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German Pages 294 Year 2014
Anett Schmitz Transnational leben
Kultur und soziale Praxis
Gewidmet meiner Familie
Anett Schmitz (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Trier. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Transnationale Studien, Migration sowie hochqualifizierte Migranten.
Anett Schmitz
Transnational leben Bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler zwischen Deutschland und Russland
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Danksagung | 7 Vorwort: Persönliche Beweggründe für die Auseinandersetzung mit dem Thema | 9 1. Einleitung | 11 2. Forschungsstand und theoretische Rahmen | 19
2.1 Forschungstand zur Transmigration junger (bildungserfolgreicher) Migranten | 19 2.2 Theoretische Annäherung: Migration, Transnationalität, Zugehörigkeit | 24 2.3 Die Frage der Zugehörigkeit im transnationalen Kontext | 37 3. Wanderungsbewegungen von (Spät-)Aussiedlern | 53
3.1 Geschichtlicher Hintergrund der Wanderungsbewegungen von ethnischen Deutschen nach Russland | 53 3.2Die Deutschen in Russland nach dem Zweiten Weltkrieg | 57 3.3 Deutschland als Einwanderungsland: Personen mit Migrationshintergrund | 61 3.4Deutschland als Auswanderungsland | 71 3.5 Zusammenfassung | 87 4. Methodik und Forschungsdesign: Qualitative ethnographische Forschung und Grounded Theory | 89
4.1 Die Untersuchungsgruppe und die Feldforschung | 92 4.2 Datenerhebung und Datenerfassung | 97
4.3 Datenauswertung: Qualitative Inhaltsanalyse nach Grounded Theory | 108 5. Empirische Befunde: Junge, bildungserfolgreiche (Spät -)Aussiedler im transnationalen Migrationskontext | 113
5.1 Soziodemografische Angaben zur Untersuchungsgruppe | 114 5.2 Kurzporträts: Transnationale Lebensentwürfe | 123 5.3 Exkurs: Migration nach Deutschland – Herausgerissen aus der vertrauten Umgebung | 131 5.4 Zwischen Integration und Ausgrenzung | 134 5.5 Identität und Zugehörigkeit in transnationalen Migrationsprozessen | 144 5.6 Transmigration und Transnationalität als eine neue Lebensperspektive | 199 5.7 Ableitung von transnationalen Typen | 249 6. Schlussbetrachtungen: Diskussion der empirischen Befunde und abschließende Thesen | 257 Literatur | 269 Anhang | 287
Danksagung
Für die Erstellung dieser Dissertation möchte ich vielen Personen auf diesem Wege meinen Dank aussprechen. Mein größter Dank geht an dieser Stelle an meinen Doktorvater Prof. Dr. Michael Schönhuth von der Universität Trier, der mich während meiner gesamten Promotionsphase nicht nur wissenschaftlich betreut hat, sondern auch jederzeit mir mit Rat und Tat zur Seite stand und mich nicht zuletzt in Krisensituationen durch seine freundschaftliche und humorvolle Art immer wieder Kraft schenkte. Ich bedanke mich für die tolle Betreuung und gelungene Zusammenarbeit! Ein großer Dank geht ebenfalls an meinen Zweitbetreuer Prof. Dr. Alois Hahn von der Universität Trier, der durch wertvolle theoretische Diskussionsrunden mich nicht nur unterstützt, sondern auch zum guten Gelingen der Dissertation beigetragen hat. Meinem Kollegen Dr. Markus Kaiser danke ich für die inhaltliche Unterstützung und für die Hilfe bei der Suche nach Interviewpartnern sowie für die zahlreichen Tipps während meiner Feldforschung in St. Petersburg. In diesem Zusammenhang danke ich auch dem Verein des DeutschRussischen Austauschs in Berlin und St. Petersburg, insbesondere Stefan Melle für die Kontaktaufnahme mit weiteren Interviewpartnern. Ebenfalls danke ich außerordentlich meinen zwanzig Interviewpartnern für die langen, sehr persönlichen und tiefreichenden Gespräche, ohne die diese Arbeit nicht zustande gekommen wäre. Danke, Peter, Maria, Nadja, Felix und alle anderen für Eure Bereitschaft und freundliche Unterstützung! Mein Dank gilt ebenso dem SFB 600 „Fremdheit und Armut“ der Universität Trier, in dem ich während meiner Promotionsphase als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Ich danke für die gute Zusammenarbeit und für die Finanzierung der Dissertation.
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Für das Korrekturlesen bedanke ich mich herzlich bei Kathrin Amendt, die mich von Anfang an begleitet hat. Meiner Mentorin Prof. Dr. Nicola Baumann danke ich für ihre motivierenden, intensiven Gespräche sowie guten Ratschläge, die einen herausragenden Beitrag für die Fertigstellung der Dissertation darstellten. Ein großer Dank geht an meine Familie, an meine Eltern und an meinen Bruder, die mir durch mein ganzes Leben und meinen gesamten Ausbildungsweg unterstützend zur Seite standen, mir ein Studium in Deutschland ermöglicht haben, immer an mich geglaubt und mich moralisch aufgebaut haben. Es war für sie sicherlich nicht leicht, ihre einzige Tochter ins Ausland gehen zu lassen und zu wissen, dass sie wahrscheinlich für immer dort bleiben wird. Deshalb ist Euch, liebe Eltern, lieber Bruder, diese Arbeit von ganzem Herzen gewidmet! Ausdrücklich danken möchte ich meinen Schwiegereltern für die liebevolle Betreuung meiner kleinen Tochter Elicia und für die köstlichen Sonntagsessen, insbesondere während der Abschlussphase meiner Promotion. Ohne ihre Unterstützung wäre die Fertigstellung dieses Manuskripts nicht möglich gewesen. Es war eine große Hilfe, vielen Dank! Nicht zuletzt danke ich einem wichtigen und lieben Menschen, meinem Mann Stefan, der rund um die Uhr meine guten und schlechten Launen ertragen musste und tapfer durchgehalten hat. Danke dafür, dass Du in allen guten und schlechten Zeiten, in allen Krisen mit Deiner Ruhe und Gelassenheit auch mir ein Stück Ruhe und Gelassenheit geschenkt hast,, dass Du mir Kraft und Mut gegeben hast, weiterzukämpfen als meine Kräfte mich zu verlassen schienen. Danke für Deine Hilfsbereitschaft, für Deine Unterstützung und Deine Liebe! Ich danke auch all den Freunden und Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen, die mir ebenfalls in dieser Zeit zur Seite standen, immer ein offenes Ohr für alle meine Belange hatten und alle auf ihre Weise für das Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Anett Schmitz
Vorwort: Persönliche Beweggründe für die Auseinandersetzung mit dem Thema
Dem Thema Migration fühlte ich mich bereits während meines Soziologiestudiums besonders verbunden: vielleicht, weil ich selbst eine aus einem fernen Land eingereiste „Fremde“ in Deutschland war und verstehen wollte, wo ich hin gehöre; vielleicht, weil ich manchmal mit den Gedanken gespielt habe, wieder in mein Herkunftsland zurückzukehren; vielleicht aber auch, weil mich ferne Länder schon immer angezogen haben, und es reizvoll war, mich damit auch beruflich auseinanderzusetzen. Ich war sozusagen mit den Gedanken immer noch in einem nicht abgeschlossenen Migrationsprozess und beneidete Menschen, die schon irgendwo „angekommen“ waren, die eine einzige Heimat und ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Ethnie oder Nation hatten, dass sie niemals mit der Antwort auf die Frage „Wo gehöre ich hin?“ zögerten. Als mich auf einer großen Hochzeitsfeier, wo ich unter all den einheimischen Deutschen als „Fremde“ identifiziert wurde, ein älterer Mann plötzlich fragte, wo meine Heimat sei, kam diese Frage genauso überraschend und provokativ für mich, wie meine Antwort für diesen Mann: „Meine Heimat ist in Deutschland“. Der Mann schaute mich entsetzt an und präzisierte seine Frage noch einmal: „Nein, ich meine woher kommen Sie? Seit wann sind Sie in Deutschland? Sie haben doch eine Heimat!“. Soll ein Mensch, der aus einem anderen Land vor zwölf Jahren nach Deutschland migriert ist und in seinem Aufnahmeland bereits eine erfolgreiche Integration durchlaufen und, seinen Platz gefunden hat, sich ausschließlich zu seinem Herkunftsland als Heimat bekennen? Kann er sich nicht Deutschland als eine neue Heimat aneignen, auch wenn er durch
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Äußerlichkeiten oder seinen Habitus als Fremde(r) identifiziert wird? Ist Heimat überhaupt das richtige Konzept für Menschen, die zwischen ihrem Herkunfts- und Aufnahmeland in transnationalen Bezügen leben? Durch die tiefgreifenden Gespräche mit meinen Interviewpartnern konnte ich viele solcher Fragen auch für mich selbst neu ausloten. Meine Sozialisation in einem Land der ehemaligen Sowjetunion erleichterte den Feldzugang zu den Gesprächspartnern, die durch intensive Erzählungen über ihre Migrationsbiographie einen entscheidenden Beitrag für die empirischen Ergebnisse der vorliegenden Dissertation leisteten. Durch Kindheitserinnerungen begleitet, kann Heimat und Zugehörigkeit verschiedene Stationen des Erwachsenwerdens passieren und in ein Zuhause münden, in dem man im Moment seinen Platz gefunden hat. Das heißt nicht, dass meine Interviewpartner und ich unsere letzte Station erreicht hätten. Menschen, denen die eigene Sesshaftigkeit als selbstverständlich und Positionen des Hier und Dort als erklärungsbedürftig vorkommen, scheint dieser Lebensentwurf prekär zu sein. Und ich möchte hier die Tatsache nicht bestreiten, dass für mich und sicherlich auch für die meisten Befragten der Spagat zwischen Hier und Dort am Anfang auch einen Zwiespalt der Identitäten bedeutete. Dennoch – aus heutiger Perspektive gesehen – stellt es vielmehr einen Gewinn dar, in mehreren kulturellen Kontexten zu leben und an mehreren Orten ein Stück Heimat zu haben, ganz so wie ich das auch in diesem Buch darstellen werde.
1. Einleitung
Gut ausgebildete und hoch qualifizierte Personen zählen zu den wichtigsten Ressourcen eines Landes. Ein durch Migration bedingter Brain Drain (Abwanderung der Intelligenz)1 bedeutet häufig einen Verlust von Humanressourcen, die besonders dringend für die wirtschaftliche, politische, kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung des jeweiligen Herkunftslandes benötigt werden. Während in der wissenschaftlichen und politischen Debatte lange Zeit über Brain Gain und Brain Drain und dadurch entstandene negative Folgen für die jeweiligen Herkunftsländer diskutiert wurde, rückt in der letzten Zeit verstärkt der Transnationalismusansatz (vgl. GlickSchiller et al. 1992, Pries 2000, Faist 2000) und die damit verbundene Diskussion der Brain Circulation (Wissenszirkulation)2 in den Vordergrund der
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Wörtlich bezeichnet „Brain Drain“ die Abwanderung der Intelligenz und verweist im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs auf die volkswirtschaftlichen Verluste, die durch die Abwanderung besonders (hoch-)ausgebildeter Facharbeiter oder Akademiker aus einem Land oder einer Region entstehen (vgl. Daxner 2006). Der Terminologie vom Brain folgend spricht die Literatur für das Aufnahmeland von einem „Brain Gain“ (vgl. Wolburg 2001: 23). Davon unterscheidet sich der „Brain Ex-change“, der auf einen gegenseitigen Strom von Hochqualifizierten zwischen dem Absender- und Empfängerland hinweist (vgl. Diehl/Nixon 2005).
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„Brain Circulation“ verweist auf einen zirkulären Prozess, wie z.B. ein Auslands- oder Austauschstudium (vgl. auch Aydin 2010: 3). Bei der zirkulären Migration ist die Aufenthaltsdauer unbestimmt, aber meistens zeitlich begrenzt. Sie impliziert eine Vorstellung des Hin-und Her-Wanderns (Marfaing 2011: 71). Hierbei geht es nicht nur um Austausch von Wissens, sondern auch von anderen
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wissenschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Debatte (vgl. Heß 2009a, Ette/Sauer 2010a/b et al), von der sowohl die Herkunftsländer als auch die Zielländer profitieren. Für die Herkunftsländer resultieren dabei positive Effekte, wenn die Hochqualifizierten für einen befristeten Zeitraum zurückkehren und in den Herkunftsländern selbst investieren oder Investitionen induzieren (Heß 2009a: 12). Die zunehmende räumliche Mobilität im Zuge der Internationalisierung des Bildungssystems, der Globalisierung und Transnationalisierung führt zu einem transnationalen Kar– rieremuster, durch die die Transmigranten versuchen, ihr individuelles Wissen und ihre sozio-kulturellen Kompetenzen nicht nur an einem Ort zu nutzen, sondern überall auf der Welt einzusetzen (vgl. auch Kolb 2006: 164). Der wirtschaftlichen Boom in Russland und Kasachstan in den letzten zehn Jahren begünstigt ein solches zirkuläres Migrationsverhalten bei jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern, die durch ihre mehrfachen Kompetenzen wie Zweisprachigkeit, höhere Bildungs- und Berufsqualifikation, politisches, gesellschaftliches, kulturelles und regionales Wissen über den Herkunftskulturraum häufiger eine solche transnationale Migrationsperspektive in Erwägung ziehen und durch Austauschmöglichkeiten während ihres Studiums (DAAD, Erasmus etc.) einen leichteren Zugang zum Herkunftsland und zum dortigen Arbeitsmarkt finden. Zu dieser Personengruppe zählen neben den hochqualifizierten Managern, mobilen Unternehmern und Wissenschaftlern auch die Auslandsstudenten. Immer mehr Studierende entscheiden sich im Rahmen ihrer Bildungskarriere für die Mobilität und Flexibilität und somit für eine transnationale Lebensform (vgl. Ette/Sauer 2010b: 12; Han 2010: 107). Während eine endgültige Rückkehr bzw. Remigration (vgl. Currle 2006) in das Herkunftsland eine ein– dimensionale Perspektive, nämlich die Karriereentwicklung im Rückkehrland, bietet, können durch das Aufspannen transnationaler sozialer Räume (Pries 2001) vielseitige Möglichkeiten für Beruf, Karriere, aber auch für die eigene Selbstverwirklichung geschaffen werden.
Gütern wie beispielsweise Erfahrungen, kulturellen Praktiken und sozialen Werten, die wiederum die geographisch-räumlichen Bezüge der sozialen Lebenswelt verändern können (vgl. Pries 2008: 77).
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Im Fokus dieser Studie3 liegt die theoretische und empirische Aufarbeitung der transnationalen Migrationsprozesse der jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler.4 Die Studie untersucht mit ethnowissenschaftlichen5 Methoden die dynamischen Prozesse der Gestaltung transnationaler Lebensentwürfe, Identifikationsprozesse und Beheimatungsstrategien von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern6, die aus der ehemaligen Sowjetstaaten Ende der 1980er und Anfang/Mitte der 1990er Jahre nach Deutschland migrierten und zum Zeitpunkt der Untersuchung (2009-2011) als junge Erwachsene zum Zwecke der Aus- und Weiterbildung oder durch Beruf und Karrierewünsche motiviert zwischen Deutschland und Russland hin und her pendelten. Die befragten Personen haben eine primäre Sozialisation in ihrem Herkunftsland erfahren und sind als Kleinkinder oder Teenager ohne eigene Entscheidungsbefugnisse von ihren Eltern in ein fremdes Land (Deutschland) „mitgenommen“ worden. In der wissenschaftlichen Debatte, hauptsächlich im anglo-amerikanischen Raum, spricht die Wissenschaft entspre-
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Die Studie wurde im Rahmen des SFB 600 „Fremdheit und Armut“ im Teilprojekt A8 „Rückkehrstrategien von (Spät-)Aussiedlern im Kontext sich wandelnder Migrationsregime“ unter der Leitung von Prof. Dr. Michael Schönhuth und Prof. Dr. Alois Hahn durchgeführt.
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Aus den Gründen der Vereinfachung und Lesbarkeit wurde in der vorliegenden Studie auf die weibliche Form des Wortes „(Spät-)Aussiedler“ verzichtet.
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Zu den ethnowissenschaftlichen Methoden zählen vor allem teilnehmende Beobachtungen und qualitative Interviews mit Kulturmitgliedern. Diese finden meistens im Prozess der Feldforschung statt (vgl. Beer, Bettina 2003). Heute wird in der Ethnologie der Ansatz der Multi-Sited Ethnography verwendet (vgl. Marcus, George E. 1995; Weißköppel, Cordula 2005), denn die Menschen werden zunehmend mobiler. Auch partizipative Methoden der Netzwerkanalyse (vgl. Fenicia/Gamper/Schönhuth 2010) zählen zu den ethnowissenschaftlichen Methoden. Diese Methoden wurden in der qualitativen Erhebungsphase dieser Studie eingesetzt (vgl. Kapitel 4.2).
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In der vorliegenden Studie wird zwischen Aussiedlern und Spätaussiedlern (nach dem 01.01.1993, vgl. Schönhuth 2008a: 4) unterschieden. Um das Manuskript leserfreundlicher zu gestalten, wird diese Unterscheidung im Fließtext nicht explizit angezeigt, sondern der Termini „(Spät-)Aussiedler“ sowohl für Aussiedler vor 1993 als auch für Spätaussiedler nach dem 1993 verwendet.
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chend von der „Generation 1.5“7 (vgl. dazu auch Tošiþ/Streissler 2009: 192). Im deutschsprachigen Raum wird auch der Begriff der „mitgenommenen Generation“ (Dietz/Roll 1998; vgl. Vogelgesang 2008: 65) verwendet. Zu den typischen Eigenschaften dieser Gruppe zählen vor allem ihre Bilingualität und Bikulturalität. Die Identität der Generation 1.5 setzt sich als eine Mischung aus kulturellen Werten und Traditionen des Herkunftsund Aufnahmelandes zusammen. Die Studie konzentriert sich auf Personen, die einen – noch näher zu definierenden – erfolgreichen Bildungsprozess durchlaufen haben und nennt diese Personen „bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler“.8 Die Altersstruktur der Untersuchungsgruppe liegt zum Zeitpunkt der Erhebung entsprechend zwischen 20-35 Jahren. Ihre weiteren sozio-demographischen, biographischen und kulturellen Merkmale werden in methodischen und empirischen Kapiteln ausführlicher beschrieben. Die Untersuchungsgruppe unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von anderen Migrantengruppen (z.B. türkische, griechische, spanische etc.). Hierfür sind drei (spät-)aussiedlertypische Inklusionsaspekte verantwortlich (vgl. Schönhuth 2008): 1. Die deutsche Passnationalität und in vielen Fällen die doppelte Staatsbürgerschaft, die vom ersten Moment der Integration in Deutschland die rechtliche Inklusion der Untersuchungsgruppe gewährleisten. So können junge (Spät-)Aussiedler aus der Russischen Föderation die Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes beibehalten und zugleich die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben.9 Dies erleichtert im Gegensatz zu
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Er wird dort hauptsächlich in der Bildungsforschung verwendet, beispielsweise bei der Untersuchung von Studenten (vgl. Patton, Marilyn 2006).
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Zur ausführlichen Beschreibung der Untersuchungsgruppe als „bildungserfolg-
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(Spät-)Aussiedler und ihre mit ihnen aufgenommenen Familienangehörigen
reich“ vgl. Kapitel 4.1 und 5. erwerben die deutsche Staatsangehörigkeit nach §7 StAG kraft Gesetzes mit Ausstellung der (Spät-)Aussiedlerbescheinigung, ohne dass sie die bisherige Staatsangehörigkeit aufgeben müssen. Soweit das Staatsangehörigkeitsrecht ihrer Herkunftsstaaten dies vorsieht, erwerben ihre in Deutschland geborenen Kinder dann bereits mit der Geburt neben der deutschen auch deren Staatsangehörigkeit (vgl. BMI 2008; 2011). Aufruf: 30.12.2008; 22.06.2012.
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anderen Migrantengruppen die Pendelmigration. Gleichzeitig macht diese Tatsache die Untersuchungsgruppe zu einer „privilegierten Migrantengruppe“ und kann unter Umständen den Integrationsprozess beschleunigen bzw. erleichtern. Die Voraussetzung der doppelten Staatsangehörigkeit gilt allerdings nur für (Spät-)Aussiedler aus Russland. (Spät-)Aussiedler aus Kasachstan oder übrigen GUS müssen beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit die Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes automatisch aufgeben. 2. Ihr Status als Deutsche: Direkt nach der Einreise bekommen die (Spät-)Aussiedler die Niederlassungserlaubnis in der Bundesrepublik und haben das Recht, wie jeder andere Deutsche auch, ihren Lebensmittelpunkt in jedes beliebige Land zu verlegen. Für ihre freiwillige Rückkehr ins Herkunftsland oder die weitere Bewegung in ein anderes Land können (Spät-)Aussiedler allerdings im Gegensatz zu Remigranten anderer Nationalitäten keine staatliche Hilfe beantragen (vgl. Schönhuth 2008a: 10), da es keine finanziellen Förderprogramme seitens der BRD gibt.10 Dagegen locken die Herkunftsländer mit speziellen Förderprogrammen und besonders ausgewiesenen Siedlungsgebieten für rückkehrwillige (Spät-)Aussiedler.11 3. Die Identitäts- und Heimatfrage: Im Gegensatz zu anderen Migrantengruppen sind (Spät-)Aussiedler ethnische Deutsche und kehren in ihre
10 Als einzige Organisation in Deutschland finanziert AWO Heimatgarten Karlsruhe seit 2007 auch die Rückkehr von (Spät-)Aussiedlern aus dem Bundesland Baden-Württemberg im Rahmen des Förderungsprogramms „Freiwillige Rückkehr“ des Landes Baden-Württemberg. Vgl. unter: www.heimatgarten.de 11 2007 ist vom ehemaligen russischen Präsidenten W. Putin ein föderales zweckgebundenes „Staatliches Programm zur Unterstützung der freiwilligen Umsiedlung in die Russische Föderation der im Ausland wohnenden Landsleute für 2007-2012“ unterzeichnet worden. Mit diesem Programm will die russische Regierung im Ausland lebenden Landsleuten, darunter auch (Spät-)Aussiedler, zur Rückkehr bewegen und die weitere Abwanderung der verbliebenen Russlanddeutschen vermeiden. Insbesondere werden durch solche Programme junge Menschen angesprochen, da sie durch ihre in Deutschland erworbenen Ressourcen die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Landes beeinflussen können. Vgl. Pressespiegel Russlanddeutscher Sibiriens (2007); Silantjewa 2008.
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historische Heimat Deutschland zurück, die sich ihnen nun aber unter Umständen als fremd erweist (vgl. auch Schmidt-Bernhardt 2008: 76). „Die Beobachtung, dass Russlanddeutsche in den Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) von der fernen Heimat träumen, in ihrer neuen Heimat dann aber trotzdem nicht ankommen und von Heimweh geplagt werden, charakterisiert sie als zuhause Fremde“ (Kaiser 2006: 20).
Die Vorstellung, als „Deutsche unter Deutschen zu leben“, bleibt somit für viele (Spät-)Aussiedler lediglich eine Wunschvorstellung, trotz ihrer ethnischen Inklusion. Im Gegensatz zu anderen Migrantengruppen, die von Anfang an mit der Vorstellung in ein fremdes Land zu kommen lebten, migrierten (Spät-)Aussiedler zumindest noch in den 1990er Jahren mit großen Erwartungen in die historische Heimat der Vorfahren. Jedoch wurden sie nach ihrer Ankunft in Deutschland von der Aufnahmegesellschaft als Fremde wahrgenommen und die Projektion/Vorstellung „Heimat“ blieb eine „Utopie“ (vgl. Pfister-Heckmann 1998, Pfetsch 1999). Die rechtliche und ethnische Inklusion bedingt somit nicht zwangsläufig eine Inklusion in anderen Systemen des gesellschaftlichen Lebens. Die Studie möchte vor allem folgende Fragen beantworten: 1. Welche Gründe bewegen junge, bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler dazu, in ihre Herkunftsländer (temporär oder dauerhaft) zurück zu kehren? Inwieweit entstehen hier transnationale Räume und Lebensformen und wie werden diese durch die Besonderheit der deutschen Passnationalität (Statusdeutsche nach §116 des GG) gefördert? 2. Wie werden die Identifikationsprozesse während dieser (ggf. zirkulären) Migrationsbewegungen bzw. durch die Teilhabe in zwei oder mehreren Gesellschaften beeinflusst und an diese Migrationsprozesse angepasst? 3. Wie wird Heimat als (Selbst-)Konzept in zeitlichen, kulturellen und räumlichen Dimensionen von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-) Aussiedlern wahrgenommen und konstruiert? Durch welche Beheimatungsstrategien verorten sich die jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland?
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4. Welche Typen von Transmigranten lassen sich für diese besondere Migrantengruppe im transnationalen Raum herausbilden? Die Arbeit ist in vier Teilen gegliedert: Im ersten Teil werden nach einer ausführlichen Einleitung, Vorstellung der Untersuchungsgruppe und der Forschungsfragestellungen zunächst den Forschungsstand mit relevanten empirischen Studien thematisiert. Im Anschluss dieser Diskussion werden einige einführende Definitionen und Begriffe, die für theoretische und empirische Aufarbeitung dieser Thematik wichtig sind, dargelegt. In den weiterführenden Kapiteln werden theoretische Hintergründe bzw. relevante Theorieansätze für die empirische Aufarbeitung des Themas präsentiert, die sich vor allem der Transnationalismforschung und damit verbundenen Identitätsforschung widmen. Der Diskurs der multiplen Identität(en) und multilokalen Heimat(en) bzw. individueller Beheimatungsstrategien im transnationalen Kontext stehen im Vordergrund dieser theoretischen Diskussion. Im zweiten Teil dieser Arbeit werden die Wanderungsbewegungen der (Spät-)Aussiedler zwischen GUS und Deutschland diskutiert. Einen wichtigen Punkt stellen hier die zirkulären Migrationsbewegungen von Bildungserfolgreichen, die durch aktuelle Statistiken und empirische Studien thematisiert werden. Differenzierte Einblicke in die Thematik und Problematik über die Migration von Bildungserfolgreichen bzw. Hochqualifizierten schafft die Diskussion über die Migration von Studierenden, die im Wissenschaftsdiskurs kaum als Migration wahrgenommen wird. Es wird gezeigt, wie schwierig ist es aussagekräftige Zahlen über diese Migrantengruppe zu ermitteln und gleichzeitig wird betont, wie wichtig es ist, gerade aus dem Hintergrund der steigenden Zahlen der Auslandsstudierenden bzw. Bildungsmigranten das Thema in der Forschung wissenschaftlich stärker zu erfassen. Trotz dieser statistischen Schwierigkeit wird im Anschluss an diese Diskussion versucht anhand von statistischen Auswertungen eine erste Bilanz über die Migrationsbewegungen junger, bildungserfolgreicher (Spät-)Aussiedler zu ziehen, der jedoch keinen Anspruch auf Repräsentativität erhebt. Der dritte Teil dieser Arbeit dient einer ausführlichen Darstellung vom methodischen Zugang zur Untersuchungsgruppe. Im Mittelpunkt der Diskussion steht vor allem eine qualitative ethnographische Methode in Anlehnung an Grounded Theory Methodik, das sich für Datengewinnung und
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Datenanalyse als fruchtbar erwiesen hat. Die qualitative ethnographische Forschungsmetode wird aus einer Methodenmix-Perspektive dargelegt, wobei qualitative Interviews, egozentrierte Netzwerkerhebungen, Alltagsgespräche und Tagebuchnotizen während der Feldforschung, kurze Fragebögen- und Postskriptanwendungen als Hintergrundinformationen ein Bündel der Methodenkombination für die Datenerhebung darstellen. Auf dieser Weise konnte im Forschungsprozess die Qualität der Daten erhöht werden. Der vierte Teil widmet sich der Darstellung und Analyse der empirischen Ergebnisse. Im Fokus stehen die dynamischen Migrationsprozesse junger, bildungserfolgreicher (Spät-)Aussiedler und die Interviewpartner als handelnde Akteure sowie aktive Gestalter ihrer transnationalen Lebensentwürfe. Dabei werden solche komplexen Begriffe wie Identität, Heimat bzw. individuelle Beheimatungsstrategien im transnationalen Migrationskontext diskutiert sowie durch eine biographische Motivanalyse die Gründe eines transnationalen Lebensentwurfes und temporärer Rückkehr junger, bildungserfolgreicher (Spät-)Aussiedler nach Russland aufgezeigt. Die biographische Fallbeispielanalyse dient zum besseren Verständnis subjektiver Deutungs- und Handlungsmuster der Befragten als handelnde Akteure. Darüber hinaus lässt diese Analyse eine Typenbildung zu, die ebenfalls im vierten Teil diskutiert wird. Die Gesamtergebnisse der empirischen Befunde sowie die zentralen Hypothesen der Studie werden anschließend interpretiert.
2. Forschungsstand und theoretische Rahmen
Um die oben dargelegten Fragen angemessen zu beantworten, soll in den weiterführenden Kapiteln zunächst der Forschungsstand zu relevanten und aktuellen Studien zur Transmigration von jungen (bildungserfolgreichen) Migranten zusammengefasst werden. Weiterhin soll ein konzeptioneller und theoretischer Rahmen zur Bearbeitung der zugrunde liegenden empirischen Forschungsfragen entwickelt werden. Besonders der Transnationalismusansatz (Glick-Schiller et al. 1992) erweist sich dabei für die Darstellung der empirischen Ergebnisse als fruchtbar, da das Lebens- und Zugehörigkeitsmuster der Untersuchungsgruppe durch zunehmende räumliche Mobilität gekennzeichnet ist, die sich nicht eindeutig einem Heimatort zuordnen lässt, sondern durch multiple Bezugsrahmen in einem transnationalen Raum konstruiert wird (vgl. auch Pries 2010: 65).
2.1 F ORSCHUNGSSTAND ZUR T RANSMIGRATION JUNGER ( BILDUNGSERFOLGREICHER ) M IGRANTEN Im Rahmen dieser Studie wird auf die Darstellung der zahlreichen Veröffentlichung der (Spät-)Aussiedlerforschung verzichtet, die vor allem die Aspekte der Geschichte und der strukturellen, sozialen und kulturellen Integration von (Spät-)Aussiedler aufgreifen. Sinnvoll erscheinen hier vielmehr auf jene wissenschaftlichen Veröffentlichungen zurückzugreifen, die
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einen essentiellen Beitrag für die Fruchtbarkeit der Ergebnisse dieser Studie leisten. Das Thema transnationale Migrationsbewegungen von hochqualifizierten bzw. bildungserfolgreichen Migranten1 wird in der wissenschaftlichen Diskussion sowohl in Deutschland als auch weltweit unter verschiedenen Aspekten wie Brain Drain, Brain Gain, Brain Circulation oder im Rahmen der Politik der Europäischen Union (EU) aufgegriffen (vgl. Heß 2009a: 11). Jedoch wird die grenzüberschreitende Mobilität von Bildungserfolgreichen bzw. Hochqualifizierten kaum als Migration wahrgenommen und als solche in der Migrationsforschung auch kaum thematisiert. Der Grund liegt vor allem darin, dass sich ein großer Teil der Migrationsforschung auf die Integrations- und Ungleichheitsforschung stützt und die Migranten nicht selten als marginalisierte Gruppe präsentiert, die vor allem integriert werden muss.2 Diese Deprivationskriterien „erfüllen“ die Hochqualifizierten weniger, daher gehören sie in der Migrationsforschung eher zur Gruppe der „Forgotten Migrants“ (Kolb 2006: 161). Demzufolge liegen auch nur unzureichende statistische Informationen und wenige empirische Untersuchungen vor, die Aussagen über die Formen der Migrationsbewegungen, insbesondere die Motive der Auswanderung von Bildungserfolgreichen machen (vgl. Ette/Sauer 2010b: 13). Wichtige Einblicke in die allgemeine Auswanderungsdiskussion von Hochqualifizierten aus Deutschland bietet die aktuelle Studie von Ette und Sauer (2010). Die Autoren zeigen, dass der Anteil hochqualifizierter deutscher Auswanderer im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte deutlich zugenommen hat. Allerdings sei eine dauerhafte Auswanderung ein sehr seltenes Phänomen, da der Großteil der im Ausland erwerbstätigen Deut-
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In der wissenschaftlichen Debatte über die Migration von Hochqualifizierten findet man häufiger unterschiedliche Konzepte wie „migration of expertise“ oder der „migration of talent“ (vgl. Ette/Sauer 2010b: 22). Eine einheitliche Definition dessen, wer als „hochqualifiziert“ gelten soll, existiert in der Forschung nicht. Lediglich das Aufenthaltsgesetz (§19) definiert, wer in Deutschland als hochqualifizierter Migrant gilt (vgl. dazu ausführlicher Kapitel 4.1).
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Im Fokus einer solchen Integrationsdebatte stehen vor allem Inklusionsparameter, die den Zugang zu sozialen Ressourcen wie Einkommen, Bildung, Prestige, Gesundheit und die ihnen gewährten Rechte und Pflichten beleuchten (Bade/Bommes 2004, zit. nach Kolb 2006: 160f).
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schen wieder zurückkehrt: Der Umfang der Rückwanderungen zeigt, dass sich etwa drei Viertel aller international mobilen Deutschen ausschließlich temporär im Ausland aufhalten (vgl. Ette/Sauer 2010b: 194). Je nach Berufsqualifikation von Aus- und Rückwanderern zeigt sich jedoch ein deutlich differierendes Muster der Rückkehr zwischen verschiedenen Gruppen von Hochqualifizierten. Während der Anteil der „Wissenschaftler“ unter den Rückwanderern dem der Auswanderer entspricht, liegt der Anteil der „Führungskräfte“ bei den Rückwanderern deutlich niedriger (ebenda: 195). Eindeutig lässt sich sagen, dass Hochqualifizierte unter den Auswanderern in Deutschland zwar nicht unbedingt in absoluten Zahlen die größte Gruppe, aber zumindest einen deutlich überproportionalen Anteil der Migranten darstellen, wobei sich ein Großteil der Auswanderer nur temporär im Ausland aufhält (ebenda). Sievers et al. (2010) gehen in ihrer aktuellen Vorstudie über deutschtürkische Migranten hervor, dass viele bildungserfolgreiche DeutschTürken trotz ihrer rechtlichen Inklusion in Deutschland (deutscher Pass, geboren und aufgewachsen in Deutschland) und ihrer hohen Bildung wieder in die Türkei zurückkehren, da sie allgemein unter Benachteiligungen und mangelnder Anerkennung ihrer Kompetenzen auf dem deutschen Arbeitsmarkt leiden oder aber auch das Fremdheitsgefühl, „Ausländer“ zu bleiben, sie zu dieser Entscheidung zwingt (vgl. Sievers et al. 2010: 20). Als weitere Gründe für die Rückkehr werden bessere Arbeitsmöglichkeiten und eine gezieltere Karriereentwicklung aufgrund des wirtschaftlichen Wachstums in den vergangenen Jahren in der Türkei genannt (vgl. ebenda). Die Autoren gehen allerdings vom Transnationalismusphänomen aus, bei dem türkische Transmigranten ihre Beziehung zu Deutschland durch Kontakt zu Verwandten und Freunden aufrecht erhalten und sich die Option zur Wiederrückkehr nach Deutschland offen halten (vgl. ebenda: 74–76). Ähnliche Ergebnisse liefert die Studie von Sezer und Da÷lar (2009) über türkische Akademiker in Deutschland, die mittels einer OnlineBefragung zeigt, dass die große Mehrheit türkischer Akademiker Deutschland verlassen möchte. Als Beweggründe werden die „unvorteilhafte berufliche Perspektive“, die überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit von türkischen Akademikern und das fehlende „Heimatgefühl“ bzw. die „mangelnde“ Identifikation mit Deutschland hervorgehoben (vgl. Sezer/Da÷lar 2009).
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Ein wichtiger Beitrag im Hinblick auf die temporäre Rückkehrmotive Bildungserfolgreicher stellt die Untersuchung von Jeannett Martin (2005) über die Rückkehr hochqualifizierter Ghanaer aus Deutschland dar. Martin (2005) stellt fest, dass nicht nur wirtschaftliche Faktoren, wie in der Migrationsforschung oft vermutet, die Rückkehr der Ghanaer beeinflussen, sondern auch individuelle Faktoren wie Unzufriedenheit mit der beruflichen Situation und Perspektive in Deutschland, Erwartungen an ein besseres Leben in Ghana, politische Ideale und Überzeugungen sowie strukturelle Rahmenbedingungen wie aufenthaltsrechtliche Zwänge (vgl. Martin 2005: 183-193). Im transnationalen Migrationskontext werden auch die Identifikationsprozesse (bildungserfolgreicher) Migranten der Generation 1.5 und Generation 2 von Wissenschaftlern aufgegriffen. Gerade für die „mitgenommene Generation“, die zum einen durch Familien- und Herkunftskontext und dem Wertesystem des Herkunftslandes eine primäre Sozialisation erfährt, zum anderen im Aufnahmeland einen starken Anpassungsdruck verspürt, wird Migration zu einer Zugehörigkeitsfrage. Begriffe wie Identität und Heimat führen schnell zu Spannungen. Badewia (2002) stellt in diesem Kontext die Identitätslage bildungserfolgreicher Migranten als einen „Dritten Stuhl“ dar, der für den Einzelnen eine alternative Orientierungsperspektive jenseits des konfliktreichen „Zwischen den Kulturen“ bedeutet. In Ilhami Atabays (1998) Untersuchungen von türkischen Migranten der zweiten Generation wird die Identitätskonstruktion als Suche nach kultureller Identität in einer „Zwischenwelt“ beschrieben. Der „Zwischenraum“ ermöglicht aus dort konstruierten Strategien die Selbstheit auszuarbeiten, die bei einem aktiven Prozess zu neuen Zeichen der Identität sowie zu innovativen Orten der Zusammenarbeit und des Wiederstreits führen (Bhabha 2000: 2). Paul Mecheril (2003) bezeichnet den Identitätsbildungsprozess im Rahmen der Wanderungsdynamik als eine „natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit“. Jürgens (2001) erforscht die transnationale Identität von türkischen Migranten in Berlin Kreuzberg mit niedrigem und hohem sozialen Status. In seiner Studie kommt er zum Ergebnis, dass statusniedrige Migranten das „Türkischsein“ anders definieren als statushöhere Migranten und dass es zu keiner „Deterritorialisierung“ der Identitäten komme.3
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Für die ausführlichen Ergebnisse dieser Studie vgl. Glorius 2007, S. 37.
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Aus einer transnationalen Perspektive stellt Wiebke Aits (2008) die nordafrikanischen Studierende als interkulturelle Grenzgänger dar und untersucht anhand von drei exemplarischen Biographien die Handlungsstrategien der Bildungsmigranten in Bezug auf ihre hybride Identitätsbildungsprozesse und soziale Netzwerkstrukturen. Deutlich wird in dieser Studie vor allem wie transnationale soziale Netzwerke transnationale Sozialräume konstruieren und wie wichtig diese Netzwerke gerade für die Bildungserfolgreichen im Migrationskontext sind. Aits (2008) bezeichnet dies als Bereicherung (vgl. Aits 2008: 204ff). Ein weiterer Ergebnis, das auch für die Ergebnisse dieser Studie wichtig ist, zeigt wie die nordafrikanischen Studierenden in Deutschland mit ihrer Transkulturalität klare Positionierungen entziehen und somit ein hybrides „sowohl als auch“ symbolisieren (vgl. ebenda: 218f). Auch Martin (2005) betonnt in diesem Kontext, dass Bildungsmigranten ethnischen Identitäten wenig Bedeutung beimessen und sich im hohen Maße über ihren Bildungsstand, über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht und über ihre spezifische Migrantenidentität verorten (vgl. Martin 2005: 301). Für die Untersuchungsgruppe der jungen, bildungserfolgreichen (Spät-) Aussiedler wird die Identitätsfrage durch ethnische Merkmale (ethnische Deutsche) und den Familienkontext (deutsche Geschichte) im Gegensatz zu anderen Migrantengruppen zugespitzt. Gamper und Eisenbürger (2005) zufolge nehmen sich viele jugendlichen Aussiedler weder Deutsche noch als Fremde wahr, sondern seien vielmehr „etwas dazwischen“: sie sitzen „zwischen den Stühlen“ (vgl. Gamper et al. 2005: 82). Saskia Wegelein (2000) legt in ihrer Untersuchung über „Transstaatliche Räume und Binnenintegration am Beispiel von Russlanddeutschen und Russischen Juden“ das Ergebnis dar, dass im Gegensatz zu den jüdischen Migranten aus Russland, die stark in ihre ethnischen und religiösen Netzwerke eingebunden sind, die (Spät-)Aussiedler ihre „deutsche Identität“ zu beweisen suchen, um so dem Immigrationsmotiv „als Deutscher unter Deutschen zu leben“ gerecht zu werden. In Bezug auf Transnationalität hält Wegelein (2000) fest, dass die junge Generation von Russlanddeutschen hauptsächlich Elemente von neuen westlichen Kultur in Deutschland aufgreift und an Herkunftstraditionen nur im Familienkontext teilnimmt: die Lebensprojekte der jungen Russlanddeutschen sind somit auf Deutschland gerichtet (vgl. Wegelein 2000: 224). Nichtdestotrotz sei das Interesse vorhanden, trotz schwacher sozialer Netzwerke im Herkunftsland und wenig
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Informationen die Beziehungen zwischen den beiden Ländern (Deutschland und Russland) durch eigene Arbeit zu intensivieren. Dies sei ein Hinweis darauf, dass sich der deutsch-russische transstaatliche Raum im Aufbau befindet (vgl. ebenda). Dass zwischen Deutschland und Russland ein solcher transnationaler Raum bereits besteht, steht mittlerweile außer Frage. Die dargestellten Beiträge und Studien zeigen jedoch, dass wenige von ihnen mit den Formen, Typen sowie Motiven der transnationalen Migrationsbewegungen in Bezug auf bildungserfolgreiche Migranten befassen. Zur Transmigration von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler (Generation 1.5; mitgenommene Genration) und der Aushandlung ihrer Zugehörigkeit(en) im transnationalen Migrationskontext gibt es bisher wenige umfassenden wissenschaftlichen Studien.4 Diese Studie schließt daher in diesem Bezug eine Forschungslücke. Durch empirische Forschung auf diesem Gebiet können neue Zusammenhänge zwischen zeitlich befristeten Migrationsmotiven, transnationalen Lebensentwürfen und Bildungs-/Karriereaspekten von Bildungserfolgreichen in einem globalisierten Kontext aufgedeckt und besser erklärt werden.
2.2 T HEORETISCHE ANNÄHERUNG : M IGRATION , T RANSNATIONALITÄT , Z UGEHÖRIGKEIT Dieses Kapitel beschränkt sich auf soziologische und ethnologische Theorien zur Erklärung transnationaler Migrationsbewegungen junger, bildungs-
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In der wissenschaftlichen und politischen Diskussion wird das Thema junge/jugendliche (Spät-)Aussiedler vielmehr aus einer Integrationsperspektive wahrgenommen (vgl. Dietz/Hilkes 1992; 1994; Strobl/Kühnel 2000; Reich 2005; Vogelgesang 2008 etc.). In diesen Studien sprechen die Autoren von Cliquenbildngen, Frustration und Anpassungsschwierigkeiten in der Aufnahmegesellschaft sowie Gewaltausübungen junger/jugendlicher (Spät-)Aussiedler in Deutschland (vgl. etwa Dietz/Roll 1998: 121). Andere Autoren ziehen ein zynisches Fazit für die Situation der jungen/jugendlichen (Spät-)Aussiedler, „viele Aussiedlerjugendliche scheinen mit ihrer Einreise das große Los zu ziehen und das gleich mehrfach. Sie sind Sprach-Los, Heimat-Los, Arbeits-Los und Chancen-Los.“ (Giest-Warsewa 1998: 360).
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erfolgreicher (Spät-)Aussiedler sowie der Aushandlung ihrer Zugehörigkeit(en) im transnationalen Kontext, die sich für die empirischen Ergebnisse dieser Studie als relevant und fruchtbar erwiesen haben. Im Fokus der vorliegenden theoretischen Diskussion steht die Transnationalismusdebatte, da es sich bei der Untersuchungsgruppe nicht um eine dauerhafte Remigration, sondern um eine temporäre Rückkehr in den Herkunftskulturraum5 handelt. Um Migration, Remigration und die Transnationalität als eine neue Perspektive in der Migrationsforschung umfassender analysieren und diskutieren zu können, ist eine Erklärung und die Abgrenzung dieser Begriffe aus zweierlei Hinsicht sinnvoll: zum einen, weil sie in der wissenschaftlichen Literatur wechselseitig angewendet werden. Zum anderen können durch die Erklärung und Abgrenzung der Remigration und Transmigration die Migrationsbewegungen der Untersuchungsgruppe im Zusammenhang mit der zeitlichen Dimension einer temporären „Rückkehr“ besser dargestellt werden. 2.2.1 Begriffe und Definitionen: Migration, Remigration und Transmigration In der globalisierten Welt haben sich neben vielen anderen Verhaltensmustern auch die Migrationsformen geändert. Demzufolge kann Migration nicht mehr lediglich auf Mikro- oder Makroebene6 analysiert werden,
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Als Herkunftskulturraum wird hier die ehemalige Sowjetunion bezeichnet. Auffällig wird, dass die Interviewpartner wenig Bezug zu ihrem Geburtsort haben. Für die Wahl des temporären Rückkehrortes spielt der durch russische Sprache gemeinsam definierter Raum (GUS) eine wichtigere Rolle, als der ehemalige Geburtsort/Geburtsland.
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In den klassischen Makro-Mikro Theorien der internationalen Migration wird der Frage nachgegangen, warum welche Bevölkerungsgruppen in welcher Form grenzüberschreitend wandern und welche Wirkungen (sozio-kulturelle, ökonomische und politische) dies auf die Herkunfts- und Aufnahmegesellschaften und Regionen hat (Pries 2001: 12). Hierbei wird besondere Aufmerksamkeit auf die Integration von Migranten in der Aufnahmegesellschaft gelegt. Die Migration wird in diesem Prozess als ein- oder zweimalige Ortsveränderung betrachtet. Auf makroanalytischer Ebene wird Migration ausgehend von Push- und Pull
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sondern sie muss der Frage nachgehen, wie es den Migranten gelingt, die Verbindung zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland aufrechtzuerhalten und das Leben in einem transnationalen Raum zu gestalten. Auch wenn es keine allgemein gültige Definition für Remigration und Transmigration bzw. „räumliche Mobilität“ gibt, stehen diese zwei Begriffe in einem Spannungsverhältnis, wenn es um deren zeitliche Dimension geht (vgl. Ette/Sauer 2010: 20). Unter Migration wird nach Kolb (2006) „der in einer mittel- bis langfristigen Perspektive geplante Transfer von Personen an einen anderen Ort oder soziokulturellen Raum mit anschließender Niederlassungsperspektive“ verstanden (Kolb 2006: 168). Ähnlich wird auch die Remigration definiert, die Kings (2000) zufolge als „the process whereby people return to their country or place of origin after a significant period in another country or region“(King 2000: 8) verstanden wird.7 In der wissenschaftlichen Literatur wird zwischen dauerhafter (ab einem Jahr Aufenthalt) und temporärer (unter einem Jahr Aufenthalt) sowie zwischen freiwilliger8 und erzwungener9 Remigration unterschieden (Schönhuth 2008a: 5). Ebenfalls versteht man unter Remigration die Differenzierung verschiedener Rückkehrtypen wie der von Flüchtlingen in ihre Heimat, der Heimkehr aus humanitären Einsätzen oder der von Entwicklungshelfern, der Rückkehr von ausgebildeten Fachkräften und Akademi-
Faktoren der Herkunfts- und Zielregionen untersucht, während mikroanalytische Migrationstheorien den Fokus auf das Individuum im Migrationsprozess richten. Zu den wichtigsten Theorien der internationalen Migration gehören Neoklassische Theorien (vgl. Sjaastad 1962; Todaro 1969; Borjas), die Wert-ErwartungsTheorie (vgl. Esser 1990), Handlungstheoretische/interpretative Ansätze. 7
Dieser Ansatz ist damit zu erklären, dass Migration lange Zeit nur als endgültige Einwanderung in einen anderen Nationalstaat angesehen wurde. Erst in den 1960er und 1970er Jahren begann eine intensive Forschung über Remigration.
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„Freiwillige“ Remigration kann auf Initiative der Migranten und mit Hilfe des jeweiligen Staates oder unterstützender Organisationen erfolgen (vgl. Currle 2006).
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In der Kategorie der erzwungenen Rückkehr („forced migration“) werden Begriffe wie „Rückführung“, „Abschiebung“, „Ausweisung“ oder „Deportation“ verwendet (vgl. ebenda).
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kern. Die Rückkehr von Gastarbeitern gehört in Deutschland bislang zu den meist thematisierten Rückkehrbewegungen (vgl. dazu etwa Brecht 1994). Remigration wird hauptsächlich durch ökonomisch orientierte Ansätze erklärt. Diese gehen davon aus, dass „Migranten das klar definierte Ziel verfolgen, ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern“ (vgl. Currle 2006: 9). Gemäß dem neoklassischen Erklärungsansatz kehren die Migranten zurück, weil sie im Herkunftsland scheitern, dementsprechend scheitert auch ihr Migrationsplan10 (vgl. ebenda). Dagegen erklären die Vertreter der New economics die Remigration als erfolgreiche Rückkehr, weil die Migranten ihr Ziel erreicht haben, ausreichend Kapital anzuhäufen (vgl. ebenda). Der Ansatz geht davon aus, dass eine Wanderung nur für einen bestimmten Zeitraum geplant und somit Teil eines ökonomisch rational kalkulierten Migrationsplans ist: der Migrant setzt sich zum Ziel, im Gastland ein höheres Einkommen als im Herkunftsland zu erzielen, Ersparnisse anzulegen und gleichzeitig seine Haushaltsmitglieder im Herkunftsland zu versorgen. Sobald seine rein ökonomischen Ziele erreicht sind, kehrt er zurück. Im Gegensatz zu den beiden ökonomischen Ansätzen gehen die Vertreter des strukturellen Erklärungsansatzes davon aus, dass die Remigration nicht nur von individuellen Erfahrungen der Migranten abhängig ist, sondern auch von sozio-politischen Bedingungen des Herkunftslandes11 (ebenda). Die Rückkehr wird sowohl als Erfolgsgeschichte als auch als Scheitern erklärt. Es werden auch unterschiedliche Typen der Rückkehrer differenziert: Rückkehr aufgrund von Misserfolg (return of failure), Nichtanpassungsfähigkeit an den neuen sozialen Kontext (return of conservatism), Altersruhesitzrückkehr (return of retirement), Rückkehr aufgrund von besseren Aufstiegsmöglichkeiten im Herkunftsland (return of innovation) (vgl.
10 Die Entscheidung zu einer Rückkehr wird in diesem Kontext aufgrund der Tatsache getroffen, dass angestrebte Migrationsziele wie eine Einkommensverbesserung, die Steigerung des Humankapitals oder ein dauerhafter Aufenthaltstitel nicht erreicht wurden. 11 Der strukturelle Ansatz der Remigrationstheorie ist auch in der Lage, die Situation der Reintegration von Rückkehrern im Herkunftsland zu berücksichtigen. Zeit und Raum sind hier zwei wichtige Variablen: je länger der Aufenthalt im Aufnahmeland, desto schwieriger die Reintegration. In dieser Zeit verlieren die Migranten ihre sozialen Netzwerke, und die Bindung zum Herkunftsland wird zunehmend schwächer (vgl. Cassarino 2004).
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Cassarino 2004: 257). In Anlehnung an Cassarino (2004) und Black (2004) beschreibt Schönhuth (2008) auf einem Mehrebenenansatz fünf Einflussfelder für die Rückkehr der Migranten in ihre Herkunftsländer: strukturelle Rahmenbedingungen (makro-politische/ökonomische etc.), individuelle und soziale Ressourcen,12 symbolische Ressourcen (Identität/Ethnizität als symbolische Bindung), externe Anreize/Ermutigungen und schließlich situative Einflussfaktoren wie persönliche Situation und der Umfeld des Migranten (vgl. Schönhuth 2008a: 11).13 Während Remigration von einem einmaligen, langfristigen Ortswechsel ausgeht, umfasst Transmigration durch die räumliche Mobilität auch die kurzfristigen Verlagerungen des Wohnortes als Migration (vgl. Ette/Sauer 2010b: 20). So wird nach der Definition von Remigration eine zeitlich befristete Rückkehr von (Spät-)Aussiedlern in ihre Herkunftsländer zwecks Austauschstudiums, Praktika oder Freiwilligendienst nicht unter Migration erfasst. Ebenso werden kurzfristige Wohnortverlagerungen von Berufspendlern, mobilen Schülern und Studenten und von Geschäftsleuten nicht als Migration in ein anderes Land verstanden, sondern lediglich aus der Sicht der „räumlichen Mobilität“ (Castells 2001) betrachtet. Der Transnationalismusansatz löst diese Betrachtungsweise auf und ergänzt die traditionellen Formen der Migration mit einer neuen Perspektive: die Migration wird nicht mehr, wie früher angenommen, als einmaliger Prozess verstanden, sondern durch mehrmalige Pendelbewegungen zwischen Herkunftsund Zielländern charakterisiert.14 Dabei greifen Prozesse von der Mikroebene bis hinauf zu makrostrukturellen Rahmenbedingungen ineinander (Schönhuth 2008a: 6). Weitere charakteristische Merkmale des neuen Typus dieser Migration sind Bilingualität, grenzüberschreitende Familienstrukturen (transnationale Familien) und Kommunikationsarten per Inter-
12 Dieses Einflussfeld wird durch unterschiedlichen Kapitalarten von Bourdieu (1983) erklärt: ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital. 13 Dieses Modell soll im Kontext der empirischen Motivanalyse Aufschluss über temporäre Rückkehrmotive junger (Spät-)Aussiedler geben (vgl. Kapitel 5.6.1). Für die genaue Beschreibung des Modells siehe Anhang. 14 „Danach wird räumliche Mobilität in einem zunehmend umfassenderem Verständnis erfasst, dass vom täglichem Pendeln bis zur residenziellen Mobilität im Sinne klassischer Migration reicht“ (Ette/Sauer 2010a: 21).
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net, grenzüberschreitende soziale Netzwerke, transnationale Identitäten und multinationale Verortungen (vgl. auch Han 2009: 70ff). Der Unterschied zwischen den ökonomisch orientierten Remigrationstheorien besteht bei dieser neuen Migrationsperspektive vor allem darin, dass die Rückkehr keinesfalls als Endpunkt der Migrationsgeschichte von Migranten gesehen wird, sondern als ein zirkulärer Prozess.15 Diesem Ansatz zufolge kann auch ein kurzfristiger Wohnortwechsel, beispielsweise ein Studienaustausch für sechs bis zwölf Monate, als Migration erfasst werden. Im Gegensatz zu den oben genannten ökonomisch orientierten Theorien gehen die Vertreter des Transnationalismus davon aus, dass die Migranten ihre Reintegration und temporäre Rückkehr mit gezielten Besuchen im Heimatland und durch soziale und ökonomische Verbindungen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland vorbereiten (vgl. Cassarino 2004). Das heißt auch, dass Rückkehr von Migranten erst dann stattfindet, wenn genügend Ressourcen erworben wurden und die Bedingungen im Heimatland als günstig erachtet werden. Über die eigentlichen Re- und Transmigrationstheorien hinweg existieren auch andere Theorien, die die Mobilität von Hochqualifizierten bewerten. Zu erwähnen ist vor allem die Dependenztheorie, die die Mobilität von Hochqualifizierten an Weltmarktstrukturen festmacht und diese als eine Form der Ausbeutung bewerteten im Gegensatz zu den Vertretern der Modernisierungstheorie, die das Phänomen unter dem Gesichtspunkt eines „freien“ globalen Arbeitsmarktes eher positiv ansehen (vgl. Aydin 2010: 4). Beide theoretischen Ansätze gehen jedoch davon aus, dass die Remigration von Hochqualifizierten durch die Ungleichheit des Lohnniveaus und dem daraus resultierendem Lebensstandard sowie von spezifischen PullFaktoren wie z.B. den Einwanderungsprogrammen in den Herkunftsländern motiviert ist. Ein kritisches Licht werfen die Wissenschaftler auf diesen beiden Großtheorien deshalb, weil sie die subjektiven Motive der Rückwanderung kaum berücksichtigen und den Fokus hauptsächlich auf die wirtschaftlichen Aspekte richten (vgl. ebenda). Darüber hinaus wird, wie in
15 Er bietet somit einen Ansatzpunkt, um zirkuläre Migrationsbewegungen erklären zu können. Kritiker erscheint es allerdings nicht einleuchtend, warum die Bindungen an die eigene Community im Gastland die Reintegration und eine Anpassung an die Gesellschaft im Herkunftsland erleichtern können (vgl. auch Cassarino 2004).
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den klassischen (Re-)Migrationstheorien, auch hier die Migration als einmaliger Ortswechsel und als Endpunkt betrachtet. Die Beschreibung der empirischen Ergebnisse dieser Studie wird daher auf dem Transnationalismusansatz beruhen, denn durch dessen theoretisches Konzept kann die zeitliche Dimension der Rückkehr (temporäre Rückkehr) der Untersuchungsgruppe in den Herkunftskulturraum sowie die Verbindung ihrer multiplen Zugehörigkeit(en) und Beheimatungsstrategie(n) umfassend erklärt werden. Außerdem können Lebensentwürfe und Handlungen von transnationalen Migranten verstanden werden, „wenn die Forschung Herkunftsland und Aufnahmeland einbezieht und die gleichzeitige Involviertheit in beiden Ländern als eine neue technologische Möglichkeit, aber auch als eine soziale Innovation versteht“ (Strasser 2009: 73). Eine transnationale Forschungsperspektive ermöglicht weiterhin Globalisierung einzubeziehen, Assimilationserwartungen zurückzuweisen und innovative Prozesse von Identitäten aufzudecken (vgl. ebenda: 88). 2.2.2 Transnationale Migration und transnationale soziale Räume Die transnationale Migration ist kein neues Phänomen, und wurde auch wissenschaftlich schon früh erfasst. Bereits 1927 werden in der Studie von Thomas und Znaniecki „The Polish Peasant in Europa and America“ die sozialen Beziehungen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland dargestellt (vgl.Thomas/Znaniecki 1927). In den 1990er Jahren beschreiben die amerikanischen Anthropologinnen Glick-Schiller, Basch und BlancSzanton die Migrationsvorgänge im transnationalen Kontext im karibischmexikanischen Raum (vgl. Glick-Schiller et al. 1992, 1997). Seit Beginn der 1990er Jahre findet die Forschung zur Transmigration und Transnationalismus zunehmend auch im deutschsprachigen Raum Verwendung (vgl. dazu Pries 1997; 2001; 2010; Faist 2006). Ein wichtiger Aspekt bei diesem neuen Migrationstypus ist das Verhältnis von Raum und Sozialem, das das bislang dominante ‚Container-Modell‘16 überwindet (Pries 2001: 58). Im Wissenschaftsdiskurs sprechen die Forscher von Transmigranten (Pries 2001; 2010; Faist 2000; 2006) oder von Border
16 Der Ausdruck ‚Container‘ wurde von Albert Einstein (1960) in seiner Kritik an mechanistischen Raumkonzepten benutzt.
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People (vgl. Martínez 1994), die transnationale soziale Räume zwischen ihren Herkunfts- und Aufnahmeländern dauerhaft anlegen (vgl. Pries 2001: 53) und so zwischen diesen Ländern pendeln. Gerade in den Arbeiten der letzten Jahre wird die neue Qualität zirkulärer Migration betont und in den Zusammenhang zu wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Globalisierungsprozessen gestellt.17 In diesem Zusammenhang entstehen auch neue Begriffe, die das Verhältnis von Raum, Zeit und Kultur zu beschreiben versuchen. So unterteilt Appadurai (1996) die heutige Konfiguration von Raum, Zeit und Kultur in fünf Landschaften, die er „ethnoscapes“ bezeichnet18 (vgl. Appadurai 1996) und versucht die Welt mit „entterritoralisierten Ethnolandschaften“ zu sehen (vgl. Bräunlein/Lauser 1997: IV–V). Dabei kommt der Transnationalismus eine wichtige Bedeutung. Kaiser (2006) bevorzugt in diesem Kontext den Begriff der Transvergesellschaftung, denn dieses Konzept des Transnationalismus „den Nationalstaat noch als Referenz beinhaltet, obwohl es dessen Bedeutung in der sozialwissenschaftlichen Analyse gesellschaftlicher Prozesse kritisiert“ (Kaiser 2006: 25). Von einigen Autoren (vgl. etwa Goldring 1998) wird auch der Begriff Translokalität vorgeschlagen, der im Gegensatz zur Transnationalität Lokalitäten verbindet, d.h. es werden Regionen oder Städte als Orte der Zugehörigkeiten wahrgenommen (vgl. Strasser 2009: 80). Insbesondere die Rolle der transnationalen sozialen Netzwerke19 wird bei diesem neuen Migrationsmodell hervorgehoben (vgl. Cassarino 2004),
17 Nach Pries geht es bei dieser neuen Migrationsform um „grenzüberschreitende Phänomene [...], die – lokal verankert in verschiedenen Nationalgesellschaften – relativ dauerhafte und dichte soziale Beziehungen, soziale Netzwerke oder Sozialräume konstituieren“ (Pries 2010: 13). 18 Die „ethnoscapes“ werden von Menschenströmen (z.B. Migranten) produziert. 19 Als transnationale Netzwerke definiert Pries (2010) die mehr oder weniger verbindlichen, grenzüberschreitenden, intensiven und dichten Interaktionsverhältnisse zwischen Akteuren einer oder mehreren Gruppen (z.B. Familienverbund), die durch eine gewisse Gruppenidentität gekennzeichnet ist (vgl. Pries 2010: 29). Durch transnationale soziale Netzwerke schaffen Migranten grenzüberschreitende soziale Verflechtungen, „in denen die entsprechenden sozialen Praktiken, die Symbolsysteme und auch die Artefaktesysteme insgesamt eine so große Intensität entwickelt haben, dass sie zur hauptsächlichen sozial-
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die im Gegensatz zu früheren historischen Migrationsmodellen, wie etwa den grenzüberschreitenden Familienkontakten und Beziehungen deutscher Auswanderer nach Brasilien oder die USA im 19. Jahrhundert, keinen sporadischen Charakter aufweisen, sondern im transnationalen Raum dauerhaft angelegt und durch die rasante Entwicklung der Technologie und Austauschmöglichkeiten intensiv gepflegt werden (vgl. Pries 2010: 29ff). Der Anthropologinnen Glick-Schiller et al. (1997) zufolge wird Transnationalismus als „process by which immigrants forge and sustain simultaneous multi-stranded social relations that link together their societies of origin and settlement“ (Glick-Schiller et al. 1997: 121) verstanden. In diesem zirkulären Migrationsprozess sind die Migranten mit mehreren Nationalstaaten und Nationalgesellschaften und mit unterschiedlichen Vorstellungen von Ethnie, Rasse und Nation konfrontiert (vgl. ebenda). Eine angemessene Wahrnehmung und Analyse dieser Konzepte im transnationalen Raum scheint deshalb schwierig zu sein. In diesem Kontext wird die Entwicklung der Identität von transnationalen Migranten als zentrales Thema dargestellt und das Modell der multiplen Identitäten hervorgehoben, das eine gleichzeitige Anbindung an Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft ermöglicht (vgl. Glick Schiller et al. 1992: 13). Transnationale Migration wird unterschiedlich interpretiert. So geht das Mobilitätsszenario von einem zunehmenden Trend der transnationalen Migration aus, die gewaltige sozio-ökonomische Entwicklungsunterschiede zwischen reichen und armen Ländern, Kriege, ökologische Katastrophen, Klimawandel und vor allem auch Bürgerkriege verursachen kann (vgl. Faist 2006: 5). Diese Vorstellung entspricht den Globalisierungstheorien, die behaupten, dass alle grenzüberschreitenden Güter, das Kapital oder Personen einer Transnationalisierung unterworfen seien und geht von einer beträchtlich höheren Anzahl von Personen aus, die außerhalb der Grenzen ihres Herkunftslandes leben (vgl. ebenda). Dagegen reduziert sich die Zahl von Personen, die außerhalb der Grenze ihres Herkunftslandes leben etwa zur Hälfte, wenn man den Immobilitätsansatz zu Grunde legt. Dieser Theorie zufolge seien nicht alle Produktionsfaktoren und Personen im gleichen Maße Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozessen
räumlichen Bezugseinheit der alltäglichen Lebenswelt geworden sind“ (Pries 2010: 30).
