Zuhause? Fremd?: Migrations- und Beheimatungsstrategien zwischen Deutschland und Eurasien [1. Aufl.] 9783839429266

Contributions on migration, re-migration, and localization between Germany and Eastern Europe, Russia, and central Asia.

297 95 4MB

German Pages 460 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Zuhause? Fremd? Eine Bestandsaufnahme
Lebensprojekte mit dem Fokus in und auf Deutschland
»Ich versteh das immer noch nicht.«Belastende Vergangenheiten und brüchige Zugehörigkeiten von Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion
Russlanddeutsche als kulturelle Hybride. Schicksal einer Mischkultur im 21. Jahrhundert
Heterogene Selbstbilder. Identitätsentwürfe und -strategien bei russlanddeutschen (Spät-)Aussiedlern
Die Bedeutung der Religion für den Identifikations- und Migrationsprozess der Russlanddeutschen
Russische Reisebüros in Deutschland.Eine explorative Studie zu einem ethnischen Marktsegment
Sozialkapital und transnationale unternehmerische Tätigkeiten. Der Fall selbstständiger russischsprachiger Migranten
Lebensprojekte mit dem Fokus »Rückkehr« und Dagebliebensein
Nicht geboren zum im Deutschland leben. Eine Interviewstudie zu den Motiven Russlanddeutscher, in Russland zu verbleiben
Rückwanderung von (Spät-)Aussiedlern nach Russland. Annäherung an ein schwer fassbares Phänomen
Geförderte Rückkehr von Spätaussiedlern in ihre Herkunftsregionen. Die Arbeit des Projektes »Heimatgarten«
Ein leichtes Spiel? Erfahrungen der Rückkehr im postsozialistischen Kontext Kroatiens und Tschechiens
Rückkehrentscheidung aus Genderperspektive. Remigrierte (Spät-)Aussiedlerfamilien in Westsibirien
Einmal Deutschland und wieder zurück. Umkehrstrategien von (Spät-)Aussiedlern im Kontext sich wandelnder Migrationsregime
Transnationale Lebensprojekte: Geteilte Zugehörigkeit(en)
Zwischen transnationaler Verstörung und Entzauberung. Kasachstandeutsche Heimatkonzepte
»Mir kommt es vor, als hätte ich zwei Leben… eines in Kasachstan und eines hier«. Bilderwelten einer russlanddeutschen Migration
Informelle (trans-)nationale soziale Sicherung von Kasachstandeutschen in Deutschland
Transnationale Beziehungen hochqualifizierter Migranten aus Russland und der Ukraine in Frankfurt am Main
Bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler zwischen Deutschland und Russland. Transnationale Lebensentwürfe und Typen
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abstracts
Autorinnen- und Autorenverzeichnis
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Zuhause? Fremd?: Migrations- und Beheimatungsstrategien zwischen Deutschland und Eurasien [1. Aufl.]
 9783839429266

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Markus Kaiser, Michael Schönhuth (Hg.) Zuhause? Fremd?

herausgegeben von Markus Kaiser | Band 8

Markus Kaiser, Michael Schönhuth (Hg.)

Zuhause? Fremd? Migrations- und Beheimatungsstrategien zwischen Deutschland und Eurasien

Dieser Band wurde mit Unterstützung des Forschungszentrums Europa (FZE) und durch Mittel des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Sonderforschungsbereichs SFB 600 Fremdheit und Armut an der Universität Trier gedruckt. Die Herausgeber bedanken sich bei der Geschäftsführerin beider Einrichtungen, Frau Dr. Gisela Minn, für die stete und freundliche Unterstützung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagfotografie: Schumanovka (24.07.2010), Markus Kaiser, Astana Korrektorat: Corinna Dräger, Trier Satz: Mathias Mohrs, Trier Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2926-2 PDF-ISBN 978-3-8394-2926-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Zuhause? Fremd? Eine Bestandsaufnahme

Michael Schönhuth und Markus Kaiser | 9

Lebensprojekte mit dem Fokus in und auf Deutschland »Ich versteh das immer noch nicht.« Belastende Vergangenheiten und brüchige Zugehörigkeiten von Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion

Niklas Radenbach und Gabriele Rosenthal | 27 Russlanddeutsche als kulturelle Hybride. Schicksal einer Mischkultur im 21. Jahrhundert

Olga Kurilo | 53 Heterogene Selbstbilder. Identitätsentwürfe und -strategien bei russlanddeutschen (Spät-)Aussiedlern

Svetlana Kiel | 73 Die Bedeutung der Religion für den Identifikations- und Migrationsprozess der Russlanddeutschen

Gerald Gredinger | 91 Russische Reisebüros in Deutschland. Eine explorative Studie zu einem ethnischen Marktsegment

Matthias Burgard | 107 Sozialkapital und transnationale unternehmerische Tätigkeiten. Der Fall selbstständiger russischsprachiger Migranten

Elena Sommer und Markus Gamper | 119

Lebensprojekte mit dem Fokus »Rückkehr« und Dagebliebensein Nicht geboren zum im Deutschland leben. Eine Interviewstudie zu den Motiven Russlanddeutscher, in Russland zu verbleiben

Yves-Oliver Tauschwitz | 149 Rückwanderung von (Spät-)Aussiedlern nach Russland. Annäherung an ein schwer fassbares Phänomen

Vera Mattock | 171 Geförderte Rückkehr von Spätaussiedlern in ihre Herkunftsregionen. Die Arbeit des Projektes »Heimatgarten«

Galina Suppes | 193 Ein leichtes Spiel? Erfahrungen der Rückkehr im postsozialistischen Kontext Kroatiens und Tschechiens

Caroline Hornstein Tomiü und Sarah Scholl-Schneider | 205 Rückkehrentscheidung aus Genderperspektive. Remigrierte (Spät-)Aussiedlerfamilien in Westsibirien

Tatjana Fenicia | 239 Einmal Deutschland und wieder zurück. Umkehrstrategien von (Spät-)Aussiedlern im Kontext sich wandelnder Migrationsregime

Michael Schönhuth und Markus Kaiser | 275

Transnationale Lebensprojekte: Geteilte Zugehörigkeit(en) Zwischen transnationaler Verstörung und Entzauberung. Kasachstandeutsche Heimatkonzepte

Rita Sanders | 293 »Mir kommt es vor, als hätte ich zwei Leben… eines in Kasachstan und eines hier«. Bilderwelten einer russlanddeutschen Migration

Natalja Salnikova | 315 Informelle (trans-)nationale soziale Sicherung von Kasachstandeutschen in Deutschland

Joanna Jadwiga Sienkiewicz | 355 Transnationale Beziehungen hochqualifizierter Migranten aus Russland und der Ukraine in Frankfurt am Main

Maria Savoskul | 379 Bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler zwischen Deutschland und Russland. Transnationale Lebensentwürfe und Typen

Anett Schmitz | 409 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis | 433 Abstracts | 4 35 Autorinnen- und Autorenverzeichnis | 451

Zuhause? Fremd? Eine Bestandsaufnahme M ICHAEL S CHÖNHUTH UND M ARKUS K AISER

Z UHAUSE

FREMD

– R EVISITED

Die Anthologie Zuhause fremd – Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland (Ipsen-Peitzmeier/Kaiser 2006) wurde im Jahr 2006 auf der Basis einer Fachtagung des russisch-deutschen Zentrums für Deutschland und Europastudien an der Universität Bielefeld im Jahr 2004 veröffentlicht. Der Titel war Programm und beschrieb die doppelte Exklusionserfahrung, die Russlanddeutsche gerade nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes und der Öffnung der Grenzen in den 1990er-Jahren im Rahmen ihrer Aussiedlung nach Deutschland vielfach machten: »Die Beobachtung, dass Russlanddeutsche in den Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) von der fernen Heimat träumen, in ihrer neuen Heimat dann aber trotzdem nicht ankommen und von Heimweh geplagt werden, charakterisiert sie als zuhause Fremde.« (Kaiser 2006: 20)

Heute, zehn Jahre später, wollen wir als Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes an die Befunde von damals anknüpfen, und mit Autorinnen und Autoren der letzten Anthologie – so diese noch im Feld weiter geforscht haben – sowie mit Kolleginnen und Kollegen, die sich aktuell mit dem Thema beschäftigen, eine weitere Bestandsaufnahme wagen. Welche Befunde von damals lassen sich bestätigen oder fortschreiben? Welche neuen Trends oder unerwarteten Entwicklungen lassen sich erkennen? Wie »besonders« ist die Situation von Russlanddeutschen und migrationsrechtlich statusgleichen Gruppen noch, in einer Zeit, in der die Grenzen nach Osten durch die EU-Erweiterung und zahlreiche

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Handelsabkommen ungeachtet der migrationspolitischen Abschottung der EU1 in beide Richtungen immer durchlässiger geworden sind, Flugreisen auch weniger zentrale Orte relativ preisgünstig miteinander verbinden, Telekommunikation grenzenlos, und berufliche transnationale Mobilität für viele zum Normalfall geworden ist? Welche Auswirkungen hat dies auf Integrations- und Identifikationsformen, auf das Netzwerk- und Wanderungsverhalten sowie auf Beheimatungsstrategien zwischen hier und dort? Auf diese Fragen wollen wir im vorliegenden Band von den Forschungsstandorten der beteiligten Autorinnen und Autoren aus Antworten finden. Die wissenschaftlichen Perspektiven, aus denen heraus Mobilität beschrieben und analysiert wird, betreffen dabei immer weniger reine Integrations-, dafür umso mehr Identitäts- und Hybriditätsfragen und folgen damit einem auch für andere Gruppen erkennbaren Trend in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung. Hilfreich für diese Zusammenschau waren auch Forschungsprojekte, die in den letzten Jahren unter der wissenschaftlichen Leitung eines der beiden Herausgeber in zwei Trierer Forschungsverbünden2 zum Thema durchgeführt wurden und die sich insbesondere in den Beiträgen von Fenicia, Gamper, Gredinger, Schmitz, Schönhuth/Kaiser und Suppes im Band widerspiegeln. Das Titelbild des Bandes zeigt die überdimensionierte sowjetische Metallplastik »Ähre mit Hammer und Sichel« der Ortseinfahrt von Schumanowka (russ.: ɒɭɦɚɧɨɜɤɚ) im deutschen Nationalrajon in der Region Altai, Russische Föderation, nahe der Grenze zu Kasachstan, aufgenommen vor wenigen Jahren. Sie wirkt heute wie aus der Zeit gefallen. Obwohl seit 1989 ein von der Bundesrepublik Deutschland mitfinanziertes Projekt zur Wiederherstellung des Rajons und zur Unterstützung des Bleibewillens der Russlanddeutschen existiert, konnte auch hier die massenhafte Auswanderung Deutschstämmiger in die sogenannte »Ur-Heimat« Deutschland nicht verhindert werden. Bald kamen nach Schuma-

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Innerhalb der kritischen Europastudien werden zentrale Projekte der EU-Migrationspolitik wie Frontex und Dublin II zurecht als restriktive Abschottungspolitik interpretiert. Jedoch sind die in diesem Band im Fokus stehenden (Spät-)Aussiedler und Remigranten innerhalb Europas unterwegs oder genießen einen privilegierten Status, weshalb hier die EU-Migrationspolitik nicht thematisiert wird. (siehe dazu Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« 2014).

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Es handelt sich dabei um den Forschungsverbund Forschungszentrum Europa (FZE) und den Sonderforschungsbereich (SFB 600) »Fremdheit und Armut: Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart« (http://www. sfb600.uni-trier.de/?).

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nowka und in den deutschen Nationalrajon viele deutschstämmige Familien aus Zentralasien (Kasachstan und Kirgisistan), bei denen aber zumeist ein Partner Kasache, Kirgise, Russe oder Ukrainer war, und zogen in die freigewordenen Häuser der als Spätaussiedler Ausgewanderten ein. Die vorliegende Anthologie ist in drei thematische Blöcke gegliedert. Im ersten Teil spiegelt sich die Debatte der In- und Exklusionsprozesse in Bezug auf Deutschland wider. Der Bogen wird von Formen der brüchigen Zugehörigkeit (Ulrich 2011) über die hybride Existenz bis zum Scheitern oder zum Erfolg im Ankunftsland gespannt (Radenbach/Rosenthal, Kurilo, Kiel, Gredinger, Burgard, Sommer/Gamper). Die Rückkehr und das Rückkehrpotenzial auch als Spiegel enttäuschter Hoffnungen und gemachter Erfahrungen haben erst in den letzten zehn Jahren vermehrte mediale und politische Aufmerksamkeit erhalten. Im zweiten Teil zur Remigration und Reintegration wird diese bisher wissenschaftlich noch wenig beleuchtete Perspektive der Rückkehr an den alten Heimatort beziehungsweise in den Herkunftskulturraum sowie die Reintegration am neuen (alten) Lebensort aufgenommen. Spätaussiedler stellen hier eine besondere Referenzgruppe dar (Tauschwitz, Mattock, Suppes, Fenicia, Schönhuth/Kaiser). Vergleichende Beiträge (von Savoskul generell zu Russischsprachigen, von Hornstein Tomiü/ Scholl-Schneider zu Tschechien/Kroatien) erweitern diesen Blick und zeigen darüber hinaus gemeinsame, für den post-sozialistischen eurasischen Kulturraum typische Muster auf. Im letzten Teil sind Beiträge versammelt, die sich explizit dem Thema der Transmigration und somit geteilten Zugehörigkeit(en) an multiplen Lebensorten und in transnationalen Lebensprojekten widmen.3 Ortsbezogenen Betrachtungsweisen soll damit noch stärker als im Vorgängerband die Perspektiven des kulturellen Pendelns und des Transnationalen hinzugefügt werden (Sanders, Salnikova, Sienkiewicz, Savoskul, Schmitz).

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Vgl. dazu schon früh Wegelein (2000).

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R ÜCKKEHR INS L AND DER V ORVÄTER – (S PÄT -)AUSSIEDLER 4 Im Jahr 2013 jährte sich der Erlass von Zarin Katharina II. vom 22. Juli 1763, der Ausländer einlud, in Russland zu siedeln, zum 250. Mal. Schon in den ersten Jahren emigrierten bis zu 30.000 Deutsche und siedelten sich im Wolgagebiet, in Südrussland sowie im nördlichen Schwarzmeergebiet an. Trotz Aufhebung ihres mit Privilegien versehenen Sonderstatus im Jahr 1871 wuchs ihre Zahl bis 1914 auf über 2,4 Millionen. Im Gefolge des Bürgerkriegs Anfang der 1920er Jahre entstand sogar eine autonome wolgadeutsche Sowjetrepublik, die formal bis zum Überfall Nazideutschlands 1941 und der nachfolgenden Deportation der Russlanddeutschen in den nichteuropäischen Teil Russlands (v.a. Sibirien und Kasachstan) Bestand hatte.5 1953 trat das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) in Kraft, mit dem die Aussiedlerzuwanderung letztlich bis zur Neuordnung im Zuge des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes 1993 geregelt werden sollte. Erst zu Beginn der 1960er Jahre wurden die »Russlanddeutschen« (dieser Begriff hatte sich im Sprachgebrauch auf für die Deutschen in den kasachischen Gebieten etabliert) durch ein Dekret des Obersten Sowjet formell rehabilitiert. Verstärkt wurde der Wunsch nach Ausreise »in das Land ihrer Vorväter« auch durch die Enttäuschung über die Nichtdurchsetzbarkeit der Wiederherstellung einer deutschen Autonomie an der Wolga. Wurde zwischen den 1950er und Mitte der 1980er Jahren oft nur einigen hundert bis wenigen Tausend Deutschstämmigen pro Jahr die Ausreise aus dem

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Aussiedler sind deutsche Staatsangehörige oder Volkszugehörige, die vor dem 8.5. 1945 ihren Wohnsitz in den ehemaligen deutschen Ostgebieten bzw. in Danzig, Estland, Lettland, Litauen, der ehemaligen Sowjetunion, Polen, der ehemaligen Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China hatten und diese Länder nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen vor dem 1.7.1990 oder danach im Wege des Aufnahmeverfahrens bis zum 31.12.1992 verlassen haben (§ 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG). Spätaussiedler sind in der Regel deutsche Volkszugehörige, die die Aussiedlungsgebiete nach dem 31.12.1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen haben und innerhalb von sechs Monaten ihren ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes (also in der Bundesrepublik Deutschland, d.V.) genommen haben (§ 4 BVFG). Die Schreibweise (Spät-)Aussiedler bezieht sich somit auf beide Gruppen und wird in diesem Band dort verwendet, wo eine Unterscheidung unterblieb oder keine Bedeutung hat.

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Zur Situation der Deutschen in Russland nach 1939 vgl. Eisfeld (2009).

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sowjetischen Gebiet erlaubt (noch 1986 waren es nur 753 Personen6), so stieg ihre Zahl nach dem Inkrafttreten eines neuen liberaleren sowjetischen Reisegesetzes unter Gorbatschow 1987 sprunghaft an. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 erreichte die Zahl der Ausreisenden dann zuvor kaum vorstellbare Zahlen von 200.000 und mehr pro Jahr.7 Nach 1995 sank die Zahl der Zuzüge durch diverse Kontingentierungsmaßnahmen der Bundesregierung rapide, zunächst auf unter 100.000 im Jahr 2001, rutschte dann ab 2007 unter 10.000, und lag im Jahr 2012 bei nur noch 1.817 Zuzügen. Russlanddeutsche stellen für das politische System in Deutschland eine besondere Gruppe von Zuwanderern dar, erhalten sie doch auf der Basis des Bundesvertriebenengesetzes zum Zeitpunkt der Einreise die deutsche Passnationalität: »Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.8«

Durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) 1992 war die Rechtsfigur des Aussiedlers durch die des Spätaussiedlers abgelöst worden. Nach dieser Festlegung konnten auch nach dem 31. Dezember 1992 Geborene keine Spätaussiedler mehr sein, wodurch es nach jüngsten Einschätzungen, »… in absehbarer Zeit zu einem Auslaufen dieser Zuwanderungsform nach Deutschland kommen wird« (Worbs et al. 2013: 21). Mit Beginn der 1990er Jahre, als der Zuzug von Spätaussiedlern aus der ehemaligen UdSSR seinen Höhepunkt erreichte, wuchs in Deutschland auch das

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Zwischen 1950 und 1989 kamen die weitaus meisten Aussiedler aus Polen (genaue

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Sie kamen vor allem aus Kasachstan und der Russischen Föderation. Nimmt man die

Zahlen von 1950 bis heute bei Worbs et al. 2013: 31ff.). Aussiedler aus Polen und Rumänien hinzu, die in großer Zahl in den Jahren 19881990 übersiedelten, so wurde 1990 der Höchststand mit annähernd 400.000 erreicht (Zahlen nach Worbs et al. 2013: 28-26 und Krieger et al. 2006: 21-32). Bei Krieger gibt es auch eine tabellarische Chronologie der Russlanddeutschen und Beschreibungen der teils unmenschlichen Bedingungen, denen Russlanddeutsche in, zwischen und direkt nach den beiden Weltkriegen ausgesetzt waren. Zur Geschichte der Aussiedlerund Spätaussiedleraufnahme vgl. auch Hensen (2009). 8

Bundesvertriebenengesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. August 2007 (BGBl.I S. 1902), geändert durch Artikel 19 Abs. 1 des Gesetzes vom 12. Dezember 2007 (BGBl.I S. 2840).

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wissenschaftliche Interesse an den Russlanddeutschen, an ihrer Geschichte, ihrer Migration sowie ihrer Situation in der deutschen Gesellschaft. Fragen der Integration standen dabei im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. In der ersten Forschungsphase lag der Fokus hauptsächlich auf sozial schwächeren Bevölkerungsschichten mit bedeutsamen Integrationsschwierigkeiten. Bezüglich der sozialen Integration stellten die im Vorgängerband vorgestellten Studien vor allem Tendenzen zur Eigengruppenfavorisierung (vgl. Brüss 2006), zu binnenorientierten Netzwerkstrategien (vgl. Savoskul 2006, auch Bastians 2004) sowie zur Kolonienbildung (vgl. Retterath 2006) in den Vordergrund. Während zuerst quantitative und primär mit Integrationsfragen befasste Studien dominierten (Haug/Sauer 2007), sind in den letzten Jahren vermehrt qualitative Arbeiten (Rosenthal et al. 2011, Zinn-Thomas 2010) entstanden, die alltagsweltlichen und mikrosoziologischen Fragestellungen nachgehen. Mit der zunehmenden Erkenntnis der Integrationsschwierigkeiten rückten daher Fragen der Zugehörigkeit (Rosenthal et al. 2011, vgl. auch Kiel in diesem Band) und der Verortung am Herkunfts- und Ankunftsort in den Mittelpunkt des Interesses. Diese neueren qualitativen Studien ermöglichen detaillierte Einblicke zur Identitätsbildung, zur Heterogenität als Gruppe aufgrund alters- oder bildungsbedingter Unterschiede oder zum religiösen Leben (Weiß 2013).

E INMAL D EUTSCHLAND UND WIEDER R ÜCK - UND W EITERWANDERUNG

WEG :

In den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Russischen Föderation und der Republik Kasachstan vor der Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 kam es zu einer verstärkten Rückkehr von Spätaussiedlern, die im zweiten Themenblock thematisiert wird. Es trat ein, was politisch nicht angedacht war: Spätaussiedler, die einen privilegierten Status und staatliche Unterstützung erhalten hatten, machten in zunehmendem Maße kehrt, und zogen entweder in ihre Herkunftsgebiete zurück, oder wanderten weiter. In einem aktuellen Forschungsbericht des Bundesamtes für Migration und Entwicklung (BAMF) konstatieren die Autoren: »Zur Rück- und Weiterwanderung von (Spät-)Aussiedlern finden sich in der Literatur vereinzelte, aber nicht näher belegte Hinweise (Klekowski von Koppenfels 2008: 116) und insgesamt nur sehr wenige Beiträge (Schönhuth 2008a/b; Baraulina 2013), die insgesamt keine abschließende Beurteilung erlauben, ob es sich um ein quantitativ bedeutsames Phänomen handelt. Insbesondere existieren auch keine belastbaren Zahlenangaben, was

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hauptsächlich darin begründet liegt, dass (Spät-)Aussiedler in der deutschen Wanderungsstatistik nicht als solche identifizierbar sind. Sie gehen ohne weiteren Hinweis als deutsche Staatsangehörige in die Erhebungen ein. Daten zur Absicht von (Spät-)Aussiedlern und ihren Nachkommen, dauerhaft in Deutschland zu bleiben, sprechen allerdings gegen die Annahme einer starken Rückwanderung, insbesondere auch bei der jüngeren Generation.« (Worbs et al. 2013: 36)9

Dieser Einschätzung ist, bezogen auf die Masse der ca. 2,3 Mio. Spätaussiedler, im Prinzip zuzustimmen. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass rückkehrwillige Spätaussiedler in kommunalen Rückkehrberatungsstellen in den Hochzeiten der Rückwanderung (bis zur Weltwirtschaftskrise) teilweise die Mehrzahl der Beratungsfälle im Feld freiwilliger Rückkehr ausmachten, und damit enormen Beratungs- und Forschungsbedarf nach sich zogen, auf den die Politik nur zögerlich reagierte (Mattock, Schönhuth/Kaiser, Suppes in diesem Band).10 Die Migrationsentscheidung (sofern man von Entscheidung sprechen kann, denn nicht immer geschieht dieser Schritt freiwillig)11 wird sowohl von den Strukturen des Ziellandes als auch von denen des Herkunftslandes beeinflusst. Jedoch können sich diese sogenannten »Push und Pull-Push«-Faktoren, über einen längeren Zeitraum, auch in ihr Gegenteil verkehren. Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten im eurasischen Raum war die Emigration ein Weg, der wirtschaftlichen Not zu entkommen. Ein Vierteljahrhundert später sind einige post-sozialistische Staaten und Regionen wirtschaftlich dynamischer

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Siehe dazu auch Klekowski von Koppenfels (2009).

10 Diese Tendenz wird nicht nur durch die bei Worbs et al. (2013) aufgeführten Einzeluntersuchungen, sondern auch durch interne Statistiken von Beratungsstellen in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg gestützt, die in den Jahren 2007 bis 2009 mit jeweils mehreren hundert rückkehrwilligen Personen pro Jahr konfrontiert waren, aber auch durch Zahlen des Präsidenten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge: »Von 2000 bis 2006 kamen insgesamt 218.708 deutsche Zuwanderer aus der Russischen Föderation nach Deutschland. Dem stehen 13.661 Rückwanderer in diesem Zeitraum gegenüber« (Schmid 2009: 77). Die Angaben beziehen sich zwar nicht nur auf rückkehrende Spätaussiedler, diese dürften aber zweifelsohne die Mehrzahl der Rückkehrer ausgemacht haben. 11 Freiwillige Rückkehr hat in der Bundesrepublik Deutschland Vorrang vor einer zwangsweisen Rückführung. Zur Unterscheidung zwischen freiwilligen Rückkehr und einer zwangsweisen Rückführung im bundesdeutschen Kontext siehe Baraulina (2013: 13ff.) und speziell für die Rückführung in die Russische Föderation (Kaiser/Solovieva 2013).

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aufgestellt als westeuropäische und bieten ihrerseits Entfaltungsmöglichkeiten. Selbst die Russische Föderation wurde in diesen Jahren von einem Sende- zu einem Aufnahmeland mit einer entsprechend veränderten Migrationspolitik (vgl. Kaiser/Solovieva 2013). Dabei kehren (Spät-)Aussiedler nicht nur in ihre konkreten Heimatgebiete zurück (Russland, Kasachstan, in geringerem Maße Ukraine und Polen), sie wandern auch an andere Orte in ihren post-sozialistischen Kulturraum, und insbesondere in die wirtschaftlich prosperierenden städtischen Agglomerationen Russlands oder Kasachstans aus. Strukturellen Erklärungsansätzen folgend, lässt sich Remigration sowohl als Erfolgsgeschichte als auch als Scheitern im Aufnahmeland erklären (Currle 2006: 11). Cerase unterschied dementsprechend schon 1974 vier Typen von Rückkehrern12: 1. Return of failure: Hierbei konnte sich die Person nicht im Aufnahmeland integrieren bzw. nicht den Strukturen anpassen 2. Return of conservatism: Anpassung an den sozialen Kontext im Aufnahmeland war von Anfang an nicht geplant oder gewollt oder möglich 3. Return of retirement: Altersruhesitzmigration 4. Return of innovation: Umsetzung von im Aufnahmeland erworbenen Fähigkeiten zur Verwirklichung von Zielen im Herkunftsland Während der zweite Typ für die große Spätaussiedlerwelle der 1990er Jahre aufgrund der schon beschriebenen Faktoren13 nur in ganz spezifischen Fällen14 erklärungsmächtig ist, treten die Motive der Altersruhesitz-Rückmigration (Typ 3) und insbesondere das Gefühl des Misserfolgs bei den eigenen Integrationsanstrengungen bzw. der Akzeptanz durch die einheimische Gesellschaft (Typ 1) in zahlreichen Schilderungen von rückreisewilligen Spätaussiedlern in den Vordergrund. Sind es bei der Altersruhesitzmigration vor allem die älteren Jahrgänge, die – oft auch mit dem Gefühl des nie richtig Angekommen-Seins verbunden – eine Rückkehr in Erwägung ziehen (»Sterben in der Heimat«), so sind gerade bei

12 Vgl. Cerase, Francesco P. 1974: Expectations and reality: a case study of return migration from the United States to Southern Italy, in: International Migration Review 8: 245-262, zitiert nach Currle (2006: 11f.). 13 Politisch gewollt, ausgeprägt positive Aspiration der meisten Ausreisenden gegenüber dem einstmaligen »Vaterland« vor der Ausreise und zu Beginn des Aufenthaltes. 14 Z.B. eine genötigte oder nur widerwillig eingegangene Mitausreise als nichtdeutscher Ehepartner.

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Jüngeren enttäuschte Erwartungen und die subjektive Erfahrung des eigenen sozialen Abstiegs sowie fehlende Zukunftsperspektiven der Kinder wichtige Gründe für eine Umkehr: »Die Eindimensionalität der sozialen Kontakte (Beschränkung der Kontakte auf Verwandte oder russischsprachige Personen), aber auch die ökonomisch bedingten Einschränkungen bei der Auswahl der Wohnumgebung (Leben in »Ausländervierteln«) verstärkten die Wahrnehmung einer relativen Verschlechterung der eigenen sozialen Position in Deutschland. Besonders in Familien mit heranwachsenden Kindern entwickelten sich Ängste über die Bildungs- und Beschäftigungsperspektiven der Kinder in Deutschland.« (Baraulina 2013: 37)15

Neben den Migrationsverlierern gibt es auch den Typ der erfolgreichen Rückkehr. Bei ihr spielen die Orientierung an den vorhandenen Erwartungen bzw. Strukturen und das Nutzen von Synergien im Herkunftsland wie im Zielland eine entscheidende Rolle für die Entwicklung neuer Arbeits- und Lebensperspektiven. In der Bundesrepublik neu kennengelernte Geschäftsmodelle oder technische Innovationen werden dabei adaptiert und im Herkunftsraum aufgrund der intimen Ortskenntnis und noch vorhandener Kontakte erfolgreich implementiert. In Fällen, wo Bildungsabschlüsse aufgrund ihrer Nichtpassung und fehlender Nachschulungsangebote in Deutschland entwertet worden waren (z.B. Ärzte, Krankenschwestern, Juristen, Lehrer…), kommt es durch die Rückkehr teilweise zu einer Wieder-Inwertsetzung der alten Bildungstitel (vgl. Schönhuth/Kaiser in diesem Band). Andere Gunstfaktoren für eine erfolgreiche Rückkehr benannte jüngst Baraulina: »Gleichzeitig boten das Wirtschaftswachstum und die günstige Arbeitsmarktlage in Russland Anreize für eine Rückkehr. Lebhafte Kontakte zu Verwandten, Freunden und teilweise ehemaligen Kollegen im Herkunftsland unterstützten die Entscheidung zurückzukehren. Einem Teil der Befragten fiel der Rückkehrentschluss relativ leicht, weil sie in

15 Zwei quantitative Auswertungen von Beratungsfällen in Baden-Württemberg (Suppes 2008) und Nordrhein-Westfalen (Caritas 2010) förderten für Spätaussiedler unabhängig voneinander ein zwar nicht repräsentatives, aber doch überraschend kohärentes Bündel an Motiven für die Rückkehr an den Tag: Angeführt von Arbeitslosigkeit führt es über soziale Isolation, fehlende Berufsperspektiven, mangelnde Sprachkenntnisse, Statusverlust, Verschuldung, seelische und gesundheitliche Probleme bis hin zum drohenden oder schon erfolgten Zerfall des Familienverbandes.

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Russland noch Immobilien besaßen und somit die Kosten einer Rückkehr relativ niedrig waren.« (Baraulina 2013: 20)

Im Rahmen der Vorbereitung der Rückkehr wird auf der politischen Ebene auf die notwendige Kooperation des Ausgangs- und Ziellandes bei der Rückkehr hingewiesen. Jedoch müssen sich Rückkehrer häufig allein auf ihre soziale Unterstützung im Rückkehrkontext verlassen. »Eine Rückkehrentscheidung erfolgt selten anhand allgemeiner Informationen über die makroökonomischen, arbeitsmarkt- oder sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in den Herkunftsländern, die medial vermittelt oder durch staatliche Stellen bereitgestellt werden. Vielmehr stellt sich für die Betroffenen die Frage, inwiefern eigene Ressourcen und Kompetenzen in den lokalen Rückkehrkontexten verwertbar sind. Die Einschätzung der eigenen Partizipationschancen erfolgt aufgrund häufiger Aufenthalte in den Heimatorten und durch Kontakte zu Verwandten und Bekannten vor Ort. Die Bereitschaft von Freunden und Verwandten, Rückkehrer etwa bei der Versorgung der Kinder, bei der Wohnungsvermittlung oder beim Einstieg in den Arbeitsmarkt zu unterstützen, befördert einen Rückkehrentschluss.« (Baraulina 2013: 45)

Für den Erfolg und damit die Nachhaltigkeit der Rückkehr sind das Vorbereitetsein (»preparedness«, Cassarino 2004) und die in Wert setzbaren Ressourcen entscheidend. Diese Tatsache wird unter einer Genderperspektive besonders deutlich (vgl. Fenicia in diesem Band). Eine weitere, bisher noch wenig erforschte Option, ist die überwiegend ökonomisch motivierte Weiterwanderung nach Lateinamerika oder auch religiös motiviert nach Kanada sowie die Heiratsmigration bei deutschstämmigen Mennoniten in die USA.16

16 Ende des letzten Jahrzehnts wagten enttäuschte russlanddeutsche Spätaussiedler mit vorwiegend bäuerlichem Hintergrund, angelockt von günstigen Pachtpreisen, sogar den Sprung von Deutschland in die Steppengebiete des paraguayischen Gran Chaco (vgl. Neufeld GmbH 2008). Allerdings entpuppte sich diese Geschäftsidee eines Privatmannes als wenig seriös und das Projekt ging 2013 in betrügerische Insolvenz (Schönhuth/Kaiser in diesem Band).

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E INMAL ALLES D AZWISCHEN : P ENDELN UND T RANSNATIONALE L EBENSPROJEKTE Die vorangegangenen Betrachtungen haben gemeinsam, dass sie von einer dauerhaften Emigration aus einem Land bzw. einer Remigration als Endpunkt ausgehen. Die Akteure wandern, auf ein dauerhaftes Ziel hin ausgerichtet, von einem Nationalstaat in einen anderen, um sich letztendlich dauerhaft niederzulassen. Diesen ortsbezogenen Betrachtungsweisen wurde bereits im Vorgängerband die Perspektiven des kulturellen Pendelns und des Transnationalen hinzugefügt. Transnationale Betrachtungen bilden bezogen auf (Spät-)Aussiedler jedoch immer noch ein Forschungsdesiderat.17 Eine Ausnahme hierzu stellt die jüngst erschienene Anthologie »Rückkehr in die Fremde? Ethnische Remigration russlanddeutscher Spätaussiedler« dar, in der die Migrationsbewegungen der Russlanddeutschen aus den Perspektiven einer »transnationalen Existenzform« (Menzel/Engel 2014: 9) und einer international vergleichenden Migrationsforschung analysiert werden. Dabei stellt sich die Frage des Transnationalen aufgrund der doppelten Staatsangehörigkeit vieler Spätaussiedler in besonderer Weise. Glick Schiller prägte für Menschen, die sich in einem transnationalen Raum bewegen, den Begriff Transmigranten (Glick Schiller/Basch/Szanton Blanc 1995, siehe auch Glick Schiller/Basch/Szanton Blanc 1992). Und sie benennt fünf Typen mit unterschiedlichen Mobilitätsmustern: • • • • •

Zirkulierende Netzwerke von Migranten, die sich ständig zwischen Aufnahme- und Herkunftsland bewegen; Transmigranten in Grenzzonen mit multiplen Beziehungen, wobei nicht jedes Mitglied einer Transmigranten-Community tatsächlich mobil sein muss; Immigranten und ihre Nachfahren, die nur eine Art von Beziehung mit der Heimat aufrechterhalten (zum Beispiel nur auf der Familienebene); Immigranten und deren Angehörige, die keine transnationalen Beziehungen pflegen, jedoch an transnationalen Netzwerken indirekt teilnehmen; Immigranten und ihre Nachfahren oder Transmigranten, die im Alltag über verschiedene Kommunikationskanäle (Internet und sonstige Medien) Beziehungen mit der Herkunftsgesellschaft aufrechterhalten.

Russlanddeutsche konstruieren ihre Identitäten, indem sie ihre Raumbezüge entsprechend ihren Lebenssituationen kombinieren und so ihre Mehrfachzugehörig-

17 Zirkuläre Mobilität von jungen hochgebildeten Russlanddeutsche wird von Schmitz in diesem Band beschrieben.

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keit oder ihr »Zuhause-fremd-Sein« zur Geltung bringen. Eine Verengung auf die Lebenssituation im Einwanderungskontext wird der Komplexität des Migrationsprozesses und ihrer hybriden Identitätskonstruktionen dabei inzwischen immer weniger gerecht. Theoretisch wie methodologisch sind für diese »plurilokalen Lebensprojekte« (Kaiser 2006), bei denen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe nicht mehr räumlich fixiert ist, Netzwerkverfahren besonders anschlussfähig. Sie kommen in einigen Beiträgen in diesem Band explizit zum Einsatz (Sommer/Gamper, Fenicia, Schmitz, Sienkiewicz). Auf den ersten Blick überraschend ist dabei der Befund, dass transnationale Kontakte für viele (Spät-) Aussiedler nur eine untergeordnete Rolle zu spielen scheinen, was möglicherweise mit der häufig gemeinsamen Zuwanderung (Gamper/Fenicia 2013: 269f.), aber auch mit dem ausgeprägten Assimilationswunsch der Ausreisegeneration (»als Deutsche unter Deutschen zu leben«) erklärt werden kann. Ganz anders sieht das Bild für die Gruppe der transnational erfolgreich Agierenden aus, die ihre transnationalen Netzwerke recht souverän für ihre Lebens-, Arbeits- und Karriereprojekte einsetzen (Sommer/Gamper für Unternehmer, Savoskul und Schmitz für Bildungserfolgreiche in diesem Band). Während die »mitgenommene« ›Generation 1.5‹ der Kinder von ausreisenden Spätaussiedlerfamilien in den 1990ern noch vielfach mit Integrationsschwierigkeiten zu kämpfen hatten (vgl. z.B. Dietz et al. 1998; DBH-Bildungswerk 2003, Vogelgesang 2008), integriert sich die zweite Generation der hier geborenen Spätaussiedlerkinder, die immerhin schon einen Anteil von über 22% ausmachen, ausgesprochen gut, und unterscheidet sich habituell nur noch wenig von ihrem Peer-Umfeld. So hält das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung bei seinem großen Integrationsvergleich schon 2009 fest: »Positiv zu werten ist, dass in fast allen Bereichen und Gruppen die Generation der hier Geborenen besser abschneidet als die der Eltern. Die größten Fortschritte machen dabei die Aussiedler und die südeuropäischen Migranten. Deren nachwachsende Generationen dürften sich in einigen Jahrzehnten weitgehend in der hiesigen Kultur und Gesellschaft auflösen.« (2009: 7)

Die Integration der (Spät-)Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland kann aufgrund der heute vorliegenden statistischen Daten und Forschungsergebnisse insgesamt als Erfolgsgeschichte gewertet werden. So haben (Spät-)Aussiedler im Vergleich mit anderen Zuwanderergruppen »...am häufigsten langfristige Zukunftspläne für ein Leben in Deutschland, sind zufriedener mit ihrer Lebenssituation und beurteilen das Integrationsklima – auch im Vergleich mit der Mehrheitsbevölkerung – überdurchschnittlich häufig positiv« (Worbs et al. 2013: 11).

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Insbesondere für die ethnologische und soziologische Migrationsforschung ist die (Spät-)Aussiedlermigration gleichwohl ein Forschungsfeld, an dem sich Besonderheiten wie generelle Erkenntnisse zu Lebensprojekten von Menschen in Bewegung besonders gut nachvollziehen lassen.

L ITERATUR Baraulina, Tatjana (2013): Einführung – Rückkehr aus Deutschland. Zentrale Ergebnisse einer Befragung von Rückkehrern in der Türkei, Georgien und der Russischen Föderation, in: Tatjana Baraulina/Axel Kreienbrink (Hg.), Rückkehr und Reintegration. Typen und Strategien an den Beispielen Türkei, Georgien und Russische Föderation. Beiträge zu Migration und Integration, Band 4, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, S. 7-82. Basch, Linda/Glick Schiller, Nina/Szanton Blanc, Christina (1994): Nations Unbound: Transnational Projects, Postcolonial Predicaments and Deterritorialized Nationstates, London/New York: Routledge. Bastians, Frauke (2004): Die Bedeutung sozialer Netzwerke für die Integration russlanddeutscher Spätaussiedler in der Bundesrepublik Deutschland, Bissendorf: Methodos. Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2009): Ungenutzte Potenziale. Zur Lage der Integration in Deutschland, http://www.berlin-institut.org/file admin/user_upload/Zuwanderung/Integration_RZ_online.pdf vom Januar 2009. Brüss, Joachim (2006): Miteinander oder Nebeneinander? Zum Einfluss von Akkulturationspräferenzen und Eigengruppenfavorisierung, in: Sabine IpsenPeitzmeier/Markus Kaiser (Hg.), Zuhause fremd – Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland, Bielefeld: transcript, S. 63-86. Caritas (2010): Nachhaltige Integration stärken. Entscheidungshilfen bei der möglichen Rückkehr von Spätaussiedlern und ihren Familienangehörigen, http://caritas-unna.de/Abschlussbericht%20und%20Handlungsempfehlung% 20Dokumentation%20der%20Beratungserfahrungen.pdf vom12.09.2014. Cassarino, Jean-Pierre (2004): Theorising return migration: The conceptual approach to return migrants revisited, in: International Journal on Multicultural Societies 6, S. 253-279. Currle, Edda (2006): Theorieansätze zur Erklärung von Rückkehr und Remigration, http://www.gesis.org/Information/soFid/pdf/Migration_2006-2.pdf vom Februar 2006.

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Lebensprojekte mit dem Fokus in und auf Deutschland

»Ich versteh das immer noch nicht.« Belastende Vergangenheiten und brüchige Zugehörigkeiten von Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion N IKLAS R ADENBACH UND G ABRIELE R OSENTHAL

E INLEITUNG Die von uns durchgeführten Forschungsprojekte1 zu Familien von ethnisch Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion konzentrierten sich insbesondere auf die Frage nach der Bedeutung der Familienvergangenheiten vor der Migration für die Gegenwart dieser Familien in Deutschland. Wir wollten untersuchen, ob und inwiefern sich der familiale Umgang mit der kollektiven und familialen Vergangenheit auf das heutige Leben ihrer Angehörigen auswirkt. Auf der Grundlage von biografisch-narrativen Interviews2, Gesprächen in Familien, Experteninterviews, historischem Quellenstudium und teilnehmenden Beobachtungen rekon-

1

Diese von der DFG geförderte Forschung, der eine zweijährige, durch das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland finanzierte Pilotstudie vorausging (Rosenthal 2005), wurde unter der Leitung von Gabriele Rosenthal von 20072011 durchgeführt. Neben Niklas Radenbach waren Viola Stephan, Irina Fefler, Sonja Owusu Boakye und Marieke Ulrich daran beteiligt.

2

Insgesamt führten wir mit 90 Personen (53 Frauen und 37 Männer) in meist zwei oder drei Gesprächen familien- und lebensgeschichtliche Interviews. Davon lebten 53 in Deutschland. Weitere 16 Personen interviewten wir in Kasachstan, 18 in der Ukraine und drei in Kirgisien. Neben diesen Interviews lagen uns Transkripte und Tonbandaufnahmen von weiteren 20 Interviews vor, die von TeilnehmerInnen unserer Lehrveranstaltungen an der Universität Göttingen geführt wurden. Meist handelte es sich dabei um Angehörige der Generation der EnkelInnen.

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struierten wir – soweit es möglich war – die jeweilige Familiengeschichte, untersuchten die gegenwärtigen Diskurse über die kollektive Vergangenheit in den unterschiedlichen (Teil-)Gruppierungen von ethnisch Deutschen, die Lebenswege der Angehörigen der Generation der Großeltern, der Eltern und der Kinder sowie den jeweiligen Familiendialog. In unseren Interviews und den darauf basierenden Fallrekonstruktionen3 wurde sehr deutlich, dass in der Gruppierung ethnisch Deutscher verschiedene, stark verfestigte Mythen über ihre Geschichte existieren, die mit Umschreibungen der kollektiven und familialen Vergangenheit verbunden sind und sich auf die nach 1941 Geborenen überaus belastend auswirken. Einer unserer zentralen Befunde ist, dass die Verunsicherung und gegenwärtigen Probleme, insbesondere in der Generation der Kinder bzw. Enkel in diesen Familien, keineswegs nur durch prekäre Lebenssituationen in der Bundesrepublik Deutschland, verhinderte Ausbildungskarrieren oder die soziale Erwartung einer eindeutigen ethnischen oder nationalen Selbstdefinition bedingt sind. Vielmehr spielen hierfür die Familiengeschichte und der gegenwärtige Umgang mit dieser Geschichte eine wesentliche Rolle. Die gegenwärtigen Probleme und das Erleben von brüchigen Zugehörigkeiten sind auch durch die mehrfache Umschreibung und Verleugnung von Anteilen der Familienvergangenheit sowie durch daraus resultierende Inkonsistenzen der tradierten Familiengeschichte bedingt. Als wir im Jahr 2005 mit unserer Forschung begannen, hatten wir über die Geschichte der Deutschen in der Sowjetunion ein ähnlich homogenes Bild, wie es uns teilweise in der wissenschaftlichen Literatur und dann vor allem auch in unseren Interviews vermittelt wurde. Dieses vereinheitlichende Bild der Kollektivgeschichte bezieht sich insbesondere auf die Kollektivverurteilung im Jahr 1941, die Deportationen nach Sibirien und Zentralasien, aber auch auf spätere Diskriminierungserfahrungen bis zum Ende der Sowjetunion. Umso irritierter waren wir, dass bereits in den ersten von uns geführten Interviews die Familienvergangenheiten der Befragten nicht mit diesem Bild übereinstimmten, obwohl auch sie ihre Geschichten in dessen Rahmen zu zwängen versuchten. Manche InterviewpartnerInnen bauten auch nur solche familiengeschichtlichen Anteile erzählerisch aus, die dem kollektiven Wir-Bild entsprechen – sei es z.B. durch die ausführliche Thematisierung der Familiengeschichte von angeheirateten Familienangehörigen. Zunächst nahmen wir an, dass es sich bei den Abweichungen vom etablierten Wir-Bild der 1941 deportierten Familien um einzelne, besondere

3

Die Fallebene, auf die sich dieser Artikel bezieht, ist nicht die einzelne Biografie, sondern die Familie.

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und ungewöhnliche familiengeschichtliche Verläufe handelte. Von Interview zu Interview waren wir jedoch immer überraschter, welch unterschiedliche familienbiografische Verläufe zu beobachten sind, von denen wir bis dahin nur wenig wussten. Zum Teil mussten auch unsere Befragten selbst nach ihrer Migration nach Deutschland die Entdeckung machen, dass ihre Familiengeschichten anders verlaufen waren, als sie es im familialen Dialog erlernt hatten. Dies produzierte bei vielen von ihnen Verunsicherungen, führte zu Schwierigkeiten im Familiendialog und machte es notwendig, neue Erklärungen für das Handeln ihrer Eltern oder Großeltern zu suchen. Ausgehend von den bisherigen Überlegungen, werden wir im Folgenden zunächst genauer auf das homogenisierende Wir-Bild und das mit ihm verknüpfte kollektive Gedächtnis4 eingehen, auf die die InterviewpartnerInnen immer wieder rekurrierten. Anschließend diskutieren wir die verschiedenen familiengeschichtlichen Verläufe, die teilweise in erheblichem Widerspruch dazu stehen. Des Weiteren möchten wir anhand des Fallbeispiels einer von uns interviewten Familie verdeutlichen, wie nicht bearbeitete Bestandteile der Familiengeschichte, die sich nicht in das bei den sogenannten Russlanddeutschen dominierende homogenisierende Wir- und Geschichtsbild zwängen lassen, zu Fragen und Unsicherheiten bei den Nachgeborenen führen und sich belastend auf deren Gegenwart auswirken.

D AS HOMOGENISIERENDE W IR -B ILD UND VERSCHIEDENE FAMILIENGESCHICHTLICHE V ERLÄUFE Das im kollektiven Gedächtnis (vor-)herrschende homogenisierende Wir-Bild, das in den Interviews mit ethnisch Deutschen durchgängig bedient und auch in der familialen Interaktion immer wieder reproduziert wird, kann verhältnismäßig leicht mit vier zentralen Bestandteilen5 umschrieben werden:

Teil 1: Wir wurden 1762/63 von Katharina der Großen nach Russland eingeladen Teil 2: Fast alle Russlanddeutschen lebten bis 1941 in den europäischen Regionen der Sowjetunion

4

Zu einer sozialkonstruktivistisch-biografietheoretischen Konzeption von individuel-

5

Vgl. zu Folgendem ausführlich Rosenthal/Stephan/Radenbach (2011: 58ff.).

lem Erinnern und kollektiven Gedächtnis vgl. Rosenthal (2010).

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Teil 3: 1941 wurden fast alle Deutschen infolge der Kollektivverurteilung in den asiatischen Teil der UdSSR deportiert, und die Männer, manchmal auch die Frauen, kamen in die sogenannte Trudarmee (»Arbeitsarmee«)6 Teil 4: Bis zur Ausreise nach Deutschland wurden wir in der Sowjetunion oft diskriminiert Kritisch hinterfragt sei zunächst die im kollektiven Gedächtnis sehr dominant vertretene Annahme, fast alle ethnisch Deutschen hätten bis zum Jahr 1941 in europäischen Regionen der Sowjetunion gelebt. In den von uns geführten Interviews wird in diesem Zusammenhang immer wieder auf deutsche Siedlungen in der Ukraine und insbesondere im Wolga-Gebiet rekurriert. Diese Fokussierung auf dezidiert europäische Gebiete ist insofern bemerkenswert, da Berechnungen zufolge im Jahr 1926 bereits 11% der in der Sowjetunion lebenden Deutschen in asiatischen Regionen siedelten (vgl. Dietz 1995: 343f.). Viele von ihnen waren zur Erschließung neuer landwirtschaftlicher Flächen aus der Ukraine und dem Wolga-Gebiet dorthin migriert, oftmals handelte es sich um streng religiöse Familien (vgl. Mukhina 2007: 16). Bis 1941 folgten weitere Umsiedlungen in den asiatischen Teil, in vielen Fällen nun allerdings erzwungen, im Kontext der Zwangskollektivierung Ende der 1920er sowie der stalinistischen Verfolgung der 1930er Jahre (ebd.: 35ff.). Da es sich aus Statistiken erschließen lässt, dass ca. 30% der damals in der Sowjetunion lebenden ethnisch Deutschen in asiatischen Regionen bereits vor den Deportationen von 1941 ansässig waren,7 stellt sich die Frage, warum sich unsere Interviewten bei der Darstellung der Geschichte bis 1941 dennoch so ausgeprägt auf Ansiedlungen ethnisch Deutscher in europäischen Gebieten konzentrieren. Wir gehen davon aus, dass dies mit dem dritten Bestandteil der vorherrschenden Version des kollektiven Gedächtnisses in Verbindung steht, der besagt, dass fast alle ethnisch Deutschen im Zusammenhang mit der Kollektivverurteilung vom August 1941 in den asiatischen Teil der Sowjetunion deportiert worden seien (vgl. Rosenthal/Stephan/Radenbach 2011: 58ff.). Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auch auf Erfahrungen des kollektiven Leidens ethnisch Deutscher in der »Trudarmee« rekurriert, in der sie Zwangsarbeit leisten mussten. Es geht uns keineswegs darum, die unerträglichen Grausamkeiten und extrem traumatisierenden Folgen von Deportationen und Zwangsarbeit (vgl.

6 7

Russisch: Ɍɪɭɞɨɜɚɹ ɚɪɦɢɹ Trudowaja armija. Vgl. zur Berechnung dieser Zahl auf Grundlage von quantitativen Daten aus Dietz/ Hilkes (1993: 23) und Brandes (1993: 129) Rosenthal/Stephan/Radenbach (2011: 62).

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dazu insbes. Stephan 2011: 71ff.) für die betroffenen Personen zu relativieren. Allerdings erfüllt die starke diskursive Fokussierung auf die Deportationen von 1941 zumindest teilweise auch die Funktion, die Gruppierung ethnisch Deutscher pauschal als ein homogenes Kollektiv von schuldlosen Opfern zu konstruieren.8 Hiermit korrespondiert, dass Interviewte immer wieder sehr darum bemüht sind, solche Migrationen zu verschweigen, die vor 1941 stattgefunden hatten, insbesondere wenn es sich bei diesen nicht um Deportationen, sondern um selbst gewählte Migrationen handelte (vgl. Rosenthal/Stephan/Radenbach 2011: 60ff.).9 Andernfalls würden sie den äußerst wirkmächtigen Mythos in Frage stellen, ethnisch Deutsche seien im Jahr 1941 fast vollständig als ethnische Gruppierung verbannt worden und anschließend alle für einige Jahre den unmenschlichen Leiden der Trudarmee ausgesetzt gewesen.10 Die starke Fokussierung des kollektiven Gedächtnisses auf die Deportationen des Jahres 1941 geht nicht nur mit einer Vernachlässigung von bereits vorher erfolgten Migrationsbewegungen einher, sondern ermöglicht auch ein Ausblenden von Ereignissen, die während des Zweiten Weltkrieges in den westlichen Teilen der Sowjetunion stattgefunden haben (vgl. Rosenthal/Stephan/Radenbach 2011: 60ff.). So zeigt eine genauere Untersuchung, dass die Deportationen des Jahres 1941 vorwiegend ethnisch Deutsche betrafen, die im Wolga-Gebiet siedelten (vgl. Pinkus/Fleischhauer 1987: 304ff.; Mukhina 2007: 41ff.). In Bezug auf die in der Ukraine ansässige deutsche Bevölkerung sind hingegen Differenzierungen erforderlich. Insbesondere von der Halbinsel Krim kam es bereits 1941 zu Deportationen, teilweise auch aus anderen Gebieten der östlichen und südlichen Ukraine. Mehrere Gebiete wurden jedoch 1941 von deutschen und teilweise auch von rumänischen Truppen okkupiert, bevor die sowjetischen Behörden von dort überhaupt Deportationen infolge der Kollektivverurteilung vornehmen konnten (ebd.). In den Folgejahren lebte die dort ansässige deutsche Bevölkerung unter nationalsozialistischer Besatzung. Die weit überwiegende Mehrheit von ihnen migrierte während oder gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in das deutsche Reichsgebiet, von wo aus viele erst in den Jahren 1946/47 in den asiati-

8

Vgl. zur Relevanz von Opfererfahrungen für das Familiengedächtnis und die Selbstde-

9

Vgl. zu dem Fallbeispiel einer bereits vor 1941 in den asiatischen Teil der Sowjet-

finition als Deutsche u.a. Kiel (2009: 177) und in diesem Band. union migrierten Familie: Stephan/Rosenthal (2011: 105ff.). 10 Die Trudarmee existierte von 1941-46. Besonders umfangreiche Zwangseinziehungen fanden ab 1942 statt, die zunächst ausschließlich Männer im Alter von 17 bis 50 Jahren betrafen, dann aber nach wenigen Monaten auch auf Frauen und jüngere Männer erweitert wurden. Vgl. hierzu die differenzierte Darstellung bei Krieger (2010).

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schen Teil der Sowjetunion deportiert wurden (vgl. Pinkus/Fleischhauer 1987: 284ff.; Mukhina 2007: 48ff.).11 Wesentlich ist, dass die Fokussierung des kollektiven Gedächtnisses auf die Deportationen von 1941 ermöglicht, nicht über diskreditierbare Handlungen und Ereignisse sprechen zu müssen, die während der Jahre 1941-44 in den nationalsozialistisch besetzten Regionen der Sowjetunion stattfanden. So wurden die dort lebenden ethnisch Deutschen durch die Präsenz deutscher und teilweise auch verbündeter rumänischer Truppen plötzlich in die Position von »Etablierten« im Sinne von Elias/Scotson (1993) versetzt und gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen privilegiert. Vielen ethnisch Deutschen wurde in dieser Zeit Eigentum von ermordeten Juden und Roma übereignet, nicht wenige wurden Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen und beteiligten sich an Verbrechen gegen die Menschlichkeit (vgl. Bergen 1994; Buchsweiler 1984: 364ff.; Lower 2005: 168; Steinhart 2009). Das bis heute andauernde Schweigen über diese Ereignisse lässt sich leicht nachvollziehen und hat verschiedene Gründe bzw. Funktionen. Ein besonders wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang die repressive Politik der Sowjetunion, die das Sprechen über vormalige Kollaborationsbeziehungen zu den Nationalsozialisten wie auch die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft überaus gefährlich machte.12 Interessanterweise konnten in den betreffenden Familien Erinnerungen an die Jahre 1941-45 im Zuge der Einwanderung in die Bundesrepublik in den 1990er Jahren dennoch manchmal wieder reaktiviert und ggf. als Beleg für die deutsche Herkunft herangezogen werden (vgl. Radenbach/Rosenthal/Stephan 2011: 142). So begannen einige unserer InterviewpartnerInnen erst im Kontext von Überlegungen zu einer möglichen Auswanderung, sich mit den in ihren Familien nur sehr diffus tradierten Migrationen in das deutsche Reichsgebiet in den Jahren 1941-45 zu beschäftigen. Mehrere von ihnen fanden heraus, dass sie selbst immer noch über die damals erworbene deutsche Staatsangehörigkeit verfügen und deshalb nach deutschem Recht nicht als (Spät-)AussiedlerInnen gelten können. Wie wir am Fallbeispiel der Familie Gertzer noch aufzeigen werden, bedeutet eine Reaktivierung von bestimmten diskreditierbaren Bestandteilen der Fami-

11 Aus Daten von Pinkus/Fleischhauer (1987: 284ff.) lässt sich errechnen, dass zwischen Oktober 1943 bis Juli 1944 mindestens 320.000 ethnisch Deutsche die damals besetzten Gebiete der Sowjetunion in Richtung des deutschen Reiches verließen. 12 Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass der Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit einen Antrag voraussetzte, der eine dezidierte Willenserklärung seitens der Antragsstellenden war, von nun an nicht länger BürgerIn der Sowjetunion, sondern des deutschen Reiches zu sein.

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liengeschichte in der Regel jedoch nicht, dass die Angehörigen versuchten, ihr brüchiges und inkonsistentes Wissen nachhaltig aufzuklären. Das Aufdecken einer im Hinblick auf eine mögliche Kollaboration mit den Nazis belastenden Familienvergangenheit wird auch nach der Migration nach Deutschland emotional als zu bedrohlich erlebt – ähnlich wie in Familien von NS-Tätern oder Nationalsozialisten aus Deutschland (vgl. Rosenthal 1997: Kap. 5). Dies führt immer wieder zu nachlässigen, diffusen Reinterpretationen von familiengeschichtlichen Daten, die die betreffenden Personen erst im Kontext der Migration in die Bundesrepublik ausfindig machten oder Kenntnis davon erlangten (vgl. Rosenthal 2011b: 26-27). Nachdem beispielsweise eine Interviewpartnerin erfahren hatte, dass ihre Mutter während des Zweiten Weltkrieges mit ihr in das deutsche Reichsgebiet eingewandert war, konstruierte sie daraus den Sachverhalt, ihre Mutter sei eine Zwangsarbeiterin gewesen und die damalige Migration in das Reichsgebiet sowie der Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit gegen ihren Willen geschehen. In weiteren Familien gestalteten sich die uns dargelegten Familiengeschichten noch deutlich anders und teilweise auch diffuser als die uns bis dahin bekannten Verläufe. So führte z.B. Sonja Owusu Boakye (2011: 168ff.) Interviews in einer Familie, die unserer Analyse zufolge Ende des Zweiten Weltkrieges für zwei Jahre in der Ukraine untertauchte und dann erst nach Kasachstan deportiert wurde. Niklas Radenbach traf in der Ukraine auf mehrere ethnisch Deutsche, die zwischen 1920 und 1940 geboren, jedoch nie im Verlauf ihres Lebens deportiert wurden (Radenbach 2011: 218ff.). Überdies wurde in unserer Untersuchung deutlich, dass das Sprechen über Diskriminierungen in der Sowjetunion auch dazu dienen kann, positive Erfahrungen und gegebenenfalls die eigene Identifikation mit dem staatlichen System der Sowjetunion zu kaschieren (vgl. Rosenthal/Stephan/Radenbach 2011: 5455). Die feinanalytische Auswertung verschiedener Interviewpassagen wie auch die berufsbiografischen Verläufe mancher InterviewpartnerInnen verdeutlichen, dass sich insbesondere unter den 1950er und 60er Jahrgängen nicht wenige in einem beträchtlichen Grad mit dem sowjetischen Sozialismus identifizierten (vgl. Fefler/Radenbach 2009). Der Umstand, dass die betreffenden Personen sich uns gegenüber dennoch sehr darum bemühten Diskriminierungserfahrungen herauszustellen, lässt sich auch auf Diskurse in der deutschen Aufnahmegesellschaft zurückführen. So gilt eine Identifikation mit der Sowjetunion in Deutschland gemeinhin als sozial unerwünscht (vgl. Darieva 2006: 355). Bereits während des Aufnahmeverfahrens zur Anerkennung als SpätaussiedlerInnen werden AntragsstellerInnen »sozialisiert«, sich auf Benachteiligungen zu berufen, die sie als Deutsche in der Sowjetunion erlitten haben (vgl. Darieva 2006: 354; Reitemeier

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2006: 229; Rosenthal 2005).13 Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass Diskriminierungserfahrungen zu einem festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses geworden sind, während positive Deutungen des Lebens in der Sowjetunion vermieden oder verheimlicht werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich das Wir-Bild und kollektive Gedächtnis ethnisch Deutscher durch die genannten zentralen vier Bestandteile auszeichnet, mit denen sich die von uns interviewten BiografInnen positiv oder negativ, bestätigend oder ablehnend auseinandersetzen müssen. Auch wenn sie immer wieder versuchen, ihre Familien- und Lebensgeschichten so zu präsentieren, dass sie mit dem kollektiven vorherrschenden Wir-Bild möglichst kompatibel sind, werden bei genauerer Betrachtung starke Heterogenitäten in den tatsächlichen Verläufen deutlich.14 Wir gehen von mindestens fünf strukturell verschiedenen Typen von Familienvergangenheiten bzw. Gruppierungen von ethnisch Deutschen aus, die mit spezifischen Folgen für die Gegenwart der Nachgeborenen verbunden sind (vgl. Rosenthal/Stephan/Radenbach 2011: 64):

 • • • • •

Typus 1: 1941 – Trudarmee und Verbannung Typus 2: Vor 1941 Migration oder Deportation in den asiatischen Teil der Sowjetunion Typus 3: Ab 1941 Leben unter deutscher Okkupation in der Ukraine Typus 4: Migration ins deutsche Reichsgebiet Typus 5: Nicht deportiert aus den europäischen Regionen oder frühzeitig dorthin remigriert

In unseren weiteren Ausführungen möchten wir uns auf ethnisch Deutsche konzentrieren, die dem Verlaufstypus 2 und 3 entsprechen, d.h. unter nationalsozialistischer Besatzung lebten und in das deutsche Reichsgebiet migrierten, von wo aus die Deportation in den asiatischen Teil der Sowjetunion erfolgte. Wie bereits

13 Hintergrund hierfür ist, dass AntragstellerInnen im Rahmen der Aufnahmeverfahren ihre deutsche »Volkszugehörigkeit« im Sinne des §6 Bundesvertriebenengesetzes nachweisen müssen. In §5 Nr. 2 b) desselben Gesetzes ist bemerkenswerterweise festgelegt, dass ethnisch Deutsche, die bedeutende Funktionen zur »Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems« hatten, ein Aufnahmebescheid verweigert werden kann. Hierzu zählen z.B. ehemals aktive Mitglieder der kommunistischen Partei oder auch Polizisten (vgl. Darieva 2006: 356). 14 Dies wird u.a. auch von Irina Mukhina (2007) hervorgehoben, die betont, dass schon der Ausdruck »Russlanddeutsche« eine Homogenisierung von historisch sehr unterschiedlichen Gruppierungen darstellt (Mukhina 2007: 7).

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angedeutet, können die damit verbundenen familiengeschichtlichen Erfahrungen die nachfolgenden Generationen sehr beschäftigen und ihre lebensgeschichtlichen Wahlentscheidungen sowie ihre biografischen Verläufe unbewusst bestimmen. Dies gilt umso mehr, wenn die Kinder und Enkel vor der Frage stehen, ob einer oder mehrere der ihnen nahestehenden Angehörigen sich an den Kriegsverbrechen oder den Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zweiten Weltkrieg beteiligt haben.

L EBEN UNTER NATIONALSOZIALISTISCHER B ESATZUNG UND M IGRATION IN DAS DEUTSCHE R EICHSGEBIET Unsere Befunde zeigen, dass sich in Familien, die zu den Verlaufstypen 2 und 3 gehören, die gegenwärtige Erinnerung an das Leben unter nationalsozialistischer Besatzung und an die Migration in das deutsche Reichsgebiet sehr ambivalent gestaltet (vgl. Radenbach/Rosenthal/Stephan 2011: 142ff.). So war es – wie bereits erwähnt – in der Sowjetunion äußerst heikel, über diese Themen zu sprechen, da sich die betreffenden Personen schnell dem Vorwurf ausgesetzt sahen, sie hätten mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet. Dies galt umso mehr, wenn sie während des Zweiten Weltkrieges nicht nur in den von Deutschland besetzten Gebieten gelebt hatten, sondern auch noch in das deutsche Reichsgebiet ausgewandert waren und auf Antrag die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatten. Das auf diesen familiengeschichtlichen Daten lastende jahrzehntelange Schweigegebot wirkt auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fort. Andererseits wird das Leben unter nationalsozialistischer Besatzung im Familiengedächtnis durchaus als Phase der Stabilität erinnert, die auch mit dem Status des Etabliert-Seins verbunden ist (vgl. Radenbach/Rosenthal/Stephan 2011: 143). Dies zeigt sich insbesondere in den Interviews, die Niklas Radenbach mit ethnisch Deutschen in der Ukraine geführt hat. Hier wird immer wieder argumentiert, mit dem Einmarsch deutscher und rumänischer Truppen sei eine Zeit der Repression zu Ende gegangen, auch hätten sich die materiellen Lebensbedingungen für ethnisch Deutsche während der Besatzung erheblich verbessert. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass es eine vormalige Migration in das deutsche Reichsgebiet in der Regel einfacher machte, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in die Bundesrepublik einwandern zu können. Nicht zuletzt war es den betreffenden Personen relativ unkompliziert möglich, gegenüber dem Bundesverwaltungsamt die deutsche Staatsangehörigkeit nachzuweisen, die sie im Zuge der Umsiedlung in das deutsche Reichsgebiet erhalten hatten. Auch konn-

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ten Kinder oder Enkel im Aufnahmeverfahren davon profitieren, wenn ihre Vorfahren während des Zweiten Weltkrieges in das deutsche Reichsgebiet migriert oder in nationalsozialistischen Organisationen aktiv waren, da sich solche Daten gut als Belege für den deutschen Familienhintergrund verwenden ließen (vgl. Gauß 2005: 178). Insgesamt kam es deshalb im Kontext des Aufnahmeverfahrens und der sich anschließenden Migration immer wieder zu einer Reaktivierung von diffus tradierten Wissensbeständen und Fantasien sowie zur verstärkten Mythenbildung über die Situation und das Handeln von Familienangehörigen während des Zweiten Weltkrieges. Dies verdeutlicht auch das Fallbeispiel der Familie Gertzer, das wir im Folgenden genauer vorstellen möchten.

DAS FALLBEISPIEL DER FAMILIE GERTZER15 In der Familie Gertzer konnten wir mit vier Angehörigen biografisch-narrative Interviews führen.16 Der Kontakt zu der Familie kam über die Tochter Nina Hertz (Jg. 1978) zustande, die wir über ihre Tätigkeit als Deutschlehrerin in einem Sprachkurs für MigrantInnen aus der ehemaligen Sowjetunion kennengelernt hatten. Ninas Bemühungen darum, verschiedene Familienangehörige und dabei an erster Stelle ihren Vater von uns interviewen zu lassen, ist unserer Einschätzung nach nicht zufällig begründet. Vielmehr manifestierte sich darin ihr Wunsch, bestimmte Fragen klären zu wollen, die sich für sie im Hinblick auf ihre Familiengeschichte väterlicherseits stellten. Nach einem Interview mit ihrem Vater Eberhard (Jg. 1955) wurde auch Ninas Mutter Helene (Jg. 1958) und schließlich Nina selbst interviewt. Im Unterschied zu den anderen Familienmitgliedern gestaltete sich die Kontaktaufnahme zu Ninas Tante Agathe (Jg. 1945)

15 Aus Gründen des Datenschutzes sind alle im Folgenden genannten Namen wie auch weitere Personenangaben maskiert. Die folgenden Ausführungen zur Familie Gertzer basieren in großen Teilen auf der ausführlichen Darstellung in Radenbach/Rosenthal/Stephan (2011: 141ff.). Zum Verfahren der Auswertung von biografischen Interviews vgl. Rosenthal (2011a: Kap. 6). 16 Zwischen April und Juli 2007 wurden Eberhard Gertzer (Jg. 1955), seine Ehefrau Helene (Jg. 1958) sowie die gemeinsame Tochter Nina (Jg. 1977) in deutscher Sprache interviewt. Das erste Gespräch mit Eberhard Gertzer führten Viola Stephan und Niklas Radenbach, das zweite Gespräch mit ihm führten Viola Stephan und Sven Rickert. Helene Gertzer wurde von Niklas Radenbach, Nina Gertzer und von Viola Stephan interviewt. Das Interview mit Eberhard Gertzers Schwester Agathe (Jg. 1945) wurde im April 2009 (ebenfalls in deutscher Sprache) von Viola Stephan geführt.

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als schwierig. Obwohl uns Agathe ihren Wunsch zu einem Gespräch versichert hatte, verschob sie mehrere vereinbarte Interviewtermine. Nur aufgrund des wiederholten Insistierens unserer Kollegin Viola Stephan konnte nach anderthalb Jahren schließlich ein Gespräch mit ihr stattfinden. Weitere Interviews mit anderen Familienangehörigen kamen nicht mehr zustande – trotz unserer wiederholten Versuche und den teilweise bekundeten Absichtserklärungen, uns bei diesem Anliegen zu unterstützen. Um die in der Familie Gertzer deutlich werdende Ambivalenz in Bezug auf die Interviews erklären zu können, sei zunächst auf einige familiengeschichtliche Daten verwiesen. Die Eltern von Eberhard und Agathe, der Uhrmacher Rudolf Gertzer und seine Frau Elvira, wohnten vor dem Zweiten Weltkrieg in dem Gebiet Wolhynien in der Nordwestukraine. Zwischen 1941 und 1944 lebte die Familie Gertzer in verschiedenen Orten der Ukraine und Weißrusslands unter deutscher Besatzung. Der Vater Rudolf wurde höchstwahrscheinlich Mitglied in der SS – und nicht wie in der Familie dargestellt Mitglied in der Wehrmacht – und beteiligte sich am Völkermord an den Juden – darauf deuten vor allem die Interviews mit Eberhard und Agathe stark hin. Anschließend migrierte Rudolf mit seiner Frau und seinem 1941 geborenen Sohn Manfred über den Warthegau in das deutsche Reichsgebiet. Kurz nach Kriegsende 1945 wurde dann Tochter Agathe geboren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Familie nach Nordkasachstan deportiert, hier folgten die Geburten von Heinrich (Jg. 1949), Elisabeth (Jg. 1953) und Eberhard (Jg. 1955). Wie die meisten ethnisch Deutschen blieb die Familie Gertzer auch nach der Auflösung der Sondersiedlungen in Kasachstan wohnhaft. Eberhard lernte hier seine Frau Helene kennen, die ebenfalls ethnisch Deutsche ist und deren Eltern bereits 1941 aus dem Wolga-Gebiet nach Kasachstan deportiert worden waren. Im Jahr 1977 zogen sie in eine Kleinstadt in den Süden des Landes. Hier kam 1978 ihre Tochter Nina und 1982 ihr Sohn Alexander zur Welt. Im Jahr 1992 migrierte die Familie nach Deutschland. Rudolf Gertzer war bereits vorher, im Jahr 1987 oder 1988, verstorben.17 Ein paar Jahre zuvor war er mit seiner Frau Elvira – Eberhards Mutter – zu Eberhard, Helene und dessen Kindern nach Südkasachstan gezogen. Basierend auf unserer Analyse gehen wir davon aus, dass vor allem die Mitgliedschaft Rudolf Gertzers in der SS sowie die Migration und das Leben im deutschen Reichsgebiet ausschlaggebend für die beschriebene Ambivalenz bei den Angehörigen der Familie Gertzer ist, sich von uns über ihre Familiengeschichte interviewen zu lassen. Immer wieder wird deutlich, wie sehr sie damit beschäftigt sind, Deutungen für das Handeln Rudolf Gertzers während der Jahre

17 Zu dem Todesjahr liegen uns widersprüchliche Angaben vor.

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1941-45 zu finden und mit der Frage zu ringen, ob sie bestimmte Mutmaßungen aussprechen oder besser verschweigen sollen. Vielleicht aufgrund dieser Konzentration auf den Großvater bleibt in allen Interviews die Großmutter sehr im Hintergrund der Erzählungen. Es muss dabei auch bedacht werden, dass auch die Vergangenheit der Großmutter als Ehefrau eines SS-Mannes, die ihrem Mann an seine Einsatzorte folgte, in der Familie nicht thematisiert bzw. verleugnet wurde.18 Die Elterngeneration Die Spuren der NS-Vergangenheit zeigen sich an verschiedenen Textstellen in allen in dieser Familie geführten Interviews. Exemplarisch möchten wir zunächst auf eine Passage aus dem ersten Interview mit dem Sohn Eberhard zurückgreifen: Eberhard Gertzer: »Ungefähr da ((Herr Gertzer beginnt mit der Zeichnung einer Landkarte)) wohnten meine Eltern.« Interviewer: »Ja, wie heißt die Stadt noch mal?« Eberhard Gertzer: »Nowograd-Wolynsk, na gut also Nowograd-Wolynsk da, Shitomir, eh, Lwów, dann Brest, dal’sche ((russisch: weiter)) Brest ist ungefähr nicht weit von Lwow, ist zwischen drei Grenzen Polen, Slowakei und Russland, Ukraine […] von da kamen die nach Deutschland.« Interviewer: »Nach Sachsen.« Eberhard Gertzer: »Nach Sachsen, ungefähr da Leipzig Sachsen.«

Oberflächlich betrachtet könnte man annehmen, dass Herr Gertzer in der zitierten Interviewpassage lediglich bestimmte Städte benennt, in denen seine Eltern wohnhaft waren, bevor sie in das deutsche Reichsgebiet übersiedelten. Stellen wir in Rechnung, dass Herr Gertzer sich in seinen Ausführungen auf die Jahre 1941-44 bezieht, so fällt auf, dass seine Eltern und sein 1941 in Shitomir geborener ältester Bruder in kurzer Zeit relativ viele Wohnortwechsel vollzogen haben – zumindest mehr als die Familienmitglieder anderer InterviewpartnerInnen, die ebenfalls während des Zweiten Weltkrieges unter deutscher Besatzung lebten. Unter der Berücksichtigung von historischem Kontextwissen wird weiterhin deutlich, dass in den aufgezählten Städten während der deutschen Besatzung die SS und die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) stationiert waren und in ihnen umfangreiche Verbrechen gegen die

18 Zu SS-Ehefrauen vgl. die Untersuchung von Schwarz (1997).

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Menschlichkeit19 stattfanden. So wurden in Nowograd-Wolynsk bereits ab Juli 1941 Massaker von der SS durchgeführt, in der Region Shitomir ermordeten die Besatzer in Zusammenarbeit mit lokalen Kollaborateuren 180.000 Juden (vgl. Lower 2005: 70ff.; Dean 2008: 256). In Lemberg (Lwow) errichtete die deutsche Besatzungsbehörde Ghettos und Arbeitslager, die im Juni und November 1943 liquidiert wurden (vgl. Pohl 1996: 256ff., 369ff.). Die Liquidierung des Ghettos von Brest war bereits im Oktober 1942 erfolgt. Auch in dem Dorf, in dem Eberhards Familie zu Beginn des Krieges mit der Sowjetunion 1941 lebte, wurden mehrere Hundert Juden umgebracht.20 Anhand der Erzählung von Eberhard stellt sich die Frage, ob sein Vater an den hier verübten Massenmorden beteiligt war. So konstruiert er in einer anderen Passage des Interviews eine Geschichte, die seinen Vater zum Retter aller Juden des Dorfes stilisiert und mit etlichen Brüchen in der Erzählung zu vermitteln versucht, sein Vater habe Juden geholfen, sich im Wald vor der SS zu verstecken. Der deutsche Bürgermeister des Ortes sei zum Vater gegangen und habe diesen informiert, dass am nächsten Tag wieder die SS käme, um nach Juden zu suchen. Der Vater, »der wusste das Hauptversteck der Juden«, meinte, die hätten sich schon alle im Wald versteckt. Dann wiederum erklärt Eberhard, sein Vater habe die Juden nach diesem Gespräch in den Wald geschickt und es wären dann keine mehr im Dorf gewesen, als die SS am nächsten Tage gekommen sei. Die sorgfältige Feinanalyse21 dieser Passagen legt die Lesart nahe, dass Rudolf Gertzer nicht etwa Juden vor der SS schützte, sondern vielmehr der SS bei der Suche nach Juden half. Auch wird von Eberhard betont, dass sein Vater über fundierte Ortskenntnisse verfügte, was insofern wesentlich ist, da gerade das Wissen über lokale Gegebenheiten ethnisch Deutsche zu wichtigen Erfüllungsgehilfen bei der Durchführung des Holocausts im Reichskommissariat Ukraine machte (vgl. Dean 2008: 250; Lower 2005: 41). Doch kommen wir zurück zu den genannten Orten, den vermutlichen Einsatzorten des Vaters, wohin die Eltern von Eberhard kamen, nachdem sie ihren Heimatort verlassen hatten. Interessant ist, dass Eberhard nur die Orte benennt und die familiengeschichtlichen Erfahrungen an dieser Stelle im Interview nicht anspricht. Eberhards Schwester erwähnte uns gegenüber z.B., dass der älteste

19 Der Begriff »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« wurde juristisch erstmals von den Alliierten in dem Londoner Statut vom August 1945 definiert, das die Grundlage für die Nürnberger Prozesse darstellte. Vgl. dazu ausführlich Kuschnik (2009). 20 Aus Gründen des Datenschutzes können wir den Namen des Dorfes nicht veröffentlichen. 21 Zum Verfahren von sequentiellen Feinanalysen in Anlehnung an Oevermann (1983) vgl. Rosenthal (2011a: 202ff.)

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Bruder von Eberhard in der Gegend von Shitomir geboren wurde. Aus dem Interview mit Agathe und aus Archivrecherchen wissen wir weiterhin, dass die Familie dort in der Siedlung »Reichstreu Hegewald« lebte, einem Projekt, das von Heinrich Himmler mit dem Ziel geschaffen wurde, im Rahmen der sogenannten Germanisierung Osteuropas in Wolhynien lebende ethnisch Deutsche und SS-Männer anzusiedeln (vgl. Lower 2005: 162ff.). 1943 erfolgte die Umsiedlung in das Wartheland, wo Rudolf, Elvira sowie Manfred die deutsche Staatsangehörigkeit beantragten und erhielten, bevor sie mehrere Monate später nach Sachsen weiterzogen. Auch dies wird von Herrn Gertzer ausgespart. In seiner Darstellung erscheint es, als wäre die Familie ohne Zwischenstation direkt von der Ukraine nach Sachsen migriert. Im Anschluss an die zitierte Sequenz wechselt Eberhard plötzlich die zeitlich-historische Phase, auf die er sich bezieht, und spricht nun über die Einwanderung seiner Vorfahren in die Ukraine sowie die Einladung ethnisch Deutscher zur Einwanderung nach Russland unter Zarin Katharina II. Dieser und andere im Interview immer wieder vorgenommenen temporalen Sprünge wie auch Themenwechsel verstehen wir als Abwehrhandlungen, die dazu dienen, sich nicht weiter auf die Familienvergangenheit während des Krieges einzulassen. Fragen nach einer möglichen Beteiligung des Vaters am Völkermord oder anderen Verbrechen der Besatzer bleiben für Eberhard allerdings bestehen. In beiden Gesprächen, die mit ihm geführt wurden, ist er primär mit dem Handeln seines Vaters während des Zweiten Weltkrieges und insbesondere mit dessen Beziehung zu Juden beschäftigt. Auffällig in Bezug auf die Perspektive, die Eberhard Gertzer selbst gegenüber Juden einnimmt, ist sein offen vorgetragener Antisemitismus. Unter anderem spricht er darüber, dass die Juden »immer schlauer« gewesen wären. Als Beleg hierfür erzählt er lachend (!) einen Witz, den sein Vater mehrmals preisgegeben habe und bei dem es um das schlaue Verhalten von Juden im Unterschied zu Russen beim Ausgraben von Gruben [sic!] geht. Auch Eberhards Schwester Agathe, die im Mai 1945 – nach der Kapitulation – in Sachsen geboren wurde, ringt mit Fragen zur Rolle des Vaters während des Nationalsozialismus und ist noch weit mehr als Eberhard mit der Familienvergangenheit zwischen 1942 und 1945 beschäftigt. Unter anderem erklärt Agathe, dass ihr Vater vor seinem Tod im Jahr 1987 oder 1988 nicht mehr zurück nach Deutschland wollte, weil »er doch bei der deutschen Armee war«. Diese Begründung klingt zunächst skurril; wir vermuten allerdings, dass Agathe mit dieser Aussage eine mögliche Angst Rudolf Gertzers vor Strafverfolgung anspielt, die in einer möglichen Beteiligung an NS-Verbrechen begründet ist. Anschließend werden die Ausführungen von Agathe sehr konfus, sie spricht darüber, dass sich ihr Vater Haut unter dem Arm weggeschnitten habe, was sie damit in Zu-

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sammenhang bringt, dass er während des Zweiten Weltkrieges »ausgebildet« worden sei. Es kristallisiert sich dann heraus, dass ihr Vater im Kontext seines »Wehrdienstes«, wie Agathe es nennt, eine Tätowierung im Bereich der Achselhöhle erhalten hatte. Diese entfernte er sich nach Kriegsende wieder mittels einer Rasierklinge. Bei Verhören, denen der Vater kurz nach Kriegsende durch sowjetische Behörden ausgesetzt war, sei auch seine Narbe unter dem Arm entdeckt worden. Der Vater habe diese aber damit erklärt, dass er dort ein »Furunkel« gehabt habe. Aus den Ausführungen von Agathe folgern wir jedoch, dass es sich bei der Stelle unter dem Arm um eine vormalige Eintätowierung der Blutgruppe handelte, wie sie bei Mitgliedern der SS vorgenommen wurde. Agathe versucht im weiteren Verlauf des Interviews dann zu verdeutlichen, ihr Vater habe »nichts Schlechtes-Schlimmes« getan und erklärt auch »er musste das machen, sonst hätten sie ihn vernichtet«. Was der Vater machen musste, benennt sie zwar nicht, doch wir können davon ausgehen, dass sie hierzu Vermutungen hat, die sich ihr immer wieder in das Bewusstsein drängen. Agathe versetzt nun auch die Kriegsvergangenheit des Vaters bzw. seine Zeit im Reichsgebiet im letzten Kriegsjahr geografisch nach Italien, wo er nach ihrer Version mit der Wehrmacht gewesen sei. Unsere Archivrecherchen zeigen jedoch keinen Einsatz des Vaters in Italien, ebenso wenig fanden sich Hinweise auf eine Mitgliedschaft bei der Wehrmacht, die bei der Deutschen Dienststelle dokumentiert sein müsste. Neben den genannten verschiedenen Einsatzgebieten des Vaters erfahren wir von Eberhards Ehefrau Helene22 noch eine weitere Version. Helene meint, ihr Schwiegervater sei im Kontext des Zweiten Weltkrieges als Arbeiter nach Deutschland gebracht worden und habe sich dort sechs Jahre lang aufgehalten.

22 Zu einer genaueren Analyse des Fallbeispiels von Helene Gertzer im Hinblick auf ihre sich im biografischen Verlauf verändernden Zugehörigkeitskonstruktionen vgl. Fefler/ Radenbach (2009). Deutlich wird dabei, wie sich Helene Gertzer in der Sowjetunion sehr stark an der Staatsnation der Russen orientierte, im Vorfeld der Migration dann aber damit anfing, sich auf die deutschen Anteile ihrer Familien- und Lebensgeschichte zu berufen. Seit der Einwanderung in die Bundesrepublik ist sie mit der Schwierigkeit konfrontiert, formal als Deutsche zu gelten, im Alltag aber oft keine Akzeptanz als solche zu erfahren. Vgl. zu dieser Problematik u.a. Kiel (2009), die verschiedene Muster aufzeigt, wie Betroffene damit umgehen, wenn sie nach der Migration Differenzen zwischen der von ihnen in den Herkunftsländern praktizierten deutschen Kultur und heutigen kulturellen Praktiken der deutschen Mehrheitsgesellschaft wahrnehmen. Zu Enttäuschungen in den Erwartungen von nach Deutschland migrierten ethnisch Deutschen siehe auch Sanders in diesem Band.

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Offen lässt sie, wo in dieser Zeit seine Frau und deren gemeinsamer Sohn gewesen sein sollen. Möglich ist, dass Helene mit »Deutschland« nicht nur das Gebiet der heutigen Bundesrepublik meint, sondern auch die damals besetzten Gebiete. Helene spricht dann allerdings nicht weiter über ihren Schwiegervater, sondern fokussiert sich auf ihren eigenen Familienhintergrund als Wolgadeutsche. Auf diese Weise gelingt es ihr sehr unproblematisch an die homogenisierende Konstruktion der Kollektivgeschichte anzuknüpfen, wie sie im Wir-Bild und kollektiven Gedächtnis der Gruppierung ethnisch Deutscher üblich ist. Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass sowohl Eberhard als auch Agathe und Helene Gertzer die Rolle ihres Vaters bzw. Schwiegervaters während des Nationalsozialismus sehr beschäftigt. Eine familiale Bearbeitung dieser Thematik in Form des Versuchs einer gemeinsamen Klärung hat bislang jedoch offenbar nicht stattgefunden. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass ein offenes Sprechen über familiengeschichtliche Daten, die mit dem Nationalsozialismus belastet sind,23 möglicherweise erhebliche Diskriminierungen und Behinderungen in den beruflichen Laufbahnen zur Folge gehabt hätte. So war Eberhard Gertzer in führender Position in einem Betrieb beschäftigt, der unter anderem Rüstungsgüter für die Rote Armee produzierte, Helene arbeitete als Sekretärin in einer Militärhochschule. Agathe war höhere Angestellte in der örtlichen Verwaltung. Eine offene Thematisierung einer SSMitgliedschaft des Vaters bzw. Schwiegervaters und seiner deutschen Staatsbürgerschaft hätte die Familie Gertzer insgesamt verdächtig gemacht und wäre möglicherweise Ausschlussgrund für die von ihnen erlangten beruflichen Positionen gewesen, für die eine Loyalität gegenüber dem politischen System der Sowjetunion Voraussetzung war. Dieser Umstand hat die fehlende Bereitschaft zur Aufarbeitung dieses Teils der Familienvergangenheit in der »mittleren Generation« der Familie Gertzer sicherlich nicht unwesentlich begünstigt. Die Enkelgeneration Ausgehend von den bisherigen Ausführungen stellt sich die Frage, wie die Enkelgeneration mit der belasteten Familienvergangenheit umgeht und die Rolle Rudolf Gertzers während des Nationalsozialismus bearbeitet. Hierüber gibt uns das Interview mit Nina Hertz wichtige Hinweise. Nina wurde im Jahr 1978 als Tochter von Eberhard und Helene Gertzer in Südkasachstan geboren. In dem mit

23 Hierunter verstehen wir die Mitgliedschaft Rudolf Gertzers in NS-Organisationen, die Migration von ihm, seiner Frau und dem ältesten Sohn in das deutsche Reichsgebiet sowie den damit verbundenen Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft.

