungsgeladen«. Die ehemals sowjetischkommunistischen Inhaber von einflussreichen Führungspositionen in Politik und Wirtschaft haben – entsprechend der bekannten Elitenkontinuität – keine allzu großen Machtverluste erlitten. Sie transformierten lediglich vom säkularen Parteikader zu sich zum Islam bekennenden Nationalisten. Eine Usbekisierung und Entrussifizierung fand vor

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allen Dingen auf der politischen und administrativen Ebene statt,30 während sich andere gesellschaftliche Bereiche durch Kontinuität und Persistenz auszeichnen. So sind in der Schwerindustrie auch Jahre nach der Unabhängigkeit noch 36 % der Arbeiter Russen. Die russischen Bildungsstandards sind höher als die usbekischen; ein bedeutender Anteil der Russen, 48 %, sind Fachleute, und im Management sind sie fast konkurrenzlos. Drobizheva (1995) folgend, haben mehrere repräsentative Umfragen in Usbekistan31 gezeigt, dass früher die Mehrheit der Russen mit ihrer Arbeit zufrieden war und optimistisch in die Zukunft schaute. Bereits 1995 waren die meisten eher pessimistisch eingestellt und empfanden das Arbeiten in ethnisch gemischten Gruppen als schwierig. Dementsprechend lehnten etwa 70 % von ihnen, doppelt so viel wie zehn Jahre zuvor, Mischehen ab. Ende 1991 waren 80-90 % der Russen in Taschkent der Meinung, dass die ethnischen Verhältnisse sich verschlechtert haben und 70-80 % erwarteten weitergehende Probleme. Auch fürchteten die Russen die Ausbreitung des Islam und zeigten sich besorgt über die ethnischen Zusammenstöße in Fergana32, Namangan und Osch.33 Darüber hinaus verfügen 30 So wurde z.B. das russische Personal der Polizei sowie des Militärs weitestgehend durch usbekisches ersetzt. 31 Drobizheva (1995) bezieht sich auf Umfragen, die 1970 bis 1971, 1980 bis 1981, 1988 und 1991 quer durch die Kulturen vorgenommen wurden. 32 Im usbekischen Teil des Fergana-Tals ereigneten sich im Juni 1989 schwere Ausschreitungen gegen die aus dem Kaukasus zwangsangesiedelten Turk-Mescheten. Die damals 200.000 Menschen umfassende ethnische Gruppe wurde im Oktober 1944 aus angeblich militärischen Gründen nach Zentralasien deportiert. Darüber hinaus beabsichtigte die sowjetische Zentralregierung mit der Ansiedlung der Turk-Mescheten im Fergana-Tal, die sehr starken Bindungen zwischen den Usbeken zu zersetzen. In den 1960er Jahren hatten die Turk-Mescheten als ethnische Gruppe das Privileg erhalten, Obst und Gemüse anzubauen. Deshalb und weil sie überwiegend in modernen Wirtschaftssektoren beschäftigt waren, hatten sie nach dem Niedergang des Baumwollsektors einen durchschnittlich höheren Lebensstandard als die einheimische kirgisische und usbekische Bevölkerung. Diese ökonomische Ungleichheit aufgrund einer lokalen ethnischen Arbeitsteilung führte zu interethnischen Spannungen, die sich dann im Juni 1989 entluden. Tausende von Usbeken beteiligten sich an der Zerstö-

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die Russen in Usbekistan, trotz des russischen Kulturzentrums in Taschkent, über keinerlei bedeutende soziale Organisation (Drobizheva 1995). Nach Aussage einer 24-jährigen russischen Soziologin »tanzen sie dort und trinken Tee. Es ist mehr oder weniger Folklore. Aber immerhin leisten sie juristische Hilfe für Emigranten.« Nun entsteht

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rung der Siedlungen der Turk-Mescheten und der Ermordung ihrer Bewohner. Eine derartige Eskalation des Konfliktes und die Instrumentalisierung ethnischer sowie religiöser Motive kam überraschend, da die TurkMescheten, wie ihre usbekischen und kirgisischen Nachbarn, türkischer Herkunft und ebenfalls sunnitische Muslime sind. Bei diesen interethnischen Unruhen wurden über 100 Menschen getötet, 1.000 verletzt und 60.000 Turk-Mescheten zur Flucht aus Usbekistan gezwungen (40.000 davon flohen nach Aserbaidschan). Im Sommer 1990 fanden im kirgisischen Teil des Fergana-Tals blutige Auseinandersetzungen zwischen der kirgisischen Bevölkerungsmehrheit und der starken usbekischen Minderheit statt. Ausgelöst wurden sie durch einen Streit um Acker- und Bauland: Die kirgisische Vereinigung ’Osch Ojmagy’ beanspruchte bewässerten Boden der usbekischen Leninkolchose als Bauland. Die Usbeken weigerten sich, das Land für den kirgisischen Wohnungsbau abzutreten, woraufhin die kirgisischen Behörden trotzdem Baugenehmigungen erteilten. Schon am 1. Juni 1990 verließen viele kirgisische Familien in Osch, Usgen und anderen Orten im Fergana-Tal aus Angst vor Ausschreitungen ihre Häuser und Wohnungen. Die kirgisische Miliz nahm der usbekischen Bevölkerung unter dem Vorwand der Registrierung alle Gewehre und Jagdwaffen ab. Bereits am 2. Juni, zwei Tage vor den blutigen Ereignissen, erhielt der Volksdeputierte der UdSSR und Vorsitzende des Obersten Sowjets der usbekischen SSR, Polat Achunov, die Nachricht, dass Zusammenstöße zwischen Kirgisen und Usbeken bevorstünden. Am Tag darauf wurden in den Straßen von Gornyj Ataj bewaffnete kirgisische Reiter gesichtet. Als am 4. Juni 1990 eine Demonstration von Kirgisen mit einer usbekischen Gegendemonstration zusammentraf und dabei Rufe nach der Vertreibung der Usbeken laut wurden (»Alle Usbeken nach Andischan!«, eine Stadt in Usbekistan), kam es zu schweren Ausschreitungen. In den folgenden Tagen breiteten sich die Unruhen auf benachbarte Städte aus. Viele Usbeken wurden über die nahe Staatsgrenze nach Usbekistan vertrieben. Die kirgisische Regierung verhängte den Ausnahmezustand und setzte die Miliz ein.