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unterworfen. Die transnationale Mobilität der Personen gerät aus dieser Sicht zu einem Fall von Nicht-Globalisierung (Pries 2001: 6). Ein zentraler Faktor im Transnationalismus bzw. der Transmigration stellt den Raumbegriff dar. Dieser Raumbegriff ist vor allem mit trans– nationalen pluri-lokalen Sozialräumen verbunden, die zwischen und oberhalb von verschiedenen Wohn-und Lebensorten aufgespannt und als transnationaler Sozialraum verstanden werden: „Der Lebenszusammenhang, innerhalb dessen die individuellen und kollektiven Selbstverortungen, die sozialen Differenzierungen und Integration stattfinden, wird durch pluri-lokale Sozialräume gebildet, die sich über verschiedene Nationalgesellschaften oder gar Kontinente erstrecken können. Diese pluri-lokalen Sozialräume werden durch die Lebenspraxis von Transmigranten konstituiert“ (Pries 2001: 9).
Diese pluri-lokalen sozialen Räume können als relativ dauerhafte, auf mehrere Orte verteilte bzw. zwischen mehreren Flächenräumen sich aufspannende verdichtete Konfigurationen von sozialen Alltagspraktiken, Symbolsystemen und Artefakten verstanden werden (Pries 2001: 53). Auch Faist (2006) betont die Relativität des Raum-Begriffes. Er weist darauf hin, dass „[…] alle transnationalen Konzepte auf plurilokale Bindungen von Personen, Cliquen, Gruppen und Organisationen verweisen, die in mehreren Orten über die jeweiligen Staatsgrenzen hinweg relativ kontinuierlich und dicht miteinander verbunden sind. Dabei entstehen teilweise Kreisläufe von Menschen, Waren, Geld, Symbolen, Ideen und kulturellen Praktiken, die über die Zeit der Wanderungsprozesse selbst die Sozialintegration von Immigranten in nationalstaatlich verfassten Gesellschaften berühren. Transnationale soziale Räume sind also nicht nur Produkte kumulativer Kausalität, sondern perpetuieren sich wiederum selbst“ (Faist 2006: 25). So wird durch Transmigration eine neue „Daseinsform der kontinuierlicher Lebensläufe“ (Pries 2001: 9) geschaffen, „deren sozialräumliche Konfiguration pluri-lokal und […] transnational ist“ (Pries 2001: 49). Zu unterschieden sind vier analytische Dimensionen solcher transnationaler Sozialräume, die sich auf die Makro-, Meso- und Mikroebene beziehen (vgl. Pries 1997:34): •
Der politisch-regulative Rahmen mit Politikern, NGO´s und bilateralen Abkommen, welche transnationale Aktivitäten regulieren.
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Die materielle Infrastruktur, die alle Kommunikations- und Transportmedien umfasst. Die Rolle solcher Infrastrukturen müsse hoch geschätzt werden, denn sie ermöglichen einen kontinuierlichen Austausch von Personen, Geld und Ware zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland (vgl. ebenda). Die transnationalen Sozialstrukturen, die sich durch die Verschmelzung des sozialen Status des Migranten im Herkunfts- und Aufnahmeland entwickeln. Transnationale Identitäten und Lebensprojekte, die sich durch ihre hybride Lebensorientierung bis in die dritte Migrationsgeneration auszeichnen20 (vgl. auch Glorius 2007: 33).
Mit den Typologien der internationalen Migration beschäftigt sich ausführlich Martínez (1994) im Rahmen seiner Studie zwischen den USA und Mexiko. Als „Border People“ nennt er diejenigen Grenzgänger, die sich in geographischen, ökonomischen und sozio-kulturellen Grenzräumen bewegen. In seiner Studie unterscheidet er drei Typen von „Border People“ und beschreibt sie wie folgt: „Transnational interaction in the contemporary borderlands includes but is not limited to such phenomena as migration, employment, business, transactions, tourism, trade, consumerism, culture interchange and social relationships” (Martínez 1994; zit. nach Pries 2001: 38).
Pries (2010) stellt vier Idealtypen grenzüberschreitender Wanderungen vor (Pries 2010: 59-62): 1. Die Emigration bzw. Immigration wird als einmaliger Vorgang betrachtet. Entscheidend für diese Form der transnationalen Migration ist, dass sich der Migrant, obwohl er noch Beziehungen zu seinem Herkunftsland aufrechterhält, durch seine starken Beziehungsformen
20 „Während dieses Phänomen bisher als ‚Zerrissenheit zwischen zwei Gesellschaften‘ interpretiert wurde, geht die neuere Migrations- und Integrationsforschung davon aus, dass solch ‚segmentierte Identitäten‘ wichtige und dauerhafte Eigenschaften von Transmigranten sind, die vielfältige Funktionen und Konnotationen aufweisen können“ (Glorius 2007: 33f).
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zum Aufnahmeland in der Aufnahmegesellschaft schrittweise assimiliert bzw. integriert. Diese Art von Auswanderung bzw. Einwanderung wird von wirtschaftlichen (z.B. Arbeitssuche) und sozial-kulturellen (z.B. Wertorientierungen) Gründen dominiert (Pries 2010: 60). 2. Der zweite Typus der grenzüberschreitenden Wanderung wird als Rückkehr-Migration bezeichnet. Für diesen zeitlich befristeten Landeswechsel ist charakteristisch, dass der Migrant nach der Erfüllung eines bestimmten Zweckes, wie z.B. Arbeitsaufnahme, Studium, wieder in seine Heimat zurückkehrt. Im Gegensatz zu den spärlichen und schwachen Beziehungen zum Aufnahmeland werden starke Beziehungen zum Herkunftsland gepflegt. Pries zufolge handele es sich bei diesem Typus um Migranten, die meistens zum Zweck des Gelderwerbes ihren Lebensmittelpunkt wechseln (z.B. Gastarbeiter in Deutschland) (vgl. Pries 1998: 39), d.h. der gesamte Migrationskontext wird von wirtschaftlichen Faktoren bestimmt .21 3. Für die dauerhafte Niederlassung im Aufnahmeland ist die dritte Form der transnationalen Migration charakteristisch: Diaspora oder ethnische Minderheiten. Bei dieser Form werden geringe Annäherungsversuche zum Aufnahmeland und zu der Aufnahmegesellschaft angestrebt, während die sozialen, kulturellen, religiösen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu dem Herkunftsland stark gepflegt werden. Der Diaspora Migrant wandert in erster Linie aufgrund seiner Religiosität oder wegen „Organisatorischer Abhängigkeitsbeziehungen“ (Pries 1998: 39) grenzüberschreitend. Er integriert sich zwar in die Aufnahmegesellschaft, aber nur bis zu einem gewissen Grad und unterhält starke Beziehungen zu seinem Herkunftsland und seinen transnationalen religiösen/kirchlichen Organisationen. 4. Als vierter Typus der grenzüberschreitenden Wanderungen nennt Pries die Transmigration. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der Wechsel zwischen verschiedenen Lebensorten in unterschiedlichen Ländern kein
21 Aber auch die Rückkehrmigration von Spezialisten und hochqualifizierten Arbeitskräften, die nach einer bestimmten Zeit wieder in die Herkunftsländer zurückkehren, kann in der Forschung aufgezeigt werden (vgl. Khadria 1999; Saxenian 1999). Bei dieser Migrantengruppe sollte allerdings nicht nur die Wirkung von „brain drain“ und „brain gain“, sondern auch das Phänomen der „Brain circulation“ ausreichend berücksichtigt werden.
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ein- oder zweimaliger Vorgang ist, sondern im Extremfall zu einem Normalzustand wird (Pries 2010: 61). In diesem Migrationskontext bilden sich neue kulturelle Vergesellschaftungsformen, die Elemente von Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft enthalten (Glick Schiller et al. 1992: 1). Dieser Typus unterscheidet sich von allen anderen drei Typen unter anderem dadurch, dass er seine transnationalen Räume zwischen seiner Herkunfts- und Aufnahmeregion dauerhaft anlegt. Besonders im Zeitalter der Globalisierung steigt die Bedeutung dieses Typus, weil Nationalstaaten zunehmend ihre Fähigkeit verlieren, zu angemessenen ökonomischen, politischen und sozialen Kosten die grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen von Menschen kontrollieren oder gar steuern zu können (vgl. Pries 2001: 49). In Bezug auf den vierten Typus von Pries lassen sich nach Dahinden (2010) weitere transnationale Idealtypen differenzieren. So unterschiedet die Autorin in ihrer Studie über Schweizer Bürger, unter anderem auch Migranten, folgende Typen (vgl. Dahinden 2010: 407-409): 1. Die lokal Etablierten, die vor allem durch ihre schwache Netzwertransnationalität und Sesshaftigkeit charakterisiert werden. 2. Die etablierten transnationalen Migranten, die mittelstarke Netzwerktransnationalität und tiefe Bildung aufweisen. 3. Die transnationalen Outsider, die eine starke Netzwerktransnationalität aufweisen. Zu dieser Gruppe gehören vor allem Asylmigranten, marginalisierte Frauen und Personen mit niedrigen Löhnen in der Schweiz. 4. Hochqualifizierte transnationale Mobile setzt sich aus Personen zusammen, die stärkste Netzwerktransnationalität und einen hohen Bildungsgrad ausweisen. Für die weiteren empirischen Ergebnisse im Rahmen dieser Studie nimmt der vierte Typus von Dahinden (2010) eine besondere Stellung an: denn dieser Typus ist sehr mobil und hat sich im Laufe seines Lebens in mehreren Ländern niedergelassen (vgl. ebenda: 408). Außerdem belegt Dahinden, dass der vierte transnationale Typus auf eine Art „delokalisiert“ und in der lokalen Gesellschaft nicht verankert ist. Im Gegensatz zu den transnationalen Outsider, die ebenfalls in der lokalen Gesellschaft nicht verankert sind, ist die Situation von hochqualifizierten transnationalen
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Mobilen anders: „wir haben hier mit einer globalen Elite zu tun, die zirkuliert, die in transnationale Netzwerke integriert ist und die sich durch ein hohes Mobilitäts- und Bildungskapital auszeichnet“ (ebenda: 412). Die Typendifferenzierung soll anhand von empirischen Ergebnissen eine Kategorienbildung von verschiedenen Transmigrantentypen im Kontext dieser Arbeit ermöglichen. Jedoch soll auch ein kritischer Blick darauf geworfen werden, dass Kategorisierungen von Migranten vor allem dazu dienen, einen theoretischen Rahmen zu schaffen und oft mit der empirischen Realität nur teilweise übereinstimmen. Auch wenn die hier dargelegte theoretische Diskussion zur Transnationalismusforschung belegt, dass sie inzwischen ein sehr breites Spektrum erreicht hat, konnten dennoch viele Fragen nicht abschließend beantwortet werden. Dazu gehört unter anderem welche Auswirkungen der transnationalen Migrationsprozesse zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft auf die Identifikationsprozesse sowie Identitätsbildung von Migranten haben. Dies soll im Folgenden theoretisch erfasst und diskutiert werden.
2.3 D IE F RAGE
DER Z UGEHÖRIGKEIT IM TRANSNATIONALEN K ONTEXT
Die Frage nach der Zugehörigkeit nimmt für diese Studie einen besonderen Rang ein. Gerade in transnationalen Migrationsprozessen ist zu hinterfragen, wie die Identität der Migranten, zu denen auch junge (Spät-)Aussiedler zählen, zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland, Familienkontext, Migra– tion und Integration, Selbst- und Fremd-zuschreibung beeinflusst und aus unterschiedlichen kulturellen und nationalstaatlichen Kontexten konstruiert wird. Begriffe wie nationale Identität, ethnische Identität, regionale Identität und kollektive Identität werden in den wissenschaftlichen Diskussionen, aber auch in Medien- und Alltagssprachen oftmals thematisiert und analysiert.22 Auf sozialer Ebene wird unter dem Begriff der Identität das
22 Seit den 1940er Jahren wird „Identität“ vor allem von amerikanischer Sozialpsychologie theoretisiert. Insbesondere der symbolische Interaktionismus von George H. Mead und Erving Goffman, aber auch die Ich-Psychologie von Erik H. Erikson thematisiert diesen Begriff. Mead´s Identitätstheorie basiert auf dem
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dauernde „Sich-selbst-als-gleich-erleben“ von Individuen verstanden (Schönhuth 2005, Stichwort: Identität, in Kulturglossar). Im transnationalen Migrationskontext gerät das Selbstbild der Identität mit den Konzepten der Raum, Zeit und gar Kultur in ein wechselseitiges Verhältnis und scheint den Mythos eines „starren Identitätsbildes“ im traditionellen Sinne einzuräumen. In solchen Wechselwirkungsprozessen zwischen dem eigenen Selbst und Raum, Zeit und Kultur ist die Migra– tionsforschung vor einer der schwierigsten Herausforderung gestellt: der traditionelle Identitätsbegriff einer „verfestigten“ Identität verliert seine Relevanz, denn alles scheint im Wandel zu sein. Aus dieser Perspektive gesehen wird deshalb der Identitätsbegriff in dieser Studie in seiner soziologischen und ethnologischen Auffassung erklärt und behandelt. Das heißt, es wird hier nicht von einem „vorgefestigtem und naturwüchsigem“ Konzept (Vogelgesang 2006:1), von einem „starren und abgeschlossenen“ Identitätsbild (Schönhuth 2005) ausgegangen, sondern von einem Prozess des permanenten „Sein-Werdens“. Diese prozesshafte Identitätsbildung führt oft zur „multiplen“ Identitäten der In-
wechselseitigen Verhältnis von „I“ (das reine Ich) und „Me“ (das empirische Ich) (vgl. Mead 1973: 218), wobei das „I“ das unmittelbar spontan, kreativ handelndes Subjekt ist im Gegensatz zu „Me“, das auf der Basis der Gewohnheiten der unmittelbaren Umwelt entsteht und muss Gewohnheiten in sich tragen, die alle anderen auch besitzen. Somit verhält sich das „I“ zum „Me“ als Objekt seiner Reflexion (vgl. Badawia 2002: 72). Nach dem Drei-FaktorenModell von Goffman (1980) konstruieren sich die Handlungen von Personen von der „sozialen Identität“, der „personellen“ und der „Ich-Identität“. Diese sind „positive Kennzeichen oder Identitätsaufhänger und die einzigartige Kombination von Daten der Lebensgeschichte, die mit Hilfe dieser Identitätsaufhänger an dem Individuum festgemacht wird […]“ (Goffman 1994:76), wodurch das Individuum von anderen differenziert werden kann. Krappmann (1973) stellt diese Konzeption in einem explizit soziologischen Rahmen, indem „Identität“ nicht mehr als temporelle und übersituationell stabile Entität, sondern als durch ein ständiges Aushandeln und Interpretieren innerhalb konkreter Interaktionssituationen entstehendes Fließgleichgewicht verstanden wird (Esser 1990: 28).
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dividuen, womit aber auch die Identifikationsprozesse in mancher Hinsicht problematischer werden. Auch der Begriff der Heimat gerät in einer globalisierten Welt für den mobilen Menschen in diesem Kontext in ein Spannungsverhältnis zwischen ihrer traditionellen Auffassung und der Heimatwahrnehmung und Bezeichnung. Für die Untersuchungsgruppe stellt Heimat, aus der historischen Sicht der Wanderungsbewegungen betrachtet, eine besondere Situation dar (vgl. Einleitung). Im Rahmen dieser Arbeit kristallisiert sich die Kategorie Heimat aus dem empirischen Material heraus und wird in Verbindung mit ethnisch-kultureller Zugehörigkeit, gesellschaftlicher Verortung und Transnationalität thematisiert. 2.3.1 Inklusion und Exklusion als Identitätsgeneratoren Einen weiteren theoretischen Rahmen für die empirische Analyse soll das Paarbegriff Inklusion/Exklusion als Identitätsgeneratoren für die Untersuchungsgruppe im transnationalen Kontext schaffen. Die Termini beziehen sich auf ökonomische, politische, kulturelle, soziale Bereiche des Lebens und beschreiben die gesellschaftlichen Prozesse von Ausschluss und Teilhabe. In der Migrationsforschung gelten die Migranten und Migrantenkinder häufig als von Exklusion bedrohte und betroffene „Fremde“.23 Es soll damit die fehlende Möglichkeit der Teilhabe der Migranten an den wichtigsten Systemen des gesellschaftlichen Lebens wie Bildung, Politik und Wirtschaft bezeichnet werden (vgl. Hahn 2008: 68; Luhmann 1994: 14– 45). Im Gegensatz zur Exklusion beschreibt die Inklusion die unterschiedlichen Formen der Teilhabe in einem sozialen System24 (vgl. Hahn 2008: 68f).
23 Tošiþ/Streissler (2009) bezeichnen sogar Migranten der 2. Generation als doppelt marginalisiert, weil sie zugleich „Nicht-Erwachsen“ und „NichtAngehörige“
der
vermeintlichen
Mehrheitsgesellschaft
seien
(vgl.
Tošiþ/Streissler 2009: 199). 24 Stichweh (2009) unterscheidet Inklusion und Exklusion durch drei paradigmatische Figuren: Mitgliedschaft, Solidarität und Sozialdisziplinierung (Stichweh 2009: 29). Ferner geht er davon aus, dass die moderne Gesellschaft kaum noch Exklusionen kennt, die „unwiderruflich und irreversibel sind“ und dass „Exklu-
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Die Frage dieser Teilhabe ist für die Untersuchungsgruppe durch ihre rechtliche Inklusion (deutsche Passnationalität) zwar gewährleistet, doch die Frage der Zugehörigkeit ist durch Semantiken der Exklusion (den Deutschen gleichgestellte Ausländer)25 und durch das Gefühl des Fremdund Andersseins begleitet. Um die Selbst- und Fremdethnisierungsprozesse junger, bildungserfolgreicher (Spät-)Aussiedler zwischen Inklusion und Exklusion aufzuzeigen, wird auf theoretische Überlegungen von Alois Hahn26 zurückgegriffen. Dies erlaubt Inklusion/Exklusion als Identitätsgeneratoren zu fassen und den Zusammenhang zwischen Zugehörigkeit, dem transnationalen Selbstkonzept und der Semantik der Nation in theoretischer Hinsicht zu beleuchten (vgl. auch Schmitz 2013). Im Kontext der Identität und Exklusion behandelt Hahn (2008) das Verhältnis der Identitäts- und Exklusionsgeneratoren27, die sich gegenseitig einschließen, ohne sich zu widersprechen: „Identitätsgeneratoren sind immer auch Exklusionsgeneratoren. Die beiden Perspektiven widersprechen einander nicht. Sie lassen sich vielmehr wie die
sion immer wieder in eine andere Inklusion führt“, denn „[…] Alle Exklusion [...] (ist) innergesellschaftlich und insofern Inklusion“ (ebenda:38). 25 Vgl. dazu Schönhuth, Michael (1999): Rußlanddeutsche: Den Deutschen gleichgestellte Ausländer. Integration und Identität von russisch-deutschen Aussiedlern in Trier. Video VHS Farbe , 43 Min. Ethnologie. In Zusammenarbeit mit dem IWF, Göttingen. Göttingen und Trier. 26 Hahn, Alois (2008): Exklusion und die Konstruktion personaler Identitäten, in: Lutz Raphael, Herbert Uerlings (Hg.): Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion/ Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike. Frankfurt/Main. 65-96. 27 Hahn bezeichnet mit dem Terminus Identitätsgenerator Verfahren, mit denen es möglich ist, Einzelne durch autoritative Fremdzuschreibungen auf eine Identität festzulegen, die aufgrund der in Anspruch genommenen Autorität für den Einzelnen zur identitätsstiftenden Selbstbeschreibung wird. Anhand solcher Selbstbeschreibung(en) kann der Einzelne erfahren, „wer er ‚wirklich’ ist.“ Zu Exklusionsgeneratoren werden diese Testreihen dann, weil sie ebenfalls festschreiben, „wer man nicht ist, von wem man sich unterscheidet.“ (Hahn 2008: 29).
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Vorderseite und die Rückseite einer Medaille lesen […]. Alle Formen von Identitätskonstruktionen führen als ihre Schatten neue Formen von Entfremdung und damit zumindest virtuelle Exklusionen mit sich“ (Hahn 2008:70).
Hahn (2008) unterschiedet zwei Gruppen von Exkludierenden: zum einen diejenigen, die „zu einem bestimmten Moment von der Sozialität im Vollsinne abgeschnitten sind“ (Hahn 2008: 66), zum zweiten diejenigen, die außerhalb der gesellschaftlich und sozial etablierten Normen und Werte handeln und keine soziale Anerkennung erfahren. Seine Beispiele sind Devianzzuschreibung wie Schuld, Krankheit, Fremdheit (vgl. ebenda). Noch prekärer kann die Exklusion vollzogen sein, wenn eine Person mehrere solcher Kategorisierungen in einer Person trägt (vgl. ebenda). In diesem Fall erlebt die Person keinen Zustand der Exklusion, sondern einen langwierig vollzogenen Prozess und eine durch diese Exklusion erzeugte (negative) Identifizierung. So scheinen Exklusionen sich gegenseitig stark zu beeinflussen, während die Inklusion in ein Funktionssystem wenig Aussagen über den Grad der Beteiligung einer Person an anderen Funktionssystemen macht (vgl. Luhmann 2000; zit. nach Hahn 2008: 67). Diese Frage wirft einen weiten Blick für die Inklusion- und Exklusionssemantiken der Untersuchungsgruppe auf: Bringt das Privileg der rechtlichen und politischen Inklusion weitere Inklusionsmechanismen (soziale, gesellschaftliche, mentale, religiöse) mit sich? Mit anderen Worten: kann die Voraussetzung des deutschen Passes, ohne dass dieser Pass, wie im Falle von anderen nicht ethnisch deutschen Migrantengruppen erst im langwierigen Prozess durch Einbürgerung „verdient“ wird, für die jungen (Spät-) Aussiedler auch als Identitätsgenerator „Deutscher“ fungieren? Oder geht dessen inkludierender Charakter in Selbst- und Fremdethnisierungsprozessen „verloren“? Bergmann (2001) stellt anhand von einem Konflikt zwischen türkischen und russlanddeutschen Jugendlichen den Prozess der Konstruktion des Fremden dar (vgl. Bergmann 2001: 35-37) und arbeitet drei Aspekte für die Fremdheitsthematik heraus: das intuitive Empfinden des Fremdseins („Ob etwas fremd ist, entschiedet sich zumeist intuitiv, bedarf nicht der Überlegung […]“) (ebenda: 36); das Unvertraute im Alltag als Fremde; die substanzialisierte Alltagswahrnehmung des Fremden, die man zwar „feststellt und registriert, die aber mit uns selbst unmittelbar nichts zu tun hat und jedenfalls ohne unser Zutun existiert“ (ebenda: 37).
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Hahns Analysen und Bergmanns Fremdheitssemantiken können für die jungen, bildungserfolgreichen (Spät-) Aussiedler insofern fruchtbar gemacht werden, indem im empirischen Teil dieser Studie gezeigt wird, dass Exklusionskonzepte nicht nur Anwendung finden können, wenn die Personen als deviant markiert werden, sondern dass auch Differenzen, die nicht von vornherein stigmatisierend oder moralisch gewertet sind, als Tests fungieren können, die einem sagen wer man (nicht) ist, solange sie von der Person als Tatsache anerkannt werden: man kann weder etwas daran ändern, dass man krank ist, noch etwas daran ändern, wo man geboren ist und dass man sich von den Menschen in seinem Umfeld durch eine Form des Andersseins unterschiedet (vgl. Schmitz 2013). Doch gerade von Bildungserfolgreichen kann die durch Exklusion als Fremder generierte Identität in vielfältiger Weise der Zugehörigkeitsarbeit und Selbstkultivierung produktiv bewältigt werden (vgl. Mecheril 2003: 336–342), während sie neue Formen der Identität entwickeln, die Elemente sowohl von Herkunfts- als auch Aufnahmeland in sich trägt. So kann z.B. die „multiple“ Identitätsform als eine erfolgreiche Strategie im transnationalen Kontext und als ein Alternativmodell zwischen Totalinklusion und Totalexklusion fungieren. Dies soll im nächsten Kapitel theoretisch diskutiert werden. 2.3.2 „Multiple“ Identität(en) im transnationalen Kontext Parallel zu den Veränderungen in der Migrationsdebatte werden in der wissenschaftlichen Diskussion neue Erscheinungsformen der „multiplen“ Identitäten wie „hybride“ Identität (vgl. Bhabha 1990: 207-221, Nederveen Pieterse 1998: 116), „Patchworkidentitäten“ (vgl. Keupp et al. 2002), „Kulturmelange“ (vgl. Nederveen Pieterse 1998) und „multiple“ Identitäten (vgl. Vester 1996: 95) diskutiert. Nach den Überlegungen Florio-Hansens und Hus (2007) diene die Identität in erster Linie dazu, um in einem bestimmten Bereich Ordnung zu schaffen, „wo alles a priori im Wandel zu sein scheint“ (Florio-Hansen/Hu 2007: 42). Zunächst diene der Begriff aber dazu „die sukzessiven ‚Ichs‘, d.h. seine verschiedenen Erscheinungsformen als Akteur in unterschiedlichen Rollen und sozialen Kontexten, als Vergegenwärtigung ein und desselben Individuums zu erfassen“ (ebenda). Um einen theoretischen Rahmen für die empirische Analyse der Identitätsentwürfe junger, bildungserfolgreicher (Spät-)Aussiedler im transnatio-
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nalen Kontext zu gestalten, soll das Modell der „multiplen“ Identitäten unter verschiedenen theoretischen Gesichtspunkten beleuchtet werden. Aus sozial-anthropologischer Sicht wird unter „multiplen“ Identitäten mehre relevanten Identitäten einer Person oder Gruppe verstanden (vgl. Krist/Wolfsberger 2009:165). Eine multiple Identität beinhaltet insofern nach Gingrich (2005) unterschiedliche stets fluide Teilidentitäten, die sich im Wechselspiel von Fremd- und Eigenzuschreibung konstruieren28 (vgl. Gingrich 2005: 40). Um weitere Konstruktionen „multipler“ Identitäten zu verstehen und diese für die empirische Datenanalyse fruchtbar zu machen, soll das Modell der „multiplen“ Identitäten zunächst durch Sozialisations- und Rollentheorie,29 die auf den US-amerikanischen Anthropologen Ralph Linton (1936) zurückgeht,30 erklärt werden. Die Rollentheorie erlaubt „Identität“ als einen (veränderten) Zustand bzw. eine Variable vom Begriff der Identifikation zu behandeln, die in erster Linie den „Mechanismus des Rollenlernens“ darstellt, der weder ein „imitatives Verhalten“ noch ein „Nachahmungsmotiv“ beinhaltet (Habermas 1968; nach Esser 1990: 14). Esser (1990) spricht hier von einem Prozess der Internalisierung von Normen und Werten bzw. von einem Entstehen einer „Identität“ (Esser 1990: 14). Menschen sind in Rollen Handelnde, ob im Beruf, im Alltag, in der Familie, im Verein etc., d.h. durch die Rollenzuschreibung wird das Individuum identifiziert und erfasst. Als wichtige Merkmale dieser Identifizierung können außer biologischen Merkmalen wie Geschlecht oder Körpergröße, auch andere soziale Differenzierungen und situationsbedingte Rollen den Akteuren zugeschrieben
28 Pfaff-Czarnecka bezeichnet das Modell der „multiplen Zugehörigkeiten“ mit dem englischen „(multiple) belonging“, was „Zugehörigkeit“ und „Zusammengehörigkeit“ gleichzeitig umfasst und auf dem Punkt gebracht bedeutet: „what goes without saying“(vgl. Pfaff-Czarnecka : 2ff). 29 Besonders in der Soziologie und Sozialpsychologie hat diese Theorie eine große Bedeutung gewonnen, da durch diesen theoretischen Ansatz das soziale Handeln im System der Rollen und dadurch das Verhältnis zwischen Individualität und Sozialität analysiert wird. 30 Die Rolle ist nach Linton die Gesamtheit der Kulturmuster also Wertvorstellungen, Verhaltensweisen, Lebenseinstellungen etc. die mit einem sozialen Status verbunden ist. Der soziale Status wird dem Rolleninhaber von der Gesellschaft zugeschrieben (vgl. Heuring/Petzold: 7).
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werden. Die sozial-anthropologische Rollentheorie unterscheidet zwischen solchen zugeschriebenen (z.B. Herkunft, Zugehörigkeit) und erworbenen (je nach Situation und Handeln manipulierbaren) Merkmalen, wobei man sich hier fragen sollte, ob diese Unterscheidung gerade in Migrationsprozessen wirklich Sinn macht, denn es besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen zugeschriebenen und erworbenen Merkmalen.31 Übertragen auf die ethnisch-kulturelle Ebene der Identifikation kann die Rollentheorie die Individuen als Gesamtheit einer ethnischen oder sozialen Gruppe erfassen, beispielsweise durch Haar-, Hautfarbe, durch Habitus, durch Sprache und Name etc. Die Identität wird hier als eine Summe von Selbst- und Fremdeinschätzungen verstanden, die nach Goffman (1980) als jeweils „kompletter Satz von Attitüden“ für Personen verschiedener Kategorien definiert wird (vgl. Goffman 1980: 10). Dazu gehören die Geschlechterrolle, die Familie, soziale Schicht, Religionszugehörigkeit, ethnische Zugehörigkeit, aber auch die Nationalität. Das „Rollenmodell“ soll aber nicht nur für soziale Identifizierung der Individuen berücksichtigt werden, sondern gerade auf der ethnisch-kulturellen Ebene kann dieses für Migranten zu einem Modell der „multiplen“ Identitäten werden. Die Akteure können je nach Situation zwischen ihren unterschiedlichen Teilidentitäten „wechseln“, was in der wissenschaftlichen Diskussion als „Identity switching“ verstanden wird (vgl. Schönhuth 2005, Stichwort: Identity Switching). Ein Interviewausschnitt aus dem empirischen Material soll diesen Theorieansatz verdeutlichen: „Ich bin so froh, dass ich diesen bikulturellen Hintergrund habe […] und ich nutz‘ es für mich, indem ich Sachen auswähle. Es ist so lustig zwischen den Kulturen zu pendeln. […] damit zu spielen. Z. B. ein russischer Freund, mit dem ich mich treffe, kommt zu spät und ich sage: ,Hey, du bist zu spät, ich bin Deutscher, ich bin immer pünktlich’, oder genau das Gegenteil in Deutschland, wenn irgendwie eine Feier ist und alle sitzen und trinken Bier und ich sage: ,Hey, ich bin Russe, kommt, lasst mal bisschen Stimmung aufkommen’. Oder kulinarisch, es ist so gut zwei verschiedene Küchen zu Hause zu haben […] russische Küche und natürlich auch deutsche Küche […]“ (ID 9).
31 Die Zugehörigkeit kann beispielsweise ein zugeschriebenes Merkmal eines Migranten darstellen, aber auch im Identifikationsprozess erworben werden.
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Das heißt das Individuum wählt in unterschiedlichen Realitäten des gesellschaftlichen Lebens die Strategie aus, während es aus dem „Bündel“ seiner „multiplen“ Rollen und Zugehörigkeiten die passende Rolle für eine bestimmte Situation flexibel einsetzt. Somit entsteht ein komplexes, differenziertes und strukturiertes Repertoire an Reaktionsmöglichkeiten und Kompetenzen, das es erlaubt, Rollenambivalenzen bewusst zu ertragen und verinnerlichte Normen und Identifizierungen auch in völlig neuen Situationen flexibel anzuwenden und diese Normen und Identifizierungen auch unter Umständen zu ändern bzw. strategisch zu handhaben (Esser 1990: 16). Einem solchen Identitätsmanagement stellt Spivak (1985) den Entwurf des „strategischen Essenzialismus“ entgegen. Durch diesen Entwurf kann die Identitätspolitik bewusster ablaufen, wobei die Essentialisierung als wichtiges Element äußere und innere Differenzierungen zwischen den Eigenen (Essenz) und Anderen (Fremden) schafft (vgl. Schönhuth 2005: Stichwort Essenzialismus). Was so leicht klingt, ist äußerst kompliziert, denn solche Identitätsanpassungen sind auch laut Sozialpsychologie mit Risiken verbunden. Das Nicht-Gelingen dieser Anpassung kann pathologische Verhaltensformen wie etwa „multiple Persönlichkeiten“ bei der betreffenden Person hervorrufen (Glorius 2007: 48). Die „multiple“ Identität kann aber auch aus Globalisierungs- und Transnationalisierungsperspektive als Zugewinn gesehen werden, wenn die Person bereit ist, die neuen Erfahrungen zuzulassen und auf dieser Grundlage neue Zugehörigkeit(en) zu entwickeln (ein „Third Space“32, ein „Zwischen-Raum“33 oder ein „Dritter
32 Bhabhas (1997) Identitätsdiskurs von „hybriden“ Identitäten kann in diesem Kontext als eines der möglichen Modelle „multipler“ Identitäten betrachtet werden. In diesem postkolonialen Diskurs wird „Identität“ zum einen als ein Prozess der Selbstreflexion „im Spiegel der (menschlichen) Natur“ (Bhabha 1997: 99) betrachtet, zum anderen. –.aus der anthropologischen Sicht betrachtet.–.wird sie als „Differenz menschlicher Identität in Trennung zwischen Natur und Kultur lokalisiert“ (ebenda: 99f). „Hybridity ist o me the third space which enables other position to emerge. This third space displaces the histories that constitute it, and sets up new structures of authority, new political initiatives […]” (Bhabha 1990: 211). Die Kritik an Bhabhas Konzept ist, dass laut seiner Beschreibung „feste“ Konzepte, wie z.B. homogene nationale Kulturen, ethnische Gemeinschaften und „reine“ nationale Identitäten grundlegend neu definiert werden (vgl. ebenda: 129). Das heißt die Authentizität wird grundlegend
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Stuhl“34). Übertragen auf dem transnationalen Migrationskontext kann die Hybride Perspektive als „dritter Weg“, „dritter Raum“ verstanden werden, der nicht eindeutig bestimmten Staaten und Nationalgrenzen zugeordnet ist (vgl. Faist 2000: 44). Gefolgt von Oritz´s (1940) Begriff der „transculturation“ bezeichnet Welsch (1999) die Vermischung und gegenseitige Durchdringung verschiedener Kulturen als Transkulturalität bzw. ein „transkulturelles“ Phänomen (vgl. Welsch 1999: 197), welches sich als integratives Verständnis von Kulturen von Konzepten der Multikulturalität und Interkulturalität abhebt35 Dabei scheint eine wichtige Voraussetzung zu sein, dass sich die Individuen mit der eigenen Vielfältigkeit und den Widersprüchlichkeiten auseinandersetzen, um mit der gesellschaftlichen Transkulturalität umgehen zu können (vgl. ebenda: 201).
mit der Begründung abgelehnt, dass alle Kulturen sich bereits vermischt haben oder vermischen. 33 Der Zwischenraum der Identitäten wird als ein Treppenhaus beschrieben, das „zum Prozess symbolischer Interaktionen, zum Verbindungsgefüge, das den Unterschied zwischen Oben und Unten, Schwarz und Weiß konstruiert. Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang in der Zeit […] verhindern, dass sich Identitäten an seinem oberen und unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt“ (Bhabha 1997: 127). 34 Tarek Badawia stellt der „Dritte Stuhl“ als Alternativperspektive für Immigrantenjugendliche im Umgang mit eigener Bikulturalität. Der „Dritte Stuhl“ wird aus ihren beiden Identitäten „gezimmert“ (vgl. Badawia 2002: 309). 35 „Während sich Interkulturalität auf den Prozess und die Dynamik des Zusammenlebens bezieht, wird mit Multikulturalität in erster Linie eine soziale Organisationsstruktur bezeichnet […]. Kritisiert wird am Multikulturalismusmodell, dass es eigentlich nur die pluralistische Form eines geschlossenen Homogenitätsmodells darstellt. Es wird zwar von einem möglichen Nebeneinander verschiedenartiger Kulturen in einem Nationalstaat ausgegangen; die Sinngrenzen werden aber immer noch mit den Grenzen distinkter Personengruppen identifiziert. […]“ (Schönhuth 2005, Stichwort Multikulturalität).
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Im Kontext der Pluralisierung und Transnationalisierung verlaufen die Identitätsmuster nicht nach demselben Schema, sondern sie haben das Ziel und die Aufgabe, unterschiedliche Teilidentitäten zu verknüpfen. Keupp (2002) bezeichnet dies als Modell der alltäglichen Identitätsarbeit und drückt diese Form der Identität mit dem Begriff „Patchwork“36 aus (vgl. Keupp 2009: 8). „[…] Heute kommt es auf die individuelle Passungs- und Identitätsarbeit an, also auf die Fähigkeit zur Selbstorganisation, zum „Selbsttätigwerden“ oder zur „Selbsteinbettung […]“ (Keupp 2009: 13).
Hiermit soll bei dieser Identitätsarbeit durch Patchworking Passungs- und Verknüpfungsarbeit der Teilidentitäten geleistet werden.s a Für die Identitätsbildung im transnationalen Kontext bleibt festzuhalten, dass der „multiple“ Identitätsentwurf, sei es Hybrid oder Patchwork oder auf der Rollentheorie basierend, den Blick für eine differenzierte Betrachtung lebensweltlicher Aspekte transstaatlicher Verflechtungen eröffnet, die von Weltsystem-, Weltgesellschafts- und Globalisierungskonzepten zum Teil vernachlässigt werden (vgl. Faist 2000: 45). Auch die empirischen Analyse zeigt, dass das Modell „multipler“ Identitäten in unserer heutigen Lebensrealität eine neue Selbstverständlichkeit bedeutet, gerade wenn es um junge, mobile Menschen geht, deren Lebensentwurf einen eher dynamischen Charakter trägt und dem traditionellen Muster des „Identitätszwangs“ nicht untergeordnet sein will. Jedoch ist mit einem kritischen Blick an dieser Stelle zu betonen, dass nicht jedes Individuum in der Lage ist im Laufe seines Lebens, sei es transnational oder lokal verankert, einen „multiplen“ Identitätsentwurf zu verwirklichen und dies als Normalzustand in Alltagssituationen einzusetzen. Hier spielen vor allem generationsspezifische Merkmale und sozio-kulturelle Kompetenzen der Migranten eine große Rolle.
36 Die Ausgangsidee dieses Modells bezieht sich darauf, dass Menschen aus den Erfahrungsmaterialien ihres Alltags patchworkartige Gebilde für ihr Identitätsmuster entwickeln und diese als schöpferische Möglichkeiten nutzen (vgl. Keupp et al. 2002).
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2.3.3 „Heimat“ im transnationalen Kontext Der Heimatdiskurs in diesem Abschnitt soll als kleiner theoretischer Überblick dienen. Durch die Darstellung und Analyse der empirischen Ergebnisse wird der Heimatdiskurs ausführlicher thematisiert und der individuelle Beheimatungsprozess wird durch weitere Kategorien und theoretische Einbettungen diskutiert. Die Auseinandersetzung der Untersuchungsgruppe mit Zugehörigkeit, Migration, Jugend und Kindheit lässt das Konzept Heimat im transnationalen Kontext problematischer, aber zugleich nicht weniger wichtig werden. Obwohl Heimat zu definieren, schwierig erscheint,37 gibt es eine allgemeine Auffassung, die Heimat ausmacht. Heimat wird oft mit dem geographischen Ort in Verbindung gebracht, also eine Stadt, ein Land, ein Dorf etc., indem man gerne lebt, wo man sich heimisch fühlt, ein Ort, mit dem man sich verbunden fühlt (vgl. Schönhuth 2005, Stichwort: Heimat). Im Gegensatz zur Fremde oder Exil (Kokot 2003) stellt Heimat einen Ort dar, an dem man sich „nicht erklären muss“ (ebenda), wobei man nicht unbedingt an diesem Ort geboren sein muss (Geburtsort) (vgl. ebenda). Römhild (2003) spricht in diesem Kontext von Aneignung der Heimat(en) als einem aktiven Identifikationsprozess (vgl. Römhild 2003: 12). Dies symbolisiert den dynamischen Charakter der Heimat, die nicht zwangsläufig mit dem Geburtsort identisch ist, sondern ganz allgemein die Gesamtheit der Lebensumstände, in denen ein Mensch aufwächst und seine Prägungen erfährt und schließt den Begriff der Beheimatung ein. Als psychologischer Terminus verbindet Heimat den Bedeutungsgehalt dreier Begriffe: sense of community, sense of control und sense of coherence (Mitzscherlich 1997: 138). In der Tat hat die Bezeichnung Heimat in Deutschland vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart erhebliche Bedeutungsverschiebungen erfahren und ist zusätzlich auch durch die Globalisierung und die wachsende Mobilität komplexer und diffuser geworden. Während in der
37 Während die Herkunft des Wortes eindeutig zu bestimmen ist, bereitet die ursprüngliche Bedeutung dagegen schon Probleme. Dem Duden gemäß ist das Wort „Heimat“ im deutschsprachigen Raum eine Erweiterung des Begriffs „Heim“ und der Ursprung des Wortes bedeutet ein „Ort, wo man sich niederlässt, Lager“ (Duden 1989, zit. nach Korfkamp 2006: 19).
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Vor-Moderne Heimat sehr stark an den Raum gebunden war (Besitz an Haus und Hof), wird der Heimatbegriff Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert zunehmend zur romantischen Gegen- und Sehnsuchtsmetapher für fehlende Geborgenheit (vgl. Schönhuth 2006: 370). Im 20. Jahrhundert konnte diesem Begriff schon eine politische Bedeutung beigemessen werden, denn Heimat und völkisches Denken wurden miteinander verbunden (vgl. ebenda). Blut und Boden waren die zentralen Begriffe, die mit dem Inhalt von Heimat zu verstehen waren (vgl. Korfkamp 2006: 53-55). Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete in doppelter Hinsicht eine tiefe Zäsur für den Heimatbegriff. Hiermit war das politische und ideologische Heimkonzept der Nationalsozialisten diskreditiert, aber es stellte sich auch das Problem des Heimverlustes angesichts von über zwölf Millionen vertriebener Deutscher und Deutschstämmiger in neuer Form dar (ebenda: 64). Es folgte in politischen Kreisen eine Tabuisierung des Heimatbegriffes und eine signifikante Abstinenz hinsichtlich dessen Verwendung. Noch schwieriger wird es Heimat im transnationalen Kontext einzubetten. In einer Welt, in der Herkunftsbindungen und Grenzen ihre Bedeutung zu verlieren scheinen, scheint auch Heimat ein überholtes semantisches Konzept zu sein. Durch die Globalisierung, die Auflösung klassischer Lebensstile und der Abnahme der Bedeutung von Nation und Nationalstaat nimmt die Rolle des Raums zu, wodurch neue soziale und ethnische Landschaften entstehen. Die räumlichen Konstellationen bleiben zwar weiterhin bedeutsam, sind aber zunehmend „entbettet“ (Schönhuth 2006: 375), wenn wir auch von Bausingers (1984) Raumdefinition für Heimat ausgehen: „[…] die räumliche Erstreckung von Heimat reicht vom ganzen Land über den Landstrich und den Ort bis hin zum Haus, zur Wohnung […]“ (Bausinger 1984: 12).
Dieser Definition zufolge wird Heimat in einer offenen Gesellschaft als „selbst mitgestaltete kleine Welt“ und „menschlich gestaltete Umwelt“ begriffen (Mitzscherlich 1997: 40). Weichhart (1990) entwickelt den Begriff der „räumlichen Identifikation“, die ein Individuum in sein Selbstkonzept einbezieht und als einen Teil seines Selbst wahrnimmt (Weichhart 1990: 23). Die territorialen Bindungen werden während zwei Lebensphasen geprägt: der Kindheit und Jugend, wobei die erste Sozialisation in der näheren Wohnumgebung stattfindet.
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Die zweite Lebensphase der räumlichen Identifikationsprozesse beginnt mit einem Umzug bzw. der Wanderung und mit der Gründung eines neuen Wohnortes, die nach Weichhart als „aktive Aneignung der zweiten Heimat“ bezeichnet werden kann (vgl. Glorius 2007: 52). Im Hinblick auf den Transnationalismus weichen oft die tatsächlichen und subjektiven Lebensräume voneinander ab. Heimat scheint eher eine seelische Kategorie zu sein, ein Gefühl oder psychischer Zustand. Mit Greverus (1995) ausgedrückt geht es hier um einen Lebensraum, „in dem die Bedürfnisse nach Identität […], nach materieller und emotionaler Sicherheit, nach Aktivität und Stimulation erfüllt werden […]“ (Greverus 1995: 28). Gleichzeitig geht es aber auch um einen Ort, der dem Individuum seine Identität gibt (vgl. ebenda). Nach dieser anthro-pologischen Auffassung der Heimat geht es also um Selbstverwirklichung und Selbstpositionierung. Um die gesellschaftlich-objektivistische Dimension von Heimat zu beschrieben, verwendet Treinen (1965) den Begriff „symbolische Ortsbezogenheit“ und unterstellt sowohl der „symbolischen Ortsbezogenheit“ als auch dem Heimatgefühl eine emotionale Besetzung, „[…] die sich jedoch jeweils auf verschiedene Sozialzusammenhänge richtet, die durch unterschiedliche räumlich gebundene Objekte symbolisiert werden […]“ (Treinen 1965: 78). Andere Wissenschaftler stellen Heimat als äußerste Nähe dar, ausgehend von der Theorie, dass bereits im Kindesalter die Umwelt primär über soziale Interaktionen kennengelernt wird und die ersten affektiv besetzten Objekte die Elemente der Wechselbeziehungen sind (vgl. Korfkamp 2006: 87). Also haben wir es hier mit einer rein seelischen Kategorie zu tun, wenn wir über Heimat reden? Festzuhalten bleibt, dass Heimat in der modernen, mobilen, globalisierten Welt nicht mehr als eindeutige „Territorialität“ erfassen werden kann, sondern vielmehr durch einen Beheimatungsprozess in verschiedenen Orten, Kulturen, Gesellschaften, sozialen Netzwerken (vgl. Keupp et al. 2002; Schönhuth 2006; Korfkamp 2006 u.a.) verstanden wird. Das Konzept der Beheimatung kann die vielversprechende Option für viele Migranten hinsichtlich des Integrationsprozesses werden, gerade weil Beheimatung im Gegensatz zum traditionellen Verständnis von Assimilation eine aktive Aneignung und Neugestaltung eines neuen Lebensraumes bedeutet (vgl. Schönhuth 2006: 378). Darüber hinaus beschreibt dieses Konzept einen
F ORSCHUNGSSTAND UND THEORETISCHE R AHMEN | 51
nicht für alle Zeiten erreichten Status, sondern einen ständigen (individuellen) Prozess, in dem man sich eine (neue) „Heimat“ aneignen kann. Migranten können selbst entscheiden, was für sie Heimat ist oder werden soll. Eine solche Heimatauffassung entspricht dem psychologischen Verständnis von Subjektivität, Ambivalenz und Funktionalität, d.h. „es geht darum, wie sich ein Mensch mit seiner subjektiven Heimatauffassung in einem sozialen System platziert“ (Mitzscherlich 1997: 46). Durch den Beheimatungsprozess entwickeln sich neue Formen der Heimat, wie diese etwa in Mecherils (1994) Konstruktionsstrategien der Heimat zu finden sind: egozentrierte Heimat (Heimat ist da, wo ich bin), hedonisierte Heimat (Heimat ist da, wo ich mich wohlfühle), personalisierte Heimat (Heimat ist da, wo meine Familie und Freunde sind) und rationalisierte Heimat (Heimat ist da, wo ich mit dem Wertesystem konform gehe) (vgl. Mecheril 1994: 71). In einem solchen Verständnis wird Heimat vom Geburtsort entkoppelt, um den multiplen, hybriden, facettenreichen Identitätsformen gerecht zu werden. Eine solche Pluralisierung des Heimatverständnisses kann insbesondere für Bildungserfolgreiche neue Chancen der Entfaltung im transnationalen Raum bieten. Insofern bleibt die Semantik der Heimat für diese Studie und für den allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs untersuchenswert, da sie etwas grundlegend anderes beschreibt als die Inklusion in Funktionssysteme. Sie muss jedoch mit einer offenen und mobilen Gesellschaft kompatibel sein, der Pluralisierung von Lebensformen und Identitäten entsprechen und der Tatsache Rechnung tragen, dass Heimat mindestens teilweise auch das Ergebnis strategischer Handlungen sein kann (vgl. dazu auch Schmitz 2013).
3. Wanderungsbewegungen von (Spät-)Aussiedlern
3.1 G ESCHICHTLICHER H INTERGRUND DER W ANDERUNGSBEWEGUNGEN VON ETHNISCHEN D EUTSCHEN NACH R USSLAND Um zu einem näheren Verständnis über Russlanddeutsche1 zu gelangen, lohnt es sich einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Während der geschichtliche Hintergrund in der Familie von (Spät-)Aussiedlern eine große Rolle spielt, ist sie den meisten Bundesbürgern unbekannt. Die ersten deutsch-russischen Kontakte entstanden bereits im 12. Jahrhundert aufgrund der Handelsbeziehungen deutscher und russischer Kaufleute in den Hansestädten.2 Bereits im 17. und 18. Jahrhundert gab es deutsche Siedlungen in Russland. Es handelte sich bei deren Einwohnern hauptsächlich um deutsche Offiziere, Wissenschaftler, Baumeister, Ärzte und Verwaltungsbeamte. Diese Experten bildeten eine Elite, die unter Peter I. zur Moderni-
1
Nach Kaiser (2006) fasst der Begriff „Russlanddeutsche“ Menschen zusammen, deren Gemeinsamkeit oftmals lediglich darin besteht, dass sie aus der ehemaligen Sowjetunion kommen und dort als „Deutsche“ galten (vgl. Kaiser 2006: 32).
2
Zu solchen Hansestädten gehört z.B. Nowgorod, das sich schon im 12. Jahrhundert zu einer wichtigen Niederlassung für deutsche Kaufleute entwickelte. Sie trug den Namen St. Peter-Hof und war Russlands größtes Tor in den Westen (vgl. Sekler 2008: 29).
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sierung der Wirtschaft, der Verwaltung und des Militärs beitrug (vgl. Dietz/Hilkes 1992: 13). Als die Zarin Katharina die Große am 22. Juli 1763 ein Manifest erließ, wanderten Anfang der 1760er Jahre ca. 100.000 Menschen aus Deutschland, Holland, dem Elsass und der Schweiz aus. Viele dieser Menschen hatten einen bäuerlichen Hintergrund und ihre Motive für die Ausreise waren meist durch Armut und Unterdrückung geprägt, denen sie in ihren Herkunftsgebieten ausgesetzt waren. Das Manifest der Zarin vom 22. Juli 1763 versprach Steuer- und Religionsfreiheit, eine Befreiung vom Militärdienst sowie die Selbstverwaltung in den Kolonien.3 Diesem Versprechen folgten bis 1774 30.623 Ausländer in Siedlungen der Hauptstadt St. Petersburg, in Livland, im Gouvernement Woronesh und in Kleinrussland sowie um Saratow an der Wolga. Zwischen 1763 und 1862 konnten die Deutschen in Russland mehr als 3.000 Kolonien im europäischen Teil des Russischen Reiches, im Kaukasus und in Sibirien gründen (vgl. Dietz/Hilkes 1992: 15). Später gründeten sie auch Kolonien in Kasachstan und Mittelasien. Die Karte soll verdeutlichen, wo die größten deutschen Siedlungen im 18. und 19. Jahrhundert zu finden waren (vgl. Abb. 1).
3
„[…] Gestatten Wir allen in unser Reich ankommenden Ausländern unverhindert die freie Religions-Übung nach ihren Kirchen-Satzungen und Gebräuchen, die Freiheit, Kirchen- und Glocken-Türme zu bauen […], […] er soll von allen Steuern und Auflagen frei sein […]. Zum Häuser-Bau, zur Anschaffung verschiedener Gattung im Hauswesen benötigten Viehes soll einem jeden aus Unserer Cassa das nötige Geld ohne alle Zinsen vorgeschossen werden […]. In Russland sich niedergelassene Ausländer sollen während der ganzen Zeit ihres Hierseins wider Willen weder in Militär noch Civil-Dienst genommen werden […].
Vgl.
Wolgaheimat:
Eine
dokumentarische
Archivsammlung.
www.wolgaheimat.net/Geschichte/uebersiedlung/Manifest_de.html. Aufruf 07.02.2012).
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Abbildung 1: Wanderungen von Deutschen in das Schwarzmeerund Wolgagebiet (Russland) im 18.-19. Jahrhundert
Quelle: Ingenieurbüro für Kartographie J. Zwick, Gießen, http://www.kfi.nrw.de/zuwanderung/Aufnahmeverfahren_ Spaetaussiedler/Geschichte_Russlanddeutsche/index.php.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, motiviert durch eine deutschenfeindliche Stimmung innerhalb des Russischen Reiches, hob Alexander II. alle Privilegien, die Katharina die Große den Deutschen gewährte, auf. Von diesem Zeitpunkt an wurden die Deutschen wie russische Bürger behandelt und waren nun auch nicht mehr vom Militärdienst befreit. Die Situation der ethnischen Deutschen im Russischen Reich verschlechterte sich noch einmal mit Beginn des 1. Weltkrieges. Massendeportationen in den weitesten Regionen Russlands und Zentralasiens waren die Folge. Zusätzlich wurden etwa 300.000 Deutsche in den Militärdienst berufen (vgl. Vogelgesang 2008: 37f). Nichtsdestotrotz kam es 1920 zur Gründung der Autonomen Sozialistischen Republik der Wolgadeutschen, die eine enorm wichtige politische und wirtschaftliche Rolle für die Weiterentwicklung der Deutschen in Russland spielte. Bereits in den 1920er Jahren gab es Volksschulen, zahlreiche Fachgymnasien, Berufsbildungsinstitute und fünf Hochschulen, in denen auch Deutsch unterrichtet wurde (vgl. Archiv der Jugendkulturen 2003: 21). Nach der Gründung der deutschen Wolgarepublik wurden im Laufe der nächsten Jahre weitere deutsche Rayons geschaffen, sechs davon in Russ-
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land, eine jeweils in Georgien und Aserbaidschan und neun in der Ukraine. Die deutsche Sprache wurde hier zur Amtssprache (Dietz/Hilkes 1992: 19). Diese positive Situation änderte sich aber im Rahmen der Entkulakisierung von Stalin, im Zuge derer Tausende von Großbauern (Kulaken) in den Arbeitslager (Trud-Armee) deportiert wurden. Dies betraf die Deutschen in Russland in höchstem Maße (vgl. Archiv der Jugendkulturen 2003: 27), insbesondere zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, in dem man die Deutschen der aktiven Unterstützung der deutschen Truppen verdächtigte. Alle Deportierten lebten unter der Aufsicht des NKWD, dem Vorläufer des KGB, in Sondersiedlungen unter strengen Auflagen. Sie mussten sich regelmäßig bei den Behörden melden und durften ohne deren ausdrückliche Erlaubnis ihren Wohnort nicht verlassen (vgl. Dietz/Hilkes 1992: 25f). Außerdem wurde ihnen verboten, deutsch zu sprechen. Edith W., eine Zeitzeugin der Massendeportationen und der Lenin– grader Blockade, beschreibt diese Situation bei unserem persönlichen Treffen in St. Petersburg mit folgenden Worten:4 „Am 28 August 1937 wurde ein Gesetz erlassen, dass alle Deutschen, egal wo sie vorher gewohnt haben, nach Sibirien umgesiedelt werden sollten. Von Tjumen bis zum Ural. Auch nach Kasachstan […]. Wir haben in Saratow gelebt. Die Wolgadeutschen haben zusammen geklumpt. Wir wurden Anfang September ausgesiedelt. Wir sind am 4. September aus Saratow weggefahren. Und gesagt wurde uns das am 31. August. Wir hatten es noch gut, dass wir drei Tage hatten zum Sammeln. Manche hatten nur einen Tag. […] Aus dem ganzen Wolga-Gebiet haben sie die Leute ausgesiedelt. Nach Kasachstan, nach Sibirien, auch nach Mittelasien. So war das. Dort haben wir bis 1956 gelebt. Die Familie meines Mannes wurde aus Leningrad als „Feinde des Volkes“ ausgesiedelt. Seinen Vater haben sie am 11. Dezember 1937 festgenommen. Zu der Zeit gab es eine große Säuberung im ganzen Land. Und am 26. Dezember haben sie ihn erschossen. […] Mein Vater war Priester und er wurde auch verhört. Die Kirche wurde geschlossen. Am 2. Dezember haben sie fast alle Priester verhaftet. Es war Fastenzeit und mein Vater hatte Dienst. Mein Vater wurde auf dem Weg zum Dienst festgenommen und nach Kasachstan geschickt. So ist er verschwunden. Wir wussten gar nichts. Bis ich 1993 die erste
4
Edith W., 95 Jahre alt, wurde im September 2010 in St. Petersburg während meiner Feldforschung als Zeitzeugin der damaligen Massendeportationen von ethnischen Deutschen in Russland interviewt.
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Nachricht bekommen habe. Mein Vater war ein Jahr im Gefängnis von Alma-Ata und ein Jahr in Moskau. Dort haben sie ihn auch erschossen. Er wurde vor das Kriegsgericht gebracht […]“ (Interviewausschnitt Edith W., 2010).
3.2 D IE D EUTSCHEN IN R USSLAND NACH DEM Z WEITEN W ELTKRIEG Die Lage der Russlanddeutschen blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin kritisch. Von einer Neuaufnahme einer Republik der Wolgadeutschen war keine Rede. Hinzu kam auch noch, dass Stalin die Deutschen als Kollaborateure unter Kommandaturaufsicht stellte, d.h. sie wurden in Arbeitslagern festgehalten. Diese Situation änderte sich 1955 nach dem Besuch des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer in Moskau, der zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion führte. Per Dekret „Über die Aufhebung der Beschränkungen der Rechtsstellung der Deutschen und ihrer Familienangehörigen, die sich in Sondersiedlungen befinden“ wurden Deutsche aus den Zwangsarbeitslagern entlassen (vgl. Boll 1993: 19). „1955 haben wir eine begrenzte Bewegungsfreiheit bekommen. Wir bekamen das Recht, uns in dem Landkreis, in dem wir lebten, frei zu bewegen. 1956 bekamen wir das Recht, uns frei in der ganzen Sowjetunion bewegen zu dürfen, außer Leningrad, Moskau, Charkow, Kiew, Lwow und allen Hauptstädten der Landkreise. Mein Mann und ich sind dann umgezogen. Viele haben Russen geheiratet und sind hier[in Russland] geblieben. Die, die deutsch waren, sind nicht zurückgekommen, aber diejenigen, die Russen geheiratet haben, konnten zurückkommen“ (Interviewausschnitt mit Edith W.).
Das Dekret war jedoch mit der Auflage verbunden, dass die Deutschen nicht in ihre früheren Heimatgebiete zurückkehren durften und auf ihr Hab und Gut, hauptsächlich Häuser und Gärten, verzichten mussten (vgl. ebenda). Außerdem mussten die Betroffenen schriftlich auf die Rückkehr in ihre früheren Wohnorte und ihr Vermögen verzichten.5 So entstanden die
5
Die deutsche Bevölkerung durfte sich zwar im Lande frei bewegen, aber die Unterdrückung von sowjetischer Seite blieb weiterhin präsent. So war es den
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Binnenwanderungen, die zu einer neuen Bevölkerungsverteilung führten: ca. 50 Prozent der Deutschen lebten damals in den Städten (vgl. Sekler 2008: 51). Eine Ausreise aus der Sowjetunion war der Traum vieler Deutschen. Die Sowjetunion verhielt sich gegenüber diesem Wunsch jedoch sehr zurückhaltend und erteilte nur in beschränkter Zahl den Ausreisewilligen die Erlaubnis, die Sowjetunion zu verlassen. Erst am 26. April 1991 beschloss das Oberste Sowjet der UdSSR ein Gesetz „Über die Rehabilitierung der repressierten Völker“ (vgl. ebenda: 45). So wurde im November 1991 von Bundeskanzler Helmut Kohl und dem Präsidenten der UdSSR Boris Jelzin (1991-1999) eine gemeinsame Erklärung zur „Wiederherstellung der Republik der Deutschen in den traditionellen Siedlungsgebieten ihrer Vorfahren an der Wolga“ unterzeichnet (vgl. ebenda). Die Situation änderte sich vollständig mit den weltpolitischen Veränderungen im damaligen Ostblock, die zur Durchlässigkeit der Grenzen führte und den Menschen zum ersten Mal die Möglichkeit bot, selbstbestimmt über eine Ausreise zu entscheiden. So kamen in diesem Zeitabschnitt mit 1,05 Millionen fast ebenso viele Aussiedler nach Deutschland wie in den mehr als dreieinhalb Jahrzehnten zuvor (vgl. Hensen 2009: 50). Der Aussiedlungsschwerpunkt lag mit 570.000 Personen immer noch in Polen, mit mehr als 300.000 Personen wurde er aber bereits dicht von der ehemaligen Sowjetunion gefolgt (vgl. ebenda).
Deutschen verboten, Briefverkehr mit den Verwandten im Westen zu haben, es gab weder deutsche Zeitungen noch Bücher und auch in den Medien wurde über die Deutschen in Russland nicht berichtet. Die Kirchen der Deutschen blieben ebenso geschlossen, wie die Kirchen anderer Völker in der Sowjetunion. Erst nach vielen Jahren durfte das deutsche Volk in der Sowjetunion die deutsche Sprache und ihren Glauben pflegen. Vgl. Landesmannschaft der Deutschen. http://www.deutscheausrussland.de/gestern/heute.pdf. Aufruf: 21.05.2009.