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ihr geführten Interview sprach sie immer wieder über ihren Großvater, der die letzten Jahre seines Lebens gemeinsam mit ihrer Großmutter bei ihnen wohnte. Nina erzählt uns von den hohen Leistungsansprüchen, die Rudolf Gertzer an seine Kinder und Enkel stellte. Zum Beispiel erwartete er, dass gerade sie als Deutsche sich durch besondere Disziplin, Ordentlichkeit und Sauberkeit auszeichnen müssten. In dieser Erwartungshaltung manifestiert sich ein in gewisser Weise elitäres familiales Selbstbild,24 von dem wir vermuten, dass es während des Nationalsozialismus gestärkt und verfestigt wurde. Nina, die die Vorstellungen von Disziplin, Sauberkeit und Ordnung auffallend internalisiert hat, spricht äußerst respektvoll über ihren Großvater und zeichnet von ihm das Bild eines strengen, aber sehr gerechten und hilfsbereiten Menschen. In Bezug auf das Handeln ihres Großvaters während des Nationalsozialismus thematisiert sie an einer Stelle des Interviews ihre Unsicherheit: »Ja, er musste ja meine Oma verlassen weil, wegen des Krieges, er musste ja dann zum Militär erstmal zum deutschen in der, nee, we warn erst mal, die war dann damals erst mal in Russland, in der Ukraine glaub ich und dann mussten, warn die vertrieben, ä in welche Richtung weiß ich jetzt auch gar nicht, es ist immer so verwirrend, weil ich das immer frage und die reden dann alle durcheinander alles und ich versteh das immer noch nicht, was das war.«

In dieser Passage wird deutlich, wie diffus für Nina der Verlauf ihrer Familiengeschichte während der Zeit des Nationalsozialismus ist. Ihre Wissenslücken werden in der familialen Kommunikation nicht aufgelöst, sondern scheinen lediglich diffuse, durcheinander geworfene Antworten seitens ihrer Angehörigen zu generieren. Möglicherweise fürchtet sich Nina auch vor einer Beantwortung ihrer eigenen Fragen. Um ihre Unsicherheit zu reduzieren, konzentriert sich Nina im weiteren Gesprächsverlauf dann auf die Version ihrer Tante und meint, dass ihr Großvater zum »Wehrdienst« in Italien gewesen sei, bevor die Familie in die Sowjetunion deportiert wurde. Ihre eigenen Wissenslücken thematisiert Nina im Folgenden nicht mehr. Vielmehr versucht sie – wie auch ihre Angehörigen – ein idealisiertes Bild des Großvaters zu entwerfen und betont, dass er trotz der widrigen Lebensumstände der Nachkriegszeit Verantwortung übernahm und für die Familie sorgte. Nina attribuiert ihn im Weiteren als »sehr fair«, »streng«, »gebildet« und »immer in der Not hilfsbereit«. Wie auch ihr Vater bemüht sie sich, den Großvater als jemanden darzustellen, der Menschenleben gerettet habe (so z.B.

24 Zu elitären Komponenten in den Selbstbildern von ethnisch deutschen Familien vgl. u.a. Kiel (2009: 163) sowie in diesem Band.

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einmal auf einer Schiffsfahrt) und dabei eigenen gesundheitlichen Schaden in Kauf nahm. Insgesamt zeigte sich in dem mit Nina geführten Interview sehr deutlich, wie wichtig es ihr ist, den elterlichen Forderungen nach sozialer Anpassung gerecht zu werden und sich nach der Migration möglichst stark an die deutsche Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren. Wie viele andere jugendliche (Spät-) AussiedlerInnen (vgl. Vogelgesang 2008: 49-51) wurde auch Nina nicht in die Migrationsentscheidung eingebunden, obwohl sie zu dem Zeitpunkt der Ausreise bereits 14 Jahre alt war. Sie empfand die Entscheidung als ausgesprochen bedrückend, verfügte über fast keine Deutschkenntnisse und hatte so gut wie keine deutschen Freunde in Kasachstan.25 Nina erzählt über den Tag, an dem sie Kasachstan verlassen musste und spricht von »großer Trauer«, es sei für sie »wie auf einer Beerdigung gewesen«, sie habe emotional einen »Herzensriss« erlitten. Uns gegenüber versucht sie die Entscheidung der Eltern zu legitimieren, indem sie herausstellt, wie modern die Lebensbedingungen damals in Deutschland im Vergleich zu Kasachstan gewesen seien. Möglicherweise reproduziert Nina hier ein Argument, mit dem ihre Eltern ihr gegenüber die Migration begründen oder begründet haben. Obwohl Nina im Gespräch mit uns sehr bemüht ist, die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der Migration aufzuzeigen, werden ihre großen Unsicherheiten im Lebensalltag und der soziale Abstieg ihrer Familie nach der Einwanderung in ihrer Darstellung sehr deutlich. Sie mussten zunächst in einer Notwohnung leben, ihre Eltern hatten keine Arbeit,26 sie selbst kam in eine Hauptschule, in der es ihr zunächst sehr schwerfiel mit anderen Mitschülerinnen in Kontakt zu treten. Sie sagt hierzu: »In den Pausen wollte ich dann weg von allen deutsch sprechenden Einheimischen und mich verstecken weil ich, nichts verstanden habe und die wollten, die war aber alle so nett, die wollten mit mir irndwie was machen und wollten ständig irndwie mich da und da hin mitnehmen und aber ich wollte dann nur weg von den, weil, ich fühlte mich total schlimm schrecklich, ich dachte ich bin minderwertig, ich kann das nicht, ich kann mich nicht ausdrücken, ich kann nichts sagen.«

25 Die Familie lebte in Südkasachstan in einer Stadt, in der unseren Recherchen zufolge fast keine anderen ethnisch Deutschen lebten. 26 Etlichen unserer Interviewten war es nach der Migration nach Deutschland nicht möglich einem Beruf nachzugehen, der ihren tatsächlichen Qualifikationen entsprach. Siehe generell zur Entwertung von biografischen Erfahrungen aus dem Herkunftsland auch Reitemeier (2006: 233-234).

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Mit der Formulierung, sie habe »nur weg« gewollt, bringt Nina deutlich zum Ausdruck, dass sie ihre neue soziale Umgebung zunächst als fremd erlebte und sich dieser entziehen wollte. Ihre weiteren Aussagen, sie habe sich »schlimm schrecklich« gefühlt und gedacht, sie sei »minderwertig«, verdeutlichen ihr beschädigtes Selbstbild. Dementsprechend war es für sie zunächst kaum möglich, engere Beziehungen zu MitschülerInnen zu entwickeln. Auch wenn Nina nicht explizit darüber spricht, gehen wir davon aus, dass sie Stigmatisierung erlebte und mit Stereotypen über (Spät-)AussiedlerInnen konfrontiert war, wie sie in der deutschen Öffentlichkeit weitverbreitet sind (vgl. Vogelgesang 2008: 153ff.). Es wäre nicht überraschend, wenn Nina in einer solch schwierigen biografischen Situation angefangen hätte zu rebellieren und sich von den Erwartungen einer sehr angepassten Lebensweise abgewendet hätte, die die deutsche Mehrheitsgesellschaft und ihre Eltern an sie herantrugen. Während wir bei anderen InterviewpartnerInnen einen Rückzug in »russisch« dominierte Gegenwelten feststellen konnten (vgl. Ulrich 2011),27 war bei Nina genau das Gegenteil der Fall. Sie bemühte sich dezidiert um eine möglichst schnelle Assimilation an die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Wie sehr Nina die Vorstellung von Assimilation internalisierte, zeigt uns ihr weiterer biografischer Werdegang. So strengte sie sich an, sehr schnell die deutsche Sprache zu erlernen, arbeitete sich von der Hauptschule28 über die Realschule auf das Gymnasium hoch, machte ein gutes Abitur und schloss erfolgreich ein Lehramtsstudium ab. Damit erfüllte sie auch die Erwartungen von Anpassung und Erfolg in Deutschland seitens ihrer Eltern. Verschiedene Passagen aus den mit Nina und ihren Eltern geführten Interviews führen uns zu der Annahme, dass in diesem Zusammenhang die vormalige Migration ihrer Großeltern in das deutsche Reichsgebiet eine wichtige Rolle spielt. Die familiengeschichtliche Erfahrung, bereits einmal als Deutsche nach Deutschland migriert zu sein, die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten und mehrere Monate in Deutschland gelebt zu haben, generierte in der Familie die Vorstellung, sich auch nach der Migration 1992 möglichst schnell in der »alten-neuen Heimat« anpassen zu müssen und hier zu Erfolg zu gelangen. Dementsprechend spielte auch Ninas Großvater, ob-

27 Auch in der Literatur wird dieses Phänomen an verschiedenen Stellen diskutiert, vgl. z.B. Vogelgesang (2008: 191-193) und auch Dietz/Roll (1998: 103-110), die beide betonen, dass ein Rückzug in einen vorwiegend aus AussiedlerInnen bestehenden Freundeskreis eine Schutzfunktion erfüllen kann. 28 Vgl. die kritische Analyse zur überdurchschnittlich häufigen und oftmals unberechtigten Einstufung von zugewanderten ethnisch Deutschen auf die Hauptschule Hilkes (1996: 141) und Vogelgesang (2008: 75).

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wohl er bereits mehrere Jahre vor der Migration verstorben war, eine wichtige Rolle für die Definition von Erfolgserwartungen, die Ninas Eltern an sie richteten. So wurde z.B. die Anerkennung, die Nina von ihrem Vater für ihr Abitur und ihren Hochschulabschluss erhielt, explizit mit Ambitionen des Großvaters verbunden, wie u.a. folgendes Zitat verdeutlicht: »Mein Vater hat dann auch, als ich in mein Abitur erst mal gemacht habe, hat er dann, ich bin ganz stolz auf dich, als ich dann meinen Uniabschluss gemacht habe, hat er dann, dein Opa, wenn er jetzt noch am Leben gewesen wär, der wäre ganz stolz auf dich und der ist bestimmt jetzt auch stolz auf dich, der sieht das alles, du bist die erste Enkelin, die ein Hochschulabschluss hat und er wollte das schon immer, er selber hat es nicht geschafft, seine Kinder haben das auch nicht geschafft aber seine erste Enkelin, also die erste Enkelin, ich bin nicht die erste aber ich bin die erste, die einen Hochschulabschluss gemacht hat und da freut er sich bestimmt sehr.«

Um die an Nina herangetragenen Erwartungen von Anpassung und sozialem Erfolg zu erklären, ist auch zu berücksichtigen, dass ihre Eltern nach der Migration einen sozialen Abstieg erlebten. Wie in vielen anderen Familien wurde deshalb von Nina und ihrem Bruder in besonderer Weise erwartet, sich in die Mehrheitsgesellschaft einzufügen und schulisch wie auch beruflich erfolgreich zu sein, um auf diese Weise die Migration in die Bundesrepublik als gelungenes Projekt zu legitimieren. Mit Ninas ausgeprägter Anpassung an die deutsche Mehrheitsgesellschaft und ihrem sozialen Aufstieg ging gleichzeitig eine Distanzierung von anderen Gleichaltrigen mit Migrationshintergrund einher. So setzte sich ihr Freundeskreis zeitweilig fast vollständig aus einheimischen Deutschen zusammen. Erst nach einigen Jahren gelang es Nina, sich in kleinen Schritten wieder Bezüge zu ihrem Leben vor der Migration aufzubauen und beispielsweise ihre Kenntnisse der russischen Sprache als eine nützliche Ressource zu definieren. Auch hat Nina mittlerweile einen Partner geheiratet, der selbst ethnisch Deutscher aus Kasachstan ist, bestimmte biografische Erfahrungen mit ihr teilt und in den Augen von Nina ihrem Vater ähnelt. Insgesamt wird in dem mit Nina geführten Interview jedenfalls sehr deutlich, dass es ihr vor allem wichtig ist, sozial angepasst an die deutsche Mehrheitsgesellschaft zu leben und sich möglichst wenig als Migrantin abzuheben. Dies würde sie auch in einen Konflikt mit anderen Familienangehörigen, insbesondere mit ihren Eltern bringen.

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F AZIT Die Familien- und Lebensgeschichten der von uns interviewten ethnisch Deutschen gestalten sich sehr unterschiedlich. In Bezug auf das Fallbeispiel der Familie Gertzer erscheint uns wesentlich, dass mit ihrer Familiengeschichte Lücken und Mythen verbunden sind, die sich auf die Jahre 1941-45 und vor allem auf das Handeln des Großvaters beziehen. Wie unsere empirischen Befunde verdeutlichen, können die damit verbundenen Lücken im Familiengedächtnis belasten und auch das Zugehörigkeitserleben widersprüchlich oder mehrdeutig werden lassen. Dies gilt besonders dann, wenn die betreffenden Personen nach der Migration mit Außenseitererfahrungen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft konfrontiert sind. Manche unserer InterviewpartnerInnen wählen in solchen schwierigen biografischen Phasen die Handlungsoption des Rückzugs in »russische« oder multiethnische Lebenswelten. Unter Umständen kann dies mit Drogenabhängigkeit und Kriminalität29 verbunden sein, wodurch sie dem massenmedial verbreiteten negativen Fremdbild über »Russlanddeutsche« dann entsprechen (vgl. Rosenthal 2011b: 17). In manchen Fällen ließ sich feststellen, dass InterviewpartnerInnen gegen sie gerichtete Stereotype nicht nur reproduzierten, sondern dazu übergingen, diese ironisch übertrieben auszuagieren. Wie von Bogner (2003) herausgearbeitet, kann ein solches Handeln auch ein Versuch sein, offensiv mit dem stigmatisierenden Fremdbild umzugehen und auf Grundlage der Stereotype ein positiv besetztes eigenes Selbstbild zu entwerfen, das sich von negativen Zuschreibungen ablöst. Andere InterviewpartnerInnen versuchen hingegen Erwartungen nach einer möglichst vollständigen Assimilation an die deutsche Mehrheitsgesellschaft gerecht zu werden. Sie versuchen sich dementsprechend unauffällig zu verhalten, nicht als MigrantInnen erkennbar zu sein oder beziehen sich – wie Nina – nur sehr zurückhaltend und vorsichtig auf die sowjetischen und russischen Anteile ihrer Familien- und Lebensgeschichten. Damit ist es ihnen erschwert, ihren transnationalen Lebenslauf als ein kulturelles oder migrations-

29 Aussagen über Umfang und Verteilung von Straffälligkeit bei (Spät-)AussiedlerInnen gestalten sich als schwierig (Zinn-Thomas 2006). Während Strobl (2006: 103) zu dem Ergebnis kommt, »dass die jungen Einwanderer aus der früheren Sowjetunion im Hinblick auf Devianz und Delinquenz als vergleichsweise unproblematische Gruppe gelten können«, folgert Schönhuth (2006: 375) aus verschiedenen empirischen Untersuchungen, dass ca. ein Drittel der Jugendlichen auch mehrere Jahre nach der Einwanderung Integrationsprobleme und ein erhöhtes Delinquenzrisiko aufweisen würden.

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spezifisches Kapital zu nutzen (Rosenthal 2011b: 18-19).30 Auch ist zu berücksichtigen, dass eine Anpassung an die deutsche Mehrheitsgesellschaft oftmals keineswegs mit einer Aufarbeitung von belastenden Anteilen der Familienvergangenheit verbunden ist. Unsere Befunde zeigen vielmehr, dass eine einseitige Assimilation zur Aufrechterhaltung von Wissenslücken und zur Bildung von Mythen über die Familienvergangenheit beiträgt. Dies kann gerade die Enkelgeneration sehr belasten, wie das vorgestellte Fallbeispiel verdeutlicht. Zudem muss beachtet werden, dass sich Zugehörigkeitskonstruktionen im biografischen Verlauf verändern können, ebenso wie es möglich ist, dass verschiedene, öffentlich nicht zu vereinbarende Selbstdefinitionen parallel nebeneinander stehen und je nach sozialem Kontext flexibel zur Anwendung kommen. Eine familienbiografische Perspektive erscheint uns lohnenswert, um die sehr vielfältigen Zugehörigkeitskonstruktionen zu erfassen und fallbezogen in ihrer jeweiligen prozesshaften Genese und ihren Transformationspfaden zu rekonstruieren.

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30 Zur Diskussion über Konzepte und empirische Befunde zu translokalen und transnationalen Biografien von ethnischen Deutschen aus und in der Sowjetunion siehe Kaiser (2006); Schönhuth (2006) sowie Savoskul und Schmitz in diesem Band.

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Russlanddeutsche als kulturelle Hybride Schicksal einer Mischkultur im 21. Jahrhundert O LGA K URILO

E INFÜHRUNG Amin Maalouf, ein erfolgreicher französischer Schriftsteller libanesischer Herkunft, beschreibt in seinem Buch »Mörderische Identitäten« seine Selbstwahrnehmung: »Was mich zu dem macht, der ich bin, liegt in der Tatsache begründet, dass ich mich auf der Grenze von zwei Ländern, zwei oder drei Sprachen und mehreren kulturellen Traditionen bewege. Gerade das ist es, was meine Identität bestimmt. Wäre ich mehr ich selbst, wenn ich einen Teil von mir verleugnen würde?« (Maalouf 2000: 7)

Ähnlich wie Amin Maalouf verfügt der russländische1 Schriftsteller Boris Pil’njak, dessen Vater Andrej Ivanoviþ Vogau (Wogau) im deutschen Milieu Katharinenstadts an der Wolga2 aufwuchs und Russisch erst in der Schule lernte, über eine Vielfalt kultureller Anknüpfungspunkte, die sein Leben bestimmten: »Mein Blut: deutsches, russisches, tatarisches, aber auch jüdisches, das gehört sich so; und Steppe und Altgläubige vom Irgis und deutsche Pastoren«, schreibt er in seiner Biografie. (Pil’njak 1922: 4) Wir haben es hier mit einem typischen Phänomen einer Einwanderungsgesellschaft zu tun, einem typischen Merkmal von Migranten, die sich in mehreren Kulturen zu Hause fühlen und oft nicht in der Lage sind, oder es gar nicht für nö-

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In Russland unterscheidet man zwischen der russischen Staatszugehörigkeit

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Heute heißt diese Stadt Marx.

(rossijanin) und der russischen Nationalität (russkij).

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tig empfinden, sich zu einer von beiden Kulturen (der des Heimatlandes oder des Einwanderungslandes) zu bekennen. Dieses soziale Phänomen kann mit dem Konzept der kulturellen Hybridität oder hybriden Identität beschreiben (Bhaba 2000; Spohn 2006). Diese bildet sich in einem Prozess kultureller Begegnung auf lokaler sowie globaler Ebene heraus. Ulf Hannerz (1987; 1992: 217-267) spricht in diesem Zusammenhang von »Kreolisierung« und definiert sie als eine kulturspezifische Art der Aneignung und Übernahme fremder Einflüsse und Angebote, als Verbindung von Elementen und Denkformen der eigenen Kultur mit globalen Strukturen. Hybridität ist aber nicht nur eine Begleiterscheinung globaler Migrationsbewegungen von heute, sondern eine Eigenschaft, die in verschiedenen historischen Epochen zu finden ist.3 Sie entwickelte sich mit der Begegnung unterschiedlicher Kulturen und an deren Grenzlinien. Interethnische und interkonfessionelle Eheschließungen, internationale Kontakte, Auswanderung und Leben in der Fremde ließen in verschiedenen historischen Perioden hybride kulturelle Formen wie Mehrsprachigkeit, Doppelidentität, Praktizierung von Bräuchen verschiedener Kulturen entstehen. Historisch betrachtet wurden Hybride in den Aufnahmegesellschaften häufig als »unrein« stigmatisiert und wegen dieser »Unreinheit« verfolgt – als Bastarde, Mischlinge, Fremde. Angehörige von gemischten deutsch-jüdischen Familien gehörten aus nationalsozialistischer Sicht zu einer Gruppe, die eine Gefahr für die angestrebte »Rassenreinheit«, eine Quelle der »Volksvergiftung« darstellte. (Beck-Gernsheim 1999: 55)4 Die negative Einschätzung kultureller Hybridität ist jedoch auch in den modernen europäischen Gesellschaften deutlich zu spüren. Sie äußert sich nicht nur in der Haltung von Rechtsradikalen, sondern auch indirekt in den übermäßigen gesellschaftlichen Erwartungen bzw. Forderungen an Migranten, »richtig« deutsch zu werden, wozu auch die einwandfreie Beherrschung der deutschen Sprache gehört. Eine doppelte Staatsangehörigkeit ist oft politisch nicht erwünscht; manchmal wird sie sogar als bedrohlich für europäische Nationalstaaten empfunden. Kulturelle Hybridität und multikulturelle Gesellschaft bieten aus dieser Sicht eher Konfliktstoff als positives Potenzial und kulturelle Bereicherung für eine moderne Gesellschaft. Damit wird es den Mig-

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Osterhammel (2009: 518 f., 856, 1114) betrachtet die Hybridität in verschiedenen Kulturen vor allem als Folge der imperialen Überformung der Frontiers.

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Nach den Nürnberger Rassengesetzen von 1935 wurden die »Halbjuden« in zwei Gruppen geteilt: »Geltungsjuden«, die in der jüdischen Gemeinde registriert waren oder einen jüdischen Ehepartner hatten, und »Mischlinge ersten Grades«, die christlich getauft waren (vgl. Beck-Gernsheim 1998: 139).

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ranten oft schwer gemacht, ihre kulturelle Hybridität zu entwickeln bzw. zu behaupten. Noch immer wird kulturelle Hybridität, die sich in Marginalitätserfahrungen manifestiert, als Tragik der Migranten verstanden. Dazu schreibt Elçin Kürúat-Ahlers: »Entgegen einer weitverbreiteten Annahme der deutschen Migrationsliteratur, die den Kulturkonflikt bei der Erörterung der Marginalisierung der zweiten und dritten Generation der Ausländer in den Vordergrund stellt, bin ich der Auffassung, dass die Entwicklung einer bi- oder sogar polyvalenten kulturellen Identität möglich ist und Mischformen der kulturellen Sozialisation nicht automatisch Degeneration und psychisches Chaos bedeuten.« (Kürúat-Ahlers 1992: 46)

Trotz zahlreicher Studien, die die kulturelle Hybridität der Russlanddeutschen5 belegen (Kiel 2009 und in diesem Band; Savoskul 2006: 211; Engel-Braunschmidt 1997: 139-153; Dietz 1992: 147-159; Boll 1993: 308 f.; Bade 1994: 160 f.; Kourilo 2010; Kurske 2011), werden sie in der russischen und der deutschen Gesellschaft häufig exklusiv und exkludierend als »Russen« oder »Deutsche« angesehen (vgl. Hermann/Öhlschläger 2013), was nicht zuletzt mit einer mangelnden Wahrnehmung der kulturellen Komplexität zu tun hat. Bis heute stellt die positive Wahrnehmung der Hybridität eine Herausforderung für moderne europäische Gesellschaften dar, in Deutschland und auch in Russland. Der russischer Ethnologe Valerij Tiškov schreibt in diesem Zusammenhang in seiner umfassenden Abhandlung »Requiem für das Ethnos«: »Das Verständnis von Kultur als komplexes Phänomen, der Begriff der kulturellen Hybridität, d.h. die Vorstellung von einer Abwesenheit strikter kultureller Normen und von streng abgegrenzten kulturellen Entitäten ist eine der interessantesten allgemeinen theoretischen Innovationen, aus dieser Sicht sollte man auf unsere Wirklichkeit schauen.« (Tiškov 2003: 248)

In der letzten Zeit ist allerdings in Deutschland eine Entwicklung zu beobachten, die in die Richtung einer gesellschaftlichen Akzeptanz der kulturellen Hybridität geht. Nach dem jüngsten Beschluss der Bundesregierung können die in Deutschland geborenen Kinder ausländischer Eltern in Zukunft zwei Pässe erhalten. Für eine doppelte Staatsbürgerschaft hat sich auch der Bundespräsident Gauck an-

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Der Begriff »Russlanddeutsche« ist hier als Konstrukt zu betrachten. Unter diesem Begriff sind alle deutschen Einwanderer im Russischen Reich bzw. in der Sowjetunion sowie russlanddeutsche Einwanderer in der Bundesrepublik Deutschland gemeint.

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lässlich einer Einbürgerungszeremonie im Berliner Schloss Bellevue im Mai 2014 ausgesprochen.6

E NTSTEHUNG UND E NTWICKLUNG DER DEUTSCH - RUSSISCHEN S YNTHESE Die Geschichte der Russlanddeutschen ist eine Migrationsgeschichte. Russlanddeutsche haben in ihrer langen Geschichte zahlreiche Migrationen (Auswanderung nach Russland im 18. und 19. Jahrhundert, Migrationen innerhalb des Russischen Reiches im 19. und 20. Jahrhundert, Zwangsmigration in der UdSSR während des Zweiten Weltkrieges, Rückwanderung in den Westen, hauptsächlich nach der Perestroika) erlebt und werden damit zu Recht als »Volk auf dem Weg« bezeichnet (Retterath 2006: 67-108). In russlanddeutschen Familien hatte die Idee der Rückkehr nach Deutschland über Generationen fortgelebt, die sich auch in der folgenden Aussage einer Aussiedlerin widerspiegelt: »Ich wusste einfach nur, dass meine Eltern wieder zurückwollen […]. Ja, wieder zurück in die Heimat. Meine Urgroßmutter hat immer davon geträumt, wieder zurückzukommen. Leider hat sie das nicht geschafft.« (Tegtmeier-Breit 1997: 11)

Die Entstehung kultureller Mischformen war das Ergebnis langfristiger Anpassungsprozesse von deutschen Migranten an ihnen zuvor fremde Milieus. Von Anfang an stellte das Leben in Russland die Anpassungsfähigkeit der »Russlanddeutschen« an veränderte Lebensbedingungen auf eine harte Probe. Die dortigen Gegebenheiten erforderten neue Verhaltensformen im Alltag. Das extreme Klima erzwang beispielsweise eine für westeuropäische Begriffe nur als russisch zu bezeichnende Kleidung. Die Deutschen an der Wolga trugen im Winter einen langen Schaffellmantel und hohe Filzschuhe. Durch Kontakte mit Russen übernahmen sie auch fremde Ess- und Trinkgewohnheiten. Im deutschen Haushalt hielten russische Getränke wie Kwass und Wodka Einzug. Die Kolonisten begannen auch bald, ähnlich den Russen, Zwiebeln zum Essen zu schätzen (vgl. Koch 1977: 50). Die Küche der deutschen Frauen kannte neben deutschen Gerichten auch russische wie etwa Kohlsuppe, Pelmeni (mit Fleisch gefüllte Maultaschen), Bliny (Pfannkuchen). (Bachareva 1996: 375) Konrad Keller, der 1857 in der deutschen Siedlung Sulz bei Odessa geboren wurde, schreibt über neue Ess- und Trinkgewohnheiten der deutschen Kolonisten in Südrussland:

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Frankfurter Allgemeine, 23. Mai 2014, S. 1.

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»Speisen von anderen Völkern haben die Kolonisten, soviel mir bekannt, nur drei: Borscht, Plazinta und Mamaliga (Maisbrei) angenommen […]. Die Getränke Wein und Bier sind bei den Kolonisten selten, aber umso mehr lieben sie das russische Nationalgetränk, den Schnaps [Wodka – O.K.]. Ebenso trinkt man im Sommer viel russischen Kwass. Auch Tee und Kaffee wird bei den Kolonisten ebenfalls nicht wenig getrunken. Man findet jetzt beinahe in jedem Kolonistenhaus einen Samowar, der gewöhnlich abends für alle Hausgenossen auf-/hingestellt wird.« (Keller 2000: 128)

Die Deutschen, die mit dem harten kontinentalen Klima Russlands leben lernen mussten, übernahmen von den Russen die über Generationen erworbenen Kenntnisse der Bodennutzung. Von der Gewohnheit, ein Feld nach drei Jahren Bearbeitung brachliegen zu lassen, kamen sie ab und taten dies wie die Russen schon nach zwei Jahren. Sie nutzten nicht selten das russische Schulterjoch zum Wassertragen und spannten das Pferd auf russische Weise vor den Wagen. An Festtagen schmückten sie Bögen mit Bändern und Glocken. (Bachareva 1996: 375) Auch traditionelle Bräuche und Sitten waren einem Wandel unterworfen. Einige deutsche Einwanderer in den russischen Städten übernahmen Bräuche der russischen Butterwoche (maslenica), die vor der großen Fastenzeit vor dem Osterfest gefeiert wurde (vgl. Dahlmann 1994: 144). Elsa Löwental aus einer evangelisch-lutherischen Gemeinde in Moskau berichtete, dass vor dem Krieg zum Osterfest außer deutschen Gerichten auch eine traditionelle russische Osterspeise (pascha) aus Quark zubereitet wurde. In den gemischt russisch-deutschen Familien wurde Ostern nicht selten doppelt gefeiert, nach dem julianischen und dem gregorianischen Kalender. Vor der Oktoberrevolution konnte man bei den Deutschen einen Wandel des Beerdigungszeremoniells beobachten, und dieser war zweifelsohne dem Einfluss der slawischen Nachbarn geschuldet. Kreuz und Begräbnistafel stellten Deutsche an Kopf sowie Füßen der Verstorbenen auf das Grab. Bei der eigentlichen Begräbnisfeier, dem Leichenschmaus, wurden Pfannkuchen mit Honig und Wodka angeboten. Vierzig Tage danach wurden ein Glas Wasser, Brot und Kerze in die »Rote Ecke« gestellt. (Bachareva 1996: 379) Auch russische Freizeitgewohnheiten erhielten im Leben der Deutschen in Russland einen Platz, wie der traditionelle Aufenthalt im Sommerhaus (datscha) belegt, an dem sich »eine Verschmelzung der bürgerlichen deutschen Sommerfrische mit russischen Gewohnheiten erkennen lässt«. (Maurer 2000: 29) Heute ist der Aufenthalt auf der Datscha bei den Russlanddeutschen genauso beliebt wie bei den Russen. Die Übernahme russischer Kulturelemente nahm bei den russlanddeutschen Stadtbewohnern ihren Ausgangspunkt und setzte sich dort

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schneller als in den deutschen Kolonien durch. Dies ist auch im sprachlichen Bereich sichtbar. Die Deutschen, die sich in den Städten angesiedelt hatten, sprachen durch ihre regelmäßigen Kontakte zur russischen Bevölkerung gut russisch. In städtischen Milieus kam zumeist eine Russifizierung der Eigennamen hinzu; insbesondere wurden an das Russische angepasste Vatersnamen (zweiter Vorname) und Vornamen verwendet. Hier spiegelt sich nach Trude Maurer eine grundsätzliche Veränderung der familiären Beziehungen wider (vgl. Dahlmann 1994: 29). Im Unterschied zu den deutschen Stadtbewohnern hatten die Kolonisten in der Frühzeit (am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) kaum Kontakt zu ihrer russischen Umgebung. Dieser blieb auf Handel und Dienstleistungen beschränkt. Die deutschen Kolonisten benutzten daher häufig nur einzelne russische Wörter, vor allem Begrüßungs- und Höflichkeitsformeln, aber auch russische Schimpfwörter (Rosenberg 1997: 585-609). Die sprachlichen Interferenzen haben nicht nur in der Umgangssprache, sondern auch im Liedgut Ausdruck gefunden. Deutsche und russische Volkslieder vermischten sich in einer Weise, dass deutsch-russische Lieder entstanden. Sie kamen aus dem Baltikum, verbreiteten sich über die Petersburger Kolonien und erreichten sogar die deutschen Kolonien in Südrussland (Windholz 1992: 239). Diese Mixtur zeigt sich in der Zweisprachigkeit der Lieder »Die angenehme Sommerzeit« und »Die angenehme Winterzeit«, die im Kreise Petersburger Deutscher entstanden. Die Petersburger Herkunft des ersten Liedes wird in der Erwähnung der sprichwörtlichen weißen (weil sommerhellen) Nächte deutlich: »Die angenehme Sommerzeit ist selten hier teplo (warm) Wir haben zum Ersatz dafür die Nächte durch swetlo (hell) […].« *** »Bei angenehmer Winterzeit ist das nicht choroscho (gut)? Es ist bisweilen ein wenig kalt. Nebos budet teplo (Kann sein, dass es warm wird)!« (Schirmunski 1992: 78-80).

Bei der Analyse deutsch-russischer Adaptionen fällt auf, dass russische Kulturelemente nicht immer authentisch übernommen, sondern transformiert wurden: Das Essen entsprach nicht ganz dem Originalrezept, fremde Wörter wurden dem deutschen Sprachgefühl entsprechend leicht abgewandelt. In diesem Sinne kann

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das Produkt einer sprachlichen Transformation als russisches Lehnwort bezeichnet werden. Die deutschen Dialekte bedienten sich immer mehr aus dem russischen Sprachfundus. (Bachareva 1996: 375) Ebenso wurden aus dem Russischen Begriffe des Alltagslebens: »Samowar«, »Skoworoda« (Pfanne), »Tulup« (langer Pelzmantel), »Lapti« (Bastschuhe), »Balalaika« übernommen. Russische und andere slawische Wörter wurden von den Kolonisten überwiegend eingedeutscht. In deutschen Kolonien wurden die russischen Wörter »zdrast’e« (Kurzform »Guten Tag«) und »požalujsta« (bitte) »Strastje« und »Baschalesta« ausgesprochen.7 Russische Einflüsse finden sich auch in der materiellen Kultur, wie im Baustil der Häuser. Die Häuser der Deutschen an der Wolga wiesen schon im 19. Jahrhundert zahlreiche heterogene Elemente auf. Die Anlage der Gehöfte hatte deutschen Charakter, aber die Bauart der Wohnhäuser trug schon überwiegend russische Züge. August Freiherr von Haxthausen, der im 19. Jahrhundert die deutschen Wolgakolonien besuchte, berichtet: »Im Dorf selbst zeigten uns auch die vor den Häusern gepflanzten Bäume und die in Hecken liegenden gut erhaltenen Gärten deutsche Sitte und Art. Die Anlagen der Gehöfte sind deutsch, die Bauart der Häuser aber fast russisch, mit kleinen Säulen, Galerien, Vorlauben. Die Einrichtung zeigt eine Mischung von Deutschem und Russischem.« (Haxthausen 1847: 34f.; Busch 1997b: 539) In die Häuser der Deutschen wurden Fensterläden eingebaut, die sie, wie die Russen, mit geschnitzten Verkleidungen schmückten. (Bachareva 1996: 374) Erst als mit der Politik der Russifizierung Ende des 19. Jahrhunderts der Assimilationsprozess begann, verringerten sich die Unterschiede zwischen Sprache und Gewohnheiten bei Russen und Deutschen. Die Russifizierung des Schulwesens (1891), durch die die russische Sprache immer mehr an Boden gewann, die Teilnahme der Kolonisten am Ersten Weltkrieg – auf russischer Seite – und die Umwälzungen der Revolution beschleunigten die Verdrängung deutscher Kulturelemente. Die Integration russischer Elemente in die deutsche Kultur weitete sich aus, wohingegen die deutschen Elemente zurückgedrängt wurden. Diese Entwicklung spiegelte sich in der Verbreitung der russischen Sprache, der Bräuche und Sitten, des christlich-orthodoxen Glaubens sowie russischer Denkmuster und Haltungen wider. Der Prozess der Übernahme russischer Normen und Werte, Sitten und Bräuche dauerte Jahrhunderte an und wurde durch die politisch motivierte Zerstörung der deutschen Tradition in der Sowjetzeit intensiviert.

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Zur Sprachproblematik siehe auch Erlich (1988: 215-224).

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Durch die Zwangsdeportation der Russlanddeutschen setzte sich die Russifizierung der Russlanddeutschen fort. Der zunehmende Umgang mit Russen und die Unmöglichkeit, die eigene Kultur und Sprache öffentlich zu pflegen, bildeten dabei weitere bedeutende Faktoren. (Steenberg 2003: 31) »Deutsch als Muttersprache« verlor für die Russlanddeutschen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich an Relevanz: 1926 hatten noch 95 Prozent der Deutschen in der Sowjetunion Deutsch als ihre Muttersprache angegeben, 1959 waren es noch 75 Prozent, 1970 immerhin 66,8 Prozent, 1979 dann 57,7 Prozent und 1989 lediglich 48,7 Prozent. (Rosenberg 1997: 586) Das lange Leben an verstreuten Orten ohne kompakte Siedlungen und in offenen Räumen führte nicht nur zum Verlust der deutschen Sprache und Traditionen, sondern veränderte Denk- und Verhaltensweisen der Russlanddeutschen. Sie übernahmen zum Beispiel diverse ästhetische Maßstäbe der Russen. Das lässt sich am Beispiel ihrer Vorstellungen über die Architektur von Sakralbauten, zu Wohnungseinrichtungen und Bekleidung feststellen. Die Bauwerke in den Städten Pokrovsk (heute: Engels) und Marx verfügten über keine ausgeprägten nationalen Elemente mehr (Terëchin 1994: 218, 222). Nach der Perestroika »vergaßen« die aus Russland aus- oder rückwandernden Russlanddeutschen für Augenblicke ihre kulturelle Herkunft, wenn sie etwa russische Volkslieder (»Burja mgloju nebo kroet«, »Iz-za ostrova na streže«, »Moroz-moroz ne moroz‘ menja« usw.) sangen oder traditionelle russische Musikinstrumente (wie die Balalaika) spielten. Die russische Sprache, russische Lieder und russisches Essen waren den Russlanddeutschen vertraut geworden. Trotz der Verstärkung russischer Merkmale in der russlanddeutschen Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg, blieben hybride deutsch-russische kulturelle Formen jedoch bestehen, wie beispielsweise an der Sprache deutlich wird. In den russlanddeutschen Familien haben Kinder in Sibirien noch vor der Perestroika zweisprachige Abzählreime gelernt8: Stol Ryba Nožik Luþše ýto takoje? Maslobojka

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Tisch Fisch Messer besser Was ist das? Butterfass

Katharina B. aus Omsk erinnerte sich, dass sie diesen Reim als Kind in der Familie lernte. Archiv Kurilo.

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Einige russlanddeutsche Schriftsteller verfassten und verfassen ihre Werke überwiegend in russischer und deutscher Sprache. In dem Gedicht »Zwei Muttersprachen« bekennt sich die Autorin Nelly Wacker zu beiden Sprachen: »Als seltenen Reichtum hat das Leben/zwei Muttersprachen mir gegeben: /Bei der Mutter ich die eine fand, /die andre spricht mein Vaterland […].« (zit. nach Busch 1997a: 531) Die Konfiguration der deutschen und russischen Kulturelemente ist bei den russlanddeutschen Gruppen jedoch unterschiedlich. Bei einigen von ihnen ist »Russisches« so dominierend, dass nicht so sehr von einem deutsch-russischen, sondern von einem russisch-deutschen Kompositum gesprochen werden könnte.

D REI

VERSCHIEDENE I DENTITÄTSTYPEN

Durch die Migrationen und Lebenserfahrungen in verschiedenen Regionen Russlands bzw. der Sowjetunion änderte sich auch die Identität der »Russlanddeutschen«. In Vergangenheit und Gegenwart sind verschiedene kulturelle Identitätskonzepte festzustellen, die nicht nur russische oder deutsche Kulturelemente beinhalten, sondern auch sowjetische, kasachische usw.9 Dennoch wurde »russlanddeutsche Identität« vor allem durch Bezüge zur »russischen« und »deutschen« Kultur geformt. Aus diesem Grund werden hier drei russlanddeutsche Identitäten in den Blick genommen: »Deutsche in Russland«, »russische Deutsche« und »deutsche Russen«.10 Diese Differenzierung, die auf kulturelle Erfahrungen, Fremd- und Selbstwahrnehmungen der Russlanddeutschen basiert, erhebt keinen Anspruch auf Universalität und verfolgt vor allem das Ziel, die Gruppe der »Russlanddeutschen« als ein komplexes soziales Phänomen darzustellen. 1. »Deutsche in Russland« werden hier Ausländer genannt, die nicht lange oder in einer kulturellen Isolation in Russland lebten und kulturell und kognitiv Deutsche blieben. Der Einfluss der russischen Kultur auf sie war im Vergleich zu dem auf die anderen beiden Gruppen am geringsten. Zu dieser Gruppe gehörten so heterogene Gruppen wie die »Deutschen« der »deutschen Vorstadt« Moskaus

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Über verschiedene Formen kultureller Mischformen bei den Russlanddeutschen siehe Kourilo (2010: 261f.).

10 Hier könnten auch die Russen in Deutschland einbezogen werden: Dies würde den Rahmen dieser Studie jedoch sprengen, deswegen beschränken wir uns hier auf kurze Notizen hierzu.

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im 16. Jahrhundert und die ersten deutschen Kolonisten an der Wolga, die im 18. Jahrhundert von Katharina der Zweiten nach Russland berufen wurden, Kriegsgefangene in den Weltkriegszeiten und auch Arbeitnehmer, Diplomaten, Geschäftsleute und Pastoren, die ihre zweite Heimat in Russland fanden. Sie sprachen kaum Russisch, praktizierten deutsche Sitten und Bräuche und blieben nach Selbstwahrnehmung Deutsche. Manche von ihnen behielten ihre deutsche Staatsbürgerschaft und betrachteten ihre Anwesenheit in Russland als zeitlich begrenzt. Zu dieser Gruppe gehörten zum Beispiel der Pastor Ernst Glück, ein Theologe aus Sachsen, der in Moskau ab 1703/04 das erste russische Gymnasium leitete, der deutsche Pfarrer Johann Gottfried Gregori, der 1672 das erste russische Hoftheater in Moskau gründete, sowie St. Petersburger Reichsdeutsche im 19. und 20. Jahrhundert. Heinrich Pantenius unterscheidet in seinem Artikel »Das völkische Empfinden der St. Petersburger Deutschen« zwischen Reichsdeutschen und Deutschrussen. Nach dieser Denktradition galten in den Augen der Reichsdeutschen nur sie selbst als vollwertige Deutsche. Sie bildeten einen geschlossenen Kreis, hatten eigene Vereine, in denen sie Weihnachten, den Geburtstag des deutschen Kaisers, des Fürsten Bismarck und andere nationale Gedenktage feierten. In ihrem Denken und Verhalten trat ihre Vaterlandsliebe deutlich zutage. (Pantenius 1930: 11, 12) Die Angehörigen dieser Gruppe, die sich im Laufe der Jahrhunderte nicht oder so wenig wie möglich in Russland assimiliert hatte, wanderten nach den Brüchen des 20. Jahrhunderts als Erste in die Bundesrepublik Deutschland aus. Von den Deutschen in Deutschland unterschieden sie sich durch ihre russischen Erfahrungen, die ihre deutsche Identität aber nur peripher beeinflussten. Diese Gruppe unterscheidet sich von den anderen vor allem durch ihr ausdrückliches Bekenntnis zur deutschen Nation und zu »deutschen« Werten, klare Abgrenzung zu Russen und die Ablehnung einer multikulturellen Gesellschaft. Nach ihrer Selbstwahrnehmung sind sie »echte Deutsche«, »germanische Deutsche«. (Savoskul 2006: 212f.) 2. Die »deutschen Russen« bilden eine weitere kulturell spezifische Gruppe innerhalb der Russlanddeutschen als Gesamtheit. Eher zu dieser Gruppe als zu den »Russischen Deutschen« ist die russische Zarin Katharina die Zweite zu rechnen, wenn man ihre Anschauungen und Handlungsweisen genauer betrachtet. Sie trat als Kaiserin betont russisch-national auf, nicht nur verbal, sondern auch in ihrer Außenpolitik und im Alltag, nahm den orthodoxen Glauben an, beantwortete die Briefe ihrer deutschen Untertanen nur auf Russisch, bevorzugte in größerer Gesellschaft das Russische und ließ für das Kürassierregiment, die bedeutendste Reitertruppe der Metropole, vor allem Russen, einstellen. Die russische Kaiserin

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aus dem deutschen Kleinstaat Anhalt-Zerbst identifizierte sich bedingungslos mit dem russischen Staat und der russischen Nation (Kopelew 1992: 43). Die »deutschen Russen« fühlen sich eher als Russen, haben jedoch zum Deutschtum ein mehr als nur formales Verhältnis. Zu dieser Gruppe gehören sogenannte »assimilierte Deutsche«, die sich von Russen nicht besonders stark unterscheiden (sie praktizieren den orthodoxen Glauben, sprechen Russisch etc.), jedoch Erinnerungen an ihre deutsche Herkunft und Familie bewahren. Vladimir Michailoviþ Parusinov, erfolgreicher Kaufmann der zweiten Gilde im Saratov des 19. Jahrhunderts, kann man zu dieser Gruppe zählen. Er wurde in einer orthodoxen Familie erzogen und ging oft zum Gottesdienst in die orthodoxe Kirche. Ab und zu besuchte er auch die lutherische Kirche der Stadt, an der er die Orgel und den Chor schätzte. Die Beziehung zu zwei christlichen Traditionen prägte seine tolerante Denkweise: »Gott ist für alle gleich« (Semënov/Semënov 1995: 196). Unter den assimilierten russischsprachigen Deutschen gab es viele in Russland bekannte Schriftsteller, zu denen Aleksandr Blok und Boris Pil’njak zählten (vgl. Harder 1981: 125). Für die Angehörigen dieser Gruppe ist es charakteristisch, dass sie sich selbst, sowohl in Russland als auch in Deutschland, bewusst als »Russen« ansahen. An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert zählt hierzu ein Teil der »Russlanddeutschen«, die in einem russischsprachigen Milieu aufgewachsen sind und sich selbst als »Russaki« bezeichnen (vgl. Savoskul 2006: 211; vgl. Kourilo 2010: 350, 262). Wie die Forschung Anna Wróblewskas zeigt, identifiziert sich vor allem die junge Generation, die in den 1960er und 1970er Jahren geboren wurde und noch nicht lange in Deutschland lebt, kaum mit der deutschen Tradition: »Meine Nationalität ist deutsch, im Pass steht deutsch, aber ich bin Russe. Ich habe 16 Jahre lang in Kasachstan gelebt. Hier verstehe ich viele Sachen nicht, und ich glaube, ich werde sie nie verstehen. Bei uns war es irgendwie anders.« (zit. nach Wróblewska 1998: 13)

Durch russische Erziehung und russische Muttersprache werden sie von den Deutschen als Russen wahrgenommen. Auf diese Tatsache verweist auch der bösartige Scherz vom deutschen Schäferhund, dessen Besitz schon zum Nachweis der deutschen Herkunft ausreiche. Wenn auch nicht alle Russlanddeutschen die deutsche Sprache, Religion oder Bräuche und Sitten bewahrt haben, so sind doch der deutsche Name, die Herkunft ihrer Vorväter oder Verwandte in Deutschland Kennzeichen, die sie von zahlreichen Russen unterscheiden.

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3. »Russische Deutsche« sind Deutsche, die von der Kultur Russlands stark beeinflusst wurden und sich unter diesem Einfluss kulturell in unterschiedlichem Maß von ihrem »deutsch« geprägten Milieu entfernt haben. Ihre Identität wurde nicht mehr in gleichem Maß durch deutsche Traditionen geformt wie die ihrer Vorfahren (Eltern, Großeltern). Diese Gruppe bezeichnet Heinrich Pantenius in seinen Erinnerungen an St. Petersburger Deutsche als Deutschrussen. Zu ihnen zählt er diejenigen Deutschen, deren Vorfahren bereits russische Staatsangehörige waren, die unter Russen aufwuchsen und erzogen wurden. Sie liebten Russland, und die Denk- und Empfindungsweisen der Russen waren ihnen vertraut. Nach längeren Aufenthalten in Deutschland kehrten sie gerne nach Hause, nach Russland, zurück. Heinrich Pantenius nennt sie in seiner Schrift aus den frühen 30er Jahren: »Menschen mit Januskopf«, »halbverrußte Deutsche«, weil sie sich mit Russland genauso wie mit Deutschland verbunden fühlten (Patenius 1930: 14). Die Tragik dieser Gruppe bestand – zumindest nach seiner Meinung – darin, dass sie weder von den Reichsdeutschen noch von den Russen als ihresgleichen angesehen wurden (zit. nach Wróblewska 1998: 15). Wie im Russland des 19. Jahrhunderts stellen die »russischen Deutschen« auch heute die größte Gruppe der »Russlanddeutschen« und werden von den meisten Forschern als »authentische Russlanddeutsche« bezeichnet. Sie unterscheiden sich von zahlreichen Russen durch ihre Herkunft, ihre doppelte Identität, die sich in ihrer Selbstidentifikation als »Russlanddeutsche« widerspiegelt (Savoskul 2006: 211, 213), sowie partiell im Glaubensbekenntnis, der Sprache, den Denk- und Verhaltensweisen. Die kulturelle Zugehörigkeit dieser »Russlanddeutschen« zu Russland und Deutschland macht sie zu einem Typus. Die Angehörigen dieser Gruppe sind in zwei Kulturen stark verwurzelt. Hugo Wormsbecher, der frühere Vorsitzende des Internationalen Verbandes der Russlanddeutschen in Moskau und Schriftsteller hat seine Zugehörigkeit zu zwei Kulturen auf metaphorische Weise ausgedrückt: »Wir sind Kind einer Mischehe. Ein Elternteil ist das deutsche Volk, Deutschland, der andere Russland.« (Weiz 1997: 5) Zu dieser Gruppe gehören Personen, die sich nicht eindeutig als Deutsche oder als Russen bezeichnen. Sie haben das Gefühl, sich in zwei Kulturen zu bewegen. Boris Rauschenbach, ehemaliges Mitglied der Akademie der Wissenschaften, bezeichnete dieses Gefühl als ein »interessantes Gefühl«. Er betont: »… ich fühle mich gleichzeitig als Russe und Deutscher […]. Wir sind in Russland aufgewachsen, übernahmen russische Bräuche, russische Vorstellungen, was gut ist und was schlecht, wie man sich verhalten muss. Und deswegen denke ich, dass wir Russlanddeutsche hauptsächlich Russen sind. Obwohl ich mich auch als Deutscher, Russlanddeutscher

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fühle. Ja, man muss sagen, mir ist es nicht gegeben, meine deutsche Seite zu vergessen […].« (Rauschenbach 1996: 9)

Die Angehörigen dieser Gruppe, zu denen auch Edith Müthel, eines der ältesten Mitglieder der heutigen evangelisch-lutherischen Gemeinde in St. Petersburg, zählt, haben ihre deutsch-russische Lebensgeschichten und spezifische Erinnerungen, die sich von russischen unterscheiden. (Müthel 2013; Springer 2013)

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UND IHR

S CHICKSAL

Die Entstehung der russlanddeutschen Kultur in ihren Mischformen beanspruchte Jahrhunderte. Aus heutiger Perspektive vollzog sie sich im Zeichen kultureller Entfremdung der Deutschen in Russland von ihren Landsleuten in Deutschland, der Intensivierung der Kontakte mit der russischen kulturellen Umgebung und der Politik der Russifizierung. Ihre Besonderheit ist dadurch bestimmt, dass sie sich in einem anderen als dem deutschen Kulturraum formte. Mit dieser kulturellen Konstellation hat sich die Kultur der Einwanderer verändert. Zunächst existierten durch die Isolierung der deutschen Siedlungen sowohl in den Städten als auch in den Kolonien Russlands die deutsche und die russische Kultur separat. Die deutsche – nicht homogene – Kultur der ersten Generation der Auswanderer unterschied sich kaum von den in Deutschland existierenden regionalen Kulturen (der hessischen, bayerischen, schwäbischen usw.). Im Laufe der Zeit verschmolzen die regionalen deutschen Kulturen in Russland miteinander, aber auch mit russischen und nichtrussischen Kulturelementen. Ihre Vielfalt, die sich in verschiedenen Mischformen zeigte, war Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur in den russischen Städten, sondern auch in den deutschen Kolonien evident. Die Analyse verschiedener Formen kultureller Synthesen lässt es zu, die russlanddeutsche Kultur als Mischkultur zu definieren, konkret: als eine Kombination hauptsächlich deutscher und russischer Elemente. Diese Eigenschaft grenzt sie einerseits von russischer, andererseits von deutscher Kultur ab und prägt ihre Identität. (Wormsbecher 1996: 30-33) Die Angehörigen dieser Mischkultur bewegen sich gleichzeitig in zwei verschiedenen kulturellen Welten. Eine Abgrenzung dieser Mischkultur von »russischer« oder »deutscher« Kultur findet nicht nur mittels »traditioneller« Kulturelemente wie Sprache und Religion statt, sondern auch durch Kulturmuster, die symbolische Bedeutung haben

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und sich z.B. in Vorstellungen über die Vergangenheit oder Gegenwart äußern. (Kourilo 2010: 276) Die Grenzen zwischen russlanddeutscher, russischer und deutscher Kultur sind allerdings fließend. Sie unterscheiden sich in verschiedenen kulturellen Merkmalen von Deutschen und Russen. Ist das orthodoxe Bekenntnis für Deutsche in Deutschland etwas eher Exotisches und mit Russland Assoziiertes, ist doch ein Teil der Russlanddeutschen in Russland eben orthodox sozialisiert. Ähnlich verhält es sich mit der russischen Sprache, die für die russlanddeutsche Identität immer noch kennzeichnend ist. Diesen »russischen« Merkmalen stehen »deutsche« Merkmale gegenüber wie das lutherische Bekenntnis, die deutsche Sprache, die Verbundenheit der »Russlanddeutschen« mit dem Deutschen zeigt. Derartige Verbindungen von Russischem und Deutschem prägen die spezifisch »russlanddeutsche Kultur«. Als besondere russlanddeutsche Phänomene sind die deutsch-russische Doppelidentität, die Zweisprachigkeit, aber auch die ambivalente Vorstellung von Heimat zu nennen. Die kulturelle Synthese, die in den Familien verschiedene Formen annimmt (die Mitglieder einer Familie können mehr oder weniger russifiziert sein), bildet die Essenz dieser Kultur. Sie ist aber nicht als Konglomerat mechanisch verbundener deutscher und russischer Kulturfragmente zu betrachten, da sie Elemente umfasst, die sich im Laufe ihrer Geschichte in Russland herausgebildet haben. »Bikulturell zu sein, bedeutet, sich mit Produkten zweier Kulturen zu identifizieren und mit der Identifikation zwischen beiden Kulturen hin und her zu pendeln« (Hettlage-Varijas 1995: 152). In den wechselvollen Migrationserfahrungen (Ausreise nach Russland, Migrationen im Land, Wegzug aus Sondersiedlungen, Ausreise nach Deutschland) sowie in ihrer Adaptation an neue gesellschaftliche Verhältnisse nach der Oktoberrevolution, während des Zweiten Weltkrieges und nach der Perestroika haben die »Russlanddeutschen« ein großes Maß an Improvisationsfähigkeit und Flexibilität bewiesen. Mit ihren wiederholten Ortswechseln haben sie verschiedene multikulturelle Umgebungen und Kulturen kennengelernt. Das Leben in multiethnischen Milieus und der Status einer Minderheit in Russland förderten ihre Toleranz gegenüber anderen. Multikulturelle Erfahrungen trainierten gleichzeitig ihre Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche fremde Kulturen. Aus diesem Grund kann man die »russlanddeutsche Kultur« als eine bewegliche bzw. dynamische beschreiben, wenn man die Vitalität einer Kultur an ihrer Fähigkeit zum Wandel misst. Die Anpassung der »Russlanddeutschen« an die politischen und gesellschaftlichen Neuerungen des Sowjetsystems führte jedoch zur Assimilierung der Russlanddeutschen und dem Verlust ihrer Hybridität und der Auflösung ihrer

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Kultur. Die hohe Zeit dieses Zerfalls lag in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, als die Mehrheit der Russlanddeutschen deportiert und die deutsche Nationalität zum Stigma wurde. Die Auflösung der deutschen Siedlungen führte zur Entwurzelung und Marginalisierung der deutschen Bevölkerung. Die Enkel der entwurzelten Generation kennen diese Traumata jedoch nicht. Sie wurden »russisch« erzogen. Die Perestroika verschaffte den Russlanddeutschen Freiräume zur Rekonstruktion ihrer Kultur. Zu diesem Zweck wurden historische Symbole (Autonomie der Deutschen an der Wolga) und historische Bilder Russlanddeutscher (am Zarenhof, deutsche Spezialisten) aktiviert. Es lassen sich jedoch auch Prozesse beobachten, die zur Nivellierung dieser Mischkultur durch die weitere Assimilation in Russland und Deutschland führen. Beide Kulturen üben auf sie zunehmend Druck aus. Durch die Assimilation der Russlanddeutschen sowohl in Russland als auch in Deutschland büßt die Mischkultur immer mehr ihre hybride Identität ein. Sie geht entweder in der russischen oder der deutschen Kultur auf. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Für die Entwicklung einer modernen Hybridkultur fehlen finanzielle, menschliche und kulturelle Voraussetzungen Ressourcen, sowie die gesellschaftliche Akzeptanz der Hybridität.11 Auch eine eigene Staatlichkeit der Russlanddeutschen innerhalb Russlands könnte die Entwicklung einer hybriden Kultur unterstützen. Der russlanddeutschen Kultur fehlt ein eigener Lebensraum wie die frühere Wolgadeutsche Republik. Viele Russlanddeutsche, die in der deutschen Kultur noch stark verwurzelt waren, haben Russland inzwischen verlassen. Betrachtet man die nationalen Rayons näher, so zeigt sich, dass sie die Erwartungen als Inseln deutscher Kultur in Russland nicht erfüllen. Am Anfang der 1990er Jahre waren von den rund 22.000 Bewohnern im Rayon Halbstadt noch über 90 Prozent »Deutsche«, vor der Jahrtausendwende waren es nicht mehr als die Hälfte.12 Die Übersiedler aus Kasachstan und Mittelasien sprachen kaum Deutsch (siehe dazu Tauschwitz in diesem Band). Mit der Initiierung und Durchführung kultureller Aktivitäten und Projekte ist die Wiederbelebung der Kultur nicht erreichbar, und das heißt eben, dass eine Mischkultur verloren gehen kann, wenn sie in Russland in die russische Kultur aufgeht und in Deutschland eine Assimilation erwartet wird. (Ilarionova 1993: 137, 160) Der Verlust der deutschen Sprache und Kultur in Russland bedeutet aber gerade einen Entmischungs- bzw. Homogenisierungsprozess zugunsten einer Kultur statt zugunsten der Mischkultur.

11 Deutsch-Russische Zeitung (DRZ) 12/1997, S. 4. 12 Vgl. Moskauer Deutsche Zeitung (MDZ) 4/2000, S. 11.

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Die Zukunft der russlanddeutschen Mischkultur ist also von der Bewahrung ihres Hybridcharakters abhängig. Kulturelle Mobilität kann nicht nur zur Entstehung von Neuem, zur Wiedergeburt von Traditionellem, sondern auch zur Auflösung einer existierenden Kultur führen. Wanderungen in russischen und deutschen kulturellen Landschaften haben diese Gruppe mit ihrer spezifischen Kultur geschaffen, deren Identität in Zukunft jedoch verloren gehen kann. Das wird geschehen, wenn die Russlanddeutschen ihre Lebenspraxis auf nur ein kulturelles Milieu – das russische oder deutsche – beschränken und sich nicht mehr zwischen beiden Kulturen bewegen. Im 21. Jahrhundert gibt es allerdings gute Voraussetzungen, eine solche deutsch-russische Kultur zu bewahren bzw. weiterzuentwickeln. Dazu trägt die europäische Politik, die die kulturelle Vielfalt sowie die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen fördert, bei. Die Russlanddeutschen, die die doppelte Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik Deutschland genießen und Kenntnisse deutscher und russischer Kultur besitzen, können eine aktive Rolle als Vermittler zwischen West- und Osteuropa übernehmen. Um einen neuen Platz als eine moderne Minderheit in Europa zu gewinnen, ist allerdings eine Stärkung des kollektiven Bewusstseins der Russlanddeutschen als europäische Minderheit erforderlich, die u.a. mit der Aufarbeitung der historischen Traumata verbunden ist. Dies ist jedoch nur im Rahmen einer gesellschaftlichen Akzeptanz kultureller Hybridität als Zeichen der Modernität möglich, die einen solchen Prozess unterstützt.

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Heterogene Selbstbilder Identitätsentwürfe und -strategien bei russlanddeutschen (Spät-)Aussiedlern S VETLANA KIEL

Seit der großen Einreisewelle zu Beginn der 1990er Jahre wurde viel über das Integrationsverhalten von (Spät-)Aussiedlern1 diskutiert. Dabei erwies sich vor allem die Annahme, dass sich die Integration deutschstämmiger Aussiedler aufgrund ihrer den Bundesdeutschen ähnlichen kulturellen Identität unter sicherem Ausschluss soziokultureller Probleme vollziehen könnte, als nicht haltbar (vgl. Bade 1997: 25). Gut zwei Jahrzehnte später rückt zunehmend die Frage nach der kulturellen Identität in den Fokus des Interesses, ist doch die Thematik der eigenen ethnischen Zugehörigkeit für viele Russlanddeutsche noch immer virulent.2 Nun ist es also an der Zeit zu fragen, wie die Russlanddeutschen selbst ihr Ankommen in Deutschland rückblickend empfinden und wie fremd oder zugehörig sie sich in der bundesdeutschen Gesellschaft fühlen. Im Rahmen meines Dissertationsprojektes rückte ich diese Frage nach der spezifischen Kultursituation russlanddeutscher Aussiedler in den Blickpunkt, um den nach der Migration einsetzenden Prozess der Identitätsbildung eingehend zu

1

Eine Unterscheidung zwischen SpätaussiedlerInnen und AussiedlerInnen ist für die vorliegende Studie irrelevant. Aus Gründen der Einfachheit wird daher allgemein von AussiedlerInnen gesprochen. Auch wird auf die zusätzliche Darstellung der weiblichen Bezeichnung der untersuchten Gruppe (AussiedlerInnen) verzichtet. Wenn ich daher von Aussiedlern im Allgemeinen spreche, sind darin die weiblichen Mitglieder der Gruppe natürlich mit einbezogen.

2

Der Themenbereich der ethnischen Identifizierung rückt zunehmend in den Blickpunkt des Interesses. Angeschnitten wird er auch in den Aufsätzen von Baerwolf (2006) und Savoskul (2006).

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untersuchen. Besonders interessierten hierbei die von den Russlanddeutschen entwickelten Handlungsstrategien und die jeweiligen Verortungen, die im Zuge des Prozesses der Auseinandersetzung mit der Frage nach der eigenen Kulturzugehörigkeit entwickelt wurden. Mithilfe von qualitativen Methoden führte ich zwischen Mitte 2003 und Mitte 2004 eine empirische Studie mit russlanddeutschen Drei-GenerationenFamilien durch, die alle seit ca. fünfzehn Jahren in Deutschland leben und unterschiedlichen sozialen Milieus entstammen. Entsprechend der Methode des theoretischen Samplings3 wurden hierbei sowohl Familien mit als auch ohne akademischen Hintergrund, solche mit starkem religiösen Bezug4 und auch solche mit innerfamilialen Problemen aufgenommen. Aufgrund der zunehmend veränderten Zusammensetzung der einreisenden Familien wurden zusätzlich zu den russlanddeutschen Familien auch ethnisch gemischte Familien in das Sample einbezogen. Dieses umfasste insgesamt sieben Familien und ergab ein transkribiertes Datenmaterial von 800 Seiten. Da die Perspektive der Russlanddeutschen selbst im Fokus des Interesses stand, erwies sich für die Auswertung ein rekonstruktives Verfahren als sinnvoll (vgl. Fritzsche 2003: 73). Angewandt wurde hierzu die dokumentarische Methode,5 da sie Aufschluss gibt über die die Gruppe übergreifende kollektive Orientierung, die aus dem gemeinsamen Migrationserleben und dessen Auswirkungen resultiert (vgl. Breitenbach 2000: 49 und Bohnsack 2004: 215). Dazu dienen vier aufeinanderfolgende Analyseschritte, nämlich die formulierende Interpretation, die reflektierende Interpretation, die Fallbeschreibungen und die komparative Analyse, die letztendlich eine Typenbildung ermöglichen (vgl. Bohnsack 2004: 213-220). Der vorliegende Artikel fasst diese Ergebnisse zu-

3

Dabei steht bei der Fallauswahl für eine Untersuchung nicht Repräsentativität im Vordergrund, sondern die zu untersuchenden Fälle werden nach dem Kriterium ausgewählt, ob sie neue Erkenntnisse vermuten lassen, bis z.B. die theoretische Sättigung erreicht ist.

4

Da in vorherigen Studien (siehe hierzu beispielsweise Theis 2006, Vogelgesang 2006 und Pfister-Heckmann 1998) für die Angehörigen russlanddeutscher Freikirchen eine Art Sonderrolle angedeutet wurde, stammen die als religiös bezeichneten Personen meines Samples alle aus einer Freikirche, die ausschließlich über russlanddeutsche Mitglieder verfügt.

5

Zur dokumentarischen Methode siehe u.a. Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl (2001).

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sammen und stellt eine Typologie vor, mit der sich die Wechselwirkung zwischen Selbstbild und Integrationsform näher bestimmen lässt.6

D IE ZWEIDIMENSIONALE K ULTURSITUATION DER R USSLANDDEUTSCHEN Aufgrund ihrer historischen Bedingungen befinden sich russlanddeutsche Aussiedler in einer spezifischen Kultursituation, definierten sie sich doch vor der Migration als Deutsche, werden in Deutschland jedoch verstärkt als Russen wahrgenommen. Diese nicht eindeutig definierte Herkunftskultur unterscheidet sie maßgeblich von anderen Migrantengruppen in der Bundesrepublik Deutschland. Dementsprechend verläuft auch die Integration von Aussiedlern atypisch. Zwar erlangen Russlanddeutsche nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer rechtlichen Position als Aussiedler eine sofortige Anerkennung als deutsche Staatsangehörige, doch bisherige Studien verdeutlichen, dass dies der tatsächlich von den Russlanddeutschen wahrgenommenen Zugehörigkeit widerspricht (vgl. Tröster 2003: 36). Trotz kultureller Inklusionsunterstellung als ehemals Deutsche in der Sowjetunion kommt es also zu einer Ernüchterung des eigenen kulturellen Andersseins und zu partiellen Exklusionserfahrungen. Nicht selten führt dies zu einer endgültigen Remigrationsentscheidung (vgl. Schönhuth 2008). Diese Ambivalenz, trotz der ursprünglichen Definition als Deutsche nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland eine zugeschriebene, aber auch selbst wahrgenommene Position von Fremden einzunehmen, führt zu einer Verunsicherung hinsichtlich des eigenen Selbstbildes. Die Auseinandersetzung mit der eigenen ethnischen Identität in den Familien wird zu einer zentralen Thematik. Es wird deutlich, dass sich der Kulturkonflikt für Russlanddeutsche im Gegensatz zu Angehörigen anderer Migrantengruppen auf zwei Ebenen vollzieht. Im Rahmen des nach der Migration einsetzenden Reflexionsprozesses muss nicht nur wie bei ausländischen Einwanderern eine Lösungsstrategie für den Umgang mit fremden Kulturelementen entwickelt, sondern ebenso die eigene

6

Dieser Artikel beruht auf Kernaussagen meiner im Jahr 2009 bei Waxmann erschienenen Dissertationsschrift »Wie deutsch sind Russlanddeutsche?« (Kiel 2009) wie auch meines 2013 publizierten Artikels »Risiko oder Chance? Identitätsbildung in russlanddeutschen Aussiedlerfamilien« (Kiel 2013). Im Fließtext wird weitgehend auf Verweise auf die beiden genannten Veröffentlichungen verzichtet.

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kulturelle Identität überdacht und letztendlich eine veränderte kulturelle Selbstverortung vorgenommen werden. Die Analyse des Samples zeigt, dass auch viele Jahre nach der Migration die Auseinandersetzung mit der eigenen ethnischen Zugehörigkeit innerhalb aller untersuchten Familien generationsübergreifend vorhanden ist und die Bewältigung des zweidimensionalen Kulturkonflikts eine besondere Herausforderung darstellt. Beim Umgang mit dem nach der Migration einsetzenden Identitätsbildungsprozess werden sowohl einheitliche Handlungsstrategien als auch differierende Ansätze sichtbar.7

K OLLEKTIVE I DENTITÄTSSTRATEGIEN Ethnizität und die Ausgestaltung russlanddeutscher Kulturelemente Fallübergreifend definieren die Befragten für sich im Laufe des Prozesses der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität die Zugehörigkeit zu einer Minderheit – der Gruppe der russlanddeutschen Aussiedler. Obwohl sie ursprünglich mit der Erwartung nach Deutschland kamen, aufgrund ihres Deutsch-Seins eine Zugehörigkeit zur bundesdeutschen Kultur und Gesellschaft zu besitzen, nehmen sie nun eine klare Abgrenzung zur Gruppe der Bundesdeutschen vor und betonen ihren Status als Angehörige einer Minderheit. Die Stärkung ihrer Identität als einer separaten ethnischen Gruppe wird also beeinflusst durch die infolge des Kontaktes mit der bundesdeutschen Kultur und Gesellschaft ausgelöste identitäre Verunsicherung. Mit Friedrich Heckmann kann hierbei davon ausgegangen werden, dass die durch Kulturkontakt entstandene ethnische Dissimilierung die Identität einer separaten ethnischen Existenz verstärkt (vgl. Heckmann 1992: 171). Im Rahmen des sich vollziehenden Identitätsbildungsprozesses stellt Ethnizität eine kollektive Identitätsstrategie der Russlanddeutschen dar. Der wahrgenommenen Zugehörigkeit zur russlanddeutschen Gruppe liegt ein einheitliches Bild von definierten Elementen einer russlanddeutschen Kultur zugrunde. Alle befragten Personen beschreiben nahezu gleichartige Elemente, die sie für die Kultur der Russlanddeutschen als typisch wahrnehmen. Diese be-

7

Aus Platzgründen wird auf eine ausführliche wissenschaftliche Einbettung und Diskussion des Forschungsprozesses und der -Ergebnisse weitgehend verzichtet. Detaillierte Ausführungen dazu finden sich in meiner zuvor erwähnten Monografie (siehe hierzu Kiel 2009).

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schriebenen Kulturelemente wurden im Rahmen der Gruppen- und Einzelinterviews retrospektiv erhoben und sind im folgenden Schaubild zusammenfassend dargestellt.8 Die befragten Familien definieren die kulturellen Elemente dabei jeweils in Abgrenzung zu anderen »Kulturen«, wobei zwischen der Alltagskultur des Lebens in der ehemaligen Sowjetunion (»Deutsche in Russland«) und der des Lebens in der Bundesrepublik Deutschland (»Russlanddeutsche«) eine Unterscheidung vorgenommen wird: Tabelle 1: Kulturelemente Deutsche in Russland Sekundärtugenden:

Russen

- faul - schmutzig

- Fleiß - Sauberkeit - Wohlanständigkeit - Bescheidenheit - arbeitsam

ökonomische Werte:

- wirtschaftlich weniger erfolgreich

8

- wirtschaftlich erfolgreich - hohe Leistungsfähigkeit mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung - gepflegter Besitz - gepflegtes Erscheinungsbild der Person - Ehrgeiz

Siehe hierzu auch Kiel (2009: 162).

Russlanddeutsche

Bundesdeutsche

soziale Werte: - Distanz in zwischen- enge zwischenmenschlichen menschliche Beziehungen Beziehungen - kein Respekt - starker familiärer vor älteren Zusammenhalt Menschen - gegenseitige - Besuche nur Hilfsbereitschaft - Respekt vor älte- mit Terminabsprache und ren Menschen keine üppige - Gastfreundschaft Bewirtung von Gästen ökonomische Werte:

- Wichtigkeit von Statussymbolen - hohe Leistungsfähigkeit mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung

- Wichtigkeit von Urlaub und Bildungsreisen - weniger gut in praktischer Arbeit

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weitere Werte:

- Emotionalität

- Endogamie - Religiosität

weitere Werte: - ausgelassene Festkultur - weniger ausge- typischer lassene Festkultur Biografieverlauf - typischer mit früher Heirat Biografieund Familienverlauf gründung mit langen - fehlendes Ausbildungszeiten Selbstbewusstsein und später und DurchsetFamiliengründung zungsvermögen

Quelle: Eigene Datenerhebung

Vorrangig werden Sekundärtugenden und ökonomische Werte als typische Elemente der Kultur der Deutschen in Russland beschrieben, auch gelten ein endogames Heiratsverhalten und die Zugehörigkeit zur christlichen Religion als Charakteristika. Die genannten Werte werden stets in Abgrenzung zur russischen Kultur definiert, wobei dieser die Gegensätze zu den als typisch deutsch eingeordneten Elementen zugeschrieben werden. Auffällig ist, dass alle Familien des Samples die als russisch definierten Kulturelemente ausschließlich negativ bewerten, wohingegen die Charakteristika der als deutsch beschriebenen Kultur von allen Familien positiv wahrgenommen werden. Es wird deutlich, dass das Selbstbild elitäre Züge aufweist. Die befragten Familien ordnen ihrer Kultur nicht nur ausschließlich positive Elemente zu, sondern nehmen die eigene Kultureinheit darüber hinaus im Vergleich zur russischen Kultur in verschiedenen Bereichen als überlegen wahr. Für die Zeit in Deutschland werden nun in Abgrenzung zur bundesdeutschen Kultur Elemente einer als russlanddeutsch und vereinzelt auch als russisch definierten Kultur beschrieben. Hierbei werden Unterschiede im Selbstentwurf deutlich. Statt der Betonung von Pflicht- und Akzeptanzwerten werden nun vorrangig soziale Werte betont. Diese Werte tauchen erstmals während des Lebens in Deutschland auf, was dadurch zu erklären ist, dass die gegenseitige Stärkung und der Rückhalt des Einzelnen in der eigenen Familie in einer zuerst fremden Umgebung nötig werden. Außerdem fällt der in Russland errungene ökonomische Status zu Beginn des Lebens in der Bundesrepublik weg, wodurch ökonomische Werte nicht mehr dominierend auftreten. Ein zentrales Element stellt nach wie vor der Wert der Arbeit dar, insbesondere die Fähigkeit, praktische Arbeiten selbst zu leisten. Die von den Familien definierten Kulturelemente werden in Abgrenzung zur bundesdeutschen Kultur beschrieben, wobei die Bewertung der unterschiedli-

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chen kulturellen Elemente nicht mehr in gleichem Maße statisch verläuft wie bei der Darstellung der Kultur der Deutschen in Russland. Zwar werden im Bereich der sozialen Werte vorrangig die negativen Gegensätze als bundesdeutsche Charakteristika genannt, erstmals werden jedoch auch Elemente der eigenen Kultur kritisch betrachtet. So ordnen die Familien den Russlanddeutschen allgemein im Gegensatz zu Bundesdeutschen ein schwaches Selbstbewusstsein und fehlendes Durchsetzungsvermögen zu. Auch wird der als typisch russlanddeutsch beschriebene Biografieverlauf mit einer früheren Heirat und Familiengründung kritisch hinterfragt. Die Ausführungen zeigen ein verändertes Selbstbild der Familien. Rückblickend wird die russische Kultur positiver wahrgenommen und der eigenen Kultur zugeschriebene Elemente werden teilweise negativ bewertet. Das Selbstbild weist nun keine elitären Züge mehr auf, da die Definition als Russlanddeutsche nicht mehr ausschließlich mit positiven Inhalten besetzt ist. Der Status- und Positionsverlust im Kontext der sie umgebenden Majorität hat auch zu einer Veränderung des eigenen Überlegenheitsdiskurses geführt. In einigen Bereichen wird sogar die vormals positive und teilweise elitäre Position nun nicht mehr für sich selbst, sondern für die bundesdeutsche Majorität reklamiert, der nun die Position zuerkannt wird, die vormals ihnen selbst »zustand«. Es wird deutlich, dass die schlechteren Rahmenbedingungen des Lebens in Russland sich offensichtlich nicht negativ auf das Selbstbild der Russlanddeutschen ausgewirkt haben, der mit der Migration nach Deutschland verbundene Status- und Positionsverlust und die zahlreichen Fremdheitserfahrungen mit der deutschen Alltagskultur hingegen schon. »Opferstatus« als konstitutives Element russlanddeutscher Identität Besonders in der Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich bei den Angehörigen der deutschen Minderheit in der ehemaligen Sowjetunion aufgrund der kollektiven Maßnahmen gegen sie das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft. Unabhängig von der Herkunft aus den ursprünglichen, unterschiedlichen Siedlungsgebieten im Russischen Reich bildete sich eine kollektive Identität als Deutsche heraus, die aus dem gemeinsamen Erleben von Vertreibung und Deportation resultierte. Bezüglich dieser dem Opferstatus zugrunde liegenden Geschehnisse besteht unter Russlanddeutschen eine Art geteilter Erinnerungskultur. In Bezug auf die russlanddeutschen Familien ist also davon auszugehen, dass der in erster Linie von den Großeltern erlebte Status als Opfer auch für die El-

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tern- und Kindergeneration noch derart stark präsent ist, dass dieses Erleben die aktuellen Wahrnehmungen beeinflusst. Mit Halbwachs kann hierbei davon ausgegangen werden, dass gemeinsame Familienerinnerungen einerseits zur Reproduktion der Vergangenheit dienen, gleichzeitig aber auch dazu beitragen, die familiäre Gegenwart zu definieren (vgl. Halbwachs 1985: 120ff.). So wird deutlich, dass im Generationenverlauf nicht nur der Opferstatus der Großeltern tradiert, sondern ebenso ein die Eltern- und in abgeschwächter Form auch die Kindergeneration betreffender Status als Opfer neu konstruiert wird (vgl. Kiel 2009: 176-179). Wie sehr die empfundene Opferrolle im Bewusstsein der Einzelnen dominiert, hängt allerdings wesentlich von dem Selbstbild ab, zu dem die Einzelnen im Zuge der Bearbeitung des Kulturkonfliktes gelangen. Dies wird im Folgenden noch deutlich werden.

H ETEROGENE S ELBSTBILDER Auch wenn sich Russlanddeutsche einheitlich als Angehörige einer Minderheit definieren, werden innerhalb dieser Gruppe unterschiedliche Selbstbilder entwickelt. Die in den Familien auftretenden Strategien zur Bewältigung des Kulturkonfliktes und die darin vorgenommenen Modifikationen der eigenen ethnischen Orientierung sind dabei abhängig von verschiedenen Faktoren. Hierbei zeichnen sich die Generationenzugehörigkeit, die persönliche Religiosität und der Bildungsstand als relevante Einflusskategorien aus. Um auch den Bereich der Nationalität beleuchten zu können, wurden zusätzlich zu den russlanddeutschen Familien auch solche mit russischen Familienmitgliedern in die empirische Untersuchung mit einbezogen. Die im Folgenden beschriebenen Ergebnisse (siehe die Ausführungen zu »Die sowjetischen Leute«) belegen eindeutig, dass die Mehrdimensionalität ausschließlich für die Gruppe der Russlanddeutschen gilt. Mithilfe der zuvor beschriebenen Analyseschritte der dokumentarischen Methode konnten fünf unterschiedlich ausgestaltete Selbstbilder rekonstruiert werden, die im Folgenden als abstrahierte Typen kurz dargestellt sind:

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Tabelle 2: Typenbildung Typus

bedingender Faktor

»Nicht richtige« Deutsche

Generation der Großeltern

Deutsche »mit russischem Glanz«

Familien aus akademischem Bildungsmilieu

Deutsche »mit Makel«

Familien aus nicht-akademischem Bildungsmilieu

Die »wahren« Deutschen

Familien mit ausgeprägter Religiosität

Die »sowjetischen Leute«

Familien mit interethnisch gemischten Mitgliedern

Quelle: Eigene Datenerhebung

»Nicht richtige Deutsche« – Die anhaltende Entwurzelung der Großelterngeneration Trotz unterschiedlicher familiärer Hintergründe weist die Generation der Großeltern im Gegensatz zur Eltern- und Kindergeneration ein einheitliches Selbstbild auf. Sie definierten sich während ihrer gesamten Zeit in der Sowjetunion als Deutsche und ihr Leben war gekennzeichnet von dem Bemühen, ihre Sprache und die als deutsch empfundene Kultur und Identität zu bewahren und im Generationenverlauf weiter zu tradieren. Deshalb legten sie Wert auf eine klare Abgrenzung von der sie umgebenden russischen Majorität. Ein zentrales Element ihrer Selbstwahrnehmung als Deutsche bildete das Empfinden eines Opferstatus, das aus eigenen traumatischen Vertreibungserlebnissen resultierte. Die mit dem Beginn des Lebens in der Bundesrepublik Deutschland einsetzende Diskrepanz zwischen der eigentlichen Überzeugung, deutsch zu sein, und der Erkenntnis, dass die eigene Kultur der einheimisch deutschen nicht entspricht, führt bei der Großelterngeneration aufgrund ihrer Sozialisationsbedingungen zu einer besonders tiefen Erschütterung. Da die Großeltern innerhalb ihres kulturellen Selbstbildes während ihres gesamten Lebens ausschließlich eine deutsche Zugehörigkeit definierten, kommen sie nun beinahe zwangsläufig zu einer Negatividentifikation. Im Gegensatz zur Eltern- und Kindergeneration findet in der Auseinandersetzung mit der Irritation im eigenen kulturellen Bereich

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bei den Großeltern an dieser Stelle keinerlei Rückbesinnung auf eine eventuelle Prägung durch russische Kulturelemente statt, da sie das sowjetische Erziehungs- und Schulsystem nur in geringem Maße durchliefen und kaum Kontakte zur russischen Gesellschaft unterhielten. Somit kann die Großelterngeneration bei der Erschütterung ihrer zeitlebens als deutsch empfundenen Orientierung nicht die Prägung durch eine andere Kultur als mögliche Begründung für die von ihr wahrgenommenen Unterschiede zwischen der eigenen Kultur und bundesdeutschen Kulturelementen heranziehen. Im Vergleich zu der Gruppe der einheimisch Deutschen kommen die Großeltern daher zu der Überzeugung, »nicht richtig deutsch« zu sein. Diese Selbstdefinition resultiert letztendlich daraus, dass sich die Großelterngeneration zum einen der bundesdeutschen Kultureinheit nicht zugehörig fühlen kann und ihr demnach die Selbstwahrnehmung als »richtig deutsch« verwehrt bleibt. Andererseits muss sie jedoch aus Mangel an Alternativen an ihrer ursprünglich als deutsch empfundenen Identität festhalten und hat somit nur die Möglichkeit, zu einer negativen Definition zu gelangen. Diese geht einher mit der erneuten Wahrnehmung eines Status als Opfer, wobei nun eine Ablehnung und Stigmatisierung vonseiten der bundesdeutschen Gesellschaft empfunden wird. Deutsche »mit russischem Glanz« – Kulturelle Zusatzkomponente als Bereicherung für Russlanddeutsche aus akademischem Milieu Maßgebliche Auswirkungen auf die Bewältigung des Kulturkonfliktes können auch bezüglich des Bildungsniveaus in den Familien beobachtet werden. Dabei wirkt sich der Bildungsstand auf die Bewältigungsstrategien der Eltern- und Kindergeneration aus, nicht aber auf die Generation der Großeltern. Auch die russlanddeutschen Familien mit akademischem Hintergrund definierten für sich während ihres Lebens in der ehemaligen Sowjetunion eine deutsche Zugehörigkeit, hinsichtlich der durch die Konfrontation mit der bundesdeutschen Gesellschaft eine Verunsicherung empfunden wird. Im Verlauf des Reflexionsprozesses der eigenen Zugehörigkeit findet jedoch zusätzlich zu der grundsätzlichen Definition als Deutsche eine Rückbesinnung auf die während ihres Lebens in Russland erfolgte Prägung durch die russische Kultur statt. Als russisch beschriebene Kulturelemente werden nun im eigenen Habitus entdeckt und als kulturelle Zusatzkomponente in das Selbstbild mit einbezogen, sodass die wahrgenommenen Unterschiede zwischen der eigenen als deutsch empfundenen Kultur und der als einheimisch deutsch eingeordneten Lebensart begründet werden kann.

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Die Andersartigkeit im kulturellen Bereich wird von den akademischen Familien ausdrücklich als Bereicherung empfunden, sodass sie sich im Vergleich zu Bundesdeutschen aufgrund ihrer zusätzlichen kulturellen Komponente als vielseitiger und interessanter wahrnehmen. Sie kommen dadurch zu einer positiven kulturellen Selbstverortung und definieren sich als »Deutsche mit russischem Glanz«. Während der Bereich der ethnischen Zugehörigkeit nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zahlreichen Veränderungsprozessen ausgesetzt ist, stellt die eigene Verwurzelung in einem akademischen Bildungsmilieu für die Familien ähnlich wie die zuvor beschriebene Religiosität eine Konstante dar, auf die sie in der Auseinandersetzung mit ihrer ethnischen Orientierung zurückgreifen können. Deutsche »mit Makel« – Kulturelle Andersartigkeit als anhaftendes Stigma für Russlanddeutsche aus nicht-akademischem Milieu In der Betrachtung der Gesamtstudie stellen die Familien aus nicht-akademischem Milieu sozusagen das Gegenstück zu den Russlanddeutschen mit höherem Bildungsstand dar. Auch sie definierten für sich während ihres Lebens in Russland eine deutsche Zugehörigkeit, die nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen verunsichert wird. Im Verlauf des daraufhin einsetzenden Reflexionsprozesses werden von den nicht-akademischen Russlanddeutschen dann zunächst ganz ähnliche Ansätze zur Bewältigung der Irritation des ethnischen Bereiches gewählt wie von den Familien aus akademischem Milieu, doch letztendlich ein vollkommen anderes Resultat erzielt. So findet unabhängig vom Bildungsstand auch bei den Familien aus nichtakademischem Milieu eine Rückbesinnung auf prägende Elemente der russischen Kultur statt, sodass die in die eigene Handlungspraxis übernommenen und als russisch empfundenen Elemente innerhalb des Selbstbildes als zusätzliche Komponente aufgenommen werden. Sie gelangen ebenso zu der Definition, grundsätzlich Deutsche zu sein, jedoch mit dem Zusatz, sich durch die zusätzliche Verinnerlichung von russischen Kulturelementen von einheimisch Deutschen zu unterscheiden. Während diese Rückbesinnung noch einheitlich vorgenommen wird, weichen die nicht-akademischen Familien in der subjektiven Bewertung der kulturellen Zusatzkomponente aber gänzlich von der Einschätzung der akademischen Russlanddeutschen ab und bewerten die eigene Prägung durch russische Kulturelemente überwiegend negativ. In ihr sehen sie die Ursache für eine erneute

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Ausgrenzung. Aufgrund dieser nicht gewollten kulturellen Andersartigkeit definieren sie für sich einen Status als »Deutsche mit Makel«. Hierbei wird deutlich, dass bei den Familien aus nicht-akademischem Bildungsmilieu die Verunsicherung der eigenen Kulturzugehörigkeit im Gegensatz zu den akademischen Familien nicht durch das Zurückgreifen auf einen zusätzlich stabilisierenden familiären Rahmen abgemildert und zufriedenstellend bewältigt werden kann. Stattdessen tritt im Rahmen der Auseinandersetzung mit der kulturellen Orientierung die Wahrnehmung eines Opferstatus in der Bundesrepublik Deutschland als ein dominierendes Element auf. Die »wahren« Deutschen – Das Selbstbild der religiösen Russlanddeutschen als konstitutives Element russlanddeutscher Identität Die persönliche Religiosität stellt bei gläubigen Befragten einen wesentlichen Einflussfaktor für die Herausbildung des kulturellen Selbstbildes dar. In der bisherigen Forschung wurde für die Mitglieder russlanddeutscher Freikirchen eine Art Sonderrolle definiert.9 Aufgrund der meist ausschließlich russlanddeutschen Mitglieder und der damit einhergehenden Vermischung von kulturellen und religiösen Inhalten werden im Sample diejenigen Personen als »religiös« bezeichnet, die Mitglieder einer russlanddeutschen Freikirche sind.10 So gelangen diejenigen Personen, die sich selbst als religiös bezeichnen, zu einem einheitlichen Selbstbild. Charakteristisch ist hierbei, dass Elemente des kulturellen und des religiösen Bereiches in der eigenen Wahrnehmung verschmelzen. Neben einer Verwurzelung in der deutschen Kultur wiesen die religiösen Russlanddeutschen daher während ihres Lebens in Russland auch eine Zugehörigkeit zur religiösen Minderheit auf, wobei ihre als deutsch empfundene Identität eng verknüpft war mit der Definition als Gläubige. Um ihr deutsches Kulturgut und ihre religiöse Ausrichtung bewahren und innerhalb der Familie tradieren zu können, legten sie Wert darauf, in Abgrenzung von der sie umgebenden russischen Gesellschaft zu leben. Der sich nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland und durch die Konfrontation mit der bundesdeutschen Gesellschaft vollziehende Reflexionsprozess resultiert bei den religiösen Russlanddeutschen in der Herausbildung eines positiven kulturellen Selbstbildes. Die Erkenntnis, dass sich die eigene, als deutsch empfundene Kultur in weiten Teilen von bundesdeutschen Kulturele-

9

Siehe hierzu auch Eyselein (2006), Vogelgesang (2006) und Ilyin (2006).