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unter den Russen, deren kulturelle Adaptation nie besonders hoch gewesen ist, zunehmend ein ethnisches Bewusstsein. Den geringen Grad an Assimilation ethnischer Russen spiegelt eine im Januar/Februar 1992 durchgeführte Studie, die die Antworten von Kindern alteingesessener russischer Einwohner sowie von Usbeken in Taschkent präsentierte (Selebjerstova 1994). Selebjerstova arbeitete heraus, dass die Kinder entsprechend spezifischer ethnischer Charakteristika antworteten. Dies wertete sie als Indiz einer zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen bestehenden kulturellen Distanz. Auch den Usbeken fiel es schwer, soziale Traditionen anderer ethnischer Gruppen zu benennen, obwohl in ihrem Land eine große slawische Minderheit sowie andere ethnische Mehrheiten leben (Hanks 1994). Die soziale Koexistenz an einem Ort führte nicht zu Integration und Assimilation, vielmehr zeigen sich Konfigurationen, die häufig zu Konfrontationen neigen. Letztere fördern bestehende Transvergesellschaftungsprozesse entlang soziokultureller Kriterien (vgl. Kaiser 2001). Geographisch voneinander getrennt liegende Orte werden durch die kontinuierliche Zirkulation von Menschen, Waren, Geld und Informationen zunehmend miteinander vernetzt (Kaiser 1997a; Evers/Kaiser i.d.B.). Nach meinen eigenen Beobachtungen halten die Russen in Zentralasien Verbindungen zu ihren Landsleuten in anderen SowjetNachfolgestaaten aufrecht, und dies nicht zuletzt, um sich eine realistische Auswanderungsoption zu bewahren. Insbesondere Familienmitglieder, die erst vor kurzer Zeit migrierten, bleiben in Kontakt mit ihrem Herkunftsort. Die Tendenz der Menschen, zwischen ihrem Herkunftsort und spezifischen Migrationsorten hin und her zu pendeln und dadurch wichtige Verbindungen aufrechtzuerhalten, ist nicht besonders neu. Doch der wachsende Zugang zu Telefonen, elektronischem Bankverkehr, Videorekordern, Faxgeräten und Computern hat eine bedeutende Veränderung herbeigeführt, die es den Migranten zum ersten Mal ermöglicht, von den unterschiedlichsten Orten aus zu operieren (Rouse 1995: 368). Wird dies in Betracht gezogen, so ergibt sich für Zentralasien folgendes Bild: Neben der lokal ansässigen Bevölkerung, aus der sich vermeintlich die Nationalstaaten konstituieren, bildet sich hier eine neue Art von Bevölkerung heraus, die sich aus den verbleibenden 371

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Markus Kaiser

Russen zusammensetzt, deren Netzwerke, Aktivitäten und Lebensmuster sowohl ihre Gast- als auch ihre »heimische« Gesellschaft umfassen. Es stellt sich nun die Frage, wie und wodurch die Lebenswelten der Migranten und die der Zurückbleibenden miteinander gekoppelt sind. Die Lebensweisen von Migranten, Pendlern usw. überqueren nationale Grenzen und stellen zwei – oder mehr – Gesellschaften in ein einziges transnationales soziales Feld (Glick Schiller et al. 1992: 4). Sie sind Akteure in ein und derselben transnationalen und translokalen Gemeinschaft. Nach der Definition von Glick Schiller et al. handelt es sich bei ihnen um Transmigranten: »Transmigrants develop and maintain multiple relations – familial, economic, social, organizational, religious, and political that span borders. Transmigants take actions, make decisions, and feel concerns, and develop identities within social networks that connect them to two or more socities simultaneously« (Glick Schiller et al. 1992: 2).

Nach dieser Definition sind viele Russen in Zentralasien und deren Verwandte Transmigranten, und sie neigen dazu, den Kontext, in dem sie leben, zu ignorieren. Sie bewegen sich nicht zwischen zwei begrenzten und voneinander getrennten Welten, sondern befinden sich – obwohl an unterschiedlichen Plätzen – doch in einer einzigen translokalen Gemeinschaft. Sie und ihre Kultur sind nicht mehr an nur einen geographischen Standort gebunden, ihre Gemeinschaft konstituiert sich im transnationalen oder globalen Rahmen neu (Kaiser 1997a,c, 2001). In diesem Prozess sind sowohl der Migrations- als auch der Heimatort nicht statisch. Beide werden stattdessen umgeformt, da sie über die Jahre immer stärker miteinander verknüpft werden. Die meisten Befragten bezeichneten diese multilokale Lebensweise als typisch für die Sowjetunion, wo von jeher Mobilität aufgrund wirtschaftlicher Notwendigkeit durch Subventionen gefördert wurde. Russe in Zentralasien zu sein, heißt zumindest zweierlei: zum einen eine Identität als Russe in Zentralasien und zum anderen ein transnationalrussisches Identifikationsangebot als mobilisierbare Ressource zur Verfügung zu haben. Brubaker (1995) zufolge besteht eine Dreiecksbeziehung zwischen den »nationalen Minderheiten«, den »nationsbildenden Staaten« und dem 372

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»externen nationalen Heimatland«. Für die russischen Minderheiten ist Russland das »externe nationale Heimatland«, wobei »Heimatland« nicht notwendigerweise bedeutet, dass die Betreffenden von dort stammen oder deren Vorfahren dort einst lebten. Der Begriff »Heimatland« ist eher eine politische Kategorie. Ein Staat wird für seine ethnische Diaspora zu einem externen nationalen Heimatland, wenn deren Mitglieder meinen, in gewissem Sinne zu ihm zu gehören und darauf bestehen, dass ihre Interessen von diesem geschützt werden müssen. Brubaker schreibt: »[...] the concept of external national homeland [...] denotes a dynamic political stance or again a family of related yet competing stances – not a static condition – not a distinct ›thing‹. Common to homeland stances are the axiom of shared nationhood across the boundaries of state and citizenship and the idea that this shared nationhood makes the state responsible, in some sense not only for ist own citizens but also for ethnic co-nationals who live in other states and possess an other citizenship [...] But there is a great variation among particular homeland stances, great variation in understandings of just what the asserted responsibility for ethnic co-nationals entail. Should ethnic co-nationals living as minorities in other states be given moral support? What sort of ties and relations with the homeland or mother country should be fostered? What sort if immigration and citizenship privileges, if any, should co-ethnics abroad be offered? What sort of stance should they be encouraged to take vis-à-vis the states in which they live. And what sort of stance should the homeland adopt towards those states. How forcefully should it press its concerns about their policies towards minorities? What weight should those concerns be given in shaping the homeland state’s overall relations towards the states in which co-ethnics live?« (Brubaker 1995: 117).