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Abbildung 2: Aufnahme von Aussiedlern 1996-1990: Gesamt 1,5 Mio. 13.000 sonstige Staaten 161.000 Rumänien
308.000 ehemalige SU
570.000 Polen
Quelle: Hensen 2009, S.50; in: Bergner/Weber 2009
Zwischen 1991 und 1992 stellten über 800.000 Russlanddeutsche einen Aufnahmeantrag bei der Bundesrepublik Deutschland. Von diesen 800.000 Anträgen wurden etwa 343.000 für die Übersiedlung nach Deutschland bewilligt (vgl. Sekler 2008: 46). Nach dem Zerfall der Sowjetunion konnte die von Boris Jelzin versprochene Wolgarepublik nicht realisiert werden. Die meisten Deutschen lebten damals im sibirischen Teil Russlands und in Kasachstan. In anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion sind die Zahlen der Russlanddeutschen eher gering, wobei man hier auch keine genauen Aussagen treffen kann. Laut der letzten Volkszählungen lässt sich die Zahl der Deutschen in der GUS wie folgt darstellen6 (vgl. Abb. 3):
6
Die nächste Volkszählung in der Russischen Föderation erfolgt im 2013. Vgl. RIA
NOVOSTI
Aufruf: 16.03.2012.
(2009),
http://en.rian.ru/russia/20090918/156176042.html.
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Abbildung 3: Die Zahl der Deutschen in der GUS anhand der letzten Volkszählung
Russland 597 000. (2002)
BRD 2-2,5 mln. Weißrussland 4800 (1999)
Ukraine 35 000 (2002)
Kasachstan 222 296 (2007)
Kirgisistan 15 000 (2006)
15
Quelle: Kaiser, Markus 2010, Vortrag: Rückkehr von Spätaussiedlern: Ländervortrag Russland. Fachtagung „Landesinitiative Rückkehr“. Diakonie, Trier, 26.11.2010. S. 15.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die deutschen Minderheiten in Russland während der Sowjetzeiten erheblichen Diskriminierungen und Benachteiligungen ausgesetzt waren. Dies fing mit einer Russifizierung an, die von der Auflösung der Siedlungsgebiete und von einem Sprach- und Religionsverbot gekennzeichnet war; dem folgten die Vertreibungen und Deportationen während des Zweiten Weltkrieges infolgedessen die deutsche Gesellschaft zerfiel. Ihre Lage verbesserte sich in den 1990er Jahren, als die sowjetische Autonomie zerbrach. Dies hatte aber auch negative Auswirkungen auf die Russlanddeutschen, besonders für diejenigen, die in den asiatischen Teilen des Landes lebten. In Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan waren aufgrund der dort herrschenden islamistischen Politik die Russlanddeutschen plötzlich nicht mehr willkommen. Der Druck zur Auswanderung war deshalb größer als bei den Deutschen, die z.B. in der Russischen Föderation lebten. Trotzdem ist die deutsche Herkunft, die nach dem zweiten Weltkrieg als schädlich galt, nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ wieder ein Privileg und gilt als Eintrittskarte in den Westen (Archiv der Jugendkulturen 2003: 29).
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3.3 D EUTSCHLAND ALS E INWANDERUNGSLAND : P ERSONEN MIT M IGRATIONSHINTERGRUND Bis in die 1990er Jahre war Deutschland aus Sicht der Bürger und Politiker kein Einwanderungsland. Die entscheidende Frage damals war vielmehr, ob aus den Gastarbeitern neue Mitbürger werden sollten. Später verschob sich die Debatte auf die Frage nach der sozialen Integration für Migranten und wie diese umzusetzen und verbessert werden könnte. In einem offenen Brief von 17 Unionspolitikern („Die Zeit“ Nr. 6 vom 31. Januar 2008) musste die Union Deutschland de facto als Einwanderungsland anerkennen (Straubhaar 2008: 1). Doch statistisch gesehen hat Deutschland als Einwanderungsland bereits eine lange Tradition. Mit einer ausländischen Bevölkerung von 6,7 Millionen, die einem Anteil von 8,2 Prozent entspricht, gehört Deutschland zu den aufnahmefreundlichsten Ländern der Europäischen Union (ebenda). Die amtlichen Statistiken Deutschlands zu den demographischen und soziostrukturellen Themenbereichen wie Bildung und Erwerbstätigkeit unterschieden in der Regel nur zwischen Deutschen und Ausländern. Allerdings lässt diese Unterscheidung noch keine konkreten Aussagen über den Migrationsstatus und den Integrationsstand der Migranten und ihrer Nachkommen treffen. Denn Ausländer stellen nur eine Teilgruppe der durch internationale Wanderung geprägten Bevölkerung dar (vgl. dazu auch Rühl 2009: 13). Im Jahr 2005 wurde mit dem Mikrozensusgesetz auf diese Defizite der amtlichen Statistiken reagiert und das Konzept der „Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ eingeführt. Seitdem ist es möglich, neben der Gruppe der ausländischen Staatsangehörigen auch andere Personengruppen mit Migrationshintergrund wie Eingebürgerte und (Spät-) Aussiedler sowie deren in Deutschland geborenen Kinder zu unterschieden7 (vgl. ebenda). In Deutschland leben 15,75 Millionen Menschen der insgesamt 81,7 Millionen Einwohner mit einem migrationspolitischen Hintergrund (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2010). Das entspricht einem Bevöl-
7
So wird bei eingebürgerten Personen auch nach der ehemaligen Staatsangehörigkeit und dem Jahr der Einbürgerung gefragt. Darüber hinaus wird auch alle vier Jahre die Staatsangehörigkeit der Eltern, ihr Zuzugsjahr sowie, falls eingebürgert, ihre ehemalige Staatsangehörigkeit geprüft (vgl. Rühl 2009).
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kerungsanteil von 19,3 Prozent (vgl. ebenda). Dieser Wert liegt nicht weit neben den Prozentsätzen der klassischen Einwanderungsländer Australien und Kanada und ist verglichen mit den USA (Straubhaar 2008) als hoch einzuschätzen. Demnach kann davon ausgegangen werden, dass in Deutschland jeder Fünfte einen Migrationshintergrund hat (vgl. Abb. 4).
Abbildung 4: Migrationshintergrund der Bevölkerung 2010
Quelle:–Bundeszentrale–für–politische–Bildung, http://www.bpb.de/wissen/NY3SWU,0,Bev%F6lkerung_mit_Migrationshintergrund_I.html
Als Personen mit Migrationshintergrund im weitesten Sinne werden „alle nach 1949 in das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche geborenen mit zumindest einem nach 1949 zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ definiert (Statistisches Bundesamt 2010). Somit gehören auch die (Spät-) Aussiedler und deren Kinder zu den Menschen mit Migrationshintergrund, auch wenn sie keine eigenen Migrationserfahrungen gemacht haben (ebenda).
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Während im Jahr 2005 15,3 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund in Deutschland lebten, überschritt diese Zahl den Wert von 16 Millionen8 (vgl. ebenda). Der Ausländeranteil mit 7,2 Millionen Ausländer und Ausländerinnen macht 8,8 Prozent der Bevölkerung aus, während die Deutschen mit Migrationshintergrund mit 8,5 Millionen einen Anteilswert von 10,4 Prozent erreichen (vgl. ebenda). Dabei werden (Spät-)Aussiedler unter der Kategorie „Deutsche mit eigener Migrationserfahrung“ ausgewiesen. 3.3.1 (Spät-)Aussiedler als „besondere Migrantengruppe“ in der Bundesrepublik Deutschland Die Aufnahme und Eingliederung von Deutschen aus ostmittel-, südostund osteuropäischen Ländern stellt eine eigene Migrationsform dar. Durch ihre spezielle Situation, die teilweise durch Deportationen, Repressionen, Benachteiligungen in den Ausreiseländern geprägt ist, aber auch durch die besondere Form der ethnischen und rechtlichen Inklusion in der Bundesrepublik Deutschland teilt diese Gruppe gemeinsame Erfahrungen und eine damit verbundene Narration gemeinsamer Werte und eine gemeinsame kulturelle Geschichte (Fenicia et al. 2010: 305). Als Aussiedler gelten Personen, die seit den frühen 1950er Jahren aus osteuropäischen Ländern und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kommen und aufgrund des Grundgesetzes (Artikel 116) als deutsche Staatsbürger aufgenommen werden. Das Bundesvertriebenengesetz bis zum 31.12.1992 bezeichnet als Aussiedler die Angehörigen deutscher Minderheiten, die teilweise seit Generationen in Ostmittel-, Ost-, Südosteuropa und Asien lebten und nach Deutschland zuwanderten (vgl. Schönhuth 2008b: 61).
8
Dieser Anstieg speist sich aus zwei Quellen: Von 2005 bis 2009 ist die Bevölkerung mit Migrationshintergrund durch Zuzug und Geburten um 715.000 angewachsen und die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund ist sterblichkeitsbedingt um1,3 Millionen zurückgegangen. Vgl.http://www.destatis.de/jetspeed/portacms/Sites/destatis/Internet/de/presse/p m/2010/07/pd10__248__122,templateid=renderprint.psml. Aufruf: 07.02.2012.
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Als Spätaussiedler gelten die Personen, die nach dem Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz (BVFG)9 vom 19. Mai 1953 und der Neufassung vom 1. Januar 1993 als deutsche Volkszugehörige ihre Aussiedlungsgebiete nach dem 31. Dezember 1992 im Zuge des Aufnahmeverfahrens verlassen haben und innerhalb von sechs Monaten ihren ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes (also in der Bundesrepublik Deutschland) genommen haben (§ 4 BVFG). Im §6 des BVFG wird auch die deutsche Volkszugehörigkeit näher bestimmt: „Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur bestätigt wird. Wer nach dem 31. Dezember 1923 geboren ist, ist deutscher Volkszugehöriger, wenn er von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschem Volkszugehörigen abstammt,
1. ihm von den Eltern, einem Elternteil oder anderen Verwandte verständigende Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird. 2. er sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete zur deutschen Na– tionalität erklärt, sich bis dahin auf andere Weise zum deutschen Volkstum bekannt hat oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehörte“ (Archiv der Jugendkulturen 2003: 14). Somit genießen die (Spät-)Aussiedler aufgrund ihrer staatsrechtlichen Lage in Deutschland einen besonderen rechtlichen Status und unterscheiden sich von anderen Einwanderungsgruppen.
9
„Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge“ in der Fassung der Bekanntmachung vom 10.08.2007 (BGBI. Teil I, S. 1902), geändert durch Artikel 19 Abs. 1 des Gesetzes vom 12.12.2007 (BGBI. Teil I, S. 2840) (Schmid 2009: 68; Archiv der Jugendkulturen 2003: 14-15).
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3.3.2 Statistische Angaben zu (Spät-)Aussiedlern in Deutschland Bis in die 1980er Jahre verlief die Zuwanderung von Aussiedlern in die BRD reibungslos und unauffällig (vgl. Schönhuth 2008a/b). Seit 1988 kamen ungefähr drei Millionen Menschen – ca. 800.000 aus den mittelosteuropäischen Staaten und ca. 2,2 Millionen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – im Rahmen der Aussiedleraufnahme in die Bundesrepublik Deutschland (BMI-Aussiedlerbeauftragter 2012). Mit der politischen Systemänderung und des Kriegsfolgebereinigungsgesetzes in den 1990er Jahren stiegen die Zahlen von aus der ehemaligen Sowjetunion eingereisten Aussiedlern rasant an. Insgesamt wurden im Zeitraum 1993-1996 660.000 Personen registriert, wobei die Zahl der aus der ehemaligen Sowjetunion eingereisten (Spät-)Aussiedler dominierte (vgl. Hensen 2009: 55). Dabei sind zwischen 1997-2009 ca. 59.130 Kinder unter sechs Jahren und 182.141 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und achtzehn Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland migriert (vgl. Abb. 5).
Abbildung 5: Zuzug von Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahre (Minderjährige) 1997-2009
Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2010, eigene Darstellung
66
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Jedoch ist seit einigen Jahren ein kontinuierlicher Rückgang beim Zuzug zu verzeichnen. Dies belegen die Zahlen der Registrierung und Antragseingänge bei dem Bundesverwaltungsamt, die insgesamt durch eine sinkende Zuwanderung der (Spät-)Aussiedler im Vergleich zu den Vorjahren verzeichnen (vgl. Abb. 6).
Abbildung 6: Registrierung/Verteilung von (Spät-)Aussiedlern im Vergleich zu den Vorjahren 2000-2010
ϭϮϬ͘ϬϬϬ͕ϬϬ
ϭϬϬ͘ϬϬϬ͕ϬϬ
ϵϱ͘ϲϭϱ
ϵϴ͘ϰϴϰ ϵϭ͘ϰϭϲ
ϴϬ͘ϬϬϬ͕ϬϬ
ϳϮ͘ϴϴϱ ϱϵ͘Ϭϵϯ
ϲϬ͘ϬϬϬ͕ϬϬ
ϰϬ͘ϬϬϬ͕ϬϬ
ϯϱ͘ϱϮϮ
ϮϬ͘ϬϬϬ͕ϬϬ ϳ͘ϳϰϳ
ϱ͘ϳϵϮ
ϰ͘ϯϲϮ
ϯ͘ϯϲϬ
Ϯ͘ϯϱϬ
ϮϬϬϲ
ϮϬϬϳ
ϮϬϬϴ
ϮϬϬϵ
ϮϬϭϬ
Ϭ͕ϬϬ ϮϬϬϬ
ϮϬϬϭ
ϮϬϬϮ
ϮϬϬϯ
ϮϬϬϰ
ϮϬϬϱ
Quelle: Bundesverwaltungsamt 2011. Stand: 23.01.2011; eigene Darstellung,
Die Gründe für den Rückgang der Ausreisezahlen liegen zum einen in der Begrenzung der Zuzugszahlen seitens Politik und Regierung seit 1993 und in einer weiteren Begrenzung dieser Zahlen im Jahre 2000.10 Zum anderen erschwert ein seit 1997 eingeführter Sprachtest und ein seit 2005 eingeführter Sprachtest für alle Familienangehörigen in den Herkunftsländern die Einreisebedingungen für die Spätaussiedler in die Bundesrepublik.
10 Im Asylkompromiss von 1993 kam es zu einer Begrenzung der Einwanderungszahlen auf 220.000 pro Jahr, im Jahr 2000 zu einer weiteren Begrenzung auf 100.000 pro Jahr (vgl. Hensen 2009: 54).
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3.3.3 Rechtsgrundlagen zur Aufnahme und Integration von (Spät-)Aussiedlern Bis Ende der 1980er Jahre erfolgte die Aufnahme der Aussiedler, die einen Einreiseantrag für Deutschland gestellt hatten, allein aufgrund der Annahme, dass sie in ihren Herkunftsgebieten diskriminiert werden. Seit 1993 müssen die Ausreisewilligen einen förmlichen Antrag aus ihrem Herkunftsland beim Bundesverwaltungsamt in Köln stellen, in dem sie glaubhaft machen, dass sie am 31. Dezember 1992 oder danach Benachteiligungen oder Nachwirkungen früherer Benachteiligungen aufgrund deutscher Zugehörigkeit unterlagen (Sekler 2008: 54). Außerdem muss der Antragssteller seine deutsche Volkszugehörigkeit nachweisen, d.h. er muss deutscher Abstammung sein und ihm müssen familiäre Bestätigungsmerkmale wie die deutsche Sprache, Kultur oder Erziehung vermittelt worden sein. Des Weiteren muss er sich zur deutschen Nationalität bzw. zum deutschen Volkstum bekennen11 (vgl. Kiel 2009: 32). Sobald die (Spät-)Aussiedler im Anschluss an ihren Umzug nach Deutschland die entsprechende Bescheinigung nach dem bereits erwähnten BVFG bekommen haben, können sie nach § 4 des Staatsangehörigkeitsgesetzes die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch erwerben (vgl. BMI 2010; vgl. auch Klement 2006: 24). Ihre nicht-deutschen Ehegatten oder Abkömmlinge dürfen ebenso im Geltungsbereich des Gesetzes (§7) die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben12. Die (Spät-)Aussiedler gelten somit als Deutsche im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes13 und stellen somit ihre Besonderheit im Gegensatz zu den anderen Migrantengruppen heraus.
11 Die Merkmale dieses Bekenntnisses liegen dann vor, wenn die Zugehörigkeit zur deutschen Volksgemeinschaft auch Dritten gegenüber wahrnehmbar kundgetan wurde, wie z.B. durch den Passeintrag der deutschen Volkszugehörigkeit, durch Zeugnisse von deutschen Schulen (Kiel 2009: 32). 12 Seit Inkrafttreten des KfbG 1993 wird zwischen den unterschiedlichen Status von (Spät-)Aussiedlern differenziert: §4 (Spät-)Aussiedler), §7 (Abkömmlinge) und §8 (Ausländer). 13 Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist „ wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiet des deut-
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Bade und Oltmer (2004) schreiben dazu: „Die Bezeichnung ,Aussiedler’ bzw. seit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1993 ,(Spät-)Aussiedler’ ist ein ethnonationaler Euphemismus; denn anerkannte Aussiedler sind zwar Deutsche mit allen Rechten, wozu z.B. bei den oft binationalen Ehen auch das Recht auf die Einreise nicht-deutscher Familienmitglieder zählt. Die Aussiedler kommen aber kulturell, mental und sozial in eine echte Einwanderungssituation“ (Bade/Oltmer 2004: 90).
Bis zum heutigen Zeitpunkt wurde das BVFG mehrmals verändert. Dies wird damit begründet, dass das Aussiedlergesetz an die neue politische Situation in der Bundesrepublik Deutschland angepasst werden musste. Nach dem Inkrafttreten des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes (KfbG) 1993 wird zum ersten Mal die Aufnahme der Deutschen als (Spät-)Aussiedler geregelt. Durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz vom 21.12.1992 wurde auch ab dem 1.1.1993 die Familienzusammenführung im BVFG aufgehoben.14 Zugleich erfolgte eine Zuzugsbegrenzung auf jährlich maximal 200.000 Personen und die Forderung des Nachweises von deutschen Sprachkenntnissen zuerst in Deutschland, später dann schon vor der Ausreise.15 Seit 2005 müssen auch Familienangehörige Kenntnisse der deutschen Sprache nachweisen. Die (Spät-)Aussiedler, die nach Deutschland einreisen wollten, mussten im Herkunftsland in Form eines Tests ihre deutschen Sprachkenntnisse nachweisen. Dieser Test wurde von einem Vertreter des Bundesverwaltungsamtes im Herkunftsland mündlich abgenommen und konnte bei Nichtbestehen nicht mehr wiederholt werden, da es sich dabei nicht um eine kurze Aneignung der deutschen Sprache handelte, sondern um eine generationenbedingte Weitergabe, die zu den bestätigenden Merkmalen der deutschen Volkszugehörigkeit gehört (vgl. Bergner/Weber 2009: 253).
schen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat“ (Archiv der Jugendkulturen 2003: 15) 14 Vgl. dazu Zusammenführung der rußlanddeutschen Familien. Entstehen und Untergang, In: Heimat-Rodina, http://www.zeitungheimat.de/geschichte/ge35.html, Aufruf: 01.09.2009. 15 Zu den genauen Verwaltungsdurchführungsrichtlinien vgl. BMI 2010.
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Abbildung 7: Gesetzliche Änderungen der Aussiedleraufnahme
Quelle: Bergner/Weber 2009, S. 253
3.3.4 Die Auswirkung des Zuwanderungsgesetzes 2005 auf die Zuwanderung von (Spät-)Aussiedlern Seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 sind die Aufnahmebedingungen für (Spät-)Aussiedler verschärft worden. Nach der bis 2004 geltenden Rechtslage konnten die Abkömmlinge und Ehegatten von (Spät-)Aussiedlern, die selbst keine (Spät-)Aussiedler sind, auch dann in den Aufnahmebescheid des (Spät-)Aussiedlerbewerbers einbezogen werden, wenn sie nicht über deutsche Sprachkenntnisse verfügen. Ab dem Zuwanderungsgesetz von 2005 dürfen diese Personen nur dann in den Aufnahmebescheid einbezogen werden, wenn der (Spät-) Aussiedlerbewerber dies selbst ausdrücklich beantragt. Außerdem müssen die Abkömmlinge und Ehegatten des (Spät-)Aussiedlers über deutsche Sprachkenntnisse verfügen (vgl. dazu Bundesverfassungsamt). Diese Sprachkenntnisse müssen im Rahmen eines Sprachtestes bei der Auslands-
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vertretung des Herkunftslandes nachgewiesen werden16 (vgl. Bundesverwaltungsamt 2010). Das Bundesverwaltungsamt erkennt „Grundkenntnisse“ in der deutschen Sprache an, „[…] wenn die deutsche Sprache in ihren Grundzügen in Wort und Schrift so beherrscht wird, dass vertraute, alltägliche Ausdrücke und ganz einfache Sätze, die auf die Befriedigung konkreter Bedürfnisse zielen, verstanden und verwendet werden. Die einzubeziehende Person muss auch in der Lage sein, sich und andere vorzustellen sowie anderen Leuten Fragen zu ihrer Person zu stellen, beispielsweise wo sie wohnen, welche Leute sie kennen oder welche Dinge sie besitzen, und muss Fragen dieser Art beantworten können. Sie muss sich auf einfache Art verständigen können, wenn die Gesprächspartner langsam und deutlich sprechen und bereit sind, zu helfen. Sie muss ferner in der Lage sein, in kurzen Mitteilungen Informationen aus dem alltäglichen Leben zu erfragen oder weiterzugeben (beispielsweise in Formularen, kurzen persönlichen Briefen oder einfachen Notizen)“.17
Werden die Voraussetzungen nicht erfüllt, ist die Einreise der nichtdeutschen Ehegatten nur nach ausländerrechtlichen Maßnahmen möglich.
16 Für das Bestehen des deutschen Sprachtestes ist es erforderlich, sechzig Punkte zu erreichen. Diese Voraussetzung gilt aber nicht für Ehegatten, die über sechzig Jahre alt sind und für Jugendliche unter sechzehn Jahren. Für diese Personen ist der Sprachtest bestanden, wenn zweiundfünfzig Punkte erreicht werden. Kinder unter vierzehn Jahren werden auch weiterhin ohne Überprüfung der Deutschkenntnisse in den Aufnahmebescheid der Bezugsperson einbezogen, sofern keine wesentlichen Integrationsprobleme zu erwarten sind. Um diese Voraussetzung zu erfüllen, muss die Aussiedlung vor Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres des Kindes erfolgen, sonst ist die Einbeziehung unwirksam und es muss ein Sprachtest nachgewiesen werden. Bei Ehegatten mit nicht-deutscher Abstammung ist die Einbeziehung erst dann möglich, wenn die Ehe seit mindestens drei Jahren besteht. 17 Für ausführliche Informationen zur Aufnahme von (Spät-)Aussiedlern vgl. Bundesverwaltungsamt. http://www.bva.bund.de/cln_092/nn_2171674/DE/Aufgaben/Abt__III/Spaetaus siedler/AntraegeMerkblaetter/infofuerSpaetaussiedler.html?_nnn=true. Aufruf: 2010; 2012.
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Den nach Ausländerrecht einreisenden Familienangehörigen wird nicht der Status von Deutschen nach Art. 116, Abs. 1 Grundgesetz (GG) übertragen, sondern sie erwerben einen Aufenthaltsstatus für die Bundesrepublik Deutschland nach § 8 (vgl. dazu Bundesverwaltungsamt). Bei dem Nichtbestehen des Sprachtestes kann das Einbeziehungsverfahren bis zur Aneignung ausreichender Deutschkenntnisse ausgesetzt und erst nach sechs Monaten ein erneuter Testtermin beantragt werden. Der eingeführte Sprachtest in Herkunftsländern gilt für viele (Spät-)Aussiedler als Barriere bei der Einreise nach Deutschland. Für viele Familien bedeutet er eine innerfamiliäre Trennung anstelle einer Zusammenführung, denn auch nach langen Studien in den Sprachkursen wird der Sprachtest nicht immer bestanden. Für viele (Spät-)Aussiedler, die bereits in der Bundesrepublik Deutschland leben und auf ihre Kinder oder Verwandten warten, die aber im Herkunftsland den Sprachtest nicht bestehen, bleibt als einzige Alternative wieder zurückzukehren, um den Familienhalt nicht zu verlieren.
3.4 D EUTSCHLAND
ALS
AUSWANDERUNGSLAND
In der heutigen globalisierten Welt gilt die Qualifikation als Zu- oder Auswanderungsland als wesentliches Charakteristikum von Staaten (vgl. Santel 1995: 9) und eine „gute Migrationspolitik“ ist ein wichtiger Faktor für Stabilität und Wohlstand (vgl. Straubhaar 2006: 3). Als Einwanderungsland hat sich Deutschland zwar bekannt, jedoch steht es kurz danach vor der Herausforderung, den Fachkräftemängel zu bekämpfen und – bedingt durch die geringe Geburtenrate – einen dramatischen demographischen Wandel zu bewältigen. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes über die Wanderungsstatistik stellen Deutschland sowohl als Einwanderungsland als auch als Auswanderungsland dar. Seit 1945 summiert sich die Zahl der Zuzüge nach Deutschland auf rund 33 Millionen Menschen, während die der Fortzüge sich bei rund 24 Millionen Menschen einpendelt hat (vgl. Schmidt-Fink 2007: 241). Damit zählt Deutschland nicht nur zu den Ländern mit einer ausgeprägten Einwanderungsstatistik, sie erlebt auch eine lebhafte Rückkehrwanderung. Seit den 1950er Jahren lassen sich in Deutschland freiwillige oder erzwungene Rückkehrbewegungen in größerem Umfang beobachten. Alleine in
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den 1990er Jahren hatte das Auswanderungsland Deutschland über fünf Millionen Rückkehrer, unter denen sich Gastarbeiter, Pendler (mit einer mehrfachen Rückkehr), Fachkräfte und Akademiker aber auch abgelehnte Asylbewerber befanden (vgl. ebenda: 242). Die genauen Zahlen über die Ein- und Abwanderungen in und aus Deutschland lassen sich durch folgende Graphik deutlicher darstellen (vgl. Abb. 8). Abbildung 8: Außenwanderungen: Wanderungen zwischen Deutschland und dem Ausland: Zuzüge und Fortzüge 1995-2009
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Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2011; eigene Darstellung
Die allgemeinen Wanderungszahlen in Deutschland basieren auf den Angaben der amtlichen Zu- und Fortzugsstatistiken des Statistischen Bundesamtes. Bei jedem grenzüberschreitenden Wohnortwechsel wird bei der jeweils zuständigen kommunalen Meldebehörde vom Statistischen Bundesamt eine An- bzw. Abmeldung vorgenommen. Für den Eingang in die Meldestatistik ist nicht der Aufenthaltstitel oder die Dauer des Aufenthalts, sondern ausschließlich der Bezug eines Wohnsitzes ausschlaggebend.18 Das heißt, Personen, die ordnungsgemäß mehrmals im Jahr zu- und
18 Mitteilung per E-Mail von DESTATIS (Wiesbaden 2010) am 27.05.2010.
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abwandern, werden auch mehrmals im Jahr von amtlichen Statistiken erfasst. Personen, die bei einem Fortzug ihrer Abmeldepflicht nicht nachkommen, werden generell nicht in die Statistiken einbezogen. Angesichts dieser schwierigen Datenlage der Rückkehrstatistiken kann man daher nicht von zuverlässigen Abwanderungszahlen ausgehen. In den letzten Jahren hat sich besonders die Debatte über die Abwanderung der Akademiker sowohl auf der politischen als auch auf der wissenschaftlichen Agenda etabliert. Es lässt sich nach Angaben von einigen Autoren (vgl. Sauer/Ette 2007, 2010; Heß 2009; Aydin 2010 etc.) eine offensichtliche Tendenz der Abwanderung der „besten Köpfe“ feststellen, die in ihrer Bedeutung und öffentlichen Aufmerksamkeit eine der wichtigsten Formen der internationalen Migration darstellen. Trotz dieser Relevanz ist der Bereich der Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften in der Wissenschaft „in Vergessenheit geraten“ und bleibt bis heute ein relativ „unbearbeitetes Feld“ (vgl. Sauer/Ette 2007: 5). Dass dieses Feld zu den wenig oder nicht ausreichend erforschten Feldern der Migrationsforschung gehört, belegt auch die eingeschränkte statistische Lage über die Migration der Hochqualifizierten. Das Statistische Bundesamt verweist auf die Zahlen der Ein- und Auswanderung (Zu- und Fortzüge), womit sich auch eine Migrationsbilanz aussagen lässt. Jedoch machen die Statistiken bisher keine Angaben über die berufliche Qualifikation von Migranten und über die Motive der Migration. Aus diesem Grund können auch keine verlässlichen Zahlen über die Auswanderung von Hochqualifizierten herangezogen werden. Trotz der schwierigen statistischen Lage zum einen der allgemeinen Rückkehrwanderungen aus Deutschland in die Herkunftsländer, zum anderen der Auswanderung der „besten Köpfe“ aus Deutschland, soll in diesem Kapitel die aktuelle Situation der Auswanderung von Bildungserfolgreichen sowie deren Mobilität, insbesondere vor dem Hintergrund der wachsenden Zahl mobiler Studierenden (vgl. Remhof 2008; Ette/Sauer 2010), dargestellt werden.
3.4.1 Die aktuelle Situation und Gründe der Auswanderung von Hochqualifizierten Lange Zeit gab es kein politisches Problembewusstsein für die Ein- und Auswanderung Hochqualifizierter (vgl. Ette/Sauer 2010: 22). Gleichzeitig
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stellt aber die Migration von Hochqualifizierten einen großen Anteil unter den internationalen Migranten dar (vgl. ebenda). Die Debatte über die Auswanderung Hochqualifizierter findet bereits seit den vergangenen Jahren nicht nur in den politischen, sondern auch in den wissenschaftlichen Diskussionen unter dem Aspekt des „Brain Drain“s statt. „Quantitativ ist die Auswanderung noch nicht sehr hoch. Sorge bereitet aber der Saldo unter qualitativem Aspekt. Diejenigen, die Deutschland den Rücken kehren, sind gut ausgebildet, flexibel und hoch motiviert […]” (Bade 2010: 21).
Die Verfügbarkeit und Qualität der Statistiken über die Auswanderung von Hochqualifizierten bereiten, wie bereits im vorigen Kapiteln angedeutet, Schwierigkeiten, die genauen Auswanderungszahlen dieser Personengruppe zu erfassen. Nur durch wenige Möglichkeiten kann die Auswanderung festgehalten werden. Eine erste Möglichkeit bieten die Bevölkerungsregister, durch die Auswanderung bei der Abmeldung durch Behörden erfasst werden kann (vgl. Ette/Sauer 2010: 36f). Da es aber nicht in allen Auswanderungsfällen zu einer Abmeldung kommt, kann auch diese Methode als nicht sehr zuverlässig eingeschätzt werden. Eine andere Möglichkeit der Datenerfassung für die Auswanderung bieten die Grenzstatistiken, d.h. die Auswanderung wird direkt beim Grenzübertritt festgehalten (vgl. ebenda: 37– 38). Diese Methode verlangt allerdings einen hohen Aufwand bei einer relativ hohen räumlichen Mobilität, daher können auch durch diese Methode erfassten Zahlen keine Vollerhebung bzw. Repräsentativität darstellen (vgl. ebenda: 38). Eine weitere Methode für die Erfassung der Auswanderungszahlen greift prozessproduzierte Daten auf, die im Verwaltungswesen anfallen, wie z.B. Visavergabe, Rentenversicherung, Auslandsvermittlung der Arbeitsagentur (ZAV) (vgl. ebenda: 38ff). Über solche prozessproduzierte Daten verfügen auch DAAD und DFG, die besonders Wissenschaftler fördern. Hier können z.B. die Daten der im Ausland registrierten Deutschen, die gefördert werden, erfasst werden. Die aktuelle Situation der Auswanderung hochqualifizierter bzw. bildungserfolgreicher Deutscher, zu denen auch (Spät-)Aussiedler gehören (§ 116, GG), stellt die Studie von Ette/Sauer (2010) dar. Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Studie zeigt, dass die Hälfte der mobilen Deutschen, die sich im Ausland aufhalten, ein hohes Bildungs- bzw. Qualifikationsniveau besitzen und in höherstehenden Berufsgruppen als Führungskräfte o-
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der Wissenschaftler beschäftigt sind (vgl. Ette/Sauer 2010: 192). Im Sinne eines „Brain Drain´s“ bedeutet dies einen dauerhaften Verlust für Deutschland. Die Gründe für die Auswanderung der Hochqualifizierten werden in der wissenschaftlichen und politischen Debatte vor allem angesichts der Rückkehr von bildungserfolgreichen Migranten in ihre Herkunftsländer diskutiert. In Anlehnung an die TADS-Studie beleuchtet Aydin (2010) die wichtigsten Gründe der Rückkehr Hochqualifizierter türkischer Herkunft in die Türkei (vgl. Aydin 2010: 11ff). Demnach gelten als Rückkehrgründe der türkischstämmigen Migranten aus Deutschland in erster Linie die unvorteilhaften beruflichen Perspektiven in Deutschland, die durch negative Erfahrungen bei der Jobsuche oder in Bewerbungsgesprächen begleitet werden (vgl. ebenda: 11). Auch die „schlechte ökonomische Situation“ und „pessimistische Einschätzung“ der eigenen wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven können als Beweggründe für eine Rückkehr aus Deutschland betrachtet werden (vgl. ebenda). Zu dem zweitwichtigsten Motiv der Rückkehr zählt das fehlende Heimatgefühl bzw. die mangelnde Identifikation mit Deutschland (vgl. ebenda). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die Studie von Sievers et al. (2010). Demnach gelten Diskriminierungserfahrungen und Benachteiligungen in Deutschland als weitere Rückkehrgründe der bildungserfolgreichen türkischstämmigen Migranten (vgl. Sievers et al. 2010: 62-66). Außer solcher Push Faktoren spielen aber auch eine Reihe von Pull Faktoren eine wichtige Rolle für die Rückkehrentscheidung von Migranten. Zu nennen sind insbesondere die im Herkunftsland vorhandenen sozialen Netzwerke und das wirtschaftliche Wachstum des Herkunftslandes. So stellt Aydin (2010) fest, dass durch soziale Netzwerke (Fami– lienmitglieder, Freunde, Organisationen im Herkunftsland) ein leichterer Zugang zum Arbeitsmarkt im Herkunftsland geschaffen wird, beispielsweise durch die Informationsversorgung über die internen Stellenausschreibungen (vgl. Aydin 2010: 13). Hinzu kommen noch die Hilfe im Alltag und die emotionale Unterstützung bei Problemen und durch Migration bedingte Hürden. Die aktuelle Situation der Auswanderung Hochqualifizierter scheint aber zunehmend durch Brain Circulation gekennzeichnet zu sein, denn bei der Rückkehr von Hochqualifizierten geht es nicht um einen dauerhaften Prozess, sondern um einen temporären Wanderungsprozess: drei Viertel aller international mobilen Deutschen halten sich ausschließlich temporär
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im Ausland auf (vgl. Ette/Sauer 2010: 195). Dabei zeigt sich, dass nicht nur die zeitliche Dimension (Dauerhaftigkeit der Auswanderung aus Deutschland) ein wichtiger Aspekt darstellt, sondern auch das Bildungs- und Qualifikationsniveau von wieder nach Deutschland Zurückgekehrten. So liegt demnach das durchschnittliche Bildungsniveau, gemessen am Anteil der Personen mit einem Hochschulabschluss, unter den deutschen Rückwanderern sogar leicht höher als unter den Auswanderern (ebenda). Die Schlussfolgerung besteht darin, dass es die „Besten der Besten“ sind, die nach einem befristeten Aufenthalt im Ausland wieder nach Deutschland zurückkehren (vgl. ebenda). Diesen Trend der Transnationalität von mobilen Hochqualifizierten ist auch in empirischen Ergebnissen dieser Arbeit im höchsten Maße zu beobachten. 3.4.2 Mobilität von Studenten: Auslandstudienaufenthalte und Austausch Die Globalisierung von Wirtschaft und Handel, die Transnationalisierung der gesellschaftlichen Beziehungen und die Internationalisierung des Bildungssystems und der Arbeitsmärkte (vgl. Ette/Sauer 2010: 18) bringen völlig neue Migrationsformen mit sich, die mit räumlicher Mobilität von Menschen einhergeht. Zu nennen sind die Mobilität der Schüler und Studierenden, die im Rahmen ihrer Weiterbildung immer mehr Austausch– programme nutzen, um ihre späteren Karrierechancen zu verbessern und häufiger in transnationalen Bezügen leben (vgl. Jahr et al. 2001; Remhof 2008). Zwischen 2000 und 2005 betrug die Rate der ausländischen Studierenden in aller OECD Länder 50 Prozent (vgl. Han 2010: 107). Auch die Studienaufenthalte der deutschen Studierenden im Ausland, zu denen auch (Spät-)Aussiedler zählen, sind in den letzten zehn Jahren kontinuierlich gestiegen (vgl. ebenda: 108). Seit mehreren Jahren fördert die EU mit unterschiedlichen Austauschprogrammen die Mobilität der Studierenden, die im deutschen Hochschulsystem involviert sind (vgl. z.B. ERASMUS).19 Die Mobilitätsförderung der Studierenden in Deutschland kann vor allem auch auf die vielseitigen Angebote des DAAD20 bezogen werden. Aber auch Wissenschaftler, die
19 Vgl. z.B. http://ec.europa.eu/education/erasmus/doc920_en.htm. 20 Zur Homepage: http://www.daad.de.
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durch längere oder kürzere Aufenthalte zwecks ihrer Forschung in unterschiedlichen Ländern forschen und unterrichten wollen, profitieren im Rahmen von Forschungsstipendien von dieser Mobilitätsförderung. Auch für Schüler gibt es bereits zwischen der neunten und elften Klasse Austauschangebote, die Möglichkeiten für einen sprachlichen und kulturellen Austausch durch längere (bis zu einem Jahr) und kürzere Aufenthalte meistens in einer Gastfamilie bieten. Unter diesen vielfältigen Austauschprogrammen für Schüler und Studenten gibt es auch Möglichkeiten einer Sprachreise, die meistens durch einen kürzeren Aufenthalt im Gastland gekennzeichnet ist. Während in den vergangenen Jahren die beliebtesten Zielländer der deutschen Studierenden hauptsächlich im westeuropäischen Raum, wie Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden oder Österreich lagen (vgl. Remhof 2008: 20; Han 2010: 108), steigt heute die Zahl der deutschen Studierenden an, die sich für einen Studienaustausch in der Russischen Föderation entscheiden. Die Stiftung des Deutsch-Russischen Jugendaustauschs21 (DRJA) ist seit 2006 bundesweit die zentrale Koordinationsstelle für Schüler und den Studienaustausch mit Russland. Bisher haben durch diese Stiftung mehr als 80.000 Personen die Austauschmöglichkeiten zwischen Deutschland und Russland genutzt (vgl. DRJA). Darüber hinaus sind wichtige Kooperationspartner für Studierende, Praktikanten und Freiwillige, die einen Austausch mit Russland in Betracht ziehen, die Deutsche Jugend in Europa22 (DJO), der Deutsch-Russische Austausch e.V.23 (DRA) mit Hauptsitz in Berlin und St. Petersburg, sowie der DAAD. Aber auch die Zahl der Hochschulkooperationen zwischen deutschen und russischen Universitäten steigt in den letzten Jahren. Zu nennen ist insbesondere die Kooperation zwischen der Universität Bielefeld und St. Petersburg (ZDES),24 die als zentrale Anlaufstelle bei der Suche nach Interviewpartnern für die Dissertation diente. Durch ihre empirische Untersuchung heben Jahr et al. (2002) die Tatsache hervor, dass zwischen einem Auslandsaufenthalt zwecks Studium und der späteren Berufswahl bzw. Tätigkeit außerhalb Deutschlands ein Zu-
21 Zur Homepage: http://www.stiftung-drja.de. 22 Zur Homepage: http://www.djo.de. 23 Zur Homepage: http://www.austausch.org bzw. www.obmen.ru. 24 Zur Homepage: http://www.zdes.spb.ru.
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sammenhang besteht (vgl. Jahr et al. 2002: 48). Insbesondere die gut ausgebildeten, mobilen Absolventen der deutschen Hochschulen sind während ihrer späteren Berufstätigkeit international mobil (vgl. Remhof 2008: 21)25. Denn gerade diese Absolventen zeichnen sich gegenüber ihrer nicht mobilen Kommilitonen durch bessere Beherrschung der Fremdsprachen aus und haben durch die früheren Auslandsaufenthalte einen besseren Zugang zum internationalen Arbeitsmarkt (vgl. Jahr et al. 2002: 50). Diese Aussagen sind mit den empirischen Ergebnissen der Dissertation insofern anschlussfähig, da eine höhere Bildung und ein ausgeprägtes Karrierebewusstsein häufig den Grund eines transnationalen Lebensentwurfes bedingt und sozio-kulturelle Kompetenzen die Transnationalität zusätzlich fördern. Denn insbesondere die Studenten mit Auslandserfahrungen stellen eine stille Reserve von hochqualifizierten Arbeitskräften dar, auf deren Beitrag und Fähigkeiten die globalisierte Wirtschaft der Zukunft angewiesen sein wird (Han 2010: 109). Insgesamt ist auch davon auszugehen, dass „das Migrationsvolumen von Studierenden parallel zu der sich intensivierenden Globalisierung der Wirtschaft weiter zunehmen wird. […] “ (ebenda). 3.4.3 Auswanderung von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern in die GUS: Bilanz und Perspektiven Die International Organization for Migration (IOM) veröffentlichte im November 1997 einen Bericht über Wanderungsbewegungen zwischen und aus den GUS im Zeitraum 1989-1996. Zu Beginn des analysierten Zeitraums bewegte sich sowohl die Binnenwanderung in der Sowjetunion als auch die Auswanderung auf hohem Niveau. Bis Mitte der 1990er Jahre ging sowohl die Wanderung zwischen den GUS als auch die ins übrige Ausland wieder zurück. Hingegen stiegen die Auswanderungszahlen aus Deutschland in die GUS. So zeigt die Statistik, dass seit 2000 die jährlichen Fortzugszahlen in die GUS kontinuierlich gestiegen sind. Dabei finden die meisten Auswanderungen in die Russische Föderation statt (vgl. Abb. 9).
25 Im europäischen Vergleich liegt jedoch die Zahl der deutschen Absolventen, die später international tätig sind, niedriger (vgl. Remhof 2008: 21).
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Abbildung 9: Ein- und Auswanderungen: Russland 2000-2009 ϵϬ͘ϬϬϬ ϴϬ͘ϬϬϬ ϳϬ͘ϬϬϬ ϲϬ͘ϬϬϬ ϱϬ͘ϬϬϬ
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Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2010; eigene Darstellung
Während die Einwanderungszahlen seit 2000 bis heute aus der Russischen Föderation drastisch sinken, erreichen die Abwanderungszahlen aus Deutschland in die Russische Föderation 2008 den höchsten Punkt. Rund 16.399 Personen kehren im Jahr 2008 in die Russische Föderation zurück. Diese Zahl sinkt 2009 auf 15.455 Personen (vgl. Abb. 9). Ein ähnliches Bild ergibt sich auch bei Kasachstan. Zwar sind die Einwanderungszahlen im Vergleich mit den Abwanderungszahlen relativ hoch, aber die letzteren steigen kontinuierlich weiter an (vgl. Abb. 10).
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Abbildung 10: Wanderungen über die Grenzen Deutschlands ins Herkunftsland: Zuzüge und Fortzüge Kasachstan 2000-2009
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Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2010; eigene Darstellung
In beiden Darstellungen ist auch ersichtlich, dass die Zuwanderungszahlen seit 2005 um das Doppelte gesunken sind. Dies hängt einerseits mit dem wirtschaftlichen Wachstum in Russland und Kasachstan in den letzten Jahren zusammen, andererseits spielt hier das neue deutsche Zuwanderungsgesetz von 2005 und die damit verbundenen Hürden für die Zuwanderung eine große Rolle. Insgesamt lässt sich dieser Trend auch für die restliche GUS feststellen. Beobachtet man in diesem Zusammenhang die Auswanderung deutscher Staatsangehöriger (unter die auch (Spät-)Aussiedler summiert sind) in die Russische Föderation und Kasachstan, so sprechen die Zahlen vom Statistischen Bundesamt von 3.299 registrierten Auswanderungen im Jahr 2008 für Russland26 und von 772 Auswanderungen im
26 Diese Zahl lag im Jahr 2000 bei 1.286 registrierten Auswanderungen der deutschen Staatsangehörigen.
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Jahr 2008 für Kasachstan27 (vgl. Statistisches Bundesamt 2010). Die Darlegung der Graphik soll eine Übersicht schaffen.28
Abbildung 11: Wanderungen über die Grenzen Deutschlands und Herkunftsland: Fortzüge von Deutschland nach Russland und Kasachstan 1989-2009
Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2010; eigene Darstellung
Inwieweit es sich bei der Auswanderung in die GUS um Hochqualifizierte oder Bildungserfolgreiche handelt, lässt die amtliche Statistik nicht nachvollziehen, denn wie bereits angedeutet, werden keine Unterscheidungen zwischen Qualifikationen der Auswanderer vorgenommen. Deutlich wird aber, dass seit Ende der 1990er Jahre und insbesondere seit Inkrafttreten des neuen deutschen Zuwanderungsgesetzes von 2005 die Einwanderungszahl von (Spät-)Aussiedlern nach Deutschland drastisch sinkt. Während im Jahr 2005 noch 35.396 Personen aus der ehemaligen Sowjetunion in
27 Diese Zahl lag im Jahr 2000 bei 474 registrierten Auswanderungen der deutschen Staatsangehörigen. 28 Diese Zahlen sind wegen fehlerhafter Verbuchungen, die auf unterschiedliche melderechtliche Regelungen in den Ländern zurückzuführen sind, eventuell überhöht.
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Deutschland aufgenommen wurden, reduzierte sich diese Zahl 2010 sogar auf 2.350 Personen (vgl. Bundesverwaltungsamt 2010).29 Dagegen sprechen einige Autoren und Beratungsstellen in Deutschland von steigenden Rückkehrzahlen der (Spät-)Aussiedler in ihre Herkunftsländer (vgl. dazu Eickhoff 2007).30 Im Zeitraum von 2000 bis 2006 sollen 13.661 (Spät-) Aussiedler zurückgekehrt sein (vgl. Schmid 2009: 77).31 Unpräzise wird die Dokumentation solcher Zahlen allerdings aus dem Grund der mehrfachen statistischen Lücken, die einerseits generell die Rückkehr der (Spät-) Aussiedler nicht erfassen und andererseits transnationale Migrationsbewegungen nicht in Betracht ziehen.32
29 Jahresstatistik 2010. (Spät-)Aussiedler und ihre Angehörigen. http://www.bva.bund.de/cln_180/DE/Aufgaben/Abt__III/Spaetaussiedler/statisti k/Jahre/J__Jahresstatistik2010,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/J_J ahresstatistik2010.pdf . Aufruf: 10.02.2012. 30 „Beratungsstellen für Aussiedler schätzen, dass in Deutschland bereits einige tausend Russlanddeutsche in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt sind. Grund ist die verbesserte soziale und wirtschaftliche Lage in Russland und Kasachstan.[…]“
Eickhoff
2007,
in:
die
Welt
Online,
09.12.2007,
http://www.welt.de/wams_print/article1443595/Und-ploetzlich-lockt-Russlandwieder.html). Aufruf: 13.07.2010. 31 Vgl. dazu auch Bundeszentrale für politische Bildung: Die soziale Situation in Deutschland.
Wanderungen
über
die
Grenze
Deutschlands.
http://www.bpb.de/wissen/H71DPF.html. Aufruf: 2009. 32 Eine statistische Bestimmung der Rückkehrzahlen von (Spät-)Aussiedlern stellt sich als besonders schwierig heraus, da (Spät-)Aussiedler aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit und Passnationalität in den Wanderungsstatistiken unter der Gruppe der Deutschen erfasst werden. Auch deshalb ist die in der wissenschaftlichen Literatur erwähnte Rückkehrzahl von 13.661 (Spät-)Aussiedlern im Zeitraum von 2000 bis 2006 umstritten. Eine weitere statistische Unschärfe bei der Interpretation der Abwanderungszahlen besteht aber auch darin, dass die amtlichen Statistiken transnationale Wanderungsbewegungen nicht berücksichtigen. Personen, die zwischen Deutschland und Russland pendeln (z.B. Rentner, Geschäftsleute) und sich nicht ordnungsgemäß an- und abmelden, werden z.B. hier nicht erfasst. Andererseits werden Personen, die sich durch diese transnationalen Bewegungen mehrmals an- und abmelden, von den amtlichen Statistiken mehrmals erfasst. Beim Fortzug werden Abmeldescheine zur Erfassung heran-
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Durch einen Rahmenkooperationsvertrag zwischen dem Teilprojekt A8 (SFB600) und AWO Heimatgarten wurde es möglich, zu einer ersten Bestandsaufnahme der Rückkehr der (Spät-)Aussiedler, darunter auch der Bildungserfolgreichen, zu gelangen. Zu den Zielgruppen der Rückkehrförderung von Heimatgarten Karlsruhe gehören rückkehrwillige, durch die Fokussierung des Programms aber insbesondere bedürftige, behinderte, traumatisierte oder alte Personen, die zudem häufig einer besonders individuellen Betreuung vor, während und nach der Rückkehr bedürfen. Die Fallauswahl lehrt deshalb zwar einiges über unterschiedliche Rückkehrmotive, sie ist aber wegen der Fokussierung auf bedürftige Fälle nicht repräsentativ. Diese Bestandsaufnahme soll zum besseren Verständnis des Phänomens der Rückkehr junger (Spät-)Aussiedler dienen und zugleich einer weiteren Interpretation der empirischen Ergebnisse, die noch ausführlicher diskutiert werden. Die Forschungskooperation ermöglichte eine Totalauswertung von 259 Datensätzen33 rückkehrwilliger (Spät-)Aussiedlerfälle, darunter 107 Briefe und 152 halbstandardisierte Fragebögen34. Auf Grundlage des Daten– materials wurden im Zeitraum 2007-2010 von Heimatgarten 28 junge Antragssteller im Alter zwischen 18 und 35 (elf Prozent des Gesamtsamples) betreut, wobei die Zahl der jungen, männlichen Rückkehrwilligen mit 15 Personen den jungen weiblichen Rückkehrwilligen mit 13 Personen leicht überschreitet. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die meisten jungen rückkehrwilligen verheiratet sind, d.h. auch junge Ehepartner und minder-
gezogen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind bzw. müssen die erfassten Fortzüge keine endgültigen Fortzüge sein. Es wird auch nicht die Person erfasst, die umzieht, sondern der Umzug selbst (Wanderungsfall) (Schriftverkehr mit dem Statistischen Bundesamt, Wiesbaden. Stand: 02.06.2009). 33 Die Datenauswertung erfolgte von dem Teilprojekt A8. Hier gelten die Datenschutzbestimmungen. 34 Dabei ist zu beachten, dass die Fragebögen einen quantitativen Charakter durch vorgegebene Antworten von AWO heimatgarten tragen während die Briefe durch umfassende Erzählungen von Betroffenen qualitative Aussagen liefern. Wichtig ist auch darauf hinzuweisen, dass es sowohl bei Briefen als auch bei Fragebögen um einzelne Fälle von rückkehrwilligen (Spät-)Aussiedlern handelt, wobei ein Fall eine ganze Familie beinhalten kann (z.B. 4-5 Personen).
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jährige Kinder35 sind in die Rückkehrsituation inbegriffen. Das Qualifika– tionsniveau der Rückkehrwilligen ist folgendermaßen verteilt (vgl. Abb. 12):
Abbildung 12: Bildungs-/Qualifikationsniveau junger Rückkehrwilligen
Quelle: AWO Heimatgarten: eigene Berechnung und Darstellung
Aus der folgenden Darstellung wird ersichtlich, dass die Zahl der Bildungserfolgreichen insgesamt dominiert, wobei die Zahl der Personen mit Hochschul- bzw. Universitätsabschluss (drei Personen) im Gegensatz zu Personen mit einer Berufs-/Fachausbildung (elf Personen) etwas unterrepräsentiert ist. Dieses Qualifikationsniveau garantiert allerdings für viele (Spät-) Aussiedler nicht unbedingt einen Berufserfolg auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Denn nach der Auswertung der beruflichen Situation der rückkehrwilligen (Spät-)Aussiedler lässt sich feststellen, dass die meisten jungen Antragsteller, darunter auch die Bildungserfolgreichen, zum Zeitpunkt der Erhebung als arbeitssuchend in Deutschland registriert waren (vgl. Abb.13):
35 Anhand der Datenlage gibt es hier insgesamt 31 minderjährige Kinder unter 18 Jahren, die mit ihren Eltern in die Herkunftsländer zurückkehren.
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Abbildung 13: Ausgeübter Beruf in Deutschland
Quelle: AWO Heimatgarten: eigene Berechnung und Darstellung
Die berufliche Situation von jungen Rückkehrwilligen spiegelt sich auch bei der Motivlage der Rückkehr wider, die überwiegend ökonomisch bedingt ist. Zu den wichtigsten Gründen der Rückkehr zählt die Arbeitslosigkeit in Deutschland, aber auch die besseren beruflichen Chancen im Herkunftsland. Die meisten jungen Rückkehrwilligen wünschen sich nach Ihrer Rückkehr eine Beschäftigung mit eigener beruflicher Qualifikation. Die folgenden Briefausschnitte beleuchten diese Motivlage näher: Briefausschnitt 1: „Ich bin momentan arbeitslos. Es gibt keine Arbeit und es wird auch keine geben. Meine Frau ist 32 und ist im Erziehungsurlaub. Wir haben drei Kinder. Das Geld reicht nicht. Wir haben alles abgewogen, alles ausführlich diskutiert und besprochen und sind zu einer gemeinsamen Meinung gekommen: es ist notwendig nach Hause zurückzukehren!“ (Mann, 31Jahre alt).
Briefausschnitt 2: „Ehrlich gesagt haben wir lange über die Ausreise nach Deutschland nachgedacht. Es war schwierig alles zurückzulassen, was wir selbst erreicht hatten. Aber trotzdem
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sind wir mitgekommen. Wir haben über das Leben in Deutschland gar nichts gewusst. Die Verwandten von meiner Mutter haben nicht oft angerufen und auf die Fragen haben die nur geantwortet: ,Habt keine Angst, es wird nicht schlimmer. Ihr werdet hier nicht vom Hunger sterben. Wer arbeiten will, findet immer eine Arbeit’. Das mit der Arbeit stimmt aber nicht für alle. Mit meinen 33 Jahren auf Staatshilfe angewiesen zu sein und ohne Erfolg Arbeit zu suchen, möchte ich nicht mehr“ (Frau, 33 Jahre alt).
Als Rückkehrland bevorzugen die meisten jungen rückkehrwilligen (Spät-) Aussiedler Russland. Dies ist mit dem wirtschaftlichen Wachstum Russlands in den letzten 10 Jahren zu begründen. Aber auch durch den Anwerbeboom von jungen Fach- und Führungskräften seitens der Herkunftsländer.36
36 So existiert seit 2007 in der Russischen Föderation das Staatliche Programm zur Förderung der freiwilligen Umsiedlung in die Russische Föderation von im Ausland lebenden Landsleuten. Mit einer solchen Rückkehrförderung versucht Russland seine Migration zu regulieren und gegen den demographischen Wandel im Lande zu kämpfen und die soziale und wirtschaftliche Entwicklung des
Landes
durch
mehr
Arbeitskräfte
zu
beeinflussen
(vgl.
FMS,
http://www.fms.gov.ru/programs/fmsuds/index.php. Aufruf: 07.05.2010). Seit 2008 wirbt Kasachstan ebenfalls mit einem eigenen Programm „Nurly Kosch“ gegen die demographischen sowie Migrationsprobleme im Land. Die „Besiedlung“ der im Ausland lebenden ehemaligen kasachischen und sowjetischen Bürgern erfolgt unter der Berücksichtigung der Wirtschaftsentwicklung und dem Arbeitskräftebedarf. Vgl.
http://online.prg.kz/doc/lawyer/?doc_id=30365313&sub=SUB0#SUB0.
Aufruf: 01.03.2010).
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Abbildung 14: Herkunft-Rückkehrlandverhältnis von jungen (Spät-)Aussiedlern
Quelle: AWO Heimatgarten: eigene Berechnung und Darstellung
3.5 Z USAMMENFASSUNG Ziel dieses Kapitels war, anhand eines kurzen geschichtlichen Exkurses und der aktuellen statistischen Lage der Wanderungsbewegungen in Deutschland die Situation der Ein- und Auswanderung von (Spät-)Aussiedlern seit Ende der 1980er – Anfang der 1990er Jahren zu dokumentieren. Im Rahmen dessen sollte auch die aktuelle Lage der Migrationsbewegungen von bildungserfolgreichen Deutschen, unter die auch (Spät-)Aussiedler zählen, durch empirische Studien und die Auswertung der Dokumente (Heimatgarten) darzustellen. Die in den ersten Abschnitten dieses Kapitels dargestellten Zahlen und Graphiken zeigen, dass die größte Einwanderungswelle der (Spät-) Aussiedler bereits in den 1990er Jahren erfolgte, wobei die meisten (Spät-) Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion einreisten. Aufgrund der migrationspolitischen Entwicklung und folglich aus unterschiedlichen gesetzlichen und rechtlichen Gründen in Deutschland und in den Herkunftsländern
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ging die Zahl der (Spät-)Aussiedler seit dem Jahr 2000, insbesondere nach dem Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes seit dem Jahr 2005, drastisch zurück. Doch die Frage, ob dieser Rückgang mit einer Rückwanderung der (Spät-)Aussiedler in ihre ursprünglichen Herkunfts-gebiete zu begründen ist, bleibt wegen der statistischen Unschärfe und des besonderen Status der (Spät-)Aussiedler offen. Demzufolge können rückkehrwillige (Spät-)Aussiedler auch keine Rückkehrunterstützung in Deutschland im Gegensatz zu den anderen rückkehrwilligen Migranten (Türken, Albaner, Afrikaner etc.) erhalten,37 was zusätzlich die Situation der Ermittlung der Rückkehrzahlen erschwert. Fest steht, dass nicht von einer Massenrückkehr die Rede sein kann. Dies belegt auch die Bestandsaufnahme anhand der Briefe und Fragebögen von AWO Heimatgarten. Auch ist es nicht klar bzw. statistisch darstellbar, inwieweit es sich bei der Rückkehr bzw. Weiterwanderung dieser „besonderen Migrantengruppe“ um einen Endpunkt im Sinne der klassischen Migrationstheorien handelt.
37 Ausnahme AWO Heimatgarten Baden-Württemberg.
4. Methodik und Forschungsdesign: Qualitative ethnographische Forschung und Grounded Theory
Die Untersuchung ist methodologisch der qualitativen ethnographischen Forschung zuzuordnen. Durch die Darstellung der empirischen Ergebnisse in dieser Studie wird nicht erzielt, quantifizierbare und allgemeine Aussagen über die Grundgesamtheit zu erzeugen, sondern den transnationalen Lebensentwurf junger, bildungserfolgreicher (Spät-)Aussiedler, ihre multiplen Identitäts- und transnationalen Netzwerkstrukturen sowie ihre Verortung zwischen zwei Kulturen und ihr Heimatverständnis in der gesamter Breite zu erfassen, und vor allem der Tiefe dieser Phänomene näher zu kommen. In dieser Studie handelt es sich um ein neues Forschungsfeld, das zunächst explorativ erschlossen werden musste. Für diese Phase der Erschließung scheint die Methode der Grounded Theory von Anselm Strauss und Barney Glasner (1967) am geeignetsten zu sein. Wie die Definition von Grounded Theory zeigt, steht am Anfang keine zu verifizierende Theorie, sondern ein Untersuchungsprozess, der eine auf empirische Daten und Einsichten beruhende eigene Theorie herausarbeitet, die für den Untersuchungsbereich relevant ist. „Eine Grounded Theory (...) eine gegenstandsverankerte Theorie [ist], die induktiv aus der Untersuchung des Phänomens abgeleitet wird, welches sie abbildet. Sie wird durch systematisches Erheben und Analysieren von Daten, die sich auf das untersuchte Phänomen beziehen, entdeckt, ausgearbeitet und vorläufig bestätigt.
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Folglich stehen Datensammlungen, Analyse und die Theorie in einer wechselseitigen Beziehung zueinander[...]“ (Strauss/Corbin 1996: 7).
Diese Theorie wird den empirischen Situationen angepasst und kann somit aussagekräftige wissenschaftliche Erklärungen und Interpretationen abliefern. Lamnek (2005) zufolge, sind die herkömmlichen, auf logischen Betrachtungen basierenden Theorien – wie etwa bei Barton und Lazarsfeld (1979) – nicht in der Lage, hinreichende Erklärungen zu liefern (vgl. Lamnek 2005: 102). Grounded Theory Methodik (GTM) hingegen deckt das Spektrum vom ersten Untersuchungsentwurf bis zum Erstellen des Ergebnisberichts ab. Die Forschung trägt somit einen offenen Charakter und wird durch die sensibilisierten Konzepte geleitet. Dieses Prinzip ermöglicht dem Forscher seine Forschungsperspektive im Laufe der Zeit zu präzisieren und die wichtigsten Fragen für die weitere Forschung zu selektieren. „[…] Datensammlung und Datenanalyse erfolgen gleichzeitig, da die Datensammlung die Hypothesenbildung begleitet. Man sammelt nur die Daten, die zur Überprüfung der Hypothese geeignet scheinen, wobei sich die Hypothesen herausbilden […]“ (Lamnek 2005: 117).
Im Gegensatz zu anderen methodischen Vorgehensweisen in der empirischen Sozialforschung, wie dies z.B. bei Verfahren der Hypothesenüberprüfung der Fall ist, soll es bei Grounded Theory Methodik, trotz des Idealpostulats der „theoretischen Sättigung“ (vgl. Breuer 2009: 58), nicht darum gehen, einen erheblich großen Umfang von Informanten (Untersuchungsobjekten) zu befragen, sondern vor allem darum, Theorien zu entwickeln und auszudifferenzieren (vgl. ebenda). Unter anderem auch aus diesem Grund eignet sich die Grounded Theory Methodik besser für die Untersuchung, da der Umfang des Gesamtsamples relativ klein ausfällt (N=20). Dies hängt damit zusammen, dass das Forschen im Stil von Grounded Theory einen gewissen Zeit- und Ressourcenaufwand von dem Forscher während der Datenerhebung und Auswertung verlangt. Eine Zufallsstichprobe ist bei dieser Methodik nur beschränkt geeignet, weil Zufallsstichproben erst dann sinnvoll gezogen werden können, wenn die Grundgesamtheit der Untersuchung schon vorher zeitlich, örtlich und inhaltlich abgegrenzt ist. Bei
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Grounded Theory Methodik werden die Informanten (Untersuchungsobjekte) eher nach ihrer Relevanz für den Theoriebildungsprozess ausgewählt: „Es werden solche Fälle, Variationen und Kontraste gesucht, die das Wissen über Facetten des Untersuchungsgegenstandes bzw. fokussierter Konzepte voraussichtlich erweitern und anreichen oder auch absichern und verdichten können“ (Breuer 2009: 58).