10 Nähere Ausführungen dazu siehe auch in Kiel (2009: 75).

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menten unterscheidet, führt zu der Überzeugung, im Vergleich zu einheimisch Deutschen die eigentlich »wahren Deutschen« zu sein. So wird neben der mangelnden Frömmigkeit der Bundesdeutschen beispielsweise auch deren fehlender Patriotismus kritisiert und im Gegenzug die eigene Verwurzelung in der deutschen Kultur betont. Wenn auch die Verunsicherung im ethnischen Bereich nach der Einreise in die Bundesrepublik bewältigt werden muss, stellt die Religiosität doch eine die Migration überdauernde Konstante dar, die eine stabilisierende Wirkung besitzt. Da sich die Einzelnen sowohl als Deutsche wie auch als Christen identifizieren, bleibt bei der Irritation der ethnischen Identität Religiosität als identitätsstiftendes Element bestehen, sodass ausreichend Ressourcen für eine zufriedenstellende Bewältigung des Kulturkonflikts freigesetzt werden. Die »sowjetischen Leute« – Das Selbstbild der ethnisch-gemischten Familien Im Gegensatz zu den russlanddeutschen sehen sich die ethnisch gemischten Familien nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland einem Kulturkonflikt gegenüber, der kaum eine Auseinandersetzung mit der eigenen ethnischen Orientierung fordert. Dies ist dadurch zu erklären, dass in den interethnischen Familien während ihres Lebens in der ehemaligen Sowjetunion eine Zugehörigkeit definiert wurde, die durch die Konfrontation mit der bundesdeutschen Gesellschaft keinerlei Verunsicherung erlebt. So nahmen sich die Familienmitglieder aufgrund ihrer Sozialisation durch das sowjetische Erziehungs- und Schulsystem stets als Angehörige der sowjetischen Kultur wahr. Diese wurde als eine Art »Sammelkultur« verstanden, die als übergeordnete Einheit Elemente aus verschiedenen Kulturen beinhaltete und eine generelle Offenheit gegenüber anderen Kulturen ermöglichte. Dadurch konnten unterschiedliche Kulturelemente gemischt werden, ohne die eigene kulturelle Zugehörigkeit und Identität hinterfragen zu müssen. Somit kamen die gemischten Familien nicht mit der Vorstellung nach Deutschland, aufgrund ihres »Deutsch-Seins« einen Anspruch auf die Zugehörigkeit zur bundesdeutschen Gesellschaft und Kultur zu besitzen, und können daher ihre ursprüngliche kulturelle Identität beibehalten. Anders als bei den russlanddeutschen Familien gestaltet sich der Kulturkonflikt für sie demnach lediglich auf der Ebene, eine Lösungsstrategie für den Umgang mit fremden Kulturelementen entwickeln zu müssen. Hierbei greifen sie auf das während ihres Lebens in der ehemaligen Sowjetunion erprobte Prinzip des Mischens von Kul-

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turen zurück, was das Einbeziehen von bundesdeutschen Kulturelementen in das eigene kulturelle Selbstbild problemlos ermöglicht.

S ELBSTBILD

UND INTEGRATIVES

V ERHALTEN

Bei allen Russlanddeutschen setzt mit der Migration nach Deutschland ein Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunftskultur ein, insbesondere mit der Frage nach der eigenen ethnischen Identität. Im Bewältigungsprozess sind die Familien jedoch unterschiedlich weit vorangeschritten. Letztendlich kommen alle untersuchten Familien zu einer Modifikation ihres Selbstbildes, wobei diese neu angepasste Identifizierung jedoch nicht für alle zufriedenstellend ist. Während bei der Großelterngeneration übergreifend der ethnische Bereich und die sich darin vollziehende Irritation anhaltend dominierend bleiben, erfährt die Zweidimensionalität des Kulturkonfliktes im Generationenverlauf unter bestimmten Bedingungen eine Abschwächung. So ist es den Familien, in denen nicht-ethnische Ressourcen wie ein hohes Bildungsniveau oder eine persönliche Religiosität vorhanden sind, möglich, Strategien zu einer erfolgreichen Bewältigung zu entwickeln. Diese kommen im Laufe des Identitätsbildungsprozesses durch das Zurückgreifen auf andere stabilisierende Faktoren zu einer positiv ausgestalteten ethnischen Identität. So ist davon auszugehen, dass innerhalb dieser Familien die Irritation und das damit einhergehende Risiko im ethnischen Bereich stetig an Dominanz einbüßen. Gegenläufig dazu gewinnt die Verunsicherung im ethnischen Bereich bei den Russlanddeutschen ohne nicht-ethnische Ressourcen im Generationenverlauf an Bedeutung. Sie gelangen zu einem negativ ausgestalteten Selbstbild und damit einhergehend zu einer stärkeren Ausprägung des empfundenen Status als Opfer. Letztendlich haben die Familien, die zu einer positiven und demnach zufriedenstellenden Verortung im ethnischen Bereich gekommen sind, den Bewältigungsprozess erfolgreich gemeistert und die Zweidimensionalität des Kulturkonfliktes aufgelöst. Demgegenüber stellt sich für die Familien mit negativer Ausgestaltung der ethnischen Identität der Kulturkonflikt noch immer auf zwei Ebenen dar, was zu einer allgemeinen Handlungsunsicherheit führt. Die Integrationsbereitschaft der Einzelnen zeigt sich dabei maßgeblich abhängig davon, ob eine positiv oder negativ ausgestaltete Selbstdefinition entwickelt wird. So nehmen zwar alle Personen der Untersuchung eine strukturelle In-

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tegration11 vor, darüber hinaus werden aber von denjenigen mit negativem Selbstbild keine weiteren integrativen Leistungen erbracht. Durch die verstärkte Wahrnehmung einer Opferrolle werden hier zudem eine Ausgrenzung von der bundesdeutschen Gesellschaft und ein Rückzug in die Eigengruppe vorgenommen. Die Familien mit positivem Selbstbild sind demgegenüber gekennzeichnet von einer umfassenden Bereitschaft zur Integration, die auch die Bereiche einer sozialen und teilweise kulturellen Integration umfasst. Eine Ausnahme bilden dabei die religiösen Familien, die trotz einer positiven Ausgestaltung des Selbstbildes aufgrund ihrer theologischen Ausrichtung einen Status als Ausgegrenzte in Kauf nehmen. Dadurch werden auch hier außer einer Integration auf struktureller Ebene keine weiteren integrativen Leistungen erbracht. Grundsätzlich zeigt sich, dass der zweidimensionale Kulturkonflikt der Russlanddeutschen zwar eine Herausforderung darstellt, unter bestimmten Bedingungen aber durchaus positiv bewältigt wird. Haben die Einzelnen im Identitätsbildungsprozess zu einer zufriedenstellenden ethnischen Identifizierung gefunden, können die zusätzlichen kulturellen Kompetenzen als Ressource genutzt werden. Die innerhalb dieses Prozesses entwickelten Lösungsstrategien und neu generierten Kompetenzen stellen darüber hinaus ein Handlungsrepertoire für die Bewältigung möglicher weiterer Herausforderungen dar.

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11 Zur hier verwendeten Definition des Integrationsbegriffes siehe die Ausführungen von Berger (2000: 10-11).

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Die Bedeutung der Religion für den Identifikations- und Migrationsprozess der Russlanddeutschen G ERALD G REDINGER

E INLEITUNG Wenn über das Phänomen Russlanddeutsche gesprochen wird, könnte zunächst eingewandt werden, was das Ganze mit Religion zu tun hat. Religion stellt historisch betrachtet einen Hauptgrund für die großen Migrationswellen im 18. und 19. Jahrhundert aus deutschsprachigen Gebieten ins russische Zarenreich dar: Konkret war es die versprochene Religionsfreiheit im Einladungsmanifest,1 die eine zentrale Rolle als Pull-Faktor zur Niederlassung im russischen Reich einnahm. Die Wichtigkeit der Religion bei der ursprünglichen Auswanderung wirft die Frage auf, welche Rolle sie heute spielt. Der Beitrag nimmt insofern eine Problemstellung auf, der sich Vladimir Ilyin (2006) im Vorgängerband widmete. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit zwei Kernfragen:

Lässt sich im Falle der Russlanddeutschen eine Verbindung zwischen Religion und ethnischem Zughörigkeitsgefühl empirisch belastbar nachweisen? Hat Religion nachweislich Einfluss auf das heutige Migrationsverhalten der Russlanddeutschen?

1

Konkret »Manifest für ausländische Kolonisten zur Niederlassung in Russland« von 1763, auch Einladungsmanifest genannt.

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Die folgenden Ergebnisse sind Teilergebnisse einer Dissertationsarbeit, die sich mit Identitätskonstruktionen und Migrationsprozessen Russlanddeutscher beschäftigt, und basieren auf der Auswertung eines standardisierten Online-Fragebogens, der speziell für dieses Dissertationsprojekt erstellt wurde. Die Befragung fand zwischen dem 27. März und 11. Dezember 2010 statt. An der Befragung nahmen insgesamt 627 Personen teil. 44,5% der RespondentInnen haben ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland, 35,6% in Russland und 10,6% in einem anderen Land der ehemaligen Sowjetunion. Bei den restlichen 9,3% war keine Zuordnung des Lebensmittelpunktes möglich. Da es sich bei den Russlanddeutschen nicht um eine Gruppe mit einem vollständigen Mitgliederverzeichnis handelt, konnte bei der Stichprobenziehung auf kein Zufallsauswahlverfahren zurückgegriffen werden. Als Alternative zum Zufallsauswahlverfahren wurde das Schneeballverfahren gewählt. In Anlehnung an die »Multi-Sited Ethnography« (vgl. Marcus 1995) wurde auf die Methode der Online-Befragung zurückgegriffen, weil die Lebensmittelpunkte der Personen in der Zielgruppe über große geografische Distanzen hinweg verstreut sind.

R ELIGION UND DER GEGENWÄRTIGE I DENTIFIKATIONSPROZESS DER R USSLANDDEUTSCHEN Vladimir Ilyn sieht Religion im russlanddeutschen Kontext als zusätzlichen Marker für Ethnizität, wenn er schreibt2: »Die Gliederung des religiösen Raumes in religiöse Felder überschneidet sich häufig mit der Gliederung des ethnischen Raumes in ethnische Felder. So lassen sich viele Völker eindeutig ein oder zwei vorherrschenden Konfessionen zuordnen: Deutsche sind überwiegend, gleich in welchem Land sie leben, evangelisch oder katholisch; ethnische Russen dagegen sind orthodox, Polen katholisch und Tataren muslimisch.« (Ilyin 2006: 280)

2

Ilyin (2006) untersuchte die Rolle der Religion im Identitätsfindungsprozess der Russlanddeutschen. Ausgehend von der Bourdieu'schen Kulturtheorie wird das religiöse Feld als ein Kraftfeld verstanden, in dem sich die Kräftelinien zwischen den Akteuren in Abhängigkeit von deren Zugangsmöglichkeiten zu den verschiedenen Kapitalsorten und von der Qualität des zugänglichen Kapitals ausbilden. Auch im religiösen Feld geht es, wie in jedem anderen sozialen Feld, letztlich um Machtgewinn und Machterhaltung.

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Räume und Felder werden hier, in Anlehnung an Pierre Bourdieu, als soziale Kategorien konzipiert. Gesellschaften stellen sich als soziale Räume dar, »[…] als Strukturen von Unterschieden […]« (Bourdieu 1998: 49). Das jeweilige soziale Feld, im konkreten Fall das religiöse, ist dann das Spielfeld, auf dem nach den jeweiligen Regeln oder objektiven Strukturen die einzelnen Akteure ihre Positionen in Relation zueinander einnehmen. Diese Positionen werden durch den Zugang zu Kapital bestimmt. Ilyin schenkt dem religiösen Feld im Falle der Russlanddeutschen besondere Aufmerksamkeit, weil es seiner Ansicht nach: »[…] für einen Großteil der Russlanddeutschen in der ehemaligen Sowjetunion, aber auch für viele Aussiedler und Spätaussiedler in Deutschland, einen der wichtigsten, durch ›relative Autonomie‹ bestimmten sozialen Räume objektiver Beziehungen darstellt.« (Ilyin 2006: 278)

Als einen Grund für die enge Verbindung von Religion und Ethnizität in der Eigenwahrnehmung führt Ilyin an, dass sich die deutsche Ethnie, obwohl sie selbst verschiedenen Konfessionen angehörte, von den Konfessionen der Mehrheitsbevölkerung in Russland unterschied. Somit war ein Unterscheidungsmerkmal gegeben und ein religiöser Marker kann in diesem Fall mit einem ethnischen Marker gleichgesetzt werden. Entscheidenden Anteil an dieser (Selbst-) Markierung hat auch die besondere Stellung der orthodoxen Kirche, die in der Russischen Föderation den Rang einer Staatskirche besitzt. Graßmann (2006) beschreibt den Zusammenhang zwischen orthodoxer Kirche und Staat aus deren Sicht folgendermaßen: »Mitglieder der Staatsnation zählen in orthodoxer Sicht automatisch zur Kirche.« (Graßmann 2006:19)

Einen Grund dafür sieht Graßmann im orthodoxen Verständnis der Zusammenarbeit von kirchlicher und staatlicher Gewalt, die sich darin äußert, dass die Kirche vom Staat beschützt wird und sie ihrerseits den Staat stützt, wobei der Staat der Kirche übergeordnet ist: »Die Kirche stützt den Staat, der Staat schützt die Kirche.« (Graßmann 2006:19)

Daran ist erkennbar, dass religiöse Marker auch als Abgrenzungsmerkmale bezüglich nationaler Zugehörigkeit herangezogen werden können und auch werden. Auch für Petrova (2003) stellt die Religion, und hierbei vorranging der Protestantismus eine wichtige Rolle für die Identität der Russlanddeutschen dar.

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Konkret sieht Petrova einen Zusammenhang zwischen der Religion und der kulturellen Identität der Russlanddeutschen und streicht dabei die symbolische Bedeutung von kirchlichen Festen hervor: »Sie sind ein Teil des deutschen Brauchtums und ein Abgrenzungsmerkmal anderen Ethnien und Religionen gegenüber.« (Petrova 2003: 14)

Petrova schränkt die religiöse Bedeutung dieser Feste jedoch ein, wenn sie schreibt: »All diese Feste werden in erster Linie jedoch nicht als religiös, sondern als deutsch […] verstanden.« (Petrova 2003: 14)

Diese Einschätzung teilt auch Graßmann aus theologischer Sicht: »Statt Feste wie Weihnachten oder Ostern als christliche Feiertage bewusst zu begehen, sanken sie zu einem Brauch herab.« (Graßmann 2006: 584),

wobei er allerdings auf Hans Naumanns hochproblematischen und längst widerlegten Begriff des »gesunkenen Kulturguts« rekurriert.3 Einen alternativen Erklärungsansatz, der sich mit der Bedeutung von Festen befasst, liefert Bourdieu, wenn er über symbolische Arbeit schreibt, die seiner Meinung nach »[...] für den Fortbestand der Gruppe nicht weniger unerlässlich ist als die Reproduktion ihrer ökonomischen Grundlagen [...].« (Bourdieu 1999: 205)

Was die Situation in Deutschland betrifft, so kommt Petrova (2003) zum Schluss, dass die Bedeutung der Religiosität für Russlanddeutsche in Deutschland die gleiche Gültigkeit wie im Raum der ehemaligen Sowjetunion behält. Strobl, Kühnel und Heitmeyer (1999) stellen in diesem Zusammenhang fest: »Auch das Verhältnis zur Religion fällt bei den Aussiedlern traditioneller als bei den einheimischen Deutschen aus.« (Strobl/Kühnel/Heitmeyer 1999: 13)

3

Vgl. Schirrmacher (1992): »Der göttliche Volkstumsbegriff« und der »Glaube an Deutschlands Größe und heilige Sendung«. Hans Naumann als Volkskundler und Germanist unter dem Nationalsozialismus. 2 Bände.

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Aus dieser Perspektive betrachtet, scheint die Religion großes Potenzial in sich zu tragen, als Identitätsmarker in Unterscheidung zur jeweiligen Mehrheitsgesellschaft fungieren zu können und das unabhängig vom Lebensmittelpunkt. Die hauptsächlichen Fragen, die sich daraus für die gegenwärtige Situation ergeben, sind zum einen: • • •

Die Frage nach einer etwaigen Konfession selbst; Die Frage nach der Gläubigkeit und Religiosität; Die Frage nach dem Zugehörigkeitsgefühl zu einer religiösen Gemeinschaft.

Dabei ist vor allem auch wichtig zu hinterfragen, ob sich in diesem Zusammenhang auch Unterschiede zwischen den jeweiligen Lebensmittelpunkten Deutschland und Russland ausmachen lassen. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach Unterschieden zwischen Altersgruppen, da Worbs, Bund, Kohls und von Gostomski für Deutschland feststellen: »Vor allem die ältere Generation der (Spät-)Aussiedler hat sich deutschen Kirchengemeinden angeschlossen.« (Worbs et al. 2013: 196)

Als Folge daraus wird zu untersuchen sein, ob sich eine Verbindung zwischen den Konzepten Konfession, Gläubigkeit, Religiosität und Zugehörigkeit erkennen lässt und schließlich, ob hier auch eine Verbindung zu einem ethnischen Zugehörigkeitsgefühl besteht: Kann überhaupt von religiösen Markern beim Selbstbild gesprochen werden und wenn ja, kann in weiterer Folge von religiösen auf ethnische Marker geschlossen werden? Die Kernfrage hierbei ist, ob die Religion einen Einfluss auf die Identität der Russlanddeutschen hat.

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Die Konfession Die Frage nach der Konfession wird von den Respondenten folgendermaßen beantwortet: Abbildung 1: Das Religionsbekenntnis

Lutheranisch (Evangelisch)

Orthodox

Katholisch

Mennonitisch/ Baptistisch

Atheist

Sonstiges

0

10

20

30

40

50

Quelle: Eigene Datenerhebung

Abbildung 1. zeigt zunächst, dass die große Mehrheit der Befragten ein Religionsbekenntnis umstandsfrei anzugeben vermag oder zumindest angibt ein Religionsbekenntnis zu haben. Ebenso fällt auf, dass die größte Gruppe sich als Lutheraner deklariert, was als erster Hinweis auf eine Unterscheidung zum Russischen gedeutet werden kann, da die orthodoxe Kirche, wie oben angeführt, in Russland den Rang einer Staatskirche besitzt. Die zweitgrößte Gruppe, nämlich rund ein Drittel der Befragten, geben an orthodox zu sein. Hieraus ergibt sich die Frage, ob sich die einzelnen konfessionellen Gruppen hinsichtlich ihres Zugehörigkeitsgefühls zur Gruppe der Russlanddeutschen unterscheiden. Bei der Auswertung der Zahlen verhält es sich in der Tat so, dass Lutheraner, Mennoniten/Baptisten die höchsten Prozentzahlen bei der Verbundenheit mit der Gemeinschaft der Russlanddeutschen aufweisen. Jeweils zwei Drittel geben bei der Frage nach der Verbundenheit mit der Gemeinschaft der Russlanddeutschen an, dass sie sich mit dieser sehr verbunden bzw. verbunden fühlen, gefolgt von Katholiken mit 60%. Immerhin aber noch deutlich mehr als die Hälfte der Orthodoxen (55,5%) bezeichnen sich als verbunden oder sehr verbunden mit der Ge-

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meinschaft der Russlanddeutschen. Dies ist angesichts der oben zitierten Aussagen von Petrova und Ilyn, für die die konfessionelle Abgrenzung von der orthodoxen Mehrheitsgesellschaft in Russland einen wichtigen Identitätsmarker im Selbstverortungsprozess darstellt, einigermaßen überraschend. Anders verhält es sich bei Atheisten und jenen Befragten, die »sonstiges« beim Religionsbekenntnis angegeben haben, von ihnen fühlen sich jeweils weniger als die Hälfte (sehr) verbunden mit der Gemeinschaft der Russlanddeutschen (47,6 bzw. 46,7%). Bei der statistischen Überprüfung auf signifikante Unterschiede bezüglich der Verbundenheit zwischen den einzelnen Konfessionen konnten leichte Unterschiede zwischen Konfession und »Nicht Konfession« festgestellt werden. Es fühlen sich also jene, die ein Religionsbekenntnis angegeben haben, tendenziell verbundener mit der Gemeinschaft der Russlanddeutschen, als diejenigen, die sich formal als Atheist bezeichneten. Dies – sowie die hohe Zahl der bekennenden Russlanddeutschen, die ein orthodoxes Glaubensbekenntnis haben – führt zu der Überlegung, ob nicht die Konfession an sich, sondern vielmehr die Religiosität eine bedeutendere Rolle im Zusammenhang mit der Verbundenheit zur Gemeinschaft der Russlanddeutschen spielt. Die Religiosität Die Religiosität wurde in drei Schritten abgefragt. Neben der allgemeinen Frage nach der Gläubigkeit wurde die Frage nach der Bedeutung der Religion im Leben der Befragten gestellt und in einem dritten Schritt wurden die Befragten gebeten anzugeben, ob sie aktives Mitglied einer religiösen Gemeinde sind.

Abbildung 2: Aussagen zu Glaube und Religion 70

60

50 Ich bin ein gläubiger Mensch (n=351)

40

Religion spielt in meinem Leben eine große Rolle (n=323) 30

Ich bin aktives Mitglied einer religiösen Gemeinde (n=306)

20

10

0 stimme nicht zu

2

3

Quelle: Eigene Datenerhebung

4

stimme sehr zu

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Abbildung 2 zeichnet ein deutliches Bild: Es besteht zunächst kein Kausalzusammenhang zwischen Gläubigkeit und starker Religiosität in einem konfessionellen Kontext. Schon gar nicht darf von Gläubigkeit, aber auch von Religiosität, auf ein aktives Engagement innerhalb einer kirchlichen Gemeinschaft geschlossen werden. Was jedoch im konkreten Fall von Interesse ist, ist ob sich Gläubigkeit und Religiosität auf die Verbundenheit mit der Gemeinschaft der Russlanddeutschen auswirken. Hier sind die Ergebnisse relativ eindeutig: Je gläubiger die Befragten sind, desto stärker sind sie subjektiv verbunden mit der Gemeinschaft der Russlanddeutschen (Phi=0,3, höchst signifikant). Je größer die Rolle der Religion im Leben ist, desto stärker sind sie subjektiv verbunden mit der Gemeinschaft der Russlanddeutschen (Phi=0,3, höchst signifikant). Je aktiver sie in einer religiösen Gemeinde sind, desto stärker sind sie subjektiv verbunden mit der Gemeinschaft der Russlanddeutschen (Phi=0,2, nicht signifikant).

Die Analyse der Ergebnisse lässt den eindeutigen Schluss zu, dass Glaube und Religiosität über alle Konfessionen hinweg positiv mit der Verbundenheit mit der Gemeinschaft der Russlanddeutschen korreliert. Jedoch ist bei denen, die angeben in einer religiösen Gemeinschaft aktiv zu sein, die Verbundenheit mit der Gemeinschaft der Russlanddeutschen am schwächsten und auch nicht signifikant. Hier scheint es sich zunächst so zu verhalten, dass bei den in einer religiösen Gemeinschaft aktiven Gläubigen im Zusammenhang von Religion und ethnischer Zugehörigkeit die ethnische Zugehörigkeit eine untergeordnete Rolle spielt. Es zeigt sich jedoch, dass die Konfession nicht ganz außer Acht gelassen werden darf, wenn die Verbundenheit mit Russland und mit Deutschland mit in die Analyse einfließt und auf einen Zusammenhang mit Konfession getestet wird. Es verhält sich so, dass die Orthodoxen mit 55% im Vergleich zu den anderen Konfessionen sich tendenziell am stärksten mit Russland verbunden fühlen, während die Lutheraner sich zu 66% mit Deutschland verbunden fühlen und damit die am meisten herausragende Subgruppe darstellen. Dieses Ergebnis lässt sich dahingehend interpretieren, dass auch heute noch in bestimmten Kontexten orthodox eine russische und evangelisch eine deutsche Konnotation besitzt. Auch wenn evangelisch nicht per se mit deutsch und orthodox nicht per se mit russisch gleichgesetzt werden darf, deutet Ersteres doch in Richtung deutsch und Letzteres in Richtung russisch. Da-

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rin lässt sich auch die von Petrova (2003) postulierte Bedeutung von Religion für das deutsche Element in der kulturellen Identität der Russlanddeutschen unabhängig von der tatsächlichen Gläubigkeit wiedererkennen. Ein anderes Bild zeigt sich jedoch bei der Betrachtung der Gläubigkeit. Mit zunehmender Gläubigkeit stellt die Religion nicht nur einen potenziellen, sondern einen tatsächlichen Marker dar, der die Russlanddeutschen von der Mehrheitsgesellschaft sowohl im GUS-Raum als auch in Deutschland abhebt. Dabei lassen sich jedoch Unterschiede im Antwortverhalten zwischen den Lebensmittelpunkten Deutschland und Russland erkennen. Befragte, die ihren Lebensmittelpunkt in Russland haben, sehen sich tendenziell gläubiger als Befragte, die in Deutschland leben (Phi=0,3; höchst signifikant). Diese Unterschiede bestehen für alle Altersgruppen. An beiden Lebensmittelpunkten fällt jedoch auf, dass Befragte, die Mitglied, in einem Verein speziell für Russlanddeutsche sind, sich vom Rest hinsichtlich ihrer Gläubigkeit abheben (Deutschland: 51,0% vs. 33,5%; Russland: 71,0% vs. 60,4%). Das spricht dafür, dass die soziale Vernetzung über Vereine speziell für Russlanddeutsche eine befördernde Wirkung von religiösen Markern als Kennzeichen der Mitgliedschaft auf die Verortung als Mitglied der Gemeinschaft der Russlanddeutschen hat. Innerhalb dieser Netzwerke laufen damit Prozesse der symbolischen Arbeit ab, die zur Überschneidung von religiösem und ethnischem Feld beitragen.

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Wie eingangs erwähnt, stellte Religionsfreiheit einen zentralen Pull-Faktor für das Migrationsverhalten der Russlanddeutschen im 18. und 19. Jahrhundert dar. Auch ist Religion ein ethnischer Marker, der die Russlanddeutschen von der Mehrheitsgesellschaft unterschied. Die Frage, die sich jedoch für die heutige Situation stellt, ist, ob Religion diesen Stellenwert momentan auch noch besitzt: Haben bzw. hatten religiöse Gründe Einfluss auf die Migrationsentscheidung und gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Wunsch, als Deutscher unter Deutschen zu leben, und religiösen Gründen bei der Migrationsentscheidung? Diejenigen, die nach Deutschland migriert sind Auch wenn nur 8,4% (n=178) der Befragen bei der Frage nach Migrationsgründen religiöse Gründe in den Vordergrund stellen und demgegenüber aber 47,5% (n=202) »um als Deutsche(r) unter Deutschen zu leben« angeben, ergab eine genauere Betrachtung der beiden Aussagen im Verhältnis zueinander, dass es den-

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noch einen Zusammenhang zwischen religiösen Gründen und letztgenannter Aussage gibt: Bei denjenigen, die nach Deutschland migriert sind, inklusive derjenigen, die wieder aus Deutschland ausgewandert sind, ergibt sich eine hohe Korrelation zwischen religiösen Gründen und der Aussage »um als Deutsche(r) unter Deutschen zu leben« (Spearman: 0.42; höchst signifikant). Dieses Ergebnis kann dahingehend interpretiert werden, dass vom Grund »um als Deutsche(r) unter Deutschen zu leben« nicht direkt auf religiöse Gründe geschlossen werden darf, aber es umgekehrt doch so scheint, als ob religiöse Gründe Einfluss auf die Perzeption »was deutsch ist « hat. (siehe Graphik I) Tabelle 3: Religiöse Gründe * Um als Deutsche(r) unter Deutschen zu leben (Kreuztabulation) Um als Deutsche(r) unter Deutschen zu leben trifft trifft nicht 2 3 4 sehr zu zu Religiöse Gründe

trifft wenig/ nicht zu (n=134) trifft zu/ sehr zu (n=15)

35% 0,0%

12%

20% 11%

22%

13,3% 6,7% 0,0% 80,0%

Gesamt 100% 100%

Quelle: Eigene Datenerhebung

Es scheint also so, dass diese beiden Zugänge zu Migration in der Praxis als nicht gänzlich voneinander getrennt gesehen werden können, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen als Vehikel für die Migrationsbegründung und zum anderen als indirekten Hinweis darauf, dass Religion für die Selbstsicht als Deutscher für manche Russlanddeutsche auch heute und in der jüngeren Vergangenheit eine noch relevante Rolle spielen kann. Die Religion als Vehikel für die großen Emigrationswellen nach Deutschland ab 1988 sieht auch Graßmann: »Viele sahen in der Taufe weniger einen Bekenntnisakt als vielmehr eine Art Vorbereitung für die Aussiedlung nach Deutschland.« (Graßman 2006: 573)

Dass auch dem deutschen Staat eine zuschreibende Rolle bei der Schaffung von konfessionellen Identitäten Russlanddeutscher im Zuge des Anerkennungsprozesses als (Spät-)Aussiedler zukam, wird weiter unten gezeigt. Es ist jedoch noch zu analysieren, ob sich hier eine bestimmte Subgruppe ausmachen lässt, die dieses Ergebnis erheblich beeinflusst. Sieht man sich zunächst die verschiedenen Konfessionen an, so lässt sich feststellen, dass sich die Lutheraner, Katholiken

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und Mennoniten/Baptisten von den Orthodoxen, Atheisten und denjenigen, die »sonstiges« bei Religion angegeben haben, unterscheiden. Bei ersteren sind es zusammengenommen 13,6% (n=88) und bei den zweiteren lediglich 2% (n=51; entspricht einer Nennung), die auch aus religiösen Gründen nach Deutschland migriert sind. Auch dieses Ergebnis deutet, wie schon weiter oben vermutet, darauf hin, dass die Konfessionen Evangelisch, Katholisch und Mennonitisch/Baptistisch von Teilen der Russlanddeutschen in Abgrenzung zu anderen Religionen oder Konfessionen als tendenziell deutsch angesehen werden. Auch hier verhält es sich so, dass nicht trennscharf zwischen ethnischer Zugehörigkeit und Religion unterschieden werden kann, auch wenn diese Konzepte nicht eins zu eins gesetzt werden dürfen. Aus den durch die Befragung gewonnenen Daten lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:

Eine höhere Zustimmung zu religiösen Gründen als Migrationsgründe führt tendenziell zu einer höheren Zustimmung zur Aussage »um als Deutsche(r) unter Deutschen zu leben«. Die Zustimmung zu religiösen Gründen als Migrationsgründe ist tendenziell höher bei jenen, die sich selbst als Evangelisch, Katholisch oder Mennonitisch/Baptistisch bezeichnen. Evangelisch, Katholisch und Mennonitisch/Baptistisch sind potenzielle Abgrenzungsmerkmale, die auch als ethnische Abgrenzungsmerkmale oder Marker fungieren können und auch teilweise fungieren.

Diejenigen, die nach Deutschland auswandern wollen Bei der Betrachtung derjenigen, die ihren Lebensmittelpunkt in der ehemaligen Sowjetunion haben, aber angeben, nach Deutschland auswandern zu wollen, ergibt sich ein ähnliches Bild zu denjenigen, die bereits nach Deutschland ausgewandert sind. Auch hier überwiegt die Zustimmung zur Aussage »um als Deutsche(r) unter Deutschen zu leben« mit 65,2% (n=135) deutlich gegenüber der Zustimmung zur Aussage »aus religiösen Gründen« mit 21,8% (n=124) (stimme zu oder sehr zu). Was jedoch auffällt, ist, dass religiöse Gründe für diejenigen, die zwar auswandern wollen, aber es noch nicht getan haben, eine größere Rolle zu spielen scheinen, als für diejenigen, die bereits ausgewandert sind. Auch der Grund »als Deutscher unter Deutschen zu leben« scheint für den Ausreisewunsch eine größere Bedeutung zu haben, als für die bereits nach Deutsch-

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land Ausgereisten. Hier lässt sich als erstes eine Kontextabhängigkeit hinsichtlich des physischen Lebensmittelpunktes der Befragten vermuten. Parallel jedoch läuft der Zusammenhang zwischen den beiden Gründen, auch in dieser Gruppe gibt es eine ähnlich hohe Korrelation (Spearman: 0.41; höchst signifikant). Dies lässt einen allgemeinen Schluss zu: Je stärker religiöse Motive eine Rolle bei der Migration oder dem Wunsch nach Migration nach Deutschland seitens Russlanddeutscher spielen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch der Wunsch besteht »als Deutsche(r) unter Deutschen« zu leben. Tabelle 4: Religiöse Gründe im Zusammenhang mit dem Wunsch als Deutsche(r) unter Deutschen leben Um als Deutsche(r) unter Deutschen zu leben trifft trifft nicht 2 3 4 sehr zu zu Religiöse Gründe

trifft wenig/ nicht zu (n=82) trifft zu/ sehr zu (n=27)

12%

9%

28%

17%

34%

3,7% 0,0% 7,4% 11,1% 77,8%

Gesamt 100% 100%

Quelle: Eigene Datenerhebung

Als Erklärung für die Tatsache, dass im Vergleich zu denen, die noch nicht nach Deutschland ausgewandert sind, sowohl ethnische als auch religiöse Motive stärker zum Ausdruck gebracht werden, als bei der Gruppe, die bereits ausgewandert ist, lässt sich Folgendes vermuten: Erstens sind, wie Ilyn (2006) bereits bemerkte, Evangelisch, Katholisch und Mennonitisch/Baptistisch in Russland und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion Konfessionen, denen nur eine Minderheit angehören. Darüber hinaus besitzen sie eine deutsche Konnotation, was bedeutet, dass sie von einer Minderheit, nämlich der der Russlanddeutschen, besetzt sind. Religion kann also auch heute noch als ein spezifischer kultureller Marker angesehen werden, der die ethnische Identität der Russlanddeutschen stützt. Nicht haltbar wäre hingegen die Aussage, dass Religion als alleiniger kultureller Marker herangezogen werden kann. Es besteht jedoch speziell im Kontext mit dem Migrationsverhalten eine gewisse kulturelle Pfadabhängigkeit, die sich wie ein roter Faden in die Gegenwart zieht. Religion als kulturelle Komponente kann ein Faktor für die Migrationsentscheidung sein, wenn auch in abnehmender Weise und unter anderen Vorzeichen. War es bei den Auswande-

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rungswellen ins zaristische Russland unter anderem die Religionsfreiheit, die als Pull-Faktor diente, so ist es eben jene »mitgebrachte und ererbte« Konfession, die es unter anderem wieder ermöglichte, aus Russland oder einem anderen Land der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland umzusiedeln. Hier spielt der deutsche Staat bei der Kategorisierung von Zugehörigkeitsmerkmalen eine nicht unwesentliche Rolle, für den »[…] der Nachweis der Religiosität bei Aussiedelungskandidaten auch als Nachweis ihrer nationalen Zugehörigkeit [gilt].« (Ilyin 2006: 283)4

Auch wenn man Religiosität, oder einfach nur die formale Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession als reines Vehikel betrachtet, um von einem Container in den anderen schlüpfen zu können, lässt sich bei jenen, die neben anderen Motiven auch angeben, aus religiösen Motiven nach Deutschland übersiedelt zu sein oder übersiedeln zu wollen, nicht von der Hand weisen, dass ein Konnex zwischen religiöser und ethnischer Identität besteht. Diese Konstrukte von Identität haben in einem weiteren Schritt Einfluss auf das tatsächliche Migrationsverhalten eines signifikant großen Teils der Russlanddeutschen.

R ESÜMEE Die erste zentrale Frage des Aufsatzes war, festzustellen, welche Zusammenhänge zwischen Religion und der Selbstidentifikation als Mitglied der Gruppe der Russlanddeutschen bestehen. Die Beantwortung dieser Frage lässt den Schluss zu, dass zunächst die Konfession in bestimmten Kontexten ethnisch

4

Ilyin (2006) beschreibt, wie die religiöse Zugehörigkeit der Russlanddeutschen nicht nur zu einem zusätzlichen Marker für ihr »Deutschsein« geworden ist, sondern wie sie darüber hinaus den Immigrationsprozess in die Bundesrepublik lenkt. In orthodoxen Kirchen getaufte oder auch konfessionslose Russlanddeutsche werden von den deutschen Behörden der katholischen oder protestantischen Kirche zugeordnet, die Kategorie »konfessionslos« ist im Einwanderungsprozess nicht vorgesehen. Insbesondere wird auf die Glaubensgemeinschaft der Mennoniten näher eingegangen. Der Autor bezeichnet die kulturellen, sozialen und religiösen Felder, die sie ausbilden, als relativ geschlossen und sieht gerade darin den Grund für ihre erfolgreiche soziale Integration in die deutsche Gesellschaft. Zwar sind die Mennoniten in Deutschland sozial gut integriert, sie bleiben aber aufgrund ihrer kulturellen Geschlossenheit eine soziokulturelle Randgruppe und religiöse Subkultur.

104 | G ERALD GREDINGER

konnotiert ist, wie eine höhere subjektive Verbundenheit mit Deutschland seitens der Lutheraner gegenüber einer höheren subjektiven Verbundenheit mit Russland bei orthodoxen Respondenten zeigt. Was jedoch die Verbundenheit mit der Gemeinschaft der Russlanddeutschen betrifft, wird ersichtlich, dass es nicht so sehr die Konfession ist, die in diesem Zusammenhang Einfluss auf das Zugehörigkeitsgefühl hat, sondern die Religiosität unabhängig von der Konfession. So wurde oben gezeigt, dass sich die Gläubigkeit und die Bedeutung des Glaubens im Leben der Respondenten positiv auf die Selbstidentifikation als Mitglied der Gemeinschaft der Russlanddeutschen auswirken. Bei Respondenten, die aktives Mitglied in einer religiösen Gemeinschaft sind, schließen sich zwar ethnische und religiöse Identifikation nicht gegenseitig aus, letztere nimmt jedoch eine prominentere Rolle im Identifikationsprozess ein. Die zweite zentrale Frage beschäftigte sich mit der Bedeutung der Religion im Zusammenhang mit Migrationsmotiven. Bei der Beantwortung dieser Frage spielt das Religionsbekenntnis eine stärkere Rolle als im Zusammenhang mit der Verbundenheit mit der Gemeinschaft der Russlanddeutschen. Lutheraner, Katholiken und Mennoniten/Baptisten geben eher an, wegen religiösen Gründen von Russland nach Deutschland gezogen zu sein bzw. nach Deutschland ziehen zu wollen. Dieses Ergebnisses lässt den Schluss zu, dass der von der Mehrheitsgesellschaft divergierende Marker »andere Konfession« einen empirisch belegbaren Push-Faktor darstellt.

L ITERATUR Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft: Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1999): Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Graßmann, Walter (2004): Geschichte der evangelisch-lutherischen Rußlanddeutschen in der Sowjetunion, der GUS und in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Gemeinde, Kirche, Sprache und Tradition. Dissertation, LMU München, http://edoc.ub.uni-muenchen.de/5378/1/Grass mann_Walter.pdf vom 16.02.2004. Ilyin, Vladimir (2006): Religiosität als Faktor für die Immigrationspraxis, in: Sabine Ipsen-Peitzmeier/Markus Kaiser (Hg.), Zuhause fremd – Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland, Bielefeld: transcript, S. 275304.

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Russische Reisebüros in Deutschland Eine explorative Studie zu einem ethnischen Marktsegment M ATTHIAS B URGARD

E INLEITUNG Unternehmer mit Migrationshintergrund haben eine große und zunehmende ökonomische Bedeutung in der Bundesrepublik Deutschland. Laut einer Untersuchung für das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ist im Jahr 2009 fast jedes dritte Gewerbe von Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft gegründet worden. In dem Jahr arbeiteten etwa 678.000 Personen mit Migrationshintergrund als Selbstständige (Jung et al. 2011: 33). Die Migrantenwirtschaft ist vor allem im Bereich der Nahrungsmittelproduktion im städtischen Milieu präsent – sei es in Form von Restaurants, Essensständen oder Lebensmittelgeschäften. »Eine große Zahl an Arabern und Türken [hat] keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel« (Sarrazin 2009: 197f.), konstatierte dazu der umstrittene Autor Thilo Sarrazin. Diese pejorative und eindimensionale Betrachtung lässt sich aber widerlegen, denn Unternehmer mit Migrationshintergrund sind in allen Wirtschaftsbereichen vertreten. Ausländische Arbeitgeber und Selbstständige betreiben sowohl Döner-Buden als auch Hightech-Unternehmen, wie das Recherche Spezial des Leibnitz-Instituts für Sozialwissenschaft Gesis offenlegte (Ross-Strajhar 2008). Im Bereich der Migrantenwirtschaft sind auch Unternehmen vorzufinden, die sich auf Produkte und Dienstleistungen spezialisiert haben, die auf eine Kundschaft derselben Ethnizität ausgerichtet sind. Diese Unternehmen werden im Folgenden als ethnische Unternehmen bezeichnet in Abgrenzung zur übergeordneten Kategorie der Migrantenökonomie, welche nur den Migrationshintergrund der Betreibenden konstatiert, aber nicht deren Ausrichtung im Hinblick auf den potenziellen Kundenkreis. Viele Nischengeschäfte, die zunächst auf die eigene ethnische Gruppe ausgerichtet waren, haben sich erfolgreich in der Mehrheitsge-

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sellschaft etabliert und sich einen breiten Kundenkreis erschlossen. Dementsprechend sind die Abgrenzungen nicht trennscharf zu ziehen bzw. disjunkt, jedoch ist eine Unterscheidung der Begriffe in diesem Kontext lohnend. Auf den ersten Blick scheint es paradox, im Zusammenhang mit Russlanddeutschen von ethnischen Unternehmen bzw. einer ethnischen Ökonomie zu sprechen, da es sich bei ihnen in formaler Hinsicht um Deutsche handelt. Die nationale Zuordnung ist jedoch fehlleitend, denn bedeutsam sind vielmehr die Migrationserfahrungen, die Sozialisation sowie die subjektiven Zugehörigkeiten zu einer ethnischen Gruppe. Die kollektive Identität ist bei Russlanddeutschen nicht als statisch zu betrachten, da reziproke Interaktionen die Selbst- und Fremdzuschreibungen fortwährend neu determinieren (Leicht 2005: 8f.). Der Migrationshintergrund erweist sich vor allem bei ethnischen Unternehmen eigens als Vorteil, da Kulturverständnis und internationale sowie transnationale Netzwerke für die Gründung und den Erfolg unabdingbar sind. Das Kulturverständnis oder auch die Kultursensibilität1 erfasst spezifische Bedürfnisse von Personen mit Migrationshintergrund. So beschreibt beispielsweise Caroline Schmitt Afrosalons als Teil informeller sozialer Unterstützungsnetzwerke insbesondere für afrikanische Frauen (Schmitt 2011). In Deutschland ist das Paradebeispiel im touristischen Bereich für ein ethnisches Unternehmen der Reiseveranstalter Öger Tours. 1969 bot Vural Öger als Erster mit der Fluggesellschaft Öger Türk Tur Direktflüge von Hamburg in die Türkei an, damals noch als Flugdienst für Gastarbeiter, also ein ethnisches Pionier-Unternehmen. 1982 gründete er die Öger Tours GmbH und etablierte sich im Laufe der Zeit als führender deutscher Anbieter von Pauschalreisen in die Türkei und den Orient. Im Jahr vor der Übernahme durch Thomas Cook 2010 machte Öger Tours 256 Millionen Euro Umsatz (Öger-Unternehmensdarstellung 2013). Voraussichtlich ab April 2014 kann man bei seiner neuen Firma »V. Ö. Travel« wieder Reisen in die Türkei buchen (V.Ö.Travel-Homepage 2014). Vural Öger erklärt in einem Interview den Erfolg seiner früheren Unternehmungsgründung damit, dass die erste Generation geringe deutsche Sprachkenntnisse hatte, sodass sie deshalb überwiegend bei anderen Türken eingekauft habe (Lebedew 2013). Neben den Sprachbarrieren lassen sich aber auch andere Gründe für den Erfolg von ethnischen Tourismusunternehmen aufzeigen. Zunächst möchte ich jedoch allgemein auf die Entstehungsbedingungen von ethnischen Unternehmen eingehen. In der Migrationsforschung gibt es drei grundlegende Erklärungsansätze, die für das Entstehen und die Funktionsweise

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Der Begriff kultursensibel stammt genuin aus der Krankenpflege, welche die kulturellen Unterschiede der zu Pflegenden berücksichtigt.

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ethnischer Ökonomien herangezogen werden: das Nischen- bzw. Ergänzungsmodell, das Kulturmodell und das Reaktionsmodell. Diese drei Modelle schließen sich nicht gegenseitig aus (Schutkin 2000: 126f.). So können zur Erklärung die Modelle innerhalb eines Mehr-Ebenen-Ansatzes nutzbar gemacht werden.

F AKTOREN DER U NTERNEHMUNGSGRÜNDUNGEN VON M IGRANTEN : T HEORETISCHE B ETRACHTUNGEN Das gängige Erklärungsmodell für die Gründung von ethnischen Unternehmen stellt das Nischen- bzw. das Ergänzungsmodell dar. Demnach erfolgt das Angebot nach spezifischer Nachfrage. Migranten haben spezielle Bedürfnisse, welche von denjenigen erkannt und erfüllt werden können, die diese teilen, also von den Mitgliedern der eigenen ethnischen Gruppe. Wenn der Bedarf nach speziellen Waren und Dienstleistungen für bestimmte Einwanderergruppen groß genug ist, werden aus ihrer Mitte Gewerbe gegründet, die diesen Bedarf decken (Waldinger/Aldrich/Ward 1990: 21f.). Der Bedarf der eigenen ethnischen Gruppe, welcher auf dem Markt bisher unberücksichtigt blieb, wird durch das Angebot der ethnischen Unternehmen ergänzt, sodass zu dem bisherigen heimischen Markt keine direkte Konkurrenz besteht. Das Nischenmodell ist vor allem zur Erklärung von Existenzgründungen der ersten Generation der Zuwanderer relevant (Schutkin 2000: 127f.). Das sogenannte Kulturmodell erklärt die Entstehung ethnischer Ökonomien als Ergebnis kultureller Normen und Werte der Herkunftsländer der Einwanderer (Schutkin 2000: 129). Die Präferenz für eine selbstständige Tätigkeit ist in europäischen Ländern sehr unterschiedlich. Eine Mentalität der Selbstständigkeit ist z.B. in Südeuropa stärker verbreitet als in Deutschland. Allgemein ist der Anteil an Selbstständigen am höchsten in Ländern mit einem niedrigen Pro-Kopf-Einkommen. So sind in Italien, Griechenland oder der Türkei über 25% der arbeitenden Bevölkerung selbstständig (OCED-Statistik 2011). Aus diesen Ländern haben Zuwanderer statistisch betrachtet eine tendenziell höhere Neigung zur Selbstständigkeit. Die Selbstständigenquote in Deutschland liegt laut Statistischem Bundesamt seit zehn Jahren bei ca. 10-11 Prozent (Institut für Mittelstandsforschung 2013) und befindet sich damit auf einem höheren Niveau im Vergleich zur Russischen Föderation, wo sich die Quote im gleichem Zeitraum unter acht Prozent bewegt (Destatis 2012). Die Herkunft aus einem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion mit vormals planwirtschaftlicher Steuerung stellt sozialisationsbedingt eher ein Manko für die berufliche Selbstständigkeit dar. Innerhalb der ehemaligen Sowjetunion wurden unternehmerische Aktivitäten nur in

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geringem Ausmaß erlaubt und ideologisch negativ konnotiert. Eine Förderung der Selbstständigkeit war politisch nicht erwünscht. Der Umfang selbstständiger Tätigkeiten unter Russlanddeutschen in den Herkunftsgebieten der ehemaligen Sowjetunion erreichte eine geringere Quote als zwei Prozent (Leicht 2005: 38). Die unternehmerischen Aktivitäten sind auch bei Russlanddeutschen höchstgradig unüblich, sodass die Selbstständigkeitsquote von Russlanddeutschen weit unter dem Niveau der Einheimischen sowie anderer Migrantengruppen liegen (Leicht 2005: 63f.). Das Kulturmodell ist wie das Nischenmodell ein Erklärungsansatz für die Selbstständigkeit der ersten Generation der Zuwanderer, da die nachfolgenden Generationen viel stärker von der Aufnahmegesellschaft geprägt werden (Schutkin 2000: 130). Einen dritten Erklärungsansatz bietet das Reaktionsmodell. Selbstständigkeit ist überwiegend ein Phänomen der Zuwanderer der ersten Generation. Der schwierige Zugang zum Arbeitsmarkt für die erste Generation der Zuwanderer führt zu einem Wachstum der selbstständig Beschäftigten. Die zweite Generation hat tendenziell einen leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt und geht seltener den Weg der Selbstständigkeit. Für die Menschen mit russischem Migrationshintergrund spielt die Selbstständigkeit durch Vertreter der zweiten Generation bisher eine marginale bis keine Rolle. Das Fehlen eigener Migrationserfahrungen einhergehend mit einer Sozialisation in Deutschland erhöht die Chancen auf eine abhängige Beschäftigung (Jung et al. 2011: 38f.).2 Wesentliches Motiv für den Entschluss zur Selbstständigkeit wären demnach die vergleichsweise schlechteren Chancen von Migranten auf dem regulären Arbeitsmarkt. Tatsächlich trägt die Bevölkerung mit Migrationshintergrund statistisch gesehen höhere Arbeitsmarktrisiken. Spätaussiedler haben seither häufig beträchtliche Schwierigkeiten, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Diejenigen, die Arbeit finden, sind oft weit unter ihren Qualifikationen beschäftigt (Bauder/Foertsch 2003: 1). Mit Blick auf die hohen Arbeitslosenzahlen scheint nach dem Reaktionsmodell die Selbstständigkeit Ausdruck einer Marginalisierung und Desintegration zu sein. In Anbetracht der vielfach dokumentierten Arbeitsmarktprobleme von Russlanddeutschen ist davon auszugehen, dass solche Mechanismen für diese Gruppe von hoher Bedeutung sind (Leicht 2005: 30). Aufgrund von Arbeitslo-

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Auch hier bietet sich eine Widerlegung der absurden Thesen von Sarrazin an: »Die Deutschrussen haben große Probleme in der ersten, teilweise auch der zweiten Generation, danach läuft es wie am Schnürchen, weil sie noch eine altdeutsche Arbeitsauffassung haben« (Sarrazin 2009: 197f.). Die zweite Generation wäre demnach stärker »altdeutsch« geprägt als die vorhergehende Generation.

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sigkeit und Integrationsdefiziten weisen Russlanddeutsche vergleichsweise mehr aus der Not geborene Gründungen auf (Leicht 2005: 257). Im Folgenden möchte ich die Funktionen von russischen Reisebüros3 darlegen und dabei die individuellen als auch die gesellschaftlichen Faktoren der Unternehmensgründungen berücksichtigen. Als Grundlage für die vorliegende Untersuchung dienen Expertenbefragungen mit elf russischen Reiseunternehmern aus dem gesamten Bundesgebiet. Ziel der explorativen Untersuchung ist es, Problemfelder und Tendenzen herauszuarbeiten.

B EDINGUNGEN DER U NTERNEHMUNGSGRÜNDUNG VON RUSSISCHEN R EISEBÜROS Im Rahmen der empirischen Untersuchung stellte sich heraus, dass die interviewten Unternehmer die Reisebüros nach 1994 gegründet hatten. 1994 war das Spitzenjahr der Übersiedlung nach Deutschland aus der ehemaligen Sowjetunion, von 1990 bis 1996 waren die Zuzugszahlen insgesamt auf einem hohen Niveau. Seit 1999 sinkt die Zahl der Zuwanderer kontinuierlich: Abbildung 3: Zuzugsstatistik von Aussiedlern und ihren Familienangehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion von 1990 bis 2003

Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2010

In den Jahren nach der Wiedervereinigung befand sich Deutschland in einer angespannten Wirtschaftssituation, welche die Integration von Aussiedlern erschwerte (Savoskul 2005: 70). Grundsätzlich waren jedoch Spätaussiedler als Zuwanderer durch rechtlich zugesicherte Vorteile umfassend privilegierter als andere Immigrantengruppen oder EU-Ausländer. Im Eingliederungsanpassungsgesetz wurden Hilfen für den Aufbau einer beruflich selbstständigen

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Unter russischen Reisebüros verstehe ich Reisebüros, die sich auf eine russischsprachige Kundschaft spezialisiert haben.

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Existenz in Form von Darlehen oder Eigenkapitalhilfen in Aussicht gestellt (Leicht 2005: 22). Die Gründung eines Reiseunternehmens war für die Befragten nicht die erste Berufswahl, sondern eher eine Notlösung im Sinne des Reaktionsmodells. Das Motiv für den Entschluss zur Selbstständigkeit war vorwiegend die begrenzten Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem regulären Arbeitsmarkt. Die Migranten hatten zunächst andere Berufsausbildungen und -wünsche, konnten jedoch keine entsprechenden Stellen bekommen. So war es selbst für hochqualifizierte Fachkräfte und Akademiker nicht möglich, auf dem regulären bzw. primären Arbeitsmarkt erfolgreich Fuß zu fassen. Zehn der elf befragten Unternehmer waren Quereinsteiger in der Tourismusbranche.4 Das größte Hindernis für eine Anstellung war die Sprachbarriere. Für die Unternehmer war ein Quereinstieg in die ethnische Reisebranche unproblematisch, da sie dafür die notwendigen Orts- und Sprachkenntnisse beherrschten. Bei ausschließlich russischsprachiger Kundschaft waren die eingeschränkten Deutschkenntnisse für den beruflichen Erfolg irrelevant geworden. Selbst heute noch sprechen manche der Reisebüroleiter nur gebrochen Deutsch. Ein Dienstleistungsgewerbe für speziell russischsprachige Kunden war darüber hinaus eine günstige Jobalternative, da dafür nur wenig Startkapital notwendig ist. Die Arbeit kann sogar von zuhause aus erledigt werden und die berufliche Qualifizierung als Reisevermittler war leicht und schnell zu erlernen. Die Unternehmer der russischen Reisebüros sind der Herkunft nach größtenteils Spätaussiedler. Für die Gruppe der Spätaussiedler gab es einen großen Bedarf an günstigen Reisemöglichkeiten in die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion. Dieses spezielle Nischen-Marktsegment war jedoch Anfang der 1990er Jahre noch nicht bedient. Das fehlende Angebot ermöglichte für die Spätaussiedler eine Chance, selbst als Reisevermittler und -veranstalter aufzutreten. Sie organisierten günstige Bus- und Flugcharter nach Osteuropa, Russland und Zentralasien, um den interessierten Kunden die Reisen anzubieten. Der Kundenkreis bestand größtenteils aus Spätaussiedlern sowie jüdischen Kontingentflüchtlingen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Ein Unternehmer erklärte im Interview, dass diese Personen des o.g. Kundenkreises früher alle Heimweh hatten und dementsprechend funktionierte das Geschäft gut. Das Heimweh der Zuwanderer konnte als Geschäftsangelegenheit mobilisiert werden (Stennert 1995, Peleikis 2009).

4

Eine Reiseunternehmerin ist diplomierte Juristin und hatte bereits in Russland in einem Reisebüro gearbeitet sowie sich mit Visa- und anderen Konsularangelegenheiten beschäftigt.

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Einheimische Kunden aus Deutschland greifen nur selten auf russische Reisebüros zurück und zwar nur dann, wenn es um Dienstleistungen betreffend Visa-Angelegenheiten geht. Der größte Teil der Bevölkerung in Deutschland sucht sich seine Urlaubsreiseziele nicht in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion,5 während bei der Zielgruppe eine starke Nachfrage besteht und in abgeschwächter Form auch bei deren Nachkommen (Kulinna 2007: 191). Während sich die russischen Reisebüros zunächst auf die Reiseziele in Osteuropa, Russland sowie Zentralasien spezialisierten, wurden nach und nach weitere Reiseziele erschlossen. Russische Reisebüros erweiterten ihre Produktpalette um europäische Pauschalreisen und bieten seither Städtereisen, Urlaubsreisen nach Spanien, Frankreich, Ägypten und die Türkei sowie Reisen zu Kurorten usw. an, die durch russischsprachige Reisebegleiter betreut werden. Durch das russischsprachige Angebot stellen sie eine Ergänzung zu den herkömmlichen Reiseanbietern in Deutschland dar.

V OR -

UND

N ACHTEILE

DER RUSSISCHEN

R EISEBÜROS

Einen wesentlichen Vorteil genießen russische Reisebüros im Kundenkontakt und in der Organisationsform. Die russischen Reisebüros sind größtenteils Familien- bzw. Kleinstbetriebe oder Einzelunternehmen. Diese Organisationsform bietet Vorteile im Umgang mit der eigenen ethnischen Gruppe. Kleinstbetriebe zeichnen sich durch Nähe, Direktkontakt zum Kunden, ein persönliches face-toface Verhältnis aus, welches die Vertrauenswürdigkeit steigert. Vertrauen ist ein zentraler Wert innerhalb von Geschäftsbeziehungen und russische Reisebürounternehmer genießen durch ihren eigenen Migrationshintergrund ein besonderes Vertrauen innerhalb der Diaspora, weshalb ihre Geschäfte besonders von Personen der gleichen ethnischen Gemeinschaft frequentiert werden (Rebsamen 2008: 21). Eine Unternehmerin äußerte im Interview die Vermutung, dass deutsche Kunden fernbleiben, da sie Angst hätten, weil es bei Urlaubsreisen um viel Geld geht, welches man den russischen Reisevermittlern nicht anvertrauen könnte. Die persönliche Verbindlichkeit wird auf Internetseiten oder Visitenkarten deutlich, wo mit dem eigenen Bild um Kundenvertrauen geworben wird (vgl. Abb. 2).

5

Die Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (FUR) hat die beliebtesten Urlaubsreiseziele (ab 5 Tage Dauer) der deutschsprachigen Bevölkerung von 1995 bis 2013 untersucht. Ca. 7% der Urlaubsziele liegen in Osteuropa, wovon Polen mit 2% am stärksten vertreten ist (FUR 2014).

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Abbildung 4: Visitenkarte eines russischen Reisebürounternehmers

Quelle: Visitenkarte Herr Schedrinski

Kleinstbetriebe können darüber hinaus flexibel und schnell organisieren und dabei auf individuelle Kundenbedürfnisse eingehen. Auf die Frage, welche Reiseziele angeboten werden, antworteten einige Unternehmer, dass der Kunde die Ziele entscheidet und sie auf die Wünsche reagieren können. Netzwerke und Beziehungen eröffnen Unternehmern mit Migrationshintergrund häufig die Möglichkeit, aus dem Kreis von Landsleuten und Familienmitgliedern einen Pool an Arbeitskräften aufzubauen, der eine kostengünstige Rekrutierung und ggf. auch einen flexiblen Personaleinsatz erlaubt. Familienmitglieder sind bei schwankender Arbeitsbelastung abrufbar, ohne ihrerseits fest eingestellt zu sein. Kleinstbetriebe stellen die typische Form der ethnischen Ökonomie dar (Leicht 2005: 40). Ein weiterer Vorteil ist die Spezialisierung und das Expertenwissen, wie die Kunden schnell und günstig in ihre Herkunftsregion reisen können. Auch die Ortskenntnisse sind in der Branche nützlich, ebenso wie die Sprachkompetenz. Die Internetseiten, Werbung, Kataloge, Flyer oder auch Visitenkarten der russischen Reisebüros sind überwiegend in russischer Sprache verfasst, sodass die Zielgruppe auf ihre vorhandenen russischen Sprachkenntnisse zurückgreifen kann. Neben den Stärken der russischen Reisebüros sind auch Schwächen zu benennen. Durch die Konzentrierung auf einen ethnischen Markt ist der potenzielle Kundenkreis begrenzt. Der ethnische Nischenmarkt wird inzwischen nicht nur von russischen Reisebüros, sondern stärker auch durch große Veranstalter bedient. Professionelle Reisefirmen bieten kostengünstige Flugreisen an, die nur unerheblich teurer sind als die Busreisen von russischen Reisebüros. Der »ethnic market« ist inzwischen auch ein »open market« (Leicht 2005: 44).

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P ERSPEKTIVEN

RUSSISCHER

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R EISEBÜROS

Die eigenen Perspektiven sehen die meisten russischen Reisebüros für die Zukunft überwiegend negativ (sieben von elf), zwei sehen Chancen, ihre Stellung zu stabilisieren und zwei Reisebüros schauen positiv in die Zukunft. Die russischen Reisebüroleiter befürchten, dass ihr Kundenkreis älter wird und neue Kunden ausbleiben. Ein optimistischer Reiseunternehmer erklärte seine erfreulichen Aussichten damit, dass er als einziger ein russisches Reisebüro in der Umgebung betreibe und dass sein Angebot sowie Marketing auf ältere Reisende (bspw. Kurortsaufenthalte) ausgerichtet sei.6 Überwiegend reist noch die mittlere und ältere Generation in die Nachfolgeländer der ehemaligen Sowjetunion. Die Reiseunternehmer bangen, dass diese Kohorte im hohen Alter nicht mehr verreist bzw. wegstirbt. Der jungen Generation scheint nach Aussagen der Unternehmer die Bindung an die Herkunftsländer verloren zu gehen. So erklärt ein Reiseunternehmer im Interview: »Die junge Generation sind keine Russen mehr, die sind schon deutsch.« Die ›Generation 1.5‹7 sowie die zweite Generation sprechen fließend Deutsch und organisieren ihre Reisen überwiegend selbstständig über das Internet oder über deutsche Reisebüros. Als größte Bedrohung für das eigene Geschäft wird die Konkurrenz im Internet angesehen, denn der OnlineReisemarkt boomt. Da die Jüngeren in der Regel hohe Internetkompetenzen entwickelt haben und in Deutschland sozialisiert bzw. enkulturiert sind, sind sie nicht mehr auf russischsprachige Angebote angewiesen. Ein Unternehmer meint ferner, dass die Jüngeren, wenn, dann nur gemeinsam mit der Familie in die ehemalige Sowjetunion reisen würden. Vural Öger äußerte in einem Interview Vorhersagen für die russischen Nischengeschäfte: »Es gibt heute viele russische Nischengeschäfte. Das wird sich aber bald von selbst ändern. Die zweite Generation wird sich weniger mit den Heimatländern ihrer Eltern verbunden fühlen, auch die Sprachbarrieren verschwinden. In zehn bis 15 Jahren werden wir keinen Unterschied machen zwi-

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Die Reisebürounternehmerin, die ebenfalls die Perspektive als gut beurteilt, ist die

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Die ›Generation 1.5‹ ist in einer besonderen Situation, da sie sich von der ersten und

einzige Nicht-Quereinsteigerin. zweiten Generation unterscheidet und sich dazwischen befindet. Einerseits war sie zu jung, um die Migration eigenverantwortlich zu beschließen, andererseits bringt sie erworbene Kenntnisse aus der ehemaligen Sowjetunion mit. Der Begriff ›Generation 1.5‹ wird benutzt, um auf die speziellen bikulturellen Erfahrungen minderjähriger und jugendlicher Migranten hinzuweisen (Danico 2004: 1f., siehe auch Schmitz in diesem Band).

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schen Deutschen, Türken, Russen oder Polen« (Lebedew 2013).8 Diese Entwicklung verfolgen die russischen Reisebüros für ihre Perspektive mit Sorgen, berichten aber gleichzeitig stolz über die Integrationserfolge der jüngeren Generationen. Eine Unternehmerin hat ihr Reisebüro im Herbst 2013 aufgegeben, da sie meinte, dass sie zu spät in die Branche eingestiegen und der Bedarf seitdem rückläufig sei und die Konkurrenz im Internet zugenommen hätte. Einige russische Reisebüros, die ich für die Erhebung im Internet recherchiert hatte, waren nicht mehr am Markt tätig.9

R ESÜMEE Russische Reisebüros sind als Phänomen in der Mitte der 1990er Jahre entstanden und bestehen schon seit 20 Jahren innerhalb eines Nischenmarktes. Gründe für die Etablierung waren fehlende Arbeitsmarktperspektiven, die Nachfrage aufgrund des Heimwehtourismus und der Familienbesuche der Spätaussiedler und jüdischen Kontingentflüchtlinge sowie ihre unzureichenden deutschen Sprachkenntnisse. Demnach können Unternehmensgründungen der russischen Reisebüros mithilfe des Reaktions- sowie des Nischenmodells erklärt werden. Das Kulturmodell bietet aufgrund der negativen Perzeption und der mangelnden Erfahrung beim unternehmerischen Handeln keinen Erklärungsansatz. Die Reisebürounternehmer befürchten für die Zukunft, dass sie kaum neue Kunden gewinnen werden können, sodass deren Perspektive tendenziell düster aussieht. Als denkbare Chance wurde die Erweiterung des Angebots für die eigene ethnische Zielgruppe beispielsweise durch die Vermittlungen von Urlaubsund Kurortreisen gesehen. Somit würde der russische Reisebürosektor eine Nischenökonomie bleiben und sich nicht in der Mehrheitsgesellschaft etablieren. Für weitere Untersuchungen wäre die Einbindung der Kundenperspektive spannend, um das Phänomen über die Unternehmerperspektive hinaus zu untersuchen. In diesem Kontext könnten die Motive des Kundenkreises erhoben und analysiert werden. In Anknüpfung an die hier vorliegenden Ergebnisse scheint eine stärkere Berücksichtigung generationaler und demografischer Einflussfaktoren für Untersuchungen zum Tourismus der Russlanddeutschen produktiv.

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Eine Unternehmerin meinte im Interview, dass die Unterscheidung zwischen Russen und Russlanddeutschen konstruiert wäre, da eigentlich alle Russen sind.

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Laut dem KfW-Gründungsmonitor 2011 ist die Abbruchrate von Gründungen prinzipiell hoch. So ist nach drei Jahren jede dritte Gründung (32%) wieder aus dem Markt ausgeschieden (KfW-Bankengruppe 2011).

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Sozialkapital und transnationale unternehmerische Tätigkeiten Der Fall selbstständiger russischsprachiger Migranten1 E LENA S OMMER UND M ARKUS G AMPER

E INLEITUNG Grenzüberschreitende unternehmerische Tätigkeiten sind zwar kein neues Phänomen, denn internationaler Handel war bereits vor dem Zeitalter der Globalisierung weit verbreitet und nicht zuletzt durch ökonomische Tätigkeiten verschiedener Diasporen gefördert (vgl. Light 2008). In der heutigen Zeit werden transnationale ökonomische Aktivitäten jedoch mit einer viel stärkeren Intensität betrieben. Durch den technischen Fortschritt, verbesserte Kommunikations- und Transportmöglichkeiten, Umstrukturierung des internationalen Handels sowie Globalisierung von Kapital und Arbeit eröffnen sich neue Dimensionen für einen transnationalen Wirtschaftsaustausch, der sich in seiner Intensität, Diversität und Ausprägung von dem internationalen Austausch der Vorglobalisierungszeit unterscheidet (Itzigsohn et al. 1999; Light 2008). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass transnationale Migrantenunternehmen zunehmende Aufmerksamkeit in der Migrationsforschung erlangen (vgl. z.B. Portes, Haller/Guanizo 2002; Zhou 2004; Light 2008; Schmiz 2011). Der überwiegende Teil selbstständiger Migranten fokussiert sein wirtschaftliches Handeln auf den lokalen Markt des Aufnahmelandes (vgl. Kloosterman/Rath 2001). Es gibt jedoch einen nicht zu unterschätzenden Anteil an

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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Betrag das generische Maskulinum verwendet. Sämtliche personenbezogenen Bezeichnungen wie Migranten, Unternehmer, (Spät-)Aussiedler etc. sind geschlechtsneutral zu verstehen.

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Zuwanderern, die bei ihren unternehmerischen Praktiken nicht nur im nationalen Kontext des Aufnahmelandes agieren, sondern darüber hinaus in weitreichende grenzüberschreitende unternehmerische Netzwerke eingebunden sind. Sie können bei solchen unternehmerischen Tätigkeiten beispielsweise von ihren interkulturellen Kompetenzen, Sprachkenntnissen und ihrem transnationalen Sozialkapital profitieren. Transnationales unternehmerisches Handeln ist aber auch mit bestimmten Risiken und Restriktionen verbunden und erfordert eine flexible Anpassung an mindestens zwei unterschiedliche Normsysteme. Bei den selbstständigen russischsprachigen Migranten handelt es sich um eine relativ wenig erforschte Gruppe. Die wenigen bislang veröffentlichten Studien von Kapphan (1997), Leicht et al. (2005) und Sommer (2011; 2012), die sich explizit mit dieser Thematik beschäftigen, kommen zum Ergebnis, dass sich Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion bei ihren unternehmerischen Tätigkeiten überwiegend auf den deutschen Markt und vor allem auf die lokale Versorgung konzertieren und dabei weitgehend auf soziale Kontakte innerhalb der eigenen Migrantencommunity zurückgreifen (vgl. dazu den Beitrag von Burgard zu russischen Reisebüros in Deutschland in diesem Band). Sie verteilen sich recht gleichmäßig über unterschiedliche Wirtschaftszweige und transnationale Unternehmen sind selten. Wie der vorliegende Beitrag zeigt, sind sie dennoch häufig in sporadische transnationale unternehmerische Tätigkeiten mit komplementärem Charakter involviert, die für ihren langfristigen wirtschaftlichen Erfolg in Deutschland zwar nicht ausschlaggebend sind, ihnen aber kurzfristig einen Wettbewerbsvorteil verschaffen können. Vor diesem Hintergrund wird die Nutzung des Sozialkapitals für unternehmerische Tätigkeiten von russischsprachigen Selbstständigen in Deutschland untersucht. Ziel ist, zum einen als Beitrag zur Grundlagenforschung einen Überblick über transnationale unternehmerische Aktivitäten einer bislang wenig erforschten Untersuchungsgruppe zu leisten. Zum anderen soll der Frage nachgegangen werden, welche Art von transnationalem Sozialkapital als Ressource für die Ausübung unterschiedlicher transnationaler unternehmerischer Tätigkeiten Anwendung findet. Den theoretischen Rahmen bildet dabei das Erklärungsmodell der Mixed Embeddedness (vgl. Kloosterman & Rath 2001), das durch die transnationale Perspektive mit einer starken ressourcenorientierten Fokussierung auf transnationales Sozialkapital erweitert wird. Empirisch basiert die Studie auf der Auswertung von 62 problemzentrierten Leitfadeninterviews mit selbstständigen bzw. ehemals selbstständigen Migranten aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Die Synthese der Auswertung liefert eine systematische Typisierung transnationaler unternehmerischer Tätigkeiten mit einer starken Fokussierung auf die soziale Einbettung transnational agierender Selbstständigen.

S OZIALKAPITAL

UND TRANSNATIONALE UNTERNEHMERISCHE

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S OZIALKAPITAL UND S ELBSTSTÄNDIGKEIT VON M IGRANTEN Das theoretische Konzept des Sozialkapitals erfreut sich in der Migrationsforschung immer größerer Beliebtheit (vgl. Evergeti/Zontini 2006; Haug/Pointer 2007). Laut Bourdieu (1983) ist Sozialkapital: »[...] die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.« (Bourdieu 1983: 190f.)

Idealtypisch kann zwischen der strukturbeschreibenden und der ressourcenorientierten Perspektive von Sozialkapital unterschieden werden. Während erstere die Beziehungen des Egos (einzelnen Individuums) und seine strukturelle Einbettung in soziale Kontexte analysiert (vgl. Lubbers et al. 2010), geht es bei Letzteren um Ressourcen, »die ein Akteur durch die Einbettung in ein Beziehungsgeflecht mobilisieren kann« (Haug 2000: 96). Im Gegensatz zum ökonomischen und kulturellen Kapital (vgl. Bourdieu 1983) befindet sich soziales Kapital nicht völlig im Besitz eines Individuums, sondern hängt von der Art der Beziehung, den Netzwerkakteuren und ihren Ressourcen sowie von der Struktur des Netzwerkes ab (vgl. Gamper/Fenicia/Schönhuth 2013). Vor diesem Hintergrund werden soziale Netzwerke als Grundlage für ressourcenorientiertes Sozialkapital gefasst (vgl. Coleman 1988; Lin 2001). Studien zur selbstständigen Erwerbstätigkeit von Migranten betonen die bedeutende Rolle des Sozialkapitals für die Migrantenunternehmen, das sich aus lokaler und transnationaler Vernetzung ergibt (vgl. z.B. Pütz 2004; Schmiz 2011). Aufgrund seiner Konvertierbarkeit in ökonomisches Kapital (vgl. Bourdieu 1983) stellt Sozialkapital eine wichtige Ressource für die unternehmerischen Tätigkeiten dar. Ferner entsteht innerhalb von Netzwerken Vertrauen, welches sich wiederum positiv auf ökonomische Transaktionen auswirken kann (vgl. Granovetter 1985, Uzzi 1997). Zusätzlich zur verbreiteten Unterscheidung zwischen dem aufnahmelandspezifischen Sozialkapital (Beziehungen zu Einheimischen) und dem herkunftslandspezifischem Sozialkapital (Beziehungen innerhalb der eigenen Migrantencommunity und Beziehungen ins Herkunftsland) (vgl. Haug/Pointer 2007) wird in der Migrationsforschung häufig in Anlehnung an Granovetter (1973) zwischen strong ties und weak ties differenziert (vgl. Hagan 1998; Wilson 1998). Die strong ties bezeichnen die engen Beziehungen beispielsweise zu Familien-

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angehörigen oder Freunden. Die weak ties beschreiben lockerere Beziehungen zu Bekannten, die Informationen aus neuen Quellen verschaffen können, weil sie in der Lage sind, voneinander getrennte Teile eines Netzwerkes zu verbinden. Aus diesem Grund werden weak ties als besonders wichtig für unternehmerische Tätigkeit gesehen. Ryan (2011) schlägt eine weitere Differenzierung von weak ties vor, und unterscheidet zwischen horizontal weak ties (schwache soziale Beziehungen zwischen Individuen, die sich in der gleichen sozialen Position befinden) und vertical weak ties (schwache soziale Beziehungen zwischen Individuen, die sich in unterschiedlichen sozialen Positionen befinden). Unternehmerische soziale Beziehungen werden außerdem nach ihrem Formalisierungsgrad (informell, formell, institutionalisiert) differenziert. Uzzi (1997) macht des Weiteren eine Unterscheidung zwischen den sogenannten arm’s-length ties, die er als reine preisbasierte Geschäftsbeziehungen definiert, und den embedded ties, die auf Vertrauen und Reziprozität basieren. Eine andere Differenzierung, die eng mit der Theorie von Granovetter (1973) verbunden ist, ist der Grad der Multiplexität. Als multiplex werden solche Beziehungen bezeichnet, bei denen es zu einer Überlappung von mehreren Rollen bzw. Funktionen kommt (z.B. Freund, Geschäftspartner, Verwandter). Bezeichnend für solche multiplexe Netzwerke ist ein hoher Grad an Vertrauen zwischen den einzelnen Akteuren, was zu verstärkter sozialer Kontrolle führen kann (vgl. Portes/Landolt 1996). Aus den empirischen Studien zur Selbstständigkeit von Zuwanderern (vgl. z.B. Kloosterman/Rath 2001; Pütz 2004) geht hervor, dass sich viele Migrantenunternehmen insbesondere in der Gründungsphase auf dicht strukturierte multiplexe Beziehungen innerhalb der eigenen Migrantencommunity verlassen. Um langfristig auf dem Markt bleiben zu können, brauchen Zuwanderer Kontakte zu den Geschäftspartnern außerhalb solcher multiplexer Netzwerke. Solche Unternehmen, die in der Lage sind, »strukturelle Löcher« (vgl. Burt 1992) zu schließen, indem sie zwei vorher miteinander nicht verbundene Netzwerke verbinden, erweisen sich als besonders erfolgreich. Damit wird die Stärke von weak ties betont. Außerdem wird der Ausbau von transnationalen Netzwerken als eine Ressource gesehen, die den Migranten zusätzliche Vorteile bei der Ausübung unternehmerischer Tätigkeit verschaffen kann (vgl. z.B. Goebel/Pries 2006, Light 2008).

T RANSNATIONALE M IGRANTENUNTERNEHMEN In den letzten zwei Dekaden hat die transnationale Perspektive in der Migrationsforschung eine bedeutsame Rolle eingenommen, wobei eine Vielzahl von

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an sich zum Teil inhaltlich überschneidenden Konzepten entwickelt wurde (vgl. unter anderem transstaatliche Räume, Faist 2000; transnational social spaces, Pries 2001; transnational social field, Glick Schiller 2005).2 Glick Schiller, Basch und Blanc-Szanton (1992) definieren »Transnationalismus« als »the process by which immigrants build social fields that link together their country of origin and their country of settlement« (Glick Schiller et al. 1992: 1). Vertovec (1999) unterstreicht die wichtige Rolle sozialer Netzwerke und plädiert für eine stärkere Beachtung der Bedeutung sozialer Beziehungen »by focusing on the multiple ties and interactions linking people or institutions across the borders of nation states« (Vertovec 1999: 447). Portes (1996) fokussiert stark auf die ökonomische Dimension des Transnationalen, wobei auch er die bedeutende Rolle sozialer Kontakte hervorhebt. In der Literatur zum Thema »migrant business« wird zwischen Migrantenunternehmen unterschieden, die sich hauptsächlich auf dem lokalen Markt im Aufnahmeland verorten (entweder als Teil der »ethnic economy«, die die eigene Migrantencommunity mit ethnisch assoziierten Gütern und Dienstleistungen versorgt, oder als Teil des offenen Markts) und den transnationalen Migrantenunternehmen, deren ökonomische Aktivitäten sich über die nationalen Grenzen hinweg zwischen mindestens zwei Ländern (meistens dem Herkunftsland und dem Aufnahmeland) aufspannt (Guarnizo 2003, Portes et al. 2002). Die zentrale Eigenschaft transnationaler Migrantenunternehmen ist, dass ihre Existenz stark von einer konstanten Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen in mindestens zwei Ländern abhängt (vgl. Itzigsohn et al. 1999). Transnationale Migrantenunternehmen greifen häufig auf die im Ausland bestehenden sozialen Kontakte zurück oder bauen strategisch neue, für ihre ökonomischen Aktivitäten relevante sozialen Beziehungen auf (vgl. Zhou 2004). Dabei können sie von ihren Sprachkenntnissen, interkulturellen Kompetenzen und internationalen Marktkenntnissen profitieren (vgl. Light 2008; s. dazu auch den Beitrag von Burgard in diesem Band). Itzigsohn et al. (1999) schlagen eine Unterscheidung zwischen narrow und broad economic transnationalism als zwei Extreme eines Kontinuums vor. Als transnationale Unternehmen im engeren Sinne werden solche Migrantenunternehmen verstanden, deren wirtschaftlicher Erfolg primär von regelmäßigen Kontakten und Interaktionen im Ausland abhängt. Broad economic transnationalism

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Kritisiert wird vor allem die definitorische multidimensionale Unschärfe des Konzepts des Transnationalen. Je nach Autor und thematischem Schwerpunkt empirischer Untersuchungen werden unterschiedliche Aspekte des Transnationalen betont (Dahinden 2010).

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wird definiert als »economic transactions […] that are more or less recurrent, but do not involve regular movement or constant involvement between the two places« (Itzigsohn et al. 1999: 327). Eine reguläre und intensive Ausübung transnationaler Geschäftspraktiken erfordert nach Itzigsohn et al. (1999) einen höheren Formalisierungsgrad der Beziehungen als die Ausübung sporadischer transnationaler ökonomischen Aktivitäten, die häufig einen informellen Charakter haben. Transnationale unternehmerische Tätigkeiten ermöglichen zwar gewisse Chancen, sind aber auch mit bestimmten Barrieren verbunden. Abgesehen von den mit der Notwendigkeit häufiger Reisen verbundenen Belastungen erfordern transnationale ökonomische Aktivitäten Kenntnisse mindestens zweier unterschiedlicher struktureller und kultureller Kontexte sowie die Fähigkeit, zwischen diesen flexibel zu agieren. Erfolgreiche transnationale Geschäfte setzen Marktkenntnisse und eine Auseinandersetzung mit den für das Unternehmen relevanten rechtlichen und administrativen Gepflogenheiten des jeweiligen Staates voraus, die sich im Laufe der Zeit verändern und eine ständige Aktualisierung des Wissenstandes erfordern. Überdies kann die Einbettung in verschiedene transnationale formelle und informelle Netzwerke entscheidend für die Qualität des Sozialkapitals der Unternehmer sein. Insbesondere eine vertikale Vernetzung mit Personen in höheren sozialen Positionen oder mit Institutionen ist indes häufig mit hohen Zugangsbarrieren verbunden (vgl. Ryan 2011). Einen Versuch, die Ressourcen- und die Opportunitätsperspektive bei der Erklärung von Migrantenunternehmertum miteinander zu verbinden, bietet der von Kloosterman und Rath (2001) konzipierte Ansatz der Mixed Embeddedness. Dieses Erklärungsmodell unterstreicht die Wechselwirkungen zwischen Ressourcen der Zuwanderer, den lokalen, regionalen und nationalen strukturellen Opportunitätsstrukturen und den dazwischen agierenden Institutionen. Daraus ergibt sich ein Handlungsspielraum für die unternehmerischen Tätigkeiten der Zuwanderer. Es wird vor allem die institutionelle Prägung unternehmerischer Tätigkeiten im europäischen Kontext betont, die die Möglichkeitsstrukturen stark beeinflussen kann. In diesem Beitrag wird das Mixed-Embeddedness-Modell um die transnationale Perspektive erweitert. Zum einen entsteht daraus die Notwendigkeit, zwischen Opportunitätsstrukturen in mindestens zwei unterschiedlichen nationalen Kontexten zu unterscheiden (z.B. Marktbedingungen im Aufnahmeland vs. Marktbedingungen im Herkunftsland) sowie die Interaktionen zwischen diesen strukturellen Opportunitätsstrukturen auf transnationaler Ebene (z.B. bilaterale Handelsabkommen und Visaregulierungen) zu berücksichtigen. Zum anderen erfordert die transnationale Perspektive eine stärkere Berücksichtigung sozialer Einbettung in transnationale Netzwerke als Ressource für transnationale unternehmerische Tätigkeiten.

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M ETHODISCHE V ORGEHENSWEISE DER U NTERSUCHUNGSGRUPPE

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B ESCHREIBUNG

Die Datenauswertung basiert auf einer empirischen Erhebung, bei der zwischen 2011 und 2012 62 problemzentrierte Leitfadeninterviews (vgl. Witzel 2000) mit in Nordrhein-Westfalen lebenden selbstständigen bzw. ehemals selbstständigen Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion durchgeführt wurden. Es handelt sich um Zuwanderer der ersten Generation, die bei ihrer Einwanderung nach Deutschland mindestens 14 Jahre alt waren. Die Auswahl der Selbstständigen entspricht dem theoretischen Sampling im Sinne der Grounded Theory nach Glaser/Strauss (2007). Dabei wurde auf die Heterogenität der Befragungsgruppe in Bezug auf Geschlecht, Alter, Bildung, Branche, Aufenthaltsdauer und rechtlichen Status geachtet. Die Interviews wurden je nach Wunsch der Interviewpartner entweder in deutscher oder russischer Sprache durchgeführt und anschließend transkribiert. Bei den deutschsprachigen Interviews erfolgt bei Zitaten eine wörtliche Wiedergabe, bei den russischsprachigen Interviews wurden die Zitate ins Deutsche übersetzt. Die Anmerkungen in den Zitaten, die zu besserem Verständnis des Kontexts beitragen sollten, sind kursiv markiert. Für den vorliegenden Beitrag wurden im ersten Schritt die Interviewpassagen mithilfe qualitativer Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2004) ausgewertet, in denen transnationale unternehmerische Aktivitäten der befragten Selbstständigen geschildert werden. Im zweiten Schritt wurde eine empirisch begründete Typenbildung vorgenommen, bei der die im Datenmaterial vorkommenden transnationalen unternehmerischen Tätigkeiten anhand spezifischer theoretisch relevanter Merkmale in Typen eingeteilt wurden. Da es sich bei der Unternehmensentwicklung um einen dynamischen Prozess handelt, bei dem Selbstständige häufig mit unterschiedlichen Strategien experimentieren, kommt es in mehreren Interviews vor, dass die Befragten über mehrere transnationale Geschäftspraktiken im Laufe ihrer Unternehmensgeschichte berichten, die den unterschiedlichen Typen zugeordnet werden. Bei der Typenbildung wurde darauf geachtet, dass die Differenzen innerhalb eines Typus' möglichst klein sind, während die Differenzen zwischen den einzelnen Typen möglichst groß sein sollten. Einerseits wird durch die Typenbildung die fallspezifische Datenkomplexität reduziert und ein zusammenfassender systematischer Gesamtüberblick der Ergebnisse ermöglicht. Andererseits lässt diese Methode gleichzeitig die Möglichkeit fallspezifischer Aussagen zur Erklärung bestimmter kontextbezogener Beispiele zu (vgl. Kluge 2000). Bei Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion handelt es sich um eine heterogene Gruppe. Abgesehen von ca. 2,3 Mio. (Spät-)Aussiedlern und ca. 230.000 jüdischen Kontingentflüchtlingen gibt es eine kleinere Anzahl von an-

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deren Zuwanderern aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die entweder als Heiratsmigranten, Studierende, Asylbewerber oder Arbeitsmigranten nach Deutschland gekommen sind. Diese einzelnen Untergruppen unterscheiden sich in Bezug auf ihren rechtlichen Status, ihre Migrationsmotive und Einbettung in unterschiedliche soziale Netzwerke (vgl. z.B. Gamper/Fenicia 2013). Bei den transnationalen unternehmerischen Tätigkeiten, die für diesen Beitrag analysiert wurden, hatte die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Untergruppe jedoch keine bedeutsame Auswirkung auf die Ausübung dieser Aktivitäten. Vielmehr haben die meisten Interviewpartner, die in transnationale unternehmerische Praktiken involviert waren, unabhängig von ihrer ethnischen oder religiösen Herkunft im Allgemeinen von ihren Russischkenntnissen, ihrem transnationalem Sozialkapital sowie von der strategischen Nutzung ihrer kulturellen und wissensbezogenen Kompetenzen und der Fähigkeit, zwischen verschiedenen Normsystemen zu agieren, profitiert. In der Regel handelt es sich bei transnationalen unternehmerischen Aktivitäten russischsprachiger Migranten um Export/Import-Geschäfte, wobei in dem für diesen Beitrag verwendeten empirischen Datenmaterial die Exportgeschäfte aus Deutschland in die Herkunftsländer häufiger vorkommen als die Importgeschäfte. Werden die Begriffe »Export« und »Import« im weiteren Sinne betrachtet, ohne sich auf den Warenhandel zu beschränken, kann zwischen Export bzw. Import von Gütern, Dienstleistungen und Innovationen unterschieden werden. Da es hierbei zu Überschneidungen kommen kann, ist eine klare Zuordnung zu einer bestimmten Kategorie nicht immer möglich. Darüber hinaus kann es sich bei den transnationalen ökonomischen Aktivitäten auch um Geldinvestitionen (z.B. finanzielle Beteiligung an Unternehmen, Immobilienkauf, Geldanlagen) in beide Richtungen handeln (sowohl aus Deutschland in die Herkunftsländer oder Drittländer als auch umgekehrt). Unter den befragten Unternehmern, die in transnationale unternehmerische Aktivitäten involviert sind bzw. waren, sind unterschiedliche Alterskohorten vertreten. Unabhängig von ihrem Alter weisen jedoch die meisten Unternehmer zum Zeitpunkt des ersten Versuchs, transnationale Geschäfte aufzubauen, eine relativ geringe Aufenthaltsdauer in Deutschland auf. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer in Deutschland gaben viele dieser Selbstständigen die transnationale Ausrichtung ihres Unternehmens als Hauptstrategie auf und haben sich seither hauptsächlich auf den deutschen Markt konzentriert, wobei einige von ihnen weiterhin sporadisch transnationale Geschäftstätigkeiten als komplementäre Strategie verwenden.