Es ist zu beobachten, dass der russische Staat bemüht ist, einen entterritorialisierten Nationalstaat aufzubauen, der seine in allen postsowjetischen Republiken verstreute Bevölkerung umfasst (Glick Schiller et al. 1995: 52). Die Russen im nahen Ausland sind zugleich zu einem festen Bestandteil russischer Außen- und Innenpolitik geworden. Für die Regierung Jelzin gewann das Problem der russischen Diaspora außerhalb der Russischen Föderation seit 1993 ständig an Bedeutung. Das Gesetz über Zwangsmigranten wurde am 19. Februar 1993 und am 20. Dezember 1995 in zweiter Redaktion verabschiedet. Im Gegensatz zu 373

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Flüchtlingen, die durch die Genfer Konventionen definiert und deren Rechte sowie deren Status im Gesetz über Flüchtlinge vom 25. Juni 1993 festgehalten werden, werden Zwangsmigranten34 zwar als solche anerkannt, erhalten aber zusätzlich die russische Staatsangehörigkeit (zur Situation der Russen aus Zentralasien siehe Damberg i.d.B.).35 Das Gesetz über Zwangsmigranten unterstellt schon in seinem Titel eine nicht freiwillige und von den zentralasiatischen Regierungen bzw. Gesellschaften erzwungene Remigration. Für diese Remigranten wurde 1993 in Russland ein Bundesmigrationsdienst (Federalnaja Migrazionnaja Sluschba, FMS) gegründet, der jedoch 2001 wieder aufgelöst und auf der föderalen Ebene durch eine Abteilung im Innenministerium ersetzt wurde. In den russischen Massenmedien wurde Russland als »historische Heimat« der nicht-zentralasiatischen ethnischen Gruppen bezeichnet und über die Flut von Flüchtlingen berichtet, die nicht mehr zu stoppen sei (vgl. Kosmarskaja 1999). Darüber hinaus ist es in den russischen Medien allgemein üblich, Migranten, die aus den verschiedenen 34 Halbach (1997: 7) verweist auf die Unklarheit der Terminologie, die zum Thema Migration herrscht. Es wird unterschieden zwischen: 1. »Vynuschdennyje pereselenzy« (Zwangsmigranten), welche ethnische Russen sind, die aus Sicherheitsgründen ihre Wohnorte in den sowjetischen Nachfolgestaaten verlassen haben und nach Russland remigrierten; 2. Angehörige anderer Nationalitäten (ehemalige Sowjetbürger), die aus vergleichbaren Gründen nach Russland ausgewandert sind; 3. Angehörige ehemals deportierter Völker, die in ihr »ethnisches Mutterland« zurückkehren. 35 Das Gesetz räumt zwar den ethnisch russischen Zwangsmigranten im Vergleich zu den anderen Flüchtlingen beträchtliche Vorteile ein, jedoch fehlt ihnen oftmals, wegen des komplizierten Melde- und Registrierungssystems, der zur Anerkennung notwendige Nachweis ihres Wohnsitzes. Fördern und Verhindern der Remigration von Russen gehen so Hand in Hand. Der Migrationsdienst in der Nord-West-Region hatte jährlich 20 Mio. Rubel aus dem Bundesbudget für die Hilfe für die russischen Zwangsmigranten zur Verfügung (davon 7,5 Mio. für den Ankauf von Wohnungen, über 9 Mio. für Entschädigung und Darlehen). Jedoch erhalten nur wenige das Geld, da Korruption und Veruntreuung die Situation der Remigranten bestimmen. So werden beispielsweise leer stehende Wohnungen oder Zimmer an wohlhabende Migranten verkauft.

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GUS-Republiken in die Russische Föderation emigrieren, als »Flüchtlinge« zu bezeichnen, wobei unter diesem Begriff verschiedene Personengruppen zusammengefasst werden. Als entscheidendes Migrationsmotiv werden Sicherheitsgründe ausgemacht, die die Menschen dazu bewegten, ihren früheren Wohnort zu verlassen. Das politische Verhältnis der Russischen Föderation zu den zentralasiatischen Regierungen war und ist durch die starke und mittlerweile rückläufige Remigration der ethnischen Russen angespannt. Die zentralasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion bestritten die Fluchtgründe und Diskriminierungsklagen. Durch die Abwanderung von Fachkräften sahen sie zudem ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bedroht. Ferner akzeptierten sie nicht, dass die Russische Föderation die Interessen der inländischen ethnischen Russen vertrat und politische Forderungen z.B. zur Sprachpolitik aufstellte. Häufig überlagerten sich geopolitische Interessen der russischen Regierung mit ihrer Politik der Vertretung der russischen Minderheiten. Noch im Jahre 1992 zeigte die Jelzin-Regierung in politischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht wenig oder gar kein Interesse an Zentralasien. Doch ab 1993 begann Russland, eine bedeutende Rolle in der GUS zu spielen und erachtete es für das Beste, die Republiken Zentralasiens in die GUS einzubeziehen. Gegen Ende 1993 standen jedoch wieder innenpolitische Themen im Mittelpunkt russischer Politik (Valkanier 1994). Die politische Haltung zu den Russen im »nahen Ausland« fand in Russland seit Anfang 1992 vor dem Hintergrund dreier miteinander konkurrierender außenpolitischer Orientierungen statt. Die WestlichOrientierten bzw. »Euro-Atlantizisten« (vgl. Kleineberg/Kaiser i.d.B.) wollten, dass Russland nicht nur als Teil des Westens angesehen werde, sondern auch als ein solcher handele, d.h. sich als eine »zivilisierte« Macht verhalte. Die frühe Jelzin-Administration wurde von liberalen Kräften bestimmt, die an einer engen Kooperation mit der Atlantischen Allianz interessiert waren. Der frühere russische Außenminister Kosyrev galt als der größte Verfechter dieser Sichtweise und lehnte sämtliche imperialen Ideologien entschieden ab. Die Anhänger der Planwirtschaft oder gosudarstvenniki forderten, Russland solle hinsichtlich der Erhaltung seiner außergewöhnlichen historischen und geographischen Bedeutung selbstbewusster auftreten. Positionen dieser Art gewannen in der Regierung Jelzin bald die Über375