Um einen systematischen Zugriff auf Daten in qualitativen Untersuchungen zu gewinnen, müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein: die Vorstellung über den Untersuchungsgegenstand und die Techniken der jeweiligen Untersuchung. In dieser Studie vollzieht sich der Prozess der Datenerhebung und –auswertung durch einen Methodenmix (vgl. Creswell et al. 2010). Begleitend durch qualitative ethnographische Methoden, wie qualitative Interviews, Kurzfragebögen und Postskripts zwecks Hintergrundinformationen, egozentrierte Netzwerkerhebungen, Alltagsgespräche und Feldnotizen werden in Anlehnung der Datenauswertungs- und Analysemethode von Grounded Theory Kategorien am empirischen Material entwickelt und für die Generierung der Hauptthesen in den Analyseprozess herangezogen.1 Diese unterschiedlichen Erhebungstechniken ermöglichen qualitative Datensicherung und Vermeidung systematischer Fehler im Analyseprozess. Eine ausführlichere Beschreibung zu Interviewformen und –situationen erfolgt in den nachfolgenden Kapiteln.2
1
Durch GTM ist „der Forscher einerseits an subjektiven Konzeptualisierungen der Akteure unter ihren „natürlich“ lebensweltlichen Umständen interessiert und schätzt deren Begriffsbildungs- und Theoretisierungsleistungen Andererseits nimmt er auf dieser Grundlage eine Kategorien- und Modellbildung vor, die über die lebensweltlichen Selbst-/Verständnisse, die Denk-, Sortierungs- und Interpretationswelten der Feldmitglieder hinausgeht“ (Breuer 2009: 51).
2
Den Überblick zum gesamten Forschungsprozess siehe im Anhang: Forschungsprozess nach Grounded Theory (verändert nach Badawia 2002, S. 56– 57)
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4.1 D IE U NTERSUCHUNGSGRUPPE DIE F ELDFORSCHUNG
UND
Die Ergebnisse dieser Studie stellen die qualitativen empirischen Untersuchungen dar, die im Zeitraum von Oktober 2009 bis August 2011 unter jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern in Deutschland und in Russland durchgeführt wurden. Das Gesamtsample umfasst junge Erwachsene im Alter zwischen 22-35 (vgl. auch Kapitel 5.1) aus der ehemaligen Sowjetunion, die in Deutschland aufgewachsen und zum Teil sozialisiert sind, das deutsche Bildungssystem (Schule und Universität) durchlaufen haben und sich als Mitglieder der deutschen Gesellschaft verstehen. Jedoch durch ihr vielfältiges sozio-kulturelles Kapital, das sie in ihren Herkunftsländern oder durch die Erziehung der Eltern erworben haben oder das sie sich auch durch Selbstkultivierung und Selbstarbeit angeeignet haben, leben sie in transnationalen Bezügen und sehen zum Zeitpunkt der Befragung in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt. Zu ihrem Herkunftskulturraum (Sowjetunion) haben sie durch die gemeinsame Sprache und Kultur einen besonderen Bezug. Dementsprechend gilt auch dieser Kulturraum für alle als möglicher und sogar von manchen stark gewünschter Arbeits- und Aufenthaltsort mit der Option, jederzeit wieder nach Deutschland zurückkommen zu dürfen oder im Idealfall zwischen Deutschland und der Herkunftsregion in häufigem Turnus zu pendeln. Den transnationalen Charakter ihres Lebensentwurfes betonen sie auch bei der Beschreibung ihrer Zugehörigkeit. Die Verbindung zwischen allen Interviewpersonen besteht darin, dass sie durch ihre Migration nach Deutschland als Generation 1.5 (Kinder oder Teenager) ähnliche Biographien vorweisen (vgl. auch Kapitel 5.1). Ihre Vorfahren sind Deutsche, die unter Katharina der Großen nach Russland ausgewandert sind und laut der Interviewpartner während des Zweiten Weltkrieges nach Sibirien oder in den asiatischen Teil der ehemaligen Sowjetunion (z.B. Kasachstan) deportiert wurden und unter den stalinistischen Repressionen in der Nachkriegszeit gelitten haben. Diese pauschale Erzählweise der Interviewpartner soll aber nicht für alle ethnische Deutsche in Russland gelten. Auch im Interviewkontext wird sichtbar, wie widersprüchlich manche Aussagen getroffen werden. Während nur ein kleiner Teil der Interviewpartner die individuelle Familiengeschichte wirklich kennt, ist für die anderen die Pauschalisierung der „Russlanddeutschen“ Geschichte mit
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Deportationen und Repressionen die eigene Familiengeschichte. Manche stellen während des Interviews erst fest, dass sie die genauen Hintergründe der eigenen Familiengeschichte doch nicht kennen. Nichtsdestotrotz identifizieren sich die Interviewpartner stark mit der Geschichte der „Deutschen in der Sowjetunion“, auch wenn sie selbst diese „Zeiten“ nicht erlebt haben. Kaum ein Interview verläuft ohne ein geschichtliches Kapitel der Vorfahren, in dem die Interviewpartner auch die Diskriminierungserfahrungen ihrer Großeltern und teilweise ihrer Eltern als Deutsche in der Sowjetunion erwähnen. Mindestens ein Elternteil von ihnen gehört also dieser Geschichte an (vgl. dazu Familienstruktur im Kapitel 5.1). Während die Großeltern und Eltern meiner Interviewpartner in ihrem Herkunftsland ein starkes „Wir-Gefühl als Deutsche“ bewahren (vgl. auch Schönhuth 2006: 368), kann dieses Zugehörigkeitsgefühl bei den Interviewpartnern (mit Ausnahme von drei Personen) weder vor der Migration nach Deutschland noch in ihrer Integrationsphase in Deutschland bestätigt werden. Als weiteres gemeinsames Merkmal aller Interviewpersonen kann auch ihr Bildungserfolg bzw. ihre Bildungsqualifikation angesehen werden (vgl. Abb. 19). Demzufolge werden sie als bildungserfolgreiche (Spät-) Aussiedler definiert. Der Begriff „hochqualifiziert“ wird wegen der uneinheitlichen Verwendung in der wissenschaftlichen Diskussion aufgrund seiner Komplexität nicht herangezogen. Denn bei dem Begriff der „Hochqualifizierten“ bleibt unklar, ob es um rein formale Qualifikationen, wie etwa Zeugnisse, geht oder ob tatsächliche Fähigkeiten, wie besondere Erfahrung in Schlüsselpositionen von Unternehmen/Branchen als Zuordnungskriterium genügt (vgl. Aydin 2010: 3). Der Gesetzgeber führt im Aufenthaltsgesetz eine Definition an, die ihrerseits Termini behandelt, die weiterführender Klärung bedürfen. So erkennt das Aufenthaltsgesetz drei Gruppen von Menschen als hochqualifiziert an (§ 19 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz):3 1. Wissenschaftler mit besonderen fachlichen Kenntnissen, 2. Lehrpersonen oder wissenschaftliche Mitarbeiter in herausgehobener Funktion
3
Vgl. dazu Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von
Ausländern
im
Bundesgebiet
(Aufenthaltsgesetz.-.AufenthG),
http://www.aufenthaltstitel.de/aufenthaltsg.html#19. Aufruf: 15.06.2012.
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3. Spezialisten und leitende Angestellte mit besonderer Berufserfahrung, die mindestens ein Gehalt in Höhe der Beitragsbemessungsgrenze der allgemeinen Rentenversicherung erhalten. Diese Definition klärt allerdings nicht was man genau unter „besondere(n) fachliche(n) Kenntnisse(n)“, einer „herausgehobene(n) Funktion“ oder einer „besondere(n) Berufserfahrung“ verstehen kann. Da die Interviewpersonen zum Zeitpunkt der Interviews ihr Studium zum Teil noch nicht beendet hatten und in einigen Fällen noch eine weitere Bildungsqualifika– tion (Masterstudium oder Promotion) anstreben wollten, erwies sich der Begriff „Hochqualifiziert“ als schwierig für die Beschreibung der Gesamtgruppe. Aufgrund des erreichten Bildungserfolges und der angeeigneten Bildungs- und Berufsqualifikationen wird die Untersuchungsgruppe daher mit dem treffenderen Begriff „bildungserfolgreich“ beschrieben. Im Laufe der Untersuchung stellte sich heraus, dass gerade bei bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern die Bereitschaft zur temporären Rückkehr in ihren Herkunftskulturraum zwecks Weiterbildungsabsichten und Karriereplanung gegeben ist. Transnationalität bzw. transnationale Migrationsbewegungen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland werden bei der Untersuchungsgruppe zusätzlich durch das in beiden Ländern erworbene sprachlich-kulturelle und soziale Kapital besonders motiviert und gefördert.4 Auch wenn die Untersuchungsgruppe in mehrfacher Hinsicht Gemeinsamkeiten aufweist, bleibt trotzdem festzuhalten, dass die Lebensverläufe, insbesondere die Entscheidung zu einem transnationalen Lebensentwurf und der Weg dorthin, sich für jeden Einzelnen sehr unterschiedlich gestalten. Zu berücksichtigen ist dabei die Familienstruktur und die Migrationsgeschichte der Familie (Ausreisemotive, Entscheidung zur Migration), die
4
Zu beachten ist auch die Annahme, dass im Vergleich mit anderen jungen Migrantengruppen, wie türkischen, afrikanischen oder spanischen, die Gruppe junger (Spät-)Aussiedler erfolgreicher in ihrer schulischen oder auch universitären Qualifikation ist und eine größere Zahl von höheren Schul- und Hochschulabschlüssen verzeichnen kann (vgl. Berlin Institut 2009).
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zum einen den Lebensentwurf der Interviewpartner und zum anderen den weiteren Ablauf ihrer Identitätsbildung beeinflussen.5 Die Interviewpartner stammen aus ganz Deutschland. So konnten mit der Unterstützung von ehemaligen DAAD6 Lektoren, vom DeutschRussischen Austausch e.V. in Berlin7 und zum größten Teil mithilfe des Schneeballsystems (durch Vermittlung der bereits Interviewten) die Kontakte zu den Interviewpartnern hergestellt werden. Darüber hinaus wurden durch Internetforen, wie z.B. Junge Osteuropa Experten,8 weitere Interviewpartner, vor allem für die Feldforschung in Russland (St. Petersburg) gewonnen. Um die Plausibilität der im Forschungsprozess in Deutschland gewonnenen Hypothesen (vgl. Grounded Theory Methodik) zu überprüfen, war es sinnvoll, die Forschung sowohl in Deutschland als auch in Russland durchzuführen. Dabei sollte beobachtet werden, wie die individuelle temporäre Rückkehr in den Herkunftskulturraum erfolgt, wie dies von den Interviewpartnern subjektiv wahrgenommen wird, durch welche Gefühle (Heimatgefühle) ihr Aufenthalt in der Herkunftsregion begleitet wird und wie sich ihre Reintegration in der alten, neuen Heimat gestaltet. Ein wichtiges Ziel der ethnographischen Forschung mit Grounded Theory Methodik ist, dem unbekannten Untersuchungsobjekt möglichst „näher“ zu kommen und dies in allen Facetten zu beschreiben und zu interpretieren. Somit ermöglichte die Feldforschung in St. Petersburg das Untersuchungsobjekt nicht nur im Kontext Deutschland, sondern auch in einem anderen kulturellen Kontext in Russland, näher zu beobachten, in
5
Auch Rosenthal (2011) geht davon aus, dass die interviewten Jugendlichen (Spät-)Aussiedler in ihrer Untersuchung durch die unterschiedlichen Formen des Familiendialogs und unterschiedlichen Erwartungen der Familie hinsichtlich der Zugehörigkeitskonstruktionen beeinflusst werden und somit unterschiedliche Formen der Zugehörigkeiten konstruieren (vgl. Rosenthal 2011: 16-22).
6
Für die Unterstützung bei der Suche nach Kontakten von Studierenden mit (Spät-)Aussiedlerhintergrund danke ich insbesondere meinem Kollegen Dr. Markus Kaiser.
7
Besonders danke ich für diese Unterstützung Herrn Stefan Melle, dem Geschäftsführer
des
Deutsch-Russischen
http://www.austausch.org/ . 8
Homepage: www.joe-list.de.
Austausches
e.V.
Homepage:
96
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dem nicht nur Interviews mit temporär „rückkehrenden“ bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern geführt wurden, sondern auch mit „dagebliebenen“9 Russlanddeutschen (ältere und jüngere Personen), Experten von verschiedenen „russlanddeutschen“ Organisationen, Vereinen, Begegnungszentren für „Deutsche in Russland“.10 Dieser Aspekt der Feldforschung konnte in den Theoriebildungsprozess (Theoriegenerierung) einbezogen werden und ermöglichte, den Untersuchungsgegenstand aus unterschiedlicher Perspektive und in diversen Kontexten zu interpretieren. Im Forschungsprozess in Deutschland stellte sich heraus, dass besonders viele junge, mobile, engagierte (Spät-)Aussiedler für ihren temporären Aufenthalt (Karriere, Weiterbildung, Austausch etc.) gerade St. Petersburg in Erwägung ziehen. Dafür sind mehrere Faktoren verantwortlich: erstens ist die geographische Entfernung zu Europa nicht so groß wie in anderen russischen Städten (Novosibirsk, Kazan, Moskau u.a.). Zweitens bietet St. Petersburg als Tor nach Europa und kulturelle Hauptstadt Russlands gerade für innovative junge Geschäftsleute und den Bildungsnachwuchs viele Möglichkeiten der Entfaltung sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch im Bildungswesen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist aber auch die kulturelle Nähe zu Europa - besonders zu Deutschland gefolgt durch den geschichtlichen Hintergrund von St. Petersburg. Zu den Hauptforschungsorten in Deutschland gehören das Rhein-Main Gebiet, Berlin und Bremen. Hier sind insbesondere die Universitäten zu erwähnen, in denen die Interviewpartner studiert haben oder sich noch im Studium befinden. Es besteht eine aktive Kooperation zwischen diesen Universitäten und zwischen den Universitäten in Russland, besonders zu St. Petersburg und Moskau. In diesem Zusammenhang sind die Universität Bielefeld (Zentrum für Deutschland und Europastudien, die eng mit der
9
Der Begriff „Dagebliebene“ wird in unserem gesamten Projektkontext für diejenigen Personen verwendet, die als ethnische Deutsche in ihren Herkunftsorten (Russland, Kasachstan etc.) geblieben sind und den Schritt zur Migration nicht gemacht haben. Somit gelten sie als „dageblieben“, also im Herkunftsland verbliebene „Russlanddeutsche“. Diese bezeichnen sich wiederum als „Deutsche“.
10 Besonders erwähnenswert in diesem Kontext ist die Stiftung des DeutschRussische Begegnungszentrums an der Petrikirche in St. Petersburg. Homepage: http://www.drb.ru/de.
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staatlichen Universität in St. Petersburg-ZDES kooperiert)11 und die Universität Bremen (Integrierte Europastudien-IES gemeinsam mit Jean Monet Centrum für Europastudien-CEuS; Forschungsstelle Osteuropa-FOE)12 zu erwähnen.
4.2 D ATENERHEBUNG
UND
D ATENERFASSUNG
4.2.1 Qualitative Interviews: Episodische und fokussierte Interviews Insgesamt wurden 20 leitfadengestützte Hauptinterviews und sieben weitere Vertiefungsinterviews mit den Interviewpartnern in die Datenanalyse einbezogen. Die Interviewlänge variiert je nach Interviewsituation und Forschungsphase. Dabei kann für die Hauptinterviews eine zeitliche Dauer von mindestens 1 Std. bis 2,5 Stunden festgestellt werden und für die Vertiefungsinterviews zwischen 1/2-1 Std. Um die Rolle der transnationalen sozialen Netzwerke in zirkulären Migrationsprozessen zu erfassen, wurde nach den qualitativen Interviews mit dem Probanden ein computergestütztes egozentriertes Netzwerkbild mit Hilfe der Software VennMaker13 erstellt (vgl. Kapitel 4.2.3). Der Leitfaden für die Hauptinterviews wurde anhand von Probeinterviews in der ersten Forschungsphase entwickelt und im Laufe des Forschungsprozesses anhand von weiteren Interviews laufend aktualisiert. Elf große Blöcke wurden in den Hauptinterviews thematisch behandelt (vgl. Anhang II). Für die Durchführung der Hauptinterviews habe ich mich für das episodische Interview (Flick 1995) entschieden, das vor allem darauf zielt, dem Subjekt „berichtsbezogen zu ermöglichen, Erfahrungen in allgemeinerer, vergleichender etc. Form darzustellen und gleichzeitig die entsprechenden Situationen und Episoden zu erzählen“ (Flick 1995: 125). Ein Vorteil des episodischen Interviews im Gegensatz zu der narrativen Interviewform, bei der es um eine in sich abgeschlossene Erzählung geht (vgl. Lamnek 2005: 362), besteht darin, dass in der Interviewsituation dem Interviewer ein Leit-
11 Homepage: http://www.zdes.spb.ru/index.php?lang=german. 12 Homepage: http://www.forschungsstelle.uni-bremen.de/. 13 Ausführlicher zu VennMaker unter www.vennmaker.com.
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faden zur Verfügung stehst. Durch die Anwendung des Leitfadens kann der Interviewer zum richtigen Zeitpunkt den Befragten zur Erzählung auffordern und somit kann „die extrem einseitige und künstliche Situation des narrativen Interviews von einem offenen Dialog abgelöst“ werden (ebenda: 363). Die Anwendung des dargestellten Leitfadens in dieser Studie ermöglichte den Interviewpartnern, sowohl von einer bestimmten Situation (Block) zu erzählen als auch durch zielgerichtete Nachfragen, zu konkreten Antworten geleitet zu werden. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, zwei Formen des Wissens - narrativ-episodisches und semantisches (vgl. Lamnek 2005: 362) -systematisch miteinander zu verknüpfen. Zur ersten Form des Wissens gehört, dass die Subjekte aus ihrer Erfahrungs- und Erinnerungsnähe die Situationsabläufe darstellen. Die zweite Form des Wissens bezeichnet das „aus den Erfahrungen abgeleitete Wissen, z.B. Generalisierungen, Abstraktionen und die Setzung bestimmter Zusammenhänge durch das Subjekt“ (ebenda). Das folgende Interviewbeispiel soll diese zwei Formen des Wissens verdeutlichen: „I: Erzähl doch bitte etwas wie Du nach Deutschland gekommen bist? P: Meine Familie hat beschlossen nach Deutschland zu gehen. Ich war damals sieben Jahre alt und ich komme aus einer Gegend, also es ist eine Region, da leben Deutsche in verschiedenen Dörfern zusammen. Vor Jahren sind sie ausgewandert aus Deutschland und haben sich dort in Dörfern angesiedelt. Es gab da glaube ich 12 Dorfgemeinschaften und wir lebten in einer davon und irgendwann, das war so in dieser Zeit nach der Maueröffnung, hat sich alles verändert. Irgendwann kam dieser Umbruch und es wurde immer schlechter vom Lebensstandard her und dann war es so, dass der Wunsch von den Dorfgemeinschaften immer größer wurde, wieder nach Deutschland zurückzugehen, ganz viele hatten da ihre Wurzeln und haben natürlich auch tolle Sachen von Deutschland gehört, wie schön es da ist und was für tolle Sachen es hier gibt und dann haben die Leute angefangen, auszuwandern und zurückzugehen nach Deutschland. Irgendwann hat sich das auch meine Familie überlegt und wenn sich das hier sowieso jetzt alles verändert und nicht mehr das ist, was es mal vorher war und alle unsere Familienfreunde auch nach Deutschland auswandern, wird es für uns auch quasi Zeit, was sollen wir denn hier alleine? Wir sind alle zusammen in einer Gemeinschaft rüber gegangen, deswegen war es für mich als Kind damals auch nicht so schwierig, dieser Übergang nach Deutschland. Man hat uns gesagt, ich bin nicht alleine, alle anderen kommen sozusagen mit. Man
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hat das in diesem Alter noch nicht so wahrgenommen. Für uns Kinder war das alles ziemlich aufregend […]“. (ID 15).
In diesem Interviewausschnitt wird deutlich, wie zwei Formen des Wissens bei dieser Erzählweise vermittelt werden können. Während die Interviewpartnerin mit einer offenen Fragestellung aufgefordert wird über den Ablauf ihrer Migration nach Deutschland zu berichten, erzählt sie gleichzeitig über den allgemeinen Kontext des Dorfes, in dem nur Deutsche gelebt haben, die auch ihre Wurzeln in Deutschland gesehen haben. Sie generalisiert die Migration aller Deutschen in diesem Dorf: „[…] und dann haben die Leute angefangen, auszuwandern und zurückzugehen nach Deutschland […]“, und bringt noch einen wichtigen Aspekt des Ausreisemotives für alle Russlanddeutschen, die Anfang der 1990er Jahre den Entschluss zur Migration nach Deutschland gefasst haben: „[…] irgendwann, das war so in dieser Zeit nach der Maueröffnung, hat sich alles verändert. Irgendwann kam dieser Umbruch und es wurde immer schlechter vom Lebensstandard her […]“. Zum Schluss werden im Interview ihre eigenen Erfahrungen der Migration aus der unmittelbaren Erfahrungs- und Erinnerungsnähe rekonstruiert: „[…] deswegen war es für mich als Kind damals auch nicht so schwierig, dieser Übergang nach Deutschland […]“. Durch die Methodenkombination wurde nach jedem leitfadengestützten Interview ein Kurzfragebogen über zusätzliche soziale Hintergrundinformationen (z.B. Alter, Beschäftigung, Wohnort etc.) mit dem Interviewpartner ausgefüllt und ein Postskript angefertigt. Vor allem wurden in diesem Postskript die wichtigsten Informationen notiert, die von dem Interviewpartner außerhalb einer Tonbandaufzeichnung mitgeteilt wurden, die aber relevante Aspekte für die weitere Interviewanalyse beinhalten (vgl. Anhang III). Aber auch die Rahmenbedingungen des Interviews (z.B. Interviewsituation) wurden notiert. Für die Vertiefungsinterviews wurden je nach Interviewsituation einzelne Blöcke des Leitfadens herangezogen, da das Ziel der Vertiefungsinterviews darin bestand, die Spezifizierung und Tiefgründigkeit (vgl. Lamnek 2005: 370) der bereits durch Hauptinterviews gewonnenen theoretischen Erkenntnisse zu erfassen. Daher gleicht diese Interviewsituation dem fokussierten Interview (vgl. Merton/Kendall 1984). Das Interview wird also speziell auf bestimmte Themengebiete, Forschungsschwerpunkte eingegrenzt. In diesem Fall war das Interview auf die Reflexion der jungen, bil-
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dungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler auf ihre transnationalen Lebensentwürfe in Bezug auf ein „Leben mit zwei Kulturen und Zugehörigkeiten“ und ihre Selbstverortung (Beheimatungsstrategien) in beiden Kulturen eingegrenzt. Verstärkt wurde aber auch der Frage nachgegangen, ob der Herkunftsort nach wie vor einen möglichen temporären Rückkehrort für die befragten Personen darstellt. Durch Spezifizierung während der Interviewsituation wird der Interviewte zu präziseren Aussagen „gedrängt“. Ausgehend von der methodologischen Explikation des Interviewprinzips sollen Gefühle, Verhaltensweisen etc. „unter Bezugnahme auf die erlebte und durchlebte Situation nicht nur genannt, sondern auch in einer Interpretation aufeinander bezogen, beschrieben und erläutert werden“ (Lamnek 2005: 370). Durch die Tiefgründigkeit soll der Interviewer versuchen, „selbstverhüllende Kommentare des Informanten zu erhalten“ (ebenda). In diesem Interviewstil geht es also nicht alleine um die Entwicklung von Hypothesen, wie z.B. im episodischen Interview, sondern gerade um deren Überprüfung. Sowohl für die Haupt- als auch für die Vertiefungsinterviews wurde mit dem Einverständnis von Interviewpartnern ein Tonbandgerät für die Aufzeichnung des Interviews angewendet, das als Grundlage für die Transkription diente. Die Interviews wurden vollständig in Originalsprache der Interviews transkribiert. Dabei wurden die Wiederholungen von Wörtern ausgelassen. Aus den nonverbalen Gesten wurden nur einige, wie z.B. lange Pausen, Lachen, Aufregen, hervorgehoben. 4.2.2 Qualitative Interviews und „Skype“ Seit Anfang der 1970er Jahre werden in den USA für allgemeine Bevölkerungsumfragen immer häufiger Telefoninterviews eingesetzt (vgl. Frey et al. 1990: 7). Auch im deutschsprachigen Raum werden öfter Telefoninterviews sowohl im Marktforschungs- als auch im akademischen Bereich verwendet. Zu den bekannten Fernkommunikationstechnologien gehört auch die Videokonferenz, die insbesondere in der Wirtschaft mit globalen Filialnetzen eingesetzt wird (vgl. Mühlenfeld 2004: 16). Gerade in der Medien- und Nachrichtenkommunikation wird die Videokonferenz angewendet, um mit einem Reporter im Ausland oder einem Politiker kommunizieren zu können (vgl. ebenda). Aber auch große Wirtschaftsunternehmen nutzen diese Methode, um ständig mit den Partnern im Ausland in Kontakt zu bleiben, ohne dabei kostenintensive Dienstreisen durchzufüh-
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ren. In den Zeiten der Globalisierung und Mobilität müssen auch die Forscher und Forscherinnen kreativ bleiben und ihre Forschungsmethoden den veränderten Mobilitätsformen ihrer Forschungsobjekte anpassen. Gerade in einer mobilen Gesellschaft, in der Menschen oft ihre sozialen Beziehungen nicht Face-to-Face, sondern über Fernkommunikationstechnologien wie Skype, E-Mail, Telefon, Facebook, Twitter, Chat etc. pflegen, wird die Anwendung solcher Kommunikationsmittel immer wichtiger. Denn durch die Anwendung solcher technologischen Fortschritte wird es möglich Zeit und Kosten zu sparen und Kontakte über die Grenzen des Nationalstaates hinweg aufrechtzuerhalten. Da die befragten Personen in dieser Studie auch sehr mobil sind und teilweise in kurzen Abständen während des Untersuchungszeitraumes zwischen Russland und Deutschland pendelten, war es nicht immer möglich, mit ihnen ein Face-to-Face Gespräch zu gewährleisten. Als eine alternative Methode der fernmündigen Kommunikation erwiesen sich Interviews per Skype, um trotz der Entfernung und Mobilität eine Interviewsituation zu ermöglichen. Eine solche Methode ließ sich ohne Schwierigkeiten mit dieser Untersuchungsgruppe durchführen.14 Der Vorteil einer solchen Interviewsituation besteht vor allem darin, dass die Interviewpartner sich aus ihrer vertrauten Umgebung (Land, Stadt, Dorf, Wohnung, Zimmer etc.) nicht weg bewegen müssen. Darüber hinaus bietet diese Kommunikationsmethode eine gewisse Anonymität bzw. Distanz, was unter Umständen auch die Qualität des Interviews positiv beeinflussen kann. Mit Anonymität ist hier nicht gemeint, dass Interviewpartner und Interviewer sich nicht kennen, sondern dass die „Hemmschwelle“ zwischen den beiden produktiv überwunden werden kann, indem keine „Berührungsängste“, wie bei einer Face-to-Face Situation, aufkommen können. Alleine die Tatsache, dass man in seiner vertrauten Umgebung „in aller Ruhe“ mit dem Interviewer spricht, ohne dabei auf eigene Gestik und Mimik zu achten, schafft für die interviewte Person „einen festen Boden“. So wurde ich von einigen Interviewpartnern darauf aufmerksam gemacht, dass man lieber per Skype ein Interview gibt, als Face-toFace. Zum einen weil man mit der Skype-Methode zeitlich und räumlich flexibler ist, zum anderen weil man anonymer ist als in einer Face-to-Face Situation.
14 Alle sieben Vertiefungsinterviews wurden per Skype durchgeführt.
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Nichtsdestotrotz sollte diese Interviewmethode auch kritisch diskutiert werden, da bestimmte Informationen des Interviewpartners per Fernkommunikation vom Interviewten nicht wahrgenommen werden und dementsprechend nicht begleitend interpretiert werden können (vgl. auch Mühlenfeld 2004). Gemeint sind hier Gestik, Mimik und weitere Reaktionen des Interviewpartners. Zwar erlaubt eine integrierte Videokamera oder eine Webcam auch eine Videokommunikation, allerdings lässt sie in bestimmten Situationen auch Wünsche offen. So war in manchen Situationen nicht zu erkennen, ob das „Lachen“ vom Interviewten ironisch gemeint war oder als Reaktion auf die Frage, weil der Interviewpartner die Frage „lustig“ fand? So kann der Forscher bei einer Face-to-Face Situation das „Lachen“ besser verstehen und interpretieren, weil zwischen dem Interviewer und dem Interviewten eine persönliche, direkte Interaktion besteht und dabei die gesamte Körpersprache zum Einsatz kommt als bei einer eher „anonymen“ Fernkommunikation, bei der der Forscher zwar das „Lachen“ hört und visuell wahrnimmt, aber nicht richtig interpretieren kann. Darüber hinaus können bestimmte Störfaktoren während des Interviews per Skype auftreten, wie z.B. ein ständiges „Summen“ oder „Rauschen“ (vgl. auch Mühlenfeld 2004: 19), die sowohl die Interviewsituation als auch die -qualität negativ beeinflussen können. Auch die Frage, wie weit und für welchen Einsatz die Methode der Fernkommunikation per Skype geeignet und inwieweit sie für bestimmte Gruppen (alt, jung, Computerkenntnisse etc.) zumutbar ist, sollte vor der Anwendung der Methode gründlich überprüft werden. 4.2.3 Egozentrierte Netzwerkerhebung mit VennMaker In den 1970er Jahren begann sich in den USA die Netzwerkforschung als eigenständiger Wissenschaftszweig zu etablieren. Seitdem wird in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen Netzwerkforschung betrieben.15 Netzwerke als Sozialkapital (vgl. Bourdieu 1983) können in Migrationsprozessen als eines der wichtigsten Ressourcen angesehen werden, die einerseits den Migranten die Integration im Aufnahmeland erleichtern und andererseits transnationale Migrationsprozesse fördern (vgl. Pries 2010).
15 Vgl. dazu ausführlicher Gamper/Reschke (Hg.) 2010.
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Als eine weitere Datenerhebungsmethode für die Untersuchung soll die egozentrierte Netzwerkerhebungsmethode mit dem Softwaretool VennMaker genannt werden,16 die durch ihren innovativen Charakter einen speziellen Beitrag zum Methodenmix leistet. Als Erhebungsinstrument bietet VennMaker eine herausragende Möglichkeit, egozentrierte Netzwerkbeziehungen interaktiv zu erheben und durch eine intuitiv bedienbare, grafische Benutzeroberfläche vergleichbar und quantitativ auswertbar zu machen (vgl. VennMaker Anwenderhandbuch 1.2).17 Im Gegensatz zu anderen Softwareprogrammen für die Netzwerkerhebung, die dem Bereich quantitativer Datenerhebung dienen, ermöglicht VennMaker als erstes Softwaretool durch seine triangulative Methodentechnik, die quantitativen und qualitativen Daten im Forschungsprozess zu verbinden und am Ende kommunikativ zu validieren.18 Auch das Exportieren der durch VennMaker erzeugten Ergebnissen zur Weiterbearbeitung in anderen Statistikprogrammen wie SPSS oder Microsoft Excel oder anderen Netzwerkprogrammen wie Ucinet, NetDraw machen VennMaker anschlussfähiger (vgl. VennMaker Anwenderhandbuch 1.2). Seit seiner Betaversion (2009) entwickelt sich VennMaker weiter und startet 2010 mit der Version VennMaker 1.0 und 2012 mit der neusten Version VennMaker 1.3.19 Um die Frage der sozialen Netzwerkstrukturen in zirkulären Migrationsprozessen in dieser Studie zu analysieren, wurde neben qualitativen Leitfadeninterviews zu sozialen Beziehungen in Deutschland, Russland und im Ausland (außerhalb Deutschlands und Russlands) als zusätzliches Erhebungsinstrument VennMaker eingesetzt. So konnte die räumliche – lokal, national, transnationale und soziale – ethnisch, fremdethnisch, transethnische – Vernetzung der Interviewpartner bildlich dargestellt und bei der Analyse der Interviews auf den Grad der Transnationalität, die Einbettung in transnationalen Räumen (Russland, Deutschland, Kulturraum GUS, Aus-
16 VennMaker ist ein neues, softwarebasiertes Instrument zur partizipativen Visualisierung und Analyse (egozentrierter) sozialer Netzwerke, das im Rahmen des Landesexzellenzclusterprojektes der Universitäten Trier und Mainz entwickelt wurde. Zur Projekthomepage: http://www.netzwerk-exzellenz.uni-trier.de 17 Zur
VennMaker-Anwendung
ausführlicher
unter:
http://vennmaker.uni-
trier.de/dl/VennMaker_1_2_Anwenderhandbuch.pdf. 18 Vgl. dazu http://www.vennmaker.com/beschreibung/. 19 Zu verschiedenen Versionen von VennMaker unter: www.vennmaker.com.
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land) sowie ihre multiple soziale Integration erschlossen werden. Da im Fokus der Fragestellung die persönlichen Netzwerke von Interviewpartnern standen, wurde die egozentrierte Netzwerkerhebung herangezogen (vgl. auch Fenicia et al. 2010: 311). Mit Hilfe von sogenannten Namensgeneratoren wurden die Kontaktpersonen (Alteri) von Ego erfragt, zu denen er/sie aktive Beziehungen unterhält. Die Beziehungsarten wurden ebenfalls durch den unterschiedlichen Support definiert, z.B. Unterstützung bei der Arbeitssuche, Wohnungssuche, Freizeitaktivitäten, finanzielle Unterstützung etc. Mit Verbindungslinien wurde zwischen Ego und Alteri die jeweilige Beziehungsart dargestellt. Anschließend wurden weitere persönliche Angaben und soziodemographische Daten wie Alter, Geschlecht und Beruf von Ego erfragt (vgl. ebenda). In allen Interviewsituationen (ausgenommen zwei Interviews)20 wurde VennMaker direkt im Anschluss an das qualitative Interview eingesetzt. Dadurch erhöhte sich die Dauer des Interviews auf eine weitere Stunde. Das qualitative Interview wurde getrennt von der Netzwerkerhebung mit VennMaker durchgeführt. In zwei Fällen war es aus Zeitgründen meiner Interviewpartner und durch die ausführlichen und zeitintensiven qualitativen Interviews (ca. 2. –.2, 5 Stunden) nicht möglich, VennMaker als Erhebungsinstrument direkt im Anschluss des Gespräches einzusetzen. Daher erfolgte die Netzwerkerhebung mit diesen Interviewpartnern in einem zweiten Treffen, in dem ausschließlich die Netzwerke erhoben wurden. Die VennMaker Interviews dienen in dieser Studie zur Darstellung der Netzwerkkarte. Die Interviews werden ebenfalls transkribiert und in die Analyse des Gesamtinterviews einbezogen. Warum VennMaker, wenn man das Thema „soziale Netzwerke“ qua litativ erfragen kann?
20 Anzumerken ist an dieser Stelle, dass nicht in allen 20 Haupt- und sieben Vertiefungsinterviews VennMaker eingesetzt wurde. Insgesamt wurden mit VennMaker Einsatz dreizehn Haupt- und Vertiefungsinterviews durchgeführt. In anderen Fällen konnte VennMaker leider aus Zeitgründen (da die Hauptinterviews ziemlich zeitintensiv verlaufen sind) nicht angewendet werden und es konnte mit dem Befragten kein zweites Treffen vereinbart werden.
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Die ersten Interviews mit meinen Interviewpartnern fanden ohne den Einsatz von VennMaker statt.21 Interessant war dabei zu beobachten, dass einige meiner Interviewpartner während einer qualitativen, eher offenen Befragung ohne Vorgabe bestimmter Namensgeneratoren sehr wenig über ihre sozialen Netzwerke erzählten. Sehr oft wurden sogar Familienmitglieder, die einen wichtigen Platz im sozialen Leben meiner Interviewpartner einnehmen, während des qualitativen Interviews „vergessen“. So thematisierte zum Beispiel ein Interviewpartner während des qualitativen Interviews seine Familie und Lebenspartnerin sehr oft, während seine Freunde wenig und die für ihn eine wichtige Rolle spielenden Institutionen gar nicht thematisiert wurden. Auch seine Verwandten in Russland wurden nur teilweise erwähnt. Beim Einsatz von VennMaker während der Netzwerkbefragung unter Vorgabe der Namensgeneratoren erweiterte sich sein soziales Netzwerk plötzlich auf 34 Kontakte, darunter mehrere im transnationalen Raum. Darüber hinaus ermöglicht ein durch VennMaker erhobenes Netzwerkbild, Aussagen über mehrere Themen gleichzeitig zu machen, wie z.B. über den Grad der Transnationalität, über die Akteure, die in diesem transnationalen Raum fungieren, über die soziale Integration der Interviewperson in Deutschland oder über verschiedene Interaktionsarten, die die Person mit den Akteuren pflegt.22 Die Durchführung der VennMaker Befragung erfolgt über drei Ebenen: die Administratorebene, die Interviewebene und die Analyseebene. Die
21 Zu diesem Zeitpunkt erfolgte die Befragung zum Block „Soziale Netzwerke“ mittels eines Leitfadens. Später erfolgte die Befragung mittels VennMaker. Es ging dabei darum, die beiden Methoden der Netzwerkerhebung (mit und ohne VennMaker) methodisch auszuprobieren. 22 VennMaker wurde als zusätzliche Erhebungsmethode zum qualitativen Interview zur Befragung der „Soziale Netzwerke“ angewendet. Da meine Interviewpartner über ganz Deutschland und in Russland verstreut waren, war es aus Zeit- und Kostengründen nicht immer möglich, ein zweites Treffen zu arrangieren. Daher wurde die Befragung mit VennMaker in den meisten Fällen direktnach dem qualitativen Interview durchgeführt. Kritisch sollte hier allerdings die Tatsache betrachtet werden, dass durch ein meist zeitintensives qualitatives Interview mit den Interviewpartnern die Motivation und Konzentration der Personen schnell nachließ, was weitere negative Auswirkungen auf die Qualität der Netzwerkerhebung hatte.
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einzelnen Ebenen sollen nun anhand eines Anwendungsbeispiels mit einem Interviewpartner (ID 2) erklärt werden, um somit die Netzwerkerhebungsmethode mit VennMaker zu verdeutlichen.23 Auf der Administratorebene wurde die Befragung in einem Forschungsteam durch die VennMaker Funktion „Configure Interview“ bereits vorkonfiguriert, d.h. es wurde ein digitaler Fragebogen erstellt, der dem Forscher/der Forscherin eine „automatisch“ geleitete Durchführung des Interviews ermöglicht. Da in diesem Forschungskontext das Ego im Fokus der Untersuchung steht, sollten durch den digitalen Fragebogen die persönlichen und soziodemographischen Merkmale von Ego (Geschlecht, Alter, Staatsangehörigkeit, (Spät-)Aussiedlerstatus, Beruf, Einreisejahr nach Deutschland, Familienstand etc.) erhoben werden. Auf der Administratorebene wurden die Items und der Interviewablauf festgelegt. In diesem Beispiel sind die Items zehn unterschiedliche Namensgeneratoren,24 die den Netzwerkakteuren eine Rolle zuschreiben, die drei konzentrischen Kreise innerhalb des Netzwerkes,25 die die räumliche Nähe der Netzwerkakteure zu Ego darstellen und drei Sektoren,26 die die ethnische Zugehörigkeit von Netzwerkpartnern beschreiben Um die Rolle der Akteure später leichter zu unterschieden, werden im Vorfeld für jeden Typus (z.B. Familienmitglied, Freund, Bekannte etc.) Symbole (z.B. Kreis, Dreieck etc.) und unterschiedliche Farben festgelegt. Da es für die Forschungsfrage auch relevant war, in welchen Beziehungen das Ego zu seinen Kontaktpersonen steht und welche Unterstützungsart diese Kontaktpersonen in den (zirkulären) Migrationsprozessen, insbesondere in der Anfangszeit der Rückkehr und Reintegration in die Herkunftsregion, dem Ego leisten, wurden auf der Administratorebe-
23 Im ersten Schritt wurde mit dem Interviewpartner ein zweistündiges qualitatives Leitfadeninterview durchgeführt. Während eines zweiten Treffens wurde die Netzwerkkarte erhoben Der Interviewpartner erklärte sich bereit, die Netzwerkkarte in meiner Anwesenheit selbst zu zeichnen. Es kann also von einer hohen Partizipation ausgegangen werden. Die Befragung fand in Deutschland nach der Wiederrückkehr meines Interviewpartners im März 2010 statt. 24 Die zehn Namensgeneratoren sind: Familie, Freunde, Partner, Verwandte, Bekannte,
Arbeitskollegen,
Nachbarn,
Vereinsmitglieder,
Organisatio-
nen/Institutionen, Sonstige. 25 Drei konzentrische Kreise: Deutschland, Russland, Kulturraum GUS. 26 Drei Sektoren: Spätaussiedler, ethnische Deutsche, andere ethnische Gruppen.
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ne auch in Anlehnung an Diewald (1991) verschiedene Kategorien der sozialen Unterstützung als Beziehungsausprägungen definiert. Zum einen sollten konkrete Interaktionen wie Pflege im Krankheitsfall, Wohnungssuche, Arbeitssuche, Behördengänge erfasst werden. Zum anderen sollten die Vermittlung der Emotionen wie emotionale Unterstützung bei Problemen, Konfliktbeziehungen und auch soziale Aktivitäten erfasst werden (vgl. auch Fenicia et al. 2010). Diese Beziehungsarten sollten durch Kanten unterschiedlicher Farben zwischen Ego und Alteri auf der Netzwerkkarte dargestellt werden. Ich habe mich in diesem Anwendungsbeispiel für den Strukturierten Zeichenmodus der Interviewdurchführung entschieden, denn diese Methode bietet den Vorteil, dass das Interview im Gegensatz zum Freien Zeichenmodus „Free network drawing“ bereits im Vorfeld konfiguriert ist. Der Forscher/die Forscherin kann durch diese Methode sein gesamtes Interview strukturieren. Der Nachteil besteht allerdings darin, dass der Interviewer während der Befragung nur im Rahmen dieser festgelegten Strukturen interagieren kann, während im Freien Zeichenmodus die Befragung „freier“ durchläuft. Im nächsten Schritt erfolgt die Interviewebene, die dem Forscher/der Forscherin die Durchführung des Interviews ermöglicht. Auf der Interviewebene werden Akteursnamen (Alteri) generiert, die für den Probanden eine wichtige Rolle in seinem sozialen Netz spielen und mit denen er in aktiven Interaktionen steht. Sobald alle Akteure generiert sind, werden sie auf dem Netzwerkbild in den jeweiligen Kreisen (räumliche Nähe) und Sektoren (ethnische Zugehörigkeit) platziert. Später wird ein Beziehungsnetz visualisiert, d.h. es werden Kanten zwischen Ego und Alteri gezeichnet. Um die Qualität dieser Beziehungen herauszuarbeiten, wird nach dem Entstehen des Netzwerkbildes über die Beziehungen zwischen Ego und Alteri diskutiert. Durch die Audiofunktion von VennMaker kann das qualitative Gespräch für die spätere qualitative Interviewanalyse aufgenommen werden. Die genannten Akteure können für weitere statistische Auswertungen mit Excel und SPSS auf der Analyseebene von VennMaker überprüft werden. Das Netzwerkbild dieser Anwendung wird qualitativ im Kapitel 5.6.2.1 diskutiert und analysiert.
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4.3 D ATENAUSWERTUNG : Q UALITATIVE I NHALTSANALYSE NACH G ROUNDED T HEORY Grounded Theory schlägt ein mehrstufiges Auswertungsverfahren vor, das als Kodieren bezeichnet wird (vgl. Glaser/Strauss 1998). Wie bereits im Kapitel 4 mehrfach betont, ist der zentrale Gedanke von Grounded Theory, dass die Erhebung und Auswertung der Daten gleichzeitig betrieben wird, wobei „das Zwischenergebnis, das man als theoretische, beschreibende und erklärende „Kategorie“ aus der Auswertung eines ersten Interviews oder einer anderen Datenquelle festhält, dazu benutzt wird, sich dem nächsten Interview gezielt zuzuwenden“ (Brüsemeister 2000: 156). Das Besondere an dieser Forschungsmethode im Gegensatz zu anderen qualitativen Verfahren ist, dass die Grounded Theory Methodik nicht nur qualitative Daten, sondern auch quantitative Daten im Forschungsverfahren akzeptiert, sofern diese Daten für die Auswertung der qualitativen Daten relevante Ergebnisse bringen. Die Daten können durch das Verfahren des ständigen Vergleichens – Comparative Analyses (vgl. Glaser/Strauss 1967) – die Generierung von theoretischen Eigenschaften der Kategorien ermöglichen (vgl. Glaser/Strauss 1998). Im Kodierprozess27 schlägt Glaser ein zweistufiges und Strauss ein dreistufiges Konzept des Kodierens vor. Für die Datenauswertung wurde das dreistufige Konzept von Strauss angewendet. 4.3.1 Die induktive Kategorienbildung durch dreistufiges Kodierverfahren Der entscheidende Aspekt des Kodierprozesses in GTM besteht darin, dass die sogenannten Kodes nicht aufgrund von Vorwissen oder bestimmten Hypothesen erstellt (deduktives Verfahren), sondern aus den Daten heraus, nahe am empirischen Material gebildet werden sollen (induktives Verfahren). Die Hypothesenentwicklung steht somit im Vordergrund. Diese werden aus dem untersuchten sozialen Feld gewonnen, d.h. von den Beobachtungen werden Hypothesen und Theorien abgeleitet (vgl. Lamnek 2005:
27 Ein Kode ist ein technischer Begriff und bedeutet ein inhaltliches Konzept (Badawia 2002: 53). Also im Kodierprozess sollen inhaltliche Begriffe definiert werden, die sich auf die gewonnenen Daten beziehen lassen.
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250). Das Vorwissen des Forschers soll während der ersten Phase der Datenauswertung in den Hintergrund geschoben werden, denn die theoretischen Zusammenhänge müssen möglichst aus den Daten selbst entwickelt werden. Dieser Prozess der ersten Auswertungsphase wird Offenes Kodieren genannt. In der empirischen Forschung wird auch von sogenannten Invivo Kodes, d.h. Kodes, die von Akteuren selbst verwendet werden und „conceptual codes“, die auf theoretischen Konzepten basieren (vgl. Kuckartz 2010: 75). Im Prozess des offenen Kodierens werden die Daten sozusagen „auseinandergebrochen“ und gezielt auf die Generierung einer Kernkategorie hin bearbeitet. Aus einer großen Anzahl solcher Kode-Ideen und inhaltlichen Konzepten kann der Forscher durch eigene Selektion und Zusammenhänge Kategorien entwickeln, „die die theoretische Grundbegrifflichkeit einer entwickelten Grounded Theory darstellen“ (Breuer 2009: 74). Im nächsten Auswertungsschritt werden mögliche Zusammenhänge zwischen den Kodes, Konzepten und Kategorien gesucht. Diesen Prozess der Datenauswertung nennen Strauss und Glaser axiales Kodieren. Dies wird durch den Einsatz eines Codier-Paradigmas erreicht, das aus „Bedingungen, Kontext, Handlungs- und interaktionalen Strategien und Konsequenzen besteht“ (Strauss/Corbin 1996: 75). Das axiale Kodieren kann somit als eine Feinanalyse des Datenmaterials bezeichnet werden, wobei ein dichtes Beziehungsnetz zwischen den einzelnen Kategorien entsteht. In diesem Prozess generieren sich die sogenannten Sub-Kategorien, die die Ausprägungen einer inhaltlichen Kategorie bilden können. In diesem Prozess werden auch die ersten vagen Hypothesen gebildet, die in weiteren Auswertungsprozessen (selektives Kodieren) weiterentwickelt und überprüft werden. Hypothesen, die sich als besonders fruchtbar erweisen, münden in zentrale Konzepte, in die sogenannten Schlüssel- oder Kernkategorien (vgl. Strübing 2004: 21). Nach Strauss und Corbin (1996) kann das Verfahren des selektiven Kodierens als „der Prozess des Auswählens der Kernkategorie, des systematischen In-Beziehung-Setzens der Kernkategorie mit anderen Kategorien, der Validierung dieser Beziehungen und des Auffüllens von Kategorien, die einer weiteren Verfeinerung und Entwicklung bedürfen“ (Strauss/Corbin 1996: 94) definiert werden. Die Daten werden somit interpretiert: Handlungsmodelle für einzelne Akteure und für Gruppen werden aufgedeckt, Daten werden gruppiert, Muster werden aufgedeckt und verglichen, Kernkategorien werden gebildet.
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Im Rahmen der Untersuchung wurde das gesamte Interviewmaterial in einer ersten Auswertungsphase offen kodiert, so dass insgesamt mehr als 1000 offene Kodes entstanden sind. Dabei wurde ein Mix von „In-VivoKodes“ und „konzeptionellen Kodes“ ausgewählt, um möglichst viele offene Kodes zu generieren. In einem nächsten Auswertungsschritt nach GTM wurden diese offenen Kodes zunächst einmal nach Ähnlichkeiten und Überschneidungen durchgearbeitet, um die Kodemenge zu reduzieren. Im Prozess des axialen Kodierens wurde das Datenmaterial noch einmal mit den bereits entstandenen offenen Kodes verglichen, um eventuell nicht passende Kodes zu korrigieren bzw. zu ändern. Gleichzeitig wurden die theoretischen Memos und weitere Interviews herangezogen, um Zusammenhänge zwischen den Kodes zu erkennen. Das gesamte Interviewmaterial wurde somit „fein“ analysiert, indem die offenen Kodes zu inhaltlichen Konzepten und Kategorien entwickelt wurden und durch die Aufdeckung der Zusammenhänge zwischen den Kodes Subkategorien zu der jeweiligen inhaltlichen Kategorie gebildet wurden. So konnten sich aus mehr als 1000 offenen Kodes zwölf Hauptkategorien und 300 Subkategorien herauskristallisieren. Parallel zu diesem Verfahren erfolgten die fokussierten Vertiefungsinterviews mit dem Ziel, die wichtigsten Kernkategorien für die Dissertation zu generieren. Für die Analyseverfahren desselektiven Kodierens konnten durch die Vertiefungsinterviews und durch das dichte Beziehungsnetz von Kategorien, die während des axialen Kodierens entstanden waren, die Schlüsselkategorien im selektiven Kodierverfahren gebildet werden. Im Rahmen der empirischen Datenanalyse geschah dies in Bezug auf die Hauptkategorien Transnationalität und temporäre Rückkehr. Dabei entwickelte sich ein Bild von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-) Aussiedlern, die aufgrund ihrer emotionalen und kulturellen Bezogenheit zum Herkunftsland den Weg der Transnationalität einschlagen, um in beiden Kulturen, sowohl in Deutschland als auch der Herkunftsregion, beheimatet zu sein. Somit standen die Schlüsselkategorien „Transnationalität“, „temporäre Rückkehrmotive“, „multiple Identität“ und „Beheimatungsstrategien“ im Vordergrund des selektiven Kodierprozesses. Diese Kategorien führten dazu, dass ein Gesamtkonzept von transnationalen Lebensentwürfen, Identitätsstrukturen und Beheimatungsstrategien von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern generiert wurde.
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4.3.2 Grounded Theory und MAXQDA Lange Zeit war qualitative Sozialforschung nicht unbedingt ein Feld, in dem für die qualitative Datenauswertung und –analyse computergestützte Software eingesetzt wurde. Doch seit es QDA-Software wie ATLAS.Ti, MAXQDA oder NVivo gibt, ziehen immer mehr qualitative Forscher diese für ihre Datenauswertung und Datenanalyse in Erwägung. Diese Software erleichtert in erster Linie die Verwaltung und Organisation der Texte eines Projektes (sei es eine Einzelfallstudie oder große Projekte), schaffen Überblick auch bei einer großen Menge von Daten, Kodes und Kategorien innerhalb eines Projektes. Dies beschleunigt und systematisiert die Auswertungs- und Analysephasen der qualitativen Forschung. Für das Analyseverfahren der Interviews wurde die Auswertungssoftware MAXQDA28 für die Datenverwaltung, Organisation, das Kodieren eingesetzt. Das Interviewmaterial wurde zunächst unterstützt durch F429 transkribiert, so dass die transkribierten Texte in MAXQDA importiert und durch Zuordnung zu verschiedenen Projekten (z.B. durch Vergabe der Namen: Interview XY) für die Auswertung vorbereitet werden konnten. Ein zentraler Arbeitsschritt kommt hierbei dem Kodieren der Texte (Textsegmente) hinzu. Die Textsegmente können bei MAXQDA völlig frei festgelegt werden, d.h. ein Textsegment kann aus einem Satz, einem Wort, einer längeren Textpassage etc. bestehen. Für das Kodieren der Texte mit MAXQDA haben sich unterschiedliche Arbeitsweisen entwickelt (vgl. Kuckartz 2010: 64). Zum einen können die Texte zunächst auf Papier kodiert werden und in einem gesonderten Arbeitsgang in MAXQDA eingegeben werden. Zum anderen werden die Texte direkt am Bildschirm kodiert (vgl. ebenda), so wie dies im Rahmen der Datenauswertung geschah. Das Kodieren vollzieht sich in MAXQDA fast ähnlich wie im „Vor-Computer-Zeitalter betriebenen handwerklichen Auswertungen von Texten“ (ebenda: 64), die in Form von Karteikarten für die Analyse zur Verfügung stehen. Im Gegensatz zu dieser herkömmlichen Variante des Kodierens geschieht das Kodieren mit MAXQDA nicht durch Ausschneiden und Aufkleben der relevanten Textstellen auf Karteikarten,
28 Vgl. unter www.maxqda.de. 29 Vgl. unter www.audiotranskriptionen.de.
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sondern „es wird mit elektronischen Zeigern gearbeitet, die auf einen bestimmten Textabschnitt verweisen“ (ebenda: 65). MAXQDA erlaubt mehrmaliges Kodieren von einem Textsegment, indem die gleiche Textstelle, z.B. durch unterschiedliche Farben, zu unterschiedlichen Kodes zugeordnet werden kann. Auf diese Weise können im Forschungsstil von GTM Tausende von offenen Kodes in der ersten Auswertungsphase entstehen. Um den Schritt des axialen Kodierens von MAXQDA unterstützen zu lassen, können mehrere Kodes zu einer bestimmten Textstelle verknüpft werden. Durch diese Vorgehensweise werden später die Beziehungen zwischen den Kodes und die Zusammenhänge zwischen den Kategorien leichter erkannt. Ebenso können Memos zu einer bestimmten Textpassage hinterlegt werden, die wiederum mit Kodes verknüpft sein können. Im Laufe des Kodierprozesses mit MAXQDA entsteht direkt am Bildschirm eine lange Liste von Codes (vgl. MAXQDA Oberfläche), die man auch als „Kodebaum“ bezeichnet. „Es lassen sich hierarchische Kategoriensysteme konstruieren, die als Baumstruktur visualisiert werden. Codes auf der obersten Hierarchieebene lassen sich durch Anklicken der Wurzel des Codessystems einfügen […]. Nach diesem Prinzip können auch Subkategorien von Subkategorien bis hin zu zehn Ebenen definiert werden“ (ebenda: 68). Die Liste der Kodes (inklusive Subkategorien und Subkategorien von Subkategorien) lässt sich jederzeit in eine Excel Datei exportieren. Im Laufe des axialen und selektiven Kodierprozesses können bereits entstandene Kodes umbenannt, d.h. präziser formuliert werden oder zu abstrakteren Konzepten gruppiert oder auch in mehreren Kodes ausdifferenziert werden (vgl. ebenda: 82–83).
5. Empirische Befunde: Junge, bildungserfolgreiche (Spät -)Aussiedler im transnationalen Migrationskontext
„Wir sind Aussiedlerkinder, alle mit dem gleichen Schicksal, fortgebracht von zu Hause,
aus
unseren
Kinderträumen
gerissen und hineingeworfen in diese Fremde…oder sind wir Fremde in diesem Land? Haben wir überhaupt eine Heimat? […]“ WIR, DIE WAISENKINDER1
Im Folgenden sollen transnationale Identitäts- und Lebensentwürfe, multiple und multilokale Beheimatungsstrategien und temporäre Rückkehrmotive in den Herkunftskulturraum anhand empirischer Befunde bei der Untersuchungsgruppe dargestellt werden.
1
Vgl. Unger, Helene (2003): Zurück nach Hause – Heimkehr oder Fremde?. In: Archiv der Jugendkulturen (Hg.). Zwischenwelten. Russlanddeutsche Jugendliche in der Bundesrepublik. 113.
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5.1 S OZIODEMOGRAFISCHE ANGABEN ZUR U NTERSUCHUNGSGRUPPE Die Grundlage der empirischen Befunde bilden 20 qualitative Interviews mit jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern, von denen elf besonders starken transnationalen Lebensentwurf aufweisen. Aus Zeitgründen war es leider nicht möglich, alle elf Personen in weiteren Interviews zu befragen, daher wurden lediglich sieben Vertiefungsinterviews (vgl. Kapitel 4.2) mit ausgewählten Personen durchgeführt.2 Diese werden ebenfalls in die Datenanalyse einbezogen. Als Personen mit besonders ausgeprägtem transnationalen Lebensentwurf werden hier diejenigen Befragten definiert, die seit ihrer Migration nach Deutschland den Herkunftsbezug, sei es kulturell oder im sozialen Kontext, aufrechterhalten und mehrmals seit ihrer Migration nach Deutschland zwischen Herkunfts- und Aufnahmekulturraum gependelt sind bzw. pendeln. In diesen zirkulären Migrationsprozessen gelingt es ihnen, soziale Netzwerke sowohl im Herkunftskulturraum (GUS) als auch in Deutschland zu konstruieren. Die sozialen Netzwerke in der GUS bestanden noch lange Zeit vor unserem Interview und wurden zum Zeitpunkt des Interviews weiter gepflegt. Angelehnt an den Transnationalismusansatz wird daher davon ausgegangen, dass diese Netzwerke zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland dauerhaft angelegt sind (vgl. Pries 2010: 29ff). Für die Darstellung weiterer empirischer Ergebnisse sollen in einem kurzen Überblick die zentralen sozio-demografischen Angaben zu den Interviewpartnern zusammengefasst werden. Dazu gehören vor allem Geschlecht, Alter bzw. Alter bei der Einreise nach Deutschland, die aktuelle (berufliche) Tätigkeit, die Staatsbürgerschaft und die Transnationalität. Anschließend werden ausgewählte Biographien zu einem besseren Verständnis eines transnationalen Lebensentwurfes vorgestellt.
2
Die Auswahl der sieben Personen für die Vertiefungsinterviews orientiert sich an den Kriterien der Erreichbarkeit der Personen und der Bereitschaft zu einem zweiten Vertiefungsinterview. Der besonders starke transnationale Lebensentwurf der sieben Befragten äußert sich durch häufiges Pendeln und temporäre Aufenthalte im Herkunftskulturraum.
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a) Angaben zum Geschlechterverhältnis der Befragten und ihrer Migra– tion nach Deutschland: Das Geschlechterverhältnis der Interviewpartner ist fast gleich verteilt, wobei die männlichen Personen mit elf gegenüber neun weiblichen Probanden leicht überwiegen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass im Verlauf der empirischen Erhebungen keine relevanten Unterschiede zwischen den männlichen und weiblichen Interviewpartnern festzustellen waren. Die Interviewpartner weisen ähnliche Migrationsbiographien auf. Sie sind in der ehemaligen Sowjetunion, in der Regel in Russland oder Kasachstan, geboren und Ende der 1980er oder Anfang der 1990er Jahre mit ihren Eltern zusammen als Kinder oder Teenager nach Deutschland migriert. Bei der Entscheidung zur Migration nach Deutschland hatten die Interviewpartner somit keine Entscheidungsfreiheit und werden deshalb in dieser Studie als mitgenommene Generation (vgl. dazu Dietz et al. 1998; sowie die Einleitung in dieser Arbeit) bezeichnet. Zwei Interviewpartner weichen durch ihr Erwachsenenalter zum Zeitpunkt der Migration und der damit verbundenen Entscheidungsfreiheit zur Migration davon ab. Für die Gesamtdarstellung der Ergebnisse werden sie jedoch in die Datenanalyse einbezogen, weil ihre Migrationsbiographie relevante Aspekte für die empirischen Befunde hinsichtlich (temporärer) Rückkehrmotive liefert.3
3
Es wird allerdings nur begrenzt auf diese Interviewpartner eingegangen, denn der Mehrwert dieser Studie liegt in der Darstellung der transnationalen Lebensentwürfe von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern ohne Entscheidungsfreiheit zur Migration nach Deutschland (mitgenommene Generation).
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Abbildung 15: Altersstruktur: Einreise nach Deutschland
Quelle: Eigene Erhebung, Berechnung und Darstellung
Die meisten Interviewpartner sind in Kasachstan geboren. Das erklärt auch, warum die Mehrheit lediglich eine Staatsbürgerschaft (deutsch) besitzt und nicht die doppelte Staatsbürgerschaft, wie das für die aus Russland eingereisten (Spät-)Aussiedler möglich ist. Aber auch die Interviewpartner, die aus Russland nach Deutschland migriert sind, gaben an, nur die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen. Nur bei einem Interviewpartner lag eine doppelte Staatsbürgerschaft (deutsch und russisch) vor. In der Regel sind die Interviewpartner aus ihren Geburtsländern nach Deutschland migriert .4
4
Ein Interviewpartner erzählt von einer weiteren Station in der ehemaligen Sowjetunion, wo er sich mit seiner Familie zwei Jahre aufgehalten hat, bevor er nach Deutschland migrierte.
E MPIRISCHE B EFUNDE | 117
Abbildung 16: Geburtsort
Quelle: Eigene Erhebung, Berechnung und Darstellung
b) Angaben zum Alter, zur derzeitigen Beschäftigung und Familienstruktur: Zum Zeitpunkt der Interviews5 waren 18 Interviewpartner zwischen 22–30, zwei Interviewpartner zwischen 30–35 Jahre alt.6 Das Alter spielt insofern in diesem Kontext eine wichtige Rolle, da sich die Interviewpartner noch in einem Alter befanden, in dem die berufliche (transnationale) Entwicklung bzw. weitere transnationale Ausbildungs- bzw. Weiterbildungsmöglichkeiten noch in Betracht gezogen wurden.
5
Die Interviews wurden zum Teil Ende 2009, zum größten Teil aber im Jahre 2010 und Anfang-Mitte 2011 (insbesondere die Vertiefungsinterviews) durchgeführt.