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M ERKMALSDEFINITIONEN BEI DER T YPISIERUNG TRANSNATIONALER UNTERNEHMERISCHER T ÄTIGKEITEN Die Typenbildung transnationaler unternehmerischer Tätigkeiten erfolgte entlang folgender Indikatoren: 1) Vernetzungsform, 2) Intensität transnationaler ökonomischer Aktivitäten, 3) Zeitpunkt der Kontaktaufnahme, 4) Kontaktierungspfad sowie 5) Art der Beziehungen. Aus diesen Indikatoren, deren Auswahl auf den im theoretischen Teil präsentierten Konzepten basiert, und die entweder einzeln oder in Kombination miteinander auftreten können, ergaben sich sechs empirisch begründete Typen transnationaler unternehmerischer Tätigkeiten. Zuerst werden die bei der Typenbildung zugrunde liegenden Indikatoren definiert. Anschließend erfolgt die Darstellung einzelner Typen unter Verwendung konkreter empirischer Beispiele. Zum Schluss werden einzelne Typen in tabellarischer Form gegenübergestellt (vgl. Tabelle 5). Die Vernetzungsform stellt eine Kombination der Länder dar, zwischen denen sich die transnationalen unternehmerischen Handlungen befragter Selbstständiger abspielen (Deutschland (DE), Herkunftskontext3 (HK), Drittländer (DL)). Im Falle von multidimensionalen transnationalen unternehmerischen Tätigkeiten (Kombination DE + HK + DL) erfolgt zudem eine Differenzierung zwischen loser Vernetzung, bei der es keine Verbindung zwischen den einzelnen Länder-Dyaden gibt (Form DE-HK + DE-DL) und zwischen verbundenen Netzwerken, bei denen die Akteure in allen beteiligten Ländern durch die unternehmerischen Aktivitäten miteinander verbunden sind (Form DE-HK-DL).

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Bei russischsprachigen Migranten ergibt sich manchmal die Schwierigkeit einer klaren Zuordnung zu einem bestimmten Herkunftsland. Die meisten Befragten haben ihre Jugend in einem Land verbracht, aus dem 1991 15 unabhängige Nationalstaaten hervorgegangen sind. Einige Befragten haben vor ihrer Ausreise nach Deutschland in mehreren ehemaligen Sowjetrepubliken gelebt und haben Verwandte, Freunde oder Bekannte in mehreren Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR. Häufig verstehen die Interviewpartner den gesamten post-sowjetischen Raum als ihren allgemeinen Herkunftskontext und verwenden den Sammelbegriff »russischsprachiges Osteuropa«. Dabei beziehen sie sich auf die Gemeinsamkeiten dieser Länder, wie die russische Sprache und ähnliche Sozialisationserfahrungen als gemeinsames Kommunikationsmittel, ähnliche wirtschaftliche Transformationsprozesse sowie über mehrere ehemalige Sowjetrepubliken verstreutes Sozialkapital. Aus diesem Grund wurde eine Umformulierung des Konzepts »Herkunftsland« in das breitere Konzept »Herkunftskontext« vorgenommen, der alle Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion umfasst außer den Baltischen Staaten, die mittlerweile EU-Mitglieder sind.

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Eine Unterscheidung in Bezug auf die Intensität der ausgeführten transnationalen unternehmerischen Aktivitäten ist deswegen sinnvoll, weil es sich um unterschiedliche Strategien handelt, die jeweils eine andere transnationale soziale Einbettung sowie einen anderen Formalisierungsgrad unternehmerischer Beziehungen erfordern. In Anlehnung an Itzigsohn et al. (1999) erfolgt eine Differenzierung zwischen Unternehmen, die intensiv und auf regelmäßiger Basis in transnationale Geschäftshandlungen involviert sind und deren wirtschaftlicher Erfolg primär von dieser Strategie abhängt (Hauptstrategie) auf der einen Seite, und solchen Unternehmen, die mehr oder weniger sporadisch auf transnationale ökonomische Aktivitäten zurückgreifen (komplementäre Strategie) auf der anderen Seite. Beim Merkmal Zeitpunkt der Kontaktaufnahme mit den transnationalen Geschäftspartnern geht es darum, ob der erste Kontakt zu den sozialen Beziehungen im Ausland, die für die Ausübung transnationaler unternehmerischer Praktiken der Befragten relevant sind, vor oder nach der Migration entstanden ist. Bei dieser Unterscheidung geht es um die Frage, ob die transnational tätigen selbstständigen Migranten auf das in ihrem Herkunftsland bereits vor der Migration vorhandene Sozialkapital zurückgreifen oder erst nach der Entscheidung einer Unternehmensgründung strategisch neue Kontakte im Ausland aufbauen. Das Merkmal Kontaktierungspfad steht in einem Zusammenhang mit dem Merkmal Zeitpunkt der Kontaktaufnahme und spiegelt den Prozess der Entstehung transnationaler Geschäftsbeziehungen von befragten Zuwanderern wider. Bei den im empirischen Datenmaterial vorgefundenen Kontaktierungspfaden handelt es sich um folgende fünf Kontaktierungsmöglichkeiten: 1) direkter Rückgriff auf bereits bestehende Kontakte im Ausland, 2) direkte Ansprache von vorher persönlich unbekannten Akteuren (Personen/Organisationen/Institutionen) im Ausland, 3) Vermittlung relevanter Kontakte über die im Ausland bereits bestehenden Kontakte, 4) Vermittlung relevanter Kontakte über diasporic nodes, d.h. über russischsprachige Communitys in Deutschland und in Drittländern (in Anlehnung an Voigt-Graf 2004) und 5) Vermittlung relevanter Kontakte im Ausland über die in Deutschland lebenden, nicht der eigenen Migrantencommunity zugehörigen Personen. Eine weitere Unterscheidung erfolgt entlang des Merkmals Art der Beziehungen. Dabei werden transnationale soziale Beziehungen, die für die unternehmerische Tätigkeit der Befragten relevant sind, nach ihrer Intensität (weak ties vs. strong ties), nach ihrem Formalisierungsgrad (informell vs. formell) sowie nach dem Charakter der Geschäftsbeziehung (arm’s-length ties (reine preisbasierte Geschäftskontakte) vs. embedded ties (Geschäftskontakte, die einen gewissen Grad an Vertrauen und Reziprozität aufweisen; in Anlehnung an Uzzi

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1997) differenziert. Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung konnten sechs Idealtypen von transnationalen unternehmerischen Praktiken gebildet werden, die im Folgenden dargestellt werden.

T YP I: T RANSNATIONALE UNTERNEHMERISCHE T ÄTIGKEITEN VON TEMPORÄREN R ÜCKKEHRERN Eine temporäre Rückkehr kann aus unterschiedlichen Gründen erfolgen. Im ausgewerteten Datenmaterial gibt es folgende Beispiele: Liebesbeziehung im Herkunftsland, Studium, lukrative Geschäftsmöglichkeiten, Neugier und Abenteuerlust, Nostalgie sowie der Wunsch danach, »etwas in der eigenen Heimat zu bewirken«. Die Beispiele dieses Typus' haben die Gemeinsamkeit, dass es sich bei den untersuchten temporären Rückkehrern um relativ junge Menschen handelt (zwischen 23 und 32 Jahren), die von keiner endgültigen Rückkehr ausgehen, sondern eher einen längeren Aufenthalt in ihrem Herkunftskontext planen und flexibel auf die Situation vor Ort reagieren. Sie sind relativ gut strukturell und sozial in Deutschland integriert, verstehen jedoch ihre eigene kulturelle Identität eher als hybrid (vgl. Schmiz 2011) und pflegen soziale Beziehungen in ihren Herkunftsländern (vgl. dazu den Beitrag von Schmitz zu transnationalen bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern in diesem Band). Sie versuchen das Wissen zweier Kulturen und Sprachen sowie ihr transnationales Sozialkapital für ihr unternehmerisches Vorhaben zu nutzen. Die untersuchten temporären Rückkehrer konnten in der Regel an gut ausgebaute Netzwerke mit Familienmitgliedern, Verwandten, Freunden und Bekannten sowohl in Deutschland als auch in ihren Herkunftsländern anknüpfen. Da die überwiegende Mehrheit russischsprachiger Zuwanderer in Deutschland entweder die deutsche Staatsangehörigkeit oder eine unbefristete Niederlassungserlaubnis besitzt, ist passrechtlich eine jederzeitige Einreise nach Deutschland möglich. Aus diesen Gründen war aus Sicht der Befragten eine temporäre Heimkehr überwiegend mit Chancen und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung und weniger mit Risiken verbunden. Die Befragten haben nach ihrer Rückkehr zwischen einem und zwei Jahren in ihrem Herkunftsland verbracht. Nach ihrer Wiederkehr nach Deutschland haben sie sich alle selbstständig gemacht. Einige von ihnen waren weiterhin in transnationale unternehmerische Tätigkeiten involviert und konnten dabei von den während ihrer Rückkehr aufgebauten Kontakten profitieren. Die meisten der hier befragten temporären Rückkehrer greifen zumindest in der ersten Zeit nach ihrer Rückkehr überwiegend auf ihre bereits vorhandenen

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strong ties (Familienmitglieder, Freunde) zurück und bauen mit der Zeit weitere Kontakte auf, die für ihre unternehmerische Tätigkeit relevant sein könnten. Ihre unternehmerischen Aktivitäten richten sie überwiegend auf den lokalen oder nationalen Markt des Herkunftslandes aus. Sie profitieren aber auch von ihren Beziehungen in Deutschland (vor allem von ihren strong ties), die sie bei den transnationalen unternehmerischen Tätigkeiten unterstützen. Es handelt sich eher um sporadische bis moderat häufige Praktiken (komplementäre Strategie), die überwiegend einen informellen Charakter haben und einen gewissen Grad an Vertrauen und Reziprozität zwischen den beteiligten Personen aufweisen (embedded ties). Wie aus dem folgenden Beispiel eines Autoexporteurs ersichtlich wird, kann ein längerer Aufenthalt im Herkunftsland gezielt als Vorbereitung für eine spätere transnationale unternehmerische Tätigkeit in Deutschland genutzt werden. Der Interviewpartner ist 1993 mit 20 Jahren nach Deutschland gekommen und ist nach seiner Ausbildung 1996 für ein Jahr zurück nach Kasachstan gegangen, wo er unterschiedliche informelle unternehmerische Tätigkeiten ausgeübt hat. Er entschied sich für eine temporäre Rückkehr, weil er attraktive Möglichkeiten für ökonomische Tätigkeiten in seinem Herkunftsland erkannte: »Das waren Zeiten, da konnte man aus Luft Geld machen« (W2). Er verfügte bereits vor seiner Rückkehr über wichtige soziale Kontakte im Herkunftsland, auf die er zurückgreifen konnte. Zuerst war er einen Winter lang in ein Barter-Geschäft verwickelt, bei dem es um einen Tauschhandel von Braunkohle gegen Rindfleisch ging. Das erwirtschaftete Geld investierte er in einen kleinen LKW in Deutschland, den er nach Kasachstan brachte, um dort verschiedene Transportdienstleistungen anzubieten. Dadurch verschaffte er sich einen Wettbewerbsvorteil. An dem Ort, wo er seine unternehmerische Tätigkeit ausübte, war es der einzige ausländische LKW, weshalb die Kunden bereit waren, einen höheren Preis für die Dienstleistung zu zahlen. Aus dem erwirtschafteten Profit finanzierte er wiederum sein nächstes Vorhaben (Autoexport). Ferner nutzte er seinen Aufenthalt in Kasachstan, um wichtige Kontakte für dieses Vorhaben zu knüpfen: »Vor Weihnachten bin ich wieder zurückgekommen (aus Kasachstan nach Deutschland). (…) Aber hier (in Deutschland) kam ich schon mit einem kleinen Stammkapital an. Also habe ich gut verdienen können. Ich habe auch Kontakte geknüpft wegen Autos: Export nach da, Verzollung, und, und, und... Dann fing ich hier an.« (W2)

Während seines Aufenthaltes in Kasachstan entschied er sich, wieder nach Deutschland zu ziehen, um in der Nähe seiner Eltern und Geschwister zu leben. Nach seiner Wiederkehr spezialisierte er sich vorwiegend auf den Export von

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Autos nach Kasachstan. Dabei profitierte er von während seiner temporären Rückkehr aufgebauten sozialen Netzwerken sowie von seiner Zweisprachigkeit und Marktkenntnissen seines Herkunftslands.

T YP II: I NTENSIVE

HERKUNFTSSPEZIFISCHE TRANSNATIONALE UNTERNEHMERISCHE T ÄTIGKEITEN

Diesem Typus wurden Unternehmen zugeordnet, deren wirtschaftlicher Erfolg in Deutschland primär vom regelmäßigen ökonomischen Austausch sowie von intensiver Nutzung sozialer Kontakte in ihrem Herkunftskontext abhängt. Transnationale wirtschaftliche Aktivitäten stellen die Hauptstrategie solcher Unternehmen dar. Diese Unternehmensstrategie ist sowohl mit bestimmten Potenzialen als auch Risiken verbunden. Einerseits können Migrantenunternehmen ihr transnationales Sozialkapital und interkulturelles Wissen strategisch einsetzen, um sich gewisse Wettbewerbsvorteile zu verschaffen (vgl. Light 2008). Andererseits erfordert die reguläre und intensive Ausübung transnationaler Geschäftspraktiken neben einer ausgeprägten, kontinuierlichen Anpassungsfähigkeit an verschiedene, sich ändernde strukturelle Kontexte langfristig auch einen relativ hohen Formalisierungsgrad von sozialen Beziehungen, was mit hohen Investitionen in Beziehungsarbeit verbunden ist. Bei ihren transnationalen Aktivitäten knüpfen die Unternehmer, die diesem Typus zugeordnet wurden, am Anfang ihrer unternehmerischen Tätigkeit häufig an ihre bereits vor der Migration vorhandenen, herkunftsspezifischen sozialen Kontakte an. Es handelt sich überwiegend um weak ties, vereinzelt greifen jedoch einige Unternehmer auch auf ihre im Herkunftsland lebenden engeren Beziehungspartner zurück (strong ties). Um langfristig gewinnbringende unternehmerische Tätigkeit im transnationalen Markt ausüben zu können, müssen die bereits vor der Migration vorhandenen Kontakte im Herkunftsland durch neue relevante Kontakte, vor allem zu Behörden und Personen in höheren sozialen Positionen (vertical weak ties; vgl. Ryan 2011), erweitert werden. Diese werden häufig von den bereits bestehenden Kontakten vermittelt, wobei in der Regel der Mechanismus des transitiven Vertrauens umgesetzt wird. Informelle Beziehungen, die einen hohen Grad an Vertrauen und Reziprozität erfordern, spielen vor allen am Anfang transnationaler Selbstständigkeit eine wichtige Rolle. Deren Relevanz nimmt im Laufe der Zeit jedoch meistens zugunsten formeller, preisbasierter Geschäftsbeziehungen ab, die über konkrete monetäre Gegenleistungen geregelt werden (arm’s-length ties; vgl. Uzzi 1997). Es erfolgt immer häufiger eine direkte Ansprache potenzieller Geschäftspartner, wobei langjährige Markterfahrung als Garantie für Vertrau-

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enswürdigkeit dient und schriftliche Verträge die Notwendigkeit der Vertrauensprüfung ersetzen. Trotz zunehmender Formalisierung und Institutionalisierung unternehmerischer Tätigkeiten in langfristiger Perspektive bleibt die Pflege bestimmter informeller Beziehungen jedoch weiterhin für viele Unternehmen wichtig, weil solche Beziehungen, wie aus dem folgenden Beispiel eines Autoexporteurs ersichtlich wird, einen privilegierten Informationszugang und dadurch einen Wettbewerbsvorteil ermöglichen können: »Also zu Sylvester 2006-07 haben Informanten von da drüben (aus Kasachstan), von der Regierung, die im Umkreis der Regierung sind, die haben uns gesagt: ›Passt mal auf, die Zölle werden höher, die werden erhöht‹. Wir hatten vor Sylvester nur zwölf Fahrzeuge. Alles, was wir hier im Umkreis von 200 km fanden (in Deutschland), haben wir schnell aufgekauft, dahin geschickt. Das war ja jede Menge, so um die 100 Fahrzeuge.« (W2)

Obwohl nur ein relativ kleiner Anteil der Befragten in Bezug auf ihre zum Zeitpunkt des Interviews ausgeübte unternehmerische Tätigkeit dieser Kategorie zugeordnet werden kann, erzählten mehrere Interviewpartner, dass sie diese Strategie in der Vergangenheit temporär genutzt haben. Mit wenigen Ausnahmen waren die Interviewpartner, die diesem Typus zugeordnet wurden, als Exportunternehmer tätig. Insbesondere in den 1990er Jahren waren die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion als Absatzmarkt für Gebrauchtfahrzeuge und technische Geräte aus Deutschland attraktiv. Mehrere Interviewpartner haben auf die damals vorhandene Nachfrage reagiert und konnten dabei von den bereits bestehenden sozialen Kontakten (überwiegend weak ties) in ihren Herkunftsländern profitieren. Die meisten von ihnen berichteten, dass sie sich, obwohl sie mit den aus dieser Tätigkeit erzielten Gewinnen zufrieden waren, nach wenigen Jahren entschieden haben, diese Tätigkeit entweder vollständig oder größtenteils einzustellen. Zum einen wurden seit Ende der 1990er Jahre die Einfuhrzölle in der GUS kontinuierlich erhöht, zum anderen war der Handel stark von der russischen Wirtschaftskrise im Jahr 1998 betroffen. Die Exportgeschäfte waren außerdem mit der Notwendigkeit häufiger Reisen verbunden, da die meisten Interviewpartner die Waren anfangs selbst transportiert haben. Sie mussten dabei mehrere nationale Grenzen überqueren und sich mit den sowohl formellen als auch informellen Gepflogenheiten an den jeweiligen Grenzkontrollen auskennen. In den 1990er Jahren war der Handel in den sich transformierenden ehemaligen Sowjetrepubliken durch Korruption, informelle Strukturen und häufige Gesetzänderungen gekennzeichnet (vgl. Ledeneva 2006). Die weite Verbreitung informeller Praktiken kann als Reaktion auf ineffiziente institutionelle Steuerung und Defizite in formalen Strukturen interpretiert werden (vgl. Lovell 2008). Die-

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ser Zustand, der zum Teil durch die stillschweigende Duldung informeller Praktiken seitens der Behörden und anderer Akteure gewisse ökonomische Perspektiven und Handlungsspielräume für die unternehmerische Tätigkeiten ermöglichte, erforderte gleichzeitig eine schnelle Anpassung an die sich rasch verändernden strukturellen Rahmenbedingungen und ein flexibles Agieren in unterschiedlichen informellen Strukturen. Dabei spielten informelle Beziehungen insbesondere zu Behörden oder Personen in hohen sozialen Positionen (vertical weak ties) eine wichtige Rolle. Da informelle Praktiken einen gewissen Grad an Vertrauen erfordern, mussten Vertrauenspersonen gefunden werden, die den Zugang zu bestimmten Ressourcen ermöglichten (z.B. Information, Erleichterungen bei administrativer Abwicklung). Im folgenden Zitat aus einem Interview mit dem ehemaligen Autoexporteur werden die damit verbundenen Schwierigkeiten geschildert: »Man kennt ja gerade die 1990er Jahre, die waren sehr einfach. Man nimmt den Pass und tut da 20 Mark rein. Damals kam man damit durch, und es war alles geregelt. Irgendwann später ging das auch nicht mehr mit 20 DM, da wollten die höhere Preise. Das System war so. Im Osten ging es einfach nicht anders. Man hat dann mit der Zeit die Vertrauenspersonen kennengelernt. Aber an der Grenze [...] Weißrussland-Polen war das so, dass die alle sechs Monate die Mannschaft gewechselt haben. Und das war alleine aus dem Grund, um diese Kontakte, die man geknüpft hat, zu unterbinden. Man kommt wieder dahin und kennt keinen. Heißt, man muss alles wieder neu anfangen, bis man durch ist. Und das hat immer wieder so ein bisschen gestottert, aber dann lief es wieder seinen Gang, wie alles andere auch. Für mich war das aber langfristig nicht attraktiv, weil nur da, wo man persönlich immer ist, läuft alles rund. Und ich hatte nicht unbedingt auch viel Lust, permanent da zu sein, permanent (zu) reisen.« (W7)

Als eine andere Schwierigkeit wurde in mehreren Interviews die Gefahr des Kontrollverlustes über das Geschehen durch häufige physische Abwesenheit angesprochen. Um die Kontrolle wieder zu gewinnen, ohne ständig vor Ort präsent zu sein, delegierten manche Unternehmer die Kontrollfunktion an eine Vertrauensperson (überwiegend strong tie). Als ein befragter Autoexporteur anfing, regelmäßig größere Mengen von Fahrzeugen nach Kasachstan zu exportieren, entstand die Notwendigkeit eines überwachten Stellplatzes. Dafür wurde eine Wachfirma in Kasachstan beauftragt, die auch die Verzollung übernahm.

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Am Anfang funktionierte diese Aufgabenteilung reibungslos, nach ein paar Monaten traten jedoch Probleme auf: »Da drüben lief alles wie geschmiert. Die ersten, sagen wir so, acht Monate. Dann fing das an, die haben angefangen, das Geld zu klauen. [...] Um das zu unterbinden, habe ich einen von hier dahin geschickt. [...] Deswegen kam dann auch diese Aufsichtsperson (Cousin des Befragten aus Deutschland) nach drüben, damit auch eine Vertrauensperson von uns da ist.« (W2)

Viele der Befragten, die intensive transnationale unternehmerische Tätigkeiten als Hauptstrategie ihres Unternehmens ausübten, haben nach wenigen Jahren ihre transnationale unternehmerische Tätigkeit entweder vollständig oder zumindest teilweise eingestellt (d.h. sie üben sie nur noch sporadisch als komplementäre Strategie aus) und sich hauptsächlich auf den aus ihrer Sicht sicheren deutschen Markt konzentriert. Trotz der Formalisierungsmaßnahmen des osteuropäischen Handels in der letzten Dekade erfordern Geschäftspraktiken in den ehemaligen Sowjetrepubliken zumindest am Anfang immer noch eine relativ hohe Einbettung in informelle Strukturen, was von den meisten Befragten als Belastung empfunden wird. Außerdem werden die Handlungsmöglichkeiten transnationaler Unternehmen im Sinne des Mixed-Embeddedness-Ansatzes (vgl. Kloosterman/Rath 2001) stark von strukturellen Rahmenbedingen beschränkt. Im Laufe der Zeit empfanden die meisten Befragten, dass diese Strategie mit vielen Risiken verbunden ist, wie z.B. Unsicherheiten im osteuropäischen Markt, instabile rechtliche, wirtschaftliche und politische Lage in der GUS, Abhängigkeit von bestimmten informellen Strukturen sowie hohe Zollgebühren.

T YP III: K OMPLEMENTÄRE

HERKUNFTSSPEZIFISCHE TRANSNATIONALE UNTERNEHMERISCHE T ÄTIGKEITEN Transnationale Unternehmen russischsprachiger Zuwanderer in Deutschland, deren Unternehmenserfolg primär von transnationalen Geschäftshandlungen auf regulärer Basis abhängt, kommen bislang relativ selten vor (vgl. z.B. Sommer 2012). Häufiger verbreitet sind dagegen Unternehmen, die sich hauptsächlich auf dem deutschen Markt verorten gleichzeitig aber sporadisch und flexibel transnationale ökonomische Aktivitäten ausüben, die zwar für ihren Unternehmenserfolg nicht ausschlaggebend sind, dem Unternehmen dennoch kurzfristig einen gewissen Wettbewerbsvorteil verschaffen können. Solche Tätigkeiten, die einen komplementären Charakter haben, können in Anlehnung an Itzigsohn et al.

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(1999) als broad economic transnationalism bezeichnet werden. Meistens werden dabei die bereits bestehenden sozialen Kontakte zu Bekannten im Herkunftsland aktiviert (eher weak ties) und gelegentlich für unternehmerische Aktivitäten genutzt. Es handelt sich überwiegend um informelle Praktiken, die auf Vertrauen und erwarteter Reziprozität basieren und selten um preisbasierte Leistungen, bei denen eine direkte monetäre Bezahlung der Leistung erfolgt. Eine befragte Buchhändlerin beispielsweise, die vor ihrer Auswanderung nach Deutschland als Redakteurin in einem Buchverlag in Russland gearbeitet hat, nutzt ihre Kontakte zu den ehemaligen Kollegen bei der Beschaffung von in Deutschland nicht-erhältlichen russischsprachigen Büchern. Diese Unterstützung wird auf Freundschaftsbasis angeboten. Da die Interviewpartnerin viel Wert auf den aus ihrer Sicht hohen intellektuellen Anspruch ihrer Kunden legt, versucht sie ihren Kunden auf Anfrage den Zugang zu seltenen Werken oder limitierten Ausgaben zu ermöglichen, die nicht bei ihren Großhändlern in Deutschland vorhanden sind. Dieser Service wird von ihr als Alleinstellungsmerkmal in Abgrenzung zu anderen russischsprachigen Buchläden in der Region und zum OnlineBuchhandel strategisch eingesetzt. Die Interviewpartnerin hat im Interview mehrmals den Wunsch geäußert, direkt mit den russischen Verlagen auf einer regelmäßigen Basis arbeiten zu können. Zwar eröffnen die sozialen Beziehungen aus ihrer ehemaligen beruflichen Tätigkeit im Herkunftsland einen leichten Zugang zu potenziellen Geschäftspartnern, die Umsetzung des Vorhabens scheitert jedoch aus ökonomischen Gründen (hohe Zollgebühren für Nicht-EU-Waren sowie hohe Fahrtkosten): »Wir würden gerne in Zukunft direkt mit den russischen Verlagen arbeiten. […] Im Idealfall hätten wir gerne einen Menschen, der hinfährt und direkt beim Verlag kauft und die Bücher nach der Verzollung nach Deutschland bringt. Aber noch können wir es uns nicht leisten. […] Also verwenden wir zurzeit so eine Art ›kombiniertes Modell‹.« (D13, Übersetzung aus dem Russischen ES)

Obwohl es sich bei komplementären transnationalen unternehmerischen Tätigkeiten in den meisten Fällen um informelle Praktiken handelt, stellen Unternehmen, die im Unterrichts- und Sprachdienstleistungssektor tätig sind, ein Gegenbeispiel dar. Solche unternehmerischen Tätigkeiten erfordern einen relativ hohen Formalisierungs- und Institutionalisierungsgrad sowie häufig eine Genehmigung und Zertifizierungsmöglichkeiten durch staatliche Institutionen. In diesem Sektor erfolgt der Aufbau relevanter Geschäftskontakte für komplementäre transnationale Geschäftsaktivitäten in der Regel nicht über den Bekanntenkreis, sondern durch direkte Ansprache potenzieller Geschäftspartner und Kunden oder über

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branchenspezifische Vermittlungsagenturen und Internetanzeigen. Häufig ergeben sich relevante Kontakte aus dem Schneeballprinzip über Weiterempfehlungen von Kunden und Kollegen. Es handelt sich dabei überwiegend um professionelle, formelle und preisbasierte Geschäftsbeziehungen.

T YP IV: N ICHT - HERKUNFTSSPEZIFISCHE TRANSNATIONALE UNTERNEHMERISCHE T ÄTIGKEITEN Obwohl unternehmerische Interaktionen zwischen dem Aufnahmeland und dem Herkunftsland die am häufigsten vorkommende Form des transnationalen Migrantenunternehmertums sind (vgl. Zhou 2004), gibt es vereinzelte Migrantenunternehmen, die transnational zwischen dem Aufnahmeland und einem oder mehreren Drittländern aktiv sind, ohne transnationale unternehmerische Beziehungen in ihrem Herkunftsland zu pflegen. Mit wenigen Ausnahmen, die überwiegend jüdische Zuwanderer und ihre Kontakte in Israel und den USA betreffen, handelt es sich bei transnationalen unternehmerischen Beziehungen in Drittländer von befragten russischsprachigen Selbstständigen nicht um Verwandte, sondern um Freunde und Bekannte (eher weak ties) oder um reine Geschäftskontakte (arm’slength ties). Nicht-herkunftsspezifische transnationale unternehmerische Tätigkeiten stellen in der Regel nicht die Hauptstrategie des Unternehmens dar, sondern werden sporadisch bis moderat oft als komplementäre Strategie verwendet. Ähnlich wie in der Studie von Gamper und Fenicia (2013) handelt es sich bei Netzwerken mit nicht-herkunftsspezifischem transnationalem Sozialkapital überwiegend um jüngere Zuwanderer, die in Deutschland ihre Ausbildung oder ihr Studium absolviert und die sozialen Beziehungen in das Drittland erst nach ihrer Zuwanderung nach Deutschland geknüpft haben. Sie waren häufig entweder selbst temporär in diesem Drittland ansässig (wie im Falle eines Graphikdesigners, der ein Praktikumsjahr in den USA verbracht hat und in dieser Zeit entstandene Kontakte für seine unternehmerische Tätigkeit in Deutschland nutzt) oder sie haben eine Person aus diesem Drittland in Deutschland kennengelernt (wie im Falle eines Softwareentwicklers, der während seines Studiums einen tschechischen Studenten kennengelernt hat und jetzt mit dessen Unternehmen in Tschechien kooperiert). Bei den älteren Interviewpartnern, die diesem Typus zugeordnet wurden, entstanden solche Kontakte in die Drittländer häufig über die sogenannten diasporic nodes (vgl. Voigt-Graf 2004), d.h. über die Vernetzung der russischsprachigen Community in Deutschland und in diversen Drittländern (wie z.B. im Falle einer Kleidungseinzelhändlerin, die einen Teil der in ihrem Laden angebo-

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T ÄTIGKEITEN | 137

tenen Kleidungsstücke bei russischsprachigen Großhändlern in Frankreich einkauft, zu denen sie über Bekannte aus der russischsprachigen Community in Deutschland Kontakt aufgenommen hat). Des Weiteren handelt es sich bei bestimmten Branchen (z.B. Speditionsunternehmen, Onlinehandel) um eine direkte Kontaktierung potenzieller Kunden und Geschäftspartner im überwiegend europäischen Ausland. Daraus entstehen formelle Marktbeziehungen, die über Preise und Verträge geregelt werden.

T YP V: M ULTIDIMENSIONALE FLEXIBLE UNTERNEHMERISCHE T ÄTIGKEITEN

TRANSNATIONALE

Die Strategie multidimensionaler transnationaler unternehmerischer Tätigkeiten wird von Migrantenunternehmen verwendet, die soziale Beziehungen sowohl in Deutschland als auch in ihrem Herkunftsland und mindestens einem anderen Drittland für ihre unternehmerischen Tätigkeiten nutzen. Dabei können Akteure in allen beteiligten Ländern miteinander vernetzt sein oder es kann sich, wie im Falle des Typus‫ ތ‬multidimensionale flexible transnationale unternehmerische Tätigkeiten, um lose Dyaden Deutschland – Herkunftsland und Deutschland – Drittland ohne eine Verbindung zwischen Herkunftsland und Drittland handeln. Bei diesem Typus handelt es sich um Unternehmen, die flexibel auf die Marktsituation reagieren und ihr ökonomisches Handeln strategisch in ihre sozialen Netzwerke einbetten. Sie greifen gelegentlich sowohl auf ihre herkunftsspezifischen als auch andere Kontakte zurück und bauen vorsorglich unternehmerische Beziehungen an mehreren Orten auf. Während es sich bei den zumeist sporadischen Geschäftskontakten im Herkunftsland um die bereits vor der Migration vorhandenen weak ties handelt, geht es bei den Beziehungen ins Drittland häufig um Geschäftskontakte, die im Laufe der beruflichen Karriere erst in Deutschland entstanden sind. Dieser Typus zeichnet sich durch eine Kombination diverser Kontaktierungspfade aus und profitiert in gleichem Maße sowohl von informellen als auch von formellen Beziehungen. Der überwiegende Teil situiert sich hauptsächlich auf dem deutschen Markt, die Nutzung transnationalen Sozialkapitals stellt jedoch eine erfolgreiche komplementäre Strategie dar. Die meisten diesem Typus zugeordneten Unternehmen weisen eine relativ große Offenheit gegenüber Marktveränderungen auf und haben die Fähigkeit, sich schnell an die neue Situation anzupassen sowie ihr Angebot und die Arbeitsorganisation entsprechend umzustrukturieren. Häufig wechseln sie im Laufe ihrer Unternehmerkarriere mehrere Branchen oder sind gleichzeitig in mehreren Branchen tätig. Dadurch erhalten sie internationale Geschäftskontakte in unterschiedliche Wirt-

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schaftssektoren und übernehmen eine beratende Vermittlerrolle in der russischsprachigen Migrantencommunity, indem sie potenzielle Geschäftspartner zusammenbringen.

T YP VI: D REIECK - ORIENTIERTE TRANSNATIONALE UNTERNEHMERISCHE T ÄTIGKEITEN Bei diesem Typus handelt es sich um die multidimensionale transnationale dreiecksförmig Vernetzung Deutschland – Drittland – Herkunftskontext, wobei eine Verbindung vom Herkunftskontext und Drittland durch die unternehmerische Tätigkeit der in Deutschland lebenden zugewanderten Selbstständigen hergestellt wird und alle drei Länderkontexte für die Ausübung der unternehmerischen Tätigkeit wichtig sind. Ähnlich wie beim Typus Multidimensionale flexible transnationale unternehmerische Tätigkeiten zeichnen sich Dreieck-orientierte transnationale unternehmerische Tätigkeiten durch aktive Kombinierung verschiedener Kontaktierungsstrategien und Nutzung sowohl formeller als auch informeller Beziehungen aus. Im Gegensatz zum Typus Multidimensionale flexible transnationale unternehmerische Tätigkeiten konzentrieren sich transnationale Dreiecke überwiegend auf eine konkrete unternehmerische Tätigkeit. Häufig handelt es sich bei diesen Unternehmen um eine Kombination von Produktion und Vertrieb, wobei der Wettbewerbsvorteil aus der Verbindung der drei beteiligten Länder resultiert. Eine erfolgreiche Aufrechterhaltung solcher transnationaler unternehmerischer Dreiecke erfordert eine intensive Einbindung in transnationale Netzwerke sowie hohe zeitliche Investitionen in Beziehungspflege in den beiden anderen beteiligten Ländern. Denn wenn eines der Länder wegfällt, kann das gesamte Dreieck zusammenbrechen. Bei den wichtigsten Geschäftspartnern handelt es sich meistens um embedded ties, da die beteiligten Akteure durch die intensive Kommunikation eine Beziehung aufbauen, die auf Vertrauen und gegenseitiger Unterstützung basiert. Die meisten Netzwerke transnationaler Dreiecke weisen jedoch auch einen wichtigen Anteil an Beziehungen auf, die als reine Geschäftsbeziehungen in Sinne der arm’s-length ties bezeichnet werden können (z.B. Herstellerfirmen, Vertriebsunternehmen, Zwischenhändler). Im Folgenden wird exemplarisch ein Beispiel eines solchen transnationalen Dreiecks vorgestellt. Es handelt sich um eine Verbindung Deutschland – China – Russland. Der Interviewpartner, dessen GmbH sich auf den Vertrieb von elektronischem Zubehör für Mobiltelefone spezialisiert hat, verwendet in diesem Zusammenhang selbst das Wort »Dreieck«. Das elektronische Zubehör wurde im Auftrag seiner Firma in China hergestellt, nach Deutschland versandt und da-

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nach in Russland verkauft. Die Kontakte zu den Herstellern in China entstanden durch direktes Ansprechen auf Messen. Der Interviewpartner kennt aus seiner Studienzeit in Russland einen ehemaligen chinesischen Kommilitonen. Dieser hat den Befragten in China zu Messen begleitet und bei den administrativen Angelegenheiten unterstützt. Außerdem hat der ehemalige chinesische Kommilitone sich an der GmbH in Deutschland finanziell als Investor beteiligt. Das elektronische Zubehör erhält in Deutschland den Markennamen der deutschen Firma und wird anschließend in Russland als deutsche Ware vertrieben. Dabei greift der Interviewpartner auf seine Kontakte in Moskau zurück, die ihn beim Vertrieb unterstützen. Auf die Frage, wofür man in dieser Triade Deutschland bräuchte, antwortet der Befragte, dass er dadurch einen Wettbewerbsvorteil auf dem russischen Markt erhält, weil es sich bei seinem Angebot um eine deutsche Marke handelte und deutsche Waren in Russland eine gute Reputation haben: »›Made in Germany‹. Oder für Germany. […] Es geht ums Image. Als deutsche Firma können wir Waren in China bestellen […] und müssen auf diese Waren ›made in China‹ schreiben. Aber es steht überall ›made in China‹. Wichtig ist, für welches Land die Ware hergestellt wurde. Für Deutschland gilt eine Qualität, für Russland eine andere.« (D42, Übersetzung ES)

Eine Einbettung in multidimensionale transnationale unternehmerische Netzwerke erfordert, abgesehen von der Erfordernis, gleichzeitig intensive soziale Beziehungen zu unterschiedlichen Akteuren in mehreren Staaten zu pflegen, eine ständige Auseinandersetzung mit strukturellen Rahmenbedingungen (rechtliche Lage, Marktsituation, administrative Gepflogenheiten etc.) und die Fähigkeit, schnell und flexibel auf Veränderungen zu reagieren. So wurde das im Beispiel vorgestellte Geschäft im Jahr 2010 aufgrund der Finanzkrise in Russland eingestellt. Eine Umstellung auf den deutschen Markt ist daran gescheitert, dass es dem Interviewpartner nicht gelungen ist, in Deutschland Geschäftspartner für die Vermarktung und für den Vertrieb seiner Ware zu finden, um gegenüber anderen Anbietern in Deutschland wettbewerbsfähig zu sein.

F AZIT Im Laufe ihrer Unternehmenskarriere experimentieren selbstständige Zuwanderer mit mehreren Unternehmensstrategien. Manche greifen dabei auf transnationale Geschäftspraktiken zurück, die sie mit unterschiedlicher Intensität langfristig oder temporär ausüben. Bei ihren transnationalen unternehmerischen Aktivi-

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täten können sie von ihrem transnationalen Sozialkapital, ihren interkulturellen und wissensbezogenen Kompetenzen sowie von ihren Sprach- und Marktkenntnissen profitieren. Aus den empirischen Beispielen wird ersichtlich, dass Formen und Ausprägungen der Beteiligung an transnationalen unternehmerischen Aktivitäten sehr heterogen sein können. Um ein besseres Verständnis der Rolle sozialer Einbettung für transnationale ökonomische Tätigkeiten zu erlangen, erscheint eine Differenzierung in Bezug auf den Intensitätsgrad ausgeübter transnationaler unternehmerischer Tätigkeiten sowie in Bezug auf die Vernetzungsform, den Kontaktierungspfad und die Art der für die unternehmerische Tätigkeit relevanten sozialen Beziehungen sinnvoll. Auf dieser Basis konnten sechs Typen von Unternehmern identifiziert werden, deren Unterschiede nochmals verkürzt tabellarisch dargestellt werden (vgl. Tabelle 5). Auffallend ist, dass der Handlungsspielraum für transnationale unternehmerische Tätigkeiten nicht nur von den Ressourcen und dem Sozialkapital der Migranten abhängt, sondern im Sinne des Mixed-Embeddedness-Ansatzes auch von den strukturellen Rahmenbedingungen. Insbesondere intensive transnationale unternehmerische Aktivitäten zwischen Deutschland und den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion sind mit bestimmten Risiken und Belastungen verbunden und wurden aus diesem Grund von den meisten Befragten im Laufe der Zeit zugunsten sporadischer transnationaler unternehmerischer Aktivitäten als komplementäre Unternehmensstrategie aufgegeben. Die Selbstständigen, die transnationale Geschäftsaktivitäten in ihrem Unternehmen als komplementäre Strategie in einer Kombination mit anderen unternehmerischen Tätigkeiten in Deutschland einsetzten, waren diesen Risiken zu einem geringeren Ausmaß ausgeliefert. Dies ist darin zu begründen, dass diese Tätigkeiten nicht primär für den wirtschaftlichen Erfolg ihres Unternehmens ausschlaggebend waren und ihnen in der Regel mehrere Alternativen zu Auswahl standen, um ein Scheitern des Unternehmens zu verhindern.

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Tabelle 5: Typisierung von transnationalen unternehmerischen Tätigkeiten anhand von Netzwerkstrukturen 4 Vernetzungsform*

Intensi-

Kontakt-

tät**

aufnahme

Pfad***

Beziehungsart

1) Transnati• strong &

onale unternehmerische Tätigkeiten

eher HK -DE

eher K

von temporä-

vor der Mi-

weak ties 1, 3

• eher informell • eher

gration

ren Rückkeh-

embedded ties

rern • strong &

2) Intensive herkunftsspe-

weak ties

zifische transnatio-

• informell &

eher DE-HK

H

nale unter-

vor der Mi-

1, 2, 3

nehmerische

& arm's-

Tätigkeiten

length ties

3) Komple-

• eher

mentäre herkunftsspezifische transnationale unternehmerische Tätigkeiten

4

formell • embedded ties

gration

weak ties

eher DE- HK

K

vor der Migration

1, 2, 3

• eher informell • eher embedded ties

* HK: Herkunftskontext, DE: Deutschland, DL: Drittland; ** K: Komplementäre Strategie; H: Hauptstrategie; *** 1: direkter Rückgriff auf bereits bestehende Kontakte im Ausland; 2: direkte Ansprache von vorher persönlich unbekannten Akteuren (Personen/Organisationen/Institutionen) im Ausland; 3: Vermittlung relevanter Kontakte über die im Ausland bereits bestehenden Kontakte; 4: Vermittlung relevanter Kontakte über diasporic nodes (russischsprachige Communitys in Deutschland und in Drittländern); 5: Vermittlung relevanter Kontakte im Ausland über die in Deutschland lebenden, nicht der eigenen Migrantencommunity zugehörigen Personen.

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Vernetzungsform*

Intensi-

Kontakt-

tät**

aufnahme

Pfad***

4) Nicht-her-

• eher

kunftsspezifische transnationale unter-

Beziehungsart

eher DE -DL

eher K

nach der

weak ties 1, 2, 4, 5

• eher arm's-

Migration

nehmerische

• eher formell length ties

Tätigkeiten

• eher

5) Multidimensionale

weak ties

flexible

• informell &

transnationale unter-

DE -HK & DE -DL

eher K

gemischt

1, 2, 3, 4, 5

formell • embedded ties

nehmerische

& arm's-

Tätigkeiten

length ties • eher

6) Dreieck-

weak ties

orientierte transnatio-

DE -HK -

nale unter-

DL

• informell & eher H

nehmerische Tätigkeiten

gemischt

1, 2, 3, 4

formell • embedded ties & arm'slength ties

Quelle: Eigene Erhebung & Darstellung

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass im Gegensatz zu privaten sozialen Beziehungen, Geschäftsbeziehungen häufig strategische Beziehungen sind, aus denen bestimmte Ressourcen für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens gewonnen werden sollen. Durch die Einbettung in transnationale unternehmerische Netzwerke erhoffen sich selbstständige Zuwanderer einen zusätzlichen Wettbewerbsvorteil für ihr Unternehmen. Während mehrere Studien zur Selbstständigkeit von Migranten (vgl. z.B. Kloosterman/Rath 2001; Pütz 2004) zum Ergebnis kommen, dass Migrantenunternehmen sich insbesondere in der Gründungsphase häufig auf ihre strong ties und dicht strukturierte multiplexe Beziehungen innerhalb der eigenen Migrantencommunity verlassen, zeigt die vorliegende Datenauswertung, dass russischsprachige Zuwanderer bei ihren transnationalen unternehmerischen Tätigkeiten hauptsächlich auf ihre weak ties in den Herkunftsländern zurückgreifen oder nach ihrer Auswanderung strate-

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gisch neue Kontakte im Ausland (sowohl im Herkunftskontext als auch in Drittländern) aufbauen. Dabei sind vor allen im Anfangsstadium informelle Kontakte von großer Bedeutung; in langfristiger Perspektive erfolgt jedoch eine zunehmende Formalisierung transnationaler unternehmerischer Netzwerke.

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Lebensprojekte mit dem Fokus »Rückkehr« und Dagebliebensein

Nicht geboren zum im Deutschland leben1 Eine Interviewstudie zu den Motiven Russlanddeutscher, in Russland zu verbleiben Y VES -O LIVER T AUSCHWITZ

E INLEITUNG Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass Deutschland auf (Spät-)Aussiedler eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt. Deutschland wurde als Endpunkt einer jahrhundertelangen Reise gesehen. Um als »Deutsche unter Deutschen« (Brommler 2006: 110) leben zu können und um ihre Religion und Sprache fürchtend verließen daher seit dem Ende der 1980er Jahre über 700.000 Russlanddeutsche Russland und suchten ihr Glück in Deutschland. Keineswegs alle Russlanddeutschen fühlen sich aber im Land ihrer Vorfahren zuhause. In der deutschen Gesellschaft finden sie sich nicht zurecht, weshalb sich einige zur Rückkehr nach Russland entscheiden. Vom Leben in Deutschland hatten sie offensichtlich eine idealisierte Vorstellung. Erst im Nachhinein sind sie sich darüber bewusst geworden, was sie in Russland zurückgelassen haben. Auch fiel ihnen mit der Zeit auf, dass sie sich von Bundesdeutschen aufgrund ihrer Sozialisation unterscheiden. Diese Entwicklung wird von Forschern (vgl. u.a. IpsenPeitzmeier/Kaiser 2006, Schönhuth 2008, Rosenberg 2010) und von der Bundesregierung (vgl. Baraulina 2014) erst seit Kurzem berücksichtigt. Noch existieren daher nur wenige Studien, die in ihre Herkunftsländer remigrierte Russlanddeutsche untersuchen (siehe auch die Beiträge von Fenicia und Mattock in diesem

1

Im Rahmen meiner Teilnahme an der Sommerakademie 2013 habe ich auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft e.V. einen gleichnamigen Essay mit Teilergebnissen dieses Beitrags veröffentlicht (vgl. Tauschwitz 2013).

150 | Y VES-O LIVER TAUSCHWITZ

Band). Mit den Motiven des Dableibens jener Russlanddeutscher, die Russland gar nicht erst verlassen haben, hat sich hingegen noch fast niemand2 beschäftigt. Dabei kann die Analyse ihrer Argumente für und gegen den Verbleib in Russland dabei helfen, ein besseres Verständnis für die Beweggründe russlanddeutscher Remigranten zu entwickeln. Der Frage, was Russlanddeutsche, die Russland nicht verlassen wollen, im Land ihrer Geburt hält, widme ich mich in diesem Beitrag.3 Dabei untersuche ich den Einfluss von Faktoren wie Sprache, Identität, Finanzen, Heimatverbundenheit sowie Verwandten und Angehörigen. In meiner Analyse greife ich auf Interviews mit Russlanddeutschen aus der dominant russischen Stadt Solikamsk und dem zumindest traditionell russlanddeutschen Dorf Schumanowka zurück. Die qualitativen Daten, die ich hier untersuche, habe ich einerseits selbst erhoben. Andererseits beziehe ich Interviews mit ein, die im Rahmen eines Forschungsprojekts4 an der Europa-Universität Viadrina unter anderem in Schumanowka aufgezeichnet wurden.

I N R USSLAND

VERBLIEBENE

R USSLANDDEUTSCHE

Russlanddeutsche gehören ungeachtet der Auswanderungswellen vor allem in Sibirien, aber auch in ganz Russland, noch zu den größten Minderheiten des Landes (vgl. Smirnova 2007: 50). Auch wenn Russlanddeutsche in vereinzelten Regionen Russlands immer noch eine starke Minderheit darstellen, ist ihre Zahl in Russland rückläufig. Während 2002 noch knapp 600.000 Deutsche gezählt wurden (vgl. Rosstat 2002a), waren es acht Jahre später weniger als 400.000 (vgl. Rosstat 2010a). Dass Russlanddeutsche aus Kasachstan und anderen Ländern Zentralasiens beispielsweise ins Altai-Gebiet (vgl. Kaiser 2006: 42) und in die Kursker Region (vgl. Afanas'eva 2008) migriert sind, hat dabei keinen gro-

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Seltene Ausnahmen bieten beispielsweise die Feldstudie »Wenn ich Fliegel hätt, würd ich nach Deutschland fliegen« (Schönhuth/Horn/Kupper 2000) und der Sammelband »Zurückbleiben: Der vernachlässigte Teil der Migrationsgeschichte« (Gestrich/Krauss 2006).

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Die Forschungsstudie habe ich im Rahmen meiner Masterarbeit durchgeführt (vgl. Tauschwitz 2014).

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Das DFG-geförderte Forschungsprojekt »Regularität und Irregularität in der Kasusmorphologie deutscher Sprachinselvarietäten (Russland, Brasilien): intralinguale, interlinguale, typologische Konvergenz« wird von Peter Rosenberg geleitet.

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ßen Einfluss auf die Statistik gehabt. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass die Immigranten sich selbst nicht als Deutsche sehen. Traditionell lebten Russlanddeutsche in Dörfern im Deutschen Nationalen Rayon5 im Altai-Gebiet in sogenannten Sprachinseln6, in denen sie ihre eigene Kultur und Sprache weitgehend unabhängig und unbeeinflusst von der russischen Mehrheitsgesellschaft ausüben konnten. Das änderte sich jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts, als sich Russlanddeutsche immer stärker an die russische Mehrheitsgesellschaft anpassten. Aufgrund der tragischen Geschichte der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert konnte man nicht mehr von russlanddeutschen Sprachinseln sprechen. Auch die massenhafte Auswanderung von Russlanddeutschen in den 1990er Jahren wirkte sich negativ auf den Erhalt der deutschen Kultur und Sprache in ehemals russlanddeutschen Dörfern aus. Nun wurden die zahlreichen leer stehenden Häuser von Neuankömmlingen gekauft (vgl. Diesendorf 2007). Diese waren häufig Russen oder stark russifizierte Russlanddeutsche aus den zentralasiatischen Republiken der früheren Sowjetunion (vgl. Kaiser 2006: 41). Dadurch wurde die deutsche Sprache weiter aus dem Alltagsleben zurückgedrängt und wird heute – wenn überhaupt – nur noch in der familiären Kommunikation und unter Freunden genutzt (vgl. Riek 2000: 289f., Tauschwitz 2011). In sprachlicher Hinsicht haben sich die Russlanddeutschen offiziellen Statistiken zufolge längst assimiliert: mit Ausnahme von weniger als 1.000 Russlanddeutschen beherrschen alle die russische Sprache (vgl. Rosstat 2010b). 89 Prozent der in Russland lebenden Deutschen geben Russisch als ihre Muttersprache an (vgl. Rosstat 2010c und Kurske/Smirnova 2011: 171). Das lässt sich Kurske und Smirnova zufolge damit erklären, dass die jüngere Generation mit dem Deutschen häufig erst in der Schule in Berührung kommt. Deshalb nehmen viele die deutsche Sprache als Fremdsprache wahr (vgl. Kurske/Smirnova 2011: 173). Im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen die beiden Erhebungsorte Solikamsk und Schumanowka. Die Stadt Solikamsk hat rund 96.000 Einwohner (vgl. Rosstat 2013). Der Anteil Russlanddeutscher an der Bevölkerung der Stadt ist mit 1,3 Prozent (vgl. Portal pravitel'stva Permskogo kraja 2014) größer als im gesamten Permer Gebiet, wo er nur 0,24 Prozent beträgt (vgl. Rosstat 2010c).

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Das Forschungsprojekt zu russlanddeutschen Remigranten, über das Fenicia in diesem Band berichtet, basiert auf den Ergebnissen einer Feldforschung, die ebenfalls im Deutschen Nationalen Rayon durchgeführt wurde.

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Nach Hutterer (1982: 178) können Sprachinseln als »räumlich abgrenzbare und intern strukturierte Siedlungsräume einer sprachlichen Minderheit inmitten einer anderssprachigen Mehrheit« definiert werden.

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Edwin Grib, der Vorsitzende der in Solikamsk ansässigen russlanddeutschen Organisation »Vozrozhdenie« (Wiedergeburt), widerspricht der offiziellen Einschätzung. Ihm zufolge machen Russlanddeutsche immerhin zehn Prozent der Bevölkerung aus und sind damit die zweitgrößte Minderheit in Solikamsk (vgl. Grib 2005: 17). Die von mir interviewten Russlanddeutschen lebten über die ganze Stadt verteilt, weshalb ich annehme, dass es keine kompakten Ansiedlungen von Russlanddeutschen in bestimmten Bezirken gibt. Selbst wenn Grib richtig liegt, ist doch naheliegend, dass die russische Sprache und Kultur in Solikamsk dominieren. Der Deutsche Nationale Rayon, dem auch das Dorf Schumanowka angehört, beherbergt heute ca. 17.000 Einwohner (vgl. Rosstat 2013). Waren 1927 noch 96 Prozent der Bevölkerung Russlanddeutsche (vgl. Steinmetz 1992: 72), machen sie heute neben Russen und Ukrainern nur noch ein Drittel der Einwohner aus. Trotzdem gehe ich davon aus, dass Russlanddeutsche im Deutschen Nationalen Rayon heute noch immer relativ kompakt leben, da viele Dörfer ehemals deutsche Siedlungen, sogenannte ethnoterritoriale Kerne (vgl. Eisfeld 1987: 170), waren. Schumanowka selbst beherbergt heute etwas weniger als 1.300 Personen (vgl. Rosstat 2013). Den in dieser Arbeit interviewten Informanten zufolge sind davon weniger als 25 Prozent Katholiken. Im Zuge der Zusammenlegung von Dörfern wurde Schumanowka ab den 1960er Jahren vergrößert. Dabei wurde unter anderem das Dorf Konstantinowka aufgelöst, weshalb seine Bewohner nach Schumanowka umsiedeln mussten (vgl. Nemcyna Altae 2014, Shelenberg 1985: 89). Bis zu seiner Auflösung haben in Konstantinowka vor allem katholische Russlanddeutsche gelebt (vgl. Shelenberg 1985: 4). Auch wenn sich die Dörfer im Deutschen Nationalen Rayon bereits »seit Längerem im Sprachwechsel zur [russischen] Kontaktsprache befinden« (Rosenberg i. Dr.), bildeten sie ehemals Sprachinseln. Es ist daher zu erwarten, dass sich die deutsche Sprache und Kultur hier am ehesten erhalten hat und wird.

D ATENKORPUS Insgesamt sind in meine Untersuchung qualitative, leitfadengestützte Interviews mit zwei Informanten (Informant 1 und Informantin 2) aus Solikamsk und mit vier Informanten (ScJo, ReBe, KlPe, KlKl) aus Schumanowka sowie ein in Solikamsk geführtes Gruppengespräch eingeflossen. Alle Respondenten haben die Nachkriegszeit miterlebt, da sie zwischen 1925 und 1939 geboren wurden. Einige von ihnen wurden als junge Erwachsene bzw. als Kinder sogar selbst Opfer

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der Massendeportationen unter Stalin. Um mögliche geschlechtsspezifische Tendenzen zu berücksichtigen, habe ich an beiden Erhebungsorten paritätisch männliche und weibliche Informanten in die Analyse einbezogen. Die analysierten Daten entstammen einerseits eigenen Forschungsaufenthalten in Schumanowka (2009) und Solikamsk (2011). In Einzelinterviews habe ich auf der Grundlage eines Gesprächsleitfadens und mithilfe einer Fragebogenerhebung zur pronominalen Anrede unter Russlanddeutschen geforscht. In Solikamsk hat sich zudem spontan die Möglichkeit ergeben, ein Gruppengespräch zu führen und aufzuzeichnen, an dem auch die beiden hier untersuchten Respondenten teilnahmen. Darüber hinaus sind Interviews in die Analyse eingeflossen, die in zwei Erhebungszyklen (1998 bis 2002 und 2009 bis 2011) im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Europa-Universität Viadrina aufgenommen wurden. Ziel des Projekts war die Beschreibung und Erklärung des Morphologieabbaus in deutschen Sprachinseln. Während sich die Gespräche im ersten Erhebungszeitraum noch weitgehend spontan entwickeln konnten, wurden die Interviews in der zweiten Erhebung durch einen Gesprächsleitfaden gestützt. Dabei wurden Fragen zu Sprachwissen, -erwerb, -kompetenz, -gebrauch, -einstellungen sowie zur Vernetzung in der Kolonie und zum Kontakt mit anderen Gruppen gestellt. Die hier untersuchte Fragestellung stand nicht im Fokus der Interviews. Das Thema der Emigration spielte jedoch für alle Respondenten eine wichtige Rolle und ist in allen Interviews zur Sprache gekommen. Das hängt auch damit zusammen, dass sie mit bundesdeutschen Forschern interagierten. Aus dem Gruppengespräch gewonnene Kategorien sollten dabei helfen, die unterschiedlichen Interviews vergleichbar zu machen (vgl. Abschnitt Analysemethode).

R ESPONDENTEN

AUS

S OLIKAMSK

Die beiden Solikamsker Informanten 1 und 2 nehmen auch am Gruppengespräch teil. Da sie den größten Redeanteil daran haben, habe ich mich in der Analyse auf sie konzentriert. Informantin 1 wird 1938 in Saratow geboren, sie ist Lutheranerin und spricht eine lutherische Dialektvarietät. Ihre Eltern stammen wie sie aus der Wolgaregion. Mit drei Jahren wird die Respondentin gemeinsam mit ihrer Familie nach Sibirien ins Krasnoyarsker Gebiet deportiert. Die dortigen Lebensumstände werden von ihr als eine »dunkle Ecke« bezeichnet. Es habe weder Elektrizität noch Autos gegeben und die Deportierten mussten ohne technische Hilfsmittel arbeiten. 1955 kehrt sie mit ihrer Familie ins Uralgebiet zurück. Zunächst leben sie bei ihrer Tante in Woltschansk im Norden der Permer Region. 17 Jahre später

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ziehen sie zur Mutter ihres Mannes nach Asbest. Bis sie 1993 in den Ruhestand geht, verrichtet die Informantin bei der Eisenbahn Schwerstarbeit. Gemeinsam mit ihrem Mann, ihrem Sohn und dessen Familie wandert sie 2003 nach Deutschland aus. Während ihr Sohn in Deutschland bleibt, kehren die Respondentin und ihr Mann fünf Jahre später wieder nach Russland zurück. Sie siedeln sich nunmehr in Solikamsk an, wo ihre Tochter und deren Mann leben. Während Informantin 1 im Jahre 1941 nach Sibirien deportiert wird, erwartet Informant 2 ein völlig anderes Schicksal. Beide Eltern des 1929 in Chortiza geborenen Informanten stammen aus der Ukraine, waren Mennoniten und sprachen wie auch der Respondent Plattdeutsch. Mit 14 Jahren wird der Respondent von deutschen Soldaten aus Chortiza, das zu dieser Zeit von der Wehrmacht besetzt ist, in ein polnisches Dorf in der Nähe von Krakau evakuiert. Nachdem er dort anderthalb Jahre verbracht hat, wird er erneut verlegt. Für ein halbes Jahr lebt er in Thüringen, bevor er im Oktober 1945 von sowjetischen Soldaten gemeinsam mit anderen Russlanddeutschen in die russische Stadt Solikamsk gebracht wird. Dicht aneinander gedrängt schlafen sie dort auf dem Dielenboden einer unbeheizten Baracke, die von deutschen Kriegsgefangenen gebaut wurde. Fünf Jahre später zieht er gemeinsam mit einer fremden Familie in ein Zimmer, heiratet ein Jahr später. 1982 bekommt seine Familie eine eigene Wohnung zugewiesen, in welcher der Informant bis heute wohnt. Bis zu seiner Pension im Jahre 1986 leistet der Respondent in einer Papierfabrik schwere körperliche Arbeit.

R ESPONDENTEN

AUS

S CHUMANOWKA

In Schumanowka beschränkt sich meine Analyse auf Interviews mit zwei männlichen und zwei weiblichen Informanten, die zwischen 1925 und 1938 geboren wurden. Die Respondenten verbindet, dass sie pensioniert sind, eine katholische Dialektvarietät sprechen und nach der Auflösung Konstantinowkas nach Schumanowka gezogen sind. Darüber hinaus sind beziehungsweise waren es alle vier Gesprächspartner gewohnt, sowohl mit ihren Eltern und Großeltern als auch mit ihren Ehepartnern auf Katholisch zu sprechen. Die russische Sprache haben sie erst in der Schule erlernt. Der Informant ScJo wird 1925 in Konstantinowka geboren. Seine Eltern, die ursprünglich aus der Ukraine stammen, hatten sich dort 1911 angesiedelt. Im Rahmen seiner achtjährigen Schulbildung lernt er Hochdeutsch. 1942 wird der Respondent zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Seine Strafe büßt er in einem Arbeitslager ab, das sich wie sein Geburtsort in Sibirien befindet. Nach der Trudarmee kehrt er zunächst nach Konstantinowka zurück. Dort lernt er seine

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jetzige Frau kennen, mit der er nach Schumanowka zieht. Die Frau von ScJo ist ebenfalls katholisch und in einem vergleichbaren Alter. Auch heute noch leben die beiden Pensionäre in diesem Dorf, wo sie eine Eigentumswohnung besitzen. 1938 ist die Respondentin ReBe in Kamischi zur Welt gekommen. Mit fünf Jahren siedelt ihre Familie nach Konstantinowka über.7 Ihrem Mann zu Liebe konvertiert die ehemals lutherische Informantin zum Katholizismus. Ende der 1980er Jahre ziehen sie und ihr Mann nach Schumanowka und bauen sich dort ein Haus, in dem sie noch immer leben. KlPe wird 1938 in der ukrainischen Stadt Elisawetograd geboren. Von dort aus siedelt er mit seiner Familie in den Deutschen Nationalen Rayon.8 Nach Kriegsende ziehen der Respondent und seine Mutter in die Moskauer Oblast, wo sein Vater Strafarbeit leistet. Anfang der 1950er Jahre kehrt er wieder nach Konstantinowka zurück, wo er bis 1982 lebt und bis zur Pensionierung als Chauffeur arbeitet. Dort lernt er auch seine Frau kennen, die 1936 in Konstantinowka geborene Informantin KlKl. Gemeinsam siedeln sie nach Schumanowka um, wo sie sich ein Haus bauen, in dem sie noch heute leben. Während die Eltern von KlKl wie auch die Respondentin selbst in der Altai-Region zur Welt gekommen sind, stammen ihre Großeltern aus der Ukraine. Sowohl KlKl als auch ihr Ehemann sind nur vier Jahre zur Schule gegangen und haben danach beide in der Kolchose gearbeitet.

F ORSCHUNGSFRAGEN In meinem Forschungsprojekt wollte ich anhand der Analyse qualitativer, leitfadengestützter Interviews explorativ herausfinden, warum sich in Russland verbliebene Russlanddeutsche gegen die Emigration nach Deutschland entscheiden. Dabei sollten drei zentrale Fragen geklärt werden. Erstens wollte ich ermitteln, welchen Einfluss die Sprachkompetenz der Russlanddeutschen selbst und die ihres direkten Umfelds auf die Motive des Dableibens hatte. Wie gut beherrschen sie und ihre Verwandten den russlanddeutschen Dialekt, die deutsche und die

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Die Informantin erklärt nicht, warum sie ihren Wohnort wechseln musste. Auch gibt sie nicht an, ob ihr Geburtsort im Deutschen Nationalen Rayon liegt. Ich gehe jedoch davon aus, da sich dort ein Dorf befindet, das diesen Namen trägt (vgl. Dudareva 2014). Dafür spricht auch, dass dieses Dorf 1906 von Lutheranern gegründet wurde (vgl. Smirnova 2012). Die Eltern der Informantin waren nämlich ebenfalls Lutheraner.

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Ebenso wie ReBe erklärt auch KlPe nicht, warum sie aus der heutigen Ukraine ausgewandert sind.

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russische Sprache? Wie beurteilen sie ihre Deutschkenntnisse in der Interaktion mit Bundesdeutschen? Fürchten sie aufgrund sprachlicher Differenzen Probleme der Integration in Deutschland? Zweitens sollte ausgelotet werden, wie sich Russlanddeutsche in Russland wahrnehmen und ob ihre Selbstwahrnehmung einen Einfluss auf ihre Entscheidung gegen die Emigration hatte. Was bedeutet für sie Heimat und wo verorten sie diese? Verlassen sie das multiethnische Russland deshalb nicht, weil sie dort ihre deutschen und russischen Identitätsanteile relativ ungestört ausleben können? Haben sich Russlanddeutsche bereits so stark assimiliert, dass sie sich als Russen sehen? Drittens wollte ich eruieren, was Russlanddeutsche neben sprachlichen und identifikativen Motiven in Russland hält. Haben sich ihre wirtschaftliche Situation und die politische Situation insgesamt mittlerweile gebessert? Bleiben sie nur in Russland, weil sie ihre bereits stark assimilierten Verwandten nicht verlassen wollen?

ANALYSEMETHODE Zur Vorbereitung der Analyse habe ich auf der Grundlage der ersten halben Stunde des Gruppengesprächs abduktiv Kategorien für die weitere Analyse entwickelt (vgl. Kuckartz et al. 2008: 36ff. und Mayring 2000). Das Gruppengespräch bot dafür eine gute Grundlage, weil sich weder die Respondenten noch der Interviewer darauf eingehend vorbereitet hatten. Die Gesprächsteilnehmer wussten nur, dass sich ein bundesdeutscher Forscher mit ihnen unterhalten möchte. Wenngleich der Interviewer das Gespräch stellenweise steuert, erzählen die Informanten viel von sich aus und ignorieren auch mal die Äußerungen des Interviewers. Um auch Code-Switching9 berücksichtigen zu können und um der Interaktivität des Gruppengesprächs Rechnung zu tragen, habe ich in der ersten halben Stunde alle Äußerungen der Gesprächsteilnehmer vollständig transkribiert. Nach dem Erstellen eines Gesprächsinventars (vgl. Deppermann 2008: 31ff.) und einer inhaltlichen Paraphrase (ebd.: 55f.) stellte sich heraus, dass sich die Äußerungen der Gesprächsteilnehmer in drei Themenkomplexe einordnen lassen: Sprache, Identität und Emigration nach Deutschland. Dabei lässt nur das letztgenannte Thema direkte Schlüsse auf die Motive Russlanddeutscher, in Russland zu verbleiben, zu. Die anderen beiden Themen stellen jedoch ebenfalls

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Code-Switching kann als »Wechsel zwischen verschiedenen Sprachvarietäten bei bilingualen bzw. multilingualen Sprechern je nach Erfordernissen der Kommunikationssituation« (Bußmann 1990: 151) definiert werden.

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wichtige Faktoren dar, welche die Migrationsentscheidung Russlanddeutscher beeinflussen. Für die weitere Analyse habe ich auf der Grundlage dieser drei Themen Subcodes gebildet, die ich im Laufe der weiteren Untersuchung genauer definiert und um Ankerbeispiele (vgl. Mayring 2000: 170) ergänzt habe. Mit diesen Kategorien und Subcodes habe ich sowohl das gesamte Gruppengespräch und die Einzelinterviews aus Solikamsk als auch die Einzelinterviews aus Schumanowka mithilfe des Programms MAXQDA kodiert (vgl. WenzlerCremer 2007: 68ff.) und anschließend qualitativ analysiert. Bei der Kodierung habe ich insbesondere auf sprachlich-kommunikative Darstellungsaktivitäten der Respondenten geachtet: »Verlust- und Leidenserfahrungen im Zuge von Zwangsdeportationen […], explizite und implizite Beschreibungen der eigenen Lebenssituation […], Gebrauch sozialer Kategorisierungsmittel […], Identitätsprozesse und Identitätsproblematiken […], die bestimmte sprachliche Äußerungen […] indizieren.« (Reitemeier 2006: 226)

Anders als bei der ersten halben Stunde des Gruppengesprächs habe ich im weiteren Gruppengespräch und in den Einzelinterviews nur jene Stellen transkribiert, die für die erarbeiteten Kategorien von Belang waren. Jene Textpassagen, denen die gleichen Kategorien zugeordnet worden sind, wurden »in einer Synopse zusammengestellt« (Kelle/Kluge 2010: 76) und miteinander verglichen. Dadurch habe ich sich wiederholende Strukturen und Muster identifiziert, über die ein »[…] Zugang zu den Relevanzen, Weltdeutungen und Sichtweisen der Akteure« (ebd.: 70) gefunden wurde.

F ORSCHUNGSERGEBNISSE In meiner Forschungsstudie sollten explorativ Motive von Russlanddeutschen identifiziert werden, die sie in Russland halten. Es stellte sich heraus, dass die untersuchten Respondenten sowohl direkt als auch indirekt auf sprachliche, identifikative, familiäre und wirtschaftliche Gründe gegen die Emigration eingehen. Dabei loten sie ständig aus, ob das Verbleiben in Russland für sie selbst und ihre Familie gewinnbringender ist als die Ausreise nach Deutschland. In Bezug auf die Sprachkompetenz von Russlanddeutschen lassen sich auf der Grundlage der Aussagen der Respondenten über ihre eigenen Sprachkenntnisse und die anderer vier Gruppen unterscheiden:

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Abbildung 5: Sprachkompetenz von Russlanddeutschen

Quelle: Eigene Abbildung

Die Hälfte der Informanten beherrscht neben einer russlanddeutschen Dialektvarietät die hochdeutsche und die russische Sprache. »Die [unsere Kinder] sind uns vielmals dankbar, dass wir in der Familie immer Deutsch gesprochen haben. Wenn das auch Schwäbisch war, aber das war Deutsch. […] Die sagen das hat ihnen vieles geholfen dort. Also der Johann hat sogar gesagt, auf der Arbeit […] wenn sie also sprechen und das sie was nicht verstehen, sagt er, dann fange ich an auf Schwäbisch, das verstehen sie gleich. […] Unsere Kinder die können alle […] zwei Sprachen, die können Russisch und können Deutsch.« (ScJo, geb. 1925, Schumanowka)

Ein Drittel der Respondenten spricht zwar einen russlanddeutschen Dialekt, kann jedoch kein Hochdeutsch und greift im Alltag primär auf die russische Sprache zurück: »Ich kann es… schlecht Deutsch sprechen. Auf Russisch besser.« (Informant 2, geb. 1929, Solikamsk)

Darüber hinaus geht eine Informantin davon aus, weder Hochdeutsch noch Russisch richtig zu beherrschen. Sie könne nur ihren russlanddeutschen Dialekt sprechen: »Deutsch kann ich nicht, aber lesen kann ich, ja. Lesen tu ich aber. […] Nur ja… nur d… nur Deutsch. Ich kann schwach Russisch, ich spreche alles Deutsch.« (KlKl, geb. 1936, Schumanowka)

Schließlich zeichnen sich vor allem jüngere Russlanddeutsche und Russlanddeutsche aus Zentralasien durch monolinguale Russischkenntnisse aus.

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Das hängt einerseits damit zusammen, dass viele von ihnen mit russischen Ehepartnern liiert sind. In diesen Familien dominiert meist die russische Sprache. Andererseits sehen jüngere Russlanddeutsche in der deutschen Sprache keinen Mehrwert mehr. Bereits in der Schule entscheiden sie sich für das Erlernen einer anderen Sprache: »Die Älteren können Deutsch alle miteinander und die Jungen, sie können nicht Deutsch. In der Schule wird alles Russisch gemacht.« (ScJo, geb. 1925, Schumanowka)

Demselben Respondenten zufolge zählen zu dieser Gruppe auch Russlanddeutsche, die ohne Deutschkenntnisse nach Deutschland ausgewandert sind: »Den Russen haben sie immer gesagt in Deutschland, ihr Dummköpfe, haben sie immer gesagt in Deutschland zu den Russen. Na das waren auch Dummköpfe. Na warum nicht so. Wenn man nicht sprechen kann und dort fährt man nach Deutschland. […] Die Menschen haben sich gequält dort.« (ScJo, geb. 1925, Schumanowka)

Die Sprachkompetenz von Russlanddeutschen kann einen Einfluss auf ihre Migrationsentscheidung haben. Eine Russlanddeutsche geht davon aus, ihre Dialektkenntnisse würden ihr die Integration in die deutsche Gesellschaft nicht erleichtern: »Aber wir sprechen doch nicht so wie Ihr.« (KlKl, geb. 1936, Schumanowka)

Auch wenn es sich hierbei um eine selbst auferlegte Hürde handelt, hält diese Einstellung sie davon ab, Russland zu verlassen. Dabei übersieht sie, dass Bundesdeutsche in bestimmten Gebieten sie gerade aufgrund ihrer Dialektkompetenz verstehen können. Wie das obige Zitat zeigte, konnten die Kinder von ScJo davon profitieren. Dabei argumentieren fast alle Respondenten, dass in Russland lebende Kinder und Enkelkinder die deutsche Sprache häufig nur noch rudimentär beherrschen. Selbst wenn ein gewisses Interesse an der Ausreise besteht, machen sich wenige die Mühe, ihr Deutsch zu verbessern. Damit geht häufig einher, dass ihre Nachkommen sich nicht mehr als Deutsche sehen. Ein Drittel der Respondenten geht davon aus, dass sie sich in kultureller und sprachlicher Hinsicht von Bundesdeutschen unterscheiden. In Deutschland fiele es ihnen daher schwer, als Deutsche akzeptiert zu werden. Da sie dort aufgrund eines russischen Akzents oder aufgrund ihrer sowjetischen Sozialisation zu Russen gestempelt werden würden, ist die Emigration für sie keine Option.

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Im multiethnischen Russland fällt es ihnen leichter, ihre deutschen Traditionen zu wahren und dabei gleichzeitig ihre russischen Identitätsanteile auszuleben. Zwar beklagen sie, die wirtschaftliche Lage und die kulturellen Gepflogenheiten in ihrem Dorf hätten sich mit der Immigration von Russen und von Russlanddeutschen aus Zentralasien zum Schlechten gewandelt. Es stört sich aber niemand daran, wenn Russlanddeutsche in der Erinnerung an alte Zeiten leben. Manche von ihnen kommen sogar ohne Russischkenntnisse aus. Außerdem können sie gerade in sprachlicher und kultureller Abgrenzung zu anderen Russlanddeutschen und zu Russen ihre deutsche Identität bewahren. Gleichzeitig haben sie sich mit der Tatsache abgefunden, dass spätestens ihre Enkelkinder nur noch wenig Wert auf ihre deutsche Herkunft legen und sich eher als Russen sehen. Hinsichtlich der Identität von Russlanddeutschen konnten zwei grundlegende Gruppen10 identifiziert werden, die gleichzeitig eine geschlechtsspezifische Tendenz aufzuweisen scheinen. Die Gruppe der Heimatverbundenen, die ein Drittel der Respondenten umfasst, setzt sich vor allem aus Ehemännern russlanddeutscher Frauen zusammen. Einer ist Russe, den nichts mit Deutschland verbindet und der Russland treu ergeben ist. Das hindert seine Frau daran, nach Deutschland auszuwandern: »Nu bei uns ist es so, sind alle fortgefahren. Nur noch eine Tochter ist mit uns, die Tochter war… wollte fahren und me… ihr Mann ist gerade so wie meiner. Die sind predanniye 11

Rossii alle so. Nu ich weiß nicht, ich kann das nicht… wirklich ich sage, du bist stumpf, 12

du bist so dumm wie ein Strump. […] Oni predanniye svoei [Rodine] ... konnte ich nicht machen.« (Informantin 1, geb. 1938, Solikamsk)

Aber auch russlanddeutsche Ehemänner sehen Russland als ihr Vaterland an: »Ich weiß kein anderes Land nicht wie Russland. Das… das rechne ich ist mein Vaterland.« (ScJo, geb. 1925, Schumanowka)

Während der Zwangsarbeit sehnte sich der Respondent so sehr nach seinem Heimatdorf zurück, dass er nach der Rückkehr einen verstärkten Lokalpatriotismus entwickelte.

10 Aufgrund der geringen Anzahl an Informanten stellen diese Gruppen zunächst Interpretationsansätze dar, die in einer weiteren Studie verifiziert werden müssen. 11 Aus dem Russischen: Russland treu ergeben. 12 Aus dem Russischen: Sie sind ihrer [Heimat] treu ergeben.

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Nicht alle haben den stalinistischen Terror wie ScJo am eigenen Leib erleben müssen. Ein Informant ist seinem Vater zwar gefolgt, als dieser Zwangsarbeit verrichten musste. In seiner kindlichen Wahrnehmung war das aber keine lange Zeit. Vielmehr hat er ebenso wie andere Bürger der Sowjetunion unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs zu leiden: »Und da war es halt immer nichts zu lernen, da war nichts zu anziehen, nichts zu essen und nichts… Da sind… die Hälfte der Leute sind verhungert […]. Dort sind sie beinahe nicht alle verhungert. Es war doch gerade nach dem Krieg und der was geblieben ist, der hat nicht lernen können, hat nichts zu anziehen gehabt und hat schaffen gehen gemusst früh.« (ScJo, geb. 1925, Schumanowka)

Nach dem Tod Stalins hat der Respondent es geschafft, sich soweit in die sowjetische Gesellschaft zu integrieren, dass sie sich und ihrer Familie ein besseres Leben ermöglichen konnten.13 Da sie ihr ganzes Leben in Russland verbracht haben, sehen sie keinen Sinn darin, eine gesicherte Zukunft in Russland gegen eine ungewisse in Deutschland einzutauschen. In ihrer angestammten Heimat kennen sie sich aus, müssen keine neuen sozialen Kontakte knüpfen und können an vertrauten Werten und Verhaltensweisen festhalten. Ganz im Gegenteil: im multiethnischen Russland stört sich niemand daran, dass sie sowohl deutsche als auch russische Identitätsanteile in sich vereinen. Zum Ende der 1980er Jahre hin hat das Leben in der Sowjetunion ein weiteres Drittel der Informanten noch insoweit zufriedengestellt, dass sie sich für den Verbleib in Russland entschieden haben. Mit der Zeit haben jedoch immer mehr Freunde und Verwandte der beiden russlanddeutschen Frauen Russland den Rücken gekehrt. Da sie heute zwischen sich, den eingewanderten Russlanddeutschen aus Zentralasien und »anderen« Russen nur wenige Gemeinsamkeiten finden können und eher unter ihresgleichen bleiben würden, fühlen sie sich in ihrer ehemaligen Heimat als Fremde. Daher bereut die Gruppe der von Russland Enttäuschten, nicht früher ausgereist zu sein. Von der Emigration nach Deutschland würden sie sich erhoffen, dass sie unter Gleichgesinnten aufgenommen werden und dass sich ihre finanzielle Situation verbessern würde. Anders als ihre Ehemänner könnten sie sich durchaus vorstellen, sich in Deutschland neue soziale Kontakte zu suchen und ein neues Leben zu beginnen. Aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters haben sie jedoch Zweifel, dass es ihnen wirklich gelingen

13 Zur kollektiven Wahrnehmung der Diskriminierung von Russlanddeutschen nach dem 2. Weltkrieg im Kontrast zur Konformität als Sowjetbürger vgl. die Beiträge von Radenbach/Rosenthal sowie von Salnikova in diesem Band.

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würde. Deswegen und weil ihre Männer nicht auswandern und sie sich der Ausreise nicht alleine stellen wollen, bleiben sie in Russland: »Das lohnt sich schon nicht mehr. Ich werde schon 73 jetzt. […] Es lohnt sich schon nicht mehr. Hätten wir eher fahren sollen, aber jetzt. […] Ja, früher fahren sollen, ja. Aber jetzt das man alt ist, was soll man jetzt noch.« (KlKl, geb. 1936, Schumanowka)

Wenn zur Debatte steht, ob man auswandern soll, kommt es vor allem in Mischehen dazu, dass der russische Partner aufgrund fehlender Deutschkenntnisse und Heimatverbundenheit Russland nicht verlassen möchte. Der russische Mann von Informantin 1 ist ihr zu Liebe nach Deutschland ausgewandert. Dort hat er sich jedoch nach Russland zurückgesehnt, weshalb sie zurückgekehrt sind. Die Respondentin14 fühlt sich in Russland fehl am Platz, will aber weder ihren Mann zurücklassen, noch ihren Sohn zur Rückkehr aus Deutschland bewegen: »Aber wir wohnen schon fünfzig Jahre, ich konnte das nicht machen, dass ich sollte alleine wohnen. [...] Das kann ich nicht machen. [...] Naja das ist nicht kein schlechter 15

Mensch, nein. Kinder, Eltern, Enkel haben wir so alles. Menya tryasyot . Ich kann das nicht machen. [...] Und ich kann allein nicht wohnen. Der… mein Sohn hat gesagt, der kann fahren. Er wohnt, wohnt und kommt auch zurück. Sag ich nein und kommt nicht zu16

rück. Warum soll ich den travmirovan ? Ich bin doch Mensch, ich bin doch kein… wie, 17

zver'

wie heißt […] kein Tier. Ich kann doch das nicht machen.« (Informantin 1, geb.

1938, Solikamsk)

Neben den Heimatverbundenen und den von Russland Enttäuschten gibt es auch Russlanddeutsche, die zweifeln, ob eine Ausreise nach Deutschland ihre Situation verbessern würde. Ein männlicher Informant befürchtet, dass er mit der Ausreise nach Deutschland seine traditionelle Rolle als Ernährer der Familie verlieren würde.18 Seine Frau würde dort womöglich eine höhere Rente als er erhalten. Russische Ehepartner haben in Deutschland keinen Anspruch auf eine

14 Die Respondentin kann dem Ehefrauentyp der »Zerrissenen« zugeordnet werden, den Fenicia in diesem Band anführt. 15 Aus dem Russischen: Mich schüttelt es. 16 Aus dem Russischen: traumatisieren. 17 Aus dem Russischen: Tier. 18 In ihrem ebenfalls in diesem Band erschienenen Beitrag widerlegt Fenicia diese Befürchtung. Sie konstatiert, dass in vielen russlanddeutschen Familien auch nach der Auswanderung nach Deutschland eine eher traditionelle Rollenverteilung vorherrscht.

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gesetzliche Altersabsicherung, einige wollen aber auch nicht von Sozialhilfe leben. Jüngere Russlanddeutsche und Russen müssten in Deutschland möglicherweise eine gering qualifizierte Arbeit aufnehmen oder wären auf Arbeitslosengeld angewiesen.19 In Russland haben sie bessere Karriereaussichten und müssen sich nicht dazu herablassen, staatliche Hilfen anzunehmen. Darüber hinaus würden sie in Deutschland stark an der Sehnsucht nach ihrer Heimat leiden. Ihren Lebensabend verbringen sie deshalb lieber in Russland. Deshalb wendet sich ein Respondent an den Interviewer, damit dieser seine Zweifel zerstreut: »Nach Deu… nach Deutschland will ich fahren. Will sie poka auch noch nicht, sagt sie ich will noch nicht. Ist es denn in Deutschland drüben besser wie da hüben?« (KlPe, geb. 1939, Schumanowka)

Mit den Kompromissen, die gefunden werden, wenn Ehepartner unterschiedliche Einstellungen zur Emigration haben, sind nicht zwangsläufig alle Beteiligten zufrieden. Dann spielen der Aufenthaltsort, die Sprachkenntnisse und die Ausreisewilligkeit von Kindern und Enkelkindern eine entscheidende Rolle. Hinsichtlich des Aufenthaltsorts jüngerer Verwandter lassen sich drei Situationen voneinander abgrenzen. Die Emigration macht für ein Drittel der Respondenten keinen Sinn, weil ihre Kinder und Enkelkinder alle in Russland leben: »Weißt du, ich hab da Enkel und […] Urenkel. Ja, vot. Was brauch ich dort in … was will ich dort in Deutschland.« (Informant 2, geb. 1929, Solikamsk)

Leben Kinder und Enkelkinder jedoch über Deutschland und Russland verteilt, stehen Russlanddeutsche häufig in einem Loyalitätskonflikt und ziehen eine mögliche Ausreise eher in Betracht. In dieser Situation befindet sich die Hälfte der Respondenten. Eine Informantin beschreibt ihre Lage wie folgt: »Bleibt sich einerlei, wo man sitzt. Zwei Kinder sind noch hier, bleibt sich einerlei.« (KlKl, geb. 1936, Schumanowka)

Doch selbst wenn alle Kinder in Deutschland leben und man eigentlich davon ausgehen könnte, dass die Eltern ebenfalls ausreisen möchten, entscheiden sich einige für den Verbleib in Russland. Es liegt nahe, dass in diesem Fall

19 Zur wirtschaftlichen Lage von Russlanddeutschen in Deutschland siehe auch Burgard in diesem Band.

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wenigstens ein Ehepartner Russland als sein Vaterland ansieht und seine Heimatliebe ihm wichtiger als die räumliche Nähe zu seinen Kindern ist: »Unsere Kinder sagen, das Vaterland wäre Deutschland, ihr Vaterland. Ich sage, wo ist das Vaterland. In Deutschland ihr seid… seid ihr geboren?« (ScJo, geb. 1925, Schumanowka)

Neben sprachlichen, identifikativen und familiären Motiven haben mindestens die Hälfte der Respondenten wirtschaftliche Gründe, Russland nicht zu verlassen. Hier besitzen sie eine Wohnung oder ein Haus und müssen keine Miete zahlen. In Deutschland würde das ihrer Meinung nach anders aussehen.20 Auch in Bezug auf die Arbeitslosigkeit gehen sie davon aus, dass die Situation in Deutschland nicht besser ist als in Russland. Selbst wenn staatliche Hilfen in Russland geringer ausfallen, können sie doch in ihren Gärten Obst und Gemüse anbauen und sich Nutztiere halten. Das erlaubt ihnen, sich weitgehend autark zu ernähren: »Da sind auch wenige Arbeitsplätze, auch so wie das in Deutschland drüben jetzt ist. Drüben ist doch jetzt auch das wenige Arbeitsplätze sind und alles. […] Und wenn man immer alles kaufen muss, braucht man viel Geld. Wir… wir haben alles, wir haben die Gemüse und das V… und die Kartoffel und alles. Wir haben alles. Und die was die dort sind […] die müssen sich alles […], alles müssen die sich kaufen. Wir brauchen das alles nicht. Hier ist es doch besser zu leben. Aufm Land.« (KlPe, geb. 1939, Schumanowka)

Während fehlende Deutschkenntnisse für einige Respondenten ein Argument gegen die Ausreise darstellen, gehen andere davon aus, dass man Deutsch auch später noch lernen und deshalb ohne Bedenken emigrieren kann. Nicht alle sind sich der Tatsache bewusst, dass der katholische Dialekt aufgrund seiner linguistischen Nähe zum Hochdeutschen die Integration in Deutschland erleichtern kann. Wenn ihre Kinder und Enkelkinder in Deutschland leben oder wenn sie mit wirtschaftlichen beziehungsweise medizinischen Problemen in Russland zu kämpfen haben, dann erscheint einigen Informanten die Emigration lukrativ. Ausreisen möchten auch jene Respondenten, die in Deutschland ihre ›historische Heimat‹ sehen und der Sowjetunion den stalinistischen Terror und die Diskriminierung Russlanddeutscher nicht verzeihen können. Vor allem weibliche Informanten würden Russland gerne den Rücken kehren. Da viele ihrer alten Freunde

20 Von der »heimatbezogenen Sehnsucht« von Russlanddeutschen in Deutschland berichtet auch Fenicia in diesem Band.

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und Verwandten bereits nach Deutschland übergesiedelt sind, fühlen sie sich jetzt inmitten von Russen einsam und fremd. In ihrem fortgeschrittenen Alter haben sie offensichtlich Schwierigkeiten, neue Freunde zu finden. Heute bereuen sie es, nicht schon früher nach Deutschland ausgereist zu sein.

W ARUM

BLEIBEN ?