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hand. Sie hatten eine kritischere Haltung gegenüber dem Westen und forderten eine deutliche Abkehr vom Atlantizismus. In der Bündnispolitik wurde dieser Politikwechsel von einer Aufwertung der Partnerschaften in Asien (China, Indien, zum Teil auch Japan) und im Nahen Osten (vor allem zum Iran) begleitet, während in der politischen Rhetorik eine verstärkte Rückbesinnung auf Russlands eigene Größe und Stärke angemahnt wurde. Der Kerngedanke einer politisch-kulturellen Sonderstellung Russlands, die weder an westlich-europäischen noch an asiatischen Maßstäben gemessen werden dürfe, legitimierte die Abkehr von atlantischen Experimenten und ließ zugleich ein selbstbewussteres Auftreten gegenüber dem asiatischen Osten plausibel erscheinen. Die GUS mit ihren zentralasiatischen Mitgliedsstaaten wurde aufgewertet. Die tonangebende Minderheit der Nationalisten verlangte die Wiederherstellung Großrusslands, was häufig mit dem Wunschdenken der Kommunisten nach einer Rückkehr zur alten Sowjetunion übereinstimmte. Die von der Liberaldemokratischen Partei Schirinowskijs geschaffene Wählerplattform trat in der »Stellvertreterpolitik gegenüber den Russen im ›nahen Ausland‹« für den nachhaltigen Schutz der Bürgerrechte der außerhalb der Grenzen Russlands lebenden Russisch sprechenden Menschen ein. Diese Haltung hatte sowohl in Usbekistan als auch in Kasachstan wütende Kritik hervorgerufen, da man sie in der Weise interpretierte, dass sie die Existenz dieser Republiken an sich infrage stellt. Russlands Politik gegenüber Zentralasien lässt den Versuch erkennen, russische Staatsinteressen in den zentralasiatischen Republiken durchzusetzen und dabei gleichzeitig international anerkannte Verhaltensnormen, die die zwischenstaatliche Kommunikation regeln, zu wahren. Auf jeden Fall haben die Standpunkte der russischen Nationalisten die Russen in Zentralasien darin bestärkt, Russland als ihr »externes nationales Heimatland« anzusehen. In Bezug auf die Wahrnehmung des Schicksals der russischen Bevölkerung in Zentralasien vollzog sich in der russischen Politik ein Wandel. Während früher jegliche Intervention vermieden wurde, suchte Kosyrev Ende 1993 die zentralasiatischen Republiken auf, um Druck auf deren Regierungen auszuüben, damit sie die doppelte Staatsbürgerschaft und andere Statusprivilegien für die russische Bevölkerung zuließen. Diese Aktivitäten müssen jedoch deutlich von Programmpunkten der Opposition unterschieden werden, wie etwa von denen der 376

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Union for the Resurrection of Russia, welche die russische Diaspora als wichtigsten Wiedereingliederungsfaktor zur Wiederherstellung der historischen russischen Souveränität betrachtet wissen will. Im Gegensatz hierzu suchte Kosyrev konstruktive Lösungen zur Sicherung der Zivil- und Menschenrechte aller auf dem Territorium der früheren Sowjetunion lebenden Minderheiten. Er vertrat die Ansicht, dass die Rechte von Russen im nahen Ausland nur dann geschützt werden könnten, wenn sie für alle Minderheiten gälten und überall beachtet würden. Die heutige rhetorische Politik ist getragen vom Geist der Verpflichtung gegenüber »den historisch tiefgreifenden Wurzeln« des Verwandtschaftsverhältnisses und der Notwendigkeit, dieses zu erhalten. Diese politischen Vorstellungen finden ihre Entsprechung in der Person des kasachischen Präsidenten Nasarbajew (SWB-SU, 3. März 1994). Die russische Regierung hat ein umfassendes Programm zum Schutz der Rechte der russischen Diaspora aufgestellt, das nicht nur die Finanzierung von russischer Erziehung und Kultur sichern soll, sondern auch einschneidende Ausfuhrbeschränkungen für russische Energie- und Rohstoffexporte als Sanktionsmechanismus gegenüber Nachfolgestaaten der Sowjetunion vorsieht, die die Rechte der ethnischen Russen verletzen. Darüber hinaus wurde versucht, die strittige Frage der doppelten Staatsbürgerschaft durch die Schaffung der Kategorie »Bewohner mit dauerhafter Aufenthaltserlaubnis« zu lösen. Diese sollte für alle zentralasiatischen Bevölkerungsgruppen in Russland gelten und ihnen bis auf wenige Ausnahmen dieselben Rechte einräumen wie den Russen. Die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft gestaltet sich mit allen zentralasiatischen Staaten heikel, insbesondere mit Turkmenistan, das sich generell weigert, den einheimischen Russen die russische Staatsbürgerschaft zu erlauben (SWB-SU, 30. März 1994 und 17. Februar 1994). Meistens werden Kompromisse ausgehandelt, wie z.B. zwischen Taschkent und Moskau. Um die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten, müssen die Russen in Usbekistan ihre usbekische aufgeben, genießen aber weiterhin uneingeschränktes Bleiberecht. Viele Russen, die in den postsowjetischen Staaten leben, haben diese bislang als ihre Heimat betrachtet. Nun fühlen sie sich von ihren Mitbürgern »verraten« und blicken Hilfe suchend nach Russland.

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Markus Kaiser »Where are you Russian star? Will you hide long in the mist Russian star? Or by some optical trick Will you reveal yourself forever?« (FBIS-SOV, 2. Mai 1995).

Die Zeile »Wo bist du, russischer Stern« vermittelt deutlich den sehnlichen Wunsch der im »nahen Ausland« lebenden Russen, Russland möge zu ihren Gunsten intervenieren (Ajubsod 1993). Denn anti-russische Gefühle und Haltungen machen auch vor den engsten Familienbanden nicht halt. So berichtete z.B. eine russische Frau, die in eine usbekische Familie eingeheiratet hatte, dass »die Familie meines Mannes [...] mich gezwungen [hat] einer Scheidung zuzustimmen, weil ich Russin bin und er Usbeke ist. Und das, obwohl wir gemeinsam eine Tochter haben. Sie haben uns und meinem Sohn aus vorheriger Ehe mit Gewalt gedroht.« Alltägliche Diskriminierung und der Wunsch der ethnischen Russen, dass Russland ihre Interessen vertreten möge, bedingen einander. Wie weit die politischen Vorstellungen gehen können, zeigt sich in einem Brief an den Herausgeber der Moskovskije Novosti, in dem es heißt, dass »alle gegenwärtigen Territorien und Regionen, in denen Russen gegenüber der örtlichen Bevölkerung zahlenmäßig vorherrschen, [...] unerlässliche und untrennbare Bestandteile Russlands sein« sollten (Moskovskije Novosti, Nr. 5, 4.-10. Februar 1994).36

Exkurs: Nicht-russische Minderheiten in Zentralasien In den letzten Jahren vollzog sich nicht nur bei den ethnischen Russen ein dramatischer Statuswechsel von einer Mehrheitsgruppe zu einer Minderheit mit umstrittener Identität und ungewisser Zukunft, sondern auch bei den anderen ethnischen Minderheiten in dieser Region zeigt es sich, dass nationsbildende Staaten Minderheitsgruppen definieren und ausgrenzen. Weil die Staatsgrenzen in Zentralasien oftmals nicht deckungsgleich sind mit der Besiedlung der Territorien durch ethnisch definierte Gruppen, sind gegenseitige Minderheitspopulationen benachbarter Staaten keine Seltenheit. 36 Aus dem Russischen übersetzt von Lidija Morkel.