6
Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit die Anwendung der Bezeichnung „junge (Spät-)Aussiedler“ für die Beschreibung des Gesamtsamples bewusst den „jugendliche (Spät-)Aussiedlern“ vorgezogen.
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Abbildung 17: Alter zum Zeitpunkt des Interviews
Quelle: Eigene Erhebung, Berechnung und Darstellung Die Angaben über derzeitige Beschäftigung beziehen sich auf die Beschäftigung der befragten jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler zum Zeitpunkt der empirischen Erhebungen. Sechszehn Befragte im Alter 22–30 waren Studentinnen und Studenten bzw. ein Befragter befand sich in einem Promotionsstudium. Ein Befragter im Alter von 20 Jahre alt war am Ende seiner Ausbildung als Maschineningenieur. Weitere drei Interviewpartner standen bereits nach dem erfolgreichen Abschluss ihrer Ausbildung/Studium im Berufsleben, wobei nur einer von ihnen zum Zeitpunkt der Interviews ein erfolgreiches Berufsleben mit eigener Berufsqualifikation führen konnte. Die anderen zwei Interviewpartner hatten zwar ihre Ausbildung mit Erfolg beendet. Jedoch konnten sie ihr Berufsleben mit der abgeschlossenen Qualifikation nicht starten bzw. weiterführen (vgl. ausführlicher Kapitel 5.6.1.3).
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Abbildung 18: Beschäftigung zum Zeitpunkt des Interviews
Quelle: Eigene Erhebung, Berechnung und Darstellung
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Abbildung 19: Bildungsgrad der Interviewpartner
Quelle: Eigene Erhebung, Berechnung und Darstellung
Die Familienstruktur im vorliegenden Kontext bezeichnet die ethnische Zusammensetzung der Familien von befragten jungen (Spät-)Aussiedlern. Folgende Darstellung zeigt, dass unter den Interviewpartnern zwölf Personen aus ethnisch Deutschen7 und acht Personen aus binationalen8 Familien stammen.
7
Beide Elternteile ethnische Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion.
8
Ein Elternteil ethnische/r Deutsche/r aus der ehemaligen Sowjetunion, ein Elternteil gehört einer anderen ethnisch-nationalen Zugehörigkeit (Russe/in, Kasache/in, Ukrainer/in etc.).
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Abbildung 20: Familienstruktur
Quelle: Eigene Erhebung, Berechnung und Darstellung
Die Angaben zur Familienstruktur sind vor dem Hintergrund späterer Kapitel zur kulturellen Zugehörigkeit relevant. Die Diskussion in diesen Kapiteln zeigt einen direkten Zusammenhang zwischen Familienstrukturen und Zugehörigkeitsmuster von Interviewpartnern: der Identifikationsprozess und der Bezug zur Heimat der befragten Personen ist davon abhängig, wie die Familienstruktur ethnisch zusammengesetzt ist. So ist zum Beispiel bei Befragten aus binationalen Familien eine starke Verbundenheit mit dem Herkunftskulturraum festzustellen. Unterschiede lassen sich anhand von Familienstrukturen auch bei der eigenen Identitätswahrnehmung vor der Ausreise im Herkunftsland feststellen (vgl. ausführlicher Kapitel 5.5). Auch bei der Analyse der temporären, transnationalen Rückkehrmotive der Interviewpartner spielt die Familienstruktur eine Rolle. Es sind die jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler aus binationalen Familien, die oft auf Herkunfts- und Identitätssuche sind, wenn sie temporär nach Russland zurückkehren (vgl. ausführlicher Kapitel 5.6.1). c) Angaben zur Transnationalität und transnationalen sozialen Netzwerken:
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Da bei den Interviewpartnern keine endgültige Rückkehr im Sinne einer klassischen Remigration (vgl. Currle 2006) vorherrscht, wird der Begriff Rückkehr in der Dissertation im Kontext des ersten längeren temporären Aufenthalts im Herkunftskulturraum verwendet. Dieser hat eine Dauer von mindestens einer Woche (z.B. kurze, beruflich bedingte, häufig wiederholende Aufenthalte9) bis zu einem Jahr und mehr (z.B. ein Austauschstudium oder ein Freiwilligendienst). Die Wahl des temporären Rückkehrortes geschieht nach bestimmten Kriterien unter der Voraussetzung besserer Berufs-, Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten. Von Interviewpartnern werden daher hauptsächlich die russischen Metropolen wie Moskau und St. Petersburg und auch teilweise die Metropolen im sibirischen Teil Russlands wie Novosibirsk, Iževsk etc. bevorzugt. Eine zeitlich befristete Rückkehr in den Geburtsort erfolgt eher in Form von Familienbesuchen – meistens mit der gesamten Familie. Der Begriff der Transnationalität beschreibt in diesem Kontext das zirkuläre Migrationsverhalten der Interviewpartner zwischen GUS und Deutschland über die gesamte Migrationsbiografie. Wichtig scheint in diesem transnationalen Migrationskontext die Häufigkeit der Pendelbewegungen von diesen Transmigranten zu sein, die Auskunft über unterschiedliche transnationale Konfigurationstypen geben. Insgesamt sechs Personen geben an bereits mehr als dreimal (in der Regel vier bis sechs Mal) zwischen ihrem Herkunftskulturraum und Deutschland gependelt zu sein. Seit ihrer Migration nach Deutschland pendeln zwei Interviewpartner unter diesen sechs Personen mindestens einmal im Jahr zwischen Herkunftskulturraum und Deutschland, zunächst als Schulkinder während der Sommerferien und dann als Jugendliche. Später als junge Erwachsene nutzen sie die Möglichkeiten des Studienaustauschs, um sich für einen längeren Zeitraum (mindestens sechs Monate) in Russland aufzuhalten (vgl. Kurzporträts ID 1 und ID 4 im Kapitel 5.2). Weitere sechs Interviewpartner konnten bereits zwei oder dreimal zwischen ihrem Herkunftskulturraum und Deutschland seit ihrer Migration nach Deutschland pendeln. Die Häufigkeit der Transnationalität wird in der folgenden Abbildung noch einmal zur besseren Übersicht dargestellt:
9
Der transnationale Lebensentwurf von ID 7 (vgl. Tabelle 2) entspricht diesem Muster.
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Abbildung 21: Transnationalität: Migrationsverhalten zwischen GUS und Deutschland
Quelle: Eigene Erhebung, Berechnung und Darstellung
Zwischen Einreise und Rückkehrjahr der Interviewpartner liegen mindestens zwölf und maximal 21 Jahre. Ein entscheidender Faktor für die Transnationalität der Interviewpartner stellen ihre grenzüberschreitenden sozialen Netzwerke dar, die unter anderem auch das zirkuläre Migrationsverhalten der Interviewpartner beeinflussen. Im temporären Migrationsprozess greifen die Interviewpartner nach ihren Netzwerken im Herkunftskulturraum, um beispielsweise einen leichteren Zugang zum Wohnungsmarkt, zu Praktikumsangeboten oder sozialen Kontakten vor Ort zu erhalten (vgl. Kapitel 5.6.2.1).
5.2 K URZPORTRÄTS : T RANSNATIONALE L EBENSENTWÜRFE Für die Darstellung der Kurzporträts werden die Kurzbiographien von den Personen herangezogen, bei denen sich ein ausgeprägter transnationaler Lebensentwurf anhand des Migrationsverhaltens zwischen Herkunftskultur-
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raum und Deutschland erkennen lässt. Dabei beschränke ich mich auf drei Kurzporträts, die bereits mehr als fünf Mal, in der Regel innerhalb von kurzen Abständen, zwischen GUS und Deutschland migriert sind. Anhand von diesen Biographiebeispielen lässt sich zeigen, welche Lebensstrategien diese bildungserfolgreichen Transmigranten aufgreifen, um ihre transnationalen Ziele und Zukunftswünsche auszuleben und wie es ihnen gelingt, als Transmigrant die Balance zwischen den beiden Kulturräumen (Herkunftskultur und Aufnahmekultur) gleichermaßen zu erreichen und in beiden Kulturen beheimatet zu sein. Die Darstellung der Kurzporträts vermitteln erste Einblicke in die transnationalen Lebensformen der Interviewpartner.10 Sie sind nicht repräsentativ für alle bildungserfolgreichen Transmigranten, lassen aber eine Typenbildung zu. Zur besseren Identifizierung und Zuordnung folgt ein tabellarischer Überblick mit soziodemografischen Grunddaten der Interviewpartner.11
10 Auf tiefere Einblicke in die Identitätskonstruktion, das Verhältnis zur Heimat, in Netzwerkstrukturen und temporäre Rückkehrmotive und die daraus resultierenden Konfigurationstypen wird an späterer Stelle eingegangen. 11 Aus Datenschutzgründen sind die Namen der Interviewpartner durch Pseudonyme maskiert. Durch verwiesene ID Nummer können die jeweiligen Akteure in späteren Kapiteln leichter erkannt werden.
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Tabelle 1: Überblick Interviewpartner (N=20)
ID
Pseudo.
m/w
Al-
Qualifikation
ter12
Vertiefungs interview
1
Fedja
m
23
Uni/Master/Osteuropastudien
ja
2
Petja
m
28
Uni/Magister/Soziologie
ja
3
Anton
m
26
Uni/Master/Soziologie
ja
4
Nadine
w
28
Uni/Master/ Regionalwissenschaften
ja
5
Mascha
w
28
Uni/Diplom/Soziologie
ja
6
Eddi
m
28
PhD/Osteuropastudien
ja
7
Vitali
m
27
Kaufmännische Ausbildung
Ja/
8
Ela
w
23
Uni/Bachelor/Fach unbekannt
nein nein
Schriftverkehr 9
Wadim
m
28
Uni/Fach unbekannt
10
Serjoga
m
23
Uni/Bachelor/Wirtschaft
nein
11
Kolja
m
25
Uni/Bachelor/Wirtschaft
nein
12
Elvira
w
24
Uni/Bachelor/Russisch
nein
13
Valja P.
w
25
Uni/Magister/Soziologie
nein
14
Valja B.
w
25
Uni/Lehramt/Mathematik
nein
15
Elena
w
26
Uni/Magister/Soziologie
nein
16
Olja
w
24
Uni/Master/Wirtschaft
nein
17
Andrej
m
18
Ausbil-
nein
dung/Maschinenbauingenieur 18
Sascha
m
26
Technische
nein
Fachschule/Elektrotechniker 19
Johann
m
35
Bauingenieur (FH)
nein
20
Ira
w
34
Uni/Diplom/Soziologie
nein
Quelle: Eigene Darstellung
Kurzporträt ID1: Fedja wurde in Russland geboren. Sein Vater, ein ethnischer Deutscher aus Russland, und seine Mutter, eine ethnische Russin
12 Das Alter bezieht sich auf das Alter zum Zeitpunkt des Interviews.
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aus Russland, beschließen im Jahre 1990 infolge einer familiären Migration nach Deutschland zu migrieren. Die Ausreisemotive werden hauptsächlich mit den schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen Ende der 1980er und Anfang der 1990er in der ehemaligen Sowjetunion begründet. Fedjas Eltern hoffen, durch die Migration nach Deutschland den Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Fedja ist damals zwei Jahre alt. An den Prozess der Migration kann er sich nicht genau erinnern. Im Interview erwähnt er nur, dass es Bilder gibt, die diesen Migrationsprozess dokumentieren. Angekommen in Deutschland, versucht Fedja sich stark in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. In wenigen Monaten beherrscht er bereits die deutsche Sprache perfekt und in der Schule glänzt er mit seinen Leistungen. Fedja besucht eine Ganztagsschule nicht weit von seinem Wohnort, wo er kaum Migranten- und (Spät-)Aussiedlerkinder kennenlernt. So gelingt es ihm auch, Freundschaften unter Deutschen zu knüpfen. Doch der Einfluss der russischen Kultur und der russischen Sprache ist trotzdem durch die Erziehung der Mutter groß. In der Familie wird russisch gesprochen. Im Gegensatz zu den anderen Familien, legt Fedjas Mutter großen Wert darauf, dass die Kinder auch die russische Sprache in Deutschland bewahren. „[...]Wenn ich nachhause gekommen bin, hatte ich nach dem Grundschulunterricht erst einmal eine Unterrichtstunde russisch mit meiner Mutter[...]“. ( ID 1)
Fedjas transnationaler Lebensentwurf zieht sich seit seinem zweiten Lebensjahr bis heute hin. Da seine beiden Eltern die doppelte Staatsbürgerschaft (deutsch und russisch) besitzen, pendeln sie einmal im Jahr seit ihrer Migration nach Deutschland mit Fedja zusammen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland. So verbringt er als Schulkind und später als Jugendlicher mindestens einmal im Jahr seine Schulferien für drei bis vier Wochen bei seinen Großeltern und Verwandten mütterlicherseits, die noch im Herkunftsort geblieben sind. Die Transnationalität wird zur Strategie, um die Bindungen und sozialen Kontakte (Freunde, Verwandte, Bekannte) im Herkunftsland aufrecht zu erhalten. Das russische Wertesystem, das durch die Erziehung der Mutter an Fedja übertragen wird, aber auch die ständigen Besuche und Aufenthalte zwischen Herkunftsort und Deutschland, prägen Fedjas Identität und Lebensweise in der Hinsicht, dass er mit einem gewissen kulturellen Interesse und einer Neugier auf Russland seinen Studiengang der Europa-
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Studien mit der Fachrichtung Osteuropa-Studien in Verbindung mit der russischen Sprache und dem russischen Kulturraum wählt. Während seines Studiums in Deutschland entdeckt Fedja die zahlreichen Studienaustauschmöglichkeiten mit Russland, die er als eine weitere Chance für die Erkundung seiner Herkunftskultur in Betracht zieht. Sein Wunsch für einen längeren Zeitraum nach Russland „zurückzukehren“ und das Land und die Kultur nicht nur an seinem Geburtsort bei Verwandten, sondern auch in den weiteren Teilen Russlands wie Petersburg, Moskau, Izhevsk besser kennenzulernen, realisiert er im Herbst 2010 im Rahmen eines Studienaustausches für ein Semester. Anschließend folgt Anfang 2011 sein Praktikum für weitere zwei Monate in Russland. Während seines temporären Aufenthaltes versteht Fedja, dass ihm vieles kulturell „näher vorkommt“ als er bislang glaubte: die Menschen, die Kultur, die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Strukturen des Lebens und des Alltags. So kann er sich sehr gut vorstellen, in der Zukunft für einen längeren Zeitraum von zwei bis drei Jahren beruflich nach Russland zurückzugehen. Deutschland bezeichnet er als seinen Lebensmittelpunkt, dennoch spürt er einen viel stärkeren Bezug zu Russland, weil er dort seine „Wurzeln“ und seine „Herkunft“ sieht. Seine Strategie, Transnationalität weiterhin aufrechtzuerhalten, ist eher berufsbezogener Natur. Er möchte nach dem Studienabschluss eine Tätigkeit eingehen, die ihm ermöglicht, öfter zwischen beiden Ländern zu pendeln und somit beide Teile seiner Identitätszugehörigkeit aufrechtzuerhalten. Um diese transnationalen beruflichen Ziele zu realisieren, plant Fedja zum Zeitpunkt unseres zweiten Vertiefungsinterviews seine nächste temporäre „Rückkehr“ nach Russland zwecks Praktikums im Sommer 2011. Im Herbst 2011 folgt ein weiteres transnationales Ziel von Fedja: er plant ein Masterstudienprogramm mit einem Doppelabschluss in Berlin und Moskau zu absolvieren, das ihm weitere berufliche Türen zwischen Deutschland und Russland eröffnen wird. Kurzporträt ID 2: Petja wurde in Kasachstan geboren. Im Jahre 1991 migriert er im Alter von neun Jahren mit seinen Eltern (Vater ethnischer Deutscher aus Kasachstan, Mutter ethnische Russin aus Kasachstan), seiner Großmutter väterlicherseits und seiner damals dreizehnjährigen Schwester nach Deutschland. Die Ausreisemotive seiner Eltern werden vor allem damit begründet, dass die Eltern aufgrund des Zusammenbruchs in der Sowjetunion keine Perspektiven und Zukunftsaussichten für ihre Kinder im
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Herkunftsland sehen. In einem fast dreistündigen Gespräch erzählt Petja alle Einzelheiten dieser Migration von der Vorbereitung bis zur Ankunft. Als Neunjähriger hatte er bereits einige Zeit in einem multiethnischen Land, wie Kasachstan, verbracht und konnte sich an seine Kindheit dort sehr gut erinnern. Über die Migration nach Deutschland wurde mit ihm kaum gesprochen. Während des Interviews zeigt Petja viele Emotionen, wenn er über gewisse Themen wie Identität und Heimat spricht. Seine Integration in Deutschland verläuft insgesamt sehr positiv, sowohl im schulischen als auch im sozialen Bereich. Im Gegensatz zu seiner Schwester distanziert er sich von interethnischen Freundschaften und versucht vielmehr, sich in die „einheimische“ Gesellschaft zu integrieren. Für die gelungene Integration betont er insbesondere die Rolle der Bildung, worauf seine Eltern einen großen Wert legten. Bereits in der Schule erzielt Petja gute Leistungen und beschließt später Sozialwissenschaften zu studieren. Die Transnationalität prägt Petjas Familie von Anfang an durch die beruflichen Verbindungen und Geschäftsideen seines Vaters mit Russland und Kasachstan und durch die zahlreichen Familienbesuche im Herkunftsland. Als Jugendlicher pendelt er mit seinen Eltern zusammen zwischen Deutschland und seiner Herkunftsregion. Mit zunehmendem Alter werden diese Besuche allerdings aus persönlichen Gründen weniger. Desto stärker spürt Petja aber die Sehnsucht nach dem russischen Kulturraum. In dieser Zeit merkt er, dass er noch einen „anderen Teil der Identität“ besitzt, den er jahrelang „verdrängt“ hat, weil er sich der deutschen Gesellschaft anpassen wollte. So setzt er sich während seines Studiums einen „Bildungsauftrag“, den „anderen Teil“ seiner kulturellen Zugehörigkeit durch Wiederbelebung der russischen Kultur wie Sprache, Geschichte, Literatur zu fördern. In den Migrationsprozessen durchläuft Petjas Zugehörigkeit starken Wechselwirkungen. Vor seiner Migration nach Deutschland ist seine Zugehörigkeit durch eine übergeordneten Identität geprägt: „[...] Ja, wir waren alle Sowjetmenschen[...]“. (ID 2) Angekommen in Deutschland setzt er sich erneut mit der eigenen Identität und Identitätsfindung stark auseinander, weil er eine gewisse Identitätsambivalenz spürt: lange Zeit bezeichnet er sich als „europäisch“, um sich nicht auf ein bestimmtes Land festlegen zu müssen. Um diese Ambivalenz zu verstehen und seine Sehnsucht nach dem russischen Kulturraum zu erfüllen, beschließt er im Jahre 2008 mit einem Studienaustauschprogramm einen längeren Aufenthalt in Russland zu absolvieren. Seinem sechsmona-
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tigen Aufenthalt in St. Petersburg folgt sein Praktikum noch in demselben Jahr bei einer deutsch-russischen NGO. Während seines Aufenthaltes besucht Petja auch seinen Geburtsort in Kasachstan. Es gelingt ihm, durch diesen Studien- und Praktikumsaufenthalt ein transnationales soziales Netzwerk aufzubauen: er knüpft Freundschaften, die er auch weiterhin von Deutschland aus über soziale Netzwerke wie Facebook aufrechterhält und baut Kontakte mit russischen Kulturorganisationen, Institutionen und verschiedenen NGO´s auf, die in St. Petersburg auf dem politischen Parkett und dem Kulturbereich aktiv sind. Petjas Entscheidung zu einer temporären „Rückkehr“ nach Russland ist eine wichtige Erfahrung, die ihm „etwas“ zu finden ermöglicht, was ihm „die ganze Zeit in Deutschland gefehlt habe“: „[...] ich habe in Russland mein zweites Ich gefunden und das war wie so eine Renaissance [...]“. (ID 2)
Zum Zeitpunkt unseres zweiten Vertiefungsinterviews plant Petja seinen nächsten temporären Aufenthalt in Russland, zumal auch sein Vater zu diesem Zeitpunkt sich wieder geschäftlich für einen langen Zeitraum in Russland aufhält. Eine weitere temporäre „Rückkehr“ für mehrere Jahre nach Russland oder Kasachstan möchte Petja auf jeden Fall noch einmal zwecks beruflicher Weiterbildung und zusätzlicher Karrieremöglichkeiten wagen, allerdings ist dieser Wunsch noch nicht für einen konkreten Zeitraum geplant. Eine „Rückkehr für immer“ hält Petja für seinen Lebensentwurf eher unwahrscheinlich, weil er durch Pendeln zwischen den beiden Ländern die beiden Teile seiner kulturellen Zugehörigkeit ausleben und somit in beiden Ländern beheimatet sein kann. Kurzporträt ID 4: Nadine wurde in Kasachstan geboren. Bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr verbringt sie in Kasachstan ihre Kindheit und Jugend, die sie als sehr prägend beschreibt. Als Nadines Eltern 1995 beschließen nach Deutschland auszuwandern, besucht sie bereits die sechste Klasse in Kasachstan. Die Migration nach Deutschland empfindet sie trotzdem als ein Abenteuer und nimmt diese Entscheidung ihrer Eltern mit Freude an. Als Ausreisemotiv nach Deutschland erwähnt Nadine die „schwierigen Zeiten“ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Gelegenheit, nach Deutschland überzusiedeln soll Nadines Familie bessere Lebensbedingungen und Zukunftsperspektiven für ihre Kinder garantieren.
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Nadines Mutter ist ethnische Deutsche aus Kasachstan und fühlt sich somit auch teilweise mit Deutschland und mit der deutschen Geschichte durch ihr Elternhaus verbunden. Nadines Vater fällt die Migration nach Deutschland etwas schwieriger, weil er seine Eltern und Verwandten zurücklassen muss. Angekommen in Deutschland, versteht Nadine schnell, dass die Migration kein „Abenteuer“ ist. Die deutsche Kultur, die Sprache, die sie nicht kennt, das „andere“ Schulsystem scheinen sehr fremd zu sein. Ihre Integration in Deutschland bezeichnet sie selbst bis zum Gymnasium als schwierig. Oft stoßt sie auf negative Reaktionen von gleichaltrigen deutschen Jugendlichen und muss viele Unannehmlichkeiten in der Schule „ertragen“. Nichtsdestotrotz versucht sie innerhalb kürzester Zeit die deutsche Sprache zu lernen, um somit Zugang zur deutschen Gesellschaft zu erhalten und etwas Anerkennung zu bekommen. Sie legt das Abitur ab und beschließt Regionalwissenschaften mit Schwerpunkt Osteuropa und als Nebenfach Russische Sprache zu studieren. Die Wahl des Studienganges geschieht bewusst: „[...] Ich habe meinen Studiengang so gewählt, dass ich einen Bezug zu Russland habe [...]“. (4)
Den Bezug zu Russland möchte Nadine auf keinen Fall verlieren, weil sie spürt, dass sie durch ihre Sozialisation in der Sowjetunion und durch ihren Vater noch kulturelle „Wurzeln“ im Herkunftsland hat. Am Anfang ihres Aufenthalts in Deutschland macht sich Nadine Gedanken um eine endgültige Rückkehr nach Russland. Mit der zunehmenden Integration in die deutsche Gesellschaft wird der Wunsch zurückzukehren weniger präsent. Vielmehr versucht sie mit Pendeln zwischen Russland und Deutschland, mit Nadines Worten „durch kleine Schritte“, den Bezug zum Herkunftskulturraum aufrechtzuerhalten: im Jahr 2000 nimmt sie noch in der Schule an einer Erkundungsreise nach Russland teil und kurz danach besucht sie mit ihren Eltern die Familie, die noch in Russland und Kasachstan geblieben ist. Als Nadine mit zunehmendem Alter ihr größeres Interesse an Russland entdeckt, beschließt sie im Jahr 2003, ein Praktikum für zwei Monate in Moskau zu absolvieren. Im Jahr 2009 kehrt Nadine wieder nach Russland „zurück“, um einen Studienaustausch zu machen. Während dieser Aufenthalte erkennt Nadine ihre beruflichen Chancen in Russland durch ihr Bildungsund Sprachkapital, die sie als Ressourcen auf dem deutsch-russischen Ar-
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beitsmarkt anbieten kann: sie spricht beide Sprachen, sie kennt die politischen Systeme beider Länder gut und ist in beide Kulturen integriert. Um ihre zukünftigen transnationalen Berufsziele zu operationalisieren, plant sie ein weiteres Praktikum im Jahr 2011 in Russland. Zufällig erfährt sie aber von einem Studiengang in Kaliningrad, der ihr sogar die Möglichkeit eines Doppelstudiums in Deutschland und Russland bietet. Sie nimmt diese Möglichkeit im Frühling 2011 wahr. Die Strategie der Transnationalität als kulturelles Kapital13 möchte Nadine auch in ihrem späteren beruflichen Leben einsetzen, um so die beiden Kulturen, in denen sie sich gleichermaßen beheimatet fühlt, zu verbinden. Ihr heutiges Studium als ein weiteres kulturelles Kapital sei ein großer Schritt in diese Richtung.
5.3 E XKURS : M IGRATION NACH D EUTSCHLAND – H ERAUSGERISSEN AUS DER VERTRAUTEN U MGEBUNG Zwischen 1997-2009 sind ca. 59.130 Kinder unter sechs Jahren und 182.141 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und achtzehn Jahren als (Spät-)Aussiedler nach Deutschland migriert (vgl. Statistisches Bundesamt 2010). Unter diese Statistik fallen auch die Interviewpartner, die wie alle (Spät-)Aussiedlerkinder das gleiche Schicksal teilen: sie sind die mitgenommene Generation, die vor vielen Jahren aus der gewohnten Umgebung ihrer Kindheit herausgerissen und von ihren Eltern in ein fremdes Land
13 In diesem Kontext geht Rosenthal (2011) davon aus, dass transnationale Biographien mit etlichen Verunsicherungen und Belastungen verbunden sind. Anhand von Katharinas Beispiel zeigt sie die Möglichkeit in zwei Welten zu leben, die allerdings voneinander getrennt gehalten werden müssen und oft kaum miteinander vereinbar sind (vgl. Rosenthal 2011: 18). Die Interviewanalyse in dieser Studie zeigt jedoch, dass die meisten Interviewpartner Transnationalität als kulturelles Kapital und als Brücke zwischen diesen beiden Welten nutzen. Daher ist es an dieser Stelle zu betonen, dass Transnationalität nicht
allgemeinen als Erfolgsmodell bei allen jungen (Spät-)Aussiedlern
fungiert, sondern sich als solches lediglich aus den Ergebnissen dieser Studie herauskristallisiert.
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verpflanzt wurden. Ein Land, das sie nur aus Erzählungen von Verwandten und Bekannten kannten. So versucht beispielsweise ein Interviewpartner seine Migration nach Deutschland zu beschreiben: „Ich wurde vor 18 Jahren einfach so aus dem Leben herausgerissen…Es hieß plötzlich, wir fahren nach Deutschland. Ich habe nie damit abgeschlossen […]“. (ID 11)
Anhand von Erzählungen der Interviewpartner, die aus heutiger Sicht durch Erinnerungen rekonstruiert werden, lässt sich feststellen, dass die Migration nach Deutschland für sie eine prägende und wichtige Lebensphase bedeutete. Deutschland, das „heilige Land“14 im Westen, wurde in den Augen der Befragten oft mit Wohlstand und Reichtum in Verbindung gebracht. Das tatsächliche Wissen über Deutschland beschränkte sich allerdings auf die „schönsten“ Erzählungen von Verwandten und Bekannten ihrer Eltern, die bereits in Deutschland lebten und die Verbindung zu Verwandten im Herkunftsland pflegten. „Ich wusste, dass es [in Deutschland] verpackten Käse gibt und viele, viele Süßigkeiten! Sonst [wusste ich] nichts eigentlich“. (ID 7)
Die „verschönerten“ Deutschlandbilder, die mit der Realität kaum etwas zu tun hatten, werden im frühkindlichen Alter von Großeltern und Eltern als ein Bild der „lang ersehnten Heimat“ an die Kinder übermittelt. „Ich hab immer nur diese Märchen mitbekommen als Kind. In Deutschland ist es sauber, in Deutschland gibt es das, in Deutschland gehen die Türen von selber auf und die Straßen sind so sauber, dass man mit weißen Socken da laufen kann […]“. (ID 14)
Für die Ausreise aus dem Herkunftsland war eine Reihe von Motiven verantwortlich. Die Interviewanalyse zeigt, dass vor allem der Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre die wirtschaft-
14 Der Ausdruck „heiliges Land“ stammt von einem Interviewpartner, als er versuchte mir sein „Deutschlandbild“ vor der Migration zu übermitteln. Im Interviewkontext benutzt mein Interviewpartner diesen Ausdruck in Verbindung mit Reichtum und Wohlstand.
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liche und politische Situation in den Herkunftsländern und somit auch die wirtschaftliche Familiensituation der Interviewpartner erheblich verschlechterte. Eine Interviewpartnerin gibt diese Situation mit dem folgenden Interviewausschnitt sehr präzise wider: „Wir waren in Kasachstan und die gesamtwirtschaftliche Lage war nicht gut. Dementsprechend ging es auch unserer Familie. Wir haben in einer Wohnung gewohnt kurz vor der Abreise und da hatten wir die gleichen Probleme wie die anderen, dass es keinen Strom gab, auch mal kein heißes Wasser, solche Probleme…Meine Mutter hat, glaube ich, auch sehr unregelmäßige Lohnzahlungen auf der Arbeit gehabt oder wurde auch teilweise mit Kohle bezahlt, weil sie in einer Kohlefabrik gearbeitet hat. Solche Unannehmlichkeiten und die Situation hat uns auch zu schaffen gemacht, weil wir auch z.B. so ein Sommerhaus verkauft haben, nach der Einführung der neuen Währung war das so entwertet, dass man mit dem Geld wirklich nur einen Anzug für meinen Vater kaufen konnte. Alles nicht besonders rosig“. (ID 16)
Dieses Motiv scheint vor allem für die Eltern der Befragten ein wichtiger Push-Faktor für die Migrationsentscheidung nach Deutschland gewesen zu sein und generell die Migrationsentscheidung erleichtert zu haben. Aufgrund dieser wirtschaftlichen und politischen Gründe erhofften sich die Eltern durch die Migration nach Deutschland eine bessere Zukunft vor allem für ihre Kinder. Die Migration nach Deutschland sollte die Gesamtsituation der Familie verbessern und „ein besseres Leben im Westen“ mit Zukunftsperspektiven für „mitgenommene“ Kinder ermöglichen: „Unsere Eltern sind hergekommen, um uns bessere Ausbildungschancen zu ermöglichen. Ein besseres Leben[…]“. (ID 7) „Meine Eltern wollten einfach den Kindern, also mir und meinen anderen Geschwistern, besseres Leben bieten und ich glaube das war die Hauptmotivation“. (ID 6) „Die Motive waren eine bessere Zukunft für uns Kinder, eine bessere Zukunft für meine Eltern. Wir haben eigentlich keine guten Perspektiven gehabt, wir haben in Altai gelebt, in so einem kleinen Ort mit 10.000 Einwohnern und wir wären da nie rausgekommen. Es gab keine Zukunft für uns“. (ID 11)
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5.4 Z WISCHEN I NTEGRATION
UND
AUSGRENZUNG
Angekommen in Deutschland, standen die (Spät-)Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion vor einer neuen und schwierigen Situation, sich in einer neuen Kultur zu orientieren und behaupten zu müssen. In der wissenschaftlichen Debatte werden für ein gelungenes Integrationsmodell der Migranten in die einheimische Gesellschaft unterschiedliche Dimensionen der Integration vorgeschlagen. Nach Essers (2001) „Mehrfachintegrationsmodell“ lässt sich Integration als „Einbezug der Akteure in das gesellschaftliche Geschehen“ durch Gewährung von Rechten, Erwerb von Sprachkenntnissen, Beteiligung am Bildungssystem, Arbeitsmarkt, öffentlichem und politischem Leben, durch Entstehen von interethnischen sozialen Netzwerken und sozialer Akzeptanz sowie durch die emotionale Identifikation mit dem Aufnahmeland definieren (vgl. Esser 2001: 8). Als Formen der Sozialintegration unterscheidet Esser vier Dimensionen, die eine gelungene Integration in die einheimische Gesellschaft ermöglichen sollen: Kulturation (Erwerb des Wissens, vor allem der Sprache), Platzierung (soziale Position in der Gesellschaft), Interaktion (soziale Kontakte) und Identifikation (emotionale Verbundenheit mit der einheimischen Gesellschaft) (vgl. ebenda: 8ff). Dieses Konzept ist mit einem assimilativen Integrationskonzept zu vergleichen und wird deshalb und auch wegen seiner fixen Reihenfolge stark kritisiert: gerade bei der Beobachtung der transnationalen Migrationssysteme können die nationalen, ethnischen, kulturellen und staatlichen Elemente durch Pluralisierung und Globalisierung ergänzt und daher durch ein Assimilationsmodel nicht mehr ausreichend erklärt werden. Im Gegensatz zu Esser trägt Heckmanns (2001) Integrationsmodell keinen solchen assimilativen Charakter, auch wenn Heckmann für dieses Modell fast ähnliche Kriterien für eine erfolgreiche Integration in die einheimische Gesellschaft vorschlägt: kulturelle (Sprache und Spracherwerb), strukturelle (Bildung und Arbeit), soziale (Netzwerke) und identifikative (Zugehörigkeitsgefühl zur Aufnahmegesellschaft) (vgl. Heckmann 2005: 2). Nach diesem Modell bedeutet Integration keine einseitige Eingliederung von Migranten in die Aufnahmegesellschaft, sondern auch seitens der Aufnahmegesellschaft muss Integration gewährleistet werden (vgl. ebenda). Für den Verlauf der Integration der befragten jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler scheinen insbesondere zwei Aspekte der Integration
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von großer Bedeutung zu sein: der kulturelle Aspekt durch den Erwerb und die Beherrschung der deutschen Sprache und die Teilhabe an Bildungssystem in Deutschland. Gerade „hier werden die Weichen für Selbständigkeit, Anerkennung, Karriere und Partizipation gestellt […]“ (Vogelgesang 2008: 65). Nicht zuletzt wird durch die Sprachkompetenz auch der Bildungs- und Berufserfolg beeinflusst, wie dies anhand der befragten Personen festgestellt werden konnte. Das Verfügen oder Nicht-Verfügen über diese wichtigen Zugangsressourcen zur einheimischen Gesellschaft kann die Integration beschleunigen oder auch verlangsamen. Daher werden diese zwei Aspekte der Sprache und Bildung in Bezug auf die Integration der jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler näher diskutiert, zumal die Wahl der Untersuchungsgruppe gerade auf deren Bildungserfolg fällt. 5.4.1 Integration durch Sprache und Spracherwerb Die Beherrschung der deutschen Sprache vor der Migration nach Deutschland war für die Interviewpartner keine Selbstverständlichkeit trotz ihrer deutschen Wurzeln. Während in den Herkunftsländern die deutsche Sprache (überwiegend als „Plattdeutsch“) für die ältere Generation noch ein wichtiger Bezugspunkt für ihr Deutschsein war, ist die jüngere Generation – die 1. Generation und Generation 1.5 – kaum der deutschen Sprache mächtig gewesen (vgl. Dietz et al. 1998: 81). Dies hing vor allem mit der zunehmenden Russifizierung in der ehemaligen Sowjetunion zusammen, infolgedessen das „Wir-Gefühl“, Deutsche zu sein für die jüngere Generation seine Bedeutung verlor (vgl. Schönhuth 2001). Die Interviewanalyse zeigt, dass in den Familien der Interviewpartner teilweise sogar bewusst auf die deutsche Sprache verzichtet wurde, denn: „[…] Es gab ja von den alten Zeiten her ein bisschen Gefahr, Deutsch zu sprechen, deswegen hat sie [die Oma] nur Russisch gesprochen mit uns […]“. (ID 19)
Die Migration nach Deutschland verlangt von den Interviewpartnern eine rasche Beherrschung der deutschen Sprache, die eine Voraussetzung für ihre schulische Integration darstellt. Für die Beherrschung der deutschen Sprache kann dem Alter zum Zeitpunkt der Migration eine große Rolle beigemessen werden. Während die Interviewpartner, die im Kindesalter von zwei bis zehn Jahren nach Deutschland migriert sind, ohne große
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Schwierigkeiten Deutsch lernen, verläuft die sprachliche Integration der Interviewpartner, die im Alter von 13–18 Jahren nach Deutschland eingereist sind, erheblich schwieriger. Dies hängt damit zusammen, dass für die Interviewpartner im pubertären Alter (13–18) die Migration nach Deutschland eine zweifache Belastung darstellte: ihre Sozialisation im Herkunftsland war im Gegensatz zu den Anderen (zwei bis zehn Jahre alt) fortgeschrittener und die Migration nach Deutschland bedeutete für diese Personen vor allem Entwurzelung aus der vertrauten Schulumgebung und dem Freundeskreis. Andererseits befanden sich diese Personen bereits in einer Phase der Identitätsorientierung und mussten durch die Migration nach Deutschland das Spannungsfeld zwischen der alten und neuen Kultur ausweiten. Petja (ID 2), der im Alter von neun Jahren nach Deutschland migrierte und sehr schnell die deutsche Sprache erlernte, stellt im Hinblick auf (Spät-)Aussiedlerjugendliche im pubertären Alter einen Motivationsmangel in Bezug auf das Erlernen der deutschen Sprache fest, denn „[…] die sind mit Vierzehn oder Fünfzehn mitten in der Pubertät nach Deutschland gekommen und oft siedelten sie mit irgendwie anderen Migranten aus Russland, Russlanddeutschen und sie hatten keine Motivation Deutsch zu lernen […] dann übernahmen sie quasi auch diese Stereotypenbilder von Deutschen und Stereotypenbilder von ihren Gleichaltrigen, dass die diesen Rebellenstatus haben müssen […]“. (ID 2)
Dass Petja den genannten „Rebellenstatus“ nicht übernommen hat und sehr schnell die neue Sprache beherrschte, verdankt er einerseits seinem relativ jungen Migrationsalter und andererseits der einheimischen Umgebung, in der er mit seiner Familie wohnte: „Ich hatte Glück: erstens war ich ganz jung […] und wir sind in ein Dorf gezogen, wo in meinem Alter…also es war auch ein Zufall, dass dort auch eine andere russlanddeutsche Familie war und die einen Sohn hatte, der theoretisch russisch sprechen hätte können, aber er war introvertiert [lacht], das heißt, ich hatte gar keine andere Möglichkeit als irgendwie Deutsch zu lernen. Nach drei Wochen konnte ich Leute verstehen und mich mit denen unterhalten“. (ID 2)
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Im Gegensatz zu Petja hatte seine Schwester mit dreizehn Jahren Probleme beim Erlernen der neuen Sprache und vor allem bei der Integration in die neue Umgebung. Auch Nadine (ID 4) und Sascha (ID 18) stellen einen solchen Fall dar, die durch ihr im Vergleich mit ID 2 höheres Migrationsalter Integrationsschwierigkeiten, vor allem auf der sprachlichen Ebene, erfahren durften. Während Nadine trotz dieser Hürde in Deutschland durch Fleiß die deutsche Sprache lernt und den Zugang zum Bildungssystem erreicht, fällt Sascha bis heute immer noch schwer deutsch zu sprechen: „Die Sprache ist für mich auch ein großes Problem“ (ID 18), stellt er während unseres Interviews fest. Dieses Problem beeinflusst seine weitere berufliche und soziale Integration in Deutschland, wodurch Saschas eventueller Rückkehrwunsch ins Herkunftsland verstärkt wird.15 Es wird also ersichtlich, dass kulturelle Integration für die gleiche Gruppe der Bildungserfolgreichen altersbedingt unterschiedlich verlaufen kann. Wobei zu betonen ist, dass im Gegensatz zu anderen Migrantenkindern, die ohne Sprachkenntnisse nach Deutschland migrieren, für die (Spät-)Aussiedlerkinder die deutsche Sprache nicht völlig fremd war, trotz der Tatsache, dass sie selbst diese in den Herkunftsländern wenig bis gar nicht gepflegt haben. Als wichtiges kulturelles Gut für die Aufrechterhaltung des „Deutschtums“ wurde die deutsche Sprache dennoch im engen Familienkreis von ihren Großeltern und teilweise auch von ihren Eltern eingesetzt. Somit waren auch die befragten jungen (Spät-)Aussiedler vor ihrer Migration nach Deutschland mit der deutschen Sprache konfrontiert. In manchen Teilen der ehemaligen Sowjetunion gehörte der deutsche Sprachgebrauch sogar zur Normalität des alltäglichen Lebens, wie dies beispielweise in Valjas (ID 13) Familie der Fall war: „[…] wir haben in einem deutschen Dorf in [Ort] gelebt und auch Plattdeutsch nur gesprochen, auch nicht russisch. Russisch wurde in diesem Dorf erst in der Schule gesprochen und zuhause war es Plattdeutsch […]“. (ID 13)
Besonders nach der Einreise in Deutschland sollten die Interviewpartner sehr schnell Deutsch lernen, um die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen
15 Dazu vgl. ausführlich Kapitel 5.6.1.3.
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und sich dem gewünschten Zugehörigkeitsbild des „Deutschseins“ anzupassen, so wie etwa Kolja (ID 11) das beschreibt: „[…] ich hab ziemlich schnell Deutsch gelernt, aber meine Eltern haben auch darauf geachtet. Die haben Vokabelbücher gekauft für mich und meine Schwester. Wir mussten jeden Tag zwanzig deutsche Wörter lernen. Also mein Vater hat darauf geachtet […]“. (ID 11)
Aus heutiger Sicht betrachtet ist die deutsche Sprache für die meisten Befragten die alltägliche Kommunikationssprache. Während mit Freunden und Bekannten hauptsächlich auf Deutsch und selten auf Russisch gesprochen wird, ist die Kommunikation in der Familie durch häufigen Sprachwechsel und häufige Sprachmischung gekennzeichnet. Besonders in den Familien, in denen noch stärker die russischen Kulturelemente durch Tradition und Gewohnheiten aufrechterhalten werden, kommt die russische Sprache im engen Familienkreis auch häufiger zum Gebrauch. In diesem Kontext lassen sich ebenfalls Unterschiede zwischen Familienstrukturen feststellen: während in den (Spät-)Aussiedlerfamilien, in denen beide Elternteile ethnische Deutsche sind, sehr großer Wert darauf gelegt wird, in allen alltäglichen Situationen auf Deutsch miteinander zu kommunizieren, kann in den binationalen (Spät-)Aussiedlerfamilien das Bild der sprachlichen Hybridität (vgl. dazu Meng et al. 2005) öfter beobachtet werden.16 Dieses Muster der sprachlichen Hybridität als Zeichen der Beibehaltung der russischen Kultur in Deutschland wiederholt sich bei allen Interviewpartnern aus multiethnischen Familien (N=10). Zwei Interviewausschnitte sollen das an dieser Stelle verdeutlichen: „I: In welcher Sprache kommuniziert ihr? P: Also Mischmasch. Mit meiner Mutter sprech‘ ich Russisch, mit meinem Vater meistens Deutsch, weil wir diskutieren sehr viel mit meinem Vater und das auf
16 „Sprachliche Hybridität“ kann in diesem Sinne als die Mischung und Zusammensetzung zweier Sprachen bzw. das „Hin und Herwechseln“ zwischen zwei oder mehreren Sprachen bezeichnet werden. Meng/Protassova sprechen in diesem Kontext von Verknüpfung deutscher und russischer Elemente und nennen diese Sprachmischung deutsch-russisch gemischtsprachige Äußerungen (Aussiedlerisch) (vgl. Meng et al.. 2005: 230).
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Deutsch, aber eigentlich ist das eher so Mischmasch, je nach Gefühl was man sagt. Manchmal sagst du es auf Russisch, manchmal auf Deutsch […]“. ( ID11) „I: Und wie ist das jetzt in der Familie mit der Sprache? P: Gemischt, aber mehr Deutsch, weil mein jüngster Bruder, der war vier, der kann kaum Russisch. Also wir sprechen schon Russisch, der versteht auch, aber man weiß nie wie viel er versteht bzw. nicht versteht (lacht). Manchmal ist es wirklich eine witzige Situation, also unter Geschwistern mehr Deutsch und mit den Eltern. Mein Vater ist Russe, also schon mehr Russisch. Aber das ist so ein Mischmasch“. (ID 4)
Der sprachliche Kontext spiegelt sich wiederum in jeder Interviewsituation. Die Interviewpartner lehnen ein Interview in der russischen Sprache ab17 mit der Begründung, dass sie zwar der russischen Sprache mächtig seien, aber die Kommunikation auf Deutsch ihnen leichter falle. Überraschenderweise nutzen aber Interviewpartner aus binationalen Familien in der Interviewsituation häufiger eine Sprachmischung bzw. einen Sprachwechsel im Gegensatz zu den Interviewpartnern, die aus ethnisch deutschen Familien stammen. Die Letzteren verzichten bewusst auf jegliche russischen Wörter, um somit ihr Deutschsein stärker zu betonen. Als Beispiel soll an dieser Stelle Valja (ID 14) genannt werden. Valja spricht kein Russisch: zum einen, weil sie die Sprache nicht so gut beherrscht, zum anderen, weil in der Familie immer darauf Wert gelegt wurde, dass die Kommunikation auf Deutsch stattfindet. Mit ihren „russlanddeutschen“ Freunden spricht sie ebenfalls Deutsch, weil diese kaum russisch können. Ihre Russischkenntnisse bewertet sie als nicht „besonders gut“, selbst nachdem sie ein halbes Jahr durch das Austauschstudium in Russland verbracht hat und auch durch das Studium in Deutschland etwas Russisch gelernt hat. So kann bei neun Interviewpartnern aus zehn ethnisch deutschen (Spät-)Aussiedlerfamilien (Gesamt N=20) ein ähnliches Muster beobachtet werden. Lediglich Johann (ID 19) zeigt ein etwas anderes Bild. Während im beruflichen Alltag nur Deutsch gesprochen wird, wird mit den Freunden und im familiären Umfeld nur auf Russisch kommuniziert. Dies kann durch die Migrationsbiographie und den engen sozialen Umfeld des
17 Aufgrund meiner guten Russischkenntnissen lasse ich den Interviewpartnern die Wahl der Interviewsprache. Dabei bevorzugen 17 Interviewpartner die deutsche Sprache. Mit drei Interviewpartnern verläuft das Interview auf Russisch.
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Befragten erklärt werden. Der heute 33jährige migriert mit fünfzehn Jahren aus Kasachstan nach Deutschland ohne jegliche deutschen Sprachkenntnisse. Zwar betont er mehrmals im Interview, dass es ihm nicht schwer fiele, die deutsche Sprache durch Förderunterrichte zu erlernen, dennoch möchte er das Interview auf Russisch durchführen. Dies deutet auf einige Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hin und auch sein deutlich russischer Akzent ließe sich in diese Richtung interpretieren, weswegen er von Einheimischen als „Nicht Deutscher“ wahrgenommen wird: „Sie wissen nicht wie sie mit mir umgehen sollen. Ich bin einerseits kein Einheimischer, aber auch nicht jemand der kein Deutsch spricht“. (ID 19)
Aus dieser Aussage geht hervor, wie Sprache schnell zur Etikettierung zum Fremden führen kann: mein Interviewpartner beherrscht zwar die deutsche Sprache gut, dennoch im Gegensatz zu den anderen Interviewpartnern (etwa zu ID 2, ID 4, ID 14) machen seine Deutschkenntnisse ihn als Fremden für die Einheimischen kenntlich (vgl. dazu auch Kapitel 5.5.2.1). Vor dem Hintergrund der kulturellen Integration zeigen die dargestellten Beispiele, dass die befragten jungen, bildungserfolgreichen (Spät-) Aussiedler insgesamt im deutschen Sprachkontext sehr gut etabliert sind. Dies scheint vor allem der Grund zu sein, dass sie sich auch einen erfolgreichen Zugang zur Bildung verschafft haben und somit im Allgemeinen eine erfolgreiche strukturelle Integration aufweisen (vgl. dazu auch Esser 2006). 5.4.2 Integration durch Bildung Schule und Bildung spielen eine entscheidende Rolle für Migrantenkinder in Deutschland und für ihre spätere Eingliederung ins deutsche Arbeitssystem. Die Schülerauffassung des Landes Nordrhein-Westfallen weist auf Benachteiligungen der Aussiedlerkinder und Jugendlichen im deutschen Schulsystem hin (vgl. Fenicia et al. 2010: 307). So besuchten über 50 Prozent der Aussiedlerkinder und -jugendlichen im Schuljahr 2003/2004 die Grund- und Hauptschule, aber nur 9,4 Prozent dieser Gruppe sind in einem Gymnasium vertreten. Dagegen ist die Zahl der einheimischen Jugendlichen im Gymnasium fast dreimal so hoch (vgl. Fenicia et al. 2010: 308).
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Ein leicht positives Bild über die schulische Integration der (Spät-) Aussiedler zeichnen die aktuellen Zahlen vom Berliner Institut für Bevölkerung aus dem Jahr 2009, die auf eine Auswertung der Mikrozensusdaten von 2005 beruhen. Mit einem Anteil von 23 Prozent in der gymnasialen Oberstufe und 16 Prozent bei den Akademikern schneiden die (Spät-)Aussiedler im Gegensatz zu den anderen Migrantengruppen im Bereich der Bildung relativ gut ab (vgl. Berlin Institut 2009: 51), jedoch nicht besser als die Einheimischen (vgl. ebenda: 36). Der Studie zufolge besitzen etwa drei Prozent der Aussiedler keinen Bildungsabschluss, während bei den Einheimischen dieser Anteil nur ein Prozent beträgt (vgl. ebenda: 51). Ca. 18 Prozent der jungen (Spät-)Aussiedler sind arbeitssuchend, wobei zu bemerken ist, dass sich die Jugendarbeitslosigkeit der (Spät-)Aussiedler insgesamt in den letzten Jahren und dem Sprung von der ersten auf die zweite Generation halbiert hat (vgl. ebenda: 37f). Dies bedeutet im Vergleich zu anderen Migrantengruppen, z.B. Türkischen, einen erheblichen Erfolg für junge (Spät-)Aussiedler sowohl im Bildungs- als auch Arbeitsbereich in Deutschland. Zu beachten ist, dass die in dieser Studie angewendeten Kriterien für eine gelungene Integration in Deutschland durch einen Index zur Messung der Integration (IMI) erfolgen, die aber auch kritisch zu betrachten ist.18 Eine erfolgreiche Integration durch Bildung lässt sich auch bei den befragten jungen (Spät-)Aussiedlern bestätigen (vgl. Abb. 18 und 19). Insgesamt weisen die Interviewpartner eine positive schulische Integration sowie ein hohes Bildungsniveau auf, auch wenn im Interviewkontext Anfangsschwierigkeiten während der Integration in Deutschland zu beobachten sind. Diese sind vor allem mit dem Wechsel vom sowjetischen Schulsystem zum deutschen zu erklären. Deutlich wird, dass gerade in dieser ersten Integrationsphase Zugehörigkeiten etabliert werden, die für die weitere Identifikationsprozesse der Interviewpartner entscheidend sind: in der Schule werden sie oft als „Außenseiter“, „Fremde“, „Ausländer“ von ihren einheimischen Schulkameraden wahrgenommen oder als „Russen“ pauschalisiert. Aufgrund der mangelnden Erfahrung mit Migrantenkindern
18 IMI enthält 15 Indikatoren für die Messung der Integration von Migranten, wobei zwei Indikatoren einen assimilativen Charakter tragen. Außerdem berücksichtigt IMI den Indikator der Sprachkompetenzen nicht, obwohl Sprache ein wichtiger Aspekt der Integration zu betrachten ist.
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Anfang der 1990er Jahre scheint die Schule oft selbst überfordert zu sein, wenn es um die Integration der (Spät-)Aussiedlerkinder geht. So erinnert sich beispielsweise Petja (ID 2) zwar mit Freude an seinen ersten Schultag, bezeichnet diese Erfahrung aber als „Betreten einer heilen Welt“, was auf die Homogenität der schulischen Umgebung hinweist: „[…] man muss sich vorstellen…Ich bin der erste Mensch gewesen, der aus einem anderen Kulturkreis kam. Die hatten da keine Migranten sonst. Überhaupt, es war total homogen. Ich kam quasi in eine heile Welt [lacht] und ich war der erste Ausländer, den die Kinder da auch gesehen haben […]“. (ID 2)
Bemerkenswert ist, dass auch die Integration der Interviewpartner auf der strukturellen Ebene genauso wie auf der kulturellen Ebene unterschiedlich verläuft. Während 18 Interviewpartner durch ihren Bildungserfolg eine gelungene strukturelle Integration verzeichnen, kann die berufliche Positionierung von Vitali (ID 7) und Sascha (ID 18) in Deutschland als misslungen bezeichnet werden. Vitali hat eine kaufmännische Ausbildung hinter sich und konnte dadurch den Zugang zu dem deutschen Arbeitsmarkt als Leiter in einer großen Geschäftsfiliale finden. Doch aufgrund mangelnder Identifikation mit dem deutschen Arbeitssystem und der deutschen Kultur fühlt er sich auf seinem Arbeitsplatz unzufrieden und wagt den Schritt zur Selbstständigkeit, die ebenfalls scheitert: „Ich habe als Assistent gearbeitet und dann war ich Filialleiter und dann war ich Geschäftsleiter und bin selbst aus dem Beruf gegangen, weil ich – wie gesagt – sehr viel mit dieser Mentalität zu tun gehabt habe. Und das hat mir nicht gepasst. Von der Geschäftsführung her mussten wir gewisse Dinge durchsetzen und auf der anderen Seite war der Betriebsrat ziemlich stark und ich hab ja versucht doch für die Mitarbeiter oder für alle das Beste rauszuholen, aber man kommt leider nicht an. Auf der einen Seite wollen die Arbeitsplatzsicherheit, auf der anderen Seite wollen sie aber nicht, dass man Veränderungen durchsetzt. Dadurch habe ich auch die deutsche Mentalität ziemlich gut kennen gelernt, die es einem unmöglich macht, Ziele oder Veränderungen zu erreichen. Vielleicht auch Verbesserungen. Und dementsprechend habe ich das Ganze geschmissen. Ich hab zwar gutes Geld verdient, 4.500 Euro im Monat. Ich hab das aber sein gelassen, weil es mir nicht gefiel. Und dann
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habe ich es mit der Selbstständigkeit versucht. Aber in einem etwas größerem Bereich. Und das hat nicht geklappt. Und somit bin ich etwas im Rückstand“. (ID 7)
Aus der Darstellung des beruflichen Werdeganges Vitalis wird deutlich, dass er seinen beruflichen Erfolg durch Bildung zwar erreichen konnte, diesen aber wieder verlor aufgrund des Einflusses anderer sozio-kultureller Faktoren, wie mangelnder Identifikation mit den deutschen Denk- und Handlungsmustern, etwa durch die „Mentalität“ und durch seine Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen und Arbeitssystem, die „Veränderungen und Verbesserungen unmöglich machen“ (ID 7). Die Selbstständigkeit bringt ihm keinen weiteren Erfolg. Leider wurden die Gründe für das Scheitern dieser Selbstständigkeit im Interview nicht erörtert. Jedoch ist aus dem gesamten Interviewkontext her zu schließen, dass Vitali auch soziale Kontakte in Deutschland fehlen, die offensichtlich seine Geschäftsidee hätten unterstützen können. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt sieht Vitali keine weiteren beruflichen Verbesserungen und Perspektiven, deshalb konzentriert er sich mit einer neuen Geschäftsidee auf den russischen Markt, in der Hoffnung dort seine Erfahrungen und Sprachkompetenzen aus Deutschland besser einbringen zu können (vgl. Kapitel 5.6.1.3). Bei der Analyse der Interviews lässt sich auch im Bereich der strukturellen Integration insgesamt einen positiven Bilanz für die Interviewpartner ziehen, wobei deutlich wird, dass eine gewisse kulturelle Integration notwendig ist, um gesellschaftliche Anerkennung sowie berufliche Positionierung zu erreichen. Die Darstellung der Beispiele (ID 18, ID 19, ID 7) belegen das: Johann (ID 19) hat zwar eine berufliche Positionierung in Deutschland erreicht, allerdings keine vollständige gesellschaftliche Anerkennung, da er die deutsche Sprache mit Akzent beherrscht und sehr oft als Fremder von Einheimischen identifiziert wird. Sascha (ID 18) begründet das Misslingen seiner beruflichen Integration in Deutschland durch seine mangelnden Deutschkenntnisse. Deutlich wird aber auch, dass die Reihenfolge der Integrationsdimensionen (wie Esser und Heckmann vorschlagen) auch abweichen kann. Vitali (ID 7) hat beispielsweise seine kulturelle Integration in Deutschland vollständig erreicht, doch dies verschafft ihm keine berufliche Positionierung bzw. gesellschaftliche Anerkennung. Hier spielen andere Faktoren der Integration eine große Rolle. In Vitalis Fall ist es zum Bei-
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spiel die eigene Identifikation mit der deutschen Gesellschaft. Auch die anderen befragten jungen (Spät-)Aussiedler, die sowohl eine positive kulturelle als auch strukturelle Integration aufweisen, zeigen nicht immer klare Positionierungen der Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft, auch wenn sie sich als vollständige Mitglieder dieser Gesellschaft verstehen. Ihre Identität scheint vielmehr eine Mischung von Herkunfts- und Aufnahmekultur zu sein. Dieser Aspekt soll in den nächsten Kapiteln der „Identität und Zugehörigkeit“ näher diskutiert und analysiert werden.
5.5 I DENTITÄT
UND Z UGEHÖRIGKEIT IN TRANSNATIONALEN M IGRATIONSPROZESSEN
Die Frage der Identität nimmt in der vorliegenden Studie einen besonderen Stellenwert ein (vgl. Kapitel 2.3). Gerade für die (Spät-)Aussiedler als besondere Migrantengruppe, die durch ihre rechtliche (deutsche Staatsangehörigkeit, Status als Deutscher) und ethnische (deutsche Vorfahren, Deutschtum) Inklusion (vgl. Schönhuth 2008b: 61–84) gekennzeichnet ist, gilt es zu beobachten, wie die Identität in Migrationsprozessen konstruiert und modalisiert wird. Vor dem Hintergrund der Exklusion als Identitätsgenerator (vgl. Hahn 2008) gewinnt auch die Frage der Fremdzuschreibung für (Spät-)Aussiedler eine besondere Relevanz: während sie in ihren ehemaligen Herkunftsländern als Deutsche galten, werden sie in der historischen Heimat in der Wahrnehmung der dort ansässigen Deutschen zu Russen umkodiert (vgl. Schönhuth 2008) und damit zu exkludierten Fremden gemacht (vgl. Pfetsch 1999). Das Gefühl, nirgends richtig angekommen zu sein, begleitet nicht nur die älteren Generationen von (Spät-)Aussiedlern, sondern auch die mitgenommene Generation. Ihre Identitätsbildung ist besonders in der Anfangsphase der Integration in Deutschland durch das Gefühl – „nicht zu wissen, wo man richtig hingehört“ (ID 5) – geprägt und wird oft durch Konflikte zwischen den Kulturen begleitet. Ein kurzer Interviewausschnitt soll dies verdeutlichen:19
19 Weitere Interviewausschnitte werden in nachfolgenden Kapiteln diskutiert.
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„Ich habe mich auf jeden Fall nicht Deutsch gefühlt, aber ich habe mich auch nicht als Kasache gefühlt, weil ich da auch nur vier Jahre gewohnt habe, von den vier Jahren kann ich mich an das letzte vielleicht ein bisschen erinnern, dann habe ich in der Ukraine zwei Jahre gewohnt, da kann ich mich auch daran nicht so viel erinnern. […] ich wusste, ich bin kein Deutscher, aber ich wusste auch nicht so richtig, wer ich denn bin“. (ID 6)
Der selbstzugeschriebene Identitätsdiskurs wird hier durch einen fremdzugeschriebenen Identitätsdiskurs beeinflusst. Die Konstruktion des Fremden wird durch soziale Wahrnehmung, Vorurteile, Zwangskategorisierungen hervorgehoben und kann somit den Identifikations- und Selbstverortungsprozess von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern beeinflussen. Theoretische Überlegungen zur Identität und Identitätsbildung im transnationalen Migrationskontext wurden bereits im Kapitel 2.3 eruiert. In Anlehnung an verschiedene theoretische Konzepte und empirische Studien (vgl. etwa Sievers et al. 2010) wurden dabei multiple Identitätsmodelle diskutiert. In einem weiteren theoretischen Kapitel (2.3.1) wurden die Identifikationsprozesse unter dem Gesichtspunkt der Inklusion/Exklusion als wichtige Identitätsgeneratoren ausführlich behandelt (vgl. Hahn 2008). Das Ziel dieses empirischen Kapitels besteht darin, unter der Heranziehung der genannten theoretischen Ansätze die multiplen Zugehörigkeitsmuster junger, bildungserfolgreicher (Spät-)Aussiedler in transnationalen Migrationsprozessen anhand von Interviewanalysen darzustellen. Dabei soll zum einen der Frage der Selbst- und Fremdzuschreibung nachgegangen werden: Wie definieren sich selbst die befragten jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler? Lässt sich bei der Gruppe ein allgemeines Modell der multiplen, hybriden (vgl. Bhabha 1990; Hall 1999 u.a.) Identität(en) mit typischen Merkmalen feststellen? Wenn ja, inwieweit lässt sich diese Zugehörigkeitsform mit anderen jungen, bildungserfolgreichen (Trans-) Migrantengruppen vergleichen.20 Zum anderen stellt sich in diesem Kapitel die Frage, ob das Modell der multiplen Identität(en) als eine Erfolgsstrategie von Transmigranten genutzt wird, um die Herkunfts- und Aufnahmekultur in Einklang zu bringen, ohne
20 Dazu sollen im Folgenden auch andere empirische Untersuchungen herangezogen werden (z.B. Sievers et al. 2011; Badawia 2002).