W ARUM

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Meine Untersuchung hat gezeigt, dass sich die Situation von Russlanddeutschen oder zumindest die Wahrnehmung dieser seit den 1990er Jahren grundlegend verändert hat. Viele der Gründe, die (Spät-)Aussiedler damals zur Ausreise motiviert hatten, werden heute als Motive gegen die Emigration angeführt. Hatte man früher beanstandet, in Russland aufgrund spezifisch deutscher Verhaltensweisen und Wertevorstellungen fehl am Platz zu sein, erkennen heute viele, dass sie in Deutschland kein besseres Schicksal erwarten würde. Während man »dort« von ihnen erwarten würde, dass sie ihre »altmodischen« deutschen und ihre russischen Identitätsanteile einer bundesdeutschen Leitkultur unterordnen, stört sich »hier« niemand an ihrer hybriden Identität (vgl. Kourilo 2006: 388f. sowie Kurilo, Kiel und Schmitz in diesem Band). Gleichzeitig sind Russlanddeutsche in Russland im Sinne von Brubaker assimiliert, da sie sich über Jahrzehnte hinweg immer stärker an die russische Mehrheitsgesellschaft angepasst haben. Mit diesen Entwicklungen haben sich ältere Russlanddeutsche mittlerweile bereits abgefunden. Auch das idealisierte Bild Deutschlands ist durch Berichte von Verwandten und Remigranten längst entzaubert worden. Russlanddeutsche wissen um Integrationsprobleme von (Spät-)Aussiedlern und gehen davon aus, dass die Arbeitsmarktlage dort auch nicht besser als bei ihnen ist. Wenn eine Russlanddeutsche ausgebildete Melkerin ist, weiß sie heute bereits im Vorfeld, dass es dieses Berufsbild in Deutschland aufgrund des technischen Fortschritts so nicht mehr gibt. Daher müsste sie sich umschulen lassen und mindestens für eine gewisse Zeit von Sozialhilfe leben. Da damit ihr Status sinken würde und sie auf einmal einer Randgruppe zugeordnet werden würde, bleibt sie lieber gleich in Russland. Bis sie den Lebensstandard, den sie jetzt in Russland hat, auch in Deutschland erreicht, vergehen nämlich Jahre. Und auch bezüglich der Schulbildung haben russlanddeutsche Jugendliche längst dieselben Bildungschancen wie russische. Für den Moment haben sich die Protagonisten dieser Untersuchung gegen die Ausreise entschieden. Aufgrund zahlreicher Erfahrungsberichte übt Deutschland auf Russlanddeutsche längst nicht mehr die gleiche Anziehungskraft aus wie noch vor 25 Jahren. Trotz der multikulturellen Zusammensetzung der deut-

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schen Gesellschaft sieht sich Deutschland noch immer nicht als Einwanderungsland. Auch mit der Abschaffung des Optionszwangs »[f]ür in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern« (Koalitionsvertrag 2013: 105), die der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vorsieht, wird sich daran vorerst nichts ändern. Die deutsche Staatsbürgerschaft ist weiterhin ein Privileg, das sich Migranten erster Generation mit der Ablegung der Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslandes erkaufen müssen. Da sie damit eines Teils ihrer Identität und der Möglichkeit einer eventuellen Rückkehr beraubt werden würden, lassen sich viele darauf gar nicht erst ein. Auch wenn anerkannte (Spät-)Aussiedler häufig zwei Staatsangehörigkeiten besitzen, sieht das für ihre Angehörigen anders aus. Dass sich die Große Koalition entgegen dem Wahlversprechen der SPD nicht zu einer vollwertigen doppelten Staatsbürgerschaft durchgerungen hat, zeigt, dass kulturelle Hybridität in Deutschland derzeit nicht mehrheitsfähig ist. Solange sich Russlanddeutsche in Deutschland entscheiden müssen, entweder ihre russischen Identitätsanteile aufzugeben und sich als Bundesdeutsche zu sehen oder sich der russischen Diaspora zugehörig zu zeigen, wird Deutschland für sie weiterhin an Attraktivität verlieren. Je mehr (Spät-)Aussiedler sich daraufhin zur Rückkehr in die GUS-Staaten durchringen, desto eher werden sich Russlanddeutsche in ihrer Entscheidung bestärkt fühlen, dass die Emigration nach Deutschland nicht in ihrem Sinn ist.

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Rückwanderung von (Spät-)Aussiedlern nach Russland Annäherung an ein schwer fassbares Phänomen V ERA M ATTOCK

E INLEITUNG Für Russlanddeutsche1 gab es im Jahr 2013 eine Reihe von Anlässen, sich mit der eigenen Identität und Geschichte auseinanderzusetzen. Grund dafür ist ein wichtiges Jubiläum: Vor 250 Jahren2 lud Katharina die Große mittels eines Manifestes Ausländer von überall her ein, nach Russland zu kommen, um die neu eroberten und weitläufigen Gebiete des Zarenreiches, die oftmals spärlich bevölkert oder gar unbewohnt waren, zu besiedeln. Vor allem aus den deutschen Fürstentümern folgten zahlreiche Menschen dieser Einladung, warb sie doch mit der Gewährung von Privilegien wie Religionsfreiheit, Befreiung vom Militärdienst und Verfügungsrechten über das bereitgestellte Land. Vor dem Hintergrund des Siebenjährigen Krieges (1756-63) wirkten diese Anreize auf die vom Krieg ausgemergelte Bevölkerung verlockend; zahlreiche Familien versuchten einen Neuanfang in dem ihnen bis dahin völlig fremden Land. Dabei schenkten die deutschen Siedler der russischen Zarin besonderes Vertrauen – war sie doch selbst deutscher Herkunft. Mittlerweile ist ein Großteil der russlanddeutschen Bevölke-

1

»Der Begriff ›Russlanddeutsche‹ hat keinen rechtlichen Status und wird generell für die Nachfahren deutscher Kolonisten verwendet, die in den Nachfolgestaaten der UdSSR leben. Er rekurriert auf den russischen Begriff ›rossijskie nemcy‹, den die Russlanddeutschen selbst verwenden« (Schönhuth 2008: 79).

2

Link zum »Manifest der Kaiserin Katherina II vom 22.7.1763; http://docserv.uniduesseldorf.de/servlets/DocumentServlet?id=1192; vom 6.5.2013.

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rung, also der Nachkommen der Siedler aus dem achtzehnten Jahrhundert, in die heutige Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt. In Erinnerung an den Jahrestag des Edikts Katharinas der Großen fand in Berlin am 22. und 23. Juli des Jahres 2013 eine Tagung der Deutschen Gesellschaft e.V. unter dem Titel »Heimat Russland – Heimat Deutschland. Russlanddeutsche als Brückenbauer zwischen Ost und West« statt. Im Mittelpunkt stand die Frage, inwiefern Russlanddeutsche in Russland und Deutschland dazu beitragen können, die deutsch-russischen Beziehungen, in erster Linie auf zivilgesellschaftlicher Ebene, zu verbessern. Obwohl seit etwa einem Jahrzehnt auch verstärkt Rückwanderungstendenzen von Spätaussiedlern3 nach Russland zu beobachten sind, war das Thema »Remigration von Russlanddeutschen« auf dieser zentralen Tagung interessanterweise nur marginal präsent, nämlich in Form von Publikumsfragen an die Teilnehmer einer Podiumsdiskussion. Eine Remigration von Spätaussiedlern ist dennoch seit etwa einem Jahrzehnt verstärkt zu beobachten. Während sich die bundesdeutsche Politik offensichtlich schwertut, sich dieser Problematik lösungsorientiert anzunehmen, gibt es mittlerweile erste wissenschaftliche Arbeiten zur Remigration von Russlanddeutschen (Schönhuth 2008, und in diesem Band; Suppes 2008). Ebenso belegen zahlreiche Presseberichte, dass einige der Spätaussiedler sich in der Heimat ihrer Vorfahren nicht wohlfühlen und den Wunsch hegen, wieder in ihre Herkunftsgebiete zurückzukehren. Ob es sich bei dieser Rückwanderung um einen beachtenswerten Trend, im Sinne einer relevanten Bevölkerungsabwanderung, handelt, und wie die Organisationen der Betroffenen und die zuständigen Vertreter aus der Politik darauf reagieren, soll in diesem Beitrag dargestellt werden. Empirische Grundlage für diese Betrachtung bilden im Wesentlichen Interviews und Hintergrundgespräche mit Vertretern von Mittlerorganisationen. Die daraus gewonnenen Befunde werden einerseits dem politisch-medialen Diskurs, andererseits einigen wenigen exemplarischen Fallstudien gegenübergestellt. Dass die

3

Spätaussiedler sind Angehörige deutscher Minderheiten aus Ost-, Ostmittel-, Südosteuropa und Asien, die auf der Grundlage des Bundesvertriebenengesetzes aus diesen Regionen nach Deutschland zuwandern. Bis zum 31.12.1993 wurden sie als Aussiedler bezeichnet. Die Begriffe Aussiedler, Spätaussiedler und Russlanddeutsche werden von mir im Folgenden synonym verwendet, im Sinne von aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion zugewanderte Menschen deutscher Abstammung. Dies geschieht, um eine ständige Wiederholung ein und desselben Wortes zu vermeiden. Zudem bezeichnen die Begriffe Spätaussiedler sowie Russlanddeutscher etc. stets ebenso die weiblichen Angehörigen der jeweils genannten Gruppe.

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Remigration o.g. Gruppen von Interesse für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere deren ordnungspolitischen Instrumenten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), ist, zeigt dessen aktuelle Publikation »Rückkehr und Reintegration – Typen und Strategien an den Beispielen Türkei, Georgien und Russische Föderation« (Baraulina/Kreienbrink 2013). Dort heißt es: »Bei der Auswahl der Regionen für die Befragung der Rückkehrer war ausschlaggebend, dass diese eine migrationspolitische Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland besitzen.4 « (Baraulina/Kreienbrink 2013: 21)

D IE GEGENWÄRTIGE SOZIALE S ITUATION DER R USSLANDDEUTSCHEN IN DER B UNDESREPUBLIK D EUTSCHLAND Im Gegensatz zu anderen Migrationsgruppen steht die ethnische Zugehörigkeit der Spätaussiedler zwar am Anfang des Eingliederungsprozesses, jedoch kann im Laufe des Aufenthaltes in Deutschland bei der Folgegeneration mitunter eine größere soziale Distanz zur Aufnahmegesellschaft festgestellt werden als bei ihren Eltern. Tatsächlich konnten, so Schönhuth (in diesem Band) »[…] aufgrund des massiven Anstiegs der Aussiedlerzahlen bei gleichzeitig angespannter Arbeitsmarktlage in Deutschland in den 1990er Jahren […] zunehmend Eigengruppenfavorisierung, binnenorientierte Netzwerkstrategien, Kolonienbildung und soziale Distanzierungsprozesse bei der Gruppe der Spätaussiedler[…]«,

beobachtet werden. Auch werden »Spätaussiedler verstärkt als ethnisch fremd wahrgenommen (»Russen«)« (vgl. Schönhuth 2008: 61f.). Wenn nach Beweg-

4

In der Studie wird nicht nur die Abwanderung von Spätaussiedlern untersucht, deren Zuzug nach Deutschland bereits seit einigen Jahren stark vermindert stattfindet, sondern ebenso die Abwanderung anderer vormals nach Deutschland zugewanderter Personengruppen ohne expliziten Spätaussiedlerkontext, wie etwa Heiratsmigranten und Studenten russischer Herkunft. Auch in diesem Bericht wird betont, dass weder deutsche noch russische Behörden feststellen können, inwiefern es sich bei den in den letzten zehn Jahren stabil um die zwei- bis dreitausend Deutschen, die jährlich in die Russische Föderation auswandern, um Spätaussiedler handelt. Unter den Befragten der Studie scheint es ein großes Potenzial für zirkuläre Migration zu geben, die auf der Grundlage von transnationalen Lebensentwürfen in Erscheinung tritt (siehe dazu Kaiser/Solovieva 2013).

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gründen für ihre Ausreise nach Deutschland gefragt wurde, gaben Spätaussiedler häufig ethnische Gründe an, wie z.B. den Wunsch als »Deutsche unter Deutschen« leben zu wollen, was in der deutschen Öffentlichkeit wiederum teilweise als konservativ und nationalistisch interpretiert wurde (Eisfeld 2013: 53). Das Dilemma des Fremdseins, welches vielen Russlanddeutschen sowohl in der ehemaligen UdSSR und deren Nachfolgestaaten als auch nach ihrer Ankunft in Deutschland anhängt, wird hier deutlich. »Die Russlanddeutschen selbst beurteilen den eigenen Integrationserfolg ganz unterschiedlich. Die Bandbreite reicht dabei von fast vollständiger »Angleichung« bis zur nachhaltigen Befremdung (»den Deutschen gleichgestellte Ausländer«).« (Schönhuth 2008: 62)

Nachdem seit 1988 insgesamt etwa zweieinhalb Millionen Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der UdSSR in Deutschland aufgenommen worden sind,5 wird 2006 in einer Fallstudie zu den subjektiven Befindlichkeiten von Spätaussiedlern in Marzahn-Hellersdorf (Haupt/Wockenfuß 2007) festgestellt, dass die Aussiedler einerseits zwar mit der Wohnungsraum- und Konsumsituation in Deutschland weitestgehend zufrieden sind. Was ihre soziale und kulturelle Integration betrifft, werden jedoch erhebliche Defizite und Unzufriedenheiten seitens der Aussiedler beklagt. Große Probleme stellen vor allem die hohe Arbeitslosigkeit, besonders unter Spätaussiedlern mit hoher Bildung (Schenk/Spiewak 2008), fehlende Sprachkenntnisse sowie ein bleibendes Fremdheitsgefühl, oftmals erklärt durch bedeutende Mentalitätsdifferenzen, dar. Insgesamt hat zwar die Mehrheit der Spätaussiedler das Gefühl, in Deutschland angekommen zu sein und hier bleiben zu wollen, aber immerhin 20% der Befragten wollen eine Rückkehrentscheidung in die Herkunftsländer von der weiteren Entwicklung in Deutschland abhängig machen. Die Integrationsbereitschaft der einheimischen Bevölkerung gegenüber den Spätaussiedlern begann sich in den 1990er Jahren zu verschlechtern (Suppes 2008: 44). Sowohl die negative mediale Berichterstattung (Drogen und Gewaltkriminalität6) über die Gruppe der Spätaussiedler in der Hochzeit der Zuwande-

5

»Zahlen und Fakten – Die soziale Situation in Deutschland. (Spät-)Aussiedler«, Bundeszentrale für politische Bildung, 28.11.2012 http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61643/aussiedler, vom 6.6.2013.

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Während einige Studien unter Spätaussiedlern keine höhere Kriminalitätsrate feststellten als unter der einheimischen deutschen Bevölkerung (Eisfeld 2013: 55), legen andere Studien (Artes/Diemand/Mangold/Schäfers 2005) und diverse Medienberichte

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rung als auch partiell aufkommender Sozialneid aufgrund der finanziellen Eingliederungshilfen, auf welche Spätaussiedler ein Anrecht haben, können zusätzlich zur häufig vorhandenen Sprachbarriere als Gründe für Ablehnung oder Ignoranz seitens der einheimischen Deutschen genannt werden. Vor allem die mangelnde Sprachkompetenz ist immer wieder ein Grund für fehlende Integration, sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch gesellschaftlich. Vonseiten der deutschen Regierung wurden die Integrationsleistungen für Spätaussiedler jedoch stetig gekürzt. So wurde bereits ab 1992 die Dauer der angebotenen Sprachkurse von ursprünglich zwölf auf sechs Monate im Jahr 1994 zurückgefahren; ältere Aussiedler bekamen nur dann noch einen Sprachkurs bewilligt, wenn ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt als gut eingeschätzt wurden. Auch die bei der Einreise empfangenen Entschädigungszahlungen und Eingliederungshilfen nach dem Bundesvertriebenengesetz wurden stetig gekürzt und durch niedrigere Pauschalsätze ersetzt. Die Rentenbestimmungen für (Spät-) Aussiedler verschlechterten sich mit der Änderung des Fremdrentengesetzes am 1.1.1992 und durch eine Reduzierung der Anerkennung der Erwerbstätigkeit im Herkunftsland, sodass ein (Spät-)Aussiedler Ehepaar gemeinsam höchstens 96 Prozent einer Durchschnittsrente erhält. »Bereits 2005 hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) festgestellt: Die Einkommen der Aussiedler sind zwar gleichmäßiger verteilt als die der Zuwanderer aus nichtwestlichen Ländern; jedoch machen die Ergebnisse deutlich, dass viele von ihnen trotz des Besitzes der Staatsbürgerschaft in prekären ökonomischen Verhältnissen leben.« (Eisfeld 2013: 55)

Alfred Eisfeld, selbst Russlanddeutscher, schließt seinen Artikel »(Spät-) Aussiedler in Deutschland«, in dem er die Integrationsgeschichte der Russlanddeutschen in Deutschland nachzeichnet, mit folgendem Fazit: »Dieses insgesamt positive Bild [Bestrebungen an gesellschaftlicher und politischer Teilhabe, Erfolg der jungen Generation im deutschen Bildungssystem, sportliche Erfolge etc.] wird aber dadurch getrübt, dass es auch die »übersehene« Generation […] der in Altersarmut geratenen Rentner und die »verlorene Generation« der über 40-jährigen Aussiedler gibt, die eine bessere Zukunft ihrer Kinder mit einem sozialen Abstieg und einer Unterversorgung im Alter bezahlen. Die Verbitterung dieser beiden Generationen hat die Aufnahmegesellschaft bislang nicht wahrgenommen.« (Eisfeld 2013: 57)

(Zimprich 2004) nach wie vor eine erhöhte Kriminalitätsrate unter Russlanddeutschen nahe.

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In der Tat gibt es nicht nur eine weitreichende Verbitterung unter den Spätaussiedlern, es gibt auch ganz konkret und immer häufiger den Wunsch, in die russischsprachigen Herkunftsgebiete zurückzukehren. Dabei spielen neben finanziellen, bzw. beruflichen Gründen auch soziale und gesundheitliche (physische wie psychische) Aspekte eine wichtige Rolle. Des Weiteren muss die veränderte politische Situation in den Herkunftsländern berücksichtigt werden, ebenso deren wirtschaftliches Erstarken. Russlanddeutsche gelten in Russland seit jeher als fachkundige und verlässliche Arbeitskräfte. Auch ihr ausgeprägter Familiensinn und oftmals damit einhergehender Kinderreichtum werden nicht nur in der »überalterten« Bundesrepublik Deutschland geschätzt. Sowohl in Russland auch als in Kasachstan laufen mittlerweile staatliche Programme zur Rückgewinnung von im Ausland lebenden Landsleuten. Die Rückkehrentscheidung von Spätaussiedlern wird ebenso durch die doppelte Staatsbürgerschaft, die viele von ihnen de facto besitzen, begünstigt. Auf politischer Ebene werden die oben genannten Probleme und die teilweise daraus resultierenden Bestrebungen einiger Spätaussiedler, an ihren Herkunftsort zurückzukehren, Deutschland also wieder verlassen zu wollen, jedoch nur spärlich bis gar nicht diskutiert (Schönhuth 2008: 66). Zudem gibt es keine belastbaren Zahlen, die belegen könnten, wie viele Spätaussiedler jährlich zurück in ihre Herkunftsländer auswandern, da sie in Statistiken nicht gesondert gezählt werden, weil sie im Allgemeinen die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Es existieren jedoch – ganz im Sinne des ökonomischen Rationalismus – klassische »Push und Pull«-Faktoren (vgl. Lee 1966), die die »Wegdrängungsmomente« aus Deutschland bzw. die »Anziehungsmomente« aus den wirtschaftlich wiedererstarkten Regionen im Osten (vor allem Russland und Kasachstan) betreffen und die sich relativ genau bestimmen lassen. Die dargestellten politischen und sozialen Rahmenbedingungen, die defizitäre partielle Integration in Deutschland sowie die veränderte ökonomische und politische Situation in den GUS-Staaten Russland und Kasachstan stellen den Hintergrund individueller Rückkehrentscheidungen dar.

P USH -F AKTOREN

FÜR EINE

R ÜCKKEHR

Die einzige offizielle deutsche Beratungsstelle für rückkehrwillige Spätaussiedler war die Beratungsstelle »Heimatgarten« der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Karlsruhe. Das Phänomen der Remigration von Spätaussiedlern in ihre Her-

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kunftsgebiete ist durch die Arbeit des AWO Heimatgarten evident belegbar.7 Die zuerst in Bielefeld informell gestartete Beratungsstelle für rückkehrwillige Aussiedler wurde durch Medienberichte bekannt und zunehmend mit Anfragen überhäuft; schließlich wurde die Beratung – mittlerweile vom Bundesland Baden-Württemberg gefördert – dann offiziell in Karlsruhe fortgeführt. Im AWO Heimatgarten Karlsruhe befand sich somit bisher die einzige offizielle und staatlich geförderte Beratungsstelle für rückkehrwillige Spätaussiedler; sie wurde jedoch im Sommer 2013 geschlossen. Von 2007 bis 2013 wurden von der AWO Heimatgarten Karlsruhe mehrere Hundert Menschen bei der Rückkehr in ihre Herkunftsregionen unterstützt. Genaue Zahlen konnten dort nicht erfragt werden. In einem Artikel der Deutschen Welle8, der sich ebenfalls mit der Situation der Spätaussiedler in Deutschland befasst, fanden sich dennoch konkrete Zahlen: Insgesamt habe die Stelle bis zu ihrer Schließung rund 460 Aussiedler beraten, knapp 170 haben Deutschland tatsächlich verlassen, so Volker Tegeler von der AWO Bremerhaven. Die Arbeit der Spätaussiedlerberatungsstelle in Karlsruhe wurde zum einen durch die Richtlinie »Landesförderung freiwillige Rückkehr Baden-Württemberg«, zum anderen durch eine notwendige 50-prozentige Komplementärfinanzierung möglich gemacht. Diese wurde von der AWO über ein aus EU-Mitteln gefördertes Projekt mit dem Titel »Brücken guter Nachbarschaft mit Russland und den GUSLändern« erbracht. Nachdem diese Projektförderung ausgelaufen war, fehlten die Mittel der erforderlichen Komplementärfinanzierung: So hieß es von der AWO-Zentrale in Bremerhaven. Das Land Baden-Württemberg war das einzige Bundesland der Bundesrepublik Deutschland, dessen Innenministerium mit der »Richtlinie Landesförderung freiwillige Rückkehr« aus dem Jahre 2008 explizit Spätaussiedler als eine der zu fördernden Schwerpunktgruppen genannt hat und finanziell bei ihrer Rückkehr unterstützte, sofern diese bedürftig waren, also soziale Transfer-

7

Auf die Beratungsstelle für rückkehrwillige Aussiedler der AWO Heimatgarten stützten sich auch Alois Hahn und Michael Schönhuth und ihr Team im Rahmen ihrer Forschung im SFB 600 »Fremdheit und Armut«, Teilprojekt A8 »Netzwerkbeziehungen und Identitätskonstruktionen – Rückkehrstrategien von Spätaussiedlern im Kontext sich wandelnder Migrationsregime« (siehe auch den Beitrag von Schönhuth/ Kaiser in diesem Band).

8

»Aussiedler: Neue Heimat Deutschland?« Deutsche Welle online vom 25.07.2013 http://www.dw.de/aussiedler-neue-heimat-deutschland/a-16960950 vom 21.6.2013.

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leistungen erhielten.9 Das Förderprogramm betrat politisches Neuland und musste daher durchaus politisch gerechtfertigt werden: Da in Baden-Württemberg ein tatsächlicher Beratungsbedarf bestehe, sei für den entsprechenden Personenkreis die Möglichkeit der Hilfe über das Landesförderprogramm »Freiwillige Rückkehr« eröffnet worden. Die Mitarbeiter entsprechender Beratungsstellen seien angehalten, darauf zu achten, die Zielgruppe nicht zu einer Ausreise zu motivieren und nur dann zu beraten, wenn Menschen von sich aus den Wunsch äußerten und verfolgten, tatsächlich in ihr Heimatland zurückzukehren. Individuell angepasste Reintegrationshilfen würden nur an bedürftige Personen ausgezahlt, heißt es von der zuständigen Stelle, dem Referat für Eingliederung, Spätaussiedler und Ausländerrecht des Regierungspräsidiums Karlsruhe. Eine analoge Richtlinie des Bundes zur Förderung der freiwilligen Rückkehr Russlanddeutscher gibt es nicht.

P ULL -F AKTOREN

FÜR EINE

R ÜCKKEHR

Im Jahre 2006 (und somit mehr oder weniger zeitgleich) startete unter Präsident Vladimir Putin ein staatliches Programm zur Förderung der freiwilligen Übersiedlung von im Ausland lebenden Landsleuten in die Russische Föderation (Gosudarstvennaja Programma po okazaniju sodejstvija dobrovol'nomu pereseleniju v Rossijskuju Federaciju sootþestvennikov, prozhivajušþich za rubezhom).10 Ziel dieses Programmes ist es, möglichst viele Menschen ins Land zurückzuholen, um besonders schwach besiedelte Regionen Russlands zu beleben und der demografischen Schieflage dort entgegenzuwirken. Diesmal werden im Vergleich zur Einladung Katharinas der Großen allerdings nur Menschen mit einer ethnisch russischen, bzw. sowjetischen Abstammung und einer geistigen Verbundenheit zu Russland angesprochen (sootþestvenniki, deutsch: Landsleute). Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieben viele ethnische Russen in den nun eigenständigen Nachfolgestaaten der UdSSR, andere migrierten ins Ausland, sodass sich nach Angaben des russischen Außenministeriums etwa 25 Millionen sogenannter Landsleute außerhalb der russischen Grenzen niedergelassen haben. (Kunze/Beutel 2006) Zudem vermindert sich die Bevölkerung

9

Zur Landesförderung freiwillige Rückkehr, Fragen und Antworten zur Zuwendungsrichtlinie Rückkehrförderung (vgl. Regierungspräsidium Karlsruhe 2008).

10 Offizielle Webseite des Migrationsdienstes der Russischen Föderation auf der das Programm vorgestellt wird: http://www.fms.gov.ru/programs/fmsuds/, aufgerufen am 26.6.2013.

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Russlands seit den 1990er Jahren beständig; die Sterberate ist im Vergleich zur Geburtenrate sehr hoch. Das Programm ist also Hoffnungsträger der russischen Regierung in Bezug auf die dortige demografische Krise. (Lindner 2008; Suppes 2008: 77) Landsleute, die mithilfe des Programms nach Russland zurücksiedeln möchten, sollen dabei vom russischen Staat finanziell unterstützt werden. Die Unterstützung reicht, in Abhängigkeit von der entsprechenden Zielregion (nicht alle Regionen der Russischen Föderation nehmen am Programm teil, zudem regelt jede Region die Umsetzung des Programms souverän), von einer Kompensation der Zoll- und Einreisegebühren sowie gebührenfreie Abwicklung der Dokumente über die Gewährung von Arbeitslosenhilfe und Krankenversicherung bis hin zur Wohnungsbeschaffung und Kreditvergabe. Nachdem das Programm in den ersten sechs Jahren nicht besonders erfolgreich war (in diesem Zeitraum kehrten etwa 125.000 Landsleute zurück),11 sollen mit der neuen Version des Programms aus dem Jahr 2013 weitaus mehr Menschen angezogen werden. Das Programm ist nun auf unbestimmte Zeit verlängert worden und erlaubt nun z.B. auch Unternehmern, mitsamt ihrem Wirtschaftsbetrieb ins Land zu kommen. Zu Beginn des Rücksiedlungsprozesses steht eine ausführliche Beratung durch Vertreter der Agentur für Angelegenheiten der im Ausland lebenden Mitbürger »Rossotrudnichestvo« oder direkt im Konsulat. Nach Auskunft eines Mitarbeiters der russischen Botschaft seien seit Beginn des Programms vom Berliner Konsulat insgesamt nur 21 Anträge entgegengenommen worden. In ganz Deutschland habe es im entsprechenden Zeitraum etwa 600 Anträge gegeben. Das Programm sei in Deutschland nicht besonders erfolgreich, richte sich aber in erster Linie auch an die Landsleute in den ehemaligen Sowjetrepubliken, den USA und Israel. Auch der Gesandte der russischen Botschaft, Oleg Krasnitzky, bestätigte dies im Interview. Er sprach von etwa 700 Übersiedlungen aus Deutschland seit dem Start des Programms. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Programm sootþestvenniki der russischen Regierung auf die russlanddeutsche Bevölkerung in Deutschland bisher nicht besonders stimulierend zu wirken scheint. Zudem ist fraglich, wie es sich mit der Umsetzung, insbesondere der Ausbezahlung der versprochenen Unterstützungen, tatsächlich verhält (vgl. Suppes 2008: 82f.).

11 »Russland rechnet mit zunehmendem Zustrom von Landsleuten«, Stimme Russlands vom 14.2.2013 http://german.ruvr.ru/2013_02_14/Jedes-Jahr-werden-in-Russland-im mer-mehr-Landsleute-eintreffen/.

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P ROBLEMATIK

FEHLENDER

S TATISTIKEN

Besonders aufgrund des Fehlens belastbarer statistischer Daten zur Abwanderung russlanddeutscher Bundesbürger bekommen die interessengeleiteten Reaktionen der Vertreter russlanddeutscher Vereine und Politiker mit entsprechender Zuständigkeit auf den vermeintlichen Trend zur Rückkehr eine besondere Bedeutung. Zahlreiche mediale Berichte12 suggerieren einen solchen. Ob es tatsächlich eine demografisch relevante Abwanderung dieser Gruppe gibt, ist bisher nicht klar zu beantworten. Belastbare Zahlen zur Remigration von Russlanddeutschen gibt es im Gegensatz zu den genau geführten Statistiken über die Zuzüge von Spätaussiedlern deshalb nicht, weil zugewanderte Spätaussiedler nach ihrer Ankunft in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt bekommen. Später Ausreisende dieser Gruppe werden nicht speziell erfasst, sondern mit allen anderen deutschen Staatsbürgern zusammengenommen. Die (mehr oder weniger spekulativen) Kommentare und Reaktionen der beteiligten Akteure aus der Politik und von Repräsentanten russlanddeutscher Vereine auf das Phänomen Remigration verraten eine Menge darüber, welche politische Bedeutung die Bevölkerungsgruppe der Russlanddeutschen für die Bundesrepublik Deutschland ebenso wie für die Russische Föderation hat und wie sie sich selbst wahrnimmt.

P OLITIKUM UND M YTHOS DER R ÜCKKEHR – ANALYSE EINES UMKÄMPFTEN P OLITIKFELDES Remigration von Russlanddeutschen aus Sicht der deutschen Politik Auf der eingangs erwähnten Tagung zum zweihundertfünfzigjährigen Jubiläum russlanddeutscher Geschichte im Juli 2013 in Berlin äußerten sich die Teilneh-

12 Eine Auswahl: »Einmal Deutschland und zurück«, Deutschlandradio Kultur vom 02.10.2007 http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/laenderreport/674547/; »Zurück in die Heimat«, Eurasisches Magazin vom 31.5.2001 http://www.eurasischesmaga zin.de/artikel/Zurueck-in-die-Heimat/20070505; Journalreporter Russlanddeutsche: Rückkehr nach Sibirien, Deutsche Welle, vom 25.5.2008 http://www.youtube.com/ watch?v=xYy9YHNfK-g,; »Russkie nemcy vozvrashajutsja iz Germanii v Rossiju«, Komsomol'skaja Pravda, Artikel vom 9.10.2012 http://www.kp.ru/daily/25963/ 2902157/, aufgerufen am 12.09.2013; »Verprellte Talente«, ZEIT ONLINE (2008) vom 8.12.08 http://www.zeit.de/2008/50/C-Talente; vom 12.5.2013.

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mer einer Podiumsdiskussion, unter ihnen auch Christoph Bergner, damaliger Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, auf Nachfrage beschwichtigend zur aktuellen Situation der Remigration von Russlanddeutschen: »Also, diejenigen, die als Aussiedler oder Spätaussiedler zu uns gekommen sind, sind deutsche Staatsbürger [...] geworden und haben als deutsche Staatsbürger alle Freizügigkeiten, die ein deutscher Staatsbürger hat. Das heißt, es findet auch Auswanderung statt. So wie mancher Deutscher nach Neuseeland zieht, zieht auch mancher, der russlanddeutscher Herkunft ist, wieder in die Herkunftsgebiete. Ich habe mich bemüht, das mal zahlenmäßig irgendwie zu erfassen. Gemessen an den 2,3 Millionen [...], die insgesamt seit 1989 in Deutschland aufgenommen worden sind, ist die Zahl derjenigen, die zurückgegangen sind, vergleichsweise wirklich in der zehntausender Größenordnung. Dass schließt aber nicht aus, dass man, wenn man im nationalen Rajon Asowo, oder im nationalen Rajon Halbstadt ist, immer wieder Menschen trifft, die zum Teil auch wirtschaftlich besonders erfolgreich sind, übrigens auch in Kasachstan, die Remigranten sind, die zum Teil Kenntnisse, die sie hier in Deutschland über drei, vier, fünf Jahre erlangt haben zum Anlass, genommen und gesagt haben: Damit möchte ich in der, äh, in meinem Herkunftsgebiet, in meiner Heimat, in der ich geboren bin, damit möchte ich dort geschäftlich tätig werden. Und es gibt ausgesprochen auch erfolgreiche Unternehmer, die wahrscheinlich in Kasachstan oder in Russland Erfolge gehabt hatten, die sie so in Deutschland in dieser kurzen Zeit nicht gehabt hätten. Also zahlenmäßig nicht sehr groß, qualitativ trotzdem erwähnenswert, so würde ich die Remigration beschreiben.13«

Bergner geht in seiner Antwort ausschließlich auf die in den Herkunftsgebieten wirtschaftlich erfolgreichen Remigranten ein. Dabei deutet er an, dass sie dort geschäftlich bessere Bedingungen vorfinden als in Deutschland, geht darauf und konkret auf die Motivationen der Rückkehrer, aber nicht weiter ein. Bergner spricht von »einigen zehntausend Menschen«. Dies entspricht den offiziell veröffentlichten Zahlen: Im Sammelband »Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland« (Bergner/Weber 2009), dessen Mitherausgeber Bergner ist, finden sich überraschenderweise konkrete Zahlen, nämlich 13.666 in die Russische Föderation zurückgewanderte Spätaussiedler in den Jahren zwischen 2000 und

13 Christoph Bergner am 22.7.2013 auf der Tagung »Heimat Russland, Heimat Deutschland – Russlanddeutsche als Brückenbauer zwischen Ost und West« der Deutschen Gesellschaft e.V. in der Friedrichstraße 180.

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2006 (vgl. Schmid 2009: 77).14 Auf Nachfrage hinsichtlich der aktuellen Entwicklung kommt aus dem Referat Bergners folgende Einschätzung: »Die Zahl der in ihre Herkunftsländer zurückgekehrten Spätaussiedler ist im Verhältnis zu den bisher aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommenen 2,5 Mio. Aussiedlern und Spätaussiedlern nach wie vor gering. Genaue Zahlen liegen hier nicht vor. In dem von Ihnen erwähnten Migrationsbericht des BAMF von 2006 heißt es: »[…] Dagegen war die Russische Föderation, aus der zu einem großen Teil Spätaussiedler und ihre Familienangehörigen nach Deutschland zuzogen, nicht unter den häufigsten Zielländern zu finden: Nur wenige der Spätaussiedler und ihrer Angehörigen kehren in ihre Herkunftsgebiete zurück« (S. 21). Bei den vom Statistischen Bundesamt erfassten Fortzügen aus Deutschland werden die Personen lediglich nach der deutschen bzw. nichtdeutschen Staatsbürgerschaft unterschieden. Die vorläufigen Ergebnisse des Berichtes für 2012 zeigen, dass 2.361 Personen mit einer deutschen Staatsbürgerschaft in die Russische Föderation dauerhaft verzogen sind. Ob diese deutschen Staatsbürger eine Aussiedlerbiografie haben, kann zwar angenommen werden, wird aber nicht explizit erfasst. Dass es kein Massenphänomen oder gar Ausdruck einer misslungenen Integration ist, belegt ein Vergleich mit Fortzügen in andere Staaten. So sind 2012 etwa genauso viele deutsche Staatsbürger nach Italien ausgewandert. Ob es sich dabei um italienisch-stämmige deutsche Staatsbürger handelt, lässt sich nicht feststellen. Wohingegen eine fast dreifache Anzahl deutscher Bürger (6.180) 2012 dauerhaft nach Polen verzogen sind.15«

Aus den Antworten Bergners (bzw. dessen Referenten) wird deutlich, dass seitens der Regierung jeglicher Gedanke an eine eventuelle, zumindest teilweise misslungene Integration einiger Spätaussiedler und die daraus resultierende prekäre Situation vieler Russlanddeutscher in der Bundesrepublik Deutschland, von vornherein ausgeräumt werden soll. Obwohl in der Anfrage mit keinem Wort die Integrationsproblematik erwähnt ist, wird sogleich versichert, dass die Abwanderung der Spätaussiedler kein Ausdruck einer misslungenen Integration sei. Besonders für die CDU scheint die Spätaussiedlerproblematik ein empfindliches Thema zu sein. Unter ihrer Führung begann die umfangreiche Zuwanderung der (Spät-)Aussiedler nach Deutschland.

14 Vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, welches in besagtem Artikel zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung an entsprechender Stelle in der Fußnote genannt wird, heißt es, die genannten Zahlen bezögen sich auf die Abwanderung deutscher Staatsbürger in die Russische Föderation; wie viele Spätaussiedler darunter seien, könne nicht festgestellt werden. 15 E-Mail von Edwin Warkentin, Referent im Büro Christoph Bergner, 7.8.2013.

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Auch die Weiterwanderung von Spätaussiedlern, beispielsweise in die kanadische Provinz Manitoba16, die auf der Tagung »Heimat Russland – Heimat Deutschland. Russlanddeutsche als Brückenbauer zwischen Ost und West« in Redebeiträgen aus dem Publikum thematisiert wurde, führte zu beschwichtigenden bis ablehnenden Reaktionen seitens der russlanddeutschen Politiker und Interessenvertreter einer Podiumsdiskussion: »[...] Ich kann das nicht als Massenphänomen bezeichnen. Ich denke, das ist nach wie vor eine individuelle Entscheidung.« (Waldemar Eisenbraun, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.) »[...] Ich muss das mal ein bisschen relativieren: Also, Hunderttausende deutscher Staatsbürger verlassen jedes Jahr das Land und Hunderttausende kommen zurück. Und deshalb jetzt hier die Russlanddeutschen, die nach Kanada gehen, als eine Art Spezialphänomen oder Ähnliches anzusehen und dort psychologische Gründe zu suchen und Ähnliches, [...] das halte ich persönlich für nicht richtig.« (Nikolaus Haufler, CDU Hamburg)

Auf beide Kommentare folgte reger Beifall aus dem Publikum. Remigration von Russlanddeutschen aus der Sicht russlanddeutscher Verbände Im Berliner Raum konnten im Sommer 2013 mit Vertretern zweier russlanddeutscher Vereine Interviews zum Thema Remigration geführt werden. Dabei handelte es sich zum einen um Alexander Reiser von dem im Stadtteil Marzahn gelegenen Verein der Aussiedler in Berlin »Vision e.V.«, der neben Sprachkursen auch verschiedene Freizeitaktivitäten anbietet, zum anderen um Alexander Rupp, den Vorsitzenden der Landsmannschaft der Russlanddeutschen Berlin. Von beiden wurde der vermeintliche Trend zur Remigration verneint. Beide Vereine kümmern sich allgemein um die Belange der Russlanddeutschen, wobei bei Vision e.V. die Integration in die deutsche Gesellschaft im Vordergrund steht, während es der Landsmannschaft der Russlanddeutschen heute vorder-

16 Dazu siehe: Internetauftritt des Migrationsprogramms der Provinz Manitoba in Kanada; http://www.immigratemanitoba.com/; http://www.gov.mb.ca/immigration/pdf /pnp-manitoba-provincial-nominee-program-tom-carter-report-2009.pdf; »Steinbach,

Manitoba«

Radiofeature

des

Deutschlandfunk

vom

sowie 14.8.2013:

http://www.deutschlandfunk.de/steinbach-manitoba.1247.de.html?dram:article_id=25 2337.

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gründig darum geht, das Interesse und die Anerkennung der deutschen Bevölkerung für das Schicksal der Russlanddeutschen zu gewinnen. Ein Hauptziel des Vereins ist seit dessen Gründung die Unterstützung bei der Familienzusammenführung, wozu auch die Unterstützung in Russland lebender Deutscher gehört, die nach Deutschland ausreisen möchten. Aus dieser Beschreibung wird bereits deutlich, dass sich beide Vereine explizit um das Wohlergehen derjenigen in Deutschland lebenden Russlanddeutschen und deren Familienangehörige kümmern, die ihren Lebensmittelpunkt auch in Zukunft in Deutschland sehen. Die Vertreter beider Vereine machten deutlich, dass zwar die Rückkehr einiger Russlanddeutscher in ihre Herkunftsgebiete bekannt sei, in ihrer Arbeit das Thema Remigration jedoch eine äußerst marginale bis gar keine Rolle spiele. So seien dort lediglich Einzelfälle bekannt; hin und wieder gäbe es Anfragen von Russlanddeutschen, die in der Zeitung vom Programm der russischen Regierung gelesen hätten und sich dafür interessierten. Nachdem sich bei dem Gespräch im Büro der Landsmannschaft noch Mitarbeiter der benachbarten Aussiedlerberatungsstelle Reinickendorf dazugesellt hatten, entbrannte eine emotionale Diskussion um das Thema Remigration. Die Mitarbeiter der Beratungsstelle nannten zwar einige Fälle von remigrierten Personen oder Familien, bei denen die Rückkehr meist religiös bzw. sozio-kulturell begründet war. Sie betonten jedoch immer wieder, dass es sich dabei um einen ganz geringen Anteil der russlanddeutschen Bevölkerung handele und dass zudem die meisten dieser Leute nach einiger Zeit in Russland wieder zurück nach Deutschland kämen. Dies läge daran, dass sie mit falschen Hoffnungen nach Russland aufbrächen. Die Lebensqualität sei in Deutschland doch viel höher als in Russland. Eine Mitarbeiterin nennt das Thema Remigration ein »Wunschthema der Deutschen«, das nicht der Realität entspreche. Menschen, die nach Russland oder in die GUS zurückkehren, seien »Leute mit psychischen Problemen oder familiär was ganz Besonderes«. Der Vorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ging weniger emotional an die Erörterung von Motiven für Russlanddeutsche, in ihre Herkunftsgebiete zurückzukehren. Die ihm bekannten Gründe für eine Rückkehr können hier in erster Linie unter dem Aspekt Familienzusammenführung zusammengefasst werden. Dazu gehört die Rückkehr von alten Menschen, deren Partner/innen verstorben sind, ebenso wie die Rückkehr nach Scheidung vom Partner oder der Partnerin. Diese Menschen würden Zuflucht bei ihren Familien in Russland oder Kasachstan suchen, da sie sich in Deutschland kein soziales Netz mehr aufbauen könnten. Des Weiteren kenne er Schicksale von Menschen, die im arbeitsfähigen Alter nach Deutschland kämen, um anschließend feststellen zu müssen, dass ihre Berufsabschlüsse hier nicht anerkannt werden. Zudem seien die sprachlichen Defizite vieler Spätaussiedler ein großes Problem. Rupp

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berichtete ferner, dass es vor einigen Jahren ein reges mediales Interesse an Rückkehrern nach Russland gegeben habe. Mehrere Sender hätten sich bei seinem Verein gemeldet, um so an Protagonisten für geplante Fernseh-Dokumentationen zum Thema zu kommen. Vermitteln können habe er niemanden. Rückkehrwunsch: Der Fall Vladimir B. Ebenfalls im Sommer 2013 ergab sich über eine Anzeige in der russischsprachigen Migrantenzeitung Russkaja Germanija17 der Kontakt zu einem Spätaussiedler mit Rückkehrwunsch: Herr B., zu diesem Zeitpunkt nach eigenen Angaben 59 Jahre alt und Diplom-Ingenieur. Er kam im Jahre 2003 zusammen mit seiner Mutter nach Deutschland, wo sie wie üblich zuerst im zentralen Aufnahmelager Friedland Station machten. Anschließend wurden beide nach dem damals noch gültigen Wohnortzuweisungsgesetz angewiesen, sich im Wohnheim des Hochtaunuskreises »Emmershäuser Mühle« niederzulassen. Mittlerweile lebt Herr B. in Mannheim. Obwohl er zusätzlich zu seinem Studium auch viele Jahre Berufsund sogar Lehrerfahrung vorweisen kann, hat er in Deutschland bislang keine Arbeit gefunden. Nach dem Tod seiner Mutter entschloss er sich, zurück in seine Heimatstadt Novosibirsk zu gehen. Als Gründe nennt er seine andauernde Arbeitslosigkeit wie auch Einsamkeit in Deutschland. Aus mehreren Briefen von ihm18 wird deutlich, wie enttäuscht und deprimiert er aufgrund seiner sozialen Situation in Deutschland ist. Er beschreibt, wie er und seine Eltern in Russland aufgrund ihrer deutschen Volkszugehörigkeit in der Schule und bei der Arbeit diskriminiert worden sind. Von einem Leben in Deutschland hatten sie sich Besseres erhofft. Diese Erwartungen wurden nicht bestätigt: »Ich bin sehr enttäuscht von allem hier in Deutschland. In den Jahren von 2003-2013 sind bei mir schlechte Eindrücke entstanden. Ich habe keine feste Arbeit. Ich habe keine Familie, die mir Halt gibt. [...] Ich habe für meine Rechte bei verschiedenen Organisationen ge-

17 Zur Rolle der russischsprachigen Presse für russischsprachige Migranten in Deutschland siehe Darieva (2004). 18 Vladimir B. meldete sich im August 2013 bei mir, nachdem ich in der Zeitung Russkaja Germanija eine Anzeige aufgegeben hatte. Über die Anzeige suchte ich russlanddeutsche Interviewpartner, um diese zu ihren Beweggründen und Strategien für eine Rückkehr nach Russland oder Kasachstan zu befragen. Herr B. schickte mir in kürzester Zeit etliche Briefe und Kopien von Dokumenten, welche seine Ausreiseversuche dokumentieren.

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kämpft. Schließlich habe ich mich entschlossen fortzugehen. Ich habe genug von den Lügen hier.19«

Welche Organisationen er hier genau meint, ist unklar. Deutlich jedoch wurden seine Versuche anhand mehrerer von ihm in Kopie erhaltener Dokumente, Deutschland über das Programm »sootþestvenniki« der russischen Regierung (siehe Kapitel zu Pull-Faktoren) zu verlassen. Diese seit 2007 andauernden Bemühungen sind bis heute ohne Erfolg geblieben. Stattdessen führt Herr B. einen wüsten Papierkrieg mit dem russischen Migrationsdienst und verschiedenen anderen relevanten Stellen. Offenbar liegt ihm viel daran, auf sein Schicksal aufmerksam zu machen. Davon zeugt abgesehen von der intensiven Kontaktaufnahme seinerseits im Zuge der Forschung ein Zeitungsartikel20, in dem es ebenfalls um sein Schicksal und allgemein die Funktionalität des o.g. Regierungsprogrammes geht.

F AZIT Abschließend lässt sich festhalten: Es gibt sowohl eine bemerkenswerte Rückwanderung von Russlanddeutschen in die GUS als auch eine Weiterwanderung von Spätaussiedlern vor allem nach Kanada und Paraguay (Schönhuth 2008: 64). Die im Zuge der Interviews und Fachgespräche von den Akteuren genannten (möglichen) Rückkehrmotive lassen sich wie folgt zusammenfassen: andauernde Arbeitslosigkeit, zum Teil trotz guter Qualifikation; Familienzusammenführung, insbesondere nach Verlust einer Bezugsperson; fehlende Sprachkenntnisse und religiöse Motive. Sie lassen sich somit unter den von Schönhuth (in diesem Band) genannten Motivlagen in sozio-ökonomische, psychische und sozio-kulturelle subsumieren. Diese überschneiden, beeinflussen und verstärken sich häufig, z.B. bei einer Rückkehr zwecks Familienzusammenführung. Dieser Grund wurde von Schönhuth und seinem Forschungsteam (in diesem Band) mit 14,5% als zweithäufigster Grund, neben dem der Arbeitslosigkeit (16%), für eine Rückkehrentscheidung in die Herkunftsgebiete genannt. In welchem Umfang Remigration und Weiterwanderung tatsächlich stattfinden, ist aufgrund der nicht vor-

19 Brief von Herrn B., erhalten am 20.8.2013. Da die Kommunikation mit ihm ausschließlich auf Russisch erfolgte, ist der hier zitierte Ausschnitt aus einem seiner Briefe von mir übersetzt. 20 »Pritok sootþestvennikov menjaet ruslo«, Sovjetskaja Sibir', 16.3.13, www.sovsi bir.ru/index.php?dn=news&to=art&ye=2013&id=2227, aufgerufen am 5.9.2013.

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handenen gesonderten Datenerhebung zur Ausreise von Spätaussiedlern nicht zweifelsfrei festzustellen. Im Vergleich zur Zahl der zugewanderten Personen russlanddeutscher Abstammung scheint die Zahl der Rückkehrer (und auch Weitersiedler) bisher jedoch tatsächlich verhältnismäßig klein zu sein. Die fehlenden Statistiken ermöglichen Spekulationen und Meinungsmache verschiedener Interessengruppen über die Größenordnung der Rück- und Weiterwanderung dieser speziellen Gruppe. Allerdings handelt es sich um ein äußerst aktuelles und dementsprechend bisher unzureichend erforschtes Phänomen. Die Arbeit des AWO Heimatgarten Karlsruhe bestätigt eindeutig, dass es eine Nachfrage unter den Spätaussiedlern gibt, in der Rückkehrfrage und bei der tatsächlichen Rückkehr beraten und unterstützt zu werden. Es gibt jedoch scheinbar sowohl in der Politik als auch innerhalb der russlanddeutschen Verbände eine große Scheu, die Problematik offen und vorbehaltlos zu besprechen, auch wenn dies vereinzelt getan wird. Im Schlusswort ihrer Diplomarbeit, die erstmalig die Remigration von Spätaussiedlern behandelt, schreibt Galina Suppes: »Obwohl das Thema der Rückkehr und Rückkehrförderung derzeit in Europa von besonderer Aktualität geprägt ist, bleiben die Wahrnehmung und Reaktionen auf die Remigrationsbewegungen der Russlanddeutschen im Bundesgebiet nicht eindeutig. Ob es politisch brisant oder unangenehm für die Regierung ist, das kann man nur vermuten. Auf jeden Fall tun sich staatliche Behörden schwer, zu akzeptieren, dass ein kleiner Teil der Spätaussiedler sich nicht nur mühselig integriert, sondern auch sich unter Umständen zur Rückkehr entscheidet.« (Suppes 2008: 92)

Ergänzend dazu kann festgehalten werden, dass nicht nur Politiker empfindlich auf dieses Thema reagieren, sondern auch die Russlanddeutschen selbst. Dies war besonders während der Fachgespräche in der Spätaussiedlerberatungsstelle Reinickendorf und an den Publikumsreaktionen auf der Tagung »Russlanddeutsche als Brückenbauer zwischen Ost und West« spürbar. Gründe hierfür liegen sicher an der prekären Situation, in der sich viele Spätaussiedler trotz ihres deutschen Passes befinden. Obwohl sie ganz offiziell deutsche Staatsbürger sind, befinden sie sich kulturell, mental und sozial in einer realen Einwanderungssituation (siehe dazu Bade/Ottmer 2004: 90) zudem spielt die Erfahrung, in der Sowjetunion als deutsche diskriminiert worden zu seien, in Deutschland wiederum als Ausländer wahrgenommen zu werden, sicher eine große Rolle, wenn es um die Diskussion von Remigration aus Deutschland in die Russische Föderation geht. Ferner haben sowohl Deutschland als auch die Russische Föderation mit einer bedrohlichen demografischen Krise zu kämpfen, die ohne Zuwanderung aus dem Ausland nicht zu bewältigen ist. Hier kann einer der Gründe gesehen

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werden, weshalb die bundesdeutsche Regierung keine Richtlinie zum Umgang mit remigrierenden Spätaussiedlern anbietet. Suppes konstatiert dazu: »Es gibt indes bislang kein einziges Regelwerk, keine einzige schriftlich fixierte Darstellung einer praktischen Umsetzung des Remigrationsverfahrens für Spätaussiedler.« (Suppes 2008: 92)

Bis auf das Bundesland Baden-Württemberg, das in seiner »Landesförderung Freiwillige Rückkehr« Spätaussiedler explizit als Zielgruppe ausweist und unterstützt, ist dies weiterhin der Fall. Seit der Schließung der Spätaussiedlerberatungsstelle in Karlsruhe gibt es meines Wissens praktisch jedoch keine Umsetzung dieser Richtlinie mehr in Bezug auf Spätaussiedler. Weitere Forschungen zu Ursachen und Strategien für Remigration, Weiterwanderung und Pendelmigration unter Spätaussiedlern sind wünschenswert, um ein umfassenderes Verständnis der kulturellen Praxis dieser besonderen Gruppe zu gewinnen, und sind notwendig, um einen pragmatischen Umgang mit diesen Phänomenen auf realpolitischer Ebene zu ermöglichen und zu fördern. Auch um einen Diskurs der genannten Problematiken innerhalb der russlanddeutschen Gemeinschaften zu begünstigen, sollten weiterhin Fragen der Identitätskonstruktion und zur mitunter damit verbundenen partiellen Tabuisierung von Migrationsentscheidungen dieser Gruppe gestellt und erörtert werden.

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R ÜCKWANDERUNG VON (S PÄT -)A USSIEDLERN NACH R USSLAND

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Geförderte Rückkehr von Spätaussiedlern in ihre Herkunftsregionen Die Arbeit des Projektes »Heimatgarten« G ALINA S UPPES

H ILFERUFE RÜCKKEHRWILLIGER S PÄTAUSSIEDLER Die organisatorisch im »Heimatgarten« zusammengefassten internationalen Projekte des Bremerhavener Fachverbandes »AWO International e.V.« gingen aus der Arbeit mit Kriegsflüchtlingen aus Ex-Jugoslawien 1998 hervor und sollten die Verwirklichung des Ausreisewunsches von Flüchtlingen und darüber hinaus deren zweijährige Betreuung in ihren Heimat- oder Wunschländern gewährleisten. Diese Nachbetreuung im Zielland war damals ein Novum in der Remigrationspolitik. Während dieser zweijährigen Begleitung sollten die Heimgekehrten beim Aufbau einer neuen, eigenständigen Existenz unter dem Motto »Hilfe zur Selbsthilfe« unterstützt sowie ihre eventuellen Notlagen im Eingliederungsprozess entschärft und/oder beseitigt werden. Die Grundlagen der »Heimatgarten«-Arbeit orientierte sich an den Positionen des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees). Dessen Arbeitsphilosophie umfasst das komplette Rückkehrmanagement wie etwa die sorgfältige Vorbereitung und individuelle Begleitung im Bedarfsfall, Unterstützung und Hilfestellung bei der sozialen und wirtschaftlichen Integration sowie humanitäre Reintegration der Heimgekehrten vor Ort. Wichtige Prinzipien sind dabei Sicherheit im Heimatland, Respekt im Umgang miteinander und eine Rückkehr in Würde. Trotz einer Projektfokussierung auf die Zielgruppe der Flüchtlinge, reagierte »Heimatgarten« ab Mitte der 2000er Jahre auch auf Hilferufe rückkehrwilliger Einwanderer deutscher Abstammung, wie die des damals 56-jährigen David Ibe und seiner Familie:

194 | G ALINA SUPPES

»Wir dachten, dass das Leben hier leichter wird. Es ist auch leichter, keine Frage. Aber ich bin hier ein Niemand. Keiner interessiert sich für dich. Und in meinem Dorf konnte ich rausgehen, mit den Nachbarn quatschen, jeder kennt dich. […] Ich habe jetzt keine Verwandten in Russland, aber ich will trotzdem in mein Dorf. Der jüngste Sohn hat auch gerade die Ausbildung beendet und geheiratet. Jetzt, da beide Kinder aus dem Haus sind, fahren wir zurück. Wir wollen in der Heimat sterben.« (Baeva 2005)

Auch jüngere Spätaussiedler konnten trotz ihrer Bemühungen kein Glück hierzulande finden1: »Wir wohnen schon seit drei Jahren in Deutschland und können aber immer noch keine seelische Ausgeglichenheit erreichen. Deutschland hat uns sehr gleichgültig empfangen. Nein, ich möchte nicht sagen, dass wir etwas brauchen. Danke diesem Land und seinem Sozialsystem, das so gut entwickelt ist. Wir haben ein Dach über dem Kopf und wir verhungern nicht. Mit Deutschland haben wir aber sehr viele Hoffnungen verbunden und das hier etwas anders vorgestellt. Wir sind 40 Jahre alt und haben bis zur Rente noch viel Zeit. Es scheint aber so zu sein, dass unsere professionellen Kenntnisse und Arbeitserfahrung hier niemand braucht. Ich bin Erzieherin und mein Diplom ist hier nicht anerkannt worden. Trotz unserer Bemühungen, eine passende Arbeitsstelle zu finden, leben wir immer noch von der Sozialhilfe. Und einen Ausbildungsplatz bekomme ich auch nicht, weil ich schon 40 bin. So verschwindet Tag für Tag unsere Hoffnung, dass wir in Deutschland glücklich sein können.«

Die Älteren wollten zu ihren Wurzeln oder Kindern: »1992 kam ich nach Deutschland ohne meine Söhne, die russische Nationalität besitzen. Jetzt wachsen meine Enkelkinder da auf, ich kenne sie fast nicht. Ich möchte den Rest meines Lebens deren Erziehung und Ausbildung widmen, mehr brauche ich in diesem Leben nicht.« »Wir sind 70, haben auch gesundheitliche Probleme. Hier ist das Klima feucht und passt uns nicht. Unsere Gesundheit ist sehr dadurch beeinträchtigt und wird immer schlimmer.«

1

Hier und im weiteren Verlauf des Beitrages: Auszüge aus den an den »Heimatgarten« geschickten Briefen der Rückkehrwilligen, deren Namen aus Datenschutzgründen hier nicht genannt werden. Eigene Übersetzung.

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»Ich kann hier nicht leben, habe Sehnsucht […]. Ich bin schon 80, und sterben will ich auf der »Verwandten Erde« (in der Heimat meiner Vorfahren).«

I NFORMELLE B ERATUNG UND U NVERSTÄNDNIS

STAATLICHES

»Heimatgarten« richtete im Oktober 2005 in Bielefeld eine eigene, noch informelle Beratungsstelle für rückkehrwillige Spätaussiedler ein. Auch wenn der prozentuale Anteil der Zurückkehrenden bezogen auf die 2,3 Millionen Spätaussiedler verschwindend gering ist,2 war er in absoluten Zahlen doch erheblich und stellte teilweise die Mehrheit der Beratungsfälle dar. So wurden im Bielefelder »Heimatgarten«-Büro allein für das Jahr 2005 über 300 Hilfsanträge aus dem gesamten Bundesgebiet registriert (Baeva 2005). Diejenigen, die über ausreichende Kräfte und Finanzmittel verfügten, wanderten auf eigene Faust zurück. Nach Rat und Unterstützung suchten diejenigen, die sich in finanzieller Notlage befanden oder anderweitiger Hilfe bedurften und ihre Ausreise selbstständig nicht organisieren konnten, wie folgende Äußerungen belegen: »Ich fühle mich fremd hier. Ich habe immer noch Komplexe, dass ich nicht wie die Einheimischen Deutsch kann und es nie können werde. Und dann noch diese Spannung die ganze Zeit: Wir haben immer Angst, dass wir etwas falsch machen, Angst vor Briefen von Behörden. Wenn man mal was nicht bezahlt, dann landet man im Nu auf der Straße. Ich bin müde von dem Ganzen. Das macht mich fertig.« (Maria Ibe, nach Baeva 2005) »Ich habe in der Zeitung über Ihre wohltätige Organisation »Heimatgarten« gelesen und habe das Heimweh noch stärker gespürt. Seit zwei Jahren wohne ich mit meiner Familie in Deutschland, aber es ist kein Leben, sondern eine richtige Qual. Wir gehen schlafen und stehen mit einem einzigen Traum auf: Irgendwie zurückzukehren, wo man zwar ärmer und schlechter gelebt hat, aber frei und wunderschön. Wie wertvoll sind soziale Kontakte zu Nachbarn, Freunden, Gesellschaft! Hier geht das nicht. […] Ehrlich gesagt quält die Sehnsucht nach unserer Heimat und es scheint, eine bessere als die nicht zu geben. Ich bin schon 68 und weder ich noch meine Familie können uns hier gewöhnen.«

2

Die absolute Mehrheit aller Spätaussiedler mit ihren Familien bleibt in Deutschland (mehr als 95%), das zeigen auch der Beitrag »Einmal Deutschland und zurück« von Schönhuth/Kaiser in diesem Band und die dort zitierten Studien dazu (vgl. auch Phalnikar 2007).

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»Ja, ich gehöre auch zu denen, die sich unwohl in Deutschland fühlt und das Heimweh im Herzen trägt. Wenn man Sozialhilfeempfänger ist, kann man sich den Rückweg unmöglich leisten. […] Ich will gar nichts mitnehmen, brauche nur etwas Geld für ein Ein-WegTicket.«

Auf staatlicher Ebene fand das Rückkehrthema allerdings lange keinen Widerhall, es wurde von offiziellen Stellen (bspw. dem Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten), oder den Heimatvertriebenenverbänden aus politischen Gründen die längste Zeit heruntergespielt, teils tabuisiert bzw. als Faktum nicht anerkannt (vgl. dazu den Beitrag von Mattock in diesem Band, der die institutionelle Ignoranz gegenüber diesem Thema beschreibt). Die staatlichen Behörden taten sich jedenfalls schwer, zu akzeptieren, dass ein kleiner Teil der Spätaussiedler sich nicht nur mehr oder weniger gut integriert, sondern auch unter Umständen zur Rückkehr entscheidet. Während die monetäre Ausstattung für freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen gesetzlich geregelt war und von bestimmten Kostenträgern wie Europäischer Flüchtlingsfonds (EFF), staatliche Repatriierungs- und Reintegrationsprogramme (REAG/GARP), zuständige Behörden und Sozialämter sowie Nichtregierungsorganisationen (NROs) gestaltet und bewilligt wurden, lehnte die Bundesregierung jegliche Option zur Förderung von Spätaussiedlern bei ihrem Heimkehrwunsch ab. Denn jedem deutschen Staatsbürger3 stünde das Recht zu, seinen Lebensmittelpunkt in ein beliebiges Land weltweit zu verlegen, ohne jedoch dabei einen Zuschuss seitens des Staates bei der Umsiedlung erwarten zu können. Das Bundesministerium des Inneren sah keine rechtlichen Gründe für eine Unterstützung von Spätaussiedlern mit Finanzmitteln aus den öffentlichen Kassen zwecks Ausreise, zumal dieser Personenkreis schon in den Genuss von unterschiedlichen Eingliederungshilfen bei der Einreise und Niederlassung in der BRD gekommen war. Es mag zwar ökonomisch sinnvoll und gerechtfertigt sein, den von ALG II oder Sozialhilfe lebenden Spätaussiedlern ihre Rückkehr in die Aussiedlungsgebiete zu finanzieren. Solch eine Mehrfachförderung einer Personengruppe würde nach dem Verständnis offizieller Stellen im Widerspruch zur praktizierenden Aussiedlerpolitik der Bundesregierung stehen sowie auf feh-

3

Im Unterschied zu den Flüchtlingen fällt die Personengruppe der Spätaussiedler unter eine besondere Kategorie: Obwohl sie außerhalb Deutschlands geboren und in die Bundesrepublik wie andere Migranten eingewandert sind, werden sie als Statusdeutsche im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes anerkannt und genießen deswegen die gleiche Rechtsstellung wie einheimische Deutsche (vgl. Matissek 1996: 50).

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lende Akzeptanz, wenn nicht sogar massiven Widerstand in der deutschen Bevölkerung stoßen.4 Im Einklang mit der Aussiedlerpolitik stand somit die unter Umständen unbefristete Alimentierung dauerhaft arbeitsloser Aussiedler hierzulande. Eine den Ausreisewunsch von Rückkehrwilligen unterstützende einmalige Beihilfe von wenigen Tausend Euro stand hingegen aus politischen Erwägungen nicht zur Debatte, obwohl dies von den sozialhilfepflichtigen Kommunen befürwortet worden wäre.

S TRATEGIEN

AUF KOMMUNALER UND

L ÄNDEREBENE

Die Lösung dieses Dilemmas fand »Heimatgarten« in der Zusammenarbeit mit Landkreisen, Kommunen und Arbeitsagenturen in Gegenden mit dem größten Rückkehrer-Aufkommen. Es handelte sich dabei um ein Verfahren, das in der Flüchtlingsarbeit schon jahrelang und erfolgreich praktiziert wurde: Statt fortlaufender Leistungen zum Lebensunterhalt zahlte die zuständige Behörde auf Anfrage vom »Heimatgarten« dem Rückkehrwilligen eine einmalige Beihilfe bis 2.000,00 Euro je nach Bedarf aus, die lediglich die Aufwendungen für Reisepapiere und Reintegrationsmaßnahmen in den ersten Monaten nach der Ausreise decken sollte. Für Rückkehrvorbereitung, Begleitung und Nachbetreuung in der Zielregion verlangte die Beratungsagentur eine bescheidene Betreuungspauschale und erstattete dem Kostenträger halbjährlich Berichte über die geleistete Unterstützung bei der Reintegration des Ausgewanderten. Bliebe die rückkehrwillige nicht erwerbstätige Person in Deutschland, müssten Kosten von jährlich mindestens 12.000,00 Euro pro Person aufgewendet werden, ohne dass dem Fiskus eine Gegenleistung beispielsweise in Form von direkten Steuern zufließen würde. Die tatsächlichen Kosten für die Reintegration in unterschiedlichen Rückkehrländern lagen erfahrungsgemäß zwischen 2.500,00 und 8.000,00 Euro pro Kopf und Jahr, was in der Regel wesentlich weniger als ein jährlicher Sozialhilfebetrag für einen Single-Haushalt in der Bundesrepublik war. Da die geleistete Rückkehrförderung sich binnen drei Monaten komplett rechnete und durch den Wegfall des Leistungsanspruchs anschließend zu erheblichen Ersparnissen führte, korrespondierte sie mit den wirtschaftlichen Interes-

4

Aus dem Briefverkehr zwischen dem Geschäftsführer der AWO Heimatgarten und dem Ministerium des Inneren sowie dem Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten.

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sen der Kostenträger, insbesondere der kommunalen Gebietskörperschaften. Mit dieser Argumentation zeigten sich die Sozialämter zwar einverstanden, jedoch weigerten sie sich, solche mehrfachen Hilfsbeiträge auszuzahlen. Da keine klaren Kostenregelungen zur freiwilligen Rückkehr im Sozialgesetzbuch verankert waren, hatten Sozialämterberater kein Regelwerk in der Hand, um ihre Entscheidungen zur Finanzierung von individuellen freiwilligen Rückkehrmaßnahmen zu begründen (Tegeler 2006: 86-87). Auf dieses Problem hat die baden-württembergische Landesregierung reagiert und 2007 als erstes und bisher einziges Bundesland das Programm zur Förderung der freiwilligen Rückkehr von Ausländern, Asylbewerbern, unerlaubt Eingereisten und Flüchtlingen um den Personenkreis »Spätaussiedler und ihre Angehörige« erweitert. Dabei sollten rückkehrwillige Spätaussiedler wie andere Migrantenkategorien behandelt werden. Das Programm »Landesförderung Freiwillige Rückkehr« verfolgte ein humanitäres Motiv bei der finanziellen und sachkundigen Unterstützung bedürftiger Rückkehrwilliger und ermöglichte ihnen damit eine legale und würdevolle Heimkehr in ihre Herkunftsgebiete. Der wirtschaftliche Aspekt, durch die Steigerung der freiwilligen Ausreisezahlen eine Verringerung öffentlicher Soziallasten zu erreichen, war dem Ministerium dabei durchaus präsent (Innenministerium BW 2007:1). Die »AWO Heimatgarten« mit eigenem Netzwerk an Partnerorganisationen im osteuropäischen Ausland, umfangreicher Arbeitserfahrung im Migrationsbereich und einzigartiger Vorgehensweise – Nachbetreuung im Zielland – schien für die Realisierung dieses Programms optimal aufgestellt und wurde zum offiziellen Projektträger der Rückkehrförderung von Spätaussiedlern. Die unwillkürliche Arbeit des »Heimatgartens« mit ratsuchenden Spätaussiedlern wurde somit politisch legitimiert.

O FFIZIELLE R ÜCKKEHRBERATUNG AWO-H EIMATGARTEN

DURCH

Im Rahmen des Landesprogramms entstand im Herbst 2007 eine neue »Heimatgarten«-Filiale im baden-württembergischen Karlsruhe. Der Kompetenzbereich dieser Fachberatungsagentur umfasste vor allem die Reintegration- und Rückkehrarbeit in die Zielrichtung der GUS-Staaten, den Ausbau eines internationalen Netzwerkes von europäisch-asiatischen NROs im Migrationssektor sowie die

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Organisation und Durchführung von Bildungsmaßnahmen5 für andere Beratungsstellen, Migrationsdienste und Einrichtungen, Gemeinden und Städte. Das Projekt trug einen landesweiten Charakter und koordinierte individuelle Nachfragen sowie Anfragen aus den anderen 23 regionalen an der Landesförderung partizipierenden Rückkehrprojekten in ganz Baden-Württemberg. Diese kleinen lokalen Beratungsprojekte agierten teilweise als Anlaufstellen für Ausreisewillige, die sie wegen fehlender eigener Infrastruktur im Rückkehrland, nicht ausreichenden Fach- und Sprachkenntnissen oder knapper Finanzmittel an das »Heimatgarten«-Büro weiterleiteten. Dort bekamen die Fragesteller umfassende Beratung und praktische Tipps in ihrer Muttersprache. Solche Verständigungs- und Ausdrucksmöglichkeit ohne Sprachbarriere schuf stets eine vertrauensvolle Atmosphäre, wo manche Beratung sich zu einem Seelsorgegespräch entwickelte. Da Rückwanderungsentschlüsse oft aus einer Kurzschlussreaktion oder aufgrund einer augenblicklichen Lebenslage bzw. Ereignisse gefasst wurden, wurde zunächst ein Monitoring sozialer und beruflicher Perspektiven in der jetzigen Wohn- und in der Zielregion zusammen mit dem Rückkehrwilligen bzw. mit seinen Familienmitgliedern durchgeführt. Dabei blieb jede Rückkehrberatung vertraulich und ergebnisoffen, sodass es in einigen Fällen auch zur Umkehr von der Ausreiseentscheidung kam. In solchen Fällen zeigte »Heimatgarten« eventuelle Problemlösungsalternativen bzw. vermittelte die Ratsuchenden an entsprechenden Integrationsberatungsstellen vor Ort. War die Rückkehrabsicht ausgereift, wurden weitere Schritte vorgenommen: Durchführung von Recherchen oder Anfrage von Kooperationspartnern bezüglich der tatsächlichen politischen Lage in der Zielregion, Erhebung von Immobilienpreisen, Lebenshaltungskosten, Jobangeboten, Voraussetzungen für Existenzgründung, Verfügbarkeit von gleichwertigen Medikamenten, sozialer Versorgung, Transfermöglichkeiten etc. Einer der wichtigsten Punkte im Rückkehrvorbereitungsprozess war die korrekte Ausgestaltung von Ausweisdokumenten und Reisepapieren.6 Von Belang war ebenfalls die Klärung der Rentenfrage,

5

Innerhalb von zwei Projektperioden wurden insgesamt drei Tagungen organisiert: »Reintegration von Roma und Minderheiten in Serbien und Kosovo«, »Rückkehr in die GUS-Länder« und »Vulnerable Groups«. Danach wurden die Projektmittel gekürzt, sodass die Durchführung weiterer Seminare trotz großer Nachfrage sehr erschwert war.

6

Bsp. Wegfall bzw. Wiederherstellung der Endung »a« für die Nachnamen als morphologisches Merkmal des weiblichen Geschlechtes; Ausstellung eines privaten Visums und keines touristischen Visums; Eintragung entsprechender Staatsangehörig-

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d.h., ob der Rentenanspruch nach all den Arbeitsjahren in Deutschland erhalten bleibt und ob die Möglichkeit der Rentenwiederherstellung im Rückkehrland relevant ist. In etlichen Gesprächen ging es den Anfragenden nur um die kommunikative Klärung des Rückkehrwunsches. Manche Ausreisewillige waren in ihrer Problemlösekompetenz ziemlich selbstständig und holten für sich nur einige Informationen ein. Auf der anderen Seite gab es auch Personen, insbesondere kranke handlungsunfähige bzw. bedürftige Rentner im hohen Alter, wo der Rückkehrwunsch ohne umfassender Beratung und tatkräftiger Mitwirkung des »Heimatgarten«-Personals und finanzieller Unterstützung durch das Pilotprojekt nicht in die Tat hätte umgesetzt werden können.

D IE

FISKALISCHE

S EITE

Für solche und ähnliche Ausnahmefälle, die von schwierigen persönlichen oder humanitären Umständen begleitet waren, durften höhere Beihilfen bewilligt werden. Ansonsten sollten die Reintegrationshilfen laut Zuwendungsrichtlinie nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit im Hinblick auf den tatsächlichen Bedarf des jeweiligen Rückkehrers vergeben werden und sollten die Höhe von 1.500,00 Euro für einen Erwachsenen und 1.000,00 Euro pro Kind nicht überschreiten. Der Zuschuss für medizinische Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen oder für den Aufbau einer nachhaltigen selbstständigen Existenz konnte bis zu 2.500,00 Euro pro Familie betragen. Die Kalkulation der Reintegrationshilfesätze sollte jedoch auf deutlich geringeren Durchschnittsbeträgen basieren (Innenministerium BW 2007: 2-12). Das bewilligte Gesamtbudget für eine Projektperiode konnte den Regelsatz von 1.500,00 Euro pro Person bei Weitem nicht decken, sodass die real ausbezahlte Durchschnittssumme pro Erwachsenem etwa 700,00 Euro betrug. Diese kleine Zuwendung reichte lediglich für ein Flugticket, Gepäcktransfer und gegebenenfalls bescheidene Lebenshaltungskosten in den ersten Monaten nach der Rückwanderung. Diese Tatsache belegt den wirklich freiwilligen Charakter der Rückkehr von Spätaussiedlern. Offensichtliche Strapazen der Ausreise und unvermeidliche Schwierigkeiten und Einschnitte beim Neuanfang nahmen die Rückkehrer in Kauf. Beim Bezug solcher überschaubaren Beihilfen konnten keine »Mitnahme- oder Drehtüreffekte7« erzeugt werden, die manche Skeptiker und

keit für die in Deutschland geborenen Kindern von den Eltern mit doppelter Staatbürgerschaft usw. 7

Siehe Schaban 2008: 31.

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Gegner des Landesförderungsprogramms im Vorfeld befürchtet hatten. Andererseits konnte so eine Beihilfe keine beständige Basis zur erfolgreichen und nachhaltigen Reintegration bilden, sodass der Rückkehrwunsch von vielen unerfüllt blieb. Vom Belang ist die Kosteneffizienz des Projektes. Die Gesamtersparnisse pro Person/Jahr sind aufgrund von fehlenden Informationen aus Datenschutzgründen nur annähernd zu berechnen, d.h. sie fallen viel höher aus, als das die unten angeführte Kostenaufstellung zeigt. Um den Vertraulichkeitsrahmen des Landesprogramms nicht zu verletzen und trotzdem eine Vorstellung vom ungefähren Ausmaß des Ersparnisumfanges zu geben, wird hier nur beispielhaft auf eine Projektperiode Bezug genommen: Einmalige Reintegrationshilfen für 35 Personen Durchschnittlicher Reintegrationshilf-Betrag pro Kopf Jährliche Sozialleistungen für diese Personengruppe Durchschnittlicher Zuwendungsbetrag pro Kopf/Monat

24.500.00 € 700,00 € 213.089,64 € 507,36 €

Diese Kalkulation basiert auf den als Beweis der Bedürftigkeit eingereichten Bescheiden aus den Jobzentren, Sozialämtern und der Rentenversicherungsanstalt. Die vorgegebenen Ausreisezielzahlen wurden in jeder Projektperiode erreicht und anfangs übertroffen, sodass das effektive Ersparnisvolumen für knapp fünf Jahre Projektlaufzeit in einem achtstelligen Bereich liegt. Dieser Kostenvergleich offenbart und belegt das wirtschaftliche Ziel des »Heimatgarten«-Projektes und des ganzen Rückkehrförderungsprogramms des Landes Baden-Württemberg.

R ÜCKKEHRZAHLEN Das vom »Heimatgarten« betreute Förderungsprojekt für rückkehrwillige Spätaussiedler wurde sechsmal in Folge verlängert und existierte vom 1.11.2007 bis 30.06.2013. Innerhalb des gesamten Zeitraums wurden vom Projekt rund 460 Aussiedlerfälle formal registriert, knapp 200 davon haben mithilfe vom »Heimatgarten« die Bundesrepublik schließlich verlassen. In dieser Zahl sind allerdings lediglich die Rückkehrer inbegriffen, die in Baden-Württemberg von staatlichen Leistungen zum Lebensunterhalt lebten bzw. Rentner waren und für die Ausreise einen Zuschuss bekamen. Erwerbstätige Personen mit eigenem Einkommen wurden zwar vom »Heimatgarten« informativ unterstützt, durften aber nicht finanziell gefördert werden und sind

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deswegen in dieser Statistik nicht berücksichtigt. Deswegen sind die tatsächlichen Rückkehrzahlen mindestens um ein Drittel höher. Dabei handelt es sich um die Rückkehrzahlen aus nur einem Bundesland. Abbildung 6: Rückkehr von 188 Spätaussiedlern (01.11.2007-31.03.2011)

Russland – 133; Kasachstan – 49; Ukraine – 3; Kirgistan – 2; Weißrussland – 1;

Quelle: Arbeitsmaterialienarchiv vom »Heimatgarten«, betriebseigene Erstellung

S YNERGIEEFFEKTE Die Durchführung des Rückkehrprojektes profitierte von Synergien mit anderen Projekten und Kooperationen der AWO Bremerhaven. Im Rahmen dieser Projekte konnte das Phänomen der rückkehrwilligen Spätaussiedler auch in ihren Herkunftsländern – Russland, Kasachstan, Belarus, der Republik Moldau und in der Ukraine – auf verschiedenen Konferenzen und Tagungen annonciert und diskutiert werden. Auf der Suche nach gemeinsamen Strategien und Lösungen für länderübergreifende Remigrationsprobleme fanden Gespräche mit dem Menschenrechtbeauftragten aus dem Rat für soziale Arbeit beim Präsidenten der Russischen Föderation, mit den Verfassern von Putins »Programm für freiwillige Übersiedlung der zurzeit außerhalb Russlands lebenden Landsleute in ihre Heimat«, mit Leitern Föderaler Migrationsdienste in Russland und der Ukraine, mit kasachischen Ministern für Arbeit und Soziales, mit Vertretern des belarussi-

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schen Bildungsministeriums und vielen anderen Akteuren des Migrationsgeschehens auf verschiedenen Ebenen, in vielen postsowjetischen Republiken statt. Dadurch entstanden neue Kooperationsbezüge mit langfristiger Konsolidierung, die eine Verdichtung des internationalen Partnernetzwerkes zur Folge hatte. Ein besonderes Interesse der Migrationsdienste lag in der wissenschaftlichen Begleitung dieser Projekte und folglich in der engen Kooperation mit wissenschaftlichen Instituten und Forschungszentren. In diesem Zusammenhang wurden einige Studien in Zusammenarbeit mit russischen, ukrainischen und kasachischen Wissenschaftlern durchgeführt. Die Exklusivrechte zu Rückkehrdaten und praktischer Arbeit des »Heimatgartens« in Deutschland hatten Prof. Dr. Michael Schönhuth und sein Forschungsteam an der Universität Trier. Der Datenkorpus und der Zugang zum Partnernetzwerk bildeten eine wichtige Primärquelle für das Forschungsprojekt »Netzwerkbeziehungen und Identitätskonstruktionen – Rückkehrstrategien von Spätaussiedlern im Kontext sich wandelnder Migrationsregime« innerhalb des SFB 600 und damit zusammenhängenden Forschungsbeiträgen, die teilweise auch in diesem Sammelband repräsentiert sind. Auch meine Tätigkeit bei »Heimatgarten« erwuchs aus dieser Forschungskooperation, die für mich während der Abfassung meiner Diplomarbeit und anschließend im Trierer Forschungsprojekt begonnen hatte. Das Rückkehrprojekt für Spätaussiedler in Karlsruhe ist im Sommer 2013 wegen fehlender Komplementärfinanzierung und zurückgehenden Rückkehrzahlen eingestellt worden. Nichtsdestotrotz bleibt die AWO Bremerhaven für Belange der Spätaussiedler ebenso wie für alle anderen Migranten-Gruppen offen und führt ihre internationale Arbeit8 in Kooperation mit der Europäischen Union und vielen NROs im In- und Ausland weiter.

L ITERATUR Baeva, Nadja (2005): Hunderte Spätaussiedler wollen Deutschland wieder verlassen, in: DW-RADIO: Fokus Ost-Südost, http://dw.de/p/7TZF vom 17.11.2005. Innenministerium Baden-Württemberg (2007): Richtlinie des Innenministeriums für die Gewährung von Zuwendungen zur Förderung der freiwilligen Rückkehr (Zuwendungsrichtlinie Rückkehrförderung) vom 20.06.2007, Stuttgart.

8

Weiterführende Information über das Dienstleistungsangebot der AWO Bremerhaven: http://www.awo-bremerhaven.de.

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Matissek, Holger (1996): Die neuen alten Deutschen. Die Eingliederung der Deutschen aus dem Osten in das System der Bundesrepublik Deutschland. Gesellschaftliche Herausforderung und historische Verpflichtung, Konstanz: Hartung-Gorre Verlag. Phalnikar, Sonia (2007): Russland will die Russlanddeutschen zurücklocken, in: DW-World.de: Deutsche Welle, http://dw.de/p/Bf0k vom 16.09.2007. Regierungspräsidium Baden-Württemberg (2007): Landesförderung Freiwillige Rückkehr – Fragen und Antworten zur Zuwendungsrichtlinie Rückkehrförderung vom 23.07.2007, Karlsruhe. Schaban, Alexander (2005): O.T. in: Voprosy i Otvety – Beilage der Zeitung Semljaki 06(79)/2005, S. 4. Schaban, Alexander (2008): Auswanderung. O nesbyvshichsja nadezhdach, ili o pomoshi tem, kto reshil uechat’ iz Germanii, in: Voprosy i Otvety – Beilage der Zeitung Semljaki 02(144)/2008, S. 31. Tegeler, Volker (2006): Förderung über den Tag hinaus, in: Heimatgarten (Hg.), Freiwillige Rückkehr und Humanitäre Reintegration von Flüchtlingen. Dokumentation der Tagung vom 20.-21. September 2006, Bremerhaven, S. 8687.

Ein leichtes Spiel? Erfahrungen der Rückkehr im postsozialistischen Kontext Kroatiens und Tschechiens C AROLINE H ORNSTEIN T OMIû UND S ARAH S CHOLL -S CHNEIDER

E INLEITUNG Einer als »Heimkehr« geplanten und imaginierten Remigration stellen sich oftmals Hindernisse in den Weg, die selten zur Sprache kommen. Zurückkehren ist nicht unbedingt ein »leichtes Spiel«. Um dieser Seite der Remigration nachzugehen, sollen in diesem Beitrag Narrative der Rückkehr zumeist sogenannter ko-ethnischer Migranten1 in den Blick gerückt werden, die in den letzten beiden Dekaden der postsozialistischen Transformation nach Kroatien und in die Tschechische Republik zurückgekehrt2 sind. Empirische Grundlage des Beitrages sind die in biografischen Interviews beschriebenen Erfahrungen und Erlebnisse der Rückkehr,3 Ankunft und Aufnahme in die jeweilige

1

Ethnizität ist zwar nicht das einzige Kriterium der Kategorisierung von Rückkehrern und eine Rückkehr muss nicht zwangsläufig mit Ko-Ethnizität einhergehen, aber im Falle der von uns untersuchten Remigranten handelt es sich ausschließlich um solche, die zu »ihrer« Mehrheitsgesellschaft zurückkehren und damit als ko-ethnisch zu bezeichnen sind. Vgl. hierzu insb. Beer 2010.

2

Es werden auch Narrative von Vertretern der zweiten Migrantengeneration miteinbezogen, die als im Ausland geborene Kinder von Migranten nicht im eigentlichen Sinne zurückkehren, sondern zutreffender als ko-ethnische, transnationale Migranten zu betrachten sind.

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Die Interviews mit kroatischen Remigranten (aus Deutschland, den USA, Kanada und Österreich) wurden zwischen 2010 und 2014 von Caroline Hornstein Tomiü geführt.

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Gesellschaft. Der Blick wird dabei auf soziale Alltagsinteraktionen gerichtet, in denen wechselseitige Erwartungen und spezifische Handlungsmuster zutage treten; auf Identifikationsprozesse, in denen Selbst- und Fremdwahrnehmungen aufeinandertreffen und Zugehörigkeiten verhandelt werden. Jene Narrative der Rückkehr legen indes nahe, das Konzept der Rückkehr grundsätzlich zu reflektieren, ebenso wie die ihm zugrunde liegenden Konstrukte von »Heimat« und »Heimkehr«. Sie fordern dazu auf, auch Remigration als de-facto-Einwanderung zu untersuchen, wie bereits in anderem Kontext nahegelegt wurde.4 Denn auch ko-ethnische transnationale Migrationen und Rückwanderungen fördern kulturelle Diversifizierungsprozesse, da Migranten generell doch – ob koethnisch oder nicht – andere Sprachen, Sichtweisen, Werte, Verhaltensmuster oder ästhetische Vorlieben mitbringen, die sie andernorts angenommen und erlernt haben. Diese sind mitunter beteiligt an Kollisionen, Spannungen, Konflikten und Lernprozessen, die den Integrationsprozess auch in eine als kulturelles Herkunftsland imaginierte Aufnahmegesellschaft begleiten. Folgt man dieser Argumentationslinie, so lässt sich daraus schließen, dass letztlich auch koethnische Remigrationen zu sozialem Wandel und zu kulturellen Diversifizierungen in den Aufnahmegesellschaften beitragen. Dieser Annahme soll in den folgenden Erörterungen und an Beispielen nachgegangen werden. Auch soll die Frage danach gestellt werden, ob jene die Integration von Rückkehrern gestaltenden und begleitenden Friktionen, Verständigungs-Dynamiken und Transferleistungen ihrerseits möglicherweise gesellschaftliche und kulturelle Veränderungsprozesse befördern oder einleiten können, oder ob die Trägheit habitueller Muster, mittlerweile geltende Spielregeln und ihnen entsprechende eingeschliffene Handlungsweisen es den über längere Zeiträume Abwesenden schwer machen, sich als Zurückkehrende am »Spiel« beteiligen können.5

Die Interviews mit tschechischen Remigranten (aus Deutschland, Österreich, den USA, Kanada, Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden) wurden zwischen 2004 und 2014 von Sarah Scholl-Schneider geführt. 4

Siehe Marita Krauss' Studie zur Rückkehr nach Deutschland aus der Emigration nach 1945 (Krauss 2001) und Jasna ýapo Žmegaþs' Studie zur Rückkehr nach Kroatien und in Gebiete in der umliegenden Nachbarschaft, die ebenfalls zum ehemaligen Jugoslawien gehörten (ýapo Žmegaþ 2010a: 227).

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Für den kroatischen Fall wird dies zum einen an Erfahrungen derjenigen Rückkehrer der ersten Migrantengeneration nachvollzogen, die entweder noch kurz vor dem Zusammenbruch Jugoslawiens das Land verließen und dann erst viele Jahre später, mit im Ausland etablierten Berufskarrieren, wieder zurückkehrten. Mit jenen, die dann in den ersten Transformationsjahren ins Ausland gingen und deren Auslandsaufenthalte

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Die Metapher des Spiels, die Pierre Bourdieu nutzt, um die unterschiedlichen Kapitaleinsätze von Akteuren in verschiedenen Feldern der sozialen Welt zu analysieren, erscheint uns im Zusammenhang mit Remigration als ein sinnvoller roter Faden, an welchem sich vielfältige Alltags- bzw. Spielsituationen sinnvoll auffädeln und damit systematischer betrachten lassen, in welchen sich Remigranten wiederfinden. Ist es doch vor allem deren im Ausland angesammeltes Kapital unterschiedlichster Art (ökonomisch, sozial, kulturell; nicht immer, aber häufig auch symbolisch), das sie im Falle einer Rückkehr gewinnbringend (ob nun für sich oder das Heimatland) einbringen könnten – und einbringen wollen. »Gleich Trümpfen in einem Kartenspiel determiniert eine bestimmte Kapitalsorte die Profitchancen im entsprechenden Feld« (Bourdieu, 1985: 10), erklärt Bourdieu die Wirkungsweise von Ressourcen zur Gewinnung von Handlungsspielräumen, zur Ausnutzung von Gelegenheitsstrukturen, und letztendlich zur Ausübung von Macht und Einfluss. Was also potenzielle Trümpfe im Spiel sein mögen, – Wissensvorsprünge etwa, die zumindest als solche von außen zu deuten sein könnten – mag im ein oder anderen Fall jedoch gerade umgekehrt hinderlich oder im Kontext der Aufnahmegesellschaft zumindest doch missverständlich sein: denn ein Spiel steht und fällt ja mit den in der sozialen Welt meist ungeschriebenen Spielregeln, mit Einsatzvorgaben, und mit der kontextbedingten Wertigkeit bestimmter Kapitalsorten. Bevor dieser Gedanken-gang anhand von Beispielen weitergeführt wird, sollen jedoch im Sinne einer Skizzierung des Spielfeldes zunächst die außerordentlich unterschiedlichen Bedingungen und Umstände der Remigrationen nach Kroatien und in die Tschechische Republik erläutert werden.