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Tabelle 4: Konzentrationen von ethnischen Minderheiten in Zentralasien Usbekische Minderheiten in Grenzgebieten zu Usbekistan Provinz Khojent (Tadschikistan)

1 Million

Osch-Gebiet von Fergana (Kirgistan)

500.000

Tschimkent-Region (Kasachstan)

280.000

Kasachische Grenzkolonien in Usbekistan Karakalpakistan ASSR

216.000

Taschkent-Region

184.000

Syr Darja-Region

470.000

Tadschikische Minderheiten in Usbekistan Samarkand und Buchara

1-2 Millionen

Russen, Ukrainer und Deutsche in Kasachstan Nord-, Ost- und Zentral-Kasachstan

8 Millionen

Quelle: Hyman (1994)

Tabelle 5: Verteilung der usbekischen Bevölkerung in Zentralasien Republik

Anzahl

Prozent

Usbekistan

10.569.007

84,9

Kasachstan

263.295

2,1

Kirgistan

426.194

3,4

Turkmenistan

233.730

1,9

Tadschikistan

873.199

7,0

12.455.978

100,0

Usbeken insgesamt

Quelle: Tschislennost i sostav naselenija SSSR: po dannym Vsesojusnoj perepisi naselenija 1979 g. (Moskva: Finansy i statistika, 1984), zitiert in Akiner (1990).

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Es gibt in nahezu allen Staaten (siehe Tab. 4) große ethnische Minderheiten eines Nachbarstaates. In Tadschikistan machen beispielsweise die Usbeken nahezu ein Zehntel, in der angrenzenden Region Chodjent ein Viertel der Bevölkerung aus und stellen somit eine weitaus größere Minderheit dar als die ethnischen Russen. In Kirgistan beträgt der Anteil der Usbeken an der Gesamtbevölkerung 3,4 % und in Turkmenistan knapp 1,9 % (siehe Tab. 5). Ähnlich verhält es sich mit Usbekistan, wo 20 % aller Tadschiken leben. Diese internen ethnischen Aufspaltungen könnten für die Beziehungen zwischen den Staaten von Bedeutung sein. Die z.B. seit langer Zeit im Fergana-Tal bestehenden Spannungen zwischen den Usbeken und den Tadschiken sind Folge von Teilungen, die in dem jeweiligen Territorium des anderen große Minderheiten hinterlassen haben. Die spezifisch zentralasiatische demographische Struktur, die gekennzeichnet ist durch ethnisch gemischte Siedlungsgebiete, bildet den Nährboden für interethnische Spannungen. Ob die gewaltsame Saat aufgeht, hängt jedoch von einer Vielzahl weiterer Faktoren ab. So haben z.B. die scharfen nationalistischen Stellungnahmen des usbekischen Präsidenten Karimov bezüglich des Schicksals der ethnischen Usbeken erst recht dazu beigetragen, dass sich außerhalb Usbekistans anti-usbekische Haltungen und somit Auseinandersetzungen zwischen den ethnischen Mehr- und den usbekischen Minderheiten verschärften (Dawisha/Parrot 1994). Während der sowjetischen Herrschaft wurden viele Gemeinschaften, teilweise sogar ganze Dörfer unterschiedlicher Herkunft zwangsumgesiedelt. Dies führte dazu, dass die ohnehin schon recht gemischte Siedlungslandschaft der zentralasiatischen Gebiete noch bunter wurde. Erst durch die Unruhen in Usbekistan im Jahre 1989, die sich gegen die dort lebenden Turk-Mescheten richteten, geriet dieser Aspekt der ethnischen Vielfalt in Zentralasien und die sich daraus ergebenden möglichen Probleme in die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Die Turk-Mescheten wurden 1944 von Südgeorgien nach Zentralasien deportiert. Dabei wurden sie auf verschiedene Regionen und Verwaltungsbezirke von Usbekistan verteilt. Nur wenige von ihnen ließen sich in Kirgistan und Kasachstan nieder. Anfangs durften sie ihre neuen Siedlungsgebiete nicht verlassen, später jedoch erhielten sie das Recht auf Bewegungsfreiheit zurück. In den 1980er Jahren bildete sich unter ihnen eine von der Idee ethnischer Konsolidierung getragene nationale Bewegung heraus. Die territoriale Zersplitterung der 380

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Turk-Mescheten verhinderte jedoch, dass diese sich ausbreiten und somit als Gruppe erfolgreich sein konnten. Da alle postsowjetischen zentralasiatischen Staaten bestrebt sind, auf ihre »nationalen« Kulturen und Wurzeln zurückzugreifen und diese zu stärken, stehen die ethnischen Minderheiten vor der Herausforderung und dem Problem, ihrerseits ihre Identität zu bewahren. So laufen beispielsweise die Uigur-Minderheiten in Kasachstan Gefahr, dass ihre Sprache durch die Deklaration des Kasachischen zur offiziellen Sprache keine staatliche Förderung mehr erhält und damit zunehmend an Bedeutung verliert. Anders sehen die ethnischen Konflikte in Tadschikistan aus. Eine ihrer Ursachen ist möglicherweise die Tatsache, dass Tadschikistan aus den nicht angepassten Teilen des Buchara-Khanats geschaffen worden ist und sich bestimmte Gruppen nie in das zentrale tadschikische System integriert haben. Ethnische Gemeinschaften, die in der Sowjetära als tadschikisch bezeichnet worden waren, erweisen sich nun als Gruppen mit völlig anderen und unterschiedlichen kulturellen Identitäten, die dementsprechend versuchen, sich als unabhängige Entitäten zu definieren. Eine ähnliche historische und kulturelle Teilung besteht zwischen den Kirgisen im Süden und denen im Norden des Landes. Die Kirgisen im Süden sind historisch durch ihre Kontakte mit Usbeken, Tadschiken und Uiguren beeinflusst worden. Sie haben in einer wirtschaftlich unterentwickelten und armen Region ihre traditionellen Bräuche und Lebensweisen bewahrt und widerstehen so größeren ökonomischen und/oder politischen Reformen. Im Gegensatz dazu standen die Kirgisen im Norden in engerem Kontakt mit der slawischen Bevölkerung und mussten sich den jeweiligen Veränderungen anpassen. Die Gebietsfrage ist auch in Turkmenistan offensichtlich, wo noch immer Stammesteilungen in Teke, Salyr, Goklen, Chaudor und Imout bestehen.37 Daher gibt es dort zahlreiche Aufspaltungen, die die Situation in der Region verkomplizieren.