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sich „gänzlich“ für eine ethnische Gruppe und eine Heimat entscheiden zu müssen. In Bezug auf Heimat versucht das Kapitel zum einen anhand von Interviews herauszuarbeiten, wie Heimat überhaupt von Interviewpartnern subjektiv wahrgenommen und im transnationalen Kontext räumlich, zeitlich und kulturell erfasst wird. Zum anderen wird hier die Frage aufgeworfen, welche (Beheimatungs-)Strategien die Interviewpartner entwickeln, um sich zwischen Herkunfts- und Aufnahmekulturraum (GUS und Deutschland) (erfolgreich) zu positionieren? Um diese komplexen Zusammenhänge und Prozesse umfassender zu erklären, soll im nächsten Kapitel mit einem kleinen Exkurs die identitäre Selbstverortung der Interviewpartner vor ihrer Migration nach Deutschland diskutiert werden. 5.5.1 Die „übergeordnete Identität“ vor der Ausreise: „Wir waren alle Sowjetmenschen“ Diese Phase der identitären Verortung stellt die erste Identifikationsphase für die Befragten dar. Eine große Relevanz gewinnt in dieser ersten Phase die multiethnische Zusammensetzung der Herkunftsländer in der ehemaligen Sowjetunion: diese wird sichtbar, da die Interviewpartner im Interviewkontext ihren Fokus weniger auf ein bestimmtes Land wie Russland oder Kasachstan legen, sondern auf den kulturellen Raum der ehemaligen Sowjetunion, deren Nationalitätenkonzept der russischen Kultur (z.B. Russisch als Amtssprache) Vorrang einräumte (vgl. Rosenthal et al. 2011: 16). Daraus kann auch die Verbindung zwischen den zirkulären Migrationsprozessen (temporäre Rückkehr) und der Wahrnehmung der Heimat der Interviewpartner abgeleitet werden, die in den späteren Kapiteln noch ausführlicher analysiert werden.21 Im Zuge dieser Multiethnizität entsteht bei den Interviewpartnern, auch wenn sie noch im Kindes- bzw. Teenageralter befanden, eine übergeordnete
21 Auch der empirische Befund, dass die Interviewpartner, die in Kasachstan geboren sind, keinen kulturellen und identifikatorischen Bezug zum heutigen Kasachstan während ihres zirkulären Migrationsprozesses finden können, sondern sich eher im russischen Kulturraum heimisch fühlen, kann somit erklärt werden.
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Identität, die als sowjetische Identität bezeichnet werden kann.22 Im Rahmen einer solchen übergeordneten Zugehörigkeit wird ein einheitlicher Bezugsrahmen geschaffen, um sich aus dem Konzept einer bestimmten Ethnie (Russe, Kasache, Jude oder Usbeke) zu lösen und sich mit den anderen Gemeinschaftsmitgliedern (Sowjetmenschen) gleich zu setzen. Die Russifizierung bzw. Sowjetisierung der damaligen Herkunftsländer machen die ethnisch-nationale Frage für die Befragten zu einem irrelevanten Aspekt ihrer Zugehörigkeit: „Ich hatte eigentlich permanent mit so einem multiethnischen Umfeld zu tun. In Kasachstan hattest du (wie) viele hundert Ethnien […]. Ich hatte keine russische Identität. Ich hatte auch noch nie die Notwendigkeit über meine Identität Gedanken zu machen […] ich glaube, wir waren alle Sowjetmenschen damals [lacht] und genauso wie die Kasachen, die Deutschen, die Juden, die mit mir in der Klasse waren, hatten kein Problem damit. Wir haben uns überhaupt keine Fragen gestellt. Eigentlich war ich damit konfrontiert, als ich dann erst in Deutschland war“. (ID 2)
Auch für meinen nächsten Interviewpartner stellt das ethnische Nationalitätskonzept in seinem damaligen kleinen Dorf in Russland keine Rolle. Er muss sich zwischen Deutschsein und Russischsein nicht entscheiden. Als Siebenjähriger nimmt er zwar bewusst die Tatsache wahr, dass seine Vorfahren Deutsche sind. Die Identifikation seiner Familie mit dem Deutschsein spielt sich für ihn aber in einem fremdethnischen Kontext ab. Denn im familiären und sozialen Umfeld wird der Siebenjährige nicht direkt mit dem Deutschsein konfrontiert. Das Konzept der Russifizierung in der damaligen Sowjetunion wird auch in seiner Aussage deutlich:
22 Vgl. dazu auch Kiels (2009) Typendifferenzierungen „Sowjetische Leute“. „Anders als die russlanddeutschen Personen des Samples definieren sie sich während ihres Lebens in Russland als Angehörige der sowjetischen Kultur. Diese wurde als eine Art Sammelkultur verstanden, die als übergeordnete Einheit Elemente aus verschiedenen Kulturen beinhaltet. Dadurch wurde es möglich, anderen Kulturen gegenüber generell offen zu sein und unterschiedliche Kulturelemente zu mischen, ohne die ethnische Komponente der kulturellen Zugehörigkeit und Identität hinterfragen zu müssen“ (Kiel 2009: 159).
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„Ich hab mich wie ein einfacher russischer Bürger gefühlt. Also ich erzähle eine Anekdote: Mein Opa ist ja Deutscher und ich gehe zu ihm und frage: ‚Opa bist du Deutscher? ǥ. Er sagt: ‚Ja ich bin Deutscherǥ. Und ich: ‚Und wo ist dein Stahlhelm?ǥ. Ich kannte Deutsche nur aus Filmen, dass die Deutschen böse waren und Soldaten waren […]. Eigentlich war mein Vater auch Deutscher, das war mir damals aber nicht bewusst. Es hieß halt immer nur, dass meine Großeltern Deutsche sind […]. Also bei uns in der Familie war nie das Thema, wer Russe, wer Deutscher ist. Wir waren einfach eine Familie“. (ID 11)
Überraschenderweise berichtet derselbe Interviewpartner in einem anderen Kontext über die Konflikte zwischen den Familien seiner Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits: als sein Vater, ein ethnischer Deutsche, sich für die Eheschließung mit seiner Mutter, die ethnische Russin ist, entscheidet, kann sich die ethnisch deutsche Familie seines Vaters lange Zeit nicht mit dieser Situation (binationale Ehe) abfinden. Offenbar war die Identifizierung der Großeltern mit den Deutschen sehr ausgeprägt, während dieses bei den Nachfolgegenerationen durch die Sowjetidentität allmählich keine Rolle mehr spielte (vgl. auch Schönhuth 2001), wie auch bei meinem Interviewpartner23. Das obige Darstellungsmuster ist besonders typisch für die Interviewpartner aus binationalen Familien. Ihre Aussagen weichen zum Teil stark von den Aussagen der Interviewpartner ab, deren beide Elternteile einen ethnisch deutschen Hintergrund haben. Die Interviewanalyse zeigt, dass gerade in ethnisch homogenen Familien das Deutschsein durch ältere Generationen (Großeltern, Eltern) stark vermittelt wurde, wenn auch dieses
23 Die Rekonstruktion solcher Aussagen aus heutiger Betrachtungsweise der Interviewpartner selbst ist insofern für ihr Identitätsmanagement relevant, da sie durch die Aktualisierung der Vergangenheit auf greifbare und erinnerbare Identitäten zugreifen können. Die greifbare Identität kann in der Gegenwertigkeit auf der Basis der erinnerbaren Identität- Sowjetmenschen, ein einfacher russischer Bürger- aufgebaut werden. Für die Interviewpartner steht aus dieser Betrachtungsweise fest: was man damals war, ist man heute nicht oder nicht mehr. Ein Identitätswandel hat stattgefunden bzw. findet immer noch statt. Nur durch Rekonstruktion und Narration eigener Erinnerungen können solche Identitätswandel festgestellt werden.
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Deutschsein nicht immer mit den heutigen deutschen kulturellen Werten übereinstimmte (vgl. dazu auch Schmidt-Bernhardt 2008: 77). „Ich würde sagen, wir haben uns eher als Deutscher gefühlt, weil wir auch die ganze Zeit darüber gesprochen haben, auch egal, wenn sie mit uns nicht Deutsch gesprochen haben, trotzdem haben mein Opa, meine Oma und meine Eltern immer darüber gesprochen, dass wir Deutsche sind und deutsche Wurzeln haben […]“. (ID 19)
Ein wichtiger kultureller Aspekt als Zeichen des Aufrechterhaltens des Deutschtums in den Herkunftsländern war die Sprache (Plattdeutsch). „Das einzige, was man in Kasachstan als ein deutscher Brauch ansehen kann, ist, dass man versucht hat unter den Familien deutsche Sprache aufrechtzuerhalten […]“. (ID 5) „Also meine Eltern sprechen beide Plattdeutsch. Das ist ja ähnlich wie Deutsch. […] Das heißt, meine Eltern, meine Tanten und Onkel haben alle Plattdeutsch miteinander geredet, aber mit uns meistens nur russisch. […]“. (ID 10) „Und sonst wurde ja in unserem ganzen Gebiet nur unser deutscher Dialekt gesprochen […]. Russlanddeutsche sagen einfach Plattdeutsch dazu“. (ID14) „In der Familie haben wir Russisch gesprochen. Bei der Mutter war anders, sie haben in der Familie nur Deutsch gesprochen. Plattdeutsch […]“. (ID 19)
Mit der jüngeren Generation (Enkelkinder) wurden die deutsche Sprache, deutsche Traditionen und deutsche Bräuche weniger gepflegt. Die Angst, als Deutscher im Herkunftsland benachteiligt zu werden, legt die Annahme nahe, dass die Kinder vor den Diskriminierungen verschont bleiben sollten. Daher wurde mit ihnen zum größten Teil nur russisch gesprochen. Kiel (2009) behauptet, dass die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion stets in der uneingeschränkten Annahme lebten, Deutsche zu sein (vgl. Kiel 2009: 45). Ausgehend aus dieser Annahme von Kiel konnte auch bei den befragten jungen (Spät-)Aussiedlern zwar eine zunehmende Russifizierung durch Sprache vor der Migration nach Deutschland festgestellt werden. Jedoch wurden im Interviewkontext in Bezug auf die Eigenschaf-
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ten der Familie im Gegensatz zu russischen Familien im Herkunftsland typisch deutsche Kulturelemente wie Sauberkeit, Ordnung und arbeitsbezogene Werte wie Fleiß, Disziplin und Pünktlichkeit betont: „[…] das hat man schon daran gemerkt, dass die Deutschen ordentlich sind, hat man immer gesagt, die saubersten Höfe, das sind die deutschen […]“. (ID 4)
Zu den wichtigen deutschen Kulturelementen gehörten auch die deutsche Kochtradition und Feiertage: in manchen Familien wurde z.B. Weihnachten „heimlich“ am 24. Dezember gefeiert.24. Diese gelebte deutsche Tradition noch vor der Ausreise nach Deutschland stellte sich für die Familien meiner Interviewpartner bei der Eingliederung in Deutschland als Startvorteil in Belangen der Integration und Identifikation heraus. Trotz der Aufrechterhaltung der deutschen Kulturelemente in manchen Familien der befragten jungen (Spät-)Aussiedler kann im Allgemeinen davon ausgegangen werden, dass die übergeordnete, sowjetische Identität die erste Identifikationsphase für die Interviewpartner markiert und das Nationalitätskonzept zwar nicht unwichtiger, aber weniger repräsentativ werden lässt. Diese Sichtweise ändert sich spätestens während der Migration nach Deutschland, worüber im nächsten Kapitel diskutiert wird. 5.5.2 Identitäre Selbstpositionierung in Deutschland: Das Selbst- und Fremdbild bildungserfolgreicher (Spät-)Aussiedler In Deutschland angekommen, stellt sich die Frage nach der Zugehörigkeit für die Interviewpartner täglich neu. Die (Spät-)Aussiedler werden schnell als Russen wahrgenommen oder es tauchen verschiedene Begriffe wie Deutschrusse oder Russlanddeutsche auf, die häufig mit einer negativen Konnotation versehen sind (vgl. Schmidt-Bernhardt 2008: 77). Auch in den Medien wird das Thema der Identität von jugendlichen (Spät-)Aussiedlern
24 In diesem Kontext erinnert sich eine Interviewpartnerin (ID 5), dass ihre Großmutter sonntags „heimliche Gottesdienste für alle Deutschen im Dorf“ organisierte. Dies kann auch als ein Aspekt des Deutschtums in den Herkunftsländern bezeichnet werden.
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unter einem kritischen Blickwinkel aufgegriffen, so wie etwa Elena Beier in ihrem Bericht für die Deutsche Welle 2004 schreibt: „In manchen Vierteln von Berlin oder Köln kommt jeder Vierte unter 25 Jahren aus dem Ausland. Unter ihnen gibt es eine besondere Gruppe: Die Russen, die eigentlich Deutsche sind. Sie kamen als Kinder mit ihren Familien nach Deutschland, hatten sofort nach der Einwanderung einen deutschen Pass, und machen jetzt Schlagzeilen mit ihrer angeblichen Anfälligkeit für Drogenkonsum und Gewaltkriminalität. Man nennt sie pauschal Russen, doch es sind eigentlich Deutsche, die in die Heimat ihrer Vorfahren aus Russland und Kasachstan zurückgekehrt sind […]“.25
Das empirische Material zeigt, dass die Suche nach der eigenen Zugehörigkeit und eigenem Selbstbild für die Interviewpartner unterschiedliche Verläufe annimmt. In diesem Zusammenhang weist Schmidt-Bernhardt (2008) in ihrer Studie über jugendliche (Spät-)Aussiedler in Deutschland darauf hin, dass besonders die Jugendlichen aus binationalen (Spät-) Aussiedlerfamilien Probleme bei der Identitätssuche in Deutschland haben (vgl. Schmidt-Bernhardt 2008: 78): sie kommen zwar gemeinsam nach Deutschland, weisen aber einen unterschiedlichen ethnischen Status in der Familie auf, d.h. ein Teil der Familie ist deutscher, ein Teil russischer Herkunft. Besonders in solchen Familien erleben die Kinder die Migrationsgeschichte anders. In den Herkunftsländern werden sie mit vorwiegend russischen Werten erzogen und die russische Sprache bleibt die Verständigungsund Alltagssprache (vgl. ebenda: 78f). Mit den deutschen Werten werden sie sehr wenig konfrontiert. Angekommen in Deutschland müssen sie sich aber an die neuen deutschen Werte anpassen und versuchen, ihr Deutschsein in den Vordergrund zu stellen. Mit Blick auf solche binationalen Familien geht Rosenthal (2011) etwa von „Brüchigen Zugehörigkeiten“ der jungen (Spät-)Aussiedler aus: „Definieren sie sich als deutsch, haben sie zudem mit Loyalitätsproblemen gegenüber den nichtdeutschen Familienangehörigen oder auch gegenüber ihrem Herkunftsmilieu vor der Migration zu kämpfen“ (Rosenthal 2011: 13).
25 Deutsche Welle: Rückkehr in die fremde Heimat. Für viele Russlanddeutsche endet die Rückkehr hinter Gittern. Pressemitteilung vom 30.09.2004. http://www.DW-World.de. Aufruf: 05.10.2011.
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Das empirische Material zeigt, dass die Zweite Phase der identitären Selbstverortung für die Untersuchungsgruppe eine starke Auseinandersetzung mit der eigenen Zugehörigkeit bedeutet: „Ich hatte keine russische Identität. Ich hatte auch noch nie die Notwendigkeit über meine Identität Gedanken zu machen […].Eigentlich war ich damit konfrontiert, als ich dann erst in Deutschland war“. (ID 2)
Die Konfrontation mit der eigenen Identität geschieht im Zusammenhang mit den Erfahrungen von Inklusion und Exklusion auf der Ebene der Selbst- und Fremdethnisierung26 in Deutschland, wobei die Fremdethnisierung (Fremdzuschreibung) die Selbstethnisierung (Selbstzuschreibung) bedingt. Im Migrationskontext wird von Migranten ein angepasstes Verhalten an die gesellschaftlichen Normen, Sitten und Bräuche, Verhaltensmuster und kulturellen Werte erwartet (vgl. Florio-Hansen/Hu 2007: 52). Dies kann für die weiteren Identifikationsprozesse verschiedene Reaktionen der betroffenen Personen auslösen. Die Autoren sprechen im diesem Kontext von einem Identitätswandel, indem Migranten versuchen „zwischen dem eigenen „Ich“ und dem „Fremden“ die Grenzen neu zu definieren“ (ebenda: 52) und heben die Annahme hervor, dass der Identitätswandel nicht unbedingt durch Konflikte begleitet wird oder gar eine Zerrissenheit bedeutet, sondern im Gegenteil: das Leben mit verschiedenen Teil-Identitäten erlaubt eine andere soziale Sicht der eigenen Umgebung und der Wahrnehmung anderer Gruppen (vgl. ebenda: 52f). Wie gehen aber die jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler mit diesem Prozess des Identitätswandels um? Die Interviewanalyse zeigt, dass sich für die Interviewpartner eine komplexe Situation der identitären Orientierung und Verortung ergibt: einerseits haben sie als Kleinkinder, manche als Jugendliche, ihre Primärso-
26 Als Fremdethnisierung gilt für die Interviewpartner die Zuschreibung zu Fremden von Seiten der einheimischen Gesellschaft durch bestimmte Merkmale wie Sprache, Habitus, Verhaltensmuster, soziale Interaktionen etc. Die Selbstethnisierung gibt Auskunft über Eigenschaften, die die Interviewpartner von der einheimischen Gesellschaft aufgrund ihres Verhaltens oder ihrer Denkweise abgrenzt und ihnen somit das Gefühl des Andersseins vermittelt.
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zialisation in der Sowjetunion bedingt durch die russische Sprache, Kultur und Erziehung erlebt. Andererseits wurden sie in ihren Familien z.T. auch mit der deutschen Kultur und Sprache konfrontiert. Sie wuchsen in einem multiethnischen Umfeld auf, wo die Identität des Einzelnen eher eine unterrepräsentierte Rolle spielte und wie bereits beschrieben – eine übergeordnete Identität als „Sowjetmenschen“ hervorgehoben wurde („Wir waren alle Sowjetmenschen“ (ID 2)). Mitten in der Primärsozialisation werden sie von ihren Eltern in ein völlig fremdes Land, das ihnen nur über Briefe und Erzählungen von Verwandten bekannt ist, „mitgenommen“ und müssen eine neue Sprache lernen, sich einer neuen, fremden Umgebung anpassen und vor allem sich deutsch fühlen, um dem Ausreisemotiv ihrer Großeltern als Deutscher unter Deutschen zu leben und ihrer Eltern „eine bessere Zukunft für die Kinder in Deutschland gewährleisten“ gerecht werden zu können. Somit erleben sie den Einfluss von zwei divergierenden Kulturen in einer Phase der noch nicht abgeschlossenen Identitätsentwicklung (vgl. Esser 1990: 101–102). Die in der Herkunftsgesellschaft verbrachte Kindheit wirkt im Sinne einer traditionellen Sozialisation, während die Kontakte zu der Aufnahmegesellschaft durch Schule und Freundschaft fremdethnische Verhaltens- und Handlungsstandards vermitteln, wie das etwa bei Mascha (ID 5) besonders stark zu beobachten ist: „Ich fand es ungerecht, dass ich anders erzogen wurde als meine Freundinnen in Deutschland […] ich durfte nie bei Freunden übernachten oder männliche Freunde haben […] es war ein ganz autoritärer Erziehungsstil und der war so ganz anders als alles um mich herum […] Und meine Eltern haben ständig gesagt, ihr seid deutsch, sie haben das unglaublich stark betont […]“. (ID 5)
Die Jugendliche (ID 5) ist verzweifelt: einerseits betont ihre Familie ihr Deutschseins, andererseits wird ihr familiärer Alltag von russischen und sowjetischen Traditionen und kulturellen Werten bestimmt. In diesem Zusammenhang betont beispielsweise die „Kulturkonfliktthese“, dass Jugendliche der 2. Generation von einem Konflikt zwischen traditionell vorgestellter Herkunftskultur und modern vorgestellter Aufnahmekultur besonders geprägt seien, da sie sowohl mit Wertvorstellungen und Erwartungshal– tungen ihrer Familie als auch mit der Diskriminierung und Fremdzuschreibung von Seiten der Aufnahmegesellschaft umgehen müssen (vgl.
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Tošiþ/Streissler 2009: 194). Persönlichkeits- bzw. Identitätsstörungen können in solchen Situationen die Folge sein und häufig ein Indikator für die Rückkehrorientierung darstellen (vgl. Schrader et al. 1976; nach Esser 1990: 101–102). Auch eine Rückkehrperspektive kann in diesem Fall als eine Art soziale Überlebensstrategie angesehen werden, welche den Umgang mit divergierenden Erwartungen im Aufnahmeland erleichtert und eine psychische Stabilität bei den Jugendlichen schafft (vgl. BoosNünning/Nieke 1982; nach Esser 1990: 101–102). In Maschas (ID 5) Biographie kann ein temporärer Rückkehraspekt ebenfalls festgestellt werden. Sie versucht sich mit der Herkunftskultur auseinanderzusetzen, um herauszufinden, wo sie hingehört (vgl. Kapitel 5.6.1.1). Identitätsstörungen im Zuge dessen können jedoch weder bei Mascha, noch bei anderen Interviewpartnern mit ähnlichen Erfahrungen festgestellt werden. Dennoch kann bei ihnen von Spannungen zwischen dem eigenen Selbst und der Aufnahmegesellschaft ausgegangen werden (wie etwa ein Gefühl des Andersseins), die besonders stark in dieser zweiten Identifikationsphase zu beobachten sind: „I: Als was hast Du dich gefühlt damals als Ihr nach Deutschland gekommen seid? P: Schon anders. Sie [die Einheimischen] haben zum Beispiel manchmal auch im Auto andere Musik gehört, also es war anders, ich weiß nicht genau wie, weil ich mich auch nicht russisch gefühlt habe […] einfach nicht so wie die Deutschen […] aber anders“. (ID 12)
Die Krisensituation, die durch die obige Interviewpassage deutlich wird, hängt damit zusammen, dass bei den Interviewpartnern oft die Herkunftskultur und aus dem Herkunftsland mitgebrachte Sozialisation mit dem sozialen und kulturellen Wertesystem der neuen Gesellschaft konflikthafte Konfrontationen erfährt. Ähnlich wie ID 12 ist auch mein nächster Interviewpartner „hin und her gerissen“ und kann sich zu keiner ethnischen Gruppe zuordnen: „Ich habe mich auf jeden Fall nicht Deutsch gefühlt, aber ich habe mich auch nicht als Kasache gefühlt […] ich wusste, ich bin kein Deutscher, aber ich wusste auch nicht so richtig, wer ich denn bin […]“. (ID 6)
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Diese selbstzuschreibende Zugehörigkeitswahrnehmung, die aber zugleich durch Fremdzuschreibung seitens der Einheimischen motiviert wird, führt zu einer sozialen Exklusion, die in Bezug auf (Spät-)Aussiedler als ethnische Deutsche eine besondere Brisanz erfährt. Im nächsten Kapitel werden deshalb die identitären Selbstverortungsversuche der Interviewpartner diskutiert. Abgeleitet vom theoretischen Teil dieser Arbeit soll vor allem nachfolgend das Begriffspaar Inklusion/Exklusion als identitätsgenerierendes Konzept für einen weiteren Diskurs der Identifikationsprozesse und Beheimatungsstrategien der jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler sorgen. 5.5.2.1 Die exkludierten Fremden Aus sozial-anthropologischer Sicht betrachtet sind Vorurteile „ein fester Bestandteil jeder gesellschaftlichen Realität“ (Badawia 2002: 186). Menschen neigen generell dazu, ein vorhandenes Objekt oder Subjekt einer bestimmten Kategorie zuzuordnen. Fremdheit als sozial folgenreiche Identitätsbestimmung ist insofern ein Etikett, ein Label (Hahn 1994: 140). Die Fremdheit, die auch zugleich die Andersheit bedingt, kann nach Hahn (1994) durch zwei Dimensionen definiert werden: zum einen ist der Fremde der Andere, also das, was dem Anderssein zugeschrieben wird. Zum anderen ist der Fremde das Unvertraute, Unbekannte, das Neue und Unerforschte (vgl. Hahn 1994: 142). In Folge dessen wird durch die Konfrontation mit dem Unvertrauten der soziale Status des Fremden und Anderen konstruiert (vgl. auch ebenda: 143) und somit eine soziale Exklusion geschaffen. Die Interviewanalyse zeigt, dass Semantiken einer exkludierenden Fremdheit auch auf die Interviewpartner, die zum größten Teil in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert wurden, von den Einheimischen angewendet werden. Ihre deutsche Geschichte an die Einheimischen zu vermitteln, wird teilweise schwierig, weil sie bewusst oder unbewusst von Bundesdeutschen ignoriert bzw. kaum verstanden wird (vgl. auch Ulrich 2011: 249). „Kaum jemand weiß, dass wir zu einer anderen Gruppe gehören. das größte Problem, was mich an Deutschland stört, dass wir immer noch fremd sind. In Russland dagegen bin ich einer von ihnen. Ich werde nicht jeden Tag daran erinnert, dass ich anders bin oder kein Einheimischer“. (ID 7)
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„Die meisten Deutschen wissen nicht einmal, dass die Aussiedler deutsche Wurzeln haben und damit habe ich schon so Erfahrungen gemacht […]. Ich habe noch ein bisschen Akzent. Das ist vielleicht nicht die erste Frage, aber die Frage kommt am Anfang einer jeden neuen Bekanntschaft. Fragen Sie [die einheimischen Deutschen] woher ich komme, wie lange ich schon hier bin und jeder muss sagen, wie gut ich schon Deutsch kann, aber die meisten wissen nicht dass die Aussiedler deutsche Wurzeln haben und mir ist es so blöd, wenn 4 Millionen nach Deutschland gekommen sind, dann ist das irgendwo auch eine deutsche Geschichte und dass sie da nicht Bescheid wissen“. (ID 4) „Also ich wurde auch in der Grundschule immer als Russe beschimpft. So auf einmal galt ich als Russe und ich war ein bisschen verwirrt, weil ich nicht wusste woher das jetzt kommt, weil ich auch gar kein Russisch gesprochen hatte“. (ID 14)
Insbesondere in der Anfangsphase ihrer identitätren Orientierung spüren die Interviewpartner den kulturellen Unterschied zwischen Wir und den Anderen. Elvira (ID 12), die mit drei aus Russland nach Deutschland migrierte, beschreibt diese Anfangssituation sehr „stressig“, geprägt durch das ständige Gefühl des Andersseins: „[…] für mich selbst war das… nee, sollen [die Einheimischen] das nicht wissen, dass ich nicht in Deutschland geboren bin. Ich habe mir so einen Stress gemacht, weil ich nicht anders sein wollte. Es war für mich total wichtig. Ich wollte auf gar keinen Fall anders sein“. (ID 12)
Die kleinen Differenzen zwischen ihren einheimischen Freundinnen und sich selbst bemerkt Elvira noch im Kindergarten: ihre Freundinnen haben eine andere Musikkultur und andere Essgewohnheiten. Die Ausnahmesituation, die für die damals Fünfjährige entsteht, zieht klare Linien zwischen dem, wer „heimisch“ und wer „fremd“ ist. Elvira beginnt sich zu positionieren, indem sie sich, wie auch manche andere Interviewpartner in dieser Orientierungsphase (vgl. auch Interviewpassage ID 6), von der Herkunftskultur völlig distanziert und die Anpassungsstrategie wählen, um unkenntlich zu werden: „Ich hatte eine beste Freundin. Die kam ab und zu Mittag und sie hat aber nicht alles gegessen. Dann wollte ich auch nicht, dass es das gibt, weil sie das sowieso nicht
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essen wird und für mich hat das schon Stress bereitet. So Kleinigkeiten […]“. (ID 12)
Im Fremdethnisierungsprozess kommt vor allem der Sprache eine entscheidende Rolle zu: Durch ein kleines Merkmal, wie beispielsweise den Akzent, kann der Fremde identifiziert und als solcher etikettiert werden, wie dies mein Interviewpartner deutlich macht: „Wir, Menschen, sind meist einfach gestrickt. Damit will ich sagen, dass wir jemanden meist über seine Sprache identifizieren. Spricht jemand italienisch, muss er Italiener sein, wer deutsch spricht, muss Deutsch sein und wer russisch spricht, muss Russe sein. Wenn die einheimischen Deutschen merken, dass man mit einem gewissen Akzent spricht, dann lassen sie einen noch weniger an sich ran, als sie es eigentlich sind“. (ID 7)
Der unvertraute, unbekannte Akzent produziert Ausgrenzung, indem sichtbar wird, wer „zu Hause“ und wer „in der Fremde“ ist. Auch meine Interviewpartnerin Nadine (ID 4) wird von Einheimischen schon seit ihrer Migration nach Deutschland als Fremde angesehen. Mit dreizehn Jahren versucht sie sich in die einheimische Gesellschaft zu integrieren, doch als Fremde erfährt sie überwiegend Ausgrenzung. „Ich habe nur die schlimmsten Erfahrungen […]“: durch diesen Satz bringt sie ihre Fremdheitserfahrungen in der Schule und später auf dem Gymnasium zum Ausdruck. Auch heute fühlt sich Nadine in Deutschland nicht „zu Hause“, denn der Prozess der Fremdethnisierung gilt auch nach dreizehn Jahren für sie nicht als abgeschlossen: „[…] natürlich habe ich aber noch ein bisschen Akzent. Das ist vielleicht nicht die erste Frage, aber die Frage kommt am Anfang einer jeden neuen Bekanntschaft. Fragen sie, woher ich komme, wie lange ich schon hier bin und jeder muss sagen wie gut ich schon Deutsch kann, aber die meisten wissen nicht, dass die Aussiedler Deutsche Wurzeln haben […]“; „[…] ich wurde von den Deutschen darauf aufmerksam gemacht, natürlich in scherzhafter Form, aber trotzdem heißt es, jaja Du bist ja die Russin. Also wirklich angefangen von Schuhen, Kleidung, wobei ich absolut nicht das Gefühl habe, dass ich extrem russisch aussehe. Ich lege auch Wert darauf, nicht zu Russisch auszusehen […]. (ID 4)
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Da die „fremde“ Nadine von der einheimischen Gesellschaft nicht vollständig akzeptiert und aufgenommen wird, baut sie eine zusätzliche emotionale Barriere gegenüber der einheimischen Gesellschaft auf (vgl. auch Badawie 2002: 170), so dass sie ihre sozialen Kontakte immer nach einem homogenen Muster aufbaut:27 „I: Du hast gesagt, Du hast keine richtigen deutschen Freunde. Warum hast Du die nicht? Was ist der Grund? P: Normalerweise ist das das Interesse von beiden Seiten. Also, ich würde nicht sagen, dass die Deutschen sehr offen einem gegenüber sind und ich hatte auch nie den Wunsch, unbedingt in eine rein deutsche Gesellschaft mich zu integrieren“. (ID 4)
In einer weiteren Interviewpassage macht sie auf kulturelle Unterschiede zwischen (Spät-)Aussiedlern und Einheimischen aufmerksam, die für ihr Fremdheitsgefühl verantwortlich sind: „Man merkt das [die kulturellen Unterschiede] einfach in Gesprächen. Sie [die Einheimischen] sind ja in dem Land geboren. Sie sind da aufgewachsen. Es fängt schon damit an, dass sie irgendwelche Zeichentrickfilme aus der Kindheit beschreiben und das sind einfach ein paar Worte, die für die anderen ein Begriff sind und wo ich mich absolut fremd fühle. Ich fühl mich nicht als Teil dieser Gesellschaft dann. Also ich hab das oft so erlebt, dass ich dann einfach so komisch angesehen werde, wie Du kennst das nicht, das war ja Mitte der 80er voll der Hit und ich sag: Leute ich war nicht da Mitte der 80er. Also ich fühl mich schon irgendwie ausgegrenzt […]“. (ID 4)
Bei Anton (ID 3) ist das sein Vorname28, der einen exkludierenden Charakter und eine abgrenzende Funktion zwischen Wir und den Anderen hervor-
27 Nadines soziale Integration wurde bereits im Kapitel 5.2 kurz thematisiert. Vgl. auch Netzwerkkarte ID 4, S.223. 28 Hauptsächlich geht es hier um die Vornamen, da die meisten Nachnamen von (Spät-)Aussiedlern eine deutsche Herkunft tragen. Die meisten Interviewpartner besitzen einen russischstämmigen Vornamen. Zu vermerken ist, dass es in der Übersichtstabelle 3 lediglich um Pseudonyme handelt. ID 3 besitzt einen russischstämmigen Vornamen.
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ruft, insbesondere, wenn es um für die Aufnahmegesellschaft ungewöhnliche Vornamen geht. „Der Vorname ist das einzige Merkmal, dass ich in Deutschland als Ausländer an gesehen werde und in Russland… da war so, hä? du kommst aus Deutschland und warum hast du einen russischen Vornamen? Irgendwie habe ich durch den Namen Zugehörigkeit erfahren. Das ist so jetzt der einzige Manko, woran man merkt, dass ich kein richtiger Deutscher bin, keiner von hier […]“. (ID 3)
Der exkludierende Charakter des Vornamens, durch den der Fremde generiert wird, erstreckt sich bis auf die Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt, trotz der ethnischen, rechtlichen und sozialen Inklusion meines Interviewpartners: „[…] Man [die Arbeitgeber] kann ja in die Leute nicht hineingucken, man merkt schon durch den Vornamen, ja das ist keiner von hier […]“. (ID 3)
Auch Badawia (2002) stellt in seiner Studie fest, dass Merkmale wie Name und Aussehen bei Immigrantenjugendlichen für ein „Schubladendenken“ sorgen, obwohl sich diese Jugendlichen als vollständige Mitglieder innerhalb der deutschen Gesellschaft verstehen (vgl. Badawie 2002: 162). Von den politischen Instanzen und von der breiten Masse der Bevölkerung werden sie dennoch nicht angemessen als Mitglieder dieser Gesellschaft anerkannt (vgl. ebenda: 163). Solche Fremdetikettierungen führen dazu, dass für die befragten jungen (Spät-)Aussiedler ein zusätzlicher Anpassungsdruck entsteht, um zwischen Wir und den Anderen zu entscheiden. Ein Identitätswandel findet statt, der den Fremden als unkenntlich „maskieren“ soll: „[…] dadurch, dass ich als Fremder wahrgenommen wurde und ich wollte das nicht, habe ich mich umso mehr irgendwie integriert, in dem ich halt kein Wort mit niemandem russisch gesprochen habe und indem ich halt wirklich relativ schnell versucht habe auch mein Akzent abzulegen, so, dass ich nicht mehr als nicht Deutscher erkenntlich war“. (ID 6)
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Exemplarisch sollen hier auch einige andere Interviewpassagen hervorgehoben werden, um die Fremdheitserfahrungen der Interviewpartner auszudrücken: „Als wir den Pizzeria- Betrieb übernommen haben, haben wir von einigen gehört, was andere sagten: dass sie zum Beispiel zu Russen nicht essen gehen […]“. (ID 7) „[…]später auch in der Schule konnte ich schon bemerken, dass dieses deutsche Verhalten uns gegenüber (lacht)… das merke ich sogar bis heute ab und zu. Sie wissen nicht wie sie mit mir umgehen sollen. Ich bin einerseits kein Einheimischer, aber auch nicht jemand, der kein Deutsch spricht. Ich spreche normal Deutsch, deswegen wissen sie nicht, wie sie mit mir umgehen sollen. Es gibt so was bis heute […]“. (ID 19) „Man kennt den Unterschied gar nicht. Wir wurden nie als Russlanddeutsche oder (Spät-)Aussiedler bezeichnet, sondern nur als Russen. Viele waren auch sehr überrascht, als wir erzählt haben, man kommt aus einem deutschen Dorf“. (ID 15)
5.5.2.2 Fremdheit als Dauerzustand? Semantiken der Exklusion als Fremder werden zwar verstärkt in der Anfangsphase der identitären Orientierung bei den Interviewpartnern beobachtet. Dennoch können diese Semantiken trotz gelungener Integration innerhalb der Untersuchungsgruppe langfristig auftauchen oder zu einem Dauerzustand bzw. „Ausnahmezustand“ (state of emergency) werden.29 Wenn Koja (ID 11) sein Selbstbild aus heutiger Perspektive mit den Augen der Einheimischen betrachtet, dann wird ihm klar, dass er selbst nach 19 Jahren Integration in Deutschland immer noch Fremder bleibt: „Wenn ich Leute kennenlerne […] oder einfach in eine Gesellschaft komme, wo nur Deutsche sind, die merken schon, dass ich einen russischen Akzent habe. Und schon
29 Bhabhas (2000) zufolge ist das ein „Ausnahmezustand“ (state of emergency), in der die Personen gezwungenermaßen oder freiwillig leben. Dieser wird zu einer Regel und zur Herausforderung zugleich, um der Frage nach der Zugehörigkeit zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland gerecht zu werden. Der Ausnahmezustand (state of emergency) kann somit immer auch als ein Zustand des Neuentstehens (emergence) betrachtet werden (vgl. Bhabha 2000: 61)
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verhalten sie sich mir gegenüber anders, […] so, dass ich Migrationshintergrund habe. […] du wirst zuerst abgegrenzt und du gehörst nie dazu. […] Du bist dann wirklich ANDERS, siehst, dass die Leute anders reden, […] dass die Leute anders denken. Sie haben nicht deine Denkweise. Ich habe aber auch nicht zum Beispiel die Denkweise von Russen, aber auch nicht von Deutschen. […]“. (ID 11)
Die Interviewpassage macht deutlich, dass im Bewusstsein meines Interviewpartners Fremdheit ein relationales Phänomen ist: Anders sind, je nach Perspektive, sowohl die Deutschen als auch die Russen als auch er selbst. Es wird deutlich, dass er sowohl in der Fremd- als auch in der Selbstbeschreibung in Bezug auf beide Nationalitäten durch Semantiken des Andersseins charakterisiert wird. Kolja weiß sich zwar in der einheimischen Gesellschaft rechtlich durch seinen deutschen Pass und seine deutsche Staatsbürgerschaft inkludiert, dennoch erfährt er eine gewisse Exklusion durch sein Denk- und Handlungsmuster, das sich von den Einheimischen unterschiedet, aber auch durch die Zuschreibung als Fremder durch Kenntlichmachen der Differenzen zwischen dem Selbst und den Anderen (vgl. auch Schmitz 2013). Insofern wird deutlich, „daß jede Selbstbeschreibung Alterität in Anspruch nehmen muß. […] Die paradoxe Funktion der „Fremden“ besteht eben darin, daß sie Selbstidentifikationen gestatten“ (Hahn 1994: 142). Durch seinen Migrationshintergrund wird Kolja zunächst als „Nicht Einheimischer“ exkludiert. Er hat das Gefühl, „nicht richtig“ zu dieser Gesellschaft zu gehören. Seine personelle Identität ist durch Selbstexklusion bedingt (vgl. Hahn 2008: 71-77): „[…] Das ist sehr kompliziert. Aber du weißt, du gehörst einfach nicht dazu, nicht richtig […]“. (ID 11)
Trotz dieser „komplizierten“ Situation betrachtet sich Kolja auf der einen Seite als stolzer deutscher Bürger. Auf der anderen Seite ist er sich jedoch dessen bewusst, dass sein Ausnahmezustand von Einheimischen als Fremder wahrgenommen zu werden durch seine rechtliche Inklusion nicht aufgehoben ist. Durch sein kulturelles Muster kann Kolja immer wieder zum Fremden werden:
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„Also ich bin stolz auf meinen deutschen Pass, ich bin stolz auf meine deutsche Staatsangehörigkeit, ich will immer die deutsche Staatsangehörigkeit haben, ich bin deutsche Bürger, hundertprozentig bin ich davon überzeugt und stehe schwer hinter Deutschland, aber ob ich jetzt die deutsche Kultur habe und die deutsche Mentalität, das habe ich nicht“. (ID 11)
Derartige Differenzerfahrungen hat mein Interviewpartner nicht nur in Deutschland, sondern auch während seines temporären Studienaufenthaltes in Russland gemacht. Obwohl er sich in Deutschland sicher war, dass er den „Russen ähnlich sei“, wird ihm in Russland oft das „deutschenähnliche Verhalten“ und die „zu deutsche Denkweise“ von Einheimischen im „Rückkehrland“ zugeschrieben. Es gibt immer das „etwas Andere“ und dieses „Andere“ wird auch als ein Teil seiner persönlichen Selbstbeschreibung verwendet. Im Kontext der Fremdheit wird Mentalität zu einem wichtigen Begriff. Zwar wird dieser Terminus wissenschaftlich kaum mehr gebraucht, umso häufiger kommt er aber im Alltag vor, insbesondere wenn die Differenzen zwischen dem Selbst und dem Anderen gezogen werden. Im Allgemeinen beschreibt Mentalität ein Denkmuster, das tief verankert und nicht zu leicht veränderbar ist (vgl. Vester 1996: 10f, zit. nach Schönhuth 2005, Stichwort: Mentalität). Dieses tief verankerte Denkmuster spüren die Interviewpartner beispielsweise in den Alltags- und Gesprächssituationen mit ihren einheimischen Kollegen und Freunden. Serjoga (ID 10) versucht diesen Unterschied folgendermaßen zu erklären: „[…] wenn ich [mich] mit den Deutschen unterhalte, habe ich das Gefühl, ich bin mit denen nicht auf einer Wellenlänge wie sie reden, über was die reden. Irgendwie ist das nicht das, was mir gefällt. Und mit Russlanddeutschen ist das ganz anders. Man hat meistens die gleiche Meinung und man weiß, woran man ist und kann irgendwie [den anderen] einschätzen. Bei den Deutschen fühlt man sich so als ob man am Thema vorbei spricht“. (ID 10)
Bestimmte Aspekte im Umgang mit den Fremden wie beispielsweise Vertrauen und „verstanden werden“ können auch durch die Mentalität übertragen werden. So kann Mentalität die Fassade zwischen dem Selbst und den Anderen abschaffen oder verstärken. Scheinbar ein Grund, warum immer wieder junge (Spät-)Aussiedler das „unter sich bleiben“ bevorzugen:
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„Ich denke schon, dass es [keine oder wenige einheimische Freunde zu haben] an der Mentalität liegt. Ich weiß nicht, inwieweit ich denen [den Einheimischen] vertrauen kann, inwieweit ich mich öffnen kann, dass sie [die Einheimischen] mich nicht falsch verstehen, deswegen bleibt man lieber reserviert“. (ID 4)
Haben wir es hier also mit einem Dauerzustand der Exklusion zu tun, der sich nicht bewältigen lässt? Um diese Frage für die Untersuchungsgruppe zu beantworten, soll auf Goffmans (1994) wichtige analytische Perspektiven im Kontext des Andersseins zurückgegriffen werden. Zum einen geht Goffman der Frage nach, ob die Mitmenschen über das Anderssein einer Person bereits Bescheid wissen (Diskreditierten) und zum anderen, ob den Mitmenschen das Anderssein einer Person nicht bekannt ist (Diskreditierbaren). In beiden Fällen haben die Personen den Status des Andersseins und sind gezwungen, Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um sich in der Gesellschaft durchzusetzen (vgl. Goffman 1994: 12). Die Kritik an Goffmans Annahme ist, dass er diesen Personen unterstellt, sich niemals als ganz normale Menschen mit alltäglichen Problemen zu betrachten. Denn auch in ihrer Selbstbetrachtung/Selbstzuschreibung werden sie „entwertet“, da sie ja öffentlich degradiert werden. Für die Interviewpartner ergibt sich aus dem empirischen Material allerdings eine andere Betrachtungsweise: das Anderssein wird als selbstinkludierender Normalzustand empfunden. Als Voraussetzung für diesen Normalzustand wird im Laufe der eigenen Migrationsgeschichte eine Strategie entwickelt, die erlaubt, mit der eigenen Andersheit und Fremdheit umzugehen und Fremdheit als Ressource zu benutzen. Ein solches Beispiel ist Petja (ID 2). Er beschreibt sich „anders“ als „der Rest“ und betrachtet seinen Ausnahmezustand „in einem Fremdkörper zu sein“ als Normalität: „[…]ich fühl mich so, ich weiß auch nicht. Ich hab so eine Gelassenheit, glaube ich. Ich finde es in Berlin auch deshalb so angenehm, weil du hier…es ist normal in einem Fremdkörper zu sein […] irgendwie ANDERS zu sein als der Rest, weil alle anders quasi sind. Du findest keinen normalen Berliner und die [normalen] Berliner, die du findest, sind langweilig […]“. (ID 2)
Goffmans Annahme, dass Personen mit einem Status des Andersseins sich niemals als normale Menschen mit gewissen Problemen betrachten können, kann also an dieser Stelle nicht bestätigt werden. Denn durch diese
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Interviewpassage wird deutlich, dass gerade anders zu sein als normal empfunden wird. Diese Betrachtungsweise und der „gelassene“ Umgang mit der eigenen Andersheit führen zur Selbstfindung und zu einer neuen, multiplen Identitätsbildung, die als eine der Strategien für den Umgang mit dem eigenen Andersheit bezeichnet werden kann. „Ich habe schon versucht zu denken, Du bist schon deutsch und so, du unterscheidest dich nicht großartig von deinen deutschen Kollegen, aber das ist nicht so. Ich lebe gut damit zu sagen, dass ich auf jeden Fall nicht gänzlich dazu gehöre sozusagen. […] Ich habe auch gespürt, dass ich mich noch so stark anstrengen kann, viele Sachen passieren aus ethnischer Zugehörigkeit bzw. mehr oder weniger durch Geburt. Vielleicht fühl ich mich auch deshalb in Berlin so wohl, weil es hier so viele Leute gibt, die genauso mehrere Zugehörigkeiten haben […]“ (ID 2).
Die Frage des Fremd- bzw. Andersseins scheint äußerst kompliziert zu sein, insbesondere wenn hinterfragt wird, ob es noch sinnvoll ist, in einem durch Multikulturalität und ethnischer Hybridität gekennzeichnetem Zeitalter die Andersartigkeit durch kulturelle Differenzen30 festzuschreiben? Für die befragten jungen (Spät-)Aussiedler lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die Frage des Fremdseins und Andersseins auch im Zeitalter der Globalisierung und Transnationalisierung eine aktuelle Rolle spielt. Das Ausmaß des Empfindens der Fremdheit für einen (Spät-)Aussiedler als „besondere Migrantengruppe“ und einem Migranten ohne solche Privilegien (türkischen, russischen, arabischen etc.) kann zwar unterschiedlich ausfallen, d.h. der eine empfindet Fremdheit mehr, der andere weniger. Dennoch wird aus den dargestellten Beispielen deutlich, dass eine rechtliche und ethnische Inklusion, wie dies im Falle der (Spät-)Aussiedler gewährleistet ist, die völlige Vermeidung der (Selbst-)Exklusionsmuster im
30 Die postkoloniale Identitätsdiskurs spricht in diesem Zusammenhang von „Denkfiguren wie „Zwischenräumen“, „Spalten“, „Spaltungen“ oder „Doppelungen“, um die Frage der kulturellen Differenz als produktive Desorientierung und nicht als Festschreibung einer vereinnehmbaren Andersartigkeit zu verhandeln […]“ (Bhabha 2000: IX). Dieses Erkenntnis von „Andersartigkeit“ in der multikulturellen Welt geht davon aus, dass das Andere nie außerhalb oder jenseits von uns verortet ist, sondern „eine Stelle innerhalb eines jeden kulturellen Systems einnimmt […]“ (ebenda: XI).
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eigenen Identitätsentwurf nicht garantieren kann. Denn die strukturellen Muster des sozialen Status als Fremde und Andere scheint für alle junge Migranten ähnlich zu sein, wie dies in Verknüpfung mit anderen empirischen Studien (z.B. Badawia 2002) gezeigt werden konnte. 5.5.3 Multiple Zugehörigkeit(en) im transnationalen Migrationskontext als Bewältigungsstrategie? In Anlehnung an Hurellmann (1986) geht Hansen (1989) in seiner empirischen Studie über türkische Jugendliche von zwei wichtigen Bedingungsfaktoren für die Identitätsentwicklung in solchen Krisensituationen wie z.B. der Migration aus. Als erster Bedingungsfaktor gilt nach Hansen (1989) die individuelle Bewältigungsstrategie, „die zusätzliche Kontrolle und Steuerungskapazitäten aktiviert“ (Hansen 1989: 163). Zum zweiten nennt er die Unterstützungspotentiale der sozialen Umwelt, „die Belastung abfangen und ausgleichen und zugleich die Bewältigungskapazität fördern können“ (ebenda). Als Voraussetzung für die Aktivierung der Bewältigungsstrategie nennt Hansen in Anlehnung an Hurellmann die Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion, die „die Bereitschaft zur Kontrolle und Steuerung des eigenen Handelns beeinflusst“ (ebenda: 171). Als individuelle Bewältigungsstrategie im Fall der befragten jungen (Spät-)Aussiedler kann die Strategie der multiplen Zugehörigkeit im eigenen Lebensentwurf durch Beheimatung in beiden Gesellschaften angenommen werden, die den Interviewpartnern den (gleichmäßigen) Umgang mit zwei kulturellen Kontexten ermöglicht. Durch intensive Zugehörigkeitsarbeit wird ein aktives Handeln gesteuert, um die krisenhafte Identitätssituation („[…] ich wusste auch nicht so richtig, wer ich denn bin […] (ID 6)“; „[…] zwischen den Welten halt […] (ID 11)“; „[…] hin und her gerissen […] (ID 17)“; „ […] ich bin irgendwie dazwischen […]“ (ID 3)) produktiv zu bewältigen. Diese Lebensweise ermöglicht den Interviewpartnern ihre Teilidentitäten in Einklang zu bringen, ihr Anderssein als einen Normalzustand zu betrachten und gegenüber wechselnden Umwelten, wie etwa Migration, mit Flexibilität und Kontinuität zu reagieren. Das Endergebnis der Bewältigung der identitären Krisensituation durch eine solche multiple Strategie kann beispielsweise folgendermaßen aussehen:
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„Ich bin so froh, dass ich diesen bikulturellen Hintergrund habe, alleine aus dem Grund diese zwei verschiedene Sachen zu kennen […] ich nutze es für mich, indem ich Sachen auswähle […] es ist so lustig zwischen den Kulturen zu pendeln. […] das stört mich nicht, dass man so manchmal zwischen den Stühlen fällt […] ich sitze gerne zwischen den Stühlen […] es ist einfach ganz lustig damit zu spielen. Z.B. ein russischer Freund, mit dem ich mich treffe, der kommt zu spät und ich sage `hey, du bist zu spät, ich bin Deutscher, ich bin immer pünktlich´ oder genau das Gegenteil, in Deutschland, wenn irgendwie ein Feier ist, alle sitzen und trinken Bier und ich sage ‚hey ich bin Russe, komm lass mal bisschen Stimmung aufkommenǥ […]“. (ID 9)
Dieser Interviewausschnitt kann durch die im theoretischen Teil dargestellten Rollentheorie nachvollzogen werden und darauf verweisen, dass Rollenwechsel anbei nicht wortwörtlich als „ich sitze zwischen den Stühlen“ (häufig im negativen Sinne), sondern gerade als positiver Aspekt der „identity switching“ im Sinne „ich sitze auf zwei Stühlen“ verstanden werden soll. Die Person hat somit die Möglichkeit zu wählen, auf welchen Stuhl er sich gerade setzen möchte und in welchem Moment er das „switching“ individuell gestaltet.31 Ein Blick in die sozialwissenschaftliche Literatur zeigt, dass Identität dort nicht als etwas Gegebenes beschrieben wird, sondern als etwas, dass es zu erwerben gilt.32 Durch Identifizierungsprozesse entsteht nicht nur die
31 An dieser Stelle soll auch an Badawias (2002) Dritten Stuhl erinnert werden, indem er den Dritten Stuhl als ein alternatives Zwischen-Modell für die Identitätskonstruktionen der bildungserfolgreichen Immigrantenjugendlichen darstellt, die er nicht unbedingt mit Zerrissenheit in Verbindung bringt, sondern als „eine Bereicherung, eine Hilfe und eine Lebenschance für das Entstehen eines neuen Selbstverständnisses“ darstellt (vgl. Badawia 2002: 125). Dieser Aspekt wird in den folgenden Kapiteln noch ausführlicher diskutiert. 32 Mead (1991) geht davon aus, dass sich Identität vom eigentlichen psychologischen Organismus unterscheidet und ständig entwickelt. Sie sei bei der Geburt nicht „anfänglich vorhanden“, sondern entstehe innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses (vgl. Mead 1991: 177). Für Mead entsteht die Identität nur in gesellschaftlichen Prozessen, also nur in einer Gruppe. Auch Erikson (1993) ist der Meinung, dass Identität in einem Kollektiv zustande kommt und bringt die These hervor, dass Menschen, die aus derselben Gruppe
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Identität der Einzelnen, sondern auch das Objekt der Identifizierung, d.h. Nation, Ethos, Rasse und Heimat. In Migrationsprozessen wird eine solche Identifikation besonders schwierig, weil die Identität nicht nur Merkmale und Eigenschaften einer einzigen Nation, Ethnie oder Heimat beinhaltet. Sie ist vielmehr als ein „kreatives“ Projekt, gefolgt durch Wertesystem von Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft in einem Selbst. Die multiplen Identifikationsprozesse, die in den 1990er Jahren insbesondere aus der Perspektive der jungen/jugendlichen Migranten von den Forschern thematisiert wurden, können im transnationalen Migrationskontext als Dritter Stuhl (Badawia 2002), Third Space (Bhabha 1990: 207– 221), Mehrfachzugehörigkeit (Mecheril 2003) und als Zwischenraum (Atabay 1998) verstanden werden, wo zwei oder mehrere Kulturen aufeinander treffen.33 Wie werden aber solche multiple Zugehörigkeiten von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern konstruiert? Und wie definieren sie sich aus dieser multiplen Perspektive im transnationalen Migrationskontext? Anhand von Fallbeispielen soll in den nächsten Kapiteln die Diskussion der multiplen Zugehörigkeit(en) von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern erweitert werden. 5.5.3.1 Ein Leben Hier und Dort: „Ich bin ein Mix […], eine Hybride […]“. Fedjas (ID 1) und Petjas (ID 2) Biographien wurden bereits im Kapitel 5.2 als Beispiele transnationaler Lebensentwürfe kurz dargestellt. Die beiden Interviewpartner gehören zu jenen Befragten, die sich bereits seit ihrer Migration nach Deutschland mit ihrer Zugehörigkeit stark auseinandersetzen. Sie entsprechen hiermit einem Stereotyp junger (Spät-)Aussiedler, der durch eine hybride Identität gekennzeichnet ist. Die intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstentwurf und die Suche nach dem Hier und Dort kann vor allem durch den Familienkontext begründet werden.
stammen, in derselben Art und Weise und in derselben geschichtlichen Zeit leben, eine kollektive Identität entwickeln ( vgl. Erikson 1993: 11-18). 33 Bhabha (2000) spricht in diesem Kontext etwa von kultureller Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt (Bhabha 2000: 5).
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Beide, sowohl Fedja als auch Petja, sind in einer Familie aufgewachsen, in der neben der deutschen Sprache auch die russische Sprache immer präsent war, ja sogar stärker im Familienalltag eingebracht wurde als die deutsche Sprache. Deutsch wurde erst in Deutschland gelernt und vor der Migration nach Deutschland im Herkunftsland nicht angewendet. Die russische Erziehung der Mütter spielt in diesem Zusammenhang ebenfalls eine herausragende Rolle, denn die russische Kultur wird hiermit durch sie an die Kinder weitergegeben. Fedja und Petja erwecken während der gesamten Interviews34 nicht den Eindruck, dass sie unbedingt zu den (Spät-)Aussiedlern gehören wollen, die ihr Deutschsein beweisen möchten. Es scheint den beiden vielmehr gerade gleichgültig zu sein, dass sie deutsche Vorfahren haben, obwohl Petja als auch Fedja im Interviewkontext mir ausführlich ein „Kapitel“ ihrer deutschen Familiengeschichte dokumentieren. Zwar sind sie sich wohl bewusst, dass ihre Vorfahren Deutsche sind, dies spielt aber in ihrem heutigen identitären Selbstentwurf eine sekundäre Rolle. Während unseres Interviews macht Fedja vom Anfang an klar, dass er eine sehr gemischte Herkunft habe: einen deutschen Vater und deutsche Großeltern, eine russische Mutter, die aber zugleich tatarische und komi35 Wurzeln besitzt, womit er sich ebenfalls identifiziert. Er sei also ein Mix aus verschiedenen ethnischen Gruppen und Kulturen. Für die Frage der Identität und Zugehörigkeit ergibt sich für Fedja daraus die komplexe Problematik, sich auf ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Ethnie und Nation festzulegen: man könne nicht „nur eins akzeptieren und das andere abstoßen“. Fedjas gegenwärtige Wahrnehmung der eigenen Zugehörigkeit beruht aber nicht nur auf dem Herkunftskontext, sondern vielmehr darauf, dass er schon seit seiner Kindheit eine „besondere Verbindung“ zu seinem Herkunftsland und im Gegensatz zu allen anderen Interviewpartnern auch zu
34 Zur Erinnerung: mit den beiden Interviewpartnern wurden jeweils ein Hauptinterview und später jeweils ein zweites Vertiefungsinterview durchgeführt. 35 Die Komi, oder die Komi-Syrjanen, sind ein altes finnougrisches Volk, sie bilden die Urbevölkerung der Republik Komi. Sie liegt im äußersten Nordosten des europäischen Teils der Russischen Föderation Vgl. http://german.ruvr.ru/radio_broadcast/17350884/22519382.html. Aufruf: 18.03.2012.
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seinem Geburtsort aufgebaut hat, auch deshalb, weil er „jedes Jahr nach Russland gefahren [sei]“, um seine Verwandten dort zu besuchen: „[…] das war dann einfach so, eigentlich möchtest du mehr wissen und eigentlich möchtest du auch dich mehr damit auseinandersetzen können“. (ID1)
Auf den ersten Blick scheint die deutsche Kultur den beiden Interviewpartnern vertrauter zu sein als die russische. Doch später werden erstaunlicherweise große Parallelen feststellbar, die Fedja und Petja ein Leben zwischen Hier und Dort ermöglichen, ohne dabei eine emotionale Wurzellosigkeit oder gar Zerrissenheit hervorzurufen. Petja (ID 2) versucht diese etwas ungewöhnliche Situation folgendermaßen zu erfassen: „Zwei Herzen pochen in meiner Brust, die zwei Ethnien und zwei Identitäten widerspiegeln. Auf einer Seite habe ich die deutsche, die sehr rational ist und auf der anderen Seite die russische, die sehr emotional ist […]. Ein Teil von mir gehört einem anderen Kulturkreis an, das ist für mich ganz klar, aber es ist auch so, wenn ich dort lebe, dass ein anderer Teil Deutschland vermisst. Irgendwie brauch‘ ich dann auch die deutsche Sprache, sonst ist man zerrissen“. (ID 2)
Petjas Familienkontext ist besonders stark von einem Leben zwischen Hier und Dort beeinflusst. Sein Vater, ein erfolgreicher Unternehmer, arbeitet seit mehreren Jahren für deutsche Firmen in Russland und pendelt somit zwischen Russland und Deutschland.36 Im Interviewkontext scheint Petjas Vater mir gegenüber durch die ausgeprägten Erzählungen seiner deutschen Familiengeschichte und durch die Betonung der Diskriminierungen der Deutschen in Russland sein Ausreisemotiv nach Deutschland zu rechtfertigen. Er zeigt sogar Familienfotos von seinen deutschen Vorfahren und versucht im Gegensatz zu seinem Sohn sein Deutschsein etwas mehr zu unterstreichen. Aber seine weiteren Erzählungen deuten darauf hin, dass gerade, weil er sich mit den einheimischen Deutschen nicht in allen „Punkten“ identifizieren kann und sich in Russland „wohler“ fühlt, er es bevorzugt, aus seinem unternehmerischen Talent lieber in Russland Gebrauch zu machen als in Deutschland.
36 Mit Petjas Vater wurde ebenfalls ein Interview im März 2010 durchgeführt.
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Da Petjas Vater monatelang in Russland arbeitet, nutzt Petja oft die Situation, um seinen Vater für eine kurze Zeit dort zu besuchen und über unterschiedliche Plattformen der sozialen Netzwerke (Skype, Facebook) über die Geschehnisse in Russland mit ihm zu diskutieren und sich somit auf dem aktuellsten Stand zu halten: „[…] ich verfolge die Tagespolitik, ich verfolge die Entwicklung des Landes, ich verfolge die Zerrissenheit der Meinungen, die es bei politischen Fragen dort gibt, ich bin besorgt, was die Entwicklung Russlands angeht, ich verfolge mit Spannung das kulturelle Leben, ich schaue, welche Filme gibt, ich nehme irgendwie teil an dem Leben dort, auch wenn ich hier bin. Auch wenn ich mit meinem Vater diskutiere, obwohl er in Russland ist, weiß ich irgendwie meisten genauso gut Bescheid über manche Sachen. Ich wäre froh, wenn meine Zukunft weiterhin mit Russland verbunden bliebe und ich auch beruflich dort einen Zugang hätte […]“. (ID 2)
Die transnationale Lebensweise beider Interviewpartner ist für ihren eigenen Identitätsentwurf insofern wichtig, da sie eine Verortung verlangt, die nicht von ethnisch nationalen Grenzen abhängig ist. Beide positionieren sich über diese ethnisch nationalen Grenzen und entwickeln dabei ein Identitätsmuster, das Eigenschaften von zwei oder mehreren kulturellen Kontexten in sich trägt. Bemerkenswert scheint vor allem auch die identitäre Positionierung sowohl der beiden Interviewpartner, als auch anderer im europäischen Kontext: wenn Fedja und Petja sich aus allen Nationen und Ethnien lösen möchten, greifen sie auf ihre europäischen bzw. weltbürgerlichen Identitäten zurück, die als Ergänzungsmodell ihrer multiplen Zugehörigkeiten angesehen werden können.37 Die Bezeichnung „europäische Identität“ bezieht sich hierbei nicht auf die Grenzen der EU bzw. Nicht-EU, wie dies etwa Lamei (2003) betont,38 sondern auf eine bewusste Ablehnung der Nationalgrenzen (auch EU Grenzen) und bewusste Bejahung der kulturellen Vielfalt Europas, wozu Deutschland wie Russland als auch andere europäische
37 In diesem Zusammenhang verweist auch Schmidt-Bernhardt (2008) darauf, dass jungen (Spät-)Aussiedler sich sehr oft als Europäer bzw. Europäerinnen verorten (vgl. Schmidt-Bernhardt 2008: 76). 38 „Als „europäische Identität“ soll hier eine gefühlsmäßige Verbundenheit der EU-BürgerInnen mit der EU verstanden werden“ (Lamei 2003: 525).