K ROATIEN Wie andere Länder Südosteuropas ist auch Kroatien ein klassisches Auswanderungsland, und eher kein Einwanderungssland, lässt man Saisonarbeit

sich ebenfalls zum Teil über ein Jahrzehnt und mehr erstreckten, haben sie gemeinsam, dass sie sich nicht nur an sozialistischen Altlasten stören, sondern vielmehr noch am transformationsbedingten Wandel von Verhaltensstandards und gesellschaftlichen Normen. Aber auch Vertreter der zweiten Migrantengeneration, die höchstens durch Urlaubsaufenthalte mit dem sozialistischen Alltag in Berührung kamen und daher weder Kontinuitäten noch deren Brüche in ähnlicher Weise erkennen können, stellt die Konfrontation mit noch aus sozialistischen Tagen übertragenen Denkmustern und Handlungsweisen eine vielfach beschriebene Herausforderung dar.

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und temporäre Arbeitsmigrationen außer acht. Auswanderungen6 und Kettenmigrationen größerer Bevölkerungsgruppen vollzogen sich seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in fünf Wellen, deren Kenntnis auch das Verständnis von Rückkehrdynamiken und Rückkehrertypen erleichtert: Die erste Welle dauerte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs (Zielländer vornehmlich in Übersee: USA, Lateinamerika, Australien, Neuseeland, Südafrika; weniger Europa). Die zweite Welle setzte 1918 ein und hielt bis in den Zweiten Weltkrieg hinein an (Zielländer zunehmend auch in Westeuropa, v.a. Deutschland, Frankreich und Belgien, sowie Luxemburg und die Niederlande); die dritte Welle setzte sich bei Kriegsende in Bewegung (Zielregionen: Lateinamerika, nach wie vor USA, Kanada und Europa); die vierte Welle kam in den frühen 1960er Jahren mit der Tolerierung von transnationaler Arbeitsmigration durch die jugoslawische Regierung auf, die temporäre Aufenthalte im Ausland zu Erwerbszwecken systematisch zu unterstützen begann, um den Druck auf den einheimischen Arbeitsmarkt zu entlasten. Diese Welle kam letztlich bis zum Zusammenbruch der jugoslawischen Föderation nicht mehr zum Stillstand.7 Die überwiegend typischen Gastarbeitermigrationen dieser Periode in die westeuropäischen Industrieländer waren geplant als Aufenthalte auf Zeit, verstetigten sich dann aber oft durch Familiennachzug und Kettenmigrationen. Erspartes wurde überwiegend in die kroatischen Herkunftsorte und an die erweiterte Familie zurücküberwiesen, in den Bau von Häusern investiert und generell auf Rückkehr angelegt (vgl. Hornstein Tomiü und Ivanda Jurþeviü 2012). Die fünfte Welle schließlich wurde durch die Transformation nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems ausgelöst, schwoll durch die Fluchtmigrationen während der jugoslawischen Nachfolgekriege an, ebbte dann nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen ab; die seit den frühen 1990er Jahren anhaltende ökonomisch und beruflich bzw. zu Ausbildungszwecken motivierte

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Auswanderungen werden bereits seit dem 15. Jahrhundert berichtet. Siehe etwa Länderpräsentation Kroatien von Petar Barišiü (damals Vertreter d. Außenministerium der Republik Kroatien), TAIEX-Workshop in Sarajevo, 13. Oktober 2011, »Emigration Issues in the Western Balkans – joint approach to linking migration and development of the countries of origin«. Wissenschaftliche Beiträge wie etwa von ýizmiü und Živiü unterscheiden vier historische Emigrationswellen aus Kroatien: 1. Spätes 19.. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg (hauptsächlich Übersee); 2. bis Ende des Zweiten Weltkriegs (Übersee und Westeuropa); 3. seit den frühen 1960er Jahren, überwiegend Arbeitsmigration in westeuropäische Länder; 4. kriegsbedingte Fluchtmigrationen der 1990er Jahre in westeuropäische oder Zielländer in Übersee (ýizmiü und Živiü 2005, 8).

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Migrationsdynamik – meist diskutiert als brain drain – hält jedoch bis heute unvermindert an, Rückkehrbewegungen eingeschlossen. Es ist nun zugleich unübersehbar, dass Kroatien in den vergangenen zwei Dekaden auch Zuwanderungen zu verzeichnen hat. Angesichts kontinuierlicher Schrumpfungsprozesse der Bevölkerung werden Zuwanderungen von offizieller Seite zunehmend gutgeheißen, auch wenn letztlich überwiegend ko-ethnische Migrationen und Rückwanderungen aus der Diaspora gemeint sind. Inwieweit diese mit Apellen zur Rückkehr in Verbindung zu bringen sind, die von unterschiedlichen Regierungen seit der Transition an die große, weltweit verstreute kroatische Diaspora8 und ihre bekanntermaßen starke homeland orientation (vgl. Brubaker 2005) gerichtet wurden, lässt sich nur mutmaßen. In wissenschaftlichen Texten und Berichten von politischen Analysten ist wohl dokumentiert, dass der jugoslawische Zerfallsprozess die kroatische Diaspora weltweit für die Unterstützung der Unabhängigkeit und der Staatsgründung mobilisierte (vgl. Božiü 2005, Hockenos 2003, Ragazzi 2009, Sopta 2003; Winland 2005). Der erste Präsident der kroatischen Republik, Franjo Tuÿman, erkannte in der Diaspora eine wertvolle Ressource (Winland 2005: 59-60) und warb unter ihren Repräsentanten für die Versöhnung politisch verfeindeter Lager, sowie für die Rückkehr nach Kroatien, um den eigenen Staat mitaufbauen zu helfen. Tatsächlich bekleideten einige Rückkehrer aus der Diaspora später wichtige Regierungs- und Verwaltungsposten.9 Einige Beobachter suggerieren, dass politische Migranten, emigrées, und auch andere Vertreter der Diaspora ein

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Bei der letzten Volkszählung 2011 wurde die Zahl der in der Diaspora lebenden Kroaten mit 3 Millionen angegeben (ausgenommen der kroatischen Volksgruppen/Minderheiten in Bosnien und Herzegowina (heute ca. 400.000, 1991: 760.852) und in 12 Europäischen Ländern (ca. 350.000) – im Verhältnis zu einer einheimischen Bevölkerung von ca. 4.290.000 (4,4 Mio; EUROSTAT 2013 – Newsrelease Eurostat Commission – STAT/13/100 vom 25/06/2013, http://europa.eu/rapid/press-release_STAT-13-100_en.htm.; [Zugriff 27.12.2013]). Aus Sicht kroatischer Behörden leben also ca. 50% aller Kroaten im Ausland. Das World Bank Migration Factbook 2011 hingegen nennt für die im Ausland lebenden Kroaten die Zahl 753.900; dies wären etwas mehr als 17% der kroatischen Wohnbevölkerung (Ratha/Mohapatra/Siwal 2011).

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Gojko Šušak (Kanada), eingangs Minister für Rückkehr und Einwanderung, später Verteidigungsminister; Ivan Milas (Österreich) Innenminister/Stellvertretender Premierminister; Ivica Mudriniü, Minister für Maritime Angelegenheiten und Kommunikation, später Direktor des Kroatischen Fernsehens, dann CEO der Kroatischen Telekom; etc.

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primordiales Verständnis von Zugehörigkeit und ethno-kultureller Identität kultivierten und in substanzieller Weise zu einem Wechsel im öffentlichen Diskurs und im Selbstbild der kroatischen Gesellschaft sowie zur Enttabuisierung ethnopolitischer Ziele in der frühen Transitionsperiode beitrugen (Winland 2005: 63; siehe auch Hockenos 2003: 11). Bis heute ist die öffentliche Wahrnehmung der Diaspora in Kroatien tief gespalten und verzerrt (vgl. Perica 2011). Während manche idealisierend vor allem auf Erfolgskarrieren im Ausland abheben, verkürzen andere sie auf in ihr wirksame, politisch reaktionäre Kräfte. Das von der ersten Regierung Tuÿman etablierte Ministerium für Rückkehr und Einwanderung – 1996 umbenannt in Einwanderungsministerium – nahm das israelische «Law of Return« als Vorlage für umfassende gesetzliche Regelungen zur Erleichterung der Repatriierung (Barbiü 2008: 7). Ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz konzipierte die Staatsangehörigkeit weitgehend als ius sanguinis und entkoppelte sie von territorialer Zugehörigkeit (vgl. Balalovska/Ragazzi 2011: 7). Trotz vielfacher Änderungen von Zuständigkeiten und Novellierungen von Gesetzen hat sich seitdem an der ethnischen Ausrichtung jeglicher politischer Regelungsversuche mit Blick auf Bevölkerungsentwicklung und Zuwanderung im Wesentlichen nichts geändert.10 In der Tat sind Zuwanderungen bis heute laut Angaben des Kroatischen Statistikbüros zu mehr als 50% ko-ethnische, Heimat- und Rückkehrmigrationen.11 Diese internationalen, ko-ethnischen Migrationsdynamiken tragen einerseits – ähnlich wie kriegsbedingte, interne oder grenzüberschreitende Fluchtmigrationen12 – zur fortschreitenden ethnischen Homogenisierung der kroatischen Bevölkerung bei und können daher als ein Teil des ethno-nationalen Staatsbildungsprozesses verstanden werden, der mit den jugoslawischen staatlichen Zerfallsprozessen einsetzte. Entsprechend wird die Rückkehr aus der Diaspora im öffentlichen Diskurs von den Einen vornehmlich als Beitrag zur demografischen Entwicklung der kroatischen Bevölkerung verstanden oder von den Anderen als ethnonationalistisches Projekt angeprangert. Dass andererseits Kroatien nicht nur aus demografischen Erwägungen auf Zuwanderung

10 Siehe Branko Barbiü 2008, und http://www.osce.org/eea/40846 [Zugriff 27.12.2013]. 11 Zur Diskussion von Typologien und Terminologien vgl. ýapo Žmegaþ 2005. 12 Die Ansiedlung von ko-ethnischen wie auch die Rückkehr von Flüchtlingen (IDPs) sowohl aus benachbarten Ländern wie auch innerhalb Kroatiens waren signifikante Migrations-Bewegungen während und unmittelbar nach den Kriegen; aber sie sind auch heute noch registrierbar.

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angewiesen sein und von ihr profitieren könnte,13 und dass damit die weitere Öffnung der Gesellschaft und eine zunehmende Pluralisierung einhergehen könnte, wird öffentlich noch kaum diskutiert. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre kehrten nun an der Seite von Kriegsflüchtlingen und Vertriebenen sehr unterschiedliche Typen von Remigranten zurück14: es kamen Gastarbeiter nach Eintritt ins Rentenalter, aber auch politisch Exilierte, emigrées, welchen die politische Transition und der einsetzende Demokratisierungsprozess den Weg zur Rückkehr eröffnet hatte. Und auch der Zuzug von Vertretern der zweiten und weiterer Nachfolgegenerationen ehemaliger Auswanderer lässt sich seit Beginn der 1990er Jahre feststellen, von ausländischen oder Doppel-Staatsbürgern mit kroatischen Vorfahren, die ebenfalls die politische Wende und den Wechsel zu einem marktwirtschaftlichen System als Anlass nahmen, ein Leben in Kroatien zu versuchen, oder nach Spuren ihrer kulturellen Herkunft zu suchen. Viele dieser überwiegend jungen Remigranten kamen entweder in den frühen 1990ern zum Studium oder bereits mit tertiärer Ausbildung als sogenannte »Wissensmigranten« nach Kroatien, um einen Beitrag zum Transformationsprozess zu leisten, ihre »außerhalb« bzw. in

13 Die seit der Transformation verzeichneten Zuwanderungen können allerdings die anhaltend negative Netto-Migration nicht wesentlich korrigieren. Die letzte Volkszählung im Jahr 2011 registrierte einen Bevölkerungsschwund von mehr als 150.000 Personen (3,43% der Gesamtbevölkerung) im Zeitraum des letzten Jahrzehnts. 14 Die Heterogenität der kroatischen Diaspora und unterschiedliche Typen kroatischer Auswanderern spiegeln sich auch in den verschiedenen Typen von Remigranten wieder. In einem jüngst erschienenen Artikel hat Ulf Brunnbauer eine Typologie für den gesamten Südosteuropäischen Raum vorgeschlagen (2013, 1-8). Er unterscheidet zwischen politischer/erzwungener und ökonomischer Migration, hebt jedoch hervor, dass diese Typen sich häufig überlappen, ebenso wie zeitliche Kategorien dies tun (saisonale Migration, Migration mit Rückkehrintention, und dauerhafter Emigration). Für den kroatischen Kontext schlagen Rogiü und ýizmiü eine weiter differenzierte Typologie für die historische Periode 1945 bis 1991 vor: (1) politisch motivierte Migration auf Druck bzw. aus Opposition zum politischen Regime (ausländische Staatsbürger nach dem Zweiten Weltkrieg, dann Dissidenten und Regimekritiker, etwa Vertreter des Kroatischen Frühlings); (2) sozio-kulturell motivierte Migration aus dem Wunsch heraus in einer anderen Gesellschaft zu leben (ohne existenziellen Bedrohung), oder in Kontinuität einer Migrationstradition; (3) ökonomisch motivierte Migration zur Sicherung oder Besserstellung der familiären Lebenssituation, oder zum beruflichen Fortkommen. Auch diese vorgeschlagenen Typen überlappen sich (2011: 164-170; vgl. auch Hornstein Tomiü/Ivanda Jurþeviü 2012: 185-192).

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liberalen Demokratien der westlichen Welt und marktwirtschaftlichen Gesellschaften erworbene Kenntnisse zu kapitalisieren und von der Transformation zu profitieren. Sie ergriffen die Chance, sich auf etwas Neues einzulassen, begleitet von Neugierde und oft auch patriotischen Loyalitätsgedanken. Auch wenn diese Gruppe der Rückkehrer wohl einen eher geringen Anteil der seit den frühen 1990er Jahren nach Kroatien Zurückgekehrten ausmacht, sind ihre Potenziale als sogenannte »Agenten des Wandels« gerade für sozio-kulturelle Transformationsprozesse – zumal nach politischen Systemwechseln – nicht zu unterschätzen (vgl. Krauss 2001; Scholl-Schneider 2011; Hornstein Tomiü 2011, 2014; Hornstein Tomiü/Pleše 2014). Ihre Erfahrungen fließen daher auch in diesen Beitrag mit ein. Dieser Gruppe von Wissensmigranten lassen sich außerdem auch jene zurechnen, die noch kurz vor oder nach dem Systemwechsel zu Ausbildungszwecken oder zur beruflichen Weiterbildung ins Ausland gingen und häufig erst viele Jahre später wieder in ihr Herkunftsland zurückkehrten beziehungsweise kehren. Trotz Bemühungen in der ersten Transformationsdekade Statistiken über Zuund Abwanderungen zu führen, gelang es kaum, verlässliche Daten zu erheben, schon allein aus dem Grunde weil keine Unterscheidung zwischen Zuwanderungen, kriegsbedingten Migrationsbewegungen, oder etwa zwischen diversen Migrantentypen vorgenommen wurde.15 Zwischen 1990 und 1998 (Vidak 1998: 58) wurden beispielsweise Zuwanderungen auf 45.967 beziffert, unterschieden nach Herkunftsland bzw. vorangegangenem Wohnort.16 Andere Schätzungen zu

15 Bis heute beruhen statistische Angaben neben den alle zehn Jahre erhobenen Zensusdaten auf Meldekarten, die beim Innenministerium geführt werden, die bei Wohnsitzmeldung in Kroatien auszufüllen sind. 16 Von diesen Daten ausgenommen sind Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina, der Ehemaligen Sozialistischen Republik Jugoslawien (dann Serbien, Kosovo und Montenegro), Slowenien und Mazedonien. Die Daten weisen bei genauerer Betrachtung auf ein Anschwellen der Rückkehr und Zuwanderung nach Kroatien im Jahr 1992 hin; ca. 50% der Zuwanderungen wurden im Übrigen aus Deutschland registriert. Allerdings ist unklar inwiefern diese Zuwanderungen permanent waren, wie viele Rückkehrer/Zuwanderer Kroatien mittlerweile wieder den Rücken gekehrt haben, oder aber doppelte Wohnsitze führen und zwischen Kroatien und einem anderen Aufenthaltsland pendeln, wie etwa bei ehemaligen Gastarbeitern nach dem Eintritt ins Rentenalter nicht unüblich ist. Dass die Zahl der registrierten Rück- und Zuwanderungen 1992 vergleichsweise zunahm wurde u.a. damit zu erklären versucht, dass eine Rückkehr im Durchschnitt zwei Jahre praktischer Vorbereitung bedürfte, besonders wenn ein Umzug aus Übersee zu organisieren sei (Vidak 1998: 67). Diese Erklärung kann je-

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Rückwanderungen für die erste Hälfte der 1990er Jahre reichen etwa von 5.000 bis zu 55.000 (Barbiü 2008: 7). Es fehlen Daten oder überhaupt Ansätze, die ermittelten, wie viele Rückkehrer tatsächlich auch geblieben oder weitergezogen oder an den Ursprungs-/Ausgangsort zurückgekehrt sind. Wissensmigranten, die vor allem seit der Jahrtausendwende als eigene Gruppe und Kategorie in der Diaspora-Politik des kroatischen Staates direkt angesprochen und zu Reinvestitionen, Wissenstransfers und auch zur Rückkehr angehalten werden (vgl. Hornstein Tomiü und Pleše 2014), fielen in den 1990er Jahren weitgehend – trotz beklagten brain drains – aus der Diskussion heraus.17 Insgesamt betrachtet lässt sich sagen, dass Rückkehr/Remigration im kroatischen Falle im ersten Transformationsjahrzehnt und auch danach wohl weit weniger realisiert wurde als angenommen. Erst allmählich werden die Diasporaund ansatzweise eine allgemeine, nachhaltige Migrationspolitik überdacht. Die Stimmen jener allerdings, die eigene Migrationserfahrungen besitzen, und zumal die von Zurückgekehrten wurden bislang kaum zur Kenntnis genommen. Vereinzelt wurde über die Rückkehr von Gastarbeitern, und auch von politischen Emigranten berichtet. Für aus der Diaspora zurückgekehrte Unternehmer, oder für Intellektuelle und Wissenschaftler sowohl der ersten als auch der zweiten Migranten-Generation, für Wissenseliten also, ließ sich dies bis jüngst nicht feststellen.18 Diese sollen daher in diesem Beitrag besonders in den Vordergrund gerückt werden.

doch nicht gänzlich zufriedenstellen, zieht man in Betracht, dass ein beträchtlicher Teil der Zuwanderungen aus dem europäischen Ausland (insbesondere aus Deutschland, s.o.) verzeichnet wurde. Sicher aber ist, dass – von welchem Ausgangsort auch immer – die Auflösung von Haushalten, der Berufswechsel, der Schulwechsel von Kindern, die Wohnsitzsuche an einem neuen Wohnort vor allem eines erfordert: Zeit. 17 Es wird immer wieder auf die Schwierigkeit hingewiesen, zuverlässige Daten über Migrationsbewegungen vor allem von Wissensmigranten zu erheben. Besonders dieser Migrantentypus neigt zu zirkulären Migrationspraktiken und zu einem multilokalen, oft transnationalen Lebensmodus, der sich statistischen Ermittlungsversuchen entzieht (s. Kelo/Wächter 1995). 18 Ein erster wissenschaftlicher Band zur Rückkehr nach Kroatien, der auch auf Gesprächen mit Zeitzeugen beruhende Berichte enthält, ist Anfang 2014 erschienen (ýapo/Hornstein Tomiü/Jurþeviü 2014; u.a. mit einem Beitrag zur Rückkehr politischer Emigranten aus Kanada von Marin Sopta).

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T SCHECHISCHE R EPUBLIK Auch für die Tschechische Republik bzw. die Tschechoslowakei lässt sich die Emigration in mehreren Wellen beschreiben, und auch hier kann eine Tendenz zur Auswanderung bereits vor dem 19. Jahrhundert beobachtet werden. Im Vergleich zu Kroatien jedoch scheinen die Beweggründe auch bei den seit der Frühen Neuzeit stattfindenden Emigrationen häufig politischer oder religiöser Art zu sein, sodass Exil und Emigration im böhmisch-mährischen Kontext deutlich mit Zwang konnotiert sind.19 Im 20. Jahrhundert gab es vier Wellen der Auswanderung, wobei die beiden ersten im Kontext der beiden Weltkriege stattfanden, die beiden weiteren dann nach dem kommunistischen Umsturz 1948 und seit der Zeit des sogenannten Prager Frühlings 1968. Die letzte Welle dauerte mit Höhen und Tiefen über mehrere Jahre an und umfasste eine große Zahl an meist höher gebildeten Emigranten. Für die Emigrationswellen seit 1948 werden die Emigranten und Ausgebürgerten der Zeit des Eisernen Vorhangs auf insgesamt etwa 260.000 geschätzt (Nešpor 2002: 40-47). Bevorzugte Ziele der Emigranten waren die westlichen Nachbarländer Deutschland, Österreich und die Schweiz, aber auch in Kanada, den USA und zahlreichen weiteren Ländern haben sich tschechische Diaspora-Gemeinschaften gebildet. Die für Kroatien und zahlreiche andere postsozialistische Staaten festgestellte fünfte Welle der Emigration nach der Wende, im Zuge und auch in Folge der Kriege im ehemaligen Jugoslawien, oder auch noch nach der EU-Osterweiterung, – im tschechischen Fall nach der sogenannten Samtenen Revolution – ist in Tschechien weniger stark ausgeprägt und erst langsam beginnt man sich im Land auch auf wissenschaftlicher und politischer Ebene mit dieser bzw. den Möglichkeiten der Rückkehr zu beschäftigen (vgl. Brouþek/Grulich 2014). Im Gegenteil konnte das Land nach 1989 eine positive Migrationsstatistik aufweisen, wobei es sich hierbei wohl auch überwiegend um ko-ethnische Migration handelte (Nešpor 2003: 10).20 Das bedeutet,

19 Allerdings wird im Tschechischen zwischen beiden Begriffen streng unterschieden und sie dienen auch der Abgrenzung innerhalb der Diaspora bzw. unter den Rückkehrern. Die 48-er »Exilanten« grenzen sich von den aus ihrer Sicht aus ökonomischen Beweggründen gegangenen »Emigranten« nach 1968 ab, vgl. dazu Scholl-Schneider 2011: 53-54). 20 Den größten Teil der ko-ethnischen Migranten machten allerdings diejenigen aus, die in diesem Text außer Acht gelassen werden: Die Rückkehrer aus dem Osten, v.a. der Ukraine, Belarus und Rumänien. Hierbei handelte es sich um bereits im 19. Jahrhundert ausgewanderte Tschechen, die sowohl nach dem Zweiten Weltkrieg als auch nach 1989 »repatriiert« wurden. Im Gegensatz zur Gruppe der aus dem Westen zurückge-

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dass es eine beachtliche Anzahl an Menschen gegeben haben muss, die unter den veränderten politischen Umständen nach 1989 den Weg zurück in die Heimat angetreten sind – wer waren diese Personen und auf welche Situation stießen sie? In Tschechien war es nach dem Systemwechsel zu einem ausgeprägten Elitenvakuum gekommen. Dieses wurde verstärkt durch eine strenge Gesetzgebung zur Vergangenheitsbewältigung, die in Form des sogenannten Lustrationsgesetzes von 1991 die alten Eliten weitestgehend von Führungspositionen ausschloss.21 Zudem spaltete sich das Land 1993 in zwei selbstständige Staaten, sodass sämtliche ehemals föderal organisierten Aufgaben doppelt verteilt werden mussten, wodurch zahlreiche neue Ämter entstanden, die geschultes Personal benötigten. Anders als man vermuten könnte, griff man jedoch weniger auf die Emigranten im Sinne eines Elitenreservoirs zurück. Und anders als im Falle Kroatiens sprach kaum je ein Politiker öffentlich einen Rückruf aus, keines der Ministerien befasste sich mit der Rückgewinnung der Diaspora, und die Gesetzgebung hinsichtlich Restitution und Rückgewinnung verlorener Staatsbürgerschaften gestaltete die Situation für rückkehrwillige Emigranten zunächst keineswegs attraktiv. Im Gegenteil: Eher schlug denen, die die Rückkehr dennoch in Angriff nahmen, eine Mischung aus Neid, mangelndem Vertrauen und Unwissen entgegen. Diese Reaktion erklärt die Historikerin Marita Krauss am Beispiel der deutschen Nachkriegsremigration mit dem Vorgang der Projektion und sie scheint auch hier zu greifen – das Verlassen der »Volksgemeinschaft« bzw. des »Kollektivs« hatte ähnliche Züge und die Daheimgebliebenen mussten ihre Entscheidung, nicht emigriert zu sein, durch die Konfrontation mit den Rückkehrern auch vor sich selbst vertreten – da lag es nah, die Selbstvorwürfe, Ängste und Enttäuschungen auf andere zu projizieren (vgl. Krauss 2001b: 117; Krauss 1998). Hinzu kommt wohl noch ein großes Missverständnis: Durch die jahrzehntelange Isolation des Landes wirkte die kommunistische Propaganda über die »Landesverräter« lange nach, man warf ihnen vor, es im Westen gut und leicht gehabt zu haben, während die Menschen im Land litten.22 Die Rückkehrer wurden also als doppelte Profiteure betrachtet, wenn sie mit westlicher Rente

kehrten ist diesen bereits vermehrt wissenschaftliches Interesse entgegengebracht worden, vgl. Uherek/Valášková/Brouþek 1997, Valášková 1992, Secká 1992. 21 In Kroatien wie im gesamten ehemaligen jugoslawischen Raum hat Vergleichbares nicht stattgefunden. Tatsächlich beherrscht dort eine weitgehende Kontinuität von Eliten das post-sozialistische Geschehen. 22 Ähnliche Muster treten auch im öffentlichen Diskurs in Teilen der kroatischen Gesellschaft bis heute zutage.

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und westlichem Auftreten zurückkamen und – mit diesem Kapital ausgestattet – offensichtliche strategische Vorteile besaßen. Doch diese scheinbaren Vorteile mussten erst einmal einen Boden finden, auf dem sie sich entfalten konnten. Wer etwa im Prag der 1990er Jahre eine Wohnung auf dem freien Markt suchte, hatte es schwer und musste »Ausländerpreise« zahlen, wie es Remigranten berichteten. Anders als etwa kroatische Gastarbeiter hatten politische Emigranten und emigrierte Bildungseliten23 nicht die Möglichkeit gehabt, ihre Netzwerke im Land aufrecht zu erhalten,24 denn der Schritt der Emigration bzw. die zahlreich erfolgten unfreiwilligen Ausbürgerungen bedeuteten einen radikalen Schnitt, der höchstens im Zuge einer durch das kommunistische Regime ausgesprochenen Amnestie Ende der 1960er Jahre für einige reversibel war. Auch in der Politik hatten zunächst einmal diejenigen den Vorsprung, die sich im Land gegen das alte Regime gewendet hatten. Hier und da engagierten sie Remigranten für ihre Teams, so insbesondere der erste Staatspräsident nach 1989, Václav Havel, dessen Beraterstab überwiegend aus Remigranten bestand. Der Soziologe Ilja Šrubar bezeichnet diese Art der Rekrutierung als »Zufallseliten« (Šrubar 1998: 25) – hier gab es für die Rückkehrer tatsächlich Chancen. Aber je mehr sich die Politik im Zuge der 1990er Jahre professionalisierte und internationalisierte, desto mehr schwand der Einfluss der Dissidenteneliten und desto schwieriger gestaltete sich der politische Wettkampf für sie. Um die gut 20.000 in den ersten Jahren nach 1989 aus dem Westen zurückgekehrten Emigranten ist es inzwischen leise geworden. Selten nur waren sie in den Schlagzeilen, noch seltener im Fokus der Forschung (vgl. Nešpor 2002, Krcmar 2003, Heitlinger 2004, Scholl-Schneider 2011). Viele von ihnen, vor allem im politischen und öffentlichen Bereich, haben wichtige Kulturtransfers geleistet, doch taten sie dies weniger als Remigranten denn als ehemalige Dissidenten oder als möglichst »normale« Tschechen (hierzu Scholl-Schneider 2011). Sich als Remigranten zu bezeichnen oder gar bezeichnet zu werden, ähnelte eher einem Makel.25 So haben die letzten beiden unterlegenen Kandidaten für das Amt des tschechischen Staatspräsidenten beide sicherlich von ihren Erfahrungen im Ausland profitiert, aber im Wahlkampf wurde diese Zeit ins Negative gedreht, zum Anlass für die unterschiedlichsten Vorwürfe – etwa der Geheimdiensttätigkeit – genommen und bis hin zu Fragen nach der Staatsbürgerschaft

23 Dies gilt auch für Kroatien, als es noch ehemalige jugoslawische Teilrepublik war. 24 Auf die Bedeutung von Netzwerken auch im Kontext von Remigration hat ebenfalls Fenicia in diesem Band hingewiesen. Den bedeutenden Stellenwert informeller Netzwerke betonen auch Sommer/Gamper in diesem Band. 25 Vergleiche hierzu die Ausführungen weiter unten zu Strategien der Anpassung.

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potenzieller First Ladies thematisiert. Wer hier nach westlichen Spielregeln auf das Spielfeld zog, der bekam erst einmal die Regeln zu spüren, die von Isolation, Seilschaften und einer guten Portion Nationalismus geprägt waren. Ähnliche Erfahrungen werden auch aus dem kroatischen Kontext berichtet.

Z UGÄNGE

ZU

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Bevor wir nun die Remigranten selbst zu Wort kommen lassen und einen Einblick in deren Handlungs- und Deutungsmuster gewähren, sollen einleitend die methodischen Hintergründe, Voraussetzungen und Grenzen dieser Analyse offengelegt werden. Zunächst muss erneut betont werden, dass Migrationstypen wie die Remigration sich dem Zugriff von Statistikern und Demografen weitgehend entziehen und Kenntnisse über sie somit vor allem aus qualitativer Forschung, Medienberichten oder persönlichen Erzählungen gewonnen werden können.26 Der von uns gewählte Weg qualitativer Interviews, den wir für unsere Beschäftigung mit dem Thema gleichwohl durch weitere Quellen wie etwa autobiografische Texte ergänzen, ist jedoch wie jede Kritik an Statistiken ebenfalls unter quellenkritischen Gesichtspunkten zu werten. So ist es durchaus von Bedeutung, dass wir als deutsche Wissenschaftlerinnen im ausländischen Kontext forschen – und dies überwiegend nicht in unserer Muttersprache tun.27 Selbst ohne die sprachlichen Tücken solcher Interviewsituationen zu berücksichtigen, muss hier bedacht werden, dass es sich um unsymmetrische Befragungssituationen handelt, die durchaus Einfluss auf die Inhalte der Gespräche nehmen können. Wenn eine Person nach vielen Jahren im westlichen Ausland zurückkehrt oder – als Vertreterin der zweiten Generation – sich überhaupt erstmals dauerhaft niederlässt in einem Land, das entweder nur noch unter veränderten oder eben unter weitgehend unvertrauten Spielregeln bespielbar ist, so fühlt sie sich der ihr gegenübersitzenden Wissenschaftlerin, die eigene Erfahrungen mit Ausländerbehörden besitzt oder mit Alltagsroutinen – wie etwa noch kaum praktizierter Mülltrennung – oder die Befremden über Verhaltensweisen empathisch teilen kann, die noch aus der sozialistischen Zeit erhalten geblieben sind, wo-

26 Siehe hierzu Hinweise vor allem auch auf die Rückkehr von Vertretern der zweiten und weiterer Nachfolgegenerationen ehemaliger Auswanderer (King/Christou 2010: 167). 27 Sämtliche hier angeführten Zitate aus den Interviews sind, sofern sie nicht in Ausnahmefällen auf Deutsch geführt wurden, von den Verfasserinnen ins Deutsche übersetzt worden.

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möglich näher als den eigenen Landsleuten. Schnell kann es im Gespräch so zu einer »Komplizenschaft28« kommen – das ein oder andere Mal haben wir dies beobachten können. Plötzlich grenzt man sich von »den Kroaten« oder »den Tschechen« ab, stereotypisiert kulturelle Unterschiede, wenngleich das Gegenüber in der Gesprächssituation doch als Teil der jeweiligen Gesellschaft gesehen wird. Ein vergleichender Blick auf die (spärliche) post-sozialistische Remigrationsforschung allerdings zeigt, dass es häufig Forscher/innen mit dem Blick von außen sind, die sich der Thematik annehmen (vgl. etwa Fox 2009, Klein-Hitpaß 2011, Klekowski von Koppenfels 2009, Göler 2011 u.a.), oder aber sich aus dem Ausland oder zumindest in transnationaler Zuwendung mit der Rückkehr in die Herkunftsländer beschäftigen (Galasinska 2010, Anghel 2013, Vlase 2013 u.a.).29 Auch die Auswahl an interviewten Rückkehrern ist zu berücksichtigen, handelt es sich doch in beiden Samples um teilweise in der Öffentlichkeit stehende, überwiegend hoch gebildete und also den Bildungseliten zuzurechnende Personen, was freilich auch an deren grundsätzlicher stärkerer Exponiertheit und Prädisposition zur Sprecherrolle liegt.30 Demografische Gründe verkleinern die Gruppe ein weiteres Mal: Rückkehrer aus der Nachkriegswelle (Zweiter Weltkrieg) sind heute selten noch am Leben, nur sehr wenige von ihnen konnten uns noch Auskunft geben. Und mit Blick auf Rückkehrer aus der ersten Generation sind es überwiegend Männer, die in unserem Fokus stehen; in der zweiten Generation hingegen kommen etwa so viele Frauen wie Männer zur Sprache.

28 Was allerdings auch bewusst und forschungsstrategisch eingesetzt werden kann, vgl. Lucius-Hoehne/Deppermann (2002). 29 Das Projekt »Remigration and Transformations in post-socialist European Regions« (www.remigrations.pilar.hr), das die Autorinnen gemeinsam mit Robert Pichler (Graz) leiten, versammelt Beiträge von Forschern, die einen Blick »von außen« auf Remigrationsdynamiken in bestimmten nationalen und regionalen Kontexten werfen (Scholl-Schneider, Pichler, Schmidinger, Bernard) aber auch solche, die eine Binnensicht einnehmen (Dobruska, ýiubrinskas, Božiü, mit Einschränkung Hornstein Tomiü, die als deutsche Staatsbürgerin zwar auch »von außen« auf die Geschehnisse blickt, aber dennoch mit kroatischem Lebensmittelpunkt sich dauerhaft vor Ort und also »innen« befindet). 30 Trotz des in etlichen Fällen hohen Bekanntheitsgrades unserer Interviewpartner wollte nicht jeder mit vollem Namen genannt werden. Die Interviews liegen zwar alle in autorisierter Form vor (und können bei den Verfasserinnen eingesehen werden), wir haben uns dennoch in diesem Beitrag entschieden, unsere Gesprächspartner zu anonymisieren.

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Unsere Interviews führten wir mit biografischem Fokus und ohne festen Leitfaden. Diese halbstrukturierte Art des Gesprächs bietet sich an, will man die Erzähler selbst narrative Prioritäten setzen lassen und die Erinnerungen nicht allzu sehr lenken. Bestandteil des Interview-Transkriptes sind immer auch ausführliche ethnografische Protokolle der Gesprächssituation, die für die Interpretation (zumal spätere Sekundäranalyse) von immenser Bedeutung sind und in die Analysen einfließen. Unser Material, das über viele Jahre entstanden ist und an dieser Stelle nicht zum ersten Mal einer Analyse unterzogen wird, haben wir bislang auf unterschiedliche Arten interpretiert: In biografischen Fallstudien, als Querschnitts- und Themenanalysen, unter Verwendung von Idealtypen in der biografischen Forschung etc. Wir haben jedoch bisher noch nicht vergleichend auf dieses umfangreiche Material geschaut; eine Themenanalyse des gemischten kroatisch-tschechischen Quellenkorpus unter einer bestimmten Fragestellung wird hier erstmals vorgenommen. Im Folgenden werden wir unter Rückgriff auf die einleitend erläuterten Überlegungen zu Bourdieus Spielbegriff und seiner Problematik im Fall von Remigration – und auch inspiriert von literarischen Texten wie etwa von Milan Kunderas Roman »Die Unwissenheit« (2002), Catalin D. Florescus »Der blinde Masseur« (2003), Saša Stanišiüs »Wie der Soldat das Grammofon repariert« (2006) oder Norman Maneas »Die Rückkehr des Hooligan« (2004) – eine Analyse der Interviews vornehmen, die aufzuzeigen vermag, inwiefern die post-sozialistische Rückkehr ein Heim- oder möglicherweise doch eher ein Auswärtsspiel war.

K ONFRONTATIONEN

AUF DEM

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»Vielleicht ist für Dich die Zeit während der Emigration stehen geblieben. Aber sie denken nicht mehr so wie Du«, bekommt der Protagonist Josef in Kunderas Roman erklärt, der nach Jahren des Exils in Dänemark nach Tschechien zurückkehrt (Kundera 2002: 143-144). Das Denken der Daheimgebliebenen hat sich verändert, und auch deren Verhaltensmuster. Was ist es, das den Remigranten als fremd erscheint? Das sich nicht mehr so darstellt, wie es dies zu jener Zeit tat, als das Land verlassen wurde? Eine aus Kanada zurückgekehrte Juristin kann im Gespräch darüber lachen, dass die Beamtin, die ihr einen tschechischen Personalausweis ausstellen sollte, sich mit ihrem Kollegen beraten musste. Durch die geöffnete Tür hörte sie sie reden: »Hier ist irgendso'n Weib, das behauptet […]« – unvorstellbar, erzählt sie rückblickend, dass in Kanada ein Beamter in ihrer Anwesenheit derart über sie gesprochen hätte. Schmerzhafter sind diese Konfrontationen freilich, wenn sie konkrete Folgen mit sich bringen, wie im Fall

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von einer ebenfalls aus Kanada zurückgekehrten Tschechin, die sich bei der Rückkehr im Zuge der Restitution des elterlichen Besitzes finanziell von ihren tschechischen Geschäftspartnern ausgenutzt fühlte. Sie hätte gedacht, Fähigkeiten zu bringen wäre erwünscht. »Aber das Gegenteil war der Fall: Alles, was sie von mir wollten, war mein Geld […].« Das Motiv des Ausgenutzt- oder Betrogen-Werdens taucht auch im Gespräch mit kroatischen Rückkehrern wiederholt auf. Eine junge Anwältin, die in Deutschland als Kind von zu Wohlstand gekommenen Gastarbeitern aufwuchs und bald nach dem Berufseinstieg ein Arbeitsangebot in Kroatien annahm, und deren Eltern ebenfalls wieder ihren Lebensmittelpunkt nach Kroatien zurückverlegt haben, erinnert sich an den Versuch des Vaters, in der Frühphase der Privatisierung ein Unternehmen in seiner Heimatregion aufzuziehen: »Da ist mein Vater natürlich direkt angesprochen worden von irgendwelchen Politgrößen: ›Hier, Diaspora, du bist da, du hast Geld, komm' her, investiere mal in deine Heimat!‹ Das hat meinen Vater, weil er in Wahrheit nur der kleine Junge vom Dorf ist, das hat ihn wahnsinnig gepusht und motiviert hier viel Geld reinzustecken, das er alles verloren hat, weil das alles nicht funktioniert hat so mit der Privatisierung. […] Wenn ich ihn heute frage, das ist ein wunder Punkt, da sagt er nur: `Diese ganzen Politiker haben mich übers Ohr gehauen`.«

Die Erinnerung an entsprechende Erlebnisse führt dazu, dass die Remigration – zumal in eine Gesellschaft im Umbruch – als beschwerlich beurteilt wird.31 Um ein leichtes Spiel kann es sich nicht gehandelt haben. Ein tschechischer Journalist, der nach deutschem Muster in Prag eine Wochenzeitung gründete, erklärt: »Die Remigration ist schwieriger als die Emigration. Denn Deutschland ist eine funktionierende Struktur, da muss man nur ein wenig mehr arbeiten und sich umsehen, aber man fällt in eine funktionierende Gesellschaft, und wenn man sich ihr anpasst, dann ist man akzeptiert. Aber es zählen dort Verträge, das Wort […] hier zählt bis heute nichts.«

Ein immer wieder zitiertes Problem scheint die mangelnde Achtung des Gesetzes, von Absprachen, aber auch von öffentlichen Gütern wie privaten Eigentums zu sein, die den Rückkehrern bei den Daheimgebliebenen ins Auge fällt und bitter aufstößt.32 Der tschechische Ethnologe JiĜí Holý erklärt das in Tschechien

31 Siehe hierzu auch die Beiträge von Radenbach/Rosenthal sowie Fenicia in diesem Band. 32 Siehe hierzu auch Sommer/Gamper in diesem Band.

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verbreitete Sprichwort: »Wer nicht klaut, beklaut seine Familie« damit, dass der hohe Anteil an Straftaten aus dem Bereich Entwendungen sozialistischen Besitzes nicht verfolgt worden sei. Man vermute, dass beispielsweise ein nicht zu unterschätzender Teil an Baumaterial für private Häuser aus nicht identifizierbaren Quellen stamme. Tschechische öffentliche Toiletten hätten den Ruf besessen, dass dort weder Handtücher, noch Seife, noch Toilettenpapier vorhanden gewesen seien, weil sie regelmäßig verschwanden, nachdem sie dort platziert worden waren (Holý 2001: 29-30). Dass diese Angewohnheit fortbestand, zeigen die entsetzten Äußerungen einiger Remigranten zum Thema Verantwortung – auch Verantwortung gegenüber Besitz – von Mitarbeitern. Getreu dem oben zitierten Sprichwort hätte die Einstellung, dass alles dem Staat und somit dem Volk gehört, den Sozialismus überdauert und die Anfänge der Etablierung eines privatwirtschaftlichen Systems damit eklatant erschwert. Gerade wer in den ersten Jahren nach der Rückkehr in der Privatwirtschaft tätig war, litt sehr konkret unter der Kontinuität dieser Einstellung: »Die Leute haben mich ausgeraubt […] Natürlich, sie haben mir viel geklaut,« erklärt ein Verleger: »Als ich hierherkam und mir jemand etwas gesagt hat, dann habe ich ihm automatisch geglaubt; wobei Sie aber den Leuten hier nichts glauben dürfen und wenn Sie ihnen glauben, dann sind Sie dumm.« Aber auch in anderen Berufskontexten wird die Kontinuität sozialistischer Strukturen und Verhaltensmuster bemerkt und als Blockade von Veränderungen und Hemmnis von Eigeninitiative und Eigenverantwortung kritisch beurteilt. So erläutert ein nach zehnjährigem Auslandsaufenthalt aus dem westeuropäischen Ausland nach Kroatien zurückgekehrter Naturwissenschaftler: »Das ist immer noch ein Problem in kroatischen akademischen Institutionen: Die Hierarchien und die alten, ungeschriebenen Gesetze sind wichtiger als objektive Kriterien«. Er bemängelt weiterhin ein Rekrutierungssystem, das meritokratische Aspekte kaum berücksichtige. Stattdessen, zumindest bis noch vor einigen Jahren, seien Beziehungen und politische Zugehörigkeiten entscheidende Rekrutierungskriterien gewesen: »Das Denken im alten Stil herrscht hier noch immer vor; aber das ändert sich jetzt. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass dies in den letzten zwei bis drei Jahren begonnen hat, sich zu verändern«. Und dennoch bilanziert er: »Wir sind noch immer zu stark unter dem Einfluss der alten sozialistischen Zeit, der sozialistischen Denkweise«. Als Beispiel führt er Entscheidungsprozesse an: »Das ist ziemlich drastisch in öffentlichen Institutionen wie dieser. Über fast alles wird abgestimmt. Wissen Sie, wir haben ein Treffen der Abteilung, wir stimmen ab. Ich habe fast überhaupt keine Entscheidungsgewalt (als Chef der Abteilung; CHT). Und dann ge-

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hen wir in den Institutsrat, und dann stimmen wir wieder über alles ab. Sie wissen, wie das läuft. Dies ist die Art, den Status Quo aufrecht zu erhalten. Auf diese Weise bleiben die Interessen aller gewahrt, und so bleibt es. Da gibt es keinen Raum für Veränderungen – die wir bräuchten, speziell in unserer Institution.«

In Arbeitskontexten wird immer wieder auch auf Autoritätshörigkeit als hervorstechendes Merkmal hingewiesen – etwa in der Ministerialbürokratie – sowie auf mangelnde Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen oder selbstinitiativ zu agieren. Erfahrungen mit bürokratischen Abläufen und Verhaltensweisen innerhalb Behörden kommen überhaupt häufig zur Sprache; starre und inflexible Strukturen und Abläufe sowie auch Machtgebaren fallen auf; als Antragstellender befinde man sich in der Rolle eines fremden Bittstellers, der sich Routinen anzupassen, oder vielmehr: zu beugen und keine besonderen Ansprüche zu stellen habe. So erinnert sich eine Vertreterin der zweiten Generation, die mit Ende Dreißig nach Zagreb umsiedelte um eine Unternehmensberatung aufzubauen, »[…] dass ich 48 Mal irgendwo hinlaufen muss um etwas zu klären; wir machen das hier anders, damit müssen Sie erst mal zurechtkommen und das akzeptieren – diese Sturheit! Und weil ich da von draußen gekommen bin, denken sie alle, ich hätte mit dem silbernen Löffel gegessen.«

Ein anderer Vertreter der zweiten Generation, der bereits zu Beginn seiner Studienzeit den Umzug nach Kroatien wagte, erinnert sich an Lernprozesse, die er zu durchlaufen hatte, um nicht nur sprachliche und kulturelle Wissensdefizite – er spricht von »Mentalitätsdifferenzen« – aufzuarbeiten, sondern auch ein systemadäquates Verhalten einzuüben: »Die Anfangszeit war ungemein spannend und auch sehr schwierig. […] Da lief also alles zusammen in Zagreb für mich, in dem Sinne war das ungemein spannend. Aber es war auch sehr schwierig, denn ohne eine kroatische Schulausbildung – hier dann vor allem in einem Jura-Studium, das ja sehr sprachgebunden ist, sich zurechtzufinden, das war nicht einfach. […] Man musste natürlich Anschluss finden an die Gesellschaft hier, und mit der Mentalität, die man doch in Deutschland entwickelt hat, benimmt man sich anders, denkt man anders, und insofern ist es nicht einfach gewesen am Anfang.«

Konfrontationen noch weit persönlicherer Art mit dem alten System erlitten einige der Remigranten jedoch auch: Der ehemals ausgebürgerte Schriftsteller JiĜí Gruša, der zum Zeichen der Loyalität gegenüber seinem Heimatland die im Exil

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erlangte deutsche Staatsbürgerschaft wieder abgibt und sich – auf dem Sprung, Botschafter in der Bundesrepublik zu werden – die tschechische wiedergeben lassen möchte, trifft bei seiner Wiedereinbürgerung eben jenen Beamten wieder, der ihm damals die Staatsbürgerschaft entzogen hatte (Gruša 2002: 231-232). Auch andere treffen auf Personen, die in der Vergangenheit für das Schicksal des Landes und damit indirekt auch für das Emigrationsschicksal der Remigranten verantwortlich waren. Ein emigrierter tschechischer Historiker berichtet, dass er seinem Vorgänger bei der Schlüsselübergabe die Hand weder reichen konnte noch wollte.

ALLEIN

ODER IM

T EAM

SPIELEN

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Beschränkte das Misstrauen von Remigranten, die aus politischen Gründen die ehemalige Tschechoslowakei verlassen hatten, gegenüber den Systemtreuen des alten Regimes die Gruppe möglicher neuer »Spielpartner« im jungen tschechischen Staat, so war andererseits die Gruppe der alten »Spielkameraden« nicht immer mehr einsatzbereit. Die Jahre im Ausland ließen die alten Netzwerke als nicht mehr reaktivierbar erscheinen, Freundschaften waren eingeschlafen oder hatten unter den Einwirkungen von Spitzelei, Denunziation und geheimer Staatspolizei gelitten. Die Remigranten waren oftmals zu Beginn ganz auf sich gestellt, standen allein da. Familien waren auseinandergerissen; bis hin zur Zerstörung von Grabstätten hatte das Regime alles dafür getan, die »Landesverräter« zu isolieren und endgültig der Heimat zu berauben. Eine Rückkehr in ein System, das stark durch Netzwerkstrukturen geprägt war (vgl. Roth 2007), musste jedoch ein gut geplanter Spielzug sein. Klientelstrukturen und Vetternwirtschaft werden von tschechischen und auch von kroatischen Remigranten als Missstand benannt und als Nachwirkung sozialistischer Strukturen identifiziert. Eine tschechische Remigrantin etwa leidet darunter, dass sie immer wieder von Bekannten Lebensläufe zugesteckt bekommt, weil diese dächten, sie könne Ihnen eine Arbeit beschaffen. Offen würde man ihr sagen, sie solle doch nur ihren Mann, den Senator, bitten, irgendwo anzurufen, dann würde das schon klappen. Für den zurückgekehrten Historiker, der nach dem Umbruch erster Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in Prag wurde, waren die Netzwerkstrukturen die größte Herausforderung. »Du hilfst mir, ich helfe Dir, eine Hand wäscht die andere« – damit habe er täglich zu tun gehabt, und das zu verändern brauche Zeit. Eine kroatische Remigrantin aus Kanada erinnert sich an den mühsamen Prozess ihrer Eingliederung ins soziale Leben und vor allem in berufliche Strukturen:

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»In Kroatien, glaube ich, hängt viel davon ab […] du musst wirklich Leute kennen […]; die richtigen Leute in den richtigen Positionen. Es macht oft nichts aus, denke ich, was du weißt, oder was du gemacht hast. Ich habe das Gefühl, dass das ein wirklicher Nachteil ist in Kroatien.«

Die Transformation hat die dauerhafte Wirksamkeit solcher Netzwerkstrukturen nicht etwa abgebaut, sondern im Gegenteil zu gewissem Maße noch befestigt. Eine als Anwältin tätige Remigrantin der zweiten Generation hebt die Bedeutung von Netzwerken und sozialen Kapitals für die Akquise von Mandaten hervor: »Für mich Mandate zu akquirieren ist bei kroatischen Mandanten fast unmöglich, weil die wiederum bringen mir ein gesundes Misstrauen entgegen«. Der Aufbau von Netzwerken brauche Zeit, aber Kontakte entstünden eben ganz wesentlich auch auf der Basis bereits bestehender Kontakte. Sie bringt die Sprache aber auch auf patriarchale Strukturen, als Frau einem männlichen potenziellen Klienten ein Geschäftsessen vorzuschlagen würde von den »Platzhirschen in Zagreb« gern falsch verstanden.33 Auch ihr deutscher Akzent könne hinderlich sein, genauso wie ihre stärkere Vernetzung in der deutschsprachigen Gemeinschaft; »dass ich hier zumeist mit Deutschen und Österreichern […] und die Kroaten auf der anderen Seite sind. […] Da bin ich dann doch begrenzt in meinen Möglichkeiten; […] man sucht sich Anwälte, man kennt sich, das geht dann schon über Empfehlungen; man sucht sich Anwälte, die hier schon etabliert sind; die sagen dann, ich wüsste gar nicht, wo ich angreifen sollte.«

Andere Rückkehrer der ersten Generation wiederum konnten bisweilen auf noch existierende Netzwerke zurückgreifen, was ihre Reintegration dann immens erleichterte. In Tschechien etwa aktivierten gerade jene, die in den 1970er Jahren ausgebürgert worden waren und oft bereits einen hohen Status im Land innehatten – wenn auch als vom Regime gering geschätzter Dissident – ihre alten Netzwerke, die sie oft jahrelang über geheime Kanäle oder ein Engagement in Medien wie Radio Free Europe aufrechterhalten hatten. Diese Personen stellten aber die Ausnahme dar, wurden als Zufallseliten (Šrubar 1998: 25) von den neuen Eliten »zurückgerufen« und bekamen so einen Platz auf dem Spielfeld zugeteilt. Bourdieu ordnet solche Mechanismen des »gegenseitigen Kennens und Anerkennens« (Bourdieu 1992: 63) dem sozialen Kapital zu. Strategisch eingesetzt, könne es nebenbei auch die anderen Kapitalarten eines Akteurs vermehren (ebd.:

33 Zur Erfahrung der Kontextspezifik von Geschlechterrollen im Migrationsverläufen vgl. Fenicia in diesem Band.

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64). Dieser Vorgang ist hier ganz offensichtlich: Ökonomisches und auch symbolisches Kapital dieser Remigranten multiplizierten sich, nachdem das soziale Kapital zu einem Rückruf geführt hatte und die Remigration damit nicht nur eingeleitet, sondern auch erheblich erleichtert worden war. Aber auch Vertreter der ersten Generation bringen ähnlich wie Remigranten der zweiten Generation zur Sprache, was es bedeutet, als von außen Hinzustoßender über nicht genügend soziales Kapital zu verfügen und folglich als Mitspieler in Netzwerkstrukturen behindert zu sein. Ein kurz vor der Wende in die USA ausgewanderter Wissenschaftler, der nach mehr als zwei Dekaden nach Kroatien zurückkehrte und heute als Universitätsprofessor tätig ist, erinnert sich an den Moment, als das Verhalten seiner Kollegen an der Fakultät ihm deutlich machte, dass er nicht dazugehörte: »Grundsätzlich kooperierten sie mit mir; bis zu dem Moment, als ich das Projekt bekam. In diesem Moment, als ich das Vier-Millionen-Kuna-Projekt gewann, da flippten sie aus. Mein Projekt war bewilligt, aber das im Vertrag festgeschriebene Geld nicht. Warum? Weil ich einer war, der außerhalb des Systems stand, und sie erlauben Menschen außerhalb des Systems nicht an das Geld zu kommen. […] Das System ist im Grunde genommen auf diesen persönlichen Beziehungen aufgebaut, damit diese Leute nicht verlieren können. Jeder kann verlieren, aber nicht diese Leute. Und sie können es sich nicht leisten, dass einer, der zurückkehrt, etwas auf die Beine stellt.«

Und mit Ernüchterung wird resummiert, daß »diese Stammesmentalität den Erfolg anderer Leute kontrolliert; sie lassen niemanden Erfolg haben, der nicht erfolgreich sein soll.« Ohne hier noch systematischer die Unterschiede von Migrantentypen mit Blick auf die Thematik von Netzwerken und Seilschaften herausarbeiten zu können, ist jedoch wichtig, hervorzuheben, dass sowohl im kroatischen als auch im tschechischen Falle kaum etwas ausgelassen worden war, den politischen Emigranten die Aufrechterhaltung von Kontakten zur Heimat unmöglich zu machen: Pässe waren entzogen, Telefone wurden abgehört, Briefe abgefangen; auch ihr Verhalten in der Diaspora beziehungsweise im Exil stand oftmals unter Observation. Arbeitsmigranten und ihre Nachkommen hingegen konnten über geschäftliche Beziehungen, Urlaubsaufenthalte, Praktiken der Kettenmigration und des Familiennachzugs, sowie über unbehinderte mündliche und schriftliche Kommunikationswege nicht nur Kontakte pflegen, sondern ihr Wissen übereinander und über die Zustände im Herkunftsland aktuell halten.

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V ERWEIGERUNG VON AN S PIELREGELN

ODER

ANPASSUNG

In den Interviews sowohl mit kroatischen als auch mit tschechischen Gesprächspartnern ist vielfach von der Anpassung an Spielregeln und von der Einsicht in die beschränkten Möglichkeiten, als Remigrant Einfluss auf Spielregeln und Spielverläufe zu nehmen, die Rede. Ein bereits zitierter Vertreter der zweiten Generation, der zu Studienbeginn nach Kroatien kam, erinnert sich: »Hier war vor allem das Jura-Studium sehr auf enzyklopädisches Auswendiglernen aufgebaut, also ein Ansatz, der mir aus Deutschland vollkommen unbekannt war. Wir waren also immer zu kritischem Denken zu schriftlichen Texten orientiert, und haben eigentlich weniger einfach nur Wissen reproduziert, und viel mehr haben wir uns dann eingebracht und irgendwie Kompromisse gefunden, irgendwelche originellen Lösungseinsätze gesucht. Das war hier ganz und gar nicht der Fall. Hier war man im Grunde genommen ein sehr guter Student, wenn man auf Seite 345 des Buches die Fußnote kannte. Das war so für mich was, was einerseits vollkommen unverständlich war; andererseits habe ich das als rückständig angesehen, und war auch in bewusster Opposition dazu. Aber das hat mir im Grunde genommen nicht viel geholfen. Ich musste da durch. Das System konnte ich nicht ändern.«

Aber auch von Verweigerungen ist die Rede, Spielregeln zu akzeptieren, die gegen eigene Prinzipien und Grundsätze verstoßen. An solchen Verweigerungen wird das wechselseitige Befremden zwischen von außen kommenden Rückkehrrern und Einheimischen deutlich; wenn sich der Rückkehrer nicht anpassen möchte, nicht heimisch werden will in einem Spiel, das ihn befremdet, das er ablehnt. Ein ehemaliger Kanzler der Präsidentenkanzlei Václav Havels erinnert sich daran, wie er Anfang der 1990er Jahre auf einer Dienstreise in einer entlegenen Ecke des Landes, das er so gern wieder kennenlernen wollte, auf der Suche nach einem Lokal war. »Und siehe da, irgendwo, plötzlich leuchtete so ein gastliches Lokal. Davor sind wir stehen geblieben, da war einer von der Burg mit mir. Und gehen hinein und sehe an der Tür die Inschrift: ›Zigeunern ist der Eintritt verboten‹. Ich habe gefragt, ob das ernst war, sagt er: ›Ja‹. Danke – sind weiter gefahren. In so ein Lokal geh ich nicht.«

Und ein ehemaliger tschechischer Außenminister stößt mit seiner aus dem britischen Exil übernommenen Praxis, die Staatssekretäre des Vorgängers nicht pauschal auszutauschen, auf Befremden und wird sich dadurch der extremen An-

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dersartigkeit der politischen Kultur in den beiden Ländern bewusst. Es sei ihm als Schwäche ausgelegt worden, erinnert er sich, dass er nicht Tabula Rasa gemacht und sein eigenes Personal eingesetzt hätte. Gefühle der Fremdheit kommen in den Erinnerungen vor allem an die Anfangszeit der Remigration oft zur Sprache. Sich (im Falle der ersten Generation wieder) als Teil der Gesellschaft zu fühlen, mag (vor allem dem einmal Ausgewanderten) hier und da möglich gewesen sein – Erlebnisse, von Einheimischen als fremd angesehen zu werden, klingt als grundlegende Erfahrung jedoch in allen Gesprächen durch, sowohl mit Vertretern der ersten als auch der zweiten Generation.34 Der bereits zitierte ehemalige Berater des tschechischen Präsidenten bezeichnete sich im Gespräch als Außerirdischer, als ein E.T.; im tschechischen Kontext taucht vielfach der Begriff des »Alien« auf, von »halben Ausländern« oder »Entfremdeten«, sogar von »Entarteten« (vgl. hierzu Scholl-Schneider 2011: 47-49) ist die Rede. Oben angeführte Verweigerungen oder ungewohnte Zugänge und Praktiken der Rückkehrer mögen dieses Bild mitgeschaffen haben. Aber auch die Kritik an Zuständen, Opposition gegenüber Routinen, wie sie im weiter oben mit Blick auf institutionelle Kontexte erwähnt wurden, oder im Kontakt mit Behörden, lassen Fremdheit aufscheinen. Die in Deutschland geborene und aufgewachsene, in zweiter Generation also nach Kroatien zurückgekehrte Anwältin, die betont »ich habe nie gesagt, dass ich Deutsche bin; ich hatte immer einen kroatischen Pass und ich hing immer ein bisschen an dieser Identität« kommentiert im Gespräch ernüchtert: »Ich habe immer gesagt ich bin Kroatin, auch wenn ich aus Sicht eines Kroaten eine Deutsche bin – also hier bin ich immer Švabica«.35 Wie hat man sich verhalten, um heimisch zu werden, als zugehörig akzeptiert zu werden? Eine sinnvolle Strategie war offensichtlich, sich auf die aufnehmende Gesellschaft soweit einzulassen, ihre Spielregeln anzuerkennen und zu befolgen lernen, um durch weitest gehende Anpassung also sich erfolgreich zu integrieren und am Spiel teilnehmen zu lernen. Nicht nur im Studium und dann später im beruflichen Alltag, sondern auch in den sozialen Kontakten verfolgte

34 Erfahrungen von Fremdheit scheinen regelmäßig in Studien gerade zu ko-ethnischer Remigration auf, so auch in diesem Band. 35 Der Begriff »Švabica« ist die in der kroatischen Sprache (bzw. auch in anderen slawischen Sprachen) übliche Bezeichnung für »Schwäbin«. Der Begriff hat sich seit der Ansiedlung von sogenannten »Donau-Schwaben« in slawischsprachigen Gebieten der osteuropäischen Donauregion etabliert. Er wird bis heute jedoch als alltagssprachliche Bezeichnung nicht nur für eine vornehmlich aus dem Schwäbischen stammende, sondern allgemein für eine weibliche Deutsche verwendet.

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der bereits zitierte, ehemalige Jurastudent und heutige Diplomat das strategische Ziel der Integration durch Überwindung von Fremdheit und Differenz: »Ich war relativ radikal in meinem Ansatz, hier Fuß fassen zu wollen, und habe eigentlich ganz bewusst nicht die Gemeinschaft mit Rückkehrern gesucht. Ich kannte zwar Leute, bin auch ab und zu mal mit denen irgendwie Kaffee trinken gegangen oder so, wir haben uns gegenseitig Mut zugesprochen. […] Ich wollte also nicht eine Subkultur leben oder so ähnlich, wie meinetwegen die Kroaten in Deutschland immer eine Subkultur auch gelebt haben – oder alle Einwanderer, nicht nur die Kroaten. Sondern ganz bewusst wollte ich Teil der kroatischen Gesellschaft sein, insofern waren also meine Freunde, meine meisten Freunde, mit denen ich also mehr zu tun hatte, wirklich Kroaten aus Kroatien.«

Kein Spiel ohne Strategie: Waren die Spielregeln erst einmal für eine gewisse Zeit beobachtet worden, so zeichneten sich Strategien der Anpassung je nach Feld deutlich ab und wurden einsetzbar. Manch einer wollte das Spielfeld erst einmal aus der Ferne beobachten und analysieren und kam aus diesem Grund auch nicht bereits in der Frühphase der Transformation, sondern oft erst viele Jahre später zurück. Dies hatte auch praktische Gründe, wie weiter oben bereits erwähnt wurde. Der radikale Systemwechsel und die wirtschaftliche Transformation in Tschechien sowie der Krieg und seine Nachwirkungen in Kroatien legten nahe, erst einmal abzuwarten, wie sich die Lage stabilisiert und entwickelt. Die tiefgreifenden Veränderungen warfen mitunter auch die Spielregeln durcheinander bzw. zerstörten das Spielfeld bis auf seine Grundfeste und brachten neue Regeln hervor. In erster Linie waren es die politisch36 besonders Engagierten und Motivierten, die gleich zu Beginn der Demokratisierungsprozesse zurückkehrten und es nicht bei ersten, vorsichtigen Besuchen beließen, wie dies andere taten. Immer wieder zur Sprache gebrachte Strategien waren ein Leisetreten, NichtAuffallen oder mit gut gemeinten Ratschlägen Sich-Hervortun, und nicht zuletzt Schweigen. Eine solche Strategie wurde den Remigranten indirekt durch allgemeines Desinteresse der Daheimgebliebenen an ihren Emigrationserfahrungen nahegelegt. Wie Odysseus wurden auch sie nicht gebeten, von den Jahren des Exils zu erzählen. So resümiert eine tschechische Rückkehrerin:

36 Krauss gibt analog für die deutsche Nachkriegs-Remigration an, dass die Rückkehr umso wahrscheinlicher und schneller war, je politischer die Emigration motiviert war (Krauss 2001a: 9).

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»Die Menschen sind hier schrecklich voller Minderwertigkeitskomplexe, dass es ihnen nicht gut ging, dass sie nichts können, dass sie nicht verstehen, dass sie nicht wissen, dass Sie reicher sind, dass Sie die Welt gesehen haben, also ist alles, was Sie über Ihr Leben dort sagen würden, ein Angriff auf ihr Selbstvertrauen. Also habe ich es nie versucht, ihnen zu erzählen, welche Länder ich gesehen habe, was ich gemacht habe, was für eine Art gesellschaftliches Leben ich geführt habe, niemand hat mich danach gefragt, also habe ich – wie ich dort über dieses geschwiegen habe – hier über jenes geschwiegen. Und jetzt kamen meine Freundinnen: ›Wir waren im Urlaub, da hatten sie einen Pool und da hatten sie ein Buffet, und da konntest du vom Buffet nehmen, was du wolltest.‹ Ich habe gesagt: ›Ja?‹ [lacht] Ja, also was sollen Sie dazu sagen, oder? Ja, also schweigen, schweigen, schweigen.«

Wie sehr dieses Schweigen tatsächlich Strategie ist, um nicht anzuecken und als Fremdling zu erscheinen, verdeutlicht ihr Mann in seinen ergänzenden Erläuterungen: »Hätte ich ihnen damals gesagt, was sie machen sollen, dann wären sie verletzt gewesen. Der kommt aus Kanada, denkt, er hätte alle Weisheit der Welt gefressen und erzählt uns hier solchen Unsinn«. Etwaige Wissensvorsprünge werden auch von Vertretern der zweiten Generation häufig heruntergespielt oder zu verdecken versucht, um Misstrauen abzubauen und nicht Gefahr zu laufen, ausgeschlossen zu werden. Auf einheimischer Seite besteht die Vermutung, dass Rückkehrer besondere Kenntnisse und damit zugleich einen entsprechenden Konkurrenzvorteil hätten. Diese Haltung bildet den Hintergrund für ab- beziehungsweise ausgrenzendes Verhalten gegenüber dem von außen Kommenden. Mit Blick auf den beruflichen Alltag, ob in einer Anwaltskanzlei, im wissenschaftlichen oder im Bankensektor, treten solche Verhaltensweisen immer wieder auf. Sie behindern Abläufe, so wird kritisiert, die innerbetriebliche Kommunikation, die generelle Zusammenarbeit und damit grundsätzlich ein erfolgreiches Arbeiten. Der ehemalige Berater des tschechischen Präsidenten ging sogar so weit, dass er nach einigen Jahren eine »Pause« einlegte, sich aus der Politik zurückzog: Diese Distanznahme und Auszeit begründete er mit dem Bewusstsein des steten Verlusts eines Verständnisses für das Geschehen und die Menschen im Herkunftsland: »Ich habe ja wie gesagt in Österreich gelebt und da habe ich ad oculos vorgeführt bekommen, wie schnell Emigranten das Gefühl, was sich in ihrem Lande tut, verlieren. Ich habe mitgemacht, ob das nun die sozialdemokratischen Emigranten, die aus Amerika und England zurückgekommen sind, und sich im Österreich der 50er Jahre nicht mehr zurechtfanden, oder ob es andere waren; viele haben vieles gewusst, aber ich kann es nur englisch ausdrücken: ›They didn't understand, how their country ticks‹.«

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Hier zeigt sich außerdem noch einmal die Relevanz des Faktors Zeit: Wer lange weg war – im Falle der politischen Emigration oftmals über Jahrzehnte – entwickelt verzerrte oder inadäquate Vorstellungen von der Herkunftsgesellschaft oder verliert gar das Verhältnis zu ihr. Alfred Schütz hat dies im »Heimkehrer« wie folgt beschrieben: »[…] das Heim, zu dem er [der Heimkehrer] zurückkehrt, [ist] keineswegs das Heim, das er verließ, oder das Heim, an das er sich erinnerte und nach dem er sich während seiner Abwesenheit so sehnte. Aus dem gleichen Grund ist der Heimkehrer nicht mehr der gleiche, der fortging. Weder für sich noch für die, die auf seine Rückkehr warten, ist er derselbe.« (Schütz 1945: 81)

Und der aus den USA nach Kroatien zurückgekehrte Wissenschaftler drückt ähnliches aus, wenn er sagt: »Vor Amerika habe ich mich hier wie ein Fisch im Wasser bewegt. Es war so ziemlich […] ich kannte alles. Ich glaube Amerika hat viele Dinge in meinem Kopf verändert; die Art wie ich mich verhalte. Ich bin nicht in der Lage […] ich glaube nicht, dass ich bis ans Ende meines Lebens je wieder in der Lage sein werde mich so zu verhalten wie ich es einstmals konnte.«

Dass man im Exil einen anderen – womöglich fremden – auf jeden Fall aber einen veränderten Blick annimmt, das bemerkt auch ein tschechischer Remigrant bald nach seiner Rückkehr: »Wenn man dort gelebt hat, wo ich die Jahre gelebt habe, da habe ich andere Augen in der Hinsicht bekommen, dass Dinge, die die Menschen hier als natürlich hinnehmen oder die sie nicht besonders aufregen, provozieren, nerven, dass ich die sehe. Von Unhöflichkeit über das unfähige Verhalten von Verkäufern, von Desinteresse, vom Arzt, der sich Ihnen gegenüber unpersönlich verhält, dem Sie kein Interesse ansehen – und wenn er es wenigstens vortäuschen würde.«

Auch Schütz hat dem Heimkehrer zuerkannt, die Dinge mit anderen Augen zu sehen, er habe »[…] den Vorteil, den allgemeinen Stil dieser Muster zu kennen« (Schütz 1945: 80); er meint damit Alltagsroutinen und Verhaltensmuster. Besonders solche Dinge, Verhaltens- oder Denkweisen, die als schwer hinnehmbar erscheinen, lassen bei nicht wenigen Remigranten den Wunsch aufkeimen, etwas zu verändern und Einfluss zu nehmen – hierzu noch einmal Schütz:

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»Bis zu einem gewissen Grad hat jeder Heimkehrer die magische Frucht der Fremdheit gekostet, sei sie süß oder bitter. Selbst mitten im größten Heimweh bleibt der Wunsch, etwas von den neuen Zielen, von den neuentdeckten Verwirklichungsmöglichkeiten, von den in der Fremde erworbenen Erfahrungen und Fertigkeiten auf die alten Muster zu übertragen.« (Schütz 1945: 82)

E INFLUSS

NEHMEN , DAS

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Es gibt zahlreiche Beispiele für kleine und größere Innovation im Alltag, für die Übertragung von Erfahrungen und Fertigkeiten ganz im Sinne Schütz', in beruflichen Strukturen, etwa in Arbeitsabläufen und Kommunikationsformen, auf welche Remigranten nicht selten mit erheblichem Stolz verweisen. Sie alle zeigen letztlich eine Diversifizierung kultureller Muster, die mit der Rückkehr von ehemaligen Emigranten oder auch ihren Nachkommen einhergeht. Der Verleger einer Prager Kleinanzeigenzeitung etwa konnte neue Spielregeln etablieren und Fortschritte erzielen, indem er durch bessere Bezahlung seiner Mitarbeiter deren Leistungsbereitschaft anspornte und entlohnte. »Natürlich waren das Arbeitstempo und unsere Anforderungen für Menschen, die es gewohnt waren, unter den Kommunisten zu arbeiten bzw. eben nicht zu arbeiten,

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unge-

wohnt. Gleichzeitig hat aber »Annonce« sehr gut gezahlt, ich würde sagen, immer überdurchschnittlich, und das bis heute, aber vor allem in den Anfängen war das markant. Somit hat es die Leute so gut wie nicht gestört, denn wir wollten von ihnen gute Arbeit und viel Arbeit, aber sie bekamen genauso auch viel dafür bezahlt.«

Lern- und Anpassungsprozesse waren oftmals begleitet von Ernüchterungen und Einsichten in die Grenzen der individuellen Möglichkeiten, auf Veränderungen hinzuwirken, initiativ zu werden, von »außen« mitgebrachtes Wissen und Erfahrungen miteinzubringen. Solche Einsichten können gerade dann schmerzhaft sein, wenn die Motivation zur Rückkehr mit dem Wunsch und der Hoffnung verbunden war, sich aktiv ins Geschehen einmischen und Prozesse mit beeinflussen zu können. Das Motiv der Hilfeleistung kommt dabei immer wieder zur Sprache, wie etwa bei einer tschechischen Journalistin, die ihre Rückkehr wie folgt begründet:

37 Siehe hierzu erneut Holý (2001: 30), der beschreibt, wie es in Tschechien zu kommunistischen Zeiten durchaus üblich war, sich seine Freizeit dadurch zu vermehren, indem man private Dinge während der Arbeitszeit verrichtete.

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»Ich vertrete die Meinung, dass man zur Demokratie erziehen muss und dass es sich dabei um keinen kurzfristigen Prozess handelt. Daher haben wir gewusst, dass es unsere Aufgabe sein wird, der Tschechoslowakei einfach auf dem Weg zur Demokratie und natürlich zur Marktwirtschaft, aber vor allem zur Demokratie, zu helfen.«

Auch der mehrfach zitierte Jurastudent und heutige Diplomat sagt ähnliches: »Das Gefühl […] hat sich dann da entwickelt, man könnte daran teilnehmen, da seinen Beitrag leisten – sagen wir mal in Anführungsstrichen »Entwicklungshilfe«; so den Beitrag, man kann also als Kroate mit dem Hintergrund, den ich zu der Zeit hatte, in Kroatien einen größeren Beitrag leisten als jemand in Deutschland. Das war meine Idee damals.«

Ob sich Remigranten jedoch tatsächlich erfolgreich als »Mittler zwischen Kulturen« (vgl. Scholl-Schneider 2011), als »Agenten des Wandels« oder Akteure von Wissenstransfers betätigen können, entzieht sich bisher noch einer gründlicheren Überprüfung, die längere zeitliche Prozesse in Augenschein nehmen und auch die Perspektiven der Einheimischen direkt berücksichtigen müsste. Die Methode des qualitativen Interviews mit den Akteuren selbst ist hier nur hinlänglich aussagekräftig, an dieser Stelle müsste man mit zusätzlichen anderen Methoden deren Wirken beobachten und werten. Was jedoch durch die Analyse der Interviews deutlich wurde, ist die fast bei allen vorhandene starke Bereitschaft zur Initiative, der Wunsch zu Verbesserungen – etwa zu mehr Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit im beruflichen Alltag – beizutragen, ein großer Veränderungswille also, den die Rückkehrer von woher und von welcher der Generationen auch immer miteinander teilen. Konkrete Transfers nach ausländischen Vorbildern und nach im Ausland erlernten und erprobten Mustern konnten sowohl im tschechischen wie auch im kroatischen Fall nachvollzogen werden: etwa die Einrichtung einer Hotline für Kinder in Not, die Gründung eines Instituts oder einer Zeitung, der Aufbau von Teams und von hierarchiearmen Strukturen der Teamarbeit in wissenschaftlichen Institutionen oder im Bankensektor. Nicht immer waren es Strukturen oder Institutionen, oft waren es kleine Hilfestellungen, Kommentare, Ideen, Kontakte oder Reflexionsanregungen zu mehr Demokratie (vgl. hierzu Scholl-Schneider 2011: insb. 152-253). Bleibt die Frage, ob Remigranten auf dem post-sozialistischen »Spielfeld« Erfolge erzielen, ob sie Spiele gewinnen konnten. Konnten sie ihre Ressourcen gewinnbringend einsetzen und durch kluge Schachzüge punkten? Es scheint wohl angebracht, persönliche Erfahrungen und Anpassungen an das Spielfeld von professionellen Einsätzen zu unterscheiden. Treten in individuellen Selbstbeurteilungen oft Erfahrungen der Anpassung, des Sich-den-Regeln-Beugens

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oder gar des Schweigens in den Vordergrund, so scheinen im professionellen Bereich doch erzielte Erfolge durch besondere Zugänge, Methoden und Ansätze durch, die Bleibendes hinterlassen haben.

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Rückkehrentscheidung aus Genderperspektive Remigrierte (Spät-)Aussiedlerfamilien in Westsibirien T ATJANA F ENICIA

G ESCHLECHTERROLLEN BEI FAMILIÄREN R EMIGRATIONSENTSCHEIDUNGEN Migrationsentscheidungen werden traditionell im Rahmen der neoklassischen sowie mikroökonomischen »Push und Pull«-Modell der Migrationstheorie (vgl. Lee 1972) aus der Sicht der männlichen Individuen behandelt. Männer gelten meist als Pioniereinwanderer, die eine rationale Entscheidung zur Abwanderung mit dem Ziel der Maximierung ihres Einkommens treffen und ihre Ehefrauen in die Migration »mit-« oder »nachholen«. Laut klassischer ökonomischer Remigrationsansätze liegen die zentralen individuellen Rückkehrentscheidungsmotive männlicher Migranten im Scheitern ihrer ökonomischen Ziele (vgl. Constant/Massey 2002: 9), wohingegen die Strukturperspektive hauptsächlich individuelle ökonomische Erfolgsgeschichten im moderneren Aufnahmeland als Motive anführt (vgl. Currle 2006: 11). Die klassische Rückkehrertypisierung beschränkt sich dementsprechend meist auf im Aufnahmeland ökonomisch erfolgreiche oder weniger erfolgreiche männliche Rückkehrer (vgl. Cerase 1974).1

1

Cerase (1974) bildete in seiner Studie zur Rückkehr der italienischen Migranten aus den USA vier Rückkehrertypen: return of failure (das sind die Rückkehrer mit kurzfristiger Aufenthaltsdauer und wenig erfolgreichen beruflichen Perspektiven im Aufnahmeland); return of conservatism (das sind diejenigen, die sich in der Aufnahmegesellschaft immer fremd gefühlt haben und an ihrem Rückkehrgedanken stets festgehalten haben und mit genug Geld, um ein Stück Land in der Heimat zu kaufen, zu-

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Die mangelnde Berücksichtigung der Frauen- und Familienrolle im Migrationsentscheidungsprozess in klassischen Migrationstheorien wird von der Theorie der Neuen Haushaltsökonomie sowie der Frauen- und Geschlechterforschung der 1970er Jahre kritisiert und vermehrt in die Betrachtungen einbezogen (vgl. Haug/Sauer 2006: 15; Aufhauser 2000: 98). Ins Zentrum der Migrationsdebatte rückt die im Familienverband strategisch getroffene Migrationsentscheidung, wie zum Beispiel die Frage, welches Familienmitglied ins Aufnahmeland gehen sollte, um dort eine Maximierung der Vorteile für die gesamte Familie zu erzielen anstatt nur einen individuellen Nutzen davon zu erlangen.2 Die Modernisierungsprozesse in westlichen Ländern mit einer Erweiterung des Dienstleistungssektors und infolgedessen einer erhöhten Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften verursachten eine gestiegene Migrationsanzahl der »selbstständigen« Arbeitsmigrantinnen.3 Diese gleichen männlichen Arbeitsmigranten weitgehend in ihren Migrationsprozessen in Bezug auf »Eigenständigkeit« bzw. Pionierein-

rückkehren); return of retirement (das sind ältere Migranten, die meist wegen ihrer Gesundheitsprobleme und des besseren finanziellen Lebensniveaus im Heimatland infolge der Rentenbezüge aus dem Aufnahmeland, in den Schoß ihrer Familie zurückkehren); return of innovation (das sind die erfolgreichen Migranten, die mit dem Ziel zurückkehren, aufgrund ihrer im Aufnahmeland erworbenen Migrationserfahrung in ihrem traditionellen Herkunftsland Erfolg zu haben). 2

Mincer stellt in seiner Studie fest, dass verheiratete Personen und insbesondere Ehepaare, bei denen beide Partner im Herkunftsland erfolgreich berufstätig sind, seltener als alleinstehende, geschiedene oder frisch verheiratete Personen migrieren. Bei kürzlich Verheirateten sowie geschiedenen Personen führt der neue Familienstatus meist zu einem Wechsel ihrer örtlichen Lage und beeinflusst somit positiv ihre internationale Mobilität. Außerdem wird eine niedrige Migrationsrate bei Familien mit im Herkunftsland permanent berufstätigen Ehefrauen, die mehr als ihre Männer verdienen, beobachtet. Dies steht im Gegensatz zu Familien, in denen die Männer als Hauptverdiener auftreten. Diese sind in der Lage, durch ihre Einkommensgewinne im Aufnahmeland die Einkommensverluste der Ehefrauen infolge ihrer »abhängigen« Migration, die Mincer mit dem Erziehungsurlaub und seinem negativen Einfluss auf die Entwicklung der Frauengehälter vergleicht, abzudecken (vgl. Mincer 1978: 771).

3

Der steigende Bedarf nach Haushaltspersonal in den industrialisierten Ländern bringt eine deutlich höhere Auswanderung der Frauen aus den sogenannten »major sending countries« mit sich, wie Philippinen, Sri Lanka, Peru. Oishi stellt fest, dass die Frauen in diesen Ländern auch eine höhere Entscheidungsmacht bei Fragen der Migration haben als die Frauen der »nonsending countries« (vgl. Prodolliet 1999: 32; Oishi 2002: 16).

R ÜCKKEHRENTSCHEIDUNG

AUS

G ENDERPERSPEKTIVE

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wandererstatus ins Aufnahmeland sowie in ökonomisch begründeten Auswanderungsmotiven mit der häufigen Absicht, zu einem späteren Zeitpunkt zu den im Herkunftsland zurückgebliebenen Familien und auch Ehemännern zurückzukehren (vgl. Treibel 2004: 47; Schurr/Stolz 2011). Mit ihrer Familie migrierte Ehefrauen werden in den modernen Migrationsansätzen bis heute noch ohne Berücksichtigung ihrer persönlichen Migrationsmotive als »abhängige« bzw. dem Ehemann infolge familiärer Gründe (nach-)folgende Migrantinnen angesehen (vgl. Pedraza 1991: 306; Cerrutti/Massay 2001: 196; Aufhauser 2000: 98) und werden selten als »treibende Kraft« innerhalb der Familienmigration bezeichnet (vgl. Treibel 2004: 50). Insgesamt lässt sich zusammenfassen, dass die (Re-)Migrationsmotive und die Typisierung innerhalb der Familie (re-)migrierter Ehefrauen sowie die Interaktion4 der Ehepartner im familiären (Re-)Migrationsentscheidungsfindungsprozess in der (Re-)Migrationsforschung bisher kaum analysiert wurden. In den sehr spärlichen Forschungsansätzen zu familiären Remigrationsabsichten zeigt sich eine solche Tendenz, dass vor allem die Ehemänner die Rückkehr ins Herkunftsland mit dem Ziel des Wiedererlangens ihrer im Migrationsprozess meist verloren gegangenen traditionellen männlichen Privilegien bevorzugen.5 Die Ehefrauen versuchen ihrerseits, die Rückkehr in die Heimat und in die damit verbundene traditionelle Frauenrolle, die ihrer im Aufnahmeland gewonnenen vor allem ökonomischen Unabhängigkeit vom Ehemann gegenübersteht, so lange wie möglich hinauszuschieben (Grasmuck/Pessar 1991: 156ff.). Dass mit steigendem Bildungsniveau, Erwerbstätigkeit und zunehmender Aufenthaltsdauer der Frau in einem westlichen Aufnahmeland ihr Einfluss auf familiäre Entscheidungen und das Ausmaß der Kooperation der Ehepartner bei der Aufgabenerledigung in den Migrantenfamilien steigt und somit die Ausprägung der traditionellen herkunftsbezogenen Familienstrukturen zugunsten der aufnahmelandbezogenen egalitären abnimmt, lässt sich in zahlreichen Studien

4

Interaktion ist gemäß Endruweit/Trommsdorf (2002: 250) als »elementare Einheit des sozialen Geschehens, in der Menschen ihr Handeln aneinander orientieren, gleich ob sie Erwartungen folgen oder sich widersetzen« zu verstehen.

5

Die traditionelle Geschlechterrollenverteilung in der Familie bezieht sich in der Familiensoziologie auf das Modell von Parson, bei dem die Männer eine instrumentelle Rolle innehaben, die sich an externen ökonomischen Ressourcen wie beruflichem Status und Einkommen festmacht und an eine hohe Autorität und Dominanz gegenüber der Ehefrau und den Kindern gebunden ist. Frauen hingegen haben eine expressive bzw. emotionale Rolle, welche das interne Familienleben sowie die Beziehungen und Probleme der Familienmitglieder regelt (vgl. Parson 1942).

242 | TATJANA F ENICIA

bestätigen (Kohlmann 2000; Nauck 1985; Guendelman/Perez-Itriago 1987; Hondagneu-Sotelo 1994; Grasmuck/Pessar 1991). Neben den ökonomischen Ressourcen (wie Beschäftigungschancen der Ehepartner im Aufnahmeland infolge der Anerkennung oder Abwertung des herkunftsbezogenen kulturellen Kapitals) beeinflussen gemäß Nauck (1985: 451) weitere kognitive (Beherrschung der Sprache des Aufnahmelandes und der Pioniereinwandererstatus eines Ehepartners im Aufnahmeland6) und soziale (Neuzusammensetzung der sozialen Netzwerke, die für die Zugangsmöglichkeiten zu greifbaren und nicht greifbaren Ressourcen entscheidend sind)7 Ressourcen der Ehepartner einen innerfamiliären Geschlechterrollenwandel im Aufnahmeland. Hinzu kommt die individuelle Assimilationsbereitschaft der MigrantInnen, ihre im Sozialisationsprozess erworbenen herkunftsbezogenen gesellschaftlichen Werte und Normen, die gemäß Bourdieus Habitus-Konzept ein Leben lang resistenzfähig bleiben8 (vgl. Fuchs-Heinritz/König 2005: 121), aufzugeben, um die neuen aufnahmelandbezogenen Familienstrukturen zu übernehmen (vgl. Esser 1980: 221). Allerdings erscheint die Übernahme der neuen egalitären Geschlechterrollen des Aufnahmelandes für die Migrantinnen nicht immer wünschenswert oder erreichbar. Erstens bevorzugen sie ihre Hausfrauenrolle gegenüber einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit, die häufig auf niedrig bezahlte und schlecht qualifizierte Jobs reduziert ist (vgl. Prodolliet 1999: 37). Zweitens werden Frauen durch Faktoren wie eine hohe Zahl an Kindern und deren geringem Alter bei der außerhäuslichen Beschäftigung behindert (vgl. Ott 1991; Lupri 1970), was auch

6

Die gemeinsam zugewanderten Familien zeigen einen hohen Grad an egalitären Familienstrukturen bei den Entscheidungen und Aufgabenverteilungen; die Ersteinwanderung einer der Ehepartner bringt für eine längere Zeit dessen führende Rolle im Aufnahmeland mit sich (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000: 92).

7

Dichte Familiennetzwerke blockieren das Innovationspotenzial der MigrantInnen (vgl. Dahinden 2005: 312) und erschweren den Zugang zu schwachen sozialen Netzwerken, »weak ties« (vgl. Grannovetter 1982: 130). Diese »weak ties« entstehen meist erst infolge der Kontaktaufnahme zur einheimischen Bevölkerung und erfüllen somit eine Brückenfunktion zwischen den unterschiedlichen Netzen. Infolgedessen wird der Informationsfluss zwischen den unzusammenhängenden Gruppen ermöglicht, was bei der Jobsuche von entscheidender Bedeutung ist.

8

Habitus bedeutet gemäß Bourdieu die kulturelle und materielle Ausstattung einer Person, mit der sie geboren sowie aufgewachsen ist und die im Lebenslauf stabil bleibt und sehr inflexibel auf die neue Situation reagiert (vgl. Fuchs-Heinritz/König 2005: 121).