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Weshalb die Flagge Turkmenistans auch fünf Sterne zeigt.

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Fazit Russen als Minderheiten in Zentralasien sind ein Ergebnis des Unabhängigwerdens der zentralasiatischen Staaten. Ihre heutige Situation ist geprägt von der zaristischen und der sowjetischen Geschichte. Die ethnischen Unterteilungen waren bereits in der Vergangenheit politisiert. So führte die Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion über Quotensysteme dazu, dass Mitglieder der Titularnationen neben den russischen Fachkräften einen bevorzugten Zugang zum bürokratisch-politischen Apparat ihrer Republiken erhielten, ohne dabei die russische Dominanz insgesamt infrage zu stellen. Die gegenwärtige Nationalisierung baut auf eben diesen privilegierten Eliten auf. So ist es unübersehbar, dass der Klientelismus in Kasachstan und Usbekistan eine starke ethnische Komponente besitzt (vgl. Peter 1999; Kaiser 2001) und dadurch ein »Kampf um den Staat« zwischen Mehrheit, nationaler Minderheit und externen »Stellvertretern« entbrannt ist. Der Nationalisierungsprozess in den zentralasiatischen Staaten verläuft entlang politisierter ethnisch-nationaler Differenzen und ist als Antwort auf die Diskriminierung in der ehemaligen Sowjetunion zu verstehen. Die russische Bevölkerung ist dabei, den Kampf um den Staat in Usbekistan und auch in Kasachstan zu verlieren. Neben sozioökonomischen Gründen liegt darin eine wichtige, wenn nicht sogar die Hauptursache der Remigration von Russen. Die heute zu beobachtende Spiegelung der Minderheitenpolitik der Sowjetunion und der derzeitigen Situation der russischen Minderheiten in Usbekistan und Kasachstan macht deutlich, dass es sich hier um eine typische postsowjetische – in ihrem Charakter postkoloniale – soziale Konfiguration handelt, die einen großen Teil des Kulturraumes von Asien und Europa prägt. Der Beitrag zeigt, dass ethnische Heterogenität in staatlicher Einheit nicht zwangsläufig zu Konflikten führt. Diese entstehen erst dann, wenn Ethnizität durch die Verknüpfung mit politischen, ökonomischen oder kulturellen Interessen politisiert wird. Politisierte Ethnizitäten stellen nach Wimmer keine »archaischen Identitätsgebilde dar [...], welche die Moderne noch nicht hat abtragen können« (Wimmer 1995: 464), sondern sind als Effekte der Nationalstaatenbildung zu interpretieren. Die Politisierung kann durch eine transnationale Interessenvertretung – namentlich der Anspruch der russischen Regierung, die 382

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Interessen der Russen im »nahen Ausland« zu vertreten – jedoch verstärkt werden. Wenn (Titular-)Nation und Staatsgewalt wie bei den Nachfolgestaaten der Sowjetunion legitimatorisch aufeinander bezogen werden, stellt sich die Frage, im Namen welcher Nationalität der Staat zu agieren hat. Aus dieser Perspektive sind die geschilderten Konflikte als Kampf um die kollektiven Güter des Gemeinwesens zu interpretieren. Die jeweils nicht-dominierende ethnische Bevölkerung empfindet die zunehmende Nationalisierung aller Öffentlichkeitsbereiche als Benachteiligung. In Kasachstan ist aufgrund der geographischen Nähe zu Russland und der Bevölkerungsstärke der russischen Bevölkerung sicherlich eine größere kulturelle Respektierung der Russen als in Usbekistan zu beobachten. Die nationalen Eliten der zentralasiatischen Staaten stehen heute der Notwendigkeit gegenüber, ein Gleichgewicht zwischen den Bestrebungen der »nationalen Minderheiten« nach größerer Autonomie einerseits und den Interessen des jeweiligen Staates andererseits krisenpräventiv auszubalancieren. Auf der Suche nach Eurasien lassen sich viele Differenzen in Politik, Religion und Alltagskultur zwischen Russland und Asien, zwischen Russland und Europa »vermessen«, die zugleich ein Konfliktund schöpferisches Potenzial besitzen.

Literatur Ajubsod, Salim (1993): »Die ferne Fremde ist besser als die nahe. Die Tadschiken gehen immer weiter aus Asien heraus, dabei von der Rückkehr träumend«. In: Nesavisimaja Gaseta, Moskau, 27. Mai 1993. Akiner, Shirin (1990): »Uzbeks«. In: Graham Smith (Hg.), The Nationalities Question in the Soviet Union, London u.a.: Longman. Allworth, Edward (Hg.) (1973): The Nationality Question in Soviet Central Asia, New York: Praeger Publishers. Anderson, Benedict (1988): Die Erfindung der Nation – Zur Karriere eines folgenreichen Konzeptes, Frankfurt a.M./New York: Campus. Batalden, Stephen K./Batalden, Sandra L. (1993): The Newly Independent States of Eurasia – Handbook of Former Soviet Republics, Arizona: The Oryx Press. 383

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Markus Kaiser

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Russen als neue Minderheiten in Zentralasien

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2003-12-10 13-35-02 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S. 338-389) T03_06 kaiser.russen im ausland.neu.p 392455348

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) vakat 390.p 39245534860

Anhang

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) T99_00 resp anhang.p 39245534900