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Länder gehören. Eine Konzipierung solcher europäischer Identität als Ergänzung zum eigenen multiplen Zugehörigkeitsmodell stellt Petja (ID 2) in dieser Erklärung seines transnationalen Lebensentwurfes sehr präzise dar: „Ein Teil von mir sieht auch Möglichkeiten in Russland zu arbeiten. Ich wäre froh, wenn meine Zukunft weiterhin mit Russland verbunden bliebe und ich auch beruflich dort einen Zugang hätte. Europa ist klein, wenn man so will und für mich ist es reizvoll, auch außerhalb Europa in anderen Ländern zu leben. Aus vielen Gründen ist es sogar leichter in anderen Ländern, die nicht deutschsprachig sind, etwas zu machen, weil die kleinen Unterschiede sehr groß sind. Für mich ist es eine Herausforderung und auch quasi Seiten an mir kennenzulernen, die es dort gut machen würden, beruflich oder wie auch immer. Für mich ist es kein Problem für ein Jahr oder zwei in die Schweiz zu ziehen oder für ein ganz tolles Projekt, was mich interessieren würde, in andere Länder zu ziehen. Ich hätte auch nicht eine panische Angst davor als Ausländer wahrgenommen zu werden, weil ich auch nicht den Anspruch hätte, dort eine neue Heimat zu finden oder so, sondern ich fühle mich eigentlich ziemlich selbstsicher, wenn ich nicht in Deutschland und woanders unterwegs bin. Weil ich mich als Europäer fühle und weniger zu einem Land zugehörig. Ein Teil von mir ist deutsch, aber ich verorte Deutschland weniger an seine Nationalgrenzen, sondern ich sehe das irgendwie offen“. (ID 2)
Was durch diese Interviewpassage zum Ausdruck gebracht wird, ist die bewusste Handhabung einer Strategie, die Nationen, Länder und Ethnien in den Hintergrund rückt und das eigene Selbst durch die übergeordnete Einheit „Europa“ und europäische Identität postuliert.39 Als Europäer verzichtet Petja sogar auf den Anspruch einer Heimat, die ihm sozusagen ethnischnationale Bindungen zwingen könnte. Die Bedeutung der Heimat kann durch weitere Interviewpassagen so erklärt werden, dass deren Sinn für meinen Interviewpartner letztendlich völlig irrelevant bleibt. Die Assoziation mit Heimat ruft bei ihm nur die Vergangenheit hervor, die aber für Petja seine Kontinuität schon längst verloren hat. Deshalb geht es für ihn nicht darum, einen bestimmten Ort als Heimat zu bezeichnen, sondern sich an einem bestimmten Ort, sei es Deutschland oder temporär
39 Ähnlich wie am Anfang dargestellte sowjetische Identität als übergeordnete Identität (vgl. Kapitel 5.5.1).
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Russland oder in einem anderen Land, wohl zu fühlen. Das Wohlfühlen ist vor allem mit Freiheit, freier Bewegung und freiem Leben zu verbinden: „Heimat ist glaube ich für mich rein physisch gesehen da, wo ich mich wohl fühle. Und das ist momentan geographisch gesehen Deutschland, aber ich fühl mich auch in der Schweiz, da wo meine Freundin wohnt, gerade ziemlich wohl. Es ist eher da, wo ich bestimmte Freiheiten habe, um mich selbst ausdrücken zu können und einfach, wenn ich auf die Straße trete, das Gefühl zu haben, ich bin hier kein Fremdkörper, sondern ich kann mich hier frei bewegen und ich muss mich nicht anstrengen“.(ID 2)
Während Petjas Heimatbezeichnung eine eindeutige Erklärung liefert, scheint Fedja verunsichert zu sein. Noch im ersten Interview bezeichnet er Deutschland als seinen Lebensmittelpunkt, distanziert sich allerdings völlig von dessen Bezeichnung als Heimat. In Deutschland fühle er sich sicherer und habe die meisten sozialen Kontakte. Im zweiten Interview bezieht er sich ausgiebig auf Russland und bezeichnet es sogar als Heimat. Fedja sucht nach Argumenten, um seine Wahrnehmung von Heimat deutlicher zu erklären: „[…] da sehe ich irgendwie meine Wurzeln […].Weil die Leute dort so ähnlich aussehen wie ich. Also Du musst Dir das so vorstellen, ich hab so ein bisschen Schlitzaugen eigentlich. Und das ist möglicherweise ein tatarischer Einschlag oder das ist von den Nenzen [Nenzen sind wie Tataren eine Volksgruppe in Russland] von Opas Seite und deswegen sehe ich auch in dieser Region, wo ich bin, auch häufiger Leute, die so aussehen wie ich […] und von daher denke ich die Leute sehen mir ähnlich, also müssen hier irgendwo meine Wurzeln sein. Oder auch von der Komi Sprache, meine Mutter und meine Großeltern sprechen Komi und wenn ich Komi höre, dann weiß ich auch das ist jemand, der steht mir sehr nahe. Deshalb hab ich dort den Eindruck oder wenn ich mir die ganze Umgebung sehe, dass mir das alles sehr nah vorkommt. Dass ich das schon kenne irgendwoher und wenn ich dort bin, dann fühl ich mich zu Hause, dann fühl ich mich eigentlich in meiner Heimat“. (ID 1)
Da sich sein Leben aber Hier und Dort abspielt, entsteht für Fedja eine sehr schwierige Situation, Heimat so eindeutig zu erklären und überhaupt eine einzige Heimat zu besitzen:
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„Ich möchte mich nicht festlegen auf irgendein Land. Das ist schwierig und das will ich eigentlich auch gar nicht. Ich kann ja nicht nur eins akzeptieren und das andere abstoßen. Also das funktioniert nicht“. (ID 1)
Deutlich wird, dass diese transnationale Lebensweise meinen beiden Interviewpartnern die große Möglichkeit bietet, ihre multiplen Zugehörigkeiten angemessen auszuleben, ohne sich dabei zwischen dem einen oder anderen Land entscheiden zu müssen. Sowohl Fedjas als auch Petjas gegenwärtiger Identitätsdiskurs kann als ein Phänomen der Vermischung und gegenseitigen Durchdringung verschiedener Kulturen verstanden werden (vgl. Welsch 1999: 197). Dem zufolge ist die kulturelle Identität nicht mehr durch die Zugehörigkeit zu einem einzigen Nationalstaat zu definieren, sondern durch Schöpfung verschiedener Komponenten aus mehreren nationalstaatlichen Kulturen und als Verbindung dieser Komponenten in der Phase der Identitätsformung (vgl. ebenda: 201). Der eigene Selbstentwurf wird von beiden Interviewpartnern als eine Mischung, eine Hybride bezeichnet: „[...] ich habe von beiden Gruppen sehr viel mitgenommen [...] ich bin so deutsch zum Teil erzogen von der Schule aus, aber in der Freizeit verhalte ich mich ganz anders als Deutscher. Da kann ich wesentlich chaotischer sein, wesentlich herzlicher und nicht so distanziert [...] ich würde mich wie so ein Mix beschreiben [...]“. (ID1) „[...] Ich glaube, ich bin in meiner Ganzheit weder nur deutsch, noch bin ich nur Russe, weil ich die Möglichkeit habe, aus beiden zu wählen. In dem Sinne, ja Hybrid. Wenn man so will, sind das auf jeden Fall zwei Zugänge zu mir selber. Ich finde, auf beiden Wege irgendwie Zugang zu mir, aber das sind unterschiedliche Wege, die zum selben Berg führen“. (ID 2)
Die wichtige Voraussetzung dabei ist, dass sich Fedja und Petja mit der eigenen Vielfältigkeit und den Widersprüchlichkeiten auseinandersetzen, um mit der multiplen Form solcher Identitäten umgehen zu können und Identitätskrisen eventuell zu bewältigen: „Dadurch, dass ich mich in beiden Kulturen wohl fühle und überhaupt kein Problem habe, mich in den Alltag einzuleben oder mit Menschen zu kommunizieren, ist es für mich so, dass ich zwischen diesen beiden Welten springen kann, ohne dass es für
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mich ein Problem wäre und das heißt gar nicht, dass ich irgendwie eine neue Identität habe, sondern dass ich einfach meine Rollen wechseln kann“. (ID1)
Was eine solche Voraussetzung ausmacht, ist die positive Selektion zwei paralleler Welten, in denen meine beiden Interviewpartner teilhaben. Diese positive Selektion ermöglicht vor allem ein multiples Identitätsmuster, das im Gegensatz zu den traditionellen Identitätsformen Mehrfachzugehörigkeit(en) bedeutet (vgl. auch Mecheril 2003) und Heimatstruktur(en) offener und fluider macht. Dies wird von meinen Interviewpartnern als Ressource für die eigene Selbstkultivierung, berufliche Weiterentwicklung und das eigenes Lebensdasein (im transnationalen Raum) genutzt und weiterentwickelt. 5.5.3.2 Eine Suche nach deutscher Zugehörigkeit: „Ich bin ein stolzer Deutscher“! Im Gegensatz zu allen befragten Personen bezieht sich Serjoga (ID 10) während des ganzen Interviews auf sein Deutschsein und versucht durch seine Verhaltensweise und Äußerungen seine deutsche Identität unter Beweis zu stellen. In einer späteren Interviewanalyse stellt sich heraus, dass die Repräsentation der deutschen Zugehörigkeit mit „guten alten Werten“, wie dies Serjoga interpretiert, ein eher gewolltes Bild von Serjogas deutscher Zugehörigkeit zeigen. Scheinbar gehört er nicht zu den jungen (Spät-) Aussiedlern, die ihre Bikulturalität akzeptieren und die Pluralität ihrer Identitäten als Normalität betrachten, dennoch mit dieser Bikulturalität und Pluralität leben. Serjoga ist mehr oder weniger verunsichert darüber, was er eigentlich sei, deutsch oder russlanddeutsch oder etwas dazwischen, was er aber mir gegenüber nicht direkt zugibt. Während des Interviews neigt er dazu, sich stark als Deutscher zu definieren, um zum einen die Verunsicherung des eigenen Selbstentwurfes zu verdrängen. Zum anderen aber erwähnt er auch mehrmals im Interview die Diskriminierungserfahrungen seiner Eltern in der Sowjetunion, die als ethnische Deutsche immer „beschimpft und schlecht behandelt“ wurden. Warum solle er sich also russisch fühlen? „Ich habe manchmal das Gefühl, ich bin sogar stolzer deutsch zu sein als die Deutschen in Deutschland. Ich habe oft mit Deutschen geredet und ich kann von mir sagen, ich bin wirklich stolz als Deutscher zu sein. […] bin stolz in diesem Land zu
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leben. Ich habe das Gefühl, die Deutschen sind alle ein bisschen feige und trauen sich nicht mal irgendwie darüber zu reden, was sie überhaupt haben in Deutschland. Das hängt mit der Geschichte zusammen, aber das kann man ja auch langsam vergessen“. (ID 10)
Serjogas Eltern (beide ethnische Deutsche) sind im Jahr 1991 aus Russland nach Deutschland migriert. Kontakte in Deutschland waren damals bereits vorhanden, doch die Familie hatte nur wenige Informationen über das Leben in Deutschland: „Einfach nur, dass das Leben in Deutschland besser war, mehr nicht“. (ID 10)
In diesem Kontext betont mein Interviewpartner auch das Ausreisemotiv seiner Eltern, das er ausschließlich in der Diskriminierung als Deutscher in Russland sieht. Inwieweit dieses Motiv nun tatsächlich die wichtigste Rolle für die Migrationsentscheidung der Familie gespielt haben soll, bleibt fraglich, denn Serjoga scheint stark von den Erzählungen seiner Eltern beeinflusst zu sein. Die lebhafte Darstellung der Diskriminierungsgeschichten seiner Familie erweckt den Eindruck, als ob mein Interviewpartner dies selbst am eigenen Leib erlebt hätte. Doch Serjoga war damals vier und kann sich kaum an die Lebensumstände in seinem Herkunftsort erinnern. Nach der Migration aus Russland beginnt für meinen Interviewpartner in Deutschland eine neue Lebensphase, die, wie Serjoga im Interview verdeutlicht, nach den Erzählungen seiner Eltern sehr positiv verlaufen sei. Vor allem von Bundesdeutschen sei die Familie offen aufgenommen worden. Das Deutschsein seiner Familie stellt für Serjoga einen wichtigen Aspekt einer solchen positiven Reaktion gegenüber seiner Familie dar. Die Familie sei eher „eine Ergänzung für Deutschland, als ob man einigermaßen dazugehört und nicht jemand, der hierhin gekommen ist und arbeitslos sein will“ (ID 10). Unter der ergänzenden Funktion der Familie für Deutschland versteht mein Interviewpartner die „ guten alten deutschen Werte“ wie Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß, die die Familie mitgebracht habe. Diese Werte spielen für meinen Interviewpartner und seine Familie auch heute eine große Rolle. Sie markieren schließlich für Serjogas Wahrnehmung die Grenzen zwischen echten Russlanddeutschen, die Deutsche sind und „schätzen, was sie an Deutschland haben“ und unechten Russlanddeutschen, die sehr russisch geprägt sind und ihre Heimat als
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Russland bezeichnen. Mein Interviewpartner äußert sich sehr herablassend über die Letztgenannten: „Im Endeffekt wissen die gar nichts von Russland. Die kriegen nichts mit, gucken vielleicht Fußballspiele von Russland, aber wissen nicht mehr, wer der Präsident ist, wer der Finanzminister ist, wissen nicht wie die Kultur ist und war und sind einfach nur stolz darauf Russen zu sein, warum wissen sie selber nicht. Und das sind einfach Leute die sich keine Gedanken gemacht haben und wissen nicht zu schätzen, was die in Deutschland haben. Das sind meistens, die die auch die Sprache nicht so gut können obwohl sie 10 oder 15 Jahre schon in Deutschland leben. Ich kenne jetzt drei von dieser Sorte. Der eine macht Ausbildung als Schreiner und kommt gerade zu Recht mit den Sprachkenntnissen, aber sonst ist alles russisch, einkaufen im russischen Laden, zuhause Fernsehen russisch und er will auch das nicht ändern“. (ID 10)
Diese Gegenüberstellung scheint etwas merkwürdig zu sein, denn Serjoga erwähnte in einer früheren Interviewpassage, dass seine Familie zu Hause ebenfalls einen russischen Fernseher besitzt und russische Nachrichten verfolgt, um auf dem aktuellen Stand zu bleiben. Sein Vater arbeitet in einer Exportfirma nach Russland und bevorzugt vielmehr russische Kontakte als deutsche. Serjogas Mutter hat ebenfalls keine sozialen Kontakte mit Bundesdeutschen. Serjoga selbst bleibt ebenfalls unter russischsprachigen Jugendlichen, da er mit einheimischen Deutschen kaum Gesprächsthemen findet. In einer späteren Netzwerkerhebung zeigt auch das Bild seiner sozialen Netzwerke eine starke ethnische Konzentration im russlanddeutschen „Sektor“ (vgl. Netzwerkkarte ID 10):
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Abbildung 22: Netzwerkkarte ID 1040
Einheimische Deutsche
Spätaussiedler Andere ethnische Gruppen
40 Dieses Bild, das die soziale Netzwerkstruktur von der ID 10 (EGO in der Mit-
te) darstellt, wurde mit VennMaker erhoben und visualisiert. Die Akteure (Alteri), mit denen EGO (ID 10) aktive Beziehungen unterhält, sind durch kleine dunkle bis helle Kreise gekennzeichnet. Diese erfüllen unterschiedliche Rollen (Familie, Freunde, Partner, Verwandte, Bekannte etc.) für EGO. Die Akteure sind in drei konzentrischen Kreisen, die die lokale Nähe der Akteure zum EGO (Deutschland, Russland, Kasachstan) und in drei Sektoren, die die ethnische Zugehörigkeit der Akteure ((Spät-)Aussiedler, ethnische Deutsche, andere ethnische Gruppen) aufzeigen, verteilt. Dabei befindet sich ein Akteur (6) außerhalb dieser konzentrischen Kreise, da sein Lebensmittelpunkt die USA sind. Die Linien, die EGO und Alteri verbinden, signalisieren die unterschiedlichen Unterstützungsarten, wie z.B: Hilfe bei der Wohnungssuche in Russland, Finanzielle Hilfe, emotionale Unterstützung, Freizeitbeschäftigung etc. Zur weiteren Anschaulichkeit, Erklärung und Visualisierung des Netzwerkbildes vgl. Kapitel 4.2.3 und Kapitel 5.6.2.1.
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Analyse Nicht eingekreist:
1
Kreis Deutschland:
24
Kreis Russland:
3
Kreis Kulturraum GUS:
0
In keinem Sektor :
1
Sektor Einheimische Deutsche:
3
Sektor Spätaussiedler:
17
Sektor andere ethnische Gruppen:
7
Total:
28
Dichte (mit Ego):
0,054
Quelle: Eigene Erhebung und Visualisierung
Serjogas einheimische Kontakte bilden zwei Kommilitonen, mit denen er ab und an wegen des Studiums etwas zusammen unternimmt. Seinen festen Freundeskreis markieren allerdings Russlanddeutsche, russischsprachige Migranten und Migranten anderer Nationalitäten. Die Erklärung dieser sozialen Netzwerkkonstellation, warum mein Interviewpartner sich selbst als „stolzer Deutscher“ definiert, sich aber von einheimischen Deutschen distanziert, liegt darin, dass Serjoga glaubt, mit „urdeutschen Werten“ im Herkunftsland erzogen worden zu sein im Gegensatz zu den einheimischen Jugendlichen: „[…] So wie die Russlanddeutschen von ihren Eltern erzogen wurden, das war vor 200 Jahren in Deutschland, also dieses Urdeutsche sozusagen. Diese neue Generation, die Jugendlichen in Deutschland, die sind ja schon eher moderner wie mit Internet usw. da gibt es schon Unterschiede alleine wegen der Erziehung. Wenn ich die deutschen Kinder und Jugendlichen angucke, es ist eine ganz andere Erziehung, sie können meistens machen was sie wollen, sie haben viel mehr Freiheiten, ob das im Endeffekt positiv ist oder nicht, ist andere Frage. Bei uns war immer alles strenger, es gab für alles eine Strafe, da war alles geregelt. Und hier in Deutschland raucht eine 15 jährige Tochter mit ihrer Mutter im Wohnzimmer eine Zigarette zusammen. Das würde einfach nicht geben bei Russlanddeutschen […]“. (ID 10)
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Im Interviewkontext widersprechen sich oft Serjogas Äußerungen in Bezug auf seine klare identitäre Positionierung als „stolzer Deutscher“. Dies geschieht meistens unbewusst, indem er über sein Denk- und Handlungsmuster spricht, das er selbst als untypisch für Deutsche charakterisiert, wie beispielsweise mit seinen Freunden „Wodka trinken und auf dem Parkplatz rumstehen“. Serjogas Zugehörigkeitsbild ein stolzer Deutscher zu sein ist sehr stark von seinem Familienkontext beeinflusst. Seine Eltern legten sehr viel Wert darauf, dass Serjoga und seine Geschwister bei der Ankunft in Deutschland sich deutsch fühlen und sich als Deutsche identifizieren. Auch während des gesamten Interviews versucht Serjoga den deutschen Identitätsentwurf in mehreren Interviewpassagen deutlich zu machen, um dem Ausreisemotiv seiner Eltern gerecht zu werden. Bei der Frage seiner heutigen Zugehörigkeit erzählt er immer wieder über die Diskriminierungen seiner Familie in Russland. Auf die Frage, welche Zugehörigkeit er nun in Deutschland für sich entwickelt hat, antwortet er ohne zu zögern: „Deutsche auf jeden Fall!“ (ID 10)
Auch im Heimatkontext kann mein Interviewpartner keinen Bezug zu Russland finden. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sich Serjoga zwecks eines Austauschstudiums in Russland. Er zeigt allerdings keinesfalls Sympathie gegenüber seinem Herkunftskulturraum und versucht sich von Russen in jeder Hinsicht abzugrenzen: „[…] ich glaube die echten Russen sind ganz anders von ihren Einstellungen her, deshalb denke ich, dass wir Russlanddeutschen vielmehr zu Deutschland passen von der ganzen Mentalität her […]“. (ID 10)
Dass man in Russland für alles „bestechen“ muss, ist gegen Serjogas deutsches Gerechtigkeitsverständnis. Das stellt für ohne einen wichtigen Grund dar, warum er sich nicht vorstellen kann, jemals in Russland zu leben. In diesem Kontext soll auch Serjogas Motiv, zum Austauschstudium nach Russland zu gehen erörtert werden. Während viele andere Interviewpartner einen emotionalen Bezug zu Russland zeigen und zum Teil auch durch diese Emotionalität ihre temporäre Rückkehr in ihren ehemaligen Herkunftsort begründen, ist die Wahl des Ortes für das Austauschstudium für Serjoga ein „Notfall“. Er habe die An-
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meldefrist für andere Universitäten verpasst und diesen „Notfallplan“ Russland in Erwägung gezogen. Doch etwas später kommt der überraschende Satz: „Und dann dachte ich, ich gehe nach St. Petersburg, guck ich mal wie die in meiner Heimat so leben“. (ID 10)
Im ersten Augenblick scheint es so, als hätte Serjoga seinen Bezug zu Russland als Heimat gefunden. Die gesamte Interviewanalyse zeigt aber ein anderes Bild: Serjoga fragt sich vielmehr, was Heimat überhaupt sei. Denn Heimat als ein fester geographischer Ort macht für meinen Interviewpartner keinen Sinn. Bemerkenswert ist, dass Serjogas ständiger Bezug auf sein Deutschsein im Heimatkontext eine geringe Rolle spielt und in manchen Interviewpassagen kaum sichtbar wird. Serjoga zeigt sogar Emotionen und wird nachdenklich, wenn er über Heimat spricht. Als „stolzer Deutscher“ könnte Serjoga Deutschland als seine einzige Heimat bezeichnen, um mir gegenüber sein Deutschsein noch mehr hervorzuheben. Serjoga fällt es aber schwer, Heimat zu definieren: „[…] Im Endeffekt ist das, wo meine Eltern immer waren und mich erzogen haben, ob das jetzt Deutschland oder Russland war oder sonst wo, das ist eigentlich egal. Heimat ist für mich eigentlich kein fester Ort, sondern eher der Ort der Erziehung. Und weil er teils hier, teils da war, kann man schlecht sagen“. (ID 10)
Serjogas Bezug auf sein Deutschsein kann damit erklärt werden, dass sein Bewusstsein ein „stolzer Deutscher“ zu sein auf die Kenntnisnahme seiner deutschen Herkunft und seiner Familiengeschichte beschränkt ist. Seine ständige Suche nach der deutschen Zugehörigkeit ist aber keinesfalls durch das deutsche Wertesystem und die Ethnie geprägt. Seine Identität zeigt vielmehr eine Mischung aus dem sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Erbe Deutschlands und der Sowjetunion, also eine multiple Zugehörigkeit, so wie mein Interviewpartner es zu seinem eigenen Erstaunen wegen seines eher untypischen Denk- und Handlungsmusters für Bundesdeutsche feststellt.
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5.5.4 Multiple Zugehörigkeiten: Zerrissenheit oder Vorteil? In den Migrationsprozessen werden aktive und passive Identifizierungsprozesse41 nicht immer harmonisch begleitet, sondern können auch oft zu Widersprüchen führen. Dieser Konflikt kommt zustande, wenn ein Subjekt das Aufnahmeland größtenteils als Heimat betrachtet, ihm aber die passive Identifizierung von den Individuen der Aufnahmegesellschaft verweigert wird. Während ältere Migranten aufgrund ihrer noch im Herkunftsland vorhandenen verwandtschaftlichen Beziehungen und geringer Deutschkenntnisse, aber auch aufgrund der dort herrschenden Traditionen und Werte ihre Herkunftsländer noch als Heimat verstehen können, sind Migrantenkinder bzw. Jugendliche, die ihre Sozialisation zum größten Teil im Aufnahmeland durchlebt haben, in gewisser Hinsicht heimatlos (vgl. Korfkamp 2006: 138). So sei es für diese Personen in einigen Fällen auch schwierig, eine stabile Identität zu entwickeln. Sie seien hin- und her-gerissen zwischen den Kulturen und somit auch „anfällig für eine weitere Form der Aufhebung dieses Identifizierungskonfliktes mit der Mehrheitsgesellschaft“ (ebenda). Dies verweist wiederum auf einen gestörte(n) Identifizierungsprozess (vgl. ebenda: 139). Die Tatsache, mit multiplen Zugehörigkeiten „unterwegs“ zu sein, scheint für jeden Interviewpartner zunächst einmal eine gegebene, naturgemäße Lebenslage zu sein, die sich nicht verändern lässt, d.h. es wird als „de facto Situation, die einfach so vorliegt“(ID 3) wahrgenommen. Diese naturgemäße Gegebenheit und besondere Lebenslage ist keinesfalls eine vorübergehende Situation für die befragten jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler, sondern eine Situation, die niemals aufhört und schon immer bestanden hat. Dies kann sich unter Umständen für die Interviewpartner am Anfang ihrer identitären Orientierung schwieriger gestalten als angenommen und in erster Linie Zerrissenheit suggerieren. So äußert
41 Von „aktiver“ Identifizierung wird gesprochen, wenn ein Subjekt X sich mit einem Objekt Y identifiziert. Die psychische Handlung geht hierbei von einem Subjekt aus. Wird hingegen ein Subjekt von einem oder mehreren anderen Subjekten, die dann für das erste Objekt sind, identifiziert, ist das aus der Sicht des Subjektes, das identifiziert wird, eine „passive“ Identifizierung (vgl. Korfkamp 2006: 136).
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sich meine Interviewpartnerin, dass sie sich am Anfang für ihre Andersheit „verstecken musste“: „[…] früher war es oft so, dass ich gedacht habe, oh man, du bist so blöd. Ich fang immer an zu stottern, wenn ich aufgeregt war, weil ich anscheinend meine deutsche Sprache vergesse, da habe ich mich manchmal in bestimmten Situationen versteckt […]“. (ID 5)
Mit Mecherils (2003) Beschreibung der Zugehörigkeiten haben wir hier mit einem „prekäre(n) Zugehörigkeitsstatus“ zu tun, der aber nicht zwangsläufig eine Identitätsdiffusion bedeutet. Gerade jungen/jugendlichen Migranten gelingt, diesen „prekären“ Status in vielfältiger Weise produktiv zu bewältigen (vgl. Mecheril 2003: 336-342). Denn die anfänglichen „prekären“ Situationen der Zerrissenheit, Unsicherheit und Diffusion stellen keinen endgültigen Zustand dar, sondern dienen als „Auslöser und motivationale Faktoren für einen Handlungsprozess […]. Der individuelle Beitrag zur Bewältigung von Selbstfigurationsschwierigkeiten und zur Lösung von Orientierungsproblemen wird durch die eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse legitimiert“ (Badawia 2002: 140–141). Somit gewinnt die anfängliche Zerrissenheit an Kontinuität und Flexibilität. Das eigene Selbst wird über den Zwischen-Status, über den Status der Hin- und Hergerissenheit in zwei oder mehreren kulturellen Kontexten definiert und verortet. So wie bei Badawia (2002), Micheril (2003), Sievers et al. (2010) wird auch von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern diese besondere Lebenslage „Leben mit zwei Kulturen statt zwischen den Kulturen“ als Bereicherung, Zugewinn, Vorteil wahrgenommen. Das multiple Zugehörigkeitsmuster wird somit als Phänomen in seiner Realität evident (vgl. auc Badawia 2002: 282), wie dies folgende Interviewpassagen zeigen: „[…] als 28jährige ist das nur ein reiner Zugewinn. Also, das sind Sachen, die einen reicher machen […]ein absoluter Zugewinn und ich bin ganz glücklich darüber, dass ich nach Russland gegangen bin und mich damit auseinander gesetzt habe, weil das einfach so eine Sache in meinem Leben ist, die sich nicht verändern lässt“. (ID 5) „Ich bin so froh, dass ich diesen bikulturellen Hintergrund habe, alleine aus dem Grund diese zwei verschiedene Sachen zu kennen und zu wissen, wie das geht, zwei verschiedene Mentalitäten einfach zu kennen und ich nutz es für mich einfach,
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indem ich Sachen auswähle. Es ist so lustig zwischen den Kulturen zu pendeln […]“. (ID 9)
Die Interviewpartner machen deutlich, dass sie gerade ihre besondere Ausgangssituation als Transmigranten mit multiplen Zugehörigkeiten in der funktional differenzierten Gesellschaft als Karrierechance begreifen und für ihr Selbstkonzept in diesem Sinne fruchtbar machen: sie bewegen sich zwischen zwei Welten, nehmen die Bildungs- und Berufsmöglichkeiten in beiden Ländern wahr und vermitteln zwischen beiden Ländern: „Das ist ein Vorteil. Vor allem, wenn du in der Zukunft mal arbeiten willst mit Deutschland und Osteuropa. Du kennst diese osteuropäische Kultur, diese Mentalität, aber du hast auch Westeuropa in dir. Du kannst sie vereinigen. [...] und das ist ein Vorteil“. (ID 11)
Somit soll die Relevanz der multiplen Zugehörigkeitsmuster für die Interviewpartner hervorgehoben werden, dass Bikulturalität, Hybridität, Vielfältigkeit im eigenen identitäteren Selbstentwurf keinesfalls Zerrissenheit oder kulturelle Konflikte bedeuten, sondern gerade das Fehlen einer der Teilidentität(en) eine Zerrissenheit erzeugen kann. Insbesondere deshalb, weil multiple Zugehörigkeiten keine „Übergangsmodelle“ sind, sondern eine gewisse Kontinuität haben und zu der neuen Selbstverständlichkeit für junge, bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler gehören: „[…] irgendwie braucht man beides, sonst ist man zerrissen […]“. (ID 2)
Transmigration bedeutet nicht einfach Leben mit Migrationshintergrund, sondern die bewusste und gewollte Bezugnahme auf beide Kulturen. Um diese Annahme weiterhin zu festigen, sollen in nachfolgenden Kapiteln die Beheimatungsstrategien der Interviewpartner diskutiert werden.
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5.5.5 Grenzen und Verortungen: Individuelle Beheimatungsstrategien im transnationalen Kontext Man muß in die Fremde gehen, um die Heimat, die man verlassen hat, zu finden. FRANZ KAFKA
Da die Analyse sich in diesem Kapitel auf Untersuchungsmaterial beschränkt, das aus Interviews gewonnen wurde, muss zunächst eine klare Trennung zwischen dem Begriff Heimat und der Bezeichnung Heimat eingeführt werden. Es wird hier lediglich um die Bezeichnung Heimat und deren Verwendung in der Selbstbeschreibung der Untersuchungsgruppe gehen. Ein analytisch trennscharfer Begriff existiert nicht. Heimat wird in der wissenschaftlichen Diskussion oft als ein unklarer und konfliktbehafteter Terminus betrachtet und durch neue Begriffe wie „symbolische Ortsbezogenheit“, „menschliche Territorialität“, „Satisfaktionsraum“, „regionale Identität“ etc. ersetzt (vgl. Korfkamp 2006: 11; Glorius 2007: 51). Die Komplexität kann zum einen durch den Wandel der unterschiedlichen Verständnisformen des Heimatbegriffes in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart erklärt werden (vgl. Kapitel 2.3.3), zum anderen aber auch durch die Globalisierung der Welt und durch die immer mobiler werdende Gesellschaft. In der modernen Welt, wo die Herkunftsbindungen und Grenzen ihre Bedeutung zu verlieren scheinen, gerät die Definition des Heimatbegriffes in Unklarheit. Schönhuth (2006) spricht in diesem Kontext vom Entstehen „neuer sozialer und ethnischer Landschaften, in dem die räumlichen Konstellationen eingebettet sind“ und der „lokale Schauplatz“ auch „durch die nicht physisch Anwesenden strukturiert“ werden kann (Schönhuth 2006: 375). Dementsprechend ist Heimat in der modernen Welt nicht mehr im traditionellen Sinne durch Inklusion in einem Territorium zu bestimmen. Sondern sie kann durch multiple Inklusionen in zwei oder mehreren Orten und Gesellschaften gleichzeitig konstruiert werden. Römhild (2003) weist auf multilokale Heimaten hin, die als Produkte von kreativen Verhaltensweisen der Migranten mit mehreren Kulturen, sozialen Bindungen und transnationalen Lebensentwürfen entstehen (vgl. Römhild 2003: 12). Im Folgenden wird versucht, den Entwurf eines Heimatbegriffes im transnationalen Raum am Beispiel der jungen, bildungserfolgreichen
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(Spät-)Aussiedler vorzustellen, der mit einer offenen und mobilen Gesellschaft kompatibel ist und der Pluralisierung von transnationalen Lebensformen und multiplen Identitäten entspricht. Um den Heimatkontext in einem transnationalen Raum besser darzustellen und den transnationalen Lebensformen junger, mobiler, bildungserfolgreicher (Spät-)Aussiedler gerecht zu werden, ziehe ich in Anlehnung an die theoretischen Überlegungen zur Heimat (vgl. Kapitel 2.3.3) das Konzept der Beheimatung vor, denn „dieses beinhaltet über die rechtliche, ökonomische und sozialpolitische Seite des Integrationsprozesses hinaus dessen fehlende emotionale und kulturelle Dimension, die sich mit dem Heimatbegriff verbindet“ (Schönhuth 2006: 378). Noch mehr: gerade durch die Beheimatung wird im transnationalen Raum eine „aktive Aneignung und Neugestaltung der neuen Lebensformen gewährleistet“ (Schönhuth 2006: 378f). Die neuen Lebensformen sind in diesem Kontext nicht als etwas Gegebenes zu begreifen, sondern als ein zu erwerbendes, variables Produkt von Identifizierungsprozessen. Daher ist es auch schwierig in diesem Kontext den Heimatbegriff zu verwenden, da es nicht um ein Territorium oder gar einen Besitz geht, sondern wie Keupp (2002) feststellt, „um eine Beziehung oder ein Netz von Beziehungen, an denen man arbeiten muss, wenn man sie haben will, es geht um Beheimatung und Verortung als eigenständige und subjektive Leistung“ (Keupp 2002: 25). Dabei sind Zeit und Raum nicht territorial, sondern thematisch, beruflich und personal bedingt. Korfkamp (2006) stellt fest, dass die moderne Verständnisform von Beheimatung sich an der Freiheit und Vernunft der Individuen orientiert und durch seinen prozeduralen Charakter zu bestimmen ist42 (vgl. Korfkamp 2006: 15). Für (Spät-)Aussiedler wird der Begriff der Heimat noch komplexer, wenn man ihre Geschichte verfolgt. Schönhuth (2006) fragt zu Recht, ob das Konzept der Heimat „als erkenntnisleitende oder analytische Kategorie überhaupt noch einen Sinn in einer Welt“ macht, die auch für (Spät-) Aussiedler durch translokalen Prozesse und multiplen Identitäten gekennzeichnet sei (Schönhuth 2006: 365). Durch seine Lehrforschung in einem
42 Heimat wird somit in einem dynamischen Prozess gebildet, wobei die Einheit der Gemeinschaft nur als symbolische Einheit von Mannigfaltigkeit, Differenz, Toleranz und Konflikten zu erfahren ist (Korfkamp 2006: 16).
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russlanddeutschen Dorf in Sibirien (Zakovrjazhino)43 versucht er mit dreizehn Studierenden gemeinsam dem Konzept einer „verlorenen und wiederzugewinnenden Heimat“ für Russlanddeutsche näher zu kommen und stellt fest, dass das „Heimatverständnis der Deutschen in Zakovrjazhino (…) zugleich ausgeprägt und gebrochen (ist) […]“ (ebenda: 368).
Zwei wichtige Erkenntnisse werden in dieser Lehrforschung noch festgestellt: während das Konzept der „Heimat“ für die ältere Generation (Erlebnisgeneration) noch eine wichtige Rolle spielt und sie Deutschland als ihre „zweite Heimat“ bezeichnen, rücken die ethnischen Zugehörigkeitsgrenzen zwischen Deutschland und Russland für die jüngere Genera– tion eher in den Hintergrund (vgl. ebenda: 368ff). Russland ist für die jüngere Generation ihre erste Heimat und Deutschland wird als das Land der Vorfahren bezeichnet (vgl. ebenda). Auch bei den befragten (Spät-)Aussiedlern lässt sich diese Linie verfolgen: sie sind in der Sowjetunion geboren und haben dort ihre erste primäre Sozialisation erfahren. Deutschland kannten sie nicht als Heimat, sondern als ein Land der Vorfahren, wenn überhaupt. „Plötzlich hieß es, wir fahren nach Deutschland“ (ID11), dieser Satz kann durch eine eindimensionale Leseart als eine traumatische Erfahrung von einem Siebenjährigen verstanden werden, der plötzlich aus seinen Kindheitsträumen herausgerissen und in ein fremdes Land „mitgenommen“ wird. „Ich habe damit [mit dieser Migrationserfahrung] noch nicht abgeschlossen“ (ID11). Wie kann also das Konzept der Heimat in Migrationsprozessen und Migrationserfahrungen „verarbeitet“ werden? Welche individuellen Heimatkonzepte bzw. Beheimatungsstrategien werden von jungen (Spät-) Aussiedlern geschaffen? Und nicht zuletzt soll die Frage von Schönhuth (2006) aufgeworfen werden, ob das Konzept der Heimat in einer transnationalisierten Welt „als erkenntnisleitende oder analytische Kategorie über-
43 Vgl. dazu ausführlich Schönhuth (2001): „Hätt ich Flügel, würd ich nach Deutschland fliegen“. Eine partizipative Feldstudie bei Angehörigen der deutschen Minderheit in einem sibirischen Dorf. Trier.
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haupt noch einen Sinn“ macht? Gibt es für einen Transmigranten ein Verlangen nach Heimat? Die Interviewanalyse zeigt, dass Heimat vor allem seinen traditionellen Charakter verloren hat, da sie nicht mehr mit einem geographischen Ort zu verbinden ist und über den Geburtsort hinausgeht. Heimat scheint vor allem zu einem Konzept geworden zu sein, das in einer pluralistischen Gesellschaft und globalisierten Welt von jedem Subjekt selbst gestaltet wird. So wie die weiteren Kapitel zeigen werden, spielen für die Gestaltung dieses Konzepts unterschiedliche Aspekte, wie kulturelle Werte, Identitäten, Sprache, das Gefühl sich „zuhause“ zu fühlen, Symbole und nicht zuletzt die Erinnerungen, eine relevante Rolle. Im Rahmen der Identifikationsprozesse wird Heimat von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern erworben und persönlich angeeignet (vgl. Korfkamp 2006: 15–16) und sehr individuell und unterschiedlich definiert. Heimat ist also weder angeboren noch verordnet, sondern genauso wie die Identität in einem ständigen Prozess. Drei subjektive Wahrnehmungen der Heimat sowie daraus folgende Beheimatungsstrategien sollen dies in den weiteren Kapiteln verdeutlichen. 5.5.5.1 Heimat als Erinnerungsraum Kolja (ID 11) verbringt bis zu seinem siebten Lebensjahr seine Kindheit in Russland. Diese Zeit scheint sehr prägend für den heute 25jährigen Studenten gewesen zu sein, so wie es sich im Verlauf unseres Interviews zeigt. Sein Heimatbild ist im Laufe seiner Migrationsgeschichte von einem biographischen Aspekt geprägt, wobei dieser retrospektiv auf die Zeit der Kindheit und Jugend zurückgeht. Also, an den Ort, wo er noch Verbindungen zu Menschen, Symbolen und Erinnerungen finden kann: „[…] als meine Heimat… Ich habe immer diese Vorstellung von meiner Kindheit, ich habe eine sehr schöne Kindheit in Russland gehabt […] Heimat in meinem Herzen ist da, wo ich aufgewachsen bin, wo meine ersten Erinnerungen sind […] das prägt einen, aber ich denke, meine Heimat liegt irgendwo in der Vergangenheit. […]“. (ID 11)
In diesem Erinnerungsraum spielt sich „die Welt der Kindheit“ ab (vgl. Korfkamp 2006: 90), die mit der Heimatbezeichnung meines Interviewpartners gleichgesetzt wird. Vor achtzehn Jahren hat Kolja die Heimat
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„in der Kindheit“ mit all den Erinnerungen, die dazu gehören, verlassen. Was ist aus dieser Heimat geworden? Warum liegt diese Heimat für Kolja „in der Vergangenheit“? Fortfahrend erzählt er, dass seine Eltern ihm abgeraten haben, in seinen Geburtsort zurückzukehren, weil „dort Umbruch ist. Es ist alles kaputt. Da sind Russen eingezogen, Alkoholiker usw. und das gibt es einfach nicht mehr. Sie [die Eltern] haben auch gemeint, ich sollte nicht dahin hinfahren. Wenn ich mir das anschaue, ich werde sehr enttäuscht sein. Das was damals war, gibt es nicht mehr […]“. (ID 11) In diesem Moment zerbricht das ursprüngliche Heimatbild von Kolja. Achtzehn Jahre lang hat er sich mit seinen Kindheitserinnerungen an seiner Heimat Russland „festgeklammert“. Angekommen in Russland findet er ein fremdes Land vor, das seine Vorstellung von Heimat völlig verändert. In Deutschland hatte er noch ein klares Bild von seiner Heimat Russland. Jetzt ist das Bild aber verschwommen, weil seine Kindheitserinnerungen mit der Realität nicht mehr übereinstimmen: „Ja, das Land, das ich verlassen habe damals, gibt es nicht mehr sozusagen. Das ist nur in meinen Erinnerungen, deswegen sage ich, dass meine Heimat in der Vergangenheit ist. Die Heimat gibt es nicht mehr“. (ID 11)
Korfkamp (2006) stellt in seiner theoretischen Studie über Heimat und den Heimatbegriff die Beobachtung des Soziologen Rene König (1973) dar, dass Menschen, die nach langer Zeit in ihre „erste Heimat“, also ihren Geburtsort, zurückkehren, von dieser oftmals enttäuscht seien. Der Grund dieser Enttäuschung sei, dass sich die Erinnerungen oft auf Kindheits- und Jugenderlebnisse beziehen und nicht auf einen objektiv vorhandenen Raum (vgl. Korfkamp 2006: 93-94). Im Fall „Kolja“ wird Heimat durch die individuelle Gedächtnisleistung rekonstruiert. Die Zeitdimension geht in die Vergangenheit zurück und die Raumdimension stellt Heimat als eine Utopie dar (vgl. Korfkamp 2006: 90f). Heimat wird wie ein „Paradies“ der Kindheitsträume verstanden (vgl. auch Mitzscherlich 1997). Dieses durch Kindheits- und Jugenderinnerungen geprägte Heimatbild stellt aber keinesfalls ein starres, einmaliges Projekt dar. Kolja hat sich im Laufe seiner Migrationsbiographie multiple Identitätsformen angeeignet. Er kennt den kulturellen Kontext von „Westeuropa“ und „Osteuropa“, er kann sie „vereinigen“:
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„[…] du kennst diese osteuropäische Kultur […] du hast auch Westeuropa in dir. Du kannst sie vereinigen […]“. (ID 11)
„Zwischen den Welten“ (ID 11) zu sein empfindet Kolja nicht unbedingt als einen Nachteil, sondern im Gegensatz zu anderen Menschen mit einer einzigen Identität als Bereicherung und neue Lebensperspektive (vgl. auch Badawia 2002: 282). Er ist in der Lage, in verschiedenen Situationen und Lebensumständen flexibel mit seinen Mehrfachzugehörigkeiten umzugehen: „Du weißt wie man damit [mit unterschiedlichen Kulturen] umgeht und das ist ein Vorteil […]“. (ID 11)
Für sein Heimatverständnis und seine Heimatwahrnehmung spielt diese Gegebenheit insofern eine wichtige Rolle, dass Kolja nicht nur von einer einzigen Heimat spricht ( […] die Heimat, die ich im Herzen trage, ist Russland […]“, sondern in der Lage ist, im Laufe seiner Lebensgeschichte sich „neue Heimaten“ (vgl. dazu auch Römhild 2003: 12f) anzueignen, sich auch in anderen Orten aktiv zu beheimaten. Dies mildert seine „enttäuschende Erfahrung“, in Russland die Heimat seiner Erinnerungen nicht wiedergefunden zu haben. Als „neue Heimat“ hat sich Kolja Deutschland angeeignet: „[…] meine jetzige Heimat ist Deutschland […]“. (ID 11)
Die räumliche Identifikation, die in diesem Kontext stattfindet, ist mit einer aktiven Lebensphase meines Interviewpartners verbunden, die Weichhart (1990) zufolge als aktive Aneignung einer zweiten Heimat zu bezeichnen ist (vgl. Weichhart 1990: 44). Eine bemerkenswerte Erklärung für Heimat als Erinnerungsraum liefert Petjas (ID 2) Heimatwahrnehmung: „Also wenn andere über Heimat sprechen, dann sagen sie, ich komme irgendwoher und habe dort einen Platz, der immer noch existiert. Das ist so die Assoziation, die ich mit dem Wort Heimat verbinde, die anderen Leute benutzen. Aber wenn ich den benutze, dann macht es irgendwo keinen Sinn, weil das, was Heimat für sie ist, für mich nicht mehr existiert. Es ist im Grunde eine Heimatruine sozusagen. Ich kann
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mich damit nicht mehr identifizieren. Ich kann nur sagen, ich bin da geboren und damals war es anders und ich fühle mich mit dieser Vergangenheit verbunden, aber ich sehe darin keine Kontinuität mehr […]“. (ID 2)
In Petjas Erinnerungen kann diese Kontinuität nicht hergestellt werden, weil seine Erinnerung an einem Ort (seine Heimat in der Vergangenheit) nicht mehr zu dem Ort passt, der zwar physisch und geographisch existiert, aber „der Ort an sich hat diesen Charakter verloren, mit dem man ihn verbindet“ (ID 2). Petja ist „zerrüttet“ und fühlt sich seiner Erinnerungen „beraubt“. In diesem Interviewkontext geht die Zeit- und Raumdimension der Heimatbezeichnung in die Nostalgie zurück, indem Heimat nur durch Erinnerungen (Kindheit, Jugend etc.) rekonstruiert wird und bei meinem Interviewpartner ein emotionales Erlebnis auslöst: „Die Leute bekommen immer noch so ein warmes Gefühl ums Herz, wenn sie davon sprechen wie es früher war. Und ich glaube es ist so eine NOSTALGIE“. (ID 2)
Mit dieser Erkenntnis geht eine Re-Konstruktion von Heimat für Petja einher. Heimat ist für ihn kein Ort mehr, den er besitzt, sondern ein Beheimatungsprozess muss stattfinden, indem eine „neue Heimat“ gestaltet wird. Heimat ist also ein subjektives Konzept, Heimat ist das, was mein Interviewpartner daraus macht. So verortet er sich in einem Raum, in dem seine Kindheit stattgefunden hat: die unmittelbare Kindheitsumgebung mit all den Straßen, die er als Neunjähriger kannte, die heute „nicht mehr so aussehen“ (ID 2), mit all den Menschen und Nachbarskindern, die heute „nicht mehr dort leben, weil sie ausgezogen sind“ (ID2), machen seine Beheimatung im Erinnerungsraum aus. Der einzige Zufluchtsort, in dem Petja eine Kontinuität für Heimat finden kann, bleibt die Wohnung seiner Großmutter: „Meine Heimat gibt’s nicht mehr. Das was ich als Heimat hatte […] war K., die ich als Neunjähriger gekannt habe […] die Innenhöfe, in denen ich aufgewachsen bin, die Leute, mit denen ich aufgewachsen bin. Ich bin wieder da gewesen, die Leute sind nicht mehr da […] es ist ein anderes K., sieht anders aus und ich fühl mich da nicht wohl, eigentlich fremd […] ja in der Wohnung von meiner Großmutter […] das war zu Hause. Vielleicht könnte ich sagen, die Wohnung meiner Großmutter ist
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meine Heimat [lacht]. Heimat auf 70 qm, aber ansonsten diese Heimat gibt es nicht mehr […]“. (ID2)
Mitzscherlich (1997) stellt in ihrer psychologischen Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung dar, dass eine solche Art der Heimatbeschreibung, die mit Kindheitserinnerungen in Verbindung gebracht wird, häufig mit der Beschreibung der eigenen Kindheit „als glücklich bzw. harmonisch mitunter auch im Kontrast zu weniger harmonischen Zeiten“ (Mitzscherlich 1997: 57) korrespondiert.44 Petjas Migrationsgeschichte ist zwar unproblematisch gelaufen, jedoch in dem Augenblick, in dem er aus seiner vertrauten Umgebung „herausgerissen“ wird, lässt er seine Heimat und sich selbst als Kind dieser vertrauten Umgebung in der Vergangenheit zurück. Da er als Erwachsener den Ort seiner Erinnerungen, den er als Heimat gekannt hat, nicht mehr finden kann, versucht er für das eigene Wohlbefinden einen sicheren Ort zu gestalten, der ihm ein Heimatgefühl bzw. ein Gefühl von „Zuhause“ geben kann. „Das Wort Heimat ist für mich ein schwieriges Wort, weil ich mich da nicht verorten kann. Heimat ist natürlich, wo man seinen Ursprung hat, aber ich musste mich im Laufe meines bisherigen Lebens so orientieren, dass ich mir selber irgendwie ein Zuhause machen musste, einen Ort, wo ich mich wohl fühle“. (ID 2)
Ein neuer Beheimatungsprozess findet statt, indem Petja aus seinem „Erinnerungsraum“ ein weiteres Konzept der Heimat gestaltet, das er durch Familie und soziale Beziehungen zu beschreiben versucht. Im Netz seiner sozialen Beziehungen, vor allem mit Menschen, „die auch Aussiedler sind und ähnliche Erfahrungen durchgemacht haben“ (ID 2) und seiner Familie, die mit Petja ebenfalls „diese Erfahrungen teilt, dass sie keinen Ort mehr haben, der irgendwie derselbe ist, wie zu ihrer Kindheit“ (ID 2), findet Petja Geborgenheit und ein Zuhause. In diesem Zuhause hat Petja „bestimmte Freiheiten“, er ist kein „Fremdkörper“, er teilt mit diesem sozialen Netz „eine gemeinsame Vergangenheit“.
44 Die „weniger harmonischen Zeiten“ können insbesondere bei Migrantenkindern (Generation 1.5) bedingt durch ihre Migrationsgeschichte in Zusammenhang gestellt werden, da sie ähnlich wie die Untersuchungsgruppe aus ihrer vertrauten und unmittelbaren Kindheitsumgebung herausgerissen wurden.
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„Diese positiven Gefühle, die die Leute spüren, wenn sie über Heimat sprechen, die habe ich auf andere Aspekte verteilt, wie Zuhause, Freundschaft und Familie. Das sind Beziehungen und ganz banal, das Gefühl irgendwo sich wohl zu fühlen und irgendwo Zuhause zu sein“. (ID 2)
Dieser Begriff des Zuhauses ist in der wissenschaftlichen Diskussion nicht neu. Bereits 2009 stellen Sezer und Da÷lar (2009) ein „mangelndes Heimatgefühl“ bei rückkehrwilligen Akademikern mit türkischem Migrationshintergrund fest. In dieser Studie wurde Zuhause als ein Ort dargestellt, in dem man übergangsweise wohnt bzw. verbleibt. Das Zuhause wird aber keinesfalls mit Heimat gleichgesetzt, denn bei dem Begriff Zuhause fehle nach den Autoren die „besondere“ Verbundenheit und Identifikation (vgl. Sezer/Da÷lar 2009: 18). Petjas Aussagen über ein Zuhause kann ebenfalls nicht mit dem analytischen Begriff der Heimat gleich gesetzt werden. Denn das Zuhause für meinen Interviewpartner ist ein vorübergehender Ort, in dem er hier und jetzt wohnt, sich hier und jetzt wohl fühlt und hier und jetzt beheimatet ist: „Es ist etwas Temporäres glaube ich für mich. Ich kann nicht sagen, ich gehöre ein für alle Mal dahin oder so, sondern es ist eher etwas temporäres, gerade bin ich hier, gerade fühle mich hier wohl und identifiziere mich auch mit den Leuten und mit den Problemen“. (ID2)
Das Verständnis von einem „temporären“ Zuhause soll keinesfalls negativ konnotiert werden, sondern Petjas Strategie der Beheimatung in multiplen (geographischen) Orten zum Ausdruck bringen: „Heimat ist glaube ich für mich rein physisch gesehen da, wo ich mich wohl fühle. Und das ist momentan geographisch gesehen Berlin, aber ich fühl mich auch in der Schweiz, da wo meine Freundin wohnt, gerade ziemlich wohl […]“. (ID 2)
Mit dem Wort „gerade“ signalisiert Petja wiederum den temporären Charakter seiner Beheimatung in „multiplen Zuhausen“. Abgesehen von diesen geographischen Orten, die einen vorübergehenden Charakter tragen, gibt es für meinen Interviewpartner eine Art kulturellen „Raum […], wo man sich zugehörig fühlt“. Dieser Raum, der im Gegensatz zum „temporären“ Zuhause einen dauerhaften Charakter trägt, geht bis auf Petjas Kind-
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heitserinnerungen seines Herkunftsortes, quasi bis auf seinen Erinnerungsraum zurück. Zu diesem Erinnerungsraum fühlt sich Petja zugehörig. Er fühlt sich in diesem Raum wie „der Fisch im Wasser“ und findet sofort „einen Zugang“. Mit diesem Erinnerungsraum hat Petja eine „besondere Verbundenheit“ und kann sich hier identifizieren: „[…] Es eröffnete sich plötzlich für mich diese neue alte Welt irgendwie, wo ich einen Platz hatte […]. Das war für mich so eine Verbundenheit […]“. (ID 2)
Heimat als Erinnerungsraum soll an dieser Stelle nicht als eine typische (Spät-)Aussiedlererfahrung angesehen werden, denn das wäre kontrovers zu der Vorstellung, dass auch andere Menschen, sei es Migrant oder nicht, den Ort als Heimat bezeichnet, der am meisten durch Kindheitserinnerungen geprägt ist. Dennoch für die hier befragten jungen (Spät-)Aussiedler als mitgenommene Generation stellt Heimat als Erinnerungsraum eine Besonderheit dar. Denn dieser symbolisiert nicht nur den Ort, in dem sie als Kinder vor der Migration ihre Kindheit verbracht haben. Der Heimatkontext als Erinnerungsraum geht für sie über die tatsächliche analytische Bezeichnung des Kindheitsraumes hinaus und stellt einen Raum dar, auf den die Interviewpartner auch in der gegenwärtigen Situation zurückgreifen können, wenn sie eine Heimat gestalten wollen bzw. eine Heimat definieren müssen. Das bedeutet, dass durch den Erinnerungsraum eine aktive Beheimatungsstrategie einhergeht, die die Möglichkeit bietet, eine Heimat, die durch Migration tatsächlich verloren gegangen ist, zum Beispiel in Krisensituationen wieder zu rekonstruieren und die Heimatlosigkeit somit aufzuheben. 5.5.5.2 Heimat als emotionale Bezogenheit auf einen kulturellen Raum Durch die Interviewanalyse konnte ein weiteres Konzept der Heimat herausgearbeitet werden, das als intensive Beziehung zu einem kulturellen Raum (hier: Sowjetunion) beschrieben werden kann. Der Raumbegriff soll dennoch nicht den Eindruck erwecken, dass es sich hier um einen bestimmten abgegrenzten Raum oder gar Geburtsort handelt. Emotionale Bezogenheit auf einen kulturellen Raum geht über den Geburtsort hinaus und umfasst vielmehr die psychische, soziale und kulturelle Dimension der Heimat. Greverus (1979) zufolge ist Heimat daher die emotionale Bezogenheit
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auf einen soziokulturellen Raum, die vielmehr die Bedeutung der seelischen Geborgenheit in sich trägt. „Russland ist ein Teil von mir, ein Teil meiner Lebensgeschichte, ein Teil meiner Sprache und meines kulturellen Daseins, ein Teil meines Individuums, meiner Persönlichkeit und das ist gut so“. (ID 9)
Die obige Interviewpassage bestätigt, dass emotionale Bezogenheit nicht nur durch den Ort Russland symbolisiert wird, sondern über diesen Ort hinausgeht: sie ist eine „Lebensgeschichte“, ein Teil der „Sprache“, ein Teil der Kultur und der eigenen Identität. Die Frage der Identität und Zugehörigkeit nimmt in diesem Kontext eine sehr wichtige Rolle, denn sie ist das Produkt dieser emotionalen Bezogenheit zu einer größeren Kategorie, die zwar durch den Ortsnamen (Russland) symbolisiert wird, jedoch hier den Bezug auf einen kulturellen Raum meint und Heimatgefühle für diesen Ort durch emotionale Besetzung (vgl. Treinen 1965: 78) weckt: „Für Russland habe ich schon Heimatgefühle […] man versteht die Leute einfach so, man fühlt sich einfach dahin gezogen […] und fühlt sich auch irgendwie Stück weit auch manchmal geborgen […] man identifiziert sich mit vielen Sachen […]“. (ID 3)
Diese Aussage kann auf die primäre Sozialisation meines Interviewpartners zurückgeführt werden, währenddessen seine erste Welt durch Geborgenheit, Anerkennung, Vertraulichkeit und Sicherheit geprägt wurde. Jedoch wird sichtbar, dass Heimat für Anton (ID 3) wiederum einen ambivalenten Charakter trägt. Er kann weder Russland noch Deutschland noch seinen Geburtsort Kasachstan als Heimat bezeichnen. Seine temporäre Rückkehr nach 18 Jahren in das heutige Kasachstan weckt bei dem 26jährigen heute weder Zugehörigkeits- noch Heimatgefühle. Er kann sich damit nicht identifizieren, obwohl er die Rückkehrerfahrung in seinen Geburtsort als „sehr prägend“ bezeichnet: „Ich war jetzt in Kasachstan, nach 18 Jahren […] das war sehr prägend, aber ich würde nicht sagen, dass es meine Heimat ist. Es war nur sehr interessant da zu sein […]“. (ID 3)
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Um sein persönliches Heimatverständnis zu rekonstruieren, greift Fedja (ID 1) beispielsweise auf bestimmte „Symbole“ zurück, die für ihn den „kulturellen Fixpunkt“ eines Ortes als Heimat ausmachen. In diesem kleinen Dorf, wo heute Fedjas Großeltern leben und wo Fedja als kleines Kind immer seine Schulferien verbracht hat, findet er seine „Herkunft“: „[…] dort, wo meine Großeltern jetzt leben, in diesem kleinen Dorf, da sehe ich irgendwie meine Wurzeln […]. In dieser Region sehe ich auch häufiger Leute, die so aussehen wie ich […] und denke, aha die Leute sehen mir ähnlich, also müssen hier irgendwo meine Wurzeln sein. […] Deshalb hab ich dort den Eindruck […], dass mir das alles sehr nah vorkommt, dass ich das schon kenne und wenn ich dort bin, fühl ich mich zu Hause, dann fühl ich mich eigentlich in meiner Heimat“. (ID 1)
Spranger (1924) beschreibt einen solchen Bezug zur Heimat als „geistige(s) Wurzelgefühl“.45 Während die emotionale und kulturelle (Orts-) Bezogenheit zu Russland für meinen Interviewpartner einen dominierenden Charakter trägt, geraten die „kulturellen Fixpunkte“ zu Deutschland in den Hintergrund. Der physische Wohnort meines Interviewpartners in Deutschland kann ihm kein befriedigendes Heimatgefühl oder eine Zuordnungsmöglichkeit des Ortes als Heimat bieten. Er verbleibt nur als geographische Verortung des häuslichen Umfelds ([…] da haben wir einfach ein Haus[…]), als Ort, wo Fedja „hingezogen“ ist, aber nicht als Ort, wo er trotz seiner guten Integration in Deutschland „ganz angekommen“ sei: „[…] dieser Ort, wo wir leben, da sind wir ja hingezogen […] es gibt keinen Bezug zu diesem Ort […], dort hat noch nie jemand von uns gelebt […]. Während das in Russland anders ist, da haben schon seit Jahrhunderten Leute von uns gelebt […] da habe ich mein Bezug zu. Da sind meine Vorfahren, die lebten ja schon seit zweihundert Jahren dort, während es in Deutschland so etwas einfach nicht gibt. Also da haben wir einfach ein Haus, wir wohnen da jetzt drin, aber es gibt keinen historischen und kulturellen Bezug zu“. (ID 1)
45 „[…] Heimat ist erlebte und erlebbare Totalverbundenheit mit dem Boden. Und noch mehr: Heimat ist geistiges Wurzelgefühl“ (Spranger, Eduard 1924, zit. nach Korfkamp 2006:.57).