R ÜCKKEHRENTSCHEIDUNG

AUS

G ENDERPERSPEKTIVE

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in Migrantenfamilien zum Erhalt traditioneller Familienstrukturen führen kann (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000: 94). Ferner wird der berufliche Erfolg der Ehefrauen im Aufnahmeland häufig mit dem damit einhergehenden familiären Autoritätsverlust der traditionell orientierten Ehemänner und der hohen Konfliktwahrscheinlichkeit in den Migrantenfamilien verbunden9 (vgl. Herwartz-Emden 2000: 36; Parnreiter 2001: 42). Je nach Familienstruktur sowie Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit der MigrantInnen mit ihrer Integration im Aufnahmeland können die innerfamiliären Rückkehrentscheidungsprozesse gemäß dem Entscheidungsmodell von Herbst (1952) autonom (eigenständig), autokratisch (männer- oder frauenzentriert) oder synkratisch (partnerschaftlich) stattfinden, was für den bevorstehenden Reintegrationsprozess der RückkehrerInnen im Herkunftsland sowie für die Nachhaltigkeit ihrer Rückkehrentscheidung von wichtiger Bedeutung ist.10 Die zunehmende Aufenthaltsdauer (vgl. Haug/Rühl 2008) sowie das Vorhandensein familiärer Netzwerke im Aufnahmeland treten als hemmende Einflussfaktoren auf eine Remigrationsentscheidung (vgl. Haug 2000: 228) besonders hervor. Im Gegensatz dazu gelten grenzüberschreitende soziale Netzwerke aus der Sicht der modernen transnationalen Netzwerktheorie als remigrationsfördernd, indem sie als Informationsquellen zur Mobilisierung und Vorbereitung der für die Reintegra-

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Im Fall der gemischten Geschlechterrollen und insbesondere der traditionell orientierten Ehemänner und egalitär orientierten (z.B. beschäftigten) Ehefrauen erwartet man infolge der ungleichen Ressourcenumverteilung der Ehepartner im Aufnahmeland eine hohe Konfliktwahrscheinlichkeit (vgl. Scanzoni/Szinovacz 1978: 82), die nach Rodman als »Machtkampf« der Ehepartner um die innerfamiliäre Positionierung definiert wird (vgl. Rodman 1970: 137). Die egalitär ausgerichteten Familienstrukturen sind durch die ressourcenbezogene Gleichstellung und eine geringere Machtdifferenz der Ehepartner gekennzeichnet, was wiederum zu einer hohen Konfliktintensität führen kann (vgl. Wagner/Weiß 2005: 11). Im Fall der traditionellen Geschlechterrollen können ungleiche Ressourcenausstattungen der Ehepartner zu Anspannungen führen (vgl. Lewin 1953: 138), jedoch tendieren diese Konflikte dazu, kürzer und wenig intensiv zu sein (vgl. Wagner/Weiß 2005: 10).

10 Es wird in der Forschungsdiskussion angenommen, dass die Reintegration unfreiwillig zurückgekehrter MigrantInnen, wie im Fall einer autokratischen familiären Rückkehrentscheidung zu erwarten wäre, problematisch verlaufe. Im Gegenteil dazu zeigen sich bei freiwillig zurückgekehrten RemigrantInnen positive Reintegrationsverläufe und ein dauerhafter Aufenthalt am Rückkehrort, was eher infolge einer synkratischen bzw. demokratischen familiären Rückkehrentscheidung anzunehmen wäre (vgl. Baraulina/Kreienbrink 2013: 22).

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tion ins Herkunftsland notwendigen greifbaren und nicht greifbaren Ressourcen auftreten und somit die Remigrationsentscheidung absichern können (vgl. Cassarino 2004: 273).

G ESCHLECHTERROLLEN IN DEN (S PÄT -)AUSSIEDLERFAMILIEN Die hier diskutierten (Spät-)AussiedlerInnen11 werden meist den ArbeitsmigrantInnen gleichgestellt, da sie ihnen in ihrem Migrationswunsch nach einer Verbesserung der materiellen Situation (vgl. Dietz/Roll/Greiner 1998: 33) sowie eher traditionellen Familienstrukturen ähneln (vgl. Boos-Nünning/Karakasoglu 2005: 100). Allerdings ermöglichen die Integrationsbedingungen der (Spät-)AussiedlerInnen in Deutschland im Vergleich zu den anderen Migrantengruppen einen ökonomisch und sozio-kulturell privilegierten Start, um sowohl ihre erfolgreiche Integration als auch eine egalitäre Stellung der Ehepartner in den (Spät-)Aussiedlerfamilien zu sichern: Erstens erlaubt das Gesetz die gleichzeitige Einreise beider Ehepartner mit dem sofortigen Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft und den damit verbundenen, den einheimischen Deutschen gleichgestellten Eingliederungsmaßnahmen, was die Zugangsmöglichkeiten zu den ökonomischen Ressourcen des Aufnahmelandes in gleichem Maße für beide Ehepartner eröffnet. Zweitens wird davon ausgegangen, dass die zu erwartenden guten Deutschkenntnisse der (Spät-)AussiedlerInnen, die sie aufgrund ihrer deutschen Abstammung und der bestandenen Sprachprüfung im Aufnahmeverfahrensprozess erlangt haben, die Kontaktaufnahme zur einheimischen Bevölkerung und dadurch die Übernahme der in Deutschland herrschenden eher egalitären Geschlechterrollenorientierungen fördern (vgl. Kohlmann 2000: 180). Im Gegensatz dazu sind die festgestellten dichten Familiennetzwerke der (Spät-)AussiedlerInnen (vgl. Fenicia/Gamper/Schönhuth 2010) sowie die in den letzten Jahren stark verschlechterten deutschen Sprachkenntnisse der Neuangekommenen (vgl. Brommler 2006: 115) ein Hinweis auf eine geringe Kontaktaufnahme zur deutschen Gesellschaft und auf eine Beibehaltung der herkunftsbezogenen traditionellen Geschlechterrollen der (Spät-)AussiedlerInnen im häusli-

11 (Spät-)AussiedlerInnen aus der ehemaligen Sowjetunion kommen vermehrt seit 1989 nach dem Fall des Eisernen Vorhanges nach Deutschland und stellen dort mit einer Gesamtzahl von 2,3 Mio. (vgl. Bundesverwaltungsamt 2011) die größte Migrantengruppe dar.

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chen Bereich,12 die sich auch in aktuellen Studien bestätigt finden. So wird der Rückzug des Mannes aus allen Aufgaben wie Behördengänge, Hausarbeit und Kinderbetreuung, die größtenteils von den Frauen erledigt oder auf die weiblichen Familienmitglieder ausgelagert werden, konstatiert (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000: 94). Die (Spät-) Aussiedlerinnen orientieren sich dabei – wie auch in ihrem Herkunftsland – auf die Vereinbarung von Beruf und Familie (vgl. Herwartz-Emden 2000: 97). Ihre berufliche Integration verläuft jedoch tendenziell schwieriger als bei den männlichen (Spät-)Aussiedlern (vgl. Dietz/Roll/Greiner 1998: 85). Eine positive berufliche Integrationsdynamik ist erst bei den (Spät-)AussiedlerInnen der zweiten Generation zu beobachten13 (vgl. Woellert et al. 2009: 34ff.). Im Fall des seit neuerer Zeit überwiegend aus der Sicht der individuellen RückkehrerInnen präsentierten Rückkehrphänomens der »relativ gut integrierten« (Spät-) AussiedlerInnen (vgl. Woellert et al. 2009: 80) in ihr Herkunftsland14 zeichnet

12 Die Familienstruktur dieser Migrantengruppe lässt sich aufgrund ihrer herkunftsbezogenen Entwicklung nicht eindeutig als traditionell oder egalitär charakterisieren. Stattdessen präsentiert sich die Rolle der Ehemänner als traditionell und die der Ehefrauen als doppelbelastet gemischt – innerhalb der Familie traditionell und in der Öffentlichkeit dem Ehemann gleichgestellt. Dies resultiert aus dem in der ehemaligen Sowjetunion über Generationen hinweg propagierten Familienmodell mit zwei Verdienern und einer geschlechtstypischen traditionellen innerfamiliären Aufgabenverteilung (vgl. Junge/Baigarova 2011: 18; Zdrawomyslowa 1999). 13 Die Erwerbsquote der Aussiedler der zweiten Generation liegt (ca. 20%) höher als bei den (Spät-)Aussiedlern der ersten Generation. 13% der zugewanderten Aussiedler sind von öffentlichen Leistungen abhängig, was sich aber bei den in Deutschland geborenen Aussiedlern halbiert und sogar geringer als bei den Einheimischen ausfällt (vgl. Woellert et al. 2009: 34ff.). 14 Die vor allem in den deutsch- und russischsprachigen Medien angegebenen Rückkehrgründe von (Spät-)Aussiedlern sind folgende: Abwertung von »mitgebrachtem«, herkunftsbezogenem kulturellem Kapital in Deutschland und dadurch verursachte Arbeitslosigkeit (vgl. Der Tagesspiegel 2007; Welt online 2007) sowie die trotz Familienmigration immer weiter wachsenden, transstaatlich zerrissenen Familienverbände im Fall gemischt russisch-russlanddeutscher Ehen (Der Spiegel 2008) und anschließend fehlender Selbstidentifikation als Deutsche (vgl. Welt online 2007). Die genaue Rückkehrstatistik dieser Migranten wird aufgrund ihrer meist doppelten Staatsbürgerschaft und der somit unnötigen Abmeldung in Deutschland und Anmeldung im Herkunftsland erschwert (zur Problematik statistischer Erfassung der Rückkehrzahlen dieser Remigrantengruppe siehe Mattock in diesem Band). Man geht aber von einer

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sich in einer neu veröffentlichen Studie der Rückkehrwunsch der im Integrationsprozess in Deutschland benachteiligten Familienmitglieder ab, während die »erfolgreichen« Familienangehörigen den Verbleib in Deutschland bevorzugen (vgl. Baraulina/Kreienbrink 2013: 296).

F RAGESTELLUNG UND F ORSCHUNGSKONTEXT Das laufende Promotionsprojekt der Verfasserin untersucht die noch wenig erforschten (kern)familiären Rückkehrentscheidungsprozesse von (Spät-)AussiedlerInnen aus Genderperspektive und legt den Fokus insbesondere auf folgende Forschungsfragen: •



Auf wessen Initiative geht die innerfamiliäre Rückkehrentscheidung zurück, und welche individuellen, familiären und sozio-kulturellen »Push und Pull«Faktoren im Herkunfts- und Aufnahmeland (vgl. Schönhuth 2008: 73ff.) lösen den Rückkehrwunsch des Ehegatten, der oder die die treibende Kraft im Entscheidungsfindungsprozess darstellt, aus? Wie lässt sich der innerfamiliäre Rückkehrentscheidungsprozess in Bezug auf die Interaktion der Ehepartner charakterisieren?

Die im Folgenden analysierten 23 Familienrückkehrfälle sind Teil einer insgesamt 31 Rückkehrfälle umfassenden explorativen Studie.15 Die Feldforschung fand im Rahmen zweier Aufenthalte von jeweils vier bis sechs Wochen in den Jahren 2010 und 2011 überwiegend im Deutschen Nationalkreis Halbstadt in der Region Altai (Russland)16 statt.17 Die Datenerhebung erfolgte durch qualitative

Rückkehrzahl von 13.600 allein zwischen den Jahren 2000 und 2006 aus (vgl. Schmid 2009: 77). 15 Darunter sind 23 Kernfamilien und acht Fälle individueller Rückkehr. Die Datenerhebung wurde im Rahmen des Teilprojektes A8 »Netzwerkbeziehungen und Identitätskonstruktionen – Rückkehrstrategien von (Spät-)Aussiedlern im Kontext sich wandelnder Migrationsregime« des SFB 600 »Fremdheit und Armut« an der Universität Trier unter der Leitung von M. Schönhuth und A. Hahn durchgeführt (dazu Schönhuth/Kaiser in diesem Band). 16 Der deutsche Bezirk Halbstadt in der Altairegion ist einer von zwei autonomen Nationalkreisen der Russlanddeutschen in Russland und umfasst insgesamt zwölf Dörfer, in denen die Russlanddeutschen vor ihrer massiven Auswanderung nach Deutschland Anfang der 1990er Jahre den Kern bzw. 96% der Bevölkerung bildeten. Im Jahr 2010

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Leitfadeninterviews zu unterschiedlichen biografischen (Re-)Migrationsphasen der befragten RückkehrerInnen. In Ergänzung wurde ein standardisierter Fragebogen zur Systematisierung der sozio-demografischen Lebenslaufdaten eingesetzt. Der Zugang zu den Probanden erfolgte überwiegend anhand von Kontakten zu lokalen Dorfverwaltungen an den jeweiligen Forschungsorten sowie durch bereits vorhandene Netzwerke der Verfasserin in dieser Region. Die meisten Interviews fanden in einer informellen Umgebung (im Haus, im Garten der Befragten) statt. Somit konnten erste Einblicke in den Alltag, die Wohnsituation und die Umgebung der Befragten gewonnen werden. Die Interviews dauerten im Durchschnitt jeweils eine Stunde und fanden je nach Wunsch der Befragten auf Russisch (überwiegend), Deutsch oder zweisprachig statt. Die Analyse der in diesem Beitrag dargestellten Familienrückkehrfälle basiert auf 14 gemeinsam oder getrennt durchgeführten Interviews mit beiden Ehepartnern, acht Interviews ausschließlich mit den Ehefrauen und einem Interview nur mit dem Ehemann. Wesentliche Gemeinsamkeiten ergaben sich für die hier dargestellte Stichprobe in folgenden Punkten: Zum größten Teil kehrten die (Spät-)Aussiedlerfamilien in ihre ursprünglichen sibirischen Heimatorte des Deutschen Nationalkreises Halbstadt (N=19) und in die Hauptstadt der Altairegion Barnaul (N=4) zurück. Die meisten befragten RückkehrerInnen hatten ihren Wohnsitz im Herkunftsland vor der Migration verkauft (N=21). Es handelt sich dabei zum größten Teil um Familien mit (kleinen oder erwachsenen) Kindern (N=22). Alle Befragten außer zwei Rentnerpaaren befanden sich zum Zeitpunkt der Rückkehr im erwerbstätigen Alter zwischen 25 und 60 Jahren. Der größte Teil der InterviewpartnerInnen besitzt zwei Staatsangehörigkeiten – deutsch und russisch. Rund die Hälfte hatte eine Aufenthaltsdauer in Deutschland von drei bis maximal 18 Jahren (N=16). In den restlichen sieben Familienfällen handelte es sich um kurzfristige Aufenthalte in Deutschland von neun Monaten bis zu zwei Jahren.

lag der Anteil der deutschstämmigen Bevölkerung im deutschen Bezirk Halbstadt laut der lokalen Verwaltung nur noch bei 26%. 17 Die Untersuchung von Tauschwitz in diesem Band bezieht sich ebenfalls auf die russlanddeutsche Bevölkerung im deutschen Nationalkreis in der Altairegion.

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E MPIRISCHE E RGEBNISSE Familienrückkehrtyp 1: Rückkehr aufgrund der Initiative des Ehemannes Klassische Migrationstheorien gehen davon aus, dass – wie bereits oben erwähnt wurde – in erster Linie Männer diejenigen sind, die sich für eine Auswanderung entscheiden, um in einem anderen Land ein Auskommen zu finden. So hält Lee in einem klassischen Text zur regionalen Mobilität fest: »Indeed, not all persons who migrate reach that decision themselves. Children are carried along by their parents, willy-nilly, and wives accompany their husbands though it tears them away from environments they love.« (Lee 1966: 51)

Hinsichtlich der hier analysierten familiären Remigrationsprozesse zeigt sich ein ähnliches Bild: Beim überwiegenden Teil der befragten Familien geschah die Rückkehr »nach dem Wunsch des Ehemannes« (N=16). Rückkehrmotive der männlichen Rückkehrinitiatoren Als Ausgangspunkt des familiären Rückkehrentscheidungsprozesses gilt bei diesem Familienrückkehrtyp der Zeitpunkt der Entstehung von Rückkehrgedanken bei den Ehemännern: Es gibt Probanden, die ihre Heimat bereits mit einer Rückkehrabsicht verlassen haben (N=2), ferner gibt es solche, bei denen der Rückkehrgedanke nach einem kurzen oder längeren Aufenthalt in Deutschland entstanden ist (N=14). Als den Rückkehrentscheidungsprozess auslösende Einflussfaktoren gelten bei den Männern zum einen ihre Unzufriedenheit mit der Lebenssituation in Deutschland, die meist durch ihre fehlende eigene bzw. intrinsische Migrationsinitiative nach Deutschland unterstützt wird. Es zeigt sich eine dahingehende Tendenz, dass die Migrationsentscheidung der befragten Ehemänner unter dem Einfluss unterschiedlicher familiärer sowie ökonomischer und politischer Einflussfaktoren stattgefunden hat. Familiäre Einflussfaktoren können etwa die Wünsche der Eltern, Ehefrau und Kinder sowie das Ziel einer Familienzusammenführung mit den in Deutschland lebenden Angehörigen sein. Zu den ökonomischen und politischen Einflussfaktoren können eine schwierige ökonomische Situation und hohe Kriminalität im Herkunftsland, die Vermeidung der Sprachprüfung für die Kinder und der Wunsch nach einer besseren Zukunft für sie zählen.

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Die Unzufriedenheit mit der Lebenssituation in Deutschland erschließt sich bei den meisten männlichen Rückkehrinitiatoren (N=15) in einem Bündel mehrerer sich überlappender aufnahmelandbezogener seelischer, ökonomischer und sozialer Integrationsschwierigkeiten, die meist zum Gefühl der Freiheitseinschränkung der Befragten in Deutschland geführt haben und den vielversprechenden Möglichkeiten der Verbesserung dieser Situation im Heimatland gegenüberstehen (siehe dazu Mattock und Schmitz in diesem Band). Somit spiegeln sich die meistgenannten seelischen Rückkehrmotive der befragten Ehemänner, insbesondere derer, die aus einem Dorf stammen (N=13), wider in ihrer heimatbezogenen Sehnsucht nach18: •

dem Leben im Freien mit einem eigenen Haus, Garten und Hof im Gegensatz zum Leben »in vier Wänden« der Mietwohnungen in einem Mehrfamilienhaus in Deutschland. Die Perspektivlosigkeit, in Deutschland irgendwann ein eigenes Haus zu erwerben, führten viele Befragte auf die hohen und mehrjährigen Kreditkosten, ihre niedrigen Löhne sowie die unsicheren Arbeitsstellen zurück. Dazu zählten auch die strikten Einschränkungen des deutschen Baurechts in Bezug auf die Hausplanung nach eigenem Wunsch:

»So, wie ich mir das vorgestellt habe, war es nicht möglich zu bauen; wir durften das nicht. [...] Ja, mit vielen Änderungen würde es gehen, aber dann hätten wir uns für die nächsten 30 Jahre stark verschuldet. Das will ich nicht. Ich wollte das Haus so haben, wie ich es mir vorgestellt habe, und ohne Schulden. Es wäre dann zu teuer, obwohl wir beide [Ehefrau und Ehemann] einen festen Job hatten.« (männlich, 51 Jahre alt, derzeit selbstständiger Unternehmer)



der russischen Landschaft, sowie dem verlorenen Geborgenheitsgefühl des »Zu-Hause«-Seins, an dem Ort, an dem »der Vater begraben ist«, die Befragten ihre Kindheit verbracht haben und wo sie jeder versteht:

»Nicht nur das eigene Haus hat gefehlt, die ganze Umgebung. [...] Das ganze Land: Jahreszeiten, Winter, Sommer, Herbst. Das kann ich nicht erklären. Die Luft, Himmel, alles für mich ist hier [am Rückkehrort] anders [...] und mein Haus, mein Garten. [...] Ja, ich habe mich [in Deutschland] immer fremd gefühlt, immer… immer. [...] Wie gesagt, ich habe 18 Jahre da [in Deutschland] gelebt… Ich habe vieles versucht, mich hat aber vieles

18 Von den stark ausgeprägten Heimatgefühlen der Russland- und Kasachstandeutschen, die sich gegen der Migration nach Deutschland entschieden, berichten auch Sanders und Tauschwitz in diesem Band.

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gestört. Der Grund für meine Rückkehr ist, dass ich mich vom ersten Tag da nicht heimisch gefühlt habe. Ich wollte immer hier sein.« (männlich, 51 Jahre alt, derzeit selbstständiger Unternehmer)



den dörflichen Gewohnheiten und »uneingeschränkten« Freizeitaktivitäten im Herkunftsland, wie Reiten, Grillen »Schaschlik machen«, Angeln und Jagen. Diese Freiheit bei der Ausübung von Freizeitaktivitäten in Russland wird im Vergleich zur gesetzlichen Reglementierung solcher Aktivitäten in Deutschland (die häufig das Beantragen spezieller Erlaubnisse vorsieht) hoch bewertet:

»Freiheit... Ja, hier will man Schaschlik grillen, das geht hier überall, und in Deutschland braucht man dazu einen bestimmten Platz. […] Du kannst machen, was du willst, sozusagen. Das ist einfacher so. Hier habe ich mein Haus und so. […]...du bist nicht so gestresst mit dem Papierkram. Du bist hier einfach freier ... alles ist einfacher.« (männlich, 27 Jahre alt, derzeit selbstständiger Unternehmer)

Die seelischen Rückkehrmotive zeigen sich besonders zentral bei zwei in Deutschland beruflich erfolgreichen Interviewten, die ihre Rückkehrabsicht bereits vor der Migration nach Deutschland hegten und ihre Immobilien im Herkunftsdorf nicht verkauften, um eine Rückkehroption zu haben. Zu der zweitgrößten Gruppe von Rückkehrmotiven gehören die wirtschaftlich bedingten Benachteiligungen der befragten männlichen Rückkehrinitiatoren am deutschen Arbeitsmarkt, die in ihnen Ängste und Unsicherheitsgefühle hinsichtlich der Zukunft in Deutschland auslösten und somit wiederum eine seelische Freiheitseinschränkung zur Folge hatten. Im Gegensatz dazu vermittelte die Aussicht auf bessere Berufschancen und die Möglichkeit der Selbstständigkeit im Herkunftsland, die meist durch das Führen einer privaten Hauswirtschaft erlangt werden kann, den befragten Ehemännern ein Freiheits-, Unabhängigkeitsund Sicherheitsgefühl.19 Die acht Befragten waren von Arbeitslosigkeit aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse, abgewerteter herkunftsbezogener Ausbildungs- und Berufsqualifikationen, unpassender Berufsangebote und der Auswahldiskriminierung aufgrund hohen Alters betroffen.

19 Tauschwitz in diesem Band berichtet ebenfalls über die Befürchtung der nach Deutschland nicht ausgewanderten russlanddeutschen Ehemänner, ihre traditionelle Familienrolle als Ernährer nach der Einreise in Deutschland zu verlieren sowie in die finanzielle Abhängigkeit von der Ehefrau und dem deutschen Staat zu geraten.

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Die anderen sechs in Deutschland berufstätigen (Spät-)Aussiedler stellten ihre Arbeitssituation aufgrund unterschiedlicher Faktoren nicht zufrieden. Diskriminierungsgefühle bedingt durch niedrigere Gehälter im Vergleich zu einheimischen Kollegen, körperlich schwere Arbeitsbedingungen infolge unregelmäßiger Arbeitszeiten und Nachtschichten sowie erfolglose Versuche der Verbesserung ihrer Arbeitssituation stellten für drei Befragte eine große psychische Belastung dar. Die Angst vor dem Verlust der Arbeit infolge der Umlagerung vieler deutscher Industriebetriebe in die »billigen« osteuropäischen Länder und die ständige Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland lösten den Rückkehrwunsch zweier der befragten Männer aus. Auch im Fall der erworbenen aufnahmelandbezogenen Ausbildung war ein jüngerer Rückkehrer von Arbeitslosigkeit und niedrigbezahlten Jobs betroffen, sodass er keine vielversprechende Perspektive in Deutschland sah (zur Problematik der beruflichen Integration junger (Spät-)Aussiedler siehe Schmitz in diesem Band). Alle drei sind in ihrem Freiheits- und Sicherheitsgefühl aufgrund der selbstständigen Tätigkeit am Rückkehrort vereint: »Ich denke, hier [im Herkunftsland] ist es sowieso sicherer. […] In Deutschland, wenn du kein Geld hast, schmeißt man dich aus der Wohnung raus, dann bist du auf der Straße, Obdachloser. Und hier habe ich ja mein eigenes Unternehmen und mein eigenes Haus […], das ist für mich die Sicherheit.« (männlich, 39 Jahre alt, derzeit selbstständiger Unternehmer)

An dritter Stelle der genannten Rückkehrmotive steht die soziale Exklusion in Deutschland, die aufgrund der unzureichenden Sprachkenntnisse der Aussiedler sowie der mangelnden Kontaktbereitschaft seitens der einheimischen Bevölkerung ausgelöst wurde, wodurch sich die interviewten Männer nicht frei fühlten. In der gesammelten Stichprobe betrifft dies insbesondere die Ehemänner mit schlechten Deutschkenntnissen, die entweder nach dem gesetzlichen Status als »abhängige« russische Ehegatten ihrer russlanddeutschen Frauen eingereist sind (N=4) oder nur eine kurze Aufenthaltsdauer in Deutschland hatten (N=2). Kontakte zu den eigenen Landsleuten konnten der sozialen Isolation der Befragten auch nicht immer entgegensteuern: Erstens verläuft die intensivste Kommunikation unter Migranten in der Anfangszeit nach der Einreise in den Wohnheimen, aus denen die Leute jedoch nach kurzer Zeit schon wieder ausziehen, oder in den sechsmonatigen Sprachkursen, nach deren Ende sich die Kursteilnehmer auch nicht mehr oft sehen. Zweitens, da die Aussiedler in Deutschland aus unterschiedlichen Herkunftsländern (Kasachstan und Russland), Herkunftsorten (Stadt und Dorf) sowie unterschiedlichen Bildungsschichten kommen, bringen

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sie unterschiedliche Lebenserfahrungen und differierende Sozialisationsmuster mit, was die Kommunikation sogar zwischen Landsleuten aus demselben Kulturraum GUS sehr erschwert (siehe dazu Kiel und Kurilo in diesem Band). Auch konnten die Probanden sich mit anderen Migranten aufgrund sprachlicher Probleme nicht austauschen. Der Wunsch nach einer Wiedervereinigung mit den im Herkunftsland gebliebenen alten Eltern, die sich wünschten, in der Nähe ihrer Kinder ihre letzten Jahre zu verbringen, übte einen großen Einfluss auf die Rückkehrentscheidung der zwei befragten Männer aus. Nur ein interviewter Ehemann hat sich positiv über das Leben in Deutschland geäußert. Sein Rückkehrziel war dabei seine religiöse Selbstverwirklichung, die darin bestand, eine dörfliche sibirische Gemeinde, in der keine Männer zurückgeblieben waren, als Laienprediger bei ihrer Religionsausübung zu unterstützen. Diese Art der Rückkehr lässt sich nach der Typisierung von Cerase (1974) als »return of innovation« charakterisieren. Die Rückkehrentscheidung der befragten Ehemänner mit einem kurzfristigen Aufenthalt von neun Monaten bis zu anderthalb Jahren in Deutschland (N=6) lässt sich als spontane Rückkehr typisieren. Ein Befragter, der nach seinem achtzehnjährigen Aufenthalt in Deutschland in die Heimat zurückging, passt in die Kategorie »return of conservatism« von Cerase (1974), wobei seine unveränderte herkunftsbezogene Identität trotz seiner erfolgreichen beruflichen Integration in Deutschland überwogen hat. Die Rückkehr von acht befragten männlichen Rückkehrinitiatoren lässt sich als eine Mischung von »return of conservatism« und »return of failure« identifizieren, die sich in Deutschland über mehrere Jahre hinweg fremd fühlten sowie wirtschaftliche Schwierigkeiten erlebten. Männliche Rückkehrinitiative zeigt sich insbesondere in einer in manchen Fällen vorkommenden Pionierrückreise ins Heimatland und in der Übernahme des überwiegenden Teils der Rückkehrvorbereitung. Diese besteht aus jährlichen Besuchen des Rückkehrorts und der telefonischen Kontaktaufnahme zu den Verwandten, um sich über die Situation am Rückkehrort zu erkundigen sowie den Wohnsitz und die Arbeit vor der tatsächlichen Rückkehr der ganzen Familie sicherzustellen. Gemeinsam agieren die Ehepartner bei der Auswahl des Rückkehrortes, die zum größten Teil auf ihren ursprünglichen Herkunftsort in der Nähe der Verwandten fällt, was einige Frauen als Entschädigung für ihre unerwünschte Rückkehr betrachten. Zudem spielt die landwirtschaftliche Entwicklung des Dorfes bei dessen Auswahl eine Rolle, da sie für die geplante selbstständige Tätigkeit des Ehemannes von Bedeutung ist. Der Prozess der Rückkehrentscheidungsfindung verlief in den remigrierten (Spät-)Aussiedlerfamilien mit männlichen Rückkehrinitiatoren nicht immer reibungslos, da sich die Ehefrauen trotz ihres gemeinsamen zentralen Rückkehr-

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motivs, »nach dem Wunsch des Ehemannes« zu handeln, im Grad ihrer Rückkehrbereitschaft unterschieden, was im Folgenden nach unterschiedlichen »Ehefrauentypen« dargestellt wird. Ehefrauentyp 1: Die »Loyalen« Ein Teil der befragten Ehefrauen (N=5) zeigte großes Verständnis für die Rückkehrinitiative ihrer Ehemänner aufgrund ähnlicher Integrationsschwierigkeiten in Deutschland. Die bevorstehende Rückkehr bedeutete für diese Frauen trotz ihrer auf den konstanten Aufenthalt in Deutschland orientierten Lebenseinstellung keine große Überwindung, und es kam zu einem konfliktlosen partnerschaftlichen familiären Rückkehrentscheidungsprozess. »Die Rückkehr hierhin hat mich überhaupt nicht erschreckt, ich hatte mehr Angst, als ich dorthin [nach Deutschland] gefahren bin, denn ich bin ins Ungewisse gefahren. Und hier wusste ich, was mich erwartet, das Wie und Wohin.« (weiblich, 36 Jahre alt, derzeit Sportlehrerin)

Ihre baldige Einwilligung zur Rückkehr führten zwei Rückkehrerinnen dieses Typs mit einer kurzen Aufenthaltsdauer in Deutschland vor allem auf die starken Heimwehgefühle ihrer Ehemänner zurück, die beide Ehepartner mit den dortigen Gewohnheiten wie etwa Angeln, Jagen oder dem Halten von Haustieren verbanden: Ehefrau: »Na weiß ich nicht, ich hätte mich dran [an Deutschland] gewöhnt. Wir sind ungefähr nach einem Jahr und einem Monat zurückgekehrt. Vielleicht hätten wir eine Wohnung nehmen sollen, und es wäre ganz anders, vielleicht hätten wir uns dran gewöhnt. […] Dort gab es schon viele Bekannte, als wir noch im Heim gewohnt haben, da gab es drei Häuser in drei Etagen, da gab es so viele Leute. Man hat alle schon gekannt. […] Aber dieses ständige »Heim und Heim«, das war dieses »Nach Hause«. [...] Es zieht [ihn] heim, er ist ein Jäger, er will jagen gehen, über die Felder laufen, schießen.« Ehemann: »Na ..., wie sagt man, Heimat. [...] Na weil wir hier geboren sind, ich liebe es, mein eigenes Haus, meinen eigenen Hof, einen eigenen Hund zu haben.« Ehefrau: »Hättest dir auch dort [in Deutschland] einen Hund zulegen können.« Ehemann: »Was für einen Hund?! Da wohnst du im fünften Stock, was will man da mit einem Hund …!?« Ehefrau: »Ja, bei uns wohnt der Hund nicht im Haus.« (52 Jahre alt derzeit arbeitslos) Ehemann: »Man ist hier [am Rückkehrort] geboren, es zieht dich aber zurück. Das haben mir auch viele gesagt. […] Die Einheimischen, die dort [in Deutschland] Häuser hatten,

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die haben ihre Wurst selbst gemacht, hatten Hunde, deutsche Schäferhunde. Ich liebe das alles. Und dort ein Haus zu bauen ist ziemlich teuer.« (53 Jahre alt, derzeit arbeitslos)

Auffällig ist bei drei jungen Rückkehrerinnen dieses Typs mit einer längeren Aufenthaltsdauer in Deutschland, dass ihre Migration nach Deutschland vor allem auf den Wunsch der Eltern oder der Ehepartner hin erfolgte.20 Dies, sowie ihre aufgrund der Hausfrauentätigkeit und Kleinkindpflege eher stagnierende Assimilation in Deutschland stellen wichtige Einflussfaktoren für ihren Rückkehrwunsch dar. Diese Ehefrauen zeigten eine starke Unterstützung des Selbstverwirklichungsstrebens ihrer Ehemänner, die sich insbesondere im kreditlosen Erwerb eines eigenen Hauses mit Hof und Garten sowie in einer selbstständigen Tätigkeit im Heimatland widerspiegelt: Ehemann: »[…] Das Wichtigste ist mir, dass ich ein eigenes Haus habe. Da [in Deutschland] musst du 30-40 Jahre zahlen. Und dann, kannst du einmal die Miete nicht zahlen, schmeißen sie dich aus dem Haus raus, fertig. Hier [in Russland] verdienst du weniger, hier habe ich im Monat wenig Geld, trotzdem schmeißt mich keiner [aus dem Haus] raus. Ich habe meinen eigenen Garten, mein eigenes Fleisch, meine Schweine. Es macht mir Spaß.« (27 Jahre alt, derzeit selbstständiger Unternehmer) Ehefrau: »[…] Mein Mann wollte immer sein Eigentum haben, hat aber verstanden, dass es in Deutschland nie möglich sein wird. Obwohl er in Deutschland die Ausbildung gemacht hat und auch fleißig in der Lehre war, hat er keine Arbeit in seinem Beruf gefunden. Er hat gearbeitet, aber nicht in seinem Beruf. Nun haben wir nachgedacht, dass es mit solchen Gehältern nie möglich sein wird [ein eigenes Haus zu haben]. Da muss man Schulden aufnehmen, das dauert dann Jahre, bis sie zurückgezahlt sind. Und obwohl viele Banken in Deutschland Kredite anbieten, wollten wir es nicht riskieren.« (27 Jahre alt, derzeit Hausfrau)

Typisch für den »loyalen« Frauentyp ist eine ausgewogene Einstellung hinsichtlich der Frage nach der Rückkehr in die Heimat oder des Verbleibs der Familie in Deutschland. Trotz der Erinnerung an eine bessere finanzielle Situation der Familie in Deutschland21 sowie der festen Überzeugung dieser interviewten Ehe-

20 Von der ›mitgenommenen‹ Generation junger (Spät-)AussiedlerInnen in Deutschland berichtet Schmitz in diesem Band. 21 Die gute finanzielle Situation der Familien in Deutschland beruhte auf staatlicher finanzieller Unterstützung sowie den gut ausgebauten kommunalen Angeboten. So erhielten diejenigen Frauen mit einem kurzen Aufenthalt Eingliederungshilfe und die

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frauen, sie seien überwiegend aufgrund des Rückkehrwunsches des Ehemannes zurückgekehrt, bewerteten sie die Situation am Rückkehrort, gleich ihren Ehemännern, für sich und ihre Kinder in Bezug auf nicht-finanzielle Faktoren als besser als in Deutschland. Dies bezog sich auf den großen Freiraum und die Natur, weniger Verkehr sowie ein besseres, trockenes Klima am Rückkehrort. Des Weiteren sah ein religiöses Ehepaar in der Heimat die Möglichkeit, ihre Kinder nach den Regeln des baptistischen Glaubens zu erziehen, da es in russischen Haushalten und Schulen weniger Möglichkeiten zum Fernsehen und Computerspielen gibt. Außerdem wird der Sexualkundeunterricht in russischen Schulen zu einem späteren Zeitpunkt eingeführt als in Deutschland: Ehefrau: »Ohne ihn [den Ehemann] wäre ich natürlich nicht [zurück] gefahren. […] wir hatten dort alles, unsere Wohnung war sehr gut eingerichtet. Ein Auto ...Wir hatten viele Freunde, es war alles gut. Ich habe ihm gesagt, dass es hier [in Russland] schwierig ist. Ich habe hier [in Russland] ja länger gelebt als er. Ich habe gesagt, dass es hier sehr schwer sein wird zu leben, man muss mehr arbeiten. […] Ich wollte nicht unbedingt dort [in Deutschland] bleiben. Aber ich wollte nicht, dass er dann hier [in Russland] enttäuscht ist. Ich wollte zurück wegen meiner Verwandtschaft. Außerdem habe ich mir auch Sorgen gemacht, dass die Kinder bald eingeschult werden sollen. […] Hier ist es einfacher, die Kinder zu erziehen, dort [in Deutschland] kann man sie nicht bestrafen, man darf sie gar nicht bestrafen. […] zum Beispiel Freunde von uns, die eine Großfamilie haben, sechs Kinder, alles Jungs. Sie [die Freundin] sagt, es kommt schon mal vor, dass man sie vor der Schule ein wenig züchtigen muss mit einem kleinen Klaps auf den Po …, aber man darf es dort [in Deutschland] nicht machen, weil die Kinder in die Schule gehen und dort gefragt werden, wie es in der Familie abläuft, ob man geschlagen wird ... […] und die Kinder könnten sagen, dass sie geschlagen werden. Sie verstehen es ja nicht, dass es manchmal notwendig ist.« (28 Jahre alt, derzeit Hausfrau) Ehemann: »Man will ja nichts Schlechtes. Man will das Kind erziehen. Die [Kinder] merken es, die [Eltern] dürfen es nicht, man wird in Deutschland wie ein Verbrecher dargestellt. Ich wurde zu Hause so erzogen, dass man Respekt vor den Eltern hat, sonst wird man kein richtiger Mensch sozusagen.« (28 Jahre alt, derzeit selbstständiger Unternehmer)

Fremdheitsgefühle, das Streben nach der russischen Freiheit, soziale Isolation, mangelnde Sprachkenntnisse sowie die Familienzusammenführung mit den Verwandten in Russland stellen ergänzende, mit den Ehemännern übereinstimmende, persönliche Rückkehrgründe der befragten Frauen dieses Typs dar. Dar-

drei Frauen mit den kleinen Kindern Kindergeld. Darüber hinaus erlebten die Befragten öffentliche Freizeitangebote für Kinder wie Parks und Spielplätze als positiv.

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über hinaus ergibt sich für diese Frauen, genau wie für ihre Ehemänner, am Rückkehrort mehr Freiheit und Gestaltungsspielraum. Ehefrauentyp 2: Die »Zerrissenen« Ein anderer Teil der befragten Ehefrauen (N=9) reagierte auf die Rückkehrinitiative ihrer Ehemänner widerstrebend und zeigte einen starken Wunsch, in Deutschland zu bleiben.22 Dies verursachte in diesen Familien teils Konfliktsituationen, teils langfristige Verschiebungen der Rückkehr, manchmal auch eine Mischung aus beidem. Dies charakterisiert die Rückkehrentscheidungsprozesse in diesen (Spät-)Aussiedlerfamilien als männerzentriert – autokratisch. Die befragten Frauen haben im Interview oftmals ganz spontan ohne direkte Aufforderung mit großer Emotionalität, manchmal unter Tränen vom Rückkehrwunsch ihres Mannes berichtet. Ganz im Gegensatz zu den männlichen Rückkehrinitiatoren und dem »loyalen« Frauentyp haben sie mehrmals betont, wie gut es ihnen in Deutschland gefallen hat und wie heimisch sie sich dort aus unterschiedlichen Gründen gefühlt haben. Unabhängig von der Aufenthaltsdauer und Beschäftigung der interviewten Ehefrauen in Deutschland bezog sich das zentrale Verbleibmotiv auf ihre bessere Lebenssituation in Deutschland, die im Gegensatz zu der schwierigen traditionellen Frauenrolle im Herkunftsland steht: Vier junge Frauen mit Kleinkindern empfanden die Rückkehr ins Heimatdorf als Freiheitseinschränkung, wodurch sie dem von den männlichen Rückkehrinitiatoren und zum Teil vom loyalen Ehefrauentyp genannten zentralen Rückkehrmotiv der »Freiheit« am Rückkehrort, widersprachen. Dass Frauen im Heimatdorf »gar keine Freiheit« erfahren, wird durch ihre Pflichten, den Hof und das Vieh zu versorgen, begründet. Die private Hauswirtschaftsführung gehört einerseits zur Dorfkultur, stellt andererseits einen wichtigen Teil der wirtschaftlichen Überlebensstrategie der russischen dörflichen Familien dar (vgl. Schönhuth/Kupper/Horn 2000: 18ff.). Die Haushaltsführung im Heimatort wird im Vergleich zu der Bequemlichkeit der Erledigung dieser Arbeiten in Deutschland aufgrund des dortigen Vorhandenseins elektrischer Haushaltsgeräte sowie der Möglichkeit, viele Lebensmittel in Geschäften zu kaufen, als härter empfunden. Die Pflege älterer schwerkranker

22 Es handelt sich bei diesen Rückkehrerinnen, ähnlich wie beim oben beschriebenen Frauentyp, zum größten Teil um Hausfrauen mit Kindern (N=6) sowie um drei berufstätige Frauen mit erwachsenen Kindern (N=3). Drei Interviewte waren nur kurze Zeit (bis zu einem Jahr), die restlichen zwischen vier und achtzehn Jahren in Deutschland.

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Eltern, die zwei männliche Rückkehrer als ihren Rückkehrgrund nannten, betrachtet eine Rückkehrerin als die Aufgabe des Staates. Sie stellt fest, dass die staatliche Altenpflege in Russland im Gegenteil zu Deutschland sehr schlecht organisiert ist, weshalb dies für die Befragte eher ein Rückkehrhindernis als ein Rückkehrmotiv darstellte. Zwei Befragte kommen zu dem Schluss, dass das Leben für die Männer in Deutschland wegen ihrer schweren und niedrig bezahlten Jobs schwieriger ist als in Russland. Die Situation der Frauen erweist sich dagegen als viel schwieriger am Rückkehrort: »Ich glaube, dass es für Frauen dort [in Deutschland] einfacher ist, zu leben ... [...] Insbesondere hier im Dorf [ist es schwer], weil hier die Frau um sechs Uhr morgens aufsteht und dann im Gemüsegarten arbeitet und dann das Haus und die Arbeit und die Kinder versorgt; und das wird ja nicht als Arbeit gezählt, und wenn man noch Nutzvieh hat ... Das ist physisch sehr schwer. Man hat keine Zeit für sich. Und dort [in Deutschland] hat eine Frau auch Zeit für sich, kann irgendwohin mit den Kindern fahren, sich etwas anschauen, irgendwo [im Café] sitzen, und hier gibt es das nicht.« (weiblich, 37 Jahre alt, derzeit Hausfrau)

Ein weiteres Verbleibemotiv der Ehefrauen dieses Typs bezieht sich auf die bessere finanzielle und berufliche Situation der Frauen in Deutschland aufgrund besser bezahlter Frauenjobs, Sozialhilfe, Arbeitslosenunterstützung und Kindergeld. So bestand für eine der Befragten in Deutschland die Möglichkeit der Vereinbarkeit ihrer Ausbildung mit der Versorgung ihrer drei Kleinkinder. Sie musste jedoch aufgrund der Rückkehr »wegen ihres Mannes« die bevorstehende Ausbildung absagen. Solch eine Ausbildung in dem von den großen Städten weit entfernten sibirischen Rückkehrdorf ist für sie aus finanziellen, infrastrukturellen sowie familiären Gründen nicht mehr zu realisieren. Auch das Zurücklassen erwachsener Kinder und der engen Verwandten in Deutschland stellte für fünf der befragten Frauen dieses Typs ein Problem dar. Die Interaktion der Ehegatten im Rückkehrentscheidungsprozess ist durch ihre Zerrissenheit zwischen dem Verbleibewunsch der Ehefrauen in Deutschland und dem Rückkehrwunsch der Ehemänner ins Herkunftsland gekennzeichnet. Dahingehend verlief die Rückkehrentscheidungsfindung bei den interviewten Ehepaaren unterschiedlich: Im Fall eines tief religiösen Ehepaares, der vor allem aus Sicht des Ehemannes geschildert wurde, hat sich die Ehefrau im Rückkehrentscheidungsprozess vom Ehemann eher distanziert und sich ihm gegenüber verschlossen gezeigt. Der Ehemann reagierte mit großem Verständnis auf den Verbleibewunsch der Ehefrau in Deutschland und wartete geduldig auf die Einwilligung zur Rückkehr der Ehefrau:

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Ehemann: »Sie sagte: »Nein. Wir bleiben hier.« Also – in Deutschland. Ja, und ich sagte, »Wenn ich als Mann darauf bestehe, dass wir zurückfahren, wird es uns in diesem Fall leichtfallen, dort zu leben?« Sie sagte: »Nein.« Ich sagte: »Genau so, es wird uns nicht leichtfallen, dort zu leben, weil wir keine Einigung erreicht haben. Du denkst in eine Richtung und ich in die andere. Deswegen bin ich damit einverstanden, auf diese Idee zu verzichten, wir fahren nirgendwohin, bis du mit dieser Entscheidung einverstanden bist.« Ja, dann ist die Zeit vergangen; sie hat gebetet, hat sich Sorgen gemacht, wir haben gebetet, und der Gott hat ihr Herz gewonnen, ich habe mich davon überzeugt, und wir sind dann gefahren. […] Ich denke, sie hatte Angst vor dem schweren Leben hier: der Garten, die Wirtschaft (der Hof), Kühe, Schweine. Wie soll man damit leben? In Deutschland ist es in diesen Fragen einfacher, finanziell ist es in Deutschland nicht so schwer. Sie hatte Angst vor dem Krankenhaus, vor dem Gebären unserer Kinder. Ich habe nicht versucht, sie zu überzeugen zu fahren, nicht versucht, sie zu überreden: »Fahren wir, fahren wir.« Wir kamen mal wieder zu diesem Gespräch, und sie hat es dann für sich entschieden.« (männlich, 29 Jahre alt, derzeit Vorsitzender der Kirchengemeinde) Ehefrau: »[…] Hätte ich nicht zugestimmt, wäre er nicht gefahren. Er hat gewartet, bis ich zusagte.« (28 Jahre alt, derzeit Hausfrau)

Die anderen acht Rückkehrerinnen dieses Typs versuchten, ihre Ehemänner zum Bleiben in Deutschland zu überreden oder zumindest die Rückkehr so lange wie möglich hinauszuschieben, wodurch sie sich immerhin bis zu maximal 18 Jahren hinausgezögert hat. Das wichtigste Bleibeargument bezog sich vor allem auf das geringe Alter der Kinder sowie ihre besseren Ausbildungsmöglichkeiten in Deutschland: Ehemann: »[...] Ja, ich habe mich immer fremd gefühlt, immer … immer. [...] Wie gesagt, ich habe 18 Jahre da gelebt …« Ehefrau: »Also, das heißt, das war schon ein langer Versuch.« Ehemann: »Denke ich auch. Ich habe vieles versucht, mich hat aber vieles gestört. Der Grund für die Rückkehr war, dass ich mich vom ersten Tag dort nicht heimisch gefühlt habe. Ich wollte immer hier sein. [...] Meine Frau, kleine Kinder und Eltern haben mich in Deutschland gebraucht.« (52 Jahre alt, derzeit selbstständiger Unternehmer) Ehefrau: »Ja, ich habe bis zum letzten Moment gekämpft …, dann habe ich aufgegeben. Ich habe gesehen, dass er nicht mehr kann. Deswegen habe ich gesagt, dass es in Ordnung ist.« (48 Jahre alt, derzeit Hausfrau)

Reagierten die Ehemänner zunächst durchweg konstruktiv, so stellten sie nach erfolglosem mehrjährigem Warten auf die Rückkehrzusage ihre Ehefrauen jedoch nur noch vor die Wahl, allein in Deutschland zu bleiben oder in die Heimat

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mitzugehen. Sie setzten die Ehefrauen unter Druck, indem sie zu erkennen gaben, dass ein weiteres Verweigern der Rückkehr zum Zerreißen der Familie führen würde. Manche Ehemänner haben mit diesen Gedanken nur gespielt, wie es in folgendem kurzen Dialog der Eheleute sichtbar ist: Ehefrau: »In manchen Momenten hat er geschwindelt und gesagt, »na gut, dann fahre ich alleine.« (29 Jahre alt, derzeit Verkäuferin) Ehemann: »Na, ich wusste, wie ich es [die Einwilligung zur Rückkehr der Ehefrau] schaffe.« (36 Jahre alt, derzeit LKW Fahrer)

In einem Rückkehrfall betrachtete der Ehemann seinen Rückkehrwunsch als eine Reaktion auf den ursprünglichen Wunsch der Frau, nach Deutschland zu ziehen. Da er zunächst ihren Wunsch akzeptiert hatte, erwartete er bezüglich seines Rückkehrwunsches dasselbe Verständnis von seiner Ehefrau. Die Ehefrau ist dabei der Meinung, dass der Ehemann ohne ihre Einwilligung zur Rückkehr doch nicht weggefahren wäre: Ehemann: »Die Ehefrau hat entschieden [nach Deutschland] zu fahren. […] Was blieb mir anderes übrig, ich musste mitkommen. Und später war ich dann an der Reihe. Ich wollte zurückkehren, und sie ist mit mir mitgekommen. Ja, warum sollte man eine Familie kaputt machen? Ich wollte nach Hause.« (43 Jahre alt, derzeit LKW Fahrer) Ehefrau: »Wenn ich geblieben wäre, wenn ich gesagt hätte, »nein, wir fahren nicht«, dann wäre er auch nicht gefahren. Ich glaube, er hätte mit sich gerungen, aber sich entschieden, in Deutschland zu bleiben. Ich denke, er wäre nicht [zurück-]gefahren.« (38 Jahre alt, derzeit arbeitslos)

Zwei Männer haben tatsächlich ihre Familien in Deutschland zurückgelassen und sind bereits zwei Jahre vor der Rückkehr ihrer Frauen zurückgekehrt: »[…] ich habe lange gewartet und gewartet, zwei Jahre lang. […] Dann war’s vorbei, und ich sagte zu ihr: »Ich fahre dann nach Russland. Ich habe keine Kraft mehr, um hier [in Deutschland] zu bleiben.« […] Ich sagte zu ihr: »Wenn du willst, dann bleib dort. Wenn du willst, dann komm her! Sag mir nur einfach, was du willst!« Na, da bin ich weg. […] sie dachte, dass ich es mir vielleicht anders überlege. Nur deswegen [ist sie dageblieben]. Und als sie verstanden hatte, dass ich nicht mehr nach Deutschland zurückkehren werde, ist sie auch zurück.« (männlich, 55 Jahre alt, derzeit Dozent an einer technischen Universität)

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Trotz des rechtlichen Privilegs der (Spät-)Aussiedlerinnen, auch ohne die Ehemänner in Deutschland zu bleiben, und trotz ihrer Überlegungen, sich von ihren Männer zu trennen, haben sich die interviewten Frauen dieses Typs letztlich zu einer Rückkehr mit dem Ehemann entschieden. Die Frage nach den Gründen dieser Entscheidung lässt sich nicht bei jeder Befragten ganz klar beantworten, da manche während des Interviews starke psychische Anspannung zeigten und teilweise zurückhaltend und verstört auf die Thematisierung ihrer Rückkehrmotive reagierten. Es lassen sich trotzdem drei zentrale, meist zusammen auftretende Einflussfaktoren auf die positive Rückkehrentscheidung dieser Frauen herauskristallisieren: •

Angst, ohne Ehemann in Deutschland zu bleiben, sowie Mitleid mit den Kindern, die ohne Vater gelitten hätten:

»[…] bei uns war es so, ich bin, um ehrlich zu sein, von meinem Ehemann ... wie soll ich es Ihnen sagen … ich habe sogar überlegt, mit den Kindern dort zu bleiben, und er, wenn es ihm dort ... naja, wenn er nach Hause möchte, dann soll er dorthin zurückkehren. Und ich habe schon meine Mutter angerufen und gefragt, ob sie [die Eltern] nicht hierher kommen könnten, damit ich nicht alleine bleibe ... […] Sie [die Mutter] hat gesagt, dass sie mit meinem Vater [im Herkunftsland] bleibt, weil er nicht [nach Deutschland migrieren] will. So ist es. […] Also solche Probleme hatten wir [seufzt]. […] Auf den ersten Blick scheint alles einfach zu sein, aber wenn man alles etwas genauer betrachtet, dann ist alles viel schwieriger.« (38 Jahre alt, derzeit Verkäuferin) »Die Gedanken, allein mit den Kindern in Deutschland zu bleiben, gab es. Aber Kinder! Die Kinder haben ständig »Vater, Vater!« geschrien. Deshalb habe ich beschlossen, wegzufahren. Natürlich haben meine Schwester und meine Mutter versucht, mich davon abzubringen. Aber ich habe es so beschlossen.« (36 Jahre alt, derzeit Mitarbeiterin in der dörflichen Verwaltung)



Mitleid mit den von Integrationsschwierigkeiten stark betroffenen Ehemännern:

Ehemann: »[...] Ich war krank, ich wollte heim.« Ehefrau: »Er ist gewohnt, im Dorf zu leben, und es ist irgendwie einfacher für ihn.« Ehemann: »Ja, für mich ist es einfacher, hier [in Russland] zu leben.« (43 Jahre alt, derzeit LKW Fahrer) Ehefrau: »[…] es war schwierig für ihn, obwohl er ein Russlanddeutscher ist und Arbeit finden konnte und es mit der Sprache einfach für ihn war. […] Ich wollte nicht [zurück-

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kehren]. Ich habe auch meine Mutter und Schwester in Deutschland. […] ich habe schon viel nachgedacht, soll ich oder lieber nicht? Es gab viele Gründe dafür und dagegen. […] Wir haben uns eher häufig gestritten, weil er wollte und ich nicht. Aber im Endeffekt haben wir es beschlossen.« (38 Jahre alt, derzeit arbeitslos)



die herkunftsbezogene traditionelle innerfamiliäre Geschlechterrolleneinstellung der Frauen, die den Ehemann als Entscheidungsträger akzeptieren. Folgender Interviewauszug einer Rückkehrerin beinhaltet alle drei Einflussfaktoren und steht für die meisten Frauen dieses Typs, die letztlich aus Liebe zu ihren Ehemännern die Rückkehrentscheidung getroffen haben:

»Acht Jahre habe ich versucht, meinen Mann von der Rückkehrentscheidung abzubringen, und alles ohne Erfolg, obwohl die Verwandten mir vorgeschlagen haben; viele haben vorgeschlagen, »Gott sei mit ihm, soll er doch fahren, bleib hier!« Aber ich, ah, ich weiß nicht. Habe eine andere Lebenseinstellung, eine andere Erziehung. […] die Frau sollte nur einen Mann haben. Das ist meine Meinung. Ja. Er ist mein Ein und Alles, und es ist ein wenig erschreckend, wenn es anders laufen muss. Deshalb ist es für mich beängstigend, allein zu bleiben. Sehr beängstigend. Ich habe Angst, allein zu bleiben. Deshalb »Wohin die Nadel geht, dorthin geht auch der Faden23« […] Ja, wie soll man sagen? Bei uns Frauen besteht eine solche Mentalität. Es ist wahrscheinlich in unserem Blut verankert, dass bei uns alles der Mann entscheidet. Dieses Hindernis zu überwinden oder zu umgehen, das gelingt uns einfach nicht. Ich verstehe das alles mental, aber die Seele bleibt sozusagen unverändert. […] Ich wollte nicht zurück, wollte nicht zurück. Ich habe jedes Mal versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Natürlich, sage ich eins, für einen Mann ist es in Deutschland schwierig, sehr schwierig, weil er dort auf Touren gearbeitet hat. Also er arbeitete dort bis zur Erschöpfung. Na klar hat es mir leidgetan, dass ich gesehen habe, wie sich die Männer an der Arbeit [in Deutschland] auslaugen, sehr früh sterben und so etwas. Es wäre erschreckend, mit fünfzig Jahren eine Witwe zu werden, nicht wahr? Zudem wären die Kinder schon in so einem Alter, die Angst haben, ohne ihren Vater zu bleiben. ... Na, es wäre erschreckend, also für mich, den Ehemann liebend, und weil ich nicht wollte, dass etwas passiert, deshalb bin ich hergekommen. Das ist alles. Nur, wie man es sagen kann, wegen dem Ehemann bin ich zurück. Mich hat hier [in Russland] nichts gereizt, absolut. Nur der Mann. Und die Kinder.« (weiblich, 29 Jahre alt, derzeit Verkäuferin)

Die Verwandten im Herkunftsland und in Deutschland zeigten sich im Prozess der Rückkehrentscheidungsfindung dieser Familien besorgt und brachten Ver-

23 Ein russisches Sprichwort.

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ständnis für die Schwierigkeiten der bevorstehenden Rückkehr insbesondere für die Ehefrauen auf. Sie boten ihre Hilfe und Unterstützung sowohl im Falle des Verbleibens der Frauen ohne Mann in Deutschland als auch im Falle der Rückkehr der Familie ins Herkunftsland an. Die Intensität und Emotionalität der Interviews unterschied sich bei diesen Ehefrauen stark von der mit den Frauen des ersten Typs. Während mit den Letzteren die Gespräche in gelöster Atmosphäre stattfanden, wurde in den meisten Interviews mit den Ehefrauen des »zerrissenen« Typs ganz klar, dass in diesen Familien das angesprochene Thema bereits zu einem Tabu geworden war. Zwei Frauen erwähnten, dass sie nach ihrer Rückkehr psychisch krank wurden, und in einem Fall musste die Frau aus diesem Grund sogar im Krankenhaus versorgt werden. In einem Fall, in dem der Ehemann zu einem späteren Zeitpunkt zu dem Interview hinzukam, zeigte sich die Ehefrau während seiner Abwesenheit bedrückt sowie fast weinend und mit dem Erscheinen des Ehemannes ermuntert und voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Es wurde ganz klar, dass diese Frau das Thema ihrer nicht erwünschten Rückkehr in Anwesenheit des Ehemannes nicht behandeln wollte. Ein anderer befragter Ehemann, der ohne seine Ehefrau interviewt wurde, beschrieb deren Wunsch, nach Deutschland zurückzukehren, mit den Worten »Sie würde sogar heute noch zurückfahren [nach Deutschland], [...] nur wenn ich einwillige ... [...] dort [in Deutschland] war es für sie leichter. Hier muss man den Hof versorgen«. Er stellte ganz deutlich klar, dass er kein Interview mit seiner Ehefrau wünschte. Erst in der zweiten Feldforschungsphase des Nachfolgejahres kam es doch spontan zum Interview mit seiner Ehefrau. Während ihrer detaillierten und sehr offenen Aussagen zu ihren Rückkehrentscheidungs- und Reintegrationsschwierigkeiten am Rückkehrort verhielt sich der Ehemann sehr zurückhaltend und schweigsam, als ob er in diesem Moment Mitleid und Schuldgefühle gegenüber seiner Ehefrau empfand. Er und auch manche andere Ehemänner versuchten, die Ehefrauen durch aufmunternde Worte (wie etwa »Es wird sich alles mit der Zeit anpassen« oder »Es kommt ja alles mit der Zeit«) von der Richtigkeit der Rückkehrentscheidung zu überzeugen. Gleichzeitig gaben die Ehemänner zu verstehen, dass die von ihren Frauen sogar nach einem langjährigen Aufenthalt immer noch gewünschte Wiederrückkehr nach Deutschland ihrerseits nicht infrage kommt. Sie zeigten sich in der Richtigkeit ihrer Rückkehrentscheidung selbstbewusst und ohne Zweifel. Insgesamt entstand der Eindruck, dass die interviewten Frauen dieses Typs, die manchmal am Anfang des Gesprächs eine gewisse Zurückhaltung zeigten, im weiteren Interviewverlauf froh waren, mit der Interviewerin über ihre seelischen Probleme sprechen zu können, da sie ihre Rückkehrentscheidungstraumata mit

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ihrem Mann, Verwandten und Freunden aufgrund der Tabuisierung des Themas nicht besprechen können. Ehefrauentyp 3: Die »beruflich Erfolgreichen« Für zwei junge, städtische bzw. aus einer großen Stadt nach Deutschland migrierte hochausgebildete Rückkehrerinnen stellte Deutschland eine Möglichkeit für einen Geschlechterrollenwandel dar, der in der Regel mit finanzieller bzw. beruflicher und sprachlicher Eigenständigkeit der Frauen im Aufnahmeland einhergeht.24 Dass der Aufenthalt in Deutschland bei finanziell unabhängigen Ehefrauen nicht zwangsläufig Emanzipationsbestrebungen auslöst, zeigt ein Fall, in dem die Frau dieses Typs die Rückkehrinitiative ihres Ehemannes unterstützte, da sie dessen berufliche Aufwertung im Herkunftsland mit der Hoffnung auf eine Wiederherstellung der traditionellen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau verbindet. Damit bestätigt sich die in der Forschungsliteratur beschriebene These des auch seitens der Migrantinnen unerwünschten innerfamiliären Geschlechterrollenwandels aufgrund der dadurch bedingten Konfliktanfälligkeit der Familie (vgl. Parnreiter 2000: 43). Diese Interviewte betrachtet die finanzielle Unabhängigkeit des Ehemannes am Rückkehrort als Rettung ihrer Ehe, da sie ihre führende Rolle innerhalb ihrer Familie gegenüber ihrem arbeitslosen Mann im Fall des Verbleibens der Familie in Deutschland nicht länger hätte aushalten können: »[...] Ich fühlte mich dort [in Deutschland] – na, ich mag es nicht, die Führungsrolle zu übernehmen. Ich brauche einen Mann, der vor mir ist. Und dort ist es genau umgekehrt gewesen: Mein Mann saß zu Hause, hat »Beljaschi25« gemacht, und ich konnte in der Zeit arbeiten. Bei mir klappte es [in Deutschland] ganz gut, die Sprache habe ich schnell gelernt, nach vier Monaten konnte ich es bereits, nach zwei Monaten hat man mir sogar eine Arbeit gegeben. Er ist auch eine Ausbildung machen gegangen, als Kaufmann, es hat ihm aber trotzdem nicht gefallen. Und ich denke, wir sind deswegen von dort weg. […] Mein Mann konnte dort nicht arbeiten, konnte dort nicht leben. Er konnte ohne mich nichts. Hier kann er selbstständig raus, er macht sich keine Sorgen. Wir werden hier zusammen auf die Enkelkinder aufpassen. Wären wir dort geblieben, hätten wir uns getrennt.« (weiblich, 42 Jahre alt, Zahnärztin)

24 Diese zwei Interviews wurden nur mit den Frauen geführt, da sich ihre Ehemänner dazu nicht bereit erklärten. 25 Russisches Gebäck aus Teig und Fleisch.

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Der anderen Befragten dieses Typs ist ihre Rückkehrentscheidung im Gegensatz zu der oben beschriebenen Rückkehrerin schwergefallen. Einerseits schätzte sie ihre gewonnene finanzielle Unabhängigkeit vom Ehemann sowie vielversprechende Ausbildungschancen als Informatikerin in Deutschland. Andererseits sah sie im Fall des Verbleibs der Familie in Deutschland keine Lösung für das Problem der sprachlichen Abhängigkeit des Ehemannes von ihr. Sie beschrieb ihren Entscheidungsfindungsprozess zur Rückkehr, ähnlich dem obigen Frauentyp der »Zerrissenen«, als ein »Dilemma« zwischen ihrem Wunsch, in Deutschland zu bleiben und dem Wunsch des kleinen Sohns, mit dem Vater zurückzukehren: »Deutschland hatte ich wirklich gerne. Aber wir hatten ein Problem, als mein Mann zurückkehren wollte ... Er hatte [in Deutschland] keine stabilen Kontakte, keine Bekanntschaften gehabt. Verstehen Sie, er ist ein Mann. Er ist der Geldverdiener. Er war hier in Russland selbstständig; wenn er etwas wollte, konnte er einfach die Tür zuknallen und mit den Freunden wegfahren, ich konnte [ihm] gar nichts sagen. Und in Deutschland konnte er keinen Schritt ohne mich machen. Er konnte das nicht aushalten. Er hat sehr aktiv Deutsch gelernt, wollte wirklich die Sprache beherrschen. Aber trotzdem, es lag ein Jahr Unterschied zwischen uns. Er kam, und ich war bereits seit einem Jahr da. [...] Ja, und ich habe ihn dann doch überall hin begleitet, um zu dolmetschen. Es gab sogar so einen Fall, als wir nach Österreich zum Skilaufen gefahren sind. [...] Dort haben wir die Ski gemietet, und es kam zu uns ein junger, hübscher, sportlicher Mann und hat angefangen, mit meinem Mann zu sprechen, hat gefragt, welche Größe er braucht usw. Mein Ehemann hat ihn angeschaut, dann habe ich dem Mann gesagt, dass mein Ehemann gar kein Deutsch sprechen kann, dass er mir alles sagen soll, ich werde dann übersetzen. Und dann haben wir alles ausgewählt, die Ski, die Schuhe. Dann habe ich diesen österreichischen Mann gefragt, was wir als Pfand abgeben sollen, welche Kaution es dafür gibt, einen Ausweis oder etwas anderes. Und dieser Mann hat mir dann ganz ernst, ohne zu lächeln, gesagt: »Entweder Liebe oder Ausweis.« Ja, ich habe gelacht und habe ihn noch gefragt, ob ich ihn richtig verstanden habe. Er hat mir gesagt, dass ich ihn richtig verstanden hätte. Als wir rausgegangen sind, habe ich meinen Mann gefragt, wann er endlich Deutsch sprechen kann, weil man mir hier schon Liebe anbietet ... Ja, solche Momente hatten wir. Er hat sich wirklich bemüht, er hat die Sprache gelernt, er hat mit den Händen versucht, etwas zu erklären. Aber es war sehr schwer für ihn. […] Und als er zurückfahren wollte, da hat er bereits neun Monate in Deutschland gearbeitet und wollte dann wie »eine Ente im Frühling zurück in Richtung Norden«. Ich war bereits drei Jahre in Deutschland, und unser Sohn war damals sechs Jahre alt. Kinder hängen sehr an ihrem Vater. Und unser Sohn sagte, dass er unbedingt zusammen mit seinem Vater [ins Herkunftsland] gehen wollte. Er hat geweint, geheult, war hysterisch, obwohl er ein sehr ruhiges Kind war. Und da stand ich vor dem Dilemma. Entweder hätte ich in Deutschland ohne meinen Mann und mein Kind bleiben

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können oder eben alles in Deutschland abbrechen und zurück nach Russland gehen können. Ich wusste wirklich nicht, was ich machen sollte.« (weiblich, 36 Jahre alt, derzeit Geschäftsführerin einer Zahnarztpraxis)

Diese Interviewte hat sich kurz nach der Rückkehr ins Herkunftsland von ihrem Ehemann jedoch getrennt. Den Grund dafür sieht sie in ihrer während der Migration gemachten Erfahrung der finanziellen Unabhängigkeit vom Ehemann, welche sie ebenfalls am Rückkehrort anstrebte und was in der Familie häufig zum Streit führte. Auch zwei interviewte geschiedene Ehemänner sehen den Grund für die Trennung der Ehefrauen von ihnen in ihrer durchgemachten Emanzipationserfahrung in Deutschland und betrachten es als eine negative Migrationsfolge für die Familie: »Die Arbeit habe ich verloren. Die Firma ist pleitegegangen. [...] Nun, wie soll ich das sagen, zu dem Zeitpunkt [der Rückkehr] waren wir bereits getrennt. Sie hat eine andere Wohnung genommen. Sie sagte, sie wolle allein leben. Ich habe mit ihr geredet, habe versucht, sie zu überreden, aber nein. Das ist doch dort die Regel, sobald eine russische Frau nach Deutschland kommt, sagt sie, sie braucht keinen Mann, sie kann allein leben, Kinder hat sie, und Kindergeld bekommt sie auch. So war’s.« (männlich, 52 Jahre alt, derzeit Viehpfleger)

Familienrückkehrtyp 2: Rückkehr aufgrund der Initiative der Ehefrau Obwohl Frauen in keinem der 23 untersuchten Fälle explizit als Rückkehrinitiatorinnen thematisiert wurden, zeigte sich bei fünf Interviews, die vordergründig eine Rückkehrinitiative beider Ehepartner nahelegten und auf eine partnerschaftlich getroffene innerfamiliäre Rückkehrentscheidung verwiesen, bei genauerem Hinsehen eine »heimliche« Gendertendenz in Richtung der Ehefrauen. Dies ließ sich vor allem aufgrund teilnehmender Beobachtung sowie kurzer Andeutungen der InterviewpartnerInnen im Gespräch feststellen. In einem Fall geht aus der Aussage der Frau hervor, dass vor allem sie diejenige war, die die Rückkehrentscheidung getroffen hat. Die Integrationsschwierigkeiten der nach Deutschland »mitgenommenen« Kinder in das deutsche Bildungssystem und ihr daraus entstehendes Fremdheitsgefühl (siehe dazu Schmitz in diesem Band) sowie die Zerrissenheit der Kernfamilien zwischen zwei Ländern infolge der Rückkehr oder des bei Ausreise Zurückgebliebenseins naher Verwandter wie beispielsweise erwachsener Kinder in Russland erscheinen im

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Rückkehrentscheidungsprozess für die Rückkehrerinnen dieses Typs als bedeutende Rückkehrmotive26: »[…] ich sage auch, wenn die Kinder sich dort [in Deutschland] eingelebt hätten und geheiratet hätten, vielleicht würde das Schicksal eine ganz andere Wendung nehmen. […] Ein großer Faktor war, dass die Kinder zurückwollten. […] Es war sogar so, dass die Kinder noch vor uns gefahren sind. Die Jüngste war ja nur ein Jahr dort [in Deutschland]. Und die andere nur anderthalb Jahre und ist wieder zurück.« (weiblich, 55 Jahre alt, derzeit arbeitslos)

Die Pionierrückkehr von drei interviewten Ehefrauen dieses Typs stellt ein weiteres Indiz für das Ausgehen der Rückkehrinitiative von ihnen dar. Familienrückkehrtyp 3: Rückkehr aufgrund der Initiative beider Ehepartner Nur die zwei familiären Rückkehrfälle von Rentnerpaaren sind durch die gemeinsame Rückkehrinitiative beider Ehepartner gekennzeichnet. Hier spielten Einflussfaktoren wie die Kinder und Enkel am Rückkehrort, die dortige Möglichkeit, auf die Enkel aufzupassen und damit den Kindern zu helfen sowie das damit einhergehende Gefühl der eigenen Nützlichkeit eine entscheidende Rolle: »[…] ich würde sagen, dass man dort [in Deutschland] wohnen kann, auf jeden Fall. Der Mensch gewöhnt sich daran, adaptiert und integriert sich. Leben kann man da, wir hätten auch vielleicht länger dort gelebt, aber hier sind auch unsere Kinder und unsere Enkelkinder; das Wichtigste sind die Enkel, die Kinder sind ja schon groß. Aber die Enkel großzuziehen. Die Enkel gehen in die Schule, dann nach Hause, die Eltern sind ja den ganzen Tag auf der Arbeit, und die müssen ja mit jemandem sein. Das sind doch Kinder.« (männlich, 78 Jahre alt)

Obwohl das Fremdheitsgefühl in Deutschland nicht als zentrales Motiv genannt wurde, haben sich die beiden älteren Ehepaare dahingehend geäußert, dass sie 26 Im Interviewverlauf mit einer Frau dieses Familienrückkehrtyps, die russischer Nationalität ist und als Familienangehörige ihres russlanddeutschen Ehemannes migrierte, hat sich zufällig herausgestellt, dass sie ihre beiden erwachsenen Kinder aus erster Ehe nach ihrer Ausreise nach Deutschland in Russland zurücklassen musste. Diese im Interviewgespräch mit beiden Ehepartnern eher verschwiegene Familienkonstellation kann als Grund für die Rückkehrinitiative dieser befragten Ehefrau angenommen werden.

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sich in Deutschland fremd gefühlt haben und ihren Lebensabend in der Heimat verbringen wollten. Das Vorhandensein des vor der Migration nach Deutschland nicht verkauften Hauses oder das Teilen des Hauses mit den Kindern spielte eine wichtige Rolle für ihre Rückkehrentscheidung.

F AZIT Die in diesem Beitrag dargestellten empirischen Ergebnisse qualitativer Interviews mit remigrierten (Spät-)Aussiedlerfamilien in Westsibirien erlauben eine erste genderspezifische Darstellung der innerfamiliären Rückkehrentscheidungsfindungsprozesse dieser Migrantengruppe. Die von seelischen, ökonomischen und sozialen Integrationsschwierigkeiten in Deutschland benachteiligten Ehemänner treten in den meisten interviewten Familien als Rückkehrwillige auf.27 Ihr Rückkehrwunsch manifestiert sich zudem in der Realisierung der Remigrationsvorbereitungen und, in manchen Fällen, der Pionierrückkehr ins Heimatland. Trotz des gemeinsamen zentralen Rückkehrmotivs der meisten Ehefrauen, »nach dem Wunsch des Ehemannes« zu handeln, unterscheiden sie sich in dem Grad ihrer Rückkehrbereitschaft. Die stark ausgeprägten Verbleibewünsche eines Teils der interviewten Ehefrauen in Deutschland führten zu mehrjährigen Auseinandersetzungen der Ehepartner miteinander um die Rückkehr und schließlich zu einer männerzentriert-autokratischen innerfamiliären Rückkehrentscheidung.28 Die Angst, ohne Mann in Deutschland zu bleiben, das Mitleid mit den 27 Die Analyse der Anträge rückkehrwilliger (Spät-)AussiedlerInnen an die rückkehrunterstützende Organisation Heimatgarten (http://www.heimatgarten.de) der Arbeiterwohlfahrt (AWO), die dem SFB 600 Projekt »Netzwerkbeziehungen und Identitätskonstruktionen – Rückkehrstrategien von (Spät-)Aussiedlern im Kontext sich wandelnder Migrationsregime« zur Verfügung gestellt wurden, bestätigt die These der Männer als Rückkehrinitiatoren. In 14 der 29 analysierten Familienrückkehrfälle treten die Ehemänner als Antragssteller oder als von den Ehefrauen angegebene Rückkehrwillige auf. In acht Fällen treten beide Ehepartner und in sieben Fällen die Ehefrauen als Rückkehrwillige auf. Auffällig ist die Angabe der beruflichen und sprachlichen Integrationsschwierigkeiten der nach Deutschland »mitgenommenen« Kinder bei vier von acht Anträgen, die von Ehefrauen gestellt wurden. Auch dies deckt sich mit den in diesem Beitrag festgestellten Erkenntnissen (zur Arbeit des Projektes »Heimatgarten« siehe Suppes in diesem Band). 28 Da es sich hierbei um tatsächlich stattgefundene Rückkehrentscheidungen und nicht rein hypothetisch erwogene handelt, wissen wir nicht wie viele Frauen sich durchgesetzt haben und somit mit ihrem Ehemann in Deutschland geblieben sind.

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Kindern und Ehemännern sowie eine traditionelle Geschlechterrolleneinstellung, die den Mann als Entscheidungsträger sieht, haben diese (Spät-)Aussiedlerinnen zu ihrer Rückkehr bewegt. Ein anderer Teil der interviewten Ehefrauen unterstützte die männliche Rückkehrinitiative mit ihrer baldigen Einwilligung zur Rückkehr, da sie ähnliche Assimilationsschwierigkeiten in Deutschland hatten wie ihre Ehemänner und den in Deutschland erlebten Geschlechterrollenwandel ablehnten. Die Rückkehrentscheidung in diesen Familien wurde partnerschaftlich getroffen. Dasselbe Entscheidungsmuster zur Rückkehr findet sich auch bei weiteren interviewten (Spät-)Aussiedlerfamilien, bei denen sich trotz der Angabe des Rückkehrwunsches beider Ehepartner eine »heimliche« Rückkehrinitiative der Ehefrauen beobachten lässt und bei zwei Rentnerpaaren mit einer gleichwertigen Ausprägung des Rückkehrwunsches beider Ehepartner. Bei der Analyse der Nachhaltigkeit der Rückkehrentscheidungen der interviewten (Spät-)AussiedlerInnen zeigen sich die Männer mit ihrer Lebenssituation am Rückkehrort insgesamt zufriedener als die Frauen. Meist bezeichnen die Ersteren ihre Rückkehrentscheidung als einzig möglichen und richtigen Weg und weisen seltene bis völlig ausbleibende Besuche Deutschlands sowie einen geringen Wunsch einer Rückkehr nach Deutschland auf. Im Gegensatz dazu zweifeln manche Ehefrauen an der Richtigkeit der Rückkehrentscheidung, selbst nach einem langjährigen Aufenthalt im Herkunftsland.29 Sie fahren öfter als die Ehemänner nach Deutschland zu Besuch, freuen sich auf die Pakete mit den am Rückkehrort fehlenden deutschen Waren und sehen im Vorhandensein der doppelten Staatsangehörigkeit für sich und insbesondere für ihre Kinder eine sich immer anbietende Option der Rückkehr nach Deutschland.

L ITERATUR Aufhauser, Elisabeth (2000): Migration und Geschlecht: Zur Konstruktion und Rekonstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit in der internationalen Migration, in: Karl Husa/Christof Parnreiter/Irene Stacher (Hg.), Internationale Migration. Die globale Herausforderung des 21. Jahrhunderts?, Frankfurt a.M.: Brandes und Apsel, S. 97-122. Baraulina, Tatjana/Kreienbrink, Axel (2013): Rückkehr und Reintegration. Typen und Strategien an den Beispielen Türkei, Georgien und Russische Föderation. Beiträge zu Migration und Integration, Bd. 4, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen 29 Am Beispiel einer remigrierten (Spät-)Aussiedlerfamilie berichtet auch Tauschwitz in diesem Band über die Zerrissenheitsgefühle der Ehefrau nach ihrer Rückkehr.

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Einmal Deutschland und wieder zurück Umkehrstrategien von (Spät-)Aussiedlern im Kontext sich wandelnder Migrationsregime M ICHAEL S CHÖNHUTH UND M ARKUS K AISER

E INLEITUNG Das diesem Beitrag zugrunde liegende Forschungsprojekt untersuchte in den letzten vier Jahren die Rückkehrstrategien von (Spät-)Aussiedlern, für die das »Migrationsprojekt Deutschland« nicht erfolgreich verlief, und die sich deshalb zu einer Wiederrückkehr in den geografischen bzw. kulturellen Herkunftsraum entschlossen haben (vgl. Baraulina 2013, Kaiser/Solovieva 2013). Der Beitrag fasst zentrale Erkenntnisse dieses Projektes zusammen. Basierend auf intensiven Gesprächen und sozialen Netzwerkkarten mit mehr als 50 Personen (siehe auch Fenicia und Schmitz in diesem Band), teils geführt vor und nach der Ausreise sowie der Nutzung von Brief-Korpora von über 250 Personen, die im Vorfeld der Rückkehr Rat bei einer Rückkehrberatungsagentur gesucht hatten (Suppes 2008, und in diesem Band), schauen wir auf Motive und Strategien der Remigration und der Lebenskonstruktionen dazwischen (siehe auch Mattock in diesem Band zur institutionellen Nichtwahrnehmung der Remigration von Russlanddeutschen), und wollen damit auch einen Beitrag zur allgemeinen Remigrationsforschung leisten (vgl. auch Schönhuth 2008).

D ER STRUKTURELLE K ONTEXT : (S PÄT -)AUSSIEDLER ZWISCHEN POLITISCHEN M IGRATIONSREGIMEN Seit 1988 kamen ungefähr drei Millionen Menschen – ca. 800.000 aus den mittelosteuropäischen Staaten und ca. 2,2 Millionen aus den Nachfolgestaaten der

276 | M ICHAEL SCHÖNHUTH UND M ARKUS K AISER

Sowjetunion – im Rahmen der Aussiedleraufnahme in die Bundesrepublik Deutschland (Beauftragter für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten 2014). Bis Ende der 1980er Jahre erfolgte die Aufnahme der Aussiedler, die einen Einreiseantrag für Deutschland gestellt hatten, allein aufgrund der Annahme, dass sie in ihren Herkunftsgebieten diskriminiert werden. Seit 1993 müssen Ausreisewillige einen förmlichen Antrag aus ihrem Herkunftsland beim Bundesverwaltungsamt in Köln stellen, in dem glaubhaft gemacht wird, dass am 31. Dezember 1992 oder danach Benachteiligungen oder Nachwirkungen früherer Benachteiligungen aufgrund deutscher Zugehörigkeit vorlagen. Außerdem müssen Antragssteller ihre Volkszugehörigkeit über ihre deutsche Abstammung nachweisen, sich zur deutschen Nationalität bzw. zum deutschen Volkstum bekennen und es müssen familiäre Bestätigungsmerkmale wie die deutsche Sprache, Kultur oder Erziehung vermittelt worden sein.1 Sobald die (Spät-)Aussiedler im Anschluss an ihren Umzug nach Deutschland die entsprechende Bescheinigung nach dem BVFG bekommen haben, können sie nach § 4 des Staatsangehörigkeitsgesetzes die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch erwerben (Bundesministerium des Innern 2010). Ihre nichtdeutschen Ehegatten oder Abkömmlinge dürfen ebenso im Geltungsbereich des Gesetzes (§7) die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben.2 Die (Spät-)Aussiedler gelten als Deutsche im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes3 und stellen somit eine besondere, in gewisser Weise privilegierte Migrantengruppe dar:

1

Die Merkmale dieses Bekenntnisses liegen dann vor, wenn die Zugehörigkeit zur deutschen Volksgemeinschaft auch Dritten gegenüber wahrnehmbar kundgetan wurde, wie z.B. durch den Passeintrag der deutschen Volkszugehörigkeit, durch Zeugnisse von deutschen Schulen (vgl. Kiel 2009: 32).

2

Seit Inkrafttreten des KfbG 1993 wird zwischen den unterschiedlichen Status von (Spät-)Aussiedlern differenziert: Spätaussiedler (§ 4 des Bundesvertriebenengesetzes [BVFG]), Ehegatten und Abkömmlinge (§ 7 Abs. 2 BVFG) und sonstige Familienangehörige (§ 8 Abs. 2 BVFG).

3

Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist »wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiet des deutschen Reiches nach dem Stand vom 31.12.1937 Aufnahme gefunden hat.« (Archiv der Jugendkulturen 2003: 15).

E INMAL DEUTSCHLAND UND WIEDER ZURÜCK

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»Die Bezeichnung ›Aussiedler‹ bzw. seit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1993 ›Spätaussiedler‹ ist ein ethnonationaler Euphemismus; denn anerkannte Aussiedler sind zwar Deutsche mit allen Rechten, wozu z.B. bei den oft binationalen Ehen auch das Recht auf die Einreise nicht-deutscher Familienmitglieder zählt. Die Aussiedler kommen aber kulturell, mental und sozial in eine echte Einwanderungssituation.« (Bade/Oltmer 2004: 90)

Im Rahmen der gesetzlichen Änderungen auf bundesdeutscher Seite haben sich die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen sowie die Zuzugsbedingungen für Spätaussiedler seit 1996 in mehreren Stufen verringert. Durch die Einführung des Prinzips der Beweisumkehr verschärften sich in der Folge die Bedingungen für die Aufnahme. Ein kollektives Kriegsfolgenschicksal wird nur noch bei Übersiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion angenommen. Die übrigen müssen ihr Kriegsfolgenschicksal individuell glaubhaft machen. Zugleich erfolgte eine Zuzugsbegrenzung auf jährlich maximal 200.000 Personen und die Forderung des Nachweises von deutschen Sprachkenntnissen zuerst in Deutschland, später dann schon vor der Ausreise.4 Seit 2005 müssen auch Familienangehörige Kenntnisse der deutschen Sprache nachweisen. Lag der Anteil der Deutschstämmigen unter den Ausreisewilligen 1993 noch bei über 75%, so hat sich das Verhältnis gegenüber den NichtDeutschstämmigen inzwischen umgekehrt. Das Migrationstor zur Einreise wurde bildlich gesprochen immer weiter geschlossen. Auf der anderen Seite etablierten die Russische Föderation und die Kasachische Republik eine ethnische Rückkehrpolitik, die das Migrationstor zur Wiedereinreise öffnete. Gleichzeitig unterstützt die Bundesregierung das Verbleiben der rund 600.000 Deutschstämmigen in der Russischen Föderation – mit zuletzt noch rund 10 Mio. Euro/Jahr (Bundesministerium des Innern 2011). Von bis zu 400.000 zu Beginn der 1990er Jahre verringerten sich die jährlichen Zuzugszahlen – trotz angenommener noch insgesamt ca. 1,5 Mio. Deutschstämmiger in den GUS-Staaten und Südosteuropa – kontinuierlich auf zuletzt 1.817 im Jahr 2012 (Bundesministerium des Innern 2014: 96).

4

Sie liegt vor, wenn die erforderlichen Deutschkenntnisse durch die Verwendung des Deutschen innerhalb der Familie, vermittelt wurde. Der Nachweis erfolgt durch die Fähigkeit zu einem »einfachen Gespräch auf Deutsch« – am besten im Dialekt (zu den genauen Verwaltungsdurchführungsrichtlinien vgl. Bundesministerium des Innern 2012).

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R EMIGRIERENDE (S PÄT -)AUSSIEDLER : E INE BESONDERE G RUPPE AUF DEM W EG ZURÜCK IN DIE H ERKUNFTSREGIONEN Seit Ende der 1990er Jahre kehren hingegen vermehrt Russlanddeutsche – vorwiegend in ihre Herkunftsgebiete – zurück, eine Kohorte, die mit ca. 12.00015.000 Personen, bezogen auf die Gesamtgruppe der seit 1993 eingereisten Spätaussiedler zwar gering ausfällt, zahlenmäßig aber zur größten Gruppe rückkehrender Migranten aus der Bundesrepublik gehört (siehe unten).5 Quantitative Aussagen zur Rückkehr aus Deutschland sind allerdings problematisch, da einerseits die Rückkehr von (Spät-)Aussiedlern generell nicht erfasst wird (endgültige Rückkehrer werden in der Statistik unter die Gruppe ›deutsche Auswanderer‹ subsumiert) andererseits transnational angelegte Migrationsprojekte nicht unter den Begriff ›Remigration‹ fallen. Das Potenzial an Rückkehrern ist jedenfalls wesentlich größer als die tatsächliche Remigration.6 Die Hochphase der öffentlichen Diskussion um die Rückkehr von Russlanddeutschen nach Russland und Kasachstan lag in den Jahren vor der/den Wirtschaftskrise(n), (2000-2008) als die Ökonomien dort erstmals weit stärker wuchsen als die bundesdeutsche Volkswirtschaft. Zweifelsohne kann im Vergleich zu den 1990er Jahren von einer Umkehr der Rahmenbedingungen gesprochen werden: Russland sowie Kasachstan sind wirtschaftlich erstarkt. Kasachstan lag mit durchschnittlich 8,5% in den Jahren 2000-2010 auf Rang 3 beim Wirtschaftswachstum weltweit. Beide Länder werben mittlerweile – wie oben angesprochen – Rückkehrer an. Dazu zählen auch (Spät-)Aussiedler.7 Die Integration von (Spät-)Aussiedlern verläuft gegenüber anderen Migrantengruppen atypisch, von einer anfänglichen staatsbürgerlichen Vollintegration und gleichzeitiger kultureller Inklusionsunterstellung als ehemals Deutsche in der Sowjetunion über in der Integrationsliteratur beschriebene Ernüchterungen

5

13.661 im Zeitraum 2000-2006 (vgl. Schmid 2009: 77); vgl. dazu auch Bundeszentrale für politische Bildung (2012).

6

Die Aspiration von Russlanddeutschen zur Rückkehr wurde als erstes in Berlin erhoben (Haupt/Wockenfuß 2007). Die Studie wurde im Jahr 2006 in Berlin-Marzahn durchgeführt, wo rund 23.000 Spätaussiedler leben und 20% von ihnen wollten ihre Bleibeentscheidung von der weiteren Entwicklung in Deutschland abhängig machen.

7

Das ›Programm Landsleute‹ der russ. Regierung soll die Rückwanderung von 300.000 Personen russischer Muttersprache aus der GUS, Israel, den USA und aus Deutschland (Spätaussiedler, jüdische Zuwanderer und russische Staatsangehörige) fördern, vor allem um demografischen Problemen entgegenzuwirken.