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) vakat 392.p 39245534948

Autorinnen und Autoren

Autorinnen und Autoren

Sergej Damberg, Dipl.-Soziologe, Jg. 1971, Assistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Sozialforschung der Fakultät für Soziologie an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg (SPbGU), assoziierter Mitarbeiter des Zentrums für unabhängige Sozialforschung in Sankt Petersburg, Studienaufenthalte und Gastdozenturen an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld im DAAD-geförderten Kooperationsprojekt Deutschsprachiger Studiengang Soziologie an der SPbGU, Forschungen zur postsowjetischen Migration, zu ethnischen Problemen und zur Stadtsoziologie in Sankt Petersburg. Hans-Dieter Evers, Prof. em. Dr. phil., Jg. 1935, Senior Fellow und Lehrender am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn, von 2003 bis 2004 Visiting Professor of Management an der Business School der Singapore Management University, vormals Professor für Soziologie an der Yale University (USA) und an der University of Singapore, von 1974 bis 2001 Professor für Entwicklungsplanung und Entwicklungspolitik und Leiter des Forschungsschwerpunktes Entwicklungssoziologie an der Universität Bielefeld, von 1999 bis 2001 geschäftsführender Direktor des Instituts für Weltgesellschaft der Universität Bielefeld, Forschungen zur Entwicklung Südostasiens, zur Religionssoziologie des Buddhismus, zur Urbanisierung und zur Wissenssoziologie. Natalja Gontscharova, Dr. phil., Jg. 1971, seit 1995 Koordinatorin mehrerer sozialwissenschaftlicher Projekte, von 1998 bis 2001 Leiterin des soziologischen Labors der Staatlichen Universität Uljanovsk, seit September 2001 stellvertretende Direktorin des Forschungszentrums »Region« an der Staatlichen Universität Uljanovsk, Forschungen im Bereich der Geschlechterforschung, der Arbeits- und der Bildungssoziologie. Markus Kaiser, Dr. rer. soc., Jg. 1968, Studium der Politikwissenschaften an der FU Berlin, Promotion mit einer Arbeit zum »Informal Sector Trade in Contemporary Uzbekistan: Re-opening of the Great Silk Road« 1998 in Bielefeld, Kollegiat des Stiftungskollegs für Internatio393

2003-12-10 13-35-03 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S. 393-396) T99_01 autoren.p 39245534996

Autorinnen und Autoren

nale Aufgaben der Robert Bosch Stiftung 1998/99, seit 1999 wissenschaftlicher Assistent für Entwicklungsplanung an der Fakultät für Soziologie und Mitarbeiter im Institut für Weltgesellschaft der Universität Bielefeld, 2001 Fellow am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn, Gastdozenturen u.a. an der Staatsuniversität Sankt Petersburg (Russland) und der Prince of Songkla Universität, Pattani (Thailand), Projektverantwortlicher und Direktor des vom DAAD geförderten Zentrums für Deutschland- und Europastudien (ZDES) an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg (SPbGU), Forschungsschwerpunkte: Entwicklungssoziologie und Transformationsforschung, Konzeptionalisierung von Raum in der Globalisierung und Wissensmanagement, Russland-, Zentralasien- und Südostasienforschung. Michael Kleineberg, Dr. phil., Jg. 1964, DAAD-Fachlektor und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Zentrums für Deutschland- und Europastudien an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg, Promotion an der Universität Magdeburg mit einer Arbeit über »Sozial-karitative Nichtregierungsorganisationen im russischen Transformationsprozess«, Forschungen zu Nichtregierungsorganisationen, Sozialpolitik und Sozialstrukturanalyse in Transformationsgesellschaften. Rüdiger Korff, PD Dr. rer. soc., Jg. 1954, Josef G. Knoll-Stiftungsprofessur für Entwicklungsländerforschung an der Universität Hohenheim, seit 1985 Mitglied des Forschungsschwerpunktes Entwicklungssoziologie der Universität Bielefeld, längere Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren in Südostasien, Forschungen zur Entwicklung Südostasiens, zum Zusammenhang von Globalisierung und Lokalisierung in Metropolen, Forschungen zu lokaler Selbstorganisation und der Re-Konstruktion kultureller Abgrenzungen. Vladimir Kozlovsky, Prof. Dr. phil., Jg. 1954, seit 1997 Lehrstuhlleiter der Abteilung Theorien der gesellschaftlichen Entwicklung an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg (SPbGU), von 1980 bis 1990 Assistent und Dozent am Lehrstuhl für Philosophie der Staatlichen Universität Syktyvkar, von 1991 bis 1996 Dozent an der Fakultät für Soziologie der SPbGU, von 1997 bis 2001 Leiter des Russisch-Deutschen Zentrums an der Fakultät für Soziologie der SPbGU und Pro394

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Autorinnen und Autoren

jektkoordinator des vom DAAD geförderten Deutschsprachigen Studiengangs Soziologie an der SPbGU, seit 1997 verantwortlicher Herausgeber der Zeitschrift für Soziologie und Sozialanthropologie der Fakultät für Soziologie der SPbGU, Forschungsschwerpunkte: Friedens- und Konfliktforschung, Geschichte der russischen Soziologie, Entwicklungsalternativen der russischen Gesellschaft, Soziographie des Menschen. Guzel Sabirova, Dipl.-Soziologin, Jg. 1971, von 1995 bis 2000 stellvertretende Direktorin des Forschungszentrums »Region« an der Staatlichen Universität Uljanovsk, seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für soziologische Ausbildung im Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaft (Moskau), mehrere Forschungsaufenthalte in Großbritannien und Deutschland zu den Themen: Ethnizität, ethnische Beziehungen, Identität und Islam, 2002 Forschungsaufenthalt an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld, gefördert durch das Zentrum für Deutschland- und Europastudien (ZDES), und seit Mai 2003 Jahresstipendium für Graduierte der Universität Bielefeld, laufendes Dissertationsprojekt am Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaft: »Die Entwicklung des Islamischen Bildungswesens in Moskau nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion«. Heiko Schrader, PD Dr. rer. soc., Dipl. rer. pol., Jg. 1958, Hochschuldozent an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, von 1997 bis 1999 Professor und DAAD-Langzeitdozent für Sozialanthropologie an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg, von 1982 bis 1997 Dozent, Mitarbeiter und Research Fellow an der Universität Bielefeld (Forschungsschwerpunkt Entwicklungssoziologie), zurzeit stellvertretender Sprecher der Sektion Entwicklungssoziologie und Sozialanthropologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Feldforschungen und DAAD-geförderte Gastdozenturen zur Wirtschaftssoziologie, Sozialanthropologie und Transformationssoziologie in Süd- und Südostasien sowie Russland. Nikolaj Skvorzov, Prof. Dr. phil., Jg. 1955, Lehrstuhlleiter der Abteilung für Kulturanthropologie und Ethnologie der Staatlichen Universität Sankt Petersburg (SPbGU), Dekan der soziologischen Fakultät und Direktor des vom DAAD geförderten Zentrums für Deutschland- und 395