E INMAL DEUTSCHLAND UND WIEDER ZURÜCK

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des eigenen kulturellen Andersseins und partieller Exklusionserfahrungen (»Russen«; »den Deutschen gleichgestellte Ausländer«), bis hin zur endgültigen Remigrationsentscheidung. Gleichzeitig erleichtert die Passnationalität und die doppelte Staatsbürgerschaft wie sie mit der Russischen Föderation besteht, transnationale Lebensprojekte/Pendeln (»jederzeit reisen«, »Besuche problemlos«). Rückkehr auf Dauer ist somit nicht die einzige Form der Mobilität in die Heimat: temporäre (oder auf Dauer) angelegte transnationale Lebensprojekte, zeitlich begrenzte Aufenthalte (Auslandsstudium, Heimwehtourismus und Familienbesuche, Partnersuche/Liebe, etc.) lassen sich weitaus problemloser realisieren als bei anderen Migrantengruppen.8 Auch in diesem Punkt handelt es sich bei unserer Untersuchungsgruppe um einen besonderen Migrantentyp.

R ÜCKKEHRPOTENZIAL

UND TATSÄCHLICHE R ÜCKKEHR : SOZIODEMOGRAFISCHE T RENDS AM F ALLBEISPIEL Über die durch einen Rahmenkooperationsvertrag zwischen unserem Forschungsprojekt und dem Arbeiterwohlfahrts-Projekt Heimatgarten9 ermöglichte quantitative und qualitative Totalauswertung von 259 Datensätzen10 war es möglich, Fälle tatsächlicher Rückkehr im Jahr 2009 und 201011 sowie idealtypische Motive für eine Rückkehr an einem geschlossenen und überschaubaren Datenkorpus Rückkehrwilliger und tatsächlicher Rückkehrer herauszuarbeiten (vgl.

8

Mit diesen Mobilitätsformen befasst sich explizit der dritte Teil »Transnationale Le-

9

Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) hatte 2007 in Karlsruhe mit Unterstützung der baden-

bensprojekte: Geteilte Zugehörigkeit(en)« dieser Anthologie. württembergischen Landesregierung die bundesweit erste Beratungsstelle für rückkehrwillige Aussiedler eröffnet. »Heimatgarten« Karlsruhe war zu dem Zeitpunkt die einzige öffentlich geförderte Institution zur Beratung rückkehrwilliger Spätaussiedler. 2013 wurde das Büro, nach Beendigung der Landesförderung, auch wegen der fehlenden Nachfrage geschlossen. Insgesamt hat die Stelle rund 460 Aussiedler beraten, verlassen haben Deutschland nach Angaben des für das Projekt zuständigen Geschäftsführers der AWO-Bremerhaven schließlich knapp 170 (vgl. Deutsche Welle 2013). 10 Darunter 107 Briefe und 152 halbstandardisierte Fragebögen (wobei ein Fall oft mehrere Personen beinhaltet). 11 So konnte festgestellt werden, dass von den durch Heimatgarten betreuten Fällen im Jahr 2009 insgesamt 16 Fälle (42 Personen) und im Jahr 2010 26 Fälle (47 Personen) in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt sind.

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Suppes in diesem Band zur Arbeit des Heimatgartenprojektes). Aufgrund einer Fokussierung des Programms auf bedürftige Personen (nur diese kamen über die Beratung hinaus in den Genuss finanzieller Zuwendungen und individueller Betreuung nach der Rückkehr) ist die Fallauswahl nicht repräsentativ. Sie dürfte derzeit aber aufgrund der fehlenden Statistiken die umfassendste ihrer Art sein, und lässt belastbare Aussagen über unterschiedliche Rückkehrmotive und -strategien zu. In 63% der rückkehrwilligen (Spät-)Aussiedlerfälle äußerten die Beteiligten den Wunsch nach Russland, und 28% der Fälle den Wunsch nach Kasachstan zurückzukehren. Lediglich ein kleiner Anteil bevorzugte andere Länder der ehemaligen Sowjetunion, wie Ukraine (2%), Kirgistan (1%) und Weißrussland (1%). Bei einem Vergleich des Herkunfts- und Ziellandes fällt auf, dass die meisten Rückkehrwilligen des Heimatgartensample für die Rückkehr ihre ursprünglichen Herkunftsländer bevorzugen. So möchten 98% der ursprünglich aus Russland nach Deutschland migrierten (Spät-)Aussiedler wieder nach Russland zurückkehren. 69% der (Spät-)Aussiedler, die aus Kasachstan nach Deutschland migriert sind, äußerten den Wunsch, wieder nach Kasachstan zurückzukehren. Immerhin 27% aus dieser Gruppe wollten nach Russland zurückkehren.12 Bei der Wahl des Rückkehrortes spielt vor allen Dingen die noch im Herkunftsgebiet vorhandene soziale Netzwerkstruktur eine große Rolle, die die Rückkehr vorbereitet, unterstützt und die Reintegration vor Ort erleichtert. So zeigt unser empirisches Datenmaterial, dass die gewählten konkreten Rückkehrorte sehr verstreut sind. Die von (Spät-)Aussiedlern bevorzugten Gebiete sind die ehemaligen Deutsche Gebiete Halbstadt (Altai Region)13, Asowo (Asowskij Region), Novosibirsk und Omsk. Der Anteil der erwerbsfähigen Antragsteller im Heimatgartensample betrug rund 60%. Im Ruhestand befanden sich zur Zeit der Rückkehrberatung 23%. Die Datenauswertung zeigt, dass die berufliche Integration dieser Personen in Deutschland nicht erfolgreich war. Die aus dem Herkunftsland mitgebrachten

12 Der Grund dafür könnte in den sichereren politischen Verhältnissen in Russland liegen, da Kasachstandeutsche noch Ende der 1990er teilweise unter Vertreibungsandrohung ausreisten. Der Hintergrund für diese Entscheidung wurde aber nicht explizit erfragt. 13 Laut der örtlichen Verwaltung sind im Jahr 2008 aus Deutschland vierzig Familien nach Halbstadt zurückgekehrt. Der Anteil der Deutschen beträgt heutzutage ca. 75%. In der Asowskij Region mit dem Zentrum Dorf Asowo haben sich 2008 neunzehn Rückkehrerfamilien aus Deutschland niedergelassen (vgl. ȼɥɚɞɢɦɢɪ 2009).

E INMAL DEUTSCHLAND UND WIEDER ZURÜCK

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Abschlüsse – Ausbildung/Lehre (30,5%) und Hochschule/Universität (7,3%) – wurden in Deutschland entweder nicht anerkannt oder die Person konnte aufgrund mangelnder Sprachkennnisse oder anderer Gründe wie z.B. Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt den entsprechenden Beruf nicht ausüben. So betrug der Anteil der Personen, die in Deutschland einen ihrer Lehre und Ausbildung entsprechenden Beruf ausgeübt haben nur noch 3,1% und der Anteil der Personen mit einem Universitätsabschluss, die in ihrem Beruf arbeiteten 0%. Hingegen betrug der Anteil der Arbeitssuchenden ca. 35%. Betrachtet man die Familienverhältnisse, zeigt sich, dass 63% der Rückkehrwilligen verheiratet sind und größtenteils auch mit dem Ehepartner zurückkehren möchten. Häufig spielen sich ändernde Familienverhältnisse eine erhebliche Rolle bei der Entscheidung zur Rückkehr (vgl. Fenicia in diesem Band). Eine Scheidung oder Trennung oder der plötzliche Tod des Ehe-/Lebenspartners kann den Wunsch zur Rückkehr erheblich beeinflussen. So beträgt der Anteil der geschiedenen/getrennt lebenden Personen im Sample immerhin 13%. Auch 7% der verwitweten (Spät-)Aussiedler wollten wieder in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren.

R ÜCKKEHRMOTIVE Die Motive dieser rückkehrwilligen (Spät-)Aussiedler sind breit gestreut. Sie lassen sich aber in drei große, sich in der Praxis wechselseitig beeinflussende und verstärkende Motivlagen einteilen: (1) sozio-ökonomische, (2) psychische und (3) sozio-kulturell bedingte Motive. Zu den sozio-ökonomisch getriggerten Faktoren zählt vor allem Arbeitslosigkeit (in 16% der Fälle), die bei den betroffenen (Spät-)Aussiedlerfamilien sowohl auf der beruflichen als auch auf der privaten Ebene (Sozialhilfe) zu einem Statusverlust und dadurch letztendlich zu einem Verlust an gesellschaftlicher Teilhabe führt.14 Psychisch bedingte Rückkehrmotive zeigen sich in einem häufig geäußerten Gefühl von Einsamkeit, Depression bzw. einem insgesamt negativen Lebensgefühl in Deutschland. Die Folge sind psychische Erkrankungen und ein stark ausgeprägtes Heimwehgefühl. Dieses Rückkehrmotiv spielt in 13% der dokumentierten Fälle eine Rolle.15

14 Ein Hauptgrund für diese Problematik liegt wohl an der Nichtanerkennung der im Herkunftsland erworbenen Bildungstitel und Berufsabschlüsse. 15 Der Verlust vertrauter Umgebung wird sehr schmerzhaft empfunden. Die unbefriedigte Sehnsucht nach dem verlorenen Ort und verlorener Gesellschaft löst bei den Betroffenen Melancholie, Nostalgie und labile psychische Zustände aus. Diese führen

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Soziokulturell begründete Rückkehrmotive äußern sich zum einen in alltäglichen Fremdheitserfahrungen mit Deutschen (im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz) zum anderen in einem Rückzug in kleine russische Lebenswelten (Verbleiben in den eigenen soziokulturellen und sprachlichen Netzwerken, Bevorzugen russischer Medien, russischem Essen...). Dabei kann der mangelnde Kontakt zur einheimischen Bevölkerung teilweise auf Sprachprobleme der Rückkehrwilligen zurückgeführt werden, wobei beide Motive, mangelnde Sprachkenntnisse wie soziale Selbst- und Fremdexklusion, einander bedingen und verstärken. Ein weiterer Rückkehrgrund, der ökonomische, soziale, kulturelle und psychische Motive vereint, stellt die Familienzusammenführung dar (in 14,5% der Fälle genannt). Der seit 2005 eingeführte Sprachtest für Ehegatten und Abkömmlinge für die Einbeziehung in den Aufnahmebescheid des Spätaussiedlers führte oftmals zur Trennung von Familien. Die Rückkehr zu den im Herkunftsland gebliebenen Familienangehörigen bleibt dann als einziger Ausweg (bei älteren, pflegebedürftigen Personen ist dieser Aspekt oft zu beobachten). Bei der Motivlage Familienzusammenführung (im Herkunftsland) spielen aber auch oft Motive wie der Tod des Ehegatten oder Scheidung und Trennung vom Partner in Deutschland eine Rolle. Dann kehren die Personen in der Regel zu ihrer Herkunftsfamilie zurück. Das Sample der Heimatgartendaten überrepräsentiert durch den Organisationszweck wirtschaftlich schwache, traumatisierte, bedürftige und alte Personen, deren Rückkehr in der Regel endgültig ist. Die Gesamtergebnisse des Teilprojektes über die Rückkehrmotive von (Spät-)Aussiedlern gehen aber über dieses Sample hinaus. Im Forschungszeitraum (2009-12) konnten auf der Basis von über 100 qualitativen Interviews mit bereits Zurückgekehrten, mit Experten aus der Migrationsverwaltung und der Migrantenbetreuung weitere Strategien herausgearbeitet und zu typischen Rückkehrmustern zusammengefasst werden.

R ÜCKKEHRTYPEN : V ON DER ENDGÜLTIGEN R ÜCKKEHR TRANSNATIONALEN UND TEMPORÄREN F ORMEN

ZU

In der Remigrationsforschung werden mehrere Rückkehrtypen unterschieden (vgl. Cassarino 2004), so z.B. die Rückkehr aufgrund von Misserfolg (return of failure), Nichtanpassungsfähigkeit an den neuen sozialen Kontext (return of conservatism), Altersruhesitzwunsch (return of retirement), bzw. unternehmeri-

letztendlich zu der Entscheidung, in die ›Herkunftsheimat‹ zurückzukehren, weil die ›historische Heimat‹ Deutschland keine Alternative mehr bietet.

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schen Strategien (return of innovation). Wir unterscheiden im Rahmen unserer Forschung Rückkehrkonfigurationen, die sich in erster Linie an den grundsätzlichen Bewegungsmustern unserer Untersuchungsgruppe im transnationalen Kontext orientieren, und die ihrerseits Untertypen beinhalten, die dann wieder eher die motivationale Ebene aufnehmen. Diese empirisch gesättigte Typologie ist eines der zentralen Ergebnisse des Teilprojektes und führt die Remigrations-, Transnationalismus-, und Weitermigrationsdebatte zusammen. ›Endgültige‹ Rückkehr Altersruhesitzmigration: Rückkehr der Älteren, häufig erst nachdem ihren Kindern und Enkeln die Option in Deutschland zu leben, durch ihre rechtlich erforderliche (Mit-)Ausreise ermöglicht wurde. Ferner besteht der Wunsch in der Heimat zu sterben und dort beerdigt zu werden oder z.B. aus der Klimaveränderung herrührende Krankheiten zu lindern. »Ich bin jetzt hier alleine, weiß die deutsche Sprache nicht. Zwei Söhne wohnen in Russland und können nicht nach Deutschland kommen, weil die von der ersten Ehe ›Russen‹ sind. Ich möchte nach Russland und möchte bei meinen Kindern leben. Ich weiß nicht für welche meine Sünden bin ich so verlassen. Man braucht mich nicht. Meine Kinder sind arm, unser Land ist zusammengebrochen. Wenn man stirbt, wird sogar keiner erfahren, weil man praktisch keinen Verwandten und Bekannten hat. Und was soll ich über die Nostalgie erzählen. Die Augen werden nicht trocken« (Briefausschnitt 2006, Frau 67 Jahre alt, Heimatgarten). «Ich bin schon 70, meine Gesundheit hat sich verschlechtert, was auch der Grund ist warum ich in die Heimat zurückkehren möchte.« (Briefausschnitt 2007, Mann 70, Heimatgarten)





Familienzusammenführung im Herkunftsland: betrifft v.a. Personen mit nicht deutscher Herkunft (Ehepartner), die meistens über wenige soziale Kontakte in Deutschland verfügen und durch Trennung vom deutschen Ehegatten ins Herkunftsland (zu den eigenen Verwandten) zurückkehren: »Wir möchten zurück nach Kasachstan, wo wir geboren sind und zur Schule gegangen sind, wo unsere Kinder und Enkelkinder zurückgeblieben sind.« (Briefausschnitt 2005, Heimatgarten) Inwertsetzung sowjetischer Bildungsabschlüsse: nicht zufriedenstellende Arbeitssituation in Deutschland und durch wirtschaftliches Wachstum bessere Berufschancen im Herkunftsland.

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»Ich bin Englisch- und Deutschlehrerin, aber muss zuhause unterrichten. Hier habe ich als Reisekauffrau umgelernt, aber bis heute konnte ich mit diesem Beruf keine Arbeit finden. Mein Mann ist Mechaniker, hat hier drei Jahre einen anderen Beruf als ›Kunststoffformgeber‹ gelernt und seit acht Jahren arbeitet er als Kunststoffformgeber. Ich bin schon 44 und die Hoffnung etwas Anständiges zu finden, habe ich schon verloren. Ich habe die Idee nach Russland zurückzukehren.« (Briefausschnitt Heimatgarten, Jahr nicht bekannt, Frau 44 Jahre alt)



Depravierte und sozial Isolierte: Psychische Belastungsmotive (wie bspw. Depression und negatives Lebensgefühl) führen zur Rückkehr. Heimweh und Nostalgie verstärken diesen Wunsch ebenso wie unerfüllte Erwartungen. Hinzu kommen mangelnder Kontakt zur einheimischen Bevölkerung u.a. aufgrund von Sprachproblemen: »All diese sieben Jahre haben wir ›Sozialhilfe‹ bekommen. Wir wollen so nicht mehr leben! Als Erwachsene schämen wir uns.« (Briefausschnitt 2005, Heimatgarten, Alter nicht bekannt)

»Wir möchten zurück in unsere Heimat. Dieser Wunsch kam nicht plötzlich, und auch nicht in der letzten Zeit, sondern Minimum seit acht Jahren und wir haben alles nicht nur einmal besprochen und abgewogen. Diese Entscheidung haben wir nicht aus den ökonomischen Gründen und entsprechend aus unseren armen Verhältnissen in Deutschland getroffen, obwohl das auch seine Rolle spielt, sondern deswegen, weil wir uns hier nicht zuhause fühlen, sondern zu Gast. Uns scheint, wir werden schlafen und dann stehen wir auf und dann sind wir schon in unserer Heimat, wo alle Menschen uns wertvoll und geliebt sind, wo wir wirklich frei waren. Kann sein, dass Deutschland für irgendjemanden eine ›zweite historische‹ Heimat geworden ist, aber nicht für uns. Wir konnten uns nicht zwingen, unsere Heimat-Russland zu vergessen und nicht mehr zu lieben, die Kultur, die Sprache, Sitten und Bräuche, die ein Teil von uns waren und bleiben, die wir sogar bereits mit Muttermilch eingenommen haben.« (Briefausschnitt 2007, Heimatgarten, Alter nicht bekannt)

Transnationale Lebensprojekte unter Ausnutzung der Doppelpasssituation Die Passnationalität erleichtert transnationale Lebensprojekte/Pendeln (›jederzeit reisen‹, ›Besuche problemlos‹). Die Entscheidung ist nicht irreversibel. Kinder und Kindeskinder können ggf. die für sie getroffene Entscheidung rückgängig machen. Ein Ausstieg aus der Rückkehr besteht hier als zusätzliche Option.

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• • •

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Inwertsetzung neu erworbener Bildungsabschlüsse: Jüngere Personen nutzen häufig ihre in Deutschland erworbenen Kompetenzen, d.h. sie entscheiden sich bewusst und pragmatisch für die (temporäre) Rückkehr, um in Deutschland erworbenes kulturelles Kapital (Mehrsprachigkeit, berufliche Weiterbildung etc.) im Herkunftsland erfolgreich einzusetzen ›entrepreneurs‹: Personen, die im Im- und Export, in Vertretungen deutscher Firmen sowie in joint-ventures tätig sind geteilte Familien: Eine Person arbeitet in Russland und die andere ermöglicht den Kindern den Schulbesuch oder das Studium in Deutschland Irreguläre Migration: zirkuläre Migration zum Erhalt einmaliger oder regelmäßiger sozialstaatlicher Leistungen

Anschlussmigration in Drittstaaten Das Projekt ›Kolonie Neufeld‹ existierte von 2005 bis 2013 und bot (Spät-) Aussiedlern die Möglichkeit der Ansiedlung in Paraguay. Mehr als 100 russlanddeutsche Familien entschieden sich zum Landkauf und Umzug nach Paraguay aus unterschiedlichen Gründen wie: Die Möglichkeit ein eigenes Haus zu haben, was sie im Herkunftsland gewohnt waren, sich aber in Deutschland nicht leisten konnten; Freiheit (z.B. Grillen im Freien, Angeln ohne Anglerschein); für Mennoniten ist ferner die religiöse Erziehung ihrer Kinder zentral (in den paraguayischen Schulen gibt es keine Sexualerziehung, Mädchen können lange Röcke tragen, ohne ausgelacht zu werden); besseres Klima usw.16 Die genannten Ausreisemotive stimmen mit den Rückkehrgründen, der von uns interviewten remigrierten (Spät-)Aussiedler in Westsibirien überein (siehe unten).

H IGHLIGHTS AUS DEN EMPIRISCHEN T EILUNTERSUCHUNGEN In zwei Teiluntersuchungen (vgl. Schmitz 2013 und Fenicia 2015 i.E. und in diesem Band) haben wir einerseits die (Re-)Migrationsbewegungen mitgenomme-

16 Vgl. Nachrichten Kolonie Neufeld, Ausgabe 12; Interview mit dem Projektleiter Johann Krahn (nicht mehr im Netz verfügbar). Die Kolonie ging 2013 in betrügerische Insolvenz (vgl. Wochenblatt 2013).

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ner Jugendlicher (›Generation 1.5‹)17 in den kulturellen Herkunftsraum und andererseits die Rückkehr von Spätaussiedlern, die mit endgültiger Rückkehrabsicht in ihre konkreten Herkunftsregionen bzw. das Heimatdorf18 zurückkehren, vertiefend analysiert. Die erste Teiluntersuchung behandelte die transnationalen Lebensentwürfe, Identitätsstrukturen und Beheimatungsstrategien von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern, die aus den GUS-Staaten Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland migrierten und zum Zeitpunkt der Untersuchung (2009-2011) als junge Erwachsene (Alter: 22-35) zwecks Aus- und Weiterbildung, Beruf und Karriere zwischen Deutschland und Russland hin und her pendeln. Es wurden insgesamt 20 leitfadengestützte Interviews und sieben weitere Vertiefungsinterviews19 während der empirischen Phase der Untersuchung mit jungen (Spät-)Aussiedlern in Deutschland und in Russland durchgeführt. Die herausgearbeiteten Rückkehrkonfigurationen folgen im Wesentlichen dem Konzept von Transnationalität als neuer Lebensperspektive. Die wesentlichste Erkenntnis ist: Rückkehrstrategien von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern sind temporärer Natur, d.h. sie kehren in der Regel zeitlich befristet in ihren Herkunftskulturraum20 zurück. Die Entscheidung für einen transnationalen Lebensstil geschieht bewusst, da gerade diese Gruppe der (Spät-) Aussiedler – jung und bildungserfolgreich – über die wichtigsten sozio-kulturellen Ressourcen (Mehrsprachigkeit, Bildungsqualifikation, soziale Netzwerke in beiden Ländern) verfügt, die einen transnationalen Lebensstil zusätzlich fördern. Die zweite, im Abschluss befindliche Teiluntersuchung geht der Frage der geschlechterspezifischen Rollen in Prozessen der Rückkehrentscheidung, Remigrationsvorbereitung und Reintegration am Beispiel schon remigrierter (Spät-) Aussiedler in Westsibirien nach. Die Auswertung der Tiefeninterviews mit insgesamt 34 Rückgekehrten zeigt einen deutlichen Genderbias bzgl. der Rückkehr-

17 Junge, bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler wurden als Kinder von ihren Eltern mitgenommen und hatten meist altersbedingt an der Familienentscheidung zur Übersiedlung keinen Anteil. 18 Einige Rückkehrer kehren genau in das Heimatdorf eines der Partner zurück und vollziehen die Reintegration unter noch ›vertrauteren‹ Vorzeichen. 19 Für die Vertiefungsinterviews wurden je nach Interviewsituation einzelne Blöcke des Leitfadens herangezogen. 20 Als Herkunftskulturraum wird hier die ehemalige Sowjetunion bezeichnet. Auffällig ist, dass die Interviewpartner keinen Bezug zu ihrem Geburtsort haben. Für die Wahl des temporären Rückkehrortes spielt der durch die russische Sprache gemeinsam definierter Raum (GUS) eine wichtigere Rolle, als der ehemalige Geburtsort/Geburtsland.

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entscheidung und -initiative: Die Rückkehrinitiatoren in der Familie waren fast ausschließlich die Männer, wobei der sich teils über Jahre hinziehende Entscheidungsfindungsprozess nicht immer reibungslos verlief. Auch beklagten die befragten Rückkehrerinnen häufig Stresssymptome, Gesundheitsprobleme und ein Gefühl der Fremdheit – besonders, wenn sie zuvor eine längere Zeit in Deutschland gelebt hatten. Diese latente, bei manchen auch manifeste Überforderung lässt die Rückkehr bei diesen Frauen als reversibel erscheinen. Aus der Migrationserfahrung haben die Männer nach eigenen Aussagen die Neigung zur deutschen Ordnung, Pünktlichkeit und das Streben nach einem besseren Leben mitgebracht. Sowohl Frauen als auch Männern streben danach, ihr Haus und ihren Hof nach deutschem Standard zu organisieren. Diese Werte, die deutschen Gesetze sowie die soziale Sicherheit (obwohl einige damit auch in Deutschland nicht zufrieden waren) fehlen den Männern am Rückkehrort.

(S PÄT -)AUSSIEDLER – EINE ( GAR NICHT SO ) BESONDERE G RUPPE IM R AHMEN GLOBALER M IGRATIONSREGIME Zu den zentralen Erkenntnissen unseres Projektes gehören Beobachtungen zum problematischen Wechselspiel von Inklusion/Exklusion aber auch zur atypischen In- und Exklusionsfiguration im Vergleich zu anderen Migrantengruppen in Deutschland. Diese führt bei einem kleinen Teil der (Spät-)Aussiedler von einer euphorischen oder positiven Grundstimmung vor der Ausreise zu einer – quasi vom ersten Tag an wirksamen, zunehmenden Unzufriedenheit in Deutschland, die durch das Gefühl der Entwertung eigener beruflicher Kenntnisse und Chancenlosigkeit am Arbeitsmarkt, oder sozialen Aufstiegsoptionen noch verstärkt wird.Signifikant ist dabei die Remigration einer großen Zahl (Spät-)Aussiedler, die in Deutschland nicht länger als zwei Jahre gelebt hat. Die Aussiedler der ersten Ausreisewelle(n) (Initiatoren), die noch andere Einstiegsbedingungen vorfanden, deren Sprachkenntnisse noch besser waren und die deutlich bessere Integrationsverläufe aufweisen können, kehren seltener zurück. Es ist vor allem die ihnen nachfolgende Gruppe der Spätaussiedler, die weniger überzeugt übersiedelten und schlechtere Bedingungen antrafen, die ihr Migrationsprojekt abbrechen. Diese können im ruralen Kontext ihre ehemaligen Arbeitsplätze häufig wieder einnehmen. Sie stellen auch die größte Gruppe der von uns Befragten dar: Keine Rückkehr der Initiatoren, sondern der ›Herde‹, wie dies ein Experte bezeichnenderweise formulierte.

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Rückkehrer gibt es in allen Altersgruppen. Wir konnten hier (natürlich auch aufgrund der geringen Grundgesamtheit) keine Tendenz feststellen. Bei den Remigrationstypen kann zwischen Altersruhesitzmigration und einer Rückkehr im erwerbsfähigen Alter sowie individueller bzw. Rückkehr der gesamten (Klein-) Familie unterschieden werden. Bei Rentnern ist die Remigration wie bei den ›Depravierten‹ (return of failure) auf Dauer angelegt; aber teilweise auch bei den ›Erfolgreichen‹ (return of success), wenn sie beispielsweise in Anwaltskanzleien oder joint-ventures erfolgreich Fuß fassen. Die egozentrierte Netzwerkanalyse in Russland ergab, dass vor und nach der Rückkehr grenzüberschreitend (zumeist) familiale Netzwerke aufrechterhalten werden (Unterstützungsnetzwerke bei der Wohnungs- und Arbeitssuche während der Anfangszeit, Rückgriff auf Ressourcen von den noch in Deutschland lebenden Angehörigen). Auffallend sind die geschlechtsunterschiedlichen Positionierungen bzgl. der Rückkehrentscheidung und -initiative innerhalb der Familie (diese geht zumeist von den Ehemännern aus) und der Zufriedenheit mit dieser in der Reintegrationsphase. Männer bezeichnen sie meist als einzig mögliche und richtige; Frauen verweisen im Gegensatz dazu auf die schwierige Lebenssituation am Rückkehrort und die besseren Lebensbedingungen in Deutschland und zeigen somit einen stärkeren Wunsch des Verbleibens oder einer Wiederrückkehr nach Deutschland. Die Rückkehr nach Kaliningrad, St. Petersburg und Moskau unterscheidet sich von der Rückkehr in das ferne sibirische Heimatdorf. Bei ersterer spielt die geteilte kulturelle Erfahrung (Sowjetunion) eine entscheidendere Rolle bei der Knüpfung neuer Netzwerke. Somit kann zwischen einer Rückkehr in das ländliche Sibirien als translokaler Remigration (Rückkehr an den Herkunftsort zumindest eines Partners) und einer Rückkehr in den urbanen Kontext als transkultureller Remigration, einer Rückkehr in den Kulturraum, unterschieden werden. Zusammenfassend unterscheiden sich Spätaussiedler bei den Remigrationsmustern nicht grundsätzlich von anderen Migrantengruppen im heutigen globalen Rahmen (wenig endgültige Remigration, dafür unterschiedlichste Formen transnationaler Lebensprojekte) – gleichwohl aber in der Möglichkeit der Nutzung der doppelten Staatsbürgerschaft und in der besonderen Dynamik ihrer atypischen In- und Exklusionsfiguration in Deutschland als (Re-)Migrationsgenerator.

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L ITERATUR Archiv der Jugendkulturen (2003): Zwischenwelten. Russlanddeutsche Jugendliche in Deutschland/Russlanddeutsche Jugendliche in der Bundesrepublik; mit Beiträgen aus dem Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten »Weggehen – Ankommen, Migration in der Geschichte« der Körber-Stiftung, Berlin/Bad Tölz: Tilsner. Bade, Klaus/Oltmer, Jochen (2004): Normalfall Migration: Deutschland im 20. und frühen 21. Jahrhundert, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Baraulina, Tatjana (2013): Einführung – Rückkehr aus Deutschland. Zentrale Ergebnisse einer Befragung von Rückkehrern in der Türkei, Georgien und der Russischen Föderation, in: Tatjana Baraulina/Axel Kreienbrink (Hg.), Rückkehr und Reintegration. Typen und Strategien an den Beispielen Türkei, Georgien und Russische Föderation. Beiträge zu Migration und Integration, Band 4, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, S. 7-82. Beauftragter für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten (2014): Spätaussiedler, http://www.aussiedlerbeauftragter.de/AUSB/DE/Themen/spaetaussie dler/spaetaussiedler_node.html;jsessionid=7E0AB5B28DD0854553708FC81 BFB022C.2_cid364 vom 13.08.2014. Bundesministerium des Innern (2010): Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundesvertriebenengesetz (BVFG-VwV): Verwaltungsvorschriften im Internet, http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/bsvwvbund_060420 10_MII590200044.htm vom 06.04.2010. Bundesministerium des Innern (2011): Rund 600.000 Russlanddeutsche in der Russischen Föderation erhalten weiterhin Fördermittel von der deutschen und der russischen Regierung, http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Presse mitteilungen/DE/2011/05/pstb_dr.html?nn=109862 vom 17.05.2011. Bundesministerium des Innern (2014): Migrationsbericht 2012 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung, Berlin: Bonifatius GmbH: Druck-Buch-Verlag, http://www.bamf.de/SharedDocs/ Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht-2012.pdf?_ _blob=publicationFile vom Januar 2014. Bundeszentrale für politische Bildung (2012): Die soziale Situation in Deutschland. Wanderungen über die Grenze Deutschlands, http://www.bpb.de/wis sen/H71DPF.html vom 28.11.2012. Cassarino, Jean-Pierre (2004): Theorising Return Migration: The Conceptual Approach to Return Migrants Revisited, in: International Journal on Multicultural Societies 6.2004, S. 253-279. Fenicia, Tanja (2015 i.E.): Rückkehrprozesse remigrierter (Spät-)Aussiedler

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Transnationale Lebensprojekte: Geteilte Zugehörigkeit(en)

Zwischen transnationaler Verstörung und Entzauberung Kasachstandeutsche Heimatkonzepte R ITA S ANDERS

V ORBEMERKUNG Taldykorgan ist mit 135.000 Einwohnern eine mittelgroße Stadt in Kasachstan, die etwa 300 Kilometer nordöstlich von Almaty liegt. Hier führte ich 2006 und 2007 eine Feldforschung durch. Wladimir Molotsov ist der offizielle Repräsentant der deutschen Minderheit in Taldykorgan.1 Bei einem unserer ersten Treffen betonte er, wie sehr er seine Heimatstadt liebt. Was er aber noch mehr liebe, sei die Landschaft, die die Stadt umgibt. Dort kann er fischen und jagen. Natur verkörpert für ihn Freiheit und Wildnis. Er fügt hinzu, dass die Natur in Kasachstan ganz anders ist, als die Natur in Deutschland. So ist es in Deutschland nicht erlaubt, ohne Genehmigung zu fischen und ohnehin ist die ganze Landschaft voller Schilder auf denen ›betreten verboten‹ steht, da fast alles in Privatbesitz ist, wie Wladimir ausführt. Vor einigen Jahren wanderte seine Mutter nach Deutschland aus. Seitdem hat er sie mehrmals besucht und ihr beim Hausbau geholfen. So lernte er Deutschland kennen und obschon er ›deutsche Tugenden‹ wie Pünktlichkeit und Ordnungsliebe schätzt, kann er sich nicht vorstellen, an dem Ort zu leben, den seine Mutter einst als ›historische Heimat‹ (istoricheskaya rodina)Ϯ bezeichnete.

1

1989 wurde die Organisation ›Wiedergeburt‹ gegründet, die heute in Kasachstan 16 Filialen hat und damit in den meisten größeren Städten vertreten ist. Molodtsov wurde 1999 Vorsitzender der Filiale in Taldykorgan.

2

Linguistisch betrachtet ist rodina der Geburtsort, da rod der Stamm des Verbs roditsia/rodit’ (geboren sein/gebären) ist. Flynn (2007: 468) konnte in ihrer Studie über

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E INFÜHRUNG Migration und das Gestalten von Heimat kennzeichnen die Geschichte der Kasachstandeutschen. Zumeist gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren deutschsprachige Siedler nach Russland ausgewandert. Viele von ihnen ließen sich in der Wolgaregion oder an der Schwarzmeerküste nieder. Dort bildeten sie häufig ethnisch und konfessionell homogene Siedlungen. Der Angriff der Deutschen Wehrmacht auf das Territorium der UdSSR 1941 führte zur Deportation nach Sibirien und Zentralasien. Auch nach dem Tod Stalins blieb ihnen eine Rückkehr in die alten Siedlungsgebiete verwehrt. Gorbatschows Glasnost-Politik sowie die ethnisch definierte Einwanderungsgesetzgebung Deutschlands waren Voraussetzung für die bislang letzte Migrationswelle. Seit den späten 1980er Jahren wanderten bis heute nahezu 800.000 Deutsche aus und nur etwa 230.000 verblieben in Kasachstan. Die Gesetzgebung Deutschlands erschwert jedoch seit den 1990er die Einwanderung. Eine besondere Hürde stellt dabei der 1996 eingeführte Sprachtest dar (Eisfeld 1999: 188f.; vgl. Ingenhorst 1997: 102-104). Seit einigen Jahren kommen kaum noch Einwanderer mit deutschen Vorfahren nach Deutschland. Einige kehren sogar zurück nach Kasachstan oder Russland, da sie mit ihrem Leben in Deutschland unzufrieden waren. Schwierigkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt und der Umstand, dass Kasachstan- bzw. Russlanddeutsche3 häufig als Russen bezeichnet werden, erschweren es oft, heimisch zu werden (Dietz 2006: 128f.; vgl. Pichler/Schmidtke 2004: 61; Römhild 1998; siehe dazu auch Mattock und Schönhuth/Kaiser in diesem Band). Konzepte zu Heimat und ›home‹ sind in der Regel umfassend formuliert. So nähern sich Rapport und Dawson (1998: 8) dem Begriff wie folgt: »›Home‹ brings together memory and longing, the ideational, the affective and the physical, the spatial and the temporal, the local and the global, the positively evaluated and the negatively«. Angesichts der hier vorgeschlagenen, vielfältigen Interpretationsrahmen liegt es nahe, dass Forschungen zum Heimatbegriff aus ganz unterschiedlichen disziplinären Blickwinkeln durchgeführt werden: Studien zum Zusammenhang von Behausung und Heimat, Arbeiten zu Geschlechterbezie-

russische Migranten aus Kasachstan nach Russland zeigen, dass der Begriff rodina vor allem verwandt wurde, wenn »the connection between place of birth, kin and land was explicit«. 3

Ich verwende den Begriff Kasachstandeutsche für Deutsche, die in Kasachstan leben, und Russlanddeutsche für diejenigen, die aus der ehemaligen UdSSR nach Deutschland migriert sind.

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hungen, Forschung zu (nationalen) Identitäten wie auch die Untersuchung von Orten und Räumen tragen alle zum Verständnis von Heimat bei (Mallett 2004). Ganz allgemein kann Heimat als bedeutungsvoller Ort verstanden werden, der durch multiple Temporalitäten geprägt ist und zu dem sich eine Person zugehörig fühlt (vgl. Easthope 2010: 135f.). Obwohl der Ort zumeist auf einer Landkarte zu finden ist, können Zugehörigkeitsgefühle dessen Materialität so sehr überlagern, dass sich die Interpretation von Heimat auch als (reine) Imagination und Projektion erweisen kann (Morley 2000). Darüber hinaus empfinden einige Menschen Heimat als Sinnbild für erfahrenen Verlust und/oder Ausschluss. Das normative Potenzial des Heimatbegriffs, das für jeden eine Heimat vorsieht, aus der eine Person mithin einen wesentlichen Teil seiner Identität schöpfen sollte, macht die Erfahrung der Abwesenheit eines solchen Ortes so verstörend. Diese Multivokalität und begriffliche Unschärfe hat einige Forscher dazu veranlasst, das Heimatkonzept vor dem Hintergrund wachsender Mobilität komplett zu verabschieden. So kommen Morley und Robins (1990: 20) für den deutschen Heimatbegriff zu folgendem Ergebnis:

 »There can be no recovery of an authentic cultural homeland. In a world that is increasingly characterized by exile, migration and Diaspora, with all the consequences of unsettling and hybridization, there can be no place for such an absolution of the pure and authentic, in this world, there is no longer any place like Heimat.«

 Grundsätzlich unterscheidet sich der deutsche Heimatbegriff von home bzw. homeland und wird daher zumeist auch nicht übersetzt.4 Unterschiedliche historische Verwendungen schwingen auch heute noch in seinem Bedeutungsfeld nach. War der Heimatbegriff bis zur Industrialisierung vor allem rechtlich geprägt, so wurde er im Zuge wachsender Mobilisierung insbesondere von Teilen des Bürgertums als positives Gegenmodell einer ›unberührten Natur‹ und einer ›bäuerlichen Verwurzelung‹ stilisiert. Bausinger spricht daher von »Heimat als Besänftigungslandschaft, in der scheinbar die Spannungen der Wirklichkeit ausgeglichen sind« (Bausinger 1986: 96; vgl. Applegate 1990; vgl. Rollins 1996). Um die vorletzte Jahrhundertwende kam es darüber hinaus zu einer teilweisen Verschmelzung der Begriffe Heimat und Vaterland; der regionale Charakter

4

Zur Bedeutungsdifferenz führt Morley (2000: 32) aus: »Historically, the ideas of home and homeland have been most emphatically intertwined in the German concept of Heimat. […] Thus Jeffrey Peck notes that the terms Heimat and Fremde imply ›far more than simply homeland or a foreign place.‹ Heimat also connotes belonging and security, while Fremde can refer to isolation and alienation«.

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des ›Heimatgefühls‹ blieb jedoch bestehen. Im Nationalsozialismus wurden die Heimatbedeutungen schließlich zu einer Ideologie von Blut und Boden konzentriert, wobei mit dem Heimatbegriff eine besondere Beziehung zum Boden zum Ausdruck gebracht werden sollte (vgl. Bausinger 1980: 20; Pfister-Heckmann 1998:106). Zu einer kleinen Renaissance des nach dem Zweiten Weltkrieg eher gemiedenen Heimatbegriffs kam es gegen Ende der 70er Jahre. Dieser neue Trend zu mehr Regionalisierung war sicherlich auch eine Reaktion auf Transnationalisierung und eine generell ›komplizierter werdende Welt‹ (vgl. Bredow und Foltin 1981:11). In Bezug auf eine Interpretation des Heimatbegriffs bei Russlanddeutschen ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese in der Regel die Bedeutungsvielfalt des Begriffs anders empfinden und häufig in Unkenntnis der deutschen Nachkriegsdebatte den Heimatbegriff ganz arglos gebrauchen, mit zum Teil ungünstigen Konsequenzen hinsichtlich ihrer Wahrnehmung in der bundesdeutschen Öffentlichkeit (vgl. Schönhuth 2006: 371). Der unscharfe Heimatbegriff der Alltagssprache wird heute in wissenschaftliche Untersuchen in der Regel als ›mehrdeutig und problematisch‹ betrachtet (Bausinger 1980:22). Natürlich ist es richtig, dass der Heimatbegriff kein analytisches Potenzial hat und Menschen keine ›richtige‹ Heimat zugeordnet werden kann. Der Wert des Begriffs liegt vielmehr in seiner empirisch zu ermittelnden Bedeutung. So möchte ich in diesem Beitrag zeigen, dass die beschriebenen Menschen trotz oder gerade aufgrund ihrer Migrationserfahrungen danach streben, einen Ort zu bewahren bzw. zu schaffen, der für sie authentisch ist und im Einklang mit ihrer persönlichen Identität steht. Dies hängt auch damit zusammen, dass Menschen anhand von Orten ihre Erfahrungen erinnern und ordnen, sodass Orte symbolhaft für bestimmte Erlebnisse und Lebensabschnitte stehen können (vgl. Casey 2000 [1987]). Dabei nutzt diese Untersuchung auch den von Schönhuth (2006: 377f.) im Vorgängerband ›Zuhause fremd‹ ausgeführten Beheimatungsbegriff, der im Gegensatz zum viel diskutierten Integrationskonzept auch emotionale Aspekte und die Bedeutung eines aktiven Aneignungs- und Gestaltungsprozesses zu berücksichtigen vermag. Man kann nicht immer festhalten an dem Ort, an dem man geboren wurde oder aufwuchs, wie auch andere Fallbeispiele zeigen konnten (Mallett 2004). Somit ist Heimat – wie jeder andere Ort auch – ein Projekt und Produkt von Menschen, welches sich im Verlauf des Lebens ändert und durch die fortwährende Auseinandersetzung mit neuen Orten geprägt ist (vgl. Gupta/Ferguson 1992; Malkki 1992; Massey 1995). Die Erfahrung eines (neuen) Ortes ist maßgeblich von den dort vorgefundenen Beziehungen bestimmt und dabei im Besonderen von den Machtverhältnis-

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sen, wie eine Studie von Elias und Scotson (1993) zur sozialen Dynamik zwischen Etablierten und Außenseitern in Winston Parva5 anschaulich zeigt. Die Autoren argumentieren, dass nicht kulturelle Unterschiede, sondern das dichte Netzwerk der länger Ansässigen sowie der Umstand, dass diese auch alle bedeutenden Positionen innehalten, ihr Handeln wie auch das der Zugezogenen zu erklären vermag. Die Neuankömmlinge verinnerlichen dabei die negative Fremdwahrnehmung, was auch dazu führt, dass ihre Netzwerke nur eine geringe Dichte aufweisen und damit zugleich ihre Machtposition schwächen. Elias Überlegungen zu sozialen Figurationen ergänzen Bourdieus Analyse sozialer Felder, die Untersuchung von Diaspora und transnationalen Feldern (z.B. Anthias 1998; Basch et al. 1997; Clifford 1994; Hall 1990) wie auch die Analyse sozialer Netzwerke (z.B. Schweizer 1996). Elias und Scotson beschränken ihre Untersuchung allerdings auf den Feldforschungsort Winston Parva, was sicherlich auch mit der Dominanz von ›community studies‹ in den 1950er und 60er Jahren in Großbritannien zusammenhängt. Soziale Beziehungen sind aber nicht durch eine räumliche Einheit definiert, sondern überschreiten deren Grenzen (Massey 1992). In diesem Aufsatz möchte ich zeigen, dass die Inkorporation in neue lokale, nationale und transnationale Figurationen Zugehörigkeitsgefühle grundlegend beeinflusst. Darüber hinaus stellen Migration und translokale wie -nationale Beziehungen, die damit einhergehen, die Selbstverständlichkeit des Zusammenhangs von Orten und Zugehörigkeiten in Frage und somit auch den Heimatbegriff. In diesem Prozess modifizieren sowohl Migranten wie auch Nicht-Migranten ihre Beziehungen zu Orten, stellen Bezüge zwischen Orten her und geben Orten Bedeutungen. Im Fall der hier beschriebenen Kasachstandeutschen wird gezeigt, dass sich der Traum von einem Ort, der Wohlstand und Sicherheit bietet, von Deutschland als ›historischer Heimat‹ bei den Migrantinnen und Migranten6 auf den Geburtsort verschoben hat und bei den Nicht-Migranten auf Kasachstans Vision der Völkerfreundschaft und Weite der Landschaft.

5

Von 1958 bis 1960 führten die beiden Autoren in einer industriell geprägten Siedlung in England Feldforschung durch. Der ältere Teil der Siedlung wurde in den 1880er Jahren gebaut, der neuere Teil etwa 50 Jahre später. Der Ortsname ›Winston Parva‹ ist dabei fiktiv.

6

Aus Gründen der Lesbarkeit werden im Folgenden nicht immer männliche und weibliche Form gleichzeitig verwendet.

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H EIMISCH

WERDEN IN

D EUTSCHLAND

Kasachstandeutsche, die nicht migriert sind, erklären dies häufig mit der ›etwas schwierigen Mentalität‹ der Menschen in Deutschland. Dazu wird oft berichtet, wie Menschen sich in Deutschland treffen. Die Quintessenz dieser Geschichten besagt, dass man nicht einfach seine Freunde oder Nachbarn besuchen kann ohne vorher einen Termin vereinbart zu haben (siehe dazu Kiel in diesem Band). Dieses Verhalten wird dabei als grundlegend unterschiedlich zum gastfreundlichen und offenherzigen Verhalten von Menschen in Kasachstan gekennzeichnet. Obwohl Migrantinnen in Deutschland diese Narration zumeist abschwächen, in dem sie darauf hinweisen, dass sie auch schon offene und freundliche Deutsche getroffen haben, fühlen sich viele von ihnen doch von lokalen Netzwerken und der deutschen Nation ausgeschlossen. Migranten aus Kasachstan kamen nach Deutschland häufig ebenso naiv wie jene Migranten nach Winston Parva. Sie kamen mit der Annahme, sich schnell an dem neuen Ort integrieren zu können und von der lokalen Bevölkerung akzeptiert zu werden; wahrscheinlich auch, da sie dachten, sich im Hinblick auf Religion, Ethnizität und Sprache nicht von der länger ansässigen Bevölkerung zu unterscheiden (vgl. Ingenhorst 1997; PfisterHeckmann 1998; Römhild 1998). Und auch Sozialwissenschaftler könnten die Situation der Migrantinnen nicht richtig interpretieren, wenn nur diese Marker Berücksichtigung fänden, wie von Elias und Scotson ausgeführt (1993: 25-27). Entscheidend sind vielmehr soziale Figurationen, die sich aus den in sozialen Netzwerken eingewobenen Machtstrukturen ergeben. Im Folgenden wird das Wechselspiel von Migration, Integration und Heimatbegriff anhand von exemplarischen Interviewzitaten7 nachgezeichnet; in die Analyse sind jedoch viele informelle Gespräche und Feldforschungsnotizen eingegangen. Da Heimatbegriffe Teil des kulturellen Gedächtnisses sind und damit in Bezug zu früheren Heimatbegriffen stehen (vgl. Massey 1992), wird zunächst ein Blick zurückgeworfen. Die Tragödie russlanddeutscher Geschichte wird in lebensgeschichtlichen Berichten zumeist deutlich gemacht, indem auf den Verlust der Heimat an der Wolga oder der Schwarzmeerküste nach der Deportation 1941 verwiesen wird. Dieses kollektive Trauma hat möglicherweise zum ersten Mal in der Geschichte der Russlanddeutschen ein Bewusstsein dafür entstehen

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Alle Zitate sind Interviews entnommen, die von der Autorin selbst geführt wurden. Die Interviews in Kasachstan wurden auf Russisch geführt und von der Autorin übersetzt, die Interviews in Deutschland wurden auf Deutsch geführt. Dabei handelt es sich zumeist um biografische Interviews. Die Datengrundlage basiert auf über 60 Lebensgeschichten in Kasachstan und über 30 in Deutschland.

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lassen, eine ethnisch markierte Gruppe zu sein (Römhild 1998: 126), die darüber hinaus ein diasporisches Schicksal hat. Das Gefühl, unter Stalin ungerecht behandelt worden zu sein, prägt viele Aussagen von Russlanddeutschen, die heute in Deutschland leben. Ein Beispiel dafür stellt ein Zitat von Johann dar, der 1994 nach Deutschland migrierte:

 »In der Schule wurden wir als Faschisten beschimpft. Ich war doch ein Fremder in Russland. Meine Großmutter hat einmal gesagt, jeder Mensch muss zu seinem Volk zurückkehren und die letzten gehen mit Blut raus. Meine Großmutter kommt von der Wolga. Dort hatten sie alles auf Deutsch, Schulen usw. Innerhalb weniger Tage sind alle nach Sibirien oder Kasachstan verschleppt worden, 40 Prozent sind dabei gestorben. In Sibirien musste man sich schnell ein Haus bauen. Wenn man das nicht schaffte, ist man erfroren. Und dann wurden meine Eltern für die Verbrechen der Nazis verantwortlich gemacht. Genauso ist es hier mit den Türken seit dem 11. September. Deshalb: Jeder muss bei seinem Volk leben.« (Johann8, 54 Jahre alt, Deutschland/2002)

Laut Johann kann das diasporische Leid nur durch das Zusammenleben mit seinesgleichen überwunden werden. Die Geschichten der Eltern und Großeltern vom glücklichen Zusammenleben der Russlanddeutschen an der Wolga stellen dabei die Folie für die Utopie einer idealen Heimat dar. Die Sehnsucht nach einem Ort, der Sicherheit und Wohlergehen verspricht, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg noch auf die ehemaligen Siedlungsgebiete projiziert, jedoch im Verlauf des Migrationsprozesses auf das weithin unbekannte Deutschland übertragen. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass viele eine (russland-)deutsche Identität erst kurz vor der Auswanderung mit dem deutschen Staat in Verbindung brachten, wie auch andere Studien hervorheben (z.B. Moore 2000). Dies liegt nahe, da der Beweis einer deutschen Identität juristische Voraussetzung für die Einwanderung und den Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft ist. Dass jedoch die traumatische Erfahrung der Deportation wie auch die dadurch idealisierte Heimat Wolga in die Vorstellung einer historischen Heimat Deutschland einfließen, lässt sie unglaublich wertvoll erscheinen und die Erwartungen sehr hoch werden. Ebenfalls deutsch zu sein, motivierte dabei viele, sich in der neuen Heimat schnell zuhause zu fühlen. Die hohen Erwartungen an eine rasche Integration ›unter seinesgleichen‹ in den neuen Heimatorten wurden jedoch vielfach enttäuscht, wie ein Zitat von Nina zeigt:



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Alle Namen sind anonymisiert.

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»Ich überlege, wo meine Heimat ist. In Russland waren wir Faschisten, keine Russen. Kirgistan ist auch nicht meine Heimat. Ich habe immer gedacht Deutschland, aber hier sind wir nur als Russen akzeptiert. […] Wenn ich an der Wolga geboren wäre, wäre dort meine Heimat. Wir sind aber in Kirgistan geboren. Die Leute dort sehen anders aus.« (Nina 38 Jahre alt, Deutschland/2002)

Nina versteht unter Heimat einen Ort, an dem ein Volk zusammenlebt. Aus ihrer Sicht konnte daher Kirgistan keine Heimat für sie werden. Allerdings werden die Vorstellung einer historischen Heimat und ein primordiales Verständnis deutscher Identität von vielen Menschen in Deutschland nicht geteilt. Ganz im Gegenteil werden die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion anhand ihrer russischen Sprache wahrgenommen, die die lokale Bevölkerung an weit entfernte Orte in Sibirien denken lässt. Neben der Fremdwahrnehmung als Russen sind es insbesondere Integrationsprobleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt, die die Vorstellung eines sicheren und wirtschaftlich erfolgreichen Lebens in einer Heimat Deutschland verblassen lassen. Wie auch die meisten anderen Migranten werden Russlanddeutsche am unteren Rand in die soziale Figuration der deutschen Gesellschaft aufgenommen. Beispielhaft steht dafür der Umstand, dass viele von ihnen unterhalb ihrer beruflichen Qualifikationen arbeiten. Durch den identitären Ausschluss aus der deutschen Nation und die beruflichen Hürden wird ihnen in gewisser Weise auch das Recht abgesprochen, diesen Ort als ihre Heimat betrachten zu dürfen (cf. Reeves 2011: 309). Viele von ihnen haben so die Vorstellung von Heimat als Ort nichthinterfragter Zugehörigkeit im Verlauf des schwierigen Integrationsprozesses in Deutschland auf ihren nun weit entfernten Geburtsort übertragen. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, scheint oft eine allgemeine Nostalgie für die Vergangenheit zu bewirken, oder wie Kabachnik (et al. 2010: 323) es formuliert:

 »When home is situated in the past, it becomes associated with normality, security, familiarity, wealth, and comfort, and one’s current loss and hardship are defined against the normality of the past.«

Für viele kasachstandeutsche Migranten entwickelte sich der Geburtsort im Verlauf des Integrationsprozesses in Deutschland zu einem Sinnbild glücklichen und freien Lebens, welches für immer verloren zu sein scheint. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass nicht nur der Moment der Migration, sondern viele andere Umstände – wie das Erwachsenwerden – dazu beitrugen, dass dieser Ort einer glücklichen Kindheit verloren ging, wie ein Zitat von Elisabeth veranschaulicht:



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»Der Begriff Heimat existiert für mich eigentlich nur in der Kindheit. Da habe ich all die Ungerechtigkeiten nicht gesehen. Da war alles noch schön und einfach. […] Hier [in Deutschland] sehne ich mich nach Freiheit. Dort war alles lockerer, kein Stress, viel Zeit, lange Abende, viel Land, viel Natur. Hier haben wir keine Zeit, in die Natur zu fahren.« (Elisabeth, 43 Jahre alt, Deutschland/2002)

Elisabeth weist auf Diskriminierungen als Deutsche in der ehemaligen Sowjetunion hin, die sie als Kind noch nicht wahrnahm. Nur in ihrer Kindheit empfand sie daher ihr Leben als sicher und glücklich. Aber der Umstand, dass sie selbst – wie viele andere – diesen Ort verließ, scheint es einfacher zu machen, ihn in erster Linie als Heimat, als Gefühl der Zugehörigkeit und als Ort des glücklichen Zusammenlebens mit der Familie interpretieren zu können. Die Erfahrung, an einem neuen Ort als Ausgeschlossene zu leben, lässt Menschen scheinbar von einem idealen Leben träumen, das sie in die Vergangenheit projizieren. Dies scheint selbst dann möglich zu sein, wenn man dort auch Diskriminierung empfand. Dass Kasachstandeutsche sich nach den Orten ihrer Kindheit sehnen, bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass sie endgültig eine Heimat verloren haben. Ganz im Gegenteil machen viele deutlich, dass sie in Deutschland nun eine neue Heimat gefunden haben, wie ein Beispielzitat von Anna zeigt. »Ich habe hier [in Deutschland] jetzt meine zweite Heimat gefunden. Meine ganze Verwandtschaft ist hier. Heimat ist da, wo Familie ist. Die Bekannten sind da geblieben, aber ich habe jetzt hier auch Freunde.« (Anna, 30 Jahre alt, Deutschland/2002)

Jedoch unterscheidet sich diese zweite Heimat ganz deutlich von der ersten. Sie scheint ein aktiver Prozess zu sein, der eine Auseinandersetzung mit den neuen Gegebenheiten beinhaltet. In diesem Zusammenhang enthält der Heimatbegriff kein utopisches Potenzial und interessanterweise kommt die neue Heimat fast ohne örtliche Bezüge aus. So fühlen sich kasachstandeutsche Migranten in erster Linie im Kreis ihrer Familien beheimatet (vgl. auch Schönhuth 2006: 373). Da der Migrationsprozess aus der ehemaligen UdSSR nahezu vier Fünftel aller Kasachstandeutschen nach Deutschland auswandern ließ, scheint die Definition von Heimat als eines sozialen Netzwerkes naheliegend. Der 21-jährige Paul erklärt Heimat als Familiennetzwerk wie folgt:

 »Heimat ist etwas, was eine Linie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darstellt. Heimat ist der gemeinsame Nenner zwischen Eltern, Kindern und Großeltern.« (Paul, 21 Jahre alt, Deutschland/2002)

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Al-Rashid (1994) weist auf ein Phänomen hin, das er als ›double nostalgia‹ kennzeichnet. Dieses bezieht sich auf den Umstand, dass sich Migranten (bzw. Flüchtlinge in seiner Studie) nicht nur nach einer idealisierten Vergangenheit sehnen, sondern dass ihre Sehnsucht sich gleichermaßen auf eine glückliche Zukunft bezieht. Viele Kasachstandeutsche geben an, dass ihre Migrationsentscheidung maßgeblich von dem Wunsch nach einem besseren Leben für ihre Kinder getragen wurde. Dies wird dabei besonders von denjenigen hervorgehoben, die mit ihrer Lebenssituation in Deutschland unzufrieden sind. Eine ›Zukunftsnostalgie‹ wird somit im Fall der Kasachstandeutschen häufig auf die nächste Generation übertragen, oder wie es Paul ausdrückt, indem man eine Heimat bewahrt, sorgt jede Generation für die Zukunft der nächsten. Fog Olwig (1998: 235) untersucht die Dialektik zwischen Heimat als Netzwerk sozio-ökonomischer Rechte und Pflichten und Heimat als Symbol, die sie wie folgt beschreibt: »These two aspects of home mutually reinforce and implicate one another, so that ›home‹ will not exist in the form of a concrete set of socio-economic rights and obligations if it does not receive some sort of recognition and validation through narratives and other kinds of symbolic expressions among interacting individuals.«

Im Zuge der Migration und Inkorporation an den neuen Orten hat sich auch die Dialektik des kasachstandeutschen Heimatbegriffs gewandelt. Narrative über einen Ort, der symbolisch für Sicherheit und Wohlergehen steht, beziehen sich heute öfter auf den Geburtsort als auf eine ›historische Heimat‹ Deutschland. Der Integrationsprozess schloss die meisten Migranten eher aus und verwehrte ihnen den Zugang zu Macht. Allerdings haben viele Migranten eine zweite Heimat geschaffen, die zumeist innerhalb des sozialen Netzwerkes, das mitgebracht wurde, erfahren wird.

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UND E NTTÄUSCHUNG IM TRANSNATIONALEN F ELD

Im Zuge von Globalisierungstheorien und der Kritik daran, Ort und Kultur gleichzusetzen, versteht es sich heute in den Sozialwissenschaften von selbst, Orte auch in ihrer globalen Vernetzung zu untersuchen (vgl. Malkki 1992), oder wie Doreen Massey (1992: 7) es formuliert: »What is happening is that the social relations which constitute a locality increasingly stretch beyond its borders; less and less of these relations are contained within the place itself«.

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Der Migrationsprozess aus Kasachstan ist aufgrund seines Ausmaßes besonders, da innerhalb von wenigen Jahren ca. 80 Prozent der Deutschen auswanderten. Dieser Exodus ist darüber hinaus durch die Vision einer diasporischen Rückkehr gekennzeichnet. Dies führte dazu, dass die meisten Migranten mit der Absicht kamen, an ihrem neuen Ort für immer zu bleiben. Eine Rückkehr nach Kasachstan – auch eine zeitlich begrenzte – schlossen die meisten von vorneherein aus (Pfister-Heckmann 1998; Römhild 1998). Obwohl sich der Heimatbegriff der meisten Migranten – wie im vorangegangenen Abschnitt erläutert – wandelte und einige heute sogar die Remigration erwägen, sind die transnationalen Bezüge nach wie vor durch die Erfahrung der Exodus-Migration geprägt. Das folgende Zitat von Natascha gibt ein Beispiel für das Gefühl der Zwangsläufigkeit, das damit vielfach verbunden war:

 »Deutschland ist unsere ›historische Heimat‹. Wenn man alles bedenkt, war es eine richtige Entscheidung auszusiedeln. Irgendwann musste es so kommen, dass die Deutschen zurück nach Deutschland gehen. Es war wie eine Kette. Die Zeit dazu war einfach gekommen. Die ersten gingen und alle hatten ein Gefühl von Unruhe. Keiner wollte allein zurückbleiben, und so zog es uns.« (Natascha, 36 Jahre alt, Deutschland/2002)

Das Ausmaß der Transmigration führte dazu, dass sich Nicht-Migranten oft gezwungen sahen, ihr Verhalten rechtfertigen zu müssen. Migration – und nicht das Verweilen an einem Ort – galt für einige Jahre als einzig vernünftige Handlung. Es wanderten zumeist Großfamilien aus, sodass darüber hinaus denjenigen, die blieben, vorgeworfen wurde, die Regel zu brechen, gemeinsam als Familie zu handeln. Zudem wurde oft eine gemeinsame nationale Identität beschworen, da die Auswanderung mit der Rückkehr in eine Heimat verknüpft war. Ein Zitat von Vera veranschaulicht die Kritik, mit der viele Nicht-Migranten konfrontiert sind:

 »Nun, ich besuchte meine Verwandten [in Deutschland] jedes Jahr. Sicherlich diskutierten meine Verwandten mit mir und kritisierten mich dafür, eine so schwache Person zu sein. Sie fragten: ›Warum hast du das gemacht? Wenn Du bloß ausgewandert wärest, wäre doch alles in Ordnung!‹ Nun, so ist es gekommen. Nun, ich konnte nicht. Und hier [in Kasachstan] fragt mich jeder: ›Was? Du bist zurückgekommen! Jeder wandert doch aus!‹ Nun, jeder wandert aus, aber ich konnte einfach nicht.« (Vera, 46 Jahre alt, Kasachstan/2007)

Vera wollte nicht aus Kasachstan auswandern, da sie ihren russischen Partner nicht zurücklassen mochte. Die Gründe für den Verbleib in Kasachstan sind je-

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doch vielfältig: Einige haben ein erfolgreiches Geschäft oder eine gute Arbeitsstelle oder möchten wie Vera Freunde und/oder Verwandte nicht zurücklassen (siehe dazu Tauschwitz in diesem Band). Andere wiederum haben nicht die Möglichkeit, nach Deutschland einzureisen, da sie zumeist am Sprachtest gescheitert sind. Je freiwilliger dabei der Verbleib in Kasachstan den Verwandten in Deutschland erscheint, desto mehr hat die Entscheidung in vielen Fällen die potenzielle transnationale Beziehung erschwert. Des Weiteren wirkte es sich negativ auf das transnationale Feld aus, dass viele Migranten ihre ehemaligen Wohnorte (zunächst) nicht besuchen mochten. Nicht zurück zu schauen, ermöglicht vielen Migranten dabei auch, ihre Version der Heimat, wie sie früher einmal war, zu bewahren bzw. zu idealisieren und ihr damit die Rolle des Symbols für ein glückliches Leben zu geben. Ein Zitat von Nina veranschaulicht diese Position:

 »Ich sehne mich nach unserem Haus, dem Elternhaus und nach dem Garten, einem riesengroßen Garten, nach Bäumen, Flüssen und Bergen, nach meinen Kolleginnen, den Nachbarn. Manchmal denke ich, ob die wohl alle noch leben. Ich habe keinen Kontakt mehr, meine Freundin hat auf meinen Brief nicht geantwortet. Zu Besuch möchte ich nicht hin. Ich war nie wieder da. Es ist nicht mehr so wie früher. Wo sollten wir überhaupt übernachten? Ich habe die Kinder gefragt, ob sie nach Kirgistan wollen. Sie sagten, was sollen wir da. Die Vorstellung, so wie es früher war, wollen wir behalten.« (Nina, 38 Jahre alt, Deutschland/2002)

Hinzu kommt, dass massive infrastrukturelle Schwierigkeiten während der 1990er Jahre den Kontakt mit Verwandten in Kasachstan erschwerten. Lebte man auf dem Land, war es mitunter unmöglich, ein Telefonat zu führen. Auch aus diesem Grund ist das transnationale soziale Feld weniger ausgeprägt als dies für andere Migrationsprozesse dokumentiert ist (z.B. Pries 1996; Smith/ Guarnizo 1998). Die meisten Migranten brachen jedoch die Beziehung zu ihren nahen Verwandten in Kasachstan nicht vollständig ab, auch wenn häufig Jahre lang kein Kontakt zu ihnen bestand. Oft wurde gegen Ende der 1990er Jahre der Austausch wieder aufgenommen bzw. intensiviert. Die Beziehungen zwischen Kasachstan und Deutschland litten nun jedoch vielfach unter den enttäuschten Erwartungen seitens der nicht Migrierten, die in den schwierigen 1990er Jahren mehr Hilfe von ihren Verwandten im ›reichen Deutschland‹ erwartet hätten. Die wiederum waren – wie oben bereits ausgeführt – enttäuscht davon, dass ihre Verwandten überhaupt in Kasachstan geblieben waren. Hinzu kam, dass die wirtschaftliche Situation von ihnen oft als so schlecht empfunden wurde, dass es

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ihnen peinlich war, den Verwandten von ihren Schwierigkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu berichten. Enttäuschung und Ernüchterung im Hinblick auf Unterstützung aus Deutschland zeigen sich auch in der Analyse persönlicher Netzwerke, die ich 2007 in Kasachstan durchführte. Der hier verwendete Netzwerkfragebogen9 gibt Auskunft über Beziehungen im Hinblick auf wirtschaftliche, emotionale und soziale Unterstützung. Im Durchschnitt nannte eine Person dabei 16 Beziehungen, sodass für 30 Befragte10 insgesamt Informationen über mehr als 500 Beziehungen gesammelt wurden. Weniger als zwei Prozent dieser Unterstützungsbeziehungen sind dabei solche zu Personen in Deutschland, obwohl zwei Drittel der Befragten sogar nahe familiäre Beziehungen – d.h. Geschwister, Eltern und/oder Kinder – in Deutschland haben. Auch würden nur zwei Befragte ihre Verwandten oder Freunde in Deutschland um Geld bitten.11 Zum Teil waren die Interviewten selbst von der Deutlichkeit des Fragebogenergebnisses überrascht,12 da viele von ihnen lieber die Version eines harmonischen Familienlebens stehen gelassen hätten, die häufig zunächst erzählt wurde. Im anschließenden Gespräch machten sich viele jedoch scheinbar Luft und berichteten von ihren Schwierigkeiten mit Verwandten in Deutschland. So erzählte eine Frau, dass ihre Schwester in Deutschland sich weigerte, sie offiziell

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Ich habe eine leicht angepasste Version des Netzwerkfragebogens aus der Studie von Berzborn (et al. 1998: 3-5) verwendet. Dieser entstammt ursprünglich dem ›social support survey‹ des International Social Survey Program (ISSP). Der Fragebogen umfasst 12 hypothetische Fragen, die emotionale soziale und ökonomische Unterstützungsbeziehungen ermitteln. Der Fragebogen gibt dabei im Wesentlichen Aufschluss über starke Beziehungen und vernachlässigt schwache Beziehungen (Granovetter 1973). So haben die Befragten sicherlich mehr (schwache) transnationale Bezüge als die Auswertung des verwendeten Fragebogens zu dokumentieren vermag. Dies könnten etwa ehemalige Arbeitskollegen oder Nachbarn sein mit denen man ganz sporadisch in Kontakt steht. Die hier thematisierte Problematik der zerbrochenen Familien ist davon jedoch unberührt.

10 Alle leben in der Stadt Taldykorgan. Die Hälfte von ihnen ist weiblich. 11 der Interviewten sind zwischen 18 und 39 Jahre alt, 11 weitere sind zwischen 40 und 59 Jahre alt und 8 Personen sind älter als 60 Jahre. 11 Die vollständige Auswertung des Netzwerkfragebogens findet sich in Sanders (2009). 12 Mit allen Interviewten des Netzwerkfragebogens habe ich auch biografische Interviews durchgeführt und ihre Genealogien erhoben. Im Verlauf der Feldforschung kam es darüber hinaus mit den meisten zu mehreren informellen Treffen, bei denen ich auch meine Auswertung des Netzwerkfragebogens mit ihnen diskutieren konnte.

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nach Deutschland einzuladen, sodass sie ein Visum bekommen konnte. Schließlich erklärte sich ihr Neffe dazu bereit. In Deutschland schenkte ihre Schwester ihr ›nur 20 Euro‹, was sie tief enttäuscht hat. Sie sagt, wie viele andere, dass sie ihre Verwandten in Deutschland von daher niemals mehr um Geld bitten würde. Wenn sie anrufen, erklärt sie immer, dass es ihnen in Kasachstan gut geht, selbst dann, wenn sie große Schwierigkeiten haben. Sie hätte gelernt, dass Probleme immer vor Ort gelöst werden müssten und ihre Familie eben sehr weit weg wohnt. Der Umstand, dass Verwandte und Freunde in Deutschland häufig weniger helfen als gewünscht, wird in Kasachstan zumeist mit der ›westlichen Mentalität‹ erklärt, an die sich ihre Verwandten offenbar bereits angepasst hätten. Deutschland erscheint ihnen auch aus diesem Grund als fremdes, unfreundliches Land, das von egoistischen Menschen bewohnt wird. Die Geschichten ihrer Verwandten von Arbeitslosigkeit und der Fremdwahrnehmung als Russen verstärken dieses Bild. Dabei wird die negative Stereotypisierung seitens der Bevölkerung in Deutschland zum Teil übernommen und bis nach Kasachstan weitergegeben; mit der fast skurril anmutenden Konsequenz, dass dort erzählt wird, es liege an all den nun in Deutschland lebenden Russen (ihren kasachstandeutschen Verwandten), dass es in Deutschland nun auch wirtschaftlich bergab geht.

H EIMAT

FINDEN IN

K ASACHSTAN

Die diasporische Vision von Deutschland als sicherem Hafen ist nicht nur für die nach Deutschland Ausgewanderten verblasst, die dort in ihrem Alltag ein Zuhause schaffen müssen, sondern auch für diejenigen, die der vermeintlichen historischen Heimat fern blieben. Wie im vorangegangenen Abschnitt ausgeführt, sind die Geschichten der Familie aus Deutschland wie auch ihr Handeln oft nicht dazu angetan, die Vorstellung von einem glücklichen Leben aufrecht zu erhalten. Insbesondere der Verlust der Verwandten, wie die als zutiefst ungerecht empfundene Visa- und Einwanderungspolitik Deutschlands haben das Land der Vorfahren häufig zu einem geschmähten Ort gemacht. Aber nicht nur das Versprechen eines fernen Landes, sondern auch die konkreten Lebensumstände in Kasachstan haben sich drastisch gewandelt. Innerhalb von zwei Dekaden haben die meisten Kasachstandeutschen nicht nur einen Großteil ihrer Familie, sondern auch viele ehemalige Nachbarn, Arbeitskollegen und Schulfreunde verloren. Allein zwischen 1989 und 1999 verließen 1,5 Millionen Menschen Kasachstan (Peyrouse 2007: 492). Die zurückgelassenen Häuser wurden oftmals von Kasachen aus der Mongolei oder China übernommen, die in

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der Regel kein Russisch sprechen. Da die meisten Kasachstandeutschen allerdings kein Kasachisch sprechen, ist der Austausch mit den neuen Nachbarn vielfach schwierig (Diener 2006). Nach dem Zusammenbruch der UdSSR verloren darüber hinaus die meisten ihre Arbeitsstelle. Finanzielle Schwierigkeiten und Unsicherheit bezüglich der Arbeitsplatzsituation betreffen nahezu alle Menschen in Kasachstan. Für nicht Kasachisch Sprechende verkompliziert sich die berufliche Lage zusätzlich durch die Sprachpolitik, die auf eine mittelfristige Umstellung von Russisch auf Kasachisch zielt, sodass viele Arbeitsplätze im staatlichen Beschäftigungssektor nur noch Kasachisch Sprechenden vorbehalten sind (Dave 2004, 2007; Davis/Sabol 1998). Somit verloren auch die Nicht-Migranten, die in ihrer Heimat verblieben, die Selbstverständlichkeit vieler ihrer täglichen Routinen und waren gezwungen, ihr Konzept von Heimat anzupassen. Wie in der Vorbemerkung durch die Geschichte von Wladimir Molotsov bereits angedeutet, ist es in erster Linie die Landschaft Kasachstans, die für Weite und Freiheit steht, die Menschen das Gefühl von Heimat gibt. Fragt man Kasachstandeutsche nach dem Grund ihres Verbleibens, ist die fast schon stereotype Antwort, dass es nicht ratsam ist, das Klima zu wechseln. Das Argument wird dabei zumeist unterstützt durch Berichte von Migranten, die durch den Ortswechsel schwer erkrankten. Migration scheint somit grundsätzlich nicht ratsam zu sein. Bezogen auf das Heimatkonzept scheinen soziale Beziehungen eine untergeordnete Rolle zu spielen, wobei die Landschaft eine Erfahrung von Kontinuität in der alten Heimat ermöglicht. Das Verständnis von Heimat als Landschaft bedeutet jedoch nicht, dass Kasachstandeutsche mit der Bildung des Staates Kasachstan und den sozio-ökonomischen Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte grundsätzlich unzufrieden sind. Ganz im Gegenteil ist zu berücksichtigen, dass sich ihre Position im Hinblick auf gesellschaftliche Anerkennung seit Ende der Sowjetunion deutlich verbessert hat. Der Umstand, dass der Kasachische Staat seine Berechtigung nicht wie die Sowjetunion aus dem Großen Vaterländischen Krieg schöpft, ist sicherlich ein Grund für den Imagewandel des ehemaligen Staatsfeindes (cf. Diener 2004). Darüber hinaus ist nicht unerheblich, dass die Anzahl der Deutschen so deutlich sank. In Kasachstan ist eine deutsche Identität heute etwas Besonderes und wird oft allein schon aus diesem Grund bewundert. Die folgende Anekdote berichtet genau davon. Sie wird häufig in verschiedenen Versionen erzählt, wenn es um die Bedeutung der Deutschen in Kasachstan geht:

 »Wir haben bei uns so eine Anekdote, die unter Kasachen erzählt wird – ich erzähl sie Dir: In einem Dorf zu Sowjetzeit lebten viele Deutsche und Russen und plötzlichen emi-

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grierten alle und nur Kasachen blieben zurück. 1989 verkündete der Kolchosenchef auf einer Versammlung, dass sie dieses Jahr Weizen, Gerste und ein paar andere Getreidesorten anpflanzen werden. Am Ende der Versammlung erwähnte er noch, dass sie über die Auswanderung von Schulze beraten müssten. Er schlug vor, dass sie ihm ein gutes Zeugnis mit auf den Weg geben. Einer hebt die Hand und sagt: ›Nur wenn er sein Auto abgibt, gebe ich ihm ein gutes Zeugnis.‹ Der Chef der Verwaltung sagt daraufhin: ›Nur wenn er sein Haus abgibt, stelle ich ihm ein gutes Zeugnis aus.‹ Nun, und der Deutsche wanderte aus. Und so geschah es jeden Monat: Ein Deutscher gibt sein gutes Haus oder Auto gegen ein gutes Zeugnis ab und wandert aus. Und schließlich, schon Mitte der 90er Jahre, fragte der Chef der Kooperative auf einer Versammlung: ›Was sollen wir anpflanzen? Die technische Ausstattung ist kaputt und das Dorf liegt am Boden. Was sollen wir tun?‹ Einer hebt die Hand und antwortet: ›Lasst uns Deutsche anpflanzen!‹ Dies ist eine Anekdote unserer Zeit. Es war wirklich so. Zu dieser Zeit [in den 90er Jahren] emigrierte das Fundament der Wirtschaft und viele Unternehmen mussten ihren Betrieb deshalb einstellen.« (Edik, 37 Jahre alt, Kasachstan/2007)

Der Exodus von Deutschen zeigt also Kasachen und Russen, welch gute Qualitäten die deutschen Arbeiter haben, und wie wichtig sie für die Gemeinschaft waren – so diese Anekdote, die mir jedoch nicht nur Deutsche erzählten. Viele Kasachen wissen es darüber hinaus zu schätzen, dass einige Deutsche lieber im Land der Kasachen bleiben als in das reiche Deutschland auszuwandern. Sie gelten einigen daher als ›wahre Patrioten Kasachstans‹. Auf der anderen Seite erkennen Kasachstandeutsche an, dass Kasachen ihnen bzw. ihren Vorfahren vielfach das Leben retteten, indem sie sie nach der Deportation großzügig in ihre Haushalte aufnahmen. Das kulturelle Gedächtnis von Kasachen wie Deutschen nimmt dabei Bezug auf die besondere deutsch-kasachische Freundschaft. Folgendes Zitat der 55-jährigen Olga dokumentiert dieses Freundschaftsnarrativ:

 »Meine Eltern erzählten mir zum Beispiel immer, dass die Mehrheit ihrer Generation, die in diesen Jahren [während des Zweiten Weltkrieges] lebte im Prinzip nur überlebte – und nicht umkam – dank der Tatsache, dass das kasachische Volk sehr großzügig ist. Sehr viele halfen.« (Olga 55 Jahre alt, Kasachstan/2007)

Kasachstandeutsche betrachten Kasachstan heute zumeist als ihr Heimatland und bezeichnen sich als Kasachstaner. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine deutsche Identität ihnen weniger wichtig wurde. Es scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein, da eine deutsche Identität heute geschätzt und in vielen Bereichen von Vorteil ist. So werben viele deutsche Kleinunternehmer mit dem Label ›deutsch‹, das für Verlässlichkeit und gute Qualität steht. Eine deutsche Identität steht da-

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bei jedoch nicht in Konkurrenz zur supraethnischen kasachstanischen, sie ist vielmehr die Voraussetzung dafür, wenn man der Nationalitätenpolitik Kasachstans folgt. Die Vorstellung, ethnische Identität zu stärken, um schließlich eine supraethnische Identität zu fördern, setzt dabei auch die sowjetische Nationalitätenpolitik fort (cf. Hirsch 2005), wobei gleichzeitig das politische Ziel, die bei Staatengründung demografisch dominanten Russen zu schwächen, umgesetzt werden kann, indem Deutsche wie andere ethnische Minderheiten dazu aufgefordert werden, ihre ›wahre Ethnizität‹ zu entdecken und sich nicht durch ihre Muttersprache Russisch zu definieren. Diese Nationalitätenkonzeption erlaubt Deutschen, Kasachstan als Heimat zu erleben. Für viele besteht Heimat daher weniger in einem glücklichen Zusammenleben mit der Familie während ihrer Kindheit in der Sowjetunion, wie dies für viele der Migranten in Deutschland der Fall ist, sondern in Kasachstans landschaftlicher Weite.

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M IGRATION

Dieser Beitrag hat den Zusammenhang von Migration, Heimat und sozialer Figuration anhand des Beispiels kasachstandeutscher Migranten und Nicht-Migranten untersucht. Ihre Vorfahren waren zumeist gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus dem deutschsprachigen Raum nach Russland eingewandert. Während des Zweiten Weltkrieges wurden deren Nachfahren nach Sibirien und Zentralasien deportiert und nach Zusammenbruch der Sowjetunion wanderte ein Großteil nach Deutschland aus. Das kasachstandeutsche Gedächtnis ist geprägt durch Geschichten von Migration und Ankommen, durch den Verlust und das Schaffen von Heimat. Folglich wird häufig der Verbleib an einem Ort als ungewöhnlich und das Weiterziehen als ›normale Handlung‹ interpretiert. Somit scheinen kasachstandeutsche Narrative folgende Aussage von Rapport und Dawson (1998: 33) zu stützen: »It is in and through the continuity of movement that human beings continue to make themselves at home«. Jedoch sind Ortsbezüge für die hier beschriebenen Menschen von großer Bedeutung; sie dienen als Projektionsfläche für ihre Wünsche und Hoffnungen und sind notwendig als Orte, zu denen man Zugehörigkeit empfinden und an denen man seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Es konnte gezeigt werden, dass die Inkorporation in soziale Figurationen Heimatkonzepte beeinflusst. Zugehörigkeit kann nur dann empfunden werden, wenn Menschen die Möglichkeit haben, ihr Auskommen zu bestreiten und grundsätzlich Zugang zu Machtpositionen haben. Falls Menschen nur als Außenseiter akzeptiert sind – bzw. wie in diesem Fall als Russen – ist es sehr wahr-

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scheinlich, dass sie ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit auf einen anderen Ort verlagern. Russlanddeutsche Migranten träumen dabei vielfach von ihrem Geburtsort als Ort eines glücklichen Lebens. So hatten die meisten Migranten im Verlauf des Integrationsprozesses auch die diasporische Vorstellung von Deutschland als sicherem Hafen aufgeben müssen. Dennoch streben fast alle der hier Befragten danach, sich an ihren Wohnorten in Deutschland zuhause zu fühlen. Dabei haben sie ihre Konzeption von Heimat dahingehend angepasst, dass diese ›zweite Heimat‹ nun in erster Linie als Familiennetzwerk interpretiert wird. Die in Kasachstan verbliebenen Verwandten werden häufig dafür kritisiert, die Regel der gemeinsamen Familienhandlung gebrochen zu haben. Dies ist ein Grund, warum transnationale Beziehungen vielfach durch Enttäuschungen gestört sind. Durch den Verlust der Familie mussten jedoch auch die Nicht-Migranten ihre Vorstellung von Heimat revidieren. Blieb man in Kasachstan, wird Heimat oft durch die Beschreibung von Landschaft, deren Weite und Schönheit, ausgedrückt. Diese statische Vorstellung von Heimat mag auch eine Antwort auf sich rapide verändernde soziale, politische und wirtschaftliche Bedingungen in Kasachstan sein, wobei Migrationsströme selbst einen Teil dieser Veränderungen herbeigeführt haben. Hinzu kommt, dass die Geschichten ihrer Verwandten und Freunde in Deutschland über die Fremdwahrnehmung als Russen und den häufig empfundenen Ausschluss aus der Gesellschaft und dem Arbeitsmarkt die Loslösung einer deutschen Identität vom Land ihrer Vorfahren bewirkte. Stattdessen scheint es, dass die positive Fremdwahrnehmung von Deutschen im heutigen Kasachstan für viele die Hoffnung auf eine gute Zukunft dort und das Gefühl der Zugehörigkeit mit sich bringt. Der Migrationsprozess hat zahlreiche Menschen in Verbindung mit weit entfernten Orten gebracht, weil man selbst auswanderte oder ein Teil der Familie fort ging. Angesichts der damit verbunden Veränderungen scheinen Menschen nach Kontinuität zu streben, entweder indem sie ihre Vorstellung von Heimat an ihrer Verwandtschaftslinie festigen möchten oder indem sie sich auf die Ewigkeit der Landschaft beziehen, die darüber hinaus niemanden ausschließen kann. Daneben hat Heimat eine praktische Seite, die sich auf das Einrichten und Arrangieren mit den lokalen Gegebenheiten bezieht und von vielen als ›zweite Heimat‹ bezeichnet wird. Die symbolische Seite des Heimatbegriffs, die für ein glückliches Leben in Sicherheit und Wohlergehen steht, entfernt sich dabei umso weiter von den realen Wohnorten, je mehr diese die Zugehörigkeit verweigern. Im Fall der Migrantinnen und Migranten in Deutschland sind dies häufig die Orte der Kindheit im heutigen Kasachstan.

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D ANKSAGUNG Ich möchte den Menschen in Kasachstan und Deutschland für ihre Offenheit und Kooperation danken und dafür, dass sie ihre Ideen und Lebensgeschichten mit mir teilten. Mein besonderer Dank gilt dabei dem Vorsitzenden des Deutschen Hauses in Taldykorgan Herrn Wladimir Molodtsov sowie Frau Eleonora Friesen, Frau Irina Voronina und Frau Ludmilla Itterman. Darüber hinaus profitierte meine Arbeit von den hilfreichen Kommentaren meiner Kolleginnen und Kollegen am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle. Der Max-PlanckGesellschaft möchte ich für die finanzielle Unterstützung des Projektes in Kasachstan danken.

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ZWISCHEN TRANSNATIONALER V ERSTÖRUNG UND E NTZAUBERUNG

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»Mir kommt es vor, als hätte ich zwei Leben… eines in Kasachstan und eines hier« Bilderwelten einer russlanddeutschen Migration N ATALJA S ALNIKOVA

Ɏɨɬɨɝɪɚɮɢɹ ɞɟɜɹɬɶ ɧɚ ɞɜɟɧɚɞɰɚɬɶ ɋ ɧɚɢɜɧɨɣ ɩɨɞɩɢɫɶɸ »ɧɚ ɩɚɦɹɬɶ« Ɏɨɬɨɝɪɚɮɢɹ, ɝɞɟ ɦɨɝ ɬɵ ɭɥɵɛɚɬɶɫɹ, ɏɨɬɹ ɭɥɵɛɤɨɣ ɜɪɹɞ ɥɢ ɱɬɨ ɢɫɩɪɚɜɢɬɶ Ein Foto 9 x 12 Mit einer naiven Unterschrift »in Erinnerung« Das Foto, auf dem Du lächeln konntest, Obwohl ein Lächeln kaum etwas ändern kann ALLEGROVA 1990

F OTOGRAFIE

ALS

Q UELLE

Die obigen Zeilen sind dem Lied »Fotografija 9x12«, der russischen Pop-Sängerin Irina Allegrova entnommen. Der Bildträger im Format 9 x 12 cm, nach welchem das Lied benannt ist, hat seinen Platz zwischen Kuscheltieren, der Parfümund Kosmetiksammlung und hält eine vergangene Liebesgeschichte fest. Abgelichtet ist ein »junger Wanderer«, der auf dem Bild lächelt und damit alte Gefühle und Erinnerungen in die Gegenwart ruft. Wer der Musik aufmerksam zuhört, erfährt, dass der Mann sich mittlerweile zum Schlechteren verändert habe, woran die Interpretin nicht ganz unbeteiligt gewesen sein soll. Die Erinnerung an die gemeinsame Zeit, in der »ɝɞɟ ɦɨɝ ɬɵ ɭɥɵɛɚɬɶɫɹ«, »auf dem Du lächeln konntest« ist ihr aber in Form der Fotografie geblieben (vgl. Allegrova 1990).

316 | NATALJA SALNIKOVA

Auf diese Weise fasst Allegrova implizit zentrale Aspekte der Fotografie zusammen. Eine Fotografie ist eine Momentaufnahme, die aufgrund ihrer technischen Voraussetzung, einen realen Eindruck von Personen, Gegenständen und Räumen vermittelt. Sie erlaubt, jedes Detail und auf den ersten Blick scheinbar nebensächliche Dinge genau zu studieren. Auch immaterielle Werte, wie Gefühlsregungen und Beziehungsgeflechte werden erfasst. Ereignisse aus der Vergangenheit, Ideen und Wünsche lassen sich aus mehreren Perspektiven nachvollziehen, aus jener der Auftraggeber, Fotografen, Abgebildeten, Adressaten und nicht zuletzt der Betrachter. Diese Mehrdimensionalität macht es möglich, die Fotografie zur Quelle und zum Gegenstand zeithistorischer Forschung zu machen und die AkteurInnen – in meinem Fall Russlanddeutsche1 – bei der visuellen Präsentation ihrer Migrationsgeschichte einzubeziehen. Zweifelsohne sind die meisten MigrantInnen im Besitz von Fotografien, die ihr Leben vor und nach der Auswanderung dokumentieren. Das materielle Erinnerungsgut hat bereits bei der Ausreise im Gepäck einen bestimmten Platz zugewiesen bekommen und ist heute noch das Medium, das aus den Schubladen und Kartons geholt wird, sobald es um die eigene Lebensgeschichte geht. Im Folgenden soll dargestellt werden, welchen Stellenwert und welche weiteren Funktionen Fotografien und Fotoalben für Russlanddeutsche spielen können. Ausgewählte Bildbeispiele thematisieren dabei auf unterschiedliche Weise Migrations- und Identitätsprozesse meiner russlanddeutschen InterviewpartnerInnen.

W IR STELLEN L EBENSGESCHICHTE AUS . DER M IGRATIONSFORSCHUNG

F OTOGRAFIE

IN

Die visuelle Darstellung kultureller Gruppen ist älter als die Fotografie. Bei den frühen Entdeckungsreisen hielten zunächst Maler und Zeichner ihre subjektiven Eindrücke bildlich fest. Später, im Zuge kolonialer Expansionsbestrebungen

1

Die Verwendung der Bezeichnungen »Russlanddeutsche« und »Bundesdeutsche«, sowie deren Ersatzbegriffe, erfolgt jeweils eingedenk ihres Konstruktcharakters. Alle meine InterviewpartnerInnen waren zuvor in der kasachischen Teilrepublik der Sowjetunion ansässig. Sie würden sich aber mit der Bezeichnung »Kasachstandeutsche« nicht wohlfühlen, weil diese sie – so meine InterviewpartnerInnen – zu wenig von der kasachischen Ethnie abgrenze (vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von Kiel zum heterogenen Selbstbild der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler sowie den Beitrag von Radenbach/Rosenthal zu brüchigen Zugehörigkeiten von Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion).

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