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Autorinnen und Autoren

Europastudien (ZDES) an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg; seit 1993 regelmäßige, vom DAAD geförderte Gastaufenthalte an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld, Forschungen zu den Themen Ethnizität und Nationalismus sowie im Bereich Kulturanthropologie. Elena Stepanova, Dipl.-Politologin, Jg. 1982, studierte Internationale Beziehungen an den Universitäten in Sankt Petersburg und München, derzeit Postgraduate Student an der London School of Economics and Political Science in London. Stefan Wiederkehr, lic. phil., Jg. 1969, Studium der Geschichte, der Russischen Sprach- und Literaturwissenschaft sowie der Philosophie in Zürich, 1997 wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Basel, von 1997 bis 1999 wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Zürich, von 1999 bis 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Slawischen Seminar der Universität Zürich, derzeit Stipendiat der Janggen-Pöhn-Stiftung und Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Universität Zürich, laufende Dissertation: »Die Renaissance der Eurasierbewegung«. Boris Wiener, M.A. Soziologie in Austin, Dipl.-Sozialanthropologe in Sankt Petersburg, Jg. 1959, wissenschaftlicher Mitarbeiter am soziologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaft, von 1995 bis 1996 Dozent an der Universität von Texas in Austin, 1997 Dozent an der Jüdischen Universität in Sankt Petersburg, von 1998 bis 1999 Forschung zum Thema »Übertragungsmuster der ethnischen Selbstidentifikation zwischen den Generationen unter ukrainischen und jüdischen Minderheiten in Sankt Petersburg«, von 2000 bis 2001 Forschungsprojekt zum Thema »Ethnische Vereinigungen in Sankt Petersburg«, weitere Forschungsschwerpunkte: Ethnische Beziehungen, theoretische Ethnologie, soziale Identität, qualitative Methoden.

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Textnachweise

Textnachweise

Verlag und Herausgeber danken für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck. Kleineberg, Michael und Markus Kaiser (2002): »›Eurasien‹ – Phantom oder reales Entwicklungsmodell für Russland?« In: Martina Ritter/ Barbara Wattendorf (Hg), Sprünge, Brüche, Brücken. Debatten zur politischen Kultur in Russland aus der Perspektive der Kultursoziologie, Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft. In der Reihe Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen. Giessener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens, GAAW, Bd. 223, Berlin: Duncker & Humblot, S. 195-215. Evers, Hans-Dieter und Markus Kaiser: »Eurasische Transrealitäten – Das Erbe der Seidenstraße« ist eine überarbeitete Version des Beitrags »Eurasia: Two Continents, One Area?«. In: Peter Preston/Julie Gilson (Hg.) (2001), The European Union and Pacific Asia: InterRegional Linkages in a Changing Global System, Cheltenham: Edward Elgar Publishing House, S. 65-90. Kaiser, Markus: »Postsowjetisches Eurasien – Dimensionen der symbolischen und realen Raumaneignung« ist eine überarbeitete Version des Beitrags »Eurasien: Ein Beispiel von Integration durch Marktexpansion?«. In: Heiko Schrader/Markus Kaiser/Rüdiger Korff (Hg.) (2001), Zur Aktualität von 25 Jahren Entwicklungsforschung, Münster/Hamburg/London: LIT, S. 31-52.

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2003-12-10 13-35-03 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S. 397

) T99_02 textnachweis.p 39245535028

Titel der Reihe: »Kultur und soziale Praxis« Alexander Horstmann,

Julia Lossau

Günther Schlee (Hg.)

Die Politik der Verortung

Integration durch

Eine postkoloniale Reise zu

Verschiedenheit

einer ANDEREN Geographie

Lokale und globale Formen

der Welt

interkultureller

2002, 228 Seiten,

Kommunikation

kart., 25,80 €,

2001, 408 Seiten,

ISBN: 3-933127-83-1

kart., 24,80 €,

Andreas Ackermann,

ISBN: 3-933127-52-1

Klaus E. Müller (Hg.) Ayhan Kaya

Patchwork: Dimensionen

"Sicher in Kreuzberg"

multikultureller

Constructing Diasporas:

Gesellschaften

Turkish Hip-Hop Youth in

Geschichte, Problematik und

Berlin

Chancen

2001, 236 Seiten,

2002, 312 Seiten,

kart., 30,80 €,

kart., 25,80 €,

ISBN: 3-933127-71-8

ISBN: 3-89942-108-6

Margret Spohn

Sibylle Niekisch

Türkische Männer in

Kolonisation und Konsum

Deutschland

Kulturkonzepte in Ethnologie

Familie und Identität.

und Cultural Studies

Migranten der ersten

2002, 110 Seiten,

Generation erzählen ihre

kart., 13,80 €,

Geschichte

ISBN: 3-89942-101-9

2002, 474 Seiten, kart., 26,90 €,

Cosima Peißker-Meyer

ISBN: 3-933127-87-4

Heimat auf Zeit Europäische Frauen in der arabischen Welt 2002, 222 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-103-5

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2003-12-10 13-35-04 --- Projekt: transcript.kusp.kaiser eurasien / Dokument: FAX ID 017839245533236|(S. 398-399) T99_03 anzeige 131-kaiser eurasien.p 3924553505

Titel der Reihe: »Kultur und soziale Praxis« Alexander Horstmann

Roger Behrens

Class, Culture and Space

Die Diktatur der Angepassten

The Construction and Shaping

Texte zur kritischen Theorie

of Communal Space in South

der Popkultur

Thailand

2003, 298 Seiten,

2002, 204 Seiten,

kart., 24,80 €,

kart., 31,80 €,

ISBN: 3-89942-115-9

ISBN: 3-933127-51-3

Markus Kaiser Markus Kaiser (Hg.)

Eurasia in the Making –

WeltWissen

Revival of the Silk Road

Entwicklungszusammenarbeit

A Study on Cross-border Trade

in der Weltgesellschaft

and Markets in Contemporary

2003, 384 Seiten,

Uzbekistan

kart., 25,80 €,

2004, ca. 236 Seiten,

ISBN: 3-89942-112-4

kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-142-6

Klaus E. Müller (Hg.) Phänomen Kultur Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaften 2003, 238 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-117-5

Anja Peleikis Lebanese in Motion Gender and the Making of a Translocal Village 2003, 210 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-933127-45-9

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

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