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Während Wadims (ID 9, siehe oben) Heimatverständnis durch Greverus emotionale Bezogenheit erklärt werden konnte, hat für Fedja (ID 1) Heimat eine symbolische Ortsbezogenheit (vgl. Treinen 1965). Zwar sind beide Heimatwahrnehmungen durch emotionale Besetzung gefolgt, doch sie richten sich auf unterschiedliche räumliche Dimensionen und unterschiedliche Beheimatungsstrategien: Fedjas (ID 1) Heimatgefühl ist „auf örtlich gebundene Intimgruppen – und auf die innerhalb dieser Intimgruppen gemachten Erfahrungen – gerichtet. Die Hypothese lautet, dass diese IntimgruppenErfahrungen durch räumlich gebundene Objekte innerhalb eines Ortes symbolisiert sind, wie zum Beispiel durch Elternhaus, landschaftliche Umgebung und so fort“ (Treinen 1965: 78f). Hingegen betrifft eine emotionale (Orts-) Bezogenheit nicht „die Herkunftsfamilie und weitere Verwandtschaft am Ort, nicht die Kindheits- und Jugenderlebnisse und nicht Freundschaftsbeziehungen“ (Treinen 1965: 78f), sondern wie bei ID 9 deutlich wird einen Kulturraum, der vor allem durch eine gemeinsame Sprache (Russisch) und gemeinsame Geschichte definiert und teilweise sehr ambivalent bewertet wird. 5.5.5.3 Freiheit statt Heimat Unsere heutige alltägliche Lebenswelt ist weniger auf einen lokalen engen Bezugsraum begrenzt. Vielmehr weitet sie sich auf geographisch weit entfernte Plätze aus und immer mehr Menschen leben direkt oder indirekt in zwei oder mehreren Orten gleichzeitig. Pries (2010) spricht in dieser Hinsicht etwa von der „Transnationalisierung unseres Alltags“, die nicht unbedingt eine „De-Lokalisierung, sondern eine Pluri-Lokalisierung im Sinne der Aufteilung der alltäglichen Lebenswelt auf mehrere Nationalgesellschaften hinweg“ bedeutet (Pries 2010: 34). Mit anderen Worten gehört der Mensch nicht nur einer Gesellschaft an, sondern kann gleichzeitig in mehreren gesellschaftlichen, sozialen, politischen, räumlichen und zeitlichen Konstellationen „beheimatet“ sein. Eine eindeutige Heimat existiert hier nicht, sondern - wie Pries (2010) wiederum feststellt - handelt es sich um einen sozial-räumlichen Verflechtungszusammenhang aus unterschiedlichen „gleichgewichteten“ Orten über mehrere Nationalgesellschaften hinweg (vgl. Pries 2010: 23). Nur eine einzige Heimat zu haben kann sogar als „Einschränkung“ empfunden werden, als eine „Scheuklappe“, die den Blickwinkel nur in
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eine einzige Richtung lenkt statt mehrdimensional zu handeln. Dies kann mit den Worten meiner nächsten Interviewpartnerin (ID 4) erklärt werden: „Ich glaube so etwas wie eine Heimat gibt es nicht […] ich empfinde Heimat für mich als eine Einschränkung. Dann müsste ich mich auf einen Ort festlegen und würde alles andere abstreiten […] es ist für mich eher beschränkend eine Heimat zu finden […] ich will jetzt nicht eine Heimat auswählen und mich dann gegen die andere entscheiden müssen […]“. (ID 4)
Die Angst, sich für ein bestimmtes Territorium „für immer“ und gegen ein anderes entscheiden zu müssen, wird durch eine Strategie der Beheimatung und Verortung in mehreren Orten, Gesellschaften und sozialen Systemen ausgelöst. Ähnliche Erkenntnisse liefert auch die Studie von Sievers et al. (2010) über deutsch-türkische bildungserfolgreiche Transmigranten, dass sich diese in beiden Ländern (Deutschland und Türkei) „zu Hause“ fühlen und in beiden Ländern beheimatet sind (vgl. Sievers et al. 2010: 100). Eine solche Beheimatungsstrategie symbolisiert für meine Interviewpartnerin (ID 4) ein Leben in Freiheit ohne Grenzen. An einer anderen Interviewpassage präzisiert Nadine ihr „Freiheitsverständnis“. In diesem Kontext vergleicht sie Deutschland und Russland, in denen sie sich gleichzeitig beheimatet fühlt. Im Großen und Ganzen prägt Deutschland Nadines Lebensmittelpunkt, der zur Normalität geworden ist. Das immer und überall „Vorhersehbare“ in Deutschland gibt Nadine Halt und bringt Ordnung in ihr Leben: „Deutschland ist ein geregeltes, stabiles Leben, vorhersehbar, also ich kann mich darauf verlassen, dass die Dinge so laufen, wie man sie geplant hat im Großen und Ganzen. […] ich weiß, worauf ich mich vorher stützen kann. Das ist schon so der Mittelpunkt in meinem Leben, der die Ordnung verhält und sie reinbringt“. (ID 4)
Doch es gibt noch etwas darüber hinaus, das „nicht so festgefahren ist“ wie Deutschland: ein Ort, in dem man seine Freiheiten ausleben und „etwas Neues ausprobieren“ kann, das auch unter Umständen „unvorhersehbar“, „chaotisch“, „unstabil“ und gar „gefährlich“ sein kann:
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„[…] Russland ist das Land, in dem man vielleicht etwas anders ausleben kann. Etwas ausprobieren kann. Es bringt natürlich Gefahren mit sich, aber auch gewisse Freiheit, die es in Deutschland nicht gibt“. (ID 4)
Was aber ist „Freiheit“ für Nadine? Ein in Deutschland sozialisierter Mensch würde direkt an die teilweise schlechte Lebensbedingungen, Probleme der Demokratie und Menschenrechte in Russland denken und sich fragen: ist das ein Leben in Freiheit? Herrscht in Deutschland aber weniger Freiheit als in Russland? Für Nadine hat der Begriff der Freiheit einen anderen Wert. Sie definiert diesen Begriff nicht mit all den Stabilitäten und Demokratie, sondern umgekehrt: Freiheit bedeutet für sie, sein Leben gerade außerhalb dieser vorgegebenen Grenzen zu bestimmen: „I: Also Du vermisst in Deutschland die Freiheit? N: Ja. I: Und wie definierst Du diese Freiheit dann? N: Die Freiheit, sein Leben auch außerhalb der vorgegebenen Grenzen vielleicht bestreiten zu können. Also in Deutschland ist es ja ziemlich festgefahren: welche Bildung man hat (bestimmt), welchen Weg man einschlagen kann, man kann sich nicht einfach, wenn man Medizin studiert hast, als Lehrer betätigen. In Russland gibt es schon diese Freiheit, auch was anderes auszuprobieren. Oder seinen Lebensort oft zu wechseln. Also in Deutschland ist es schon ziemlich konservativ“. (ID 4)
Und noch mehr: Freiheit bedeutet für Nadine nicht zwangsläufig einen Ort als Heimat zu bezeichnen, sondern sich in mehreren sozio-kulturellen, ethnisch-nationalen Räumen frei zu bewegen, sooft man will. Und so entscheidet sie sich bewusst für ein strategisches Handeln, in dem sie durch Transnationalität und Beheimatung in mehreren Gesellschaften und Kulturen ihre multiplen Zugehörigkeiten auslebt. An dieser Stelle soll auch exemplarisch der Freiheitsbegriff in Bezug auf Heimat von Petja (ID 2) ausgeführt werden, um Freiheit statt Heimat besser zu verstehen: „Heimat ist eher da, wo ich bestimmte Freiheiten habe, um mich selbst ausdrücken zu können,[…] wenn ich auf die Straße trete, das Gefühl zu haben, ich bin hier kein
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Fremdkörper, sondern ich kann mich hier frei bewegen und ich muss mich nicht anstrengen […]“. (ID 2)
Für beide Interviewpartner spielt der Begriff der Freiheit im Heimatkontext eine außerordentliche Rolle. Sowohl für Nadine (ID 4) als auch für Petja (ID 2) werden durch die Wahl der Freiheit statt Heimat die Bindungen an nationale Grenzen aufgehoben und „multiple Heimat(en)“ werden denkbar. Daher wird Deutschland von beiden Interviewpartnern auch nicht als Heimat bezeichnet, sondern vielmehr als Lebensmittelpunkt, den man aber zum beliebigen Zeitpunkt wechseln kann. Die Sozialisation und die gelungene Integration in Deutschland, die sozialen Netzwerke, die zum größten Teil in Deutschland vorhanden sind, die Lebensqualität und demokratische Grundsätze machen den Lebensmittelpunkt Deutschland für die Interviewpartner zu einem Ort, mit dem sie sich durch ihre Zukunft bewusst verbunden fühlen. Für ihre transnationale Lebensgestaltung gibt es aber kein Verlangen nach Heimat, sondern ein Bestreben nach Beheimatung in mehreren Kulturen, Orten, Gesellschaften.
5.6 T RANSMIGRATION UND T RANSNATIONALITÄT ALS EINE NEUE L EBENSPERSPEKTIVE In der jüngeren Zeit gewinnt zwar das Thema „Auswanderung von Hochqualifizierten“ immer mehr die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern (vgl. dazu Ette/Sauer 2010; Heß 2009; Aydin 2010 etc.), dennoch wird in allen diesen Studien der Aspekt der temporären Auswanderung und dem temporären Aufenthalt im Ausland immer mehr betonnt (vgl. z.B. die Vorstudie von Sivers et al. 2010). Die empirischen Ergebnisse im folgenden Kapitel liefern ebenfalls das Ergebnis, dass die „Rückkehr“ von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-) Aussiedlern einen transnationalen Charakter hat. Dies wird vor allem durch die zur Verfügung stehenden Ressourcen46 möglich, um die Potenziale
46 Zu diesen Ressourcen gehören die deutsche und unter Umständen die doppelte Passnationalität, die Transmigration zusätzlich fördern. Aber auch die in Deutschland erworbene Bildungs-/Berufsqualifikation und die Zweisprachigkeit (deutsch und russisch) und ggf. weitere Sprachkenntnisse.
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beider Länder nutzen zu können. Durch eine endgültige Rückkehr in ihre Herkunftsregionen würden all diese Zugewinne und Vorteile, die die Untersuchungsgruppe durch Transnationalität gewinnt, verloren gehen. Zwei zusammenhängende Fragen sind daher im Folgenden zu beantworten: zum einen, aus welchen Gründen die jungen, bildungserfolgreichen (Spät-) Aussiedler in ihren Herkunftskulturraum temporär zurückkehren bzw. welche Motive für ihre transnationale Lebensform entscheidend sind. Zum anderen, wird die Transmigration anstelle einer endgültigen Rückkehr bewusst als neue Lebensperspektive von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern ausgewählt, um zwischen Herkunfts- und Aufnahmekulturraum zu vermitteln und somit ihren multiplen Identitätsmustern Rechnung zu tragen. 5.6.1 Temporäre Rückkehrgründe: eine Motivanalyse Anhand von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern sollen im folgenden Kapitel die Motive der temporären Rückkehr in ihren Herkunftskulturraum erörtert werden, um ihre transnationalen Lebensentwürfe umfassender zu erklären und zu dokumentieren. Weiterhin soll diese Motivanalyse zur transnationalen Typenbildung dienen, auch wenn diese den Anspruch auf Allgemeingültigkeit nicht erheben. Nach den ersten Interviews und anschließender Interviewanalyse konnten mehrere Kategorien von temporären Rückkehrgründen von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern gebildet werden. Es war allerdings schwierig, diese Gründe und Motive wissenschaftlich „eindeutig“ voneinander zu trennen und einer allgemeinen Kategorie zu zuweisen. Denn jedes Motiv erzählt eine individuelle, einzigartige Geschichte. Mittels Vertiefungsinterviews mit ausgewählten Interviewpartnern, deren Lebensentwurf besonders stark transnational ausgeprägt ist, sollten die temporären Rückkehrgründe deutlicher herauskristallisiert werden. Nach der Interviewanalyse konnte festgestellt werden, dass die temporäre Rückkehr der Interviewpartner vor allem durch individuelle Einflussfaktoren motiviert ist. Hier spielen emotionale und rationale Gründe eine entscheidende Rolle (vgl. auch Sievers et al. 2010). In diesem Zusammenhang soll nochmal der im theoretischen Teil erwähnte Mehrebenenansatz der Einflussfelder für die Rückkehrentscheidung (vgl. Schönhuth 2008a: 11; vgl. Anhang 3) in Erinnerung gerufen werden. Insbesondere in diesem
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Modell beschriebenen symbolischen Ressourcen (symbolische Bindungen, Identität und Ethnizität) (vgl. Schönhuth 2008a: 14) sowie individuellen und sozialen Ressourcen (ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital)47 scheinen für die temporäre Rückkehr der befragten jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler ausschlaggebend zu sein. Die symbolischen Einflussfaktoren für die temporäre Rückkehr der Interviewpartner sind vor allem durch starke Verbundenheit mit dem Herkunftskulturraum der Interviewpartner hervorzuheben, während die individuelle und soziale Einflussfaktoren der temporären Rückkehr viel mehr die Motivation der (transnationalen) Karriere- und Berufsperspektive in Vordergrund rücken, wobei transnationale Netzwerke in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielen (vgl. Kapitel 5.6.2.1). Aber auch situative und strukturelle Einflussfaktoren, die im Schönhuths (2008) Modell durch die persönliche Situation und das Umfeld des Migranten48 sowie durch strukturelle Veränderungen des Arbeitsmarktes oder des Lohnniveaus, Wachstumskennziffern, gesellschaftliche Akzeptanz im Ausgangs– und Zielland, ethnische Konstellationen, Klima, demografische Entwicklung (vgl. Schönhuth 2008a: 11) begründet werden, spielen im temporären Rückkehrprozess der Interviewpartner eine Rolle. Ausgehend aus der Interviewanalyse soll an dieser Stelle allerdings betont werden, dass die genannten Einflussfaktoren einander bedingen und deshalb nicht als getrennte Kategorien betrachtet werden sollen. Die im Interviewkontext genannten Motive der Befragten für die temporäre Rückkehrentscheidung stellen vielmehr ein Bündel aus individuellen Beweg-
47 „Neben
ökonomischen
Ressourcen
(Kapital,
Grundbesitz)
nehmen
Qualifikationen und Netzwerke und daraus entstehendes soziales und kulturelles Kapital einen wichtigen Platz im Remigrationsprozess ein. Der Grad und die Qualität der Vernetzung sowie das Netzwerkwissen der Akteure haben praxisrelevante Folgen für ihre Integration und ihren beruflichen wie sozialen Erfolg im Zielland. Aber auch die mitgebrachten Bildungsabschlüsse, und deren mögliche Inwertsetzung bei der Rückkehr spielen bei der Rückkehrentscheidung eine nicht unwesentliche Rolle“ (Schönhuth 2008a: 13). 48 „[…] Individuelle Präferenzen, Ziele und Werte, Erwartungen, aber auch Aufenthaltszeit und Inklusions– bzw. Exklusionserfahrung und daraus entstehende Gefühle der Beheimatung oder des Heimwehs beeinflussen den Rückkehrwunsch […]“ (ebenda: 13).
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gründen dar, die sich nicht ausschließen, sondern sich häufig überschneiden.49 Die Darstellung der temporären Rückkehrmotive soll anhand von biographischen Beispielen der Interviewpartner aufgezeigt werden. Dies ermöglicht die subjektive Sicht der befragten jungen (Spät-)Aussiedler aus der temporären Rückkehrperspektive besser zu verstehen und dem Phänomen des transnationalen Lebensentwurfes noch näher zu kommen. 5.6.1.1 Suche nach Identität, Herkunft und kultureller Wurzeln Petja (ID2): „Ich habe in Russland mein zweites Ich gefunden“… „[…] ich hab einfach gespürt, dass ich eine andere Seite habe, die ich kultivieren musste, die die ganze Zeit über brach lag, die nicht gefördert wurde und die ein Bedürfnis hatte, gefördert zu werden […] das war so ein Bildungsauftrag, den ich mir gesetzt habe […]“. (ID 2)
Petja war neun Jahre alt, als er aus Kasachstan von seinen Eltern in das „fremde Land“ Deutschland „mitgenommen“ wurde. Die Zeit in Kasachstan beschreibt er als viel zu „prägend“, um diese zu vergessen. Es ist aber nicht das Land Kasachstan, das seine heutigen Erinnerungen an seine Herkunft und sein Zugehörigkeitsgefühl wecken, sondern der russische Kulturraum und die russische Sprache. Sprache fungiert hier als ein ortsunabhängiger Faktor und ermöglicht meinem Interviewpartner die Verortung nicht an einem bestimmten geographisch abgegrenzten Raum, sondern in einem Herkunftskulturraum. Sprache spielt eine enorm große Rolle für meinen Interviewpartner im Kontext seines transnationalen Lebensentwurfes. Denn gerade durch die russische Sprache entdeckt er zum ersten Mal in seiner Pubertätsphase „diese andere Seite seiner Identität“ (ID 2), die in Vergessenheit geraten ist. Nach seiner Migration nach Deutschland versucht Petja sich stark zu assimilieren. Bewusst verzichtet er auf die Herkunftssprache und distanziert sich von der Herkunftskultur. Dadurch versucht er der Aufnahmegesellschaft näher zu kommen, um irgendwann das Gefühl zu haben, vollständig
49 Im Interviewkontext kam selten der Fall vor, dass nur ein einziges Motiv für die temporäre Rückkehr meiner Interviewpartner ausschlaggebend war, das entweder einen symbolischen oder einen sozialen Charakter trug.
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angekommen zu sein. Das „vollständig angekommen zu sein“ gelingt meinem Interviewpartner indem er sich sehr gut in die deutsche Gesellschaft integriert und an den wichtigsten Systemen dieser Gesellschaft teilnimmt: er ist erfolgreich in seinem Studium, hat vielfältige soziale Beziehungen und Kontakte, er kann wie jeder andere deutsche Bürger für das politische System des Landes seinen Beitrag leisten (Wahlrecht), er ist rechtlich nicht eingeschränkt wie viele andere Migranten (deutscher Pass), die dieses Privileg, (Spät-)Aussiedler zu sein, nicht haben. Was braucht mein Interviewpartner noch, um „vollständig“ in einem fremden Land „angekommen zu sein“? In seiner späteren Pubertät entdeckt Petja sein Interesse für die russische Literatur und spürt die Sehnsucht nach der „verlorenen“ Herkunft. So wird ihm schnell klar, dass diese Herkunft ein Teil seines eigenen ICHs ist und das mit Petjas Worten „ein Bedürfnis hat gefördert zu werden“ (ID 2). Durch die Herkunftssprache Russisch versucht mein Interviewpartner die Herkunftskultur und die Herkunftsidentität wieder zu entdecken, zu beleben und weiter zu fördern. Petja erzählt in diesem Kontext nicht von einer „einfachen Sprache“, die man für eine alltägliche Kommunikation braucht, um sich mit der jeweiligen Sprachgemeinschaft zu verständigen. Für meinen Interviewpartner bedeutet die russische Sprache noch mehr als das: sie ist die emotionale Verbindung und die Assoziation zu seiner Herkunft. Durch sie ist der Zugang zu „dem anderen Teil“ seiner Identität gewährleistet. Ohne Sprache zerbricht diese Verbindung. Aus diesem Grund entscheidet Petja sich für eine temporäre Rückkehr nach Russland. „[…] ich hab sehr große Sehnsucht gehabt, je älter ich wurde und dieses Interesse für Russland entwickelte.[…]das war so ein Bildungsauftrag, den ich mir gesetzt habe. Dass ich gesagt habe, ich hab’ bestimmte Wurzeln also, auch kulturelle Wurzeln, die ich einfach habe. Ich war nicht so klein, dass ich nur die deutsche Seite mitgekriegt habe. Ich hab eine prägende Zeit bis neun gehabt. Ich bin in dieser Sprache erzogen worden […]“. (ID 2)
Petjas „Sehnsucht“ assoziiert in diesem Interviewkontext das Verlangen nach etwas, was irgendwo in der Vergangenheit geblieben ist und die man wieder entdecken und wieder finden möchte. In Petjas Fall ist das die Suche nach seiner Identität und Herkunft. Woher kommen aber dieses „Be-
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dürfnis“ und diese „Sehnsucht“ nach der Herkunftsidentität? Schließlich ist Petja seit fast 20 Jahren in Deutschland, sein Alltag wird meistens „deutsch“ gestaltet, er hat überwiegend deutsche Freunde, er spricht meistens deutsch und ist seines Erachtens „voll integriert“. Sucht man nach Gründen und Motiven für Petjas „Sehnsucht“, so wird deutlich, dass mein Interviewpartner während seines ganzen Aufenthalts und seiner Integration in Deutschland einer Identitätsambivalenz ausgesetzt war. Petja hat schon mehrmals den Versuch gewagt zu denken, dass er sich von seinen deutschen Kollegen „nicht großartig unterscheide“. Er kommt mit denen „gut klar“. In der Gegenüberstellung des „Selbst“ mit „den deutschen Kollegen“ zeichnet Petja einen Kontext auf, in dem er sich verortet fühlt. Er ist ein Teil „der deutschen Kollegen“ (Aufnahmekulturraum, Deutschland) und ein anderer Teil gehört einer anderen Kultur (hier: Herkunftskulturraum, GUS). In einem Vertiefungsinterview versucht Petja diese Identitätsambivalenz folgenderweise zu erklären: „Bei mir hängt das ziemlich stark mit der Sprache zusammen und es hängt schon damit zusammen, dass ich [russisch] als erste Sprache gelernt habe und mich hat diese Zeit wahrscheinlich sehr stark geprägt. […] ich fühle einfach anders, wenn ich russisch spreche oder wenn ich z.B. einen russischen Liebesfilm sehe oder im Gegensatz, einen Horrorfilm […] Natürlich bin ich auch emotional, wenn ich mich auf Deutsch unterhalte, aber diese unmittelbare Berührung, wenn ich ein Gedicht lese von Pasternak, dann berührt mich das viel stärker und ich hab da so ein emotionales Erlebnis. Ich fühl auch, dass ich durchaus ein anderer Mensch bin, wenn ich auf Russisch denke oder wenn ich in Russland bin“. (ID 2)
Eine solche Bemerkung bezieht sich nicht nur einfach auf den Sprachkontext, sondern auf den Herkunftskontext und der damit verbundenen emotional-symbolischen Zugehörigkeit, nach der mein Interviewpartner sucht. Sprache nimmt eine besondere Bedeutung bei seiner Zugehörigkeitsbildung ein und bringt seine Kulturzugehörigkeit zum Ausdruck (vgl. dazu auch Glorius 2008: 50). Als erste Herkunftssprache lernt er Russisch und spricht diese Sprache bis zu seiner Migration nach Deutschland. Die Zeit in seinem Herkunftsort bezeichnet er als „sehr prägend“, d.h. die Erinnerungen dieser Zeit begleiten Petja noch bis heute. Zwar hat er schon öfters versucht „gänzlich deutsch“ zu werden („Ich habe schon versucht zu denken, Du bist schon deutsch und so, du unterscheidest dich nicht großartig von deinen
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deutschen Kollegen“ (ID 2)), aber so einfach ist das nicht. Er ist anders („ich fühle einfach anders“, „ein anderer Mensch“ (ID 2)), als seine deutschen Kollegen. Schon deshalb unterscheidet er sich von ihnen, weil er „ein emotionales Erlebnis“ hat, wenn er Russisch spricht oder im Herkunftskulturraum unterwegs ist, weil er sich im Gegensatz zu seinen deutschen Kollegen auch dort verortet fühlt: „[…] Wenn man so will, sind das auf jeden Fall zwei Zugänge zu mir selber. Ich finde auf beiden Wegen [russischen und deutschen] irgendwie Zugang zu mir, aber das sind unterschiedliche Wege, also unterschiedliche Tunnel, die zum selben Berg führen […]“. (ID 2)
Bevor Petja seinen ersten temporären Aufenthalt in Russland wagt, ist ihm seine Identitätsambivalenz gar nicht so klar. Auf der Suche nach Identität und Herkunft findet er plötzlich „etwas, was ihm die ganze Zeit in Deutschland gefehlt hat“ (ID 2) und entdeckt in Russland „sein zweites Ich“. Diesen Prozess der Wiederentdeckung vergleicht er mit einer „Renaissance“: „[…] also ich hab in Russland mein zweites ich gefunden und es war total toll, wie so eine Renaissance“. (ID 2)
Seine „Renaissance“ bringt er mit der Wiederentdeckung einer „neuen alten Welt“ in Verbindung, die er zwar kannte, aber trotzdem vergessen hatte, wie sie „funktioniert und wie sie Sinn macht“ (ID 2). Auf der Suche nach dem „anderen Teil“ seiner Identität eröffnet sich plötzlich für Petja die Chance, sich in einem Raum zu verorten, dessen Teil er schon einmal war: „[…] es war sehr interessant zu sehen, dass ich noch eine andere Welt kannte und ich wusste eigentlich nicht wie diese Welt funktioniert und wie sie Sinn macht. Es eröffnete sich plötzlich für mich diese neue alte Welt irgendwie, wo ich einen Platz hatte und das ist das Erlebnis gewesen […]“. (ID 2)
Seine Situation in diesem Moment vergleicht er mit dem „Fisch im Wasser“ („[…] Ich war dort wie der Fisch im Wasser […]“, was sein Wohlfühlgefühl, die Herkunftsidentität und die kulturellen Wurzeln wiederentdeckt zu haben, bildhaft widerspiegelt.
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Das Gefühl, in Russland von der Herkunftsgesellschaft wie ein Einheimischer akzeptiert und nicht als Fremder identifiziert zu werden, gibt Petja eine noch stärkere Verbundenheit mit seinem Herkunftskulturraum und verstärkt sein Zugehörigkeitsgefühl mit der Herkunftsgesellschaft. Er fühlt sich mehr und mehr in seiner „Rückkehr“ auf der Suche nach „dem anderen Teil“ der Identität bestätigt. Er ist in Russland nicht mehr der „Tourist“ („[…] das ist nicht so, dass ich da Tourist bin […]“ (2)), sondern er hat bereits „seinen Platz“ dort gefunden, er ist einer von denen: „[…] ich hab bemerkt, ja ich könnte da leben, ich könnte da arbeiten und ich könnte auch meinen Lebensunterhalt verdienen […] und nachdem ich das gemerkt habe, habe ich mich noch wohler gefühlt […]“. (ID 2)
Während seinem temporären Aufenthalt in Russland wird Petja klar, dass das, „was ihm die ganze Zeit in Deutschland gefehlt hat“ (ID 2), ist, die „andere Art das Leben zu sehen und über das Leben zu denken“ (ID 2). Also die in Vergessenheit geratene Identität in vollen Zügen auszuleben. Er ist fasziniert von der Dynamik der Menschen, besonders der jungen, engagierten Menschen, die er in Russland um sich herum hat („das hast du hier [in Deutschland] meistens nicht“ (ID 2)) und das Besondere an seiner temporären „Rückkehr“ ist, dass er feststellt, dieselben Interessen mit diesen Menschen zu teilen und mit ihnen schneller „eine gemeinsame Sprache zu finden“ als es mit seinen deutschen Kollegen möglich war. Vielleicht weil er mit den Menschen seiner Herkunftsgesellschaft den gleichen „Humor teilt“ und „[…] diese SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT“, die er in Deutschland nicht hatte. Kolja (ID 11): „Ich wollte herausfinden, ob ich noch dazu gehöre“… 1992 migriert Kolja im Alter von sieben Jahren mit seinen Eltern (einem ethnisch deutschen Vater und einer ethnisch russischen Mutter) aus Russland nach Deutschland. Seine Eltern wollen ihm eine gute Zukunft im Westen ermöglichen und so wird er vor achtzehn Jahren „einfach so aus dem Leben herausgerissen“ (ID 11). Bei der Beschreibung dieses Migrationsprozesses fällt bei Kolja sofort auf, dass ihn mit seinem Geburtsort noch viele Emotionen verbinden. Seine Stimme wird leise und er wird nachdenklich. Er beschreibt seine Integration in Deutschland, die im Gegensatz zu Petja (ID 2) problematischer verläuft, folgendermaßen:
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„Für mich war es erst mal schwer [...] ich konnte die Sprache nicht und ich war der erste Ausländer in der Klasse. Ich wurde diskriminiert […] ich musste mich schon behaupten, und dann gab es auch Schlägereien, aber wie die Kinder sind, nee. Nach 3-4 Monaten konnte ich dann Deutsch und ich war da voll drin […] dann sind auch paar andere Leute [in die Klasse] gekommen, ein paar andere Russen […] am Ende nach einem Jahr in der zweiten Klasse war schon alles o.k.“. (ID 11)
Als „erster Ausländer in der Klasse“ wird Kolja oft ausgegrenzt. Um die Diskriminierungsvorwürfe von einheimischen Mitschülern zu vermeiden, muss er sich solange vor ihnen „behaupten“ bis er einen „Schutzraum“ unter russischsprachigen Mitschülern findet, wo er als „einer von ihnen“ wahrgenommen und akzeptiert wird. Daraufhin muss er sich nicht mehr „behaupten“. Koljas Rückzug in die eigenethnische Gruppe ist eine „Schutzreaktion“, die bei anderen Interviewpartnern ebenso festgehalten werden kann50 (vgl. z.B. ID 4). In diesem Zusammenhang kann in einer späteren Netzwerkanalyse mit Kolja beobachtet werden, dass seine sozialen Netzwerke zwar „bunt gemischt“ sind, allerdings der Anteil von einheimischen deutschen Freunden im Vergleich zum Anteil der eigenethnischer Freunde und anderer Migrantengruppen (Türken, Portugiesen etc.) nicht wesentlich dominiert (vgl. Netzwerkkarte ID 11):
50 Dies ist gerade bei Interviewpartnern zu beobachten, deren schulische Integration von fremdenfeindlichen Reaktionen einheimischer Mitschüler begleitet war. Diese Personen scheinen auch später einen schwierigen Zugang zur einheimischen Gesellschaft zu finden.
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Abbildung 23: Netzwerkkarte ID 11
Spätaussiedler Einheimische Deutsche
Andere ethnische Gruppen
Analyse: Nicht eingekreist:
0
Kreis Deutschland:
24
Kreis Russland:
8
Kreis Kulturraum GUS:
0
In keinem Sektor :
0
Sektor Einheimische Deutsche:
8
Sektor Spätaussiedler:
13
Sektor andere ethnische Gruppen:
11
Total:
32
Dichte (mit Ego):
0,040
Quelle: Eigene Erhebung und Visualisierung
Zwei Gründe sind dafür verantwortlich: erstens die Ausgrenzung als „Ausländer“ in Deutschland, aufgrund der sich Kolja immer mehr in die eigenethnische (russischstämmige) Gruppe zurückgezogen hat und dort seine weiteren Freundschaften pflegte. Mit anderen Worten: Ausgrenzung schafft
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Distanz und nimmt der betroffenen Person die Chance, die einheimische Gesellschaft für sich zu öffnen und vielleicht auch dort einen Platz für sich zu finden. Das kann, aber muss nicht den zweiten Grund bedingen: Koljas starke Identifikation vor seiner temporären Rückkehr nach Russland, in Deutschland ein „Russe (zu) sein“: „Ehrlich gesagt, bevor ich nach Russland gefahren bin (lange Pause). Ich war, nachdem ich weggefahren bin, seither nie wieder in Russland. Das ist das erste Mal, dass ich nach 18 Jahren wieder in Russland bin. In Deutschland hab ich mich immer mehr als Russe gefühlt denn als Deutscher: von der Kultur her und von der Einstellung her. Einfach von der Mentalität her. Ich hab’ die deutsche Mentalität nie angenommen“. (ID 11)
Die lange Pause und der Hinweis, dass er seit seiner Migration nach Deutschland nicht mehr in seinem Herkunftsland war, signalisieren, dass sein Kenntnisstand über das heutige Russland und vor allem über die russische Gesellschaft enorm eingeschränkt ist. Trotz diesem mangelnden Wissen hat Kolja durch die Erziehung seiner Mutter russische Kulturwerte erfahren und sich durch seine eigenethnischen Freunde typische Denkmuster angeeignet, die sich von denen der Bundesdeutschen unterschieden. Dies wird in einer späteren Interviewpassage deutlich, während Kolja sein Anderssein demonstriert und es gegenüber der einheimischen Gesellschaft ausstellt: Kolja denkt „anders“, Kolja ist „anders“ und gleichzeitig sieht Kolja, dass die einheimische Gesellschaft um ihn herum „anders“ ist, „anders“ redet, „anders“ denkt (vgl. Kapitel 5.5.2) „[…] Du bist dann wirklich anders, siehst, dass die Leute anders reden, du siehst, dass die Leute anders denken. Sie haben nicht deine Denkweise […] das ist sehr kompliziert […]“. (ID 11)
So wie bei Petja (ID 2) ist auch Koljas Identitätsbewusstsein ambivalent. Deshalb beschließt er wie Petja (ID 2) nach Russland „zurückzukehren“, um herauszufinden wo er hin gehört und warum er „anders“ ist. In Bezug auf sein temporäres Rückkehrmotiv versucht Kolja zunächst seine Rückkehr aus einer rationalen Sicht zu schildern. Er verweist auf sein BWL Studium mit dem Nebenfach Russisch und auf die Möglichkeit eines Austauschjahres zwischen seiner Universität in Deutschland und der
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„besten Universität in der schönsten Stadt Russlands“ hin. Doch das ist nicht sein Hauptmotiv. Kolja weiß, dass man auch als Tourist jederzeit Russland besuchen kann. Warum also eine längere temporäre Rückkehr in die Herkunftsregion? Der Interviewkontext zeigt, dass die Migration vor achtzehn Jahren nach Deutschland für den damals Siebenjährigen eine traumatische Erfahrung gewesen ist. Das Land, das er verlassen musste, nimmt auch nach achtzehn Jahren einen wichtigen Stellenwert in seinem heutigen Selbstentwurf ein. „[…] meine Heimat liegt irgendwo in der Vergangenheit“. (ID 11)
Mit seiner Migration nach Deutschland, die er damals als Siebenjähriger nicht vollständig realisieren konnte, habe er „noch nicht abgeschlossen“. Damit weist er einen (noch) nicht abgeschlossenen Migrationskontext auf, in dem vor allem seine Identität Ambivalenzen erfährt. Als Deutscher kommt er nach Deutschland, wird aber als Nicht–Deutscher wahrgenommen und als „Ausländer“ ausgegrenzt. In Deutschland fühlt er sich stärker russisch als deutsch und spürt die Unterschiede zwischen sich selbst und der einheimischen Gesellschaft: er ist anders und die Menschen um ihn herum sind auch anders. Seine Identität als „Russe“ verstärkt sich dadurch, aber ob er noch zu den „Russen“ gehört? Schließlich war er seit achtzehn Jahren nicht mehr in Russland, er kennt keinen einzigen „richtigen Russen“ und seine Erinnerungen an Russland sind noch mit den Sowjetzeiten verbunden. Das gegenwärtige Russland ist ihm also gänzlich unbekannt. Aber „im Herzen“ trägt er immer noch die alte Heimat. Was ist aus diesem Russland geworden? Gehört er noch dazu? Motiviert durch diese emotionalen, symbolischen Einflussfaktoren kehrt Kolja zurück, um Antworten für seine identitäre Positionierung zu finden. Er ist wieder an dem Ort, wo er geboren wurde und versucht, zunächst seine Gefühle zu „sortieren“: „I: Wie waren deine ersten Eindrücke als du hierhin [nach Russland] gekommen bist? P: Erst mal irgendwie Gefühle. Ich war wieder in dem Ort, wo ich geboren wurde, in Russland und es war schon ein komisches Gefühl, aber eigentlich ein gutes Gefühl.
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[…] 18 Jahre lang war ich nicht mehr hier in Russland, dann kommst Du wieder her und das haut einen einfach um“. (ID 11)
Nachdem mein Interviewpartner aus einer rationalen Sicht sein temporäres Rückkehrmotiv (BWL Studium) geschildert hat, fährt er nach einer langen Pause fort: „Es war einfach interessant für mich. Ich wollte sehen, wie Russland sich verändert hat. Ich habe noch diese alten Erinnerungen aus der Sowjetzeit […] ich kenne das neue Russland gar nicht. Nur aus Erzählungen, aus dem Fernseher vielleicht […] ich wollte mir das einfach selber anschauen, wie sich das verändert hat. Ich wollte irgendwie... ich habe gewusst, ich muss irgendwann hierher. Du musst mit den Dingen abschließen. Ich wurde vor 18 Jahren einfach so rausgerissen aus dem Leben und es hieß plötzlich, o.k. wir fahren nach Deutschland […] und ich habe nie irgendwie damit abgeschlossen. Ich wollte für mich auch ein bisschen damit abschließen und erfahren ob ich noch dazu gehöre“. (ID11)
Mascha (ID 5): „Ich wollte einfach mehr herausfinden“… Mascha ist im zentralasiatischen Teil der ehemaligen Sowjetunion geboren. Seine Eltern, beide ethnische Deutsche, beschließen 1987 auf die Initiative von Maschas Großmutter nach Deutschland zu kommen. Mascha ist damals vier Jahre alt und erinnert sich gut an die Migration nach Deutschland.51 Als Vierjährige hatte Mascha keine Entscheidungsbefugnisse. Außerdem stand die Migration nach Deutschland schon so lange auf der Agenda der Familie, dass es für alle Familienmitglieder „total klar war, sobald es bewilligt wird“ (ID 5), fahren sie alle in die historische Heimat. Obwohl die Migration so lange auf der Agenda stand, war sie nach Meinung der heute 28jährigen Studienabsolventin nicht unbedingt gut vorbereitet. Trotzdem hatte die Familie „ganz viele Vorstellungen im Kopf und ganz viele Träu-
51 Während unseres Interviews erzählt Mascha über das Leid ihrer deutschen Großmutter, die im Zweiten Weltkrieg von ihren Eltern getrennt wurde und seit zehn Jahren auf einen Bewilligungsantrag für eine Familienzusammenführung nach Deutschland warte. Maschas Urgroßeltern waren also bereits seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Im Jahr 1987 konnte der Traum der Familie, vor allem Maschas Großmutter, als Deutsche in die historische Heimat nach Deutschland zu kommen, realisiert werden.
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me, die damit [mit der Migration nach Deutschland] verbunden waren“ (ID 5). Bemerkenswert ist Maschas heutige Rekonstruktion des damaligen „deutschen Lebens“ ihrer Familie im Herkunftsland: „[…] die haben damals [im Herkunftsland] ein Leben gelebt, von dem sie meinten, das sei deutsch […] die waren dort immer diejenigen, die Weihnachten und Ostern gefeiert haben […] und meine Oma hat zum Beispiel immer Gottesdienste gehabt sonntags, so katholische […] und damit gab’s halt ´ne ganz starke Identifikation mit Deutschland […] und deswegen dachten sie, dass die Deutsch sind […]“. (ID 5).
Maschas Betonung liegt dabei auf dem Akzent des „damals gelebten deutschen Lebens“, das keinesfalls etwas mit dem „realen“ Leben in Deutschland zu tun hatte. Denn das deutsche Leben im Herkunftsland bestand lediglich in der Religiosität der Familie (Weihnachten, Ostern, katholische Gottesdienste). Das reale Leben in Deutschland spielte sich außerhalb der religiösen Grenzen ab und diesen Unterschied bemerkte Mascha erst nach ihrer Ankunft in Deutschland: „[…] also meine ersten Freundinnen waren so richtig Deutsch (lachend). Echt, da hat sich auch irgendwie mein Bild gewandelt, was deutsch sei. Ich dachte ja vorher auch mal, ich wäre richtig Deutsch, weil meine Eltern das immer sagten […]“. (ID 5)
In einer „autoritären Art und Weise“ versuchen Maschas Eltern, insbesondere der Vater, „das Russische“ bei den Kindern in Deutschland zu „verbieten“. Mascha soll sich von allem, was russisch ist, distanzieren und „deutsch werden“. Großer Wert wird in der Familie auf den Gebrauch der deutschen Sprache und die Selbstzuschreibung des „Deutschseins“ gelegt (vgl. Kapitel 5.4.1 und 5.5.2). In diesem Zusammenhang betont Maschas Vater häufiger den bekannten Spruch, den ich nicht nur von Mascha, sondern auch von anderen Interviewpartnern im Laufe meiner Forschung höre: „[…] ein Schwein, das im Kuhstall geboren ist, ist trotzdem keine Kuh. Das bleibt ja trotzdem ein Schwein […]“. (ID 5)
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In Bezug auf Maschas Familiengeschichte soll das heißen: Ein Deutscher, der (zwangsläufig) im asiatischen Teil der ehemaligen Sowjetunion geboren ist, ist trotzdem kein Russe. Er bleibt immer ein Deutscher.52 Mascha empfindet diese Gegenüberstellung „albern“, denn sie hat bereits die kulturellen Differenzen zwischen ihrer Familie und den „richtigen Deutschen“ entdeckt. Ihr Bild des Deutschseins, „hat sich gewandelt“. Und sie kann nicht verstehen, warum ihre Eltern sich so von der russischen Kultur abwenden, obwohl sie gleichsam doch in ihrem Tun und Handeln so sehr durch diese Kultur geprägt sind und diese Kultur im Alltag praktizieren: „Also die haben unglaublich stark betont in meiner Familie, dass wir so deutsch sind und ich habe immer gesagt, das kann doch nicht sein. Ich meine, ihr SPRECHT RUSSISCH miteinander, […] die FEIERN zu Hause (russisch) […] und die ERZIEHUNGSWEISE und alles, alles, alles war so was von SOWJETISCH und RUSSISCH. Und dann wollten sie mir immer weismachen, wir sind DEUTSCH. […] dann habe ich irgendwann gesagt, ach, lasst mich in Ruhe mit eurem Deutschsein und Russischsein. Das habe ich überhaupt nicht verstanden, was die von mir überhaupt wollten und warum sie so sauer sind, wenn ich in der Schule gesagt habe, ja wir sind russisch“. (ID 5)
Im Alltag Russisch sprechen, zu Hause russisch feiern, die Kinder sowjetisch zu erziehen sind Merkmale der kulturellen Differenz in Maschas Augen, die bereits ihre Pubertät hinter sich hatte und sich gerade in der Phase der identitären Orientierung befand. In dieser Lebensphase spürt Mascha, dass sie anders erzogen ist und findet dies ungerecht:
52 Bemerkenswert ist, dass dieses Empfinden „des Deutschseins“ im Laufe der Datenerhebung bei den Familien vorkommt, in denen beide Elternteile ethnische Deutsche sind, häufiger vor, da sie die Fremdzuschreibung „Russe sein“ besonders schmerzhaft empfinden. Um nicht in die „Schublade Russe zu sein“ gesteckt zu werden, versuchen diese Familien besonders ihr „Deutschsein“ im Alltag zu betonen und grenzen sich vom Russischen ab. Nur durch einen Abstand von der Herkunftskultur kann man „Deutsch werden“.
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„Ich fand das irgendwie ungerecht, dass ich anders erzogen wurde als meine Freundinnen in Deutschland und ich habe das auch nicht verstanden und meine Eltern haben es auch in so einer autoritären Art nie erklärt […]“. (ID 5)
Mascha darf keine männlichen Freunde haben wie ihre deutschen Freundinnen, Mascha darf nicht bei ihren Freunden übernachten wie ihre deutschen Freundinnen, weil in ihrer Familie „das Wort des Vaters ein Gesetz ist“ (ID 5). „[…] Es war ein ganz autoritärer Erziehungsstil und der war so ganz anders als alles was sonst um mich herum war“. (ID 5)
Mascha ist in einem ständigen Kampf zwischen den Kulturen: einerseits spürt sie den starken Einfluss ihrer Eltern, immer Deutsch zu sein und sich zu den kulturellen Werten Deutschlands zu bekennen. Andererseits ist sie ständig mit kulturellen Unterschieden zwischen ihrer Familie und den Familien ihrer deutschen Freunde konfrontiert, die doch ganz anders sind als ihre eigene Familie. „[…] Das sind letztendlich Erziehungsunterschiede gewesen, die mir starke Schwierigkeiten verursacht haben“. (ID 5)
Um sich von diesem Kulturkonflikt zu erholen, versucht Mascha, sich eine Weile von der eigenen Familie zu distanzieren und zieht in eine kleine Studentenwohnung. Mascha entdeckt in dieser Phase wieder ihr Interesse für die Herkunftskultur und vor allem für die russische Sprache, die sie fast verlernt hatte: „[…] das ist doch eine schöne Sprache und dann hab ich doch letztendlich einen Vorteil, dass sie in mir drin steckt und sie mir auch irgendwie zufällt und ich die doch schön fand […].Dann hab ich tatsächlich irgendwann gedacht, ich will diese Sprache nicht vergessen, ich will mich daran erinnern […]“. (ID 5)
Mit der Motivation, die Herkunftssprache wieder aufzufrischen, kehrt Mascha zum ersten Mal nach ihrem Abitur nach Russland zurück:53
53 Vgl. auch Petja (ID 2).
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„[…] dann dachte ich, dann fährst du nach Russland, um diese Sprache nicht zu vergessen, um diese Sprache aufzufrischen […]. Das war die allererste Motivation […]“. (ID 5)
Zwar ist die Sprache als wichtiges kulturelles Gut für die Bewahrung der Herkunftskultur eine erste Motivation für meine Interviewpartnerin, doch es gibt noch etwas darüber hinaus, das Maschas tatsächliches Motiv der temporären Rückkehr in den weiteren Interviewpassagen verdeutlicht: Maschas ständiger Kampf zwischen und mit den Kulturen ist durch Konflikte zwischen dem eigenen Selbst und ihrer Familie gekennzeichnet. Sie denkt, dass bestimmte kulturelle Konflikte gelöst werden können, wenn sie sich mit der Herkunftskultur intensiver auseinandersetzt. Auf der Suche nach kulturellen Wurzeln kehrt Mascha zum zweiten Mal für einen längeren Aufenthalt nach Russland zurück, um „mehr herauszufinden“: „Ich wollte tatsächlich irgendwie rausfinden, warum jemand [die Familie] so Probleme hatte mit meinem… warum es so stark geknallt hat bei uns in der Familie […] ich glaube, das waren ganz normale Streitereien, wenn man pubertiert, aber es waren auch ganz viel […] nicht verstehen einander, also so kulturelle Probleme. Der [Vater] hat nicht mit meinen Wünschen, die ganz anders waren als sie es gewohnt sind, mit denen konnte er nicht umgehen bzw. hat alles immer verboten und das auch mit so einer autoritärer Art und Weise […]“. (ID 5)
Maschas temporäre „Rückkehr“ kann hier als eine Problemlösung der kulturellen Differenzen verstanden werden. Die Entdeckung von Werten der Herkunftskultur bringt für meine Interviewpartnerin das Verständnis für vorhandene kulturelle Probleme in Deutschland zwischen sich selbst, ihrer Familie und der einheimischen Gesellschaft mit sich. Das autoritäre Vatersymbol wird zu einer „Normalität“, denn alle Väter sind in der Herkunftsregion „autoritär“ und alle Kinder werden in der Herkunftsregion „autoritär erzogen“: „Dann bist du in diesem Land und du merkst irgendwie, oh krass... ja, genau, das ist das was unser Problem war, weil die Leute hier einfach in dieser Art und Weise miteinander sprechen, in dieser Art und Weise ihre Kinder erziehen […] dann war plötzlich so ein Verständnis dafür da, dass es halt diese Schwierigkeiten gab vorher [vor der Rückkehr]“. (ID 5)
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Deutlich wird für die drei Interviewpartner – Petja, Kolja und Mascha –, dass ihre Identitätsambivalenz, die sie vor der temporären Rückkehr in den Herkunftskulturraum in Deutschland erfahren haben, einen wichtigen Beweggrund für ihren transnationalen Lebensentwurf darstellt. Der Kontext zeichnet sich durch symbolische Einflussfaktoren und Identitätskonstruktionen aus (vgl. Schönhuth 2008a: 14), die für die drei Interviewpartner eine starke emotionale Verbindung zu ihrem Herkunftskulturraum bedeuten. Dieser Tatsache tragen vor allem aber auch die situativen Einflussfaktoren – häusliche Umgebung und Erziehung der Interviewpartner – bei: einerseits durch die Weitergabe der russisch-sowjetischen Kulturelemente, wie beispielsweise bei Petja und Kolja, andererseits durch die strenge Distanzierung von der Herkunftskultur, wie das in Maschas Familienkontext sichtbar wird. Deutlich wird, dass hier ein komplexes Beziehungsgeflecht von unterschiedlichen individuellen Einflussfaktoren entsteht, der die temporäre Rückkehr der drei Interviewpartner bedingt. Die Rückkehr wird deshalb nicht durch ein einziges Motiv, sondern durch mehrere Motive begleitet. Die temporäre Rückkehr der Interviewpartner und die Entdeckung der Herkunftskultur und der kulturellen Differenzen zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft bringen noch einen anderen wichtigen Aspekt mit sich: neue Identitäten werden in diesem Prozess konstruiert (vgl. Anhang 3). Für die hier dargestellten Interviewpartner bedeutet dies die Entdeckung der Teilidentitäten (z.B. Petja) und die Wahrnehmung der eigenen Andersheit als etwas Natürliches (z.B. bei Kolja und Mascha). 5.6.1.2 Suche nach einer transnationalen Berufsperspektive Fedja (ID 1): „Durch die Rückkehr berufliche Schwerpunkte in der Herkunftsregion setzen…“ Über Fedjas transnationalen Lebensentwurf wurde bereits im Kapitel 6.2 berichtet. In diesem Abschnitt möchte ich besonderes Augenmerk auf seine temporäre Rückkehr und die entsprechenden Motive legen. Während des ersten Interviews und des zweiten Vertiefungsinterviews konnte ich ein ausgeprägtes Vertrauensverhältnis aufbauen, so dass wir uns außerhalb dieser zwei Interviews auch in sozialen Netzwerken geschrieben haben.54
54 An dieser Stelle möchte ich ergänzen, dass dieses Verhältnis glücklicherweise mit der Mehrzahl meiner Interviewpartner möglich war. So war ich meistens über die Mobilität meiner Interviewpartner informiert.
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Das erste Interview mit Fedja wurde in Russland kurz nach seiner Rückkehr aufgrund eines Auslandsstudiums im August 2010 durchgeführt. Bereits während dieses Interviews zeichnete sich Fedja durch hohe Transnationalität und längere Aufenthalte in Russland aus. Die hohe Transnationalität war durch sein zwanzigjähriges Pendeln zwischen Deutschland und Russland gekennzeichnet: „[…] wir sind 1990 aus Russland nach Deutschland umgesiedelt. Und seitdem bin ich aber jedes Jahr im Sommer in Russland gewesen […] etwa für drei bis vier Wochen […]“. (ID 1)
Während des zweiten Vertiefungsinterviews 2011, nachdem Fedja wieder von seinem Russlandaufenthalt nach Deutschland zurückkehrte, sollte fokussiert auf Fedjas transnationalen Lebensentwurf und auf dessen Motive eingegangen werden. Fedjas Integration in Deutschland verläuft unproblematisch. Bereits in der Schule knüpft er mehrere Freundschaften mit gleichaltrigen Einheimischen und durchlebt kaum Fremdheitsgefühle. Offenbar sind dafür zwei Gründe verantwortlich: zum einen Fedjas Alter während der Migration nach Deutschland. Mit zwei Jahren findet er leichter Zugang zu der einheimischen Gesellschaft im Vergleich zu meinen anderen Interviewpartnern, die ein etwas höheres Migrationsalter aufweisen. Zum anderen spielen divergierende Faktoren bei der Netzwerkbildung mit den Einheimischen Jugendlichen, wie die Zusammenstellung der Schulklasse („[…] Ich hatte im Kindergarten fast nur deutsche Freunde und in der Schule waren drei Russlanddeutsche […]“ (ID1)) und das Stadtteilmilieu, in dem die Sozialisation meines Interviewpartners zum größten Teil verlaufen ist („[…] ich war in einem ganz anderen Stadtteil nur mit Deutschen zusammen. […] Das war schon ein ganz anderes Umfeld. Ich wurde dann ganz anders sozialisiert“ (ID 1)), eine große Rolle. Die insgesamt positive Integration meines Interviewpartners in Deutschland kann man auch auf seinen gesamten Familienkontext übertragen. Fedja beschreibt sowohl die soziale als auch die berufliche Integration seiner Eltern ebenfalls positiv. Das Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung sei immer gut und von keinen Fremdheitserfahrungen geprägt gewesen.
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Durch das häufige Pendeln zwischen Deutschland und seinem Herkunftsort baut Fedja noch im jugendlichen Alter eine besondere Verbindung zu seinem Herkunftsort auf und möchte immer mehr darüber erfahren. „Und ich bin jedes Jahr nach Russland gefahren, um meine Verwandten zu besuchen und das war dann einfach so, eigentlich möchtest du mehr wissen und eigentlich möchtest du dich auch mehr damit auseinandersetzen können“. (ID 1)
Die Chance, sich mit der Herkunftsregion etwas mehr auseinanderzusetzen, sieht Fedja in der Wahl seiner Studienrichtung, die sich mit der Geschichte, Kultur und Politik Osteuropas beschäftigt. Animiert durch sein Studium, kehrt Fedja für seinen längsten Aufenthalt wieder nach zwanzig Jahren nach Russland zurück. Im ersten Moment scheint Fedja aus einem ganz pragmatischem Motiv gehandelt zu haben: er erwähnt seine Pflicht, im Studium ins Ausland zu gehen. Seine bereits vorhandenen Russischkenntnisse erleichtern ihm die Wahl des Rückkehrortes: „Bei uns im Studium ist es Pflicht für ein Semester ins Ausland zu gehen. Jeder in unserem Studiengang hat einen bestimmten Schwerpunkt, sei es irgendwie auf ein bestimmtes Land bezogen, Polen, Russland oder Spanien und jeder lernt auch eine Sprache. […] Da ich Russisch gelernt habe und Russisch kulturpolitisch als Schwerpunkt hatte und dann auch sprachlich war es für mich klar, dass ich nach Russland fahren werde. Ich habe mich auch vom ersten Semester an darauf eingestellt“. (ID 1)
Fedjas pragmatisches Rückkehrmotiv ist aber von einem relevanten Lebensaspekt beeinflusst: der Präsenz der russischen Kultur und Erziehung. Mein Interviewpartner macht auf die Komponente des „Nationalgeistes“ aufmerksam, der durch „Symbole“ und „Punkte“, die er später „kulturelle Fixpunkte“ nennt, geprägt ist. Das kulturelle Wertesystem, das offenkundig in frühkindlicher Mutter-Kind-Kommunikation entstanden ist, prägt seine Zugehörigkeit zu seinem Herkunftsland: „[…] Wenn es so eine Art Gefühl geben sollte, für irgendein Nationalgefühl, dann wäre es vielleicht eher mit Russland verbunden. Es gibt da einfach viel mehr, was mit Russland zu tun hat und deswegen habe ich da einfach mehr Symbole und mehr Punkte, die mich mehr an Russland erinnern. Wenn ich bestimmte Lieder höre oder
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Kinderlieder, fühle ich mich dann damit verbunden. Für Deutschland ist das ganz anders. Ich habe eigentlich keine kulturellen Fixpunkte in meiner Kindheit gehabt, deshalb habe ich für Deutschland nicht so einen Nationalgeist entwickelt“. (ID1)
Ich möchte an dieser Stelle einen Vergleich zwischen Fedjas erstem Interview und zwischen dem zweiten Vertiefungsinterview ziehen, um den weiteren Verlauf der Analyse von Fedjas temporärem Rückkehrmotiv nach transnationaler beruflicher Perspektive besser zu erklären. Zum Zeitpunkt unseres ersten Interviews ist dieses Motiv pragmatisch bedingt ohne den Hintergrund, berufliche Ziele in der Herkunftsregion zu verfolgen. Jedoch ist dies durch weitere kulturelle Hintergründe begleitet. Fedja ist nicht nur „zurückgekehrt“, weil er bedingt durch das Studium seine Pflicht erfüllen muss, sondern weil er auch das Land kulturell besser kennenlernen möchte. Aus einer retrospektiven Sicht beschreibt er folgenderweise seine temporäre Rückkehr im Jahr 2010 nach Russland:55 „Also, ich hab das natürlich auch gemacht um mehr von Russland zu erfahren, aber es war nicht so ein Pfad, wo ich mich darauf eingestellt habe, ich möchte mir das alles angucken, weil ich später mal hier arbeiten möchte. So bin ich da nicht dran gegangen. Ich habe das sozusagen gemacht, weil erstens wir das machen mussten und zweitens, weil ich da Spaß dran hatte, auch einfach Russland für eine längere Zeit zu erleben“. (ID 1)
Zum Zeitpunkt des ersten Interviews äußert sich Fedja etwas skeptisch über eine „Rückkehr“ nach Russland. Der Grund liegt vor allem in Fedjas verfestigten sozialen Netzwerken in Deutschland, die seinen Lebensmittelpunkt bilden: „[…] weil ich dort [in Deutschland] wohne, dort studiere, ich habe dort im Prinzip den größten Teil meines Freundeskreises und die wichtigsten Leute, die mich umgeben, sind auch in Deutschland […]“.(ID 1)
Fedja empfindet es schwierig in einem Land wie Russland, das zwar nicht fremd ist, aber auch nicht seinen Lebensmittelpunkt darstellt, neue dauer-
55 Die Beschreibung erfolgt während unseres zweiten Interviews (Vertiefungsinterview) im Jahr 2011.
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hafte soziale Netzwerke aufzubauen. Bemerkenswert scheint aber, dass seine spätere Netzwerkanalyse ein im Herkunftskulturraum weit ausgestrecktes soziales Netzwerkbild zeigt: die sozialen Kontakte meines Interviewpartners erstrecken sich vom sibirischen Teil Russlands bis nach St. Petersburg und Moskau, wo er durch seine früheren Aufenthalte neue Kontakte aufgebaut hat (vgl. dazu Netzwerkkarte ID 1). Abbildung 24: Netzwerkkarte ID 156
Spätaussiedler einheimische Deutsche
Andere ethnische Gruppen
56 Akteure 51 (USA), 52 (Mexiko), 45 und 46 (England), 47 (Türkei), 48;49 und 50 (Finnland).
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Analyse: Nicht eingekreist:
8
Kreis Deutschland:
28
Kreis Russland:
15
Kreis Kulturraum GUS:
0
In keinem Sektor :
8
Sektor Einheimische Deutsche:
19
Sektor Spätaussiedler:
9
Sektor andere ethnische Gruppen:
15
Total:
51
Dichte (mit Ego)57:
0,000
Quelle: Eigene Erhebung und Visualisierung
Im ersten Interviewkontext wird deutlich, dass eine Rückkehr nach Russland für Fedja etwas zu diesem Zeitpunkt noch „Risikohaftes“ darstellt: „[…] weil ich mich in Deutschland sicherer fühle. Ich fange gerade mit meinem Studium an und dann müsste ich auch noch einen Master machen. Das alles würde ich gerne in Deutschland machen. Also, quasi da [in Deutschland] fest Fuß fassen und dann würde ich erst so was Risikohaftes, sagen wir mal, machen. […]“. (ID 1)
Zum Zeitpunkt unseres zweiten Vertiefungsinterviews, nachdem mein Interviewpartner eine signifikante Zeit (acht Monate) in unterschiedlichen Teilen und kulturellen Kontexten Russlands (im asiatischen und europäischen) verbracht hatte, äußert er plötzlich einen stärkeren Rückkehrwunsch nach Russland aus beruflicher Perspektive, der jedoch einen temporären Charakter trägt. Er ist motivierter denn je nach Russland „zurückzukehren“ und das sogar für einen ganzen Masterstudiengang mit einem Doppellabschluss teils in Russland teils in Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt plant Fedja bereits seine nächste längere temporäre Rückkehr, die nach seiner
57 Da hier aus mangelnden Zeitgründen keine Beziehungsausprägungen zwischen EGO und Alteri gezeichnet worden sind, kann die Dichte mit Ego in VennMaker nicht ermittelt werden.
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Auffassung „zielgerichteter Natur“ sei. Sein Hauptmotiv, wieder nach Russland „zurückzukehren“, speist sich aus einem rational-ökonomischen Grund, der für Fedja weitere Karriereperspektive im transnationalen Kontext eröffnen soll. Und schon jetzt setzt er berufliche Schwerpunkte im transnationalen Raum zwischen Deutschland und Russland ein: „P: Also, ich werde z.B. Ende Oktober wieder nach Moskau reisen, weil ich noch ein Praktikum habe beim ZDF Auslandsstudio und es ist dann einfach so, dass ich...Ja das wäre auch so mein beruflicher Schwerpunkt eigentlich, Journalismus, Korrespondieren usw. […]deshalb wenn ich jetzt nach Russland reise, das ist eher zielgerichteter Natur...mit einem bestimmten Hintergrund eigentlich. I: Und was ist der Hintergrund? Ein berufliches Leben in Russland aufzubauen? P: Genau. Also wenn man es nicht unbedingt aufbauen nennen möchte, dann doch schon wenigstens Erfahrung in diesen Sphären zu sammeln“. (ID 1)
Der Reiz an einer solchen beruflichen Mobilität ist für Fedja ein Zustand, den er immer wieder erleben möchte und worauf er auf keinen Fall verzichten will. Fedja ist aber auch nicht so naiv, um zu glauben, dass dieser „Ausnahmezustand“ ein ewiger Zustand sein kann. Denn irgendwann möchte auch Fedja, für den Mobilität zur Normalität geworden ist, sich an einem Ort niederlassen: „[…] irgendwann möchte man sich auch irgendwo niederlassen […]“. (ID 1)
Durch seine rechtliche Inklusion (deutsche Passnationalität) kann Fedja seine transnationale berufliche Lebensperspektive in jedes beliebige europäische Land verlegen. Was ist das Besondere daran, dass Fedja sich also für Russland entscheidet? Der gesamte Interviewkontext zeigt, dass nicht nur der externe Einflussfaktor Austauschstudium und berufliche Perspektive im Herkunftskulturraum für Fedjas temporäre Aufenthalte entscheidend sind, sondern auch die mobilisierbaren Ressourcen und Netzwerkstrukturen fördern seinen transnationalen Lebensentwurf (vgl. Schönhuth 2008a). Fedja verfügt über soziale Netzwerke im Herkunftskulturraum (vgl. Netzwerkbild ID 1) und über gewisse kulturelle Kompetenzen, die ihn gegenüber seinen „einheimischen Kollegen“ „reicher“ machen. Fedja kennt den kulturellen Hintergrund Russlands genauso gut wie den Deutschlands, neben Deutsch be-
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herrscht Fedja ebenfalls perfekt Russisch, Fedja kennt sich mit den politischen Strukturen beider Länder gut aus. Und noch mehr: nach acht Monaten Aufenthalt in Russland fühlt sich Fedja in seiner Aussage während unseres ersten Interviews noch mehr bestätigt. Bemerkenswert scheint die Tatsache, dass Fedja wie die bereits vorgestellten Interviewpartner (Petja, Kolja und Mascha) während seines temporären Aufenthaltes in Russland eine neue Zugehörigkeit konstruiert, die seine transnationale Karriereziele für Russland stärker motiviert: zum Zeitpunkt unseres zweiten Interviews ist er selbst überrascht, wie viel Nähe er zur Herkunftskultur aufgebaut hat und „wie russisch“ er teilweise ist: „[…] mir wurde klar, dass mir Vieles sehr nah ist. Also auch kulturell und die Menschen, wenn ich mich mit denen unterhalte. Dass mir einiges etwas näher scheint, als ich das geglaubt habe. […] Die Verhaltensweisen auch, wie man seinen Alltag strukturiert. War ich doch sehr überrascht von mir, dass ich doch so russisch bin zum Teil. Ich plane wieder im Oktober nach Russland zu fahren und bin eigentlich motivierter denn je dort irgendwie auch mein nächstes Studium anzufangen“. (ID 1)
Nadine (ID 4): Beruflich zwischen den beiden Ländern vermitteln Mit Nadine wurden ebenso wie mit Fedja zwei qualitative Interviews im Abstand von einem Jahr (April 2010 und Mai 2011) durchgeführt. Das zweite Interview im Mai 2011 mit Nadine fand per Skype statt, da Nadine sich zu diesem Zeitpunkt zwecks ihres Auslandsstudiums in Russland aufhielt. Nadine ist im Vergleich zu den meisten Interviewpartnern nicht als Kleinkind nach Deutschland migriert, sondern 1995 als Teenager im Alter von dreizehn Jahren (vgl. Kapitel 5.2). Die in Kasachstan sozialisierte Nadine weist am Anfang ihres Eingliederungsprozesses in Deutschland Schwierigkeiten auf. Ihre Integration durchläuft verschiedene „Lagerstationen“ („[…] das erste Lager, das zweite Lager, das war ein bisschen chaotisch und wir waren ein bisschen enttäuscht […]“ (ID 4)), abgeschnitten von Verwandten, die in einem anderen Bundesland leben. Das Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung ist eher „reservierter“. Bereits in der Schule erlebt Nadine ihre ersten Fremdheitserfahrungen und kann keine sozialen Kontakte zu den einheimischen Jugendlichen aufbauen:
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„[…] bis ich die 10. Klasse beendet habe, habe ich da mit den Deutschen kaum zu tun gehabt. Man ist schon unter sich geblieben mit anderen Aussiedlern […]“. (ID4)
Mit den anderen Aussiedlern „unter sich bleiben“ ist für Nadine eine „Schutzreaktion“, da sie aus eigenen Fremdheitserfahrungen heraus handelt und nur in einem Schutzraum mit und unter Aussiedlern ihre Gruppenidentität und gemeinsamen Migrations- und Eingliederungserfahrungen in Deutschland teilen kann.58 Heute bestehen Nadines soziale Netzwerke größtenteils aus (Spät-)Aussiedlern (vgl. Netzwerkkarte ID 4): Abbildung 25: Netzwerkkarte ID 459
Spätaussiedler
Einheimische Deutsche
Andere ethnische Gruppen
58 Vgl. auch Kolja (ID 11). 59 Akteur 23 (Italien), 24 (USA).
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Analyse: Nicht eingekreist:
2
Kreis Deutschland:
14
Kreis Russland:
10
Kreis Kulturraum GUS:
1
In keinem Sektor :
2
Sektor Einheimische Deutsche:
4
Sektor Spätaussiedler:
6
Sektor andere ethnische Gruppen:
15
Total:
27
Dichte (mit Ego):
0,042
Quelle: Eigene Erhebung und Visualisierung
Dieser Tatsache sind zwei wichtige Aspekte zugrunde zu legen. Zum einen kann Nadine kein Vertrauensverhältnis zu Einheimischen aufbauen: „[…] Ich weiß nicht, inwieweit ich denen vertrauen kann, inwieweit ich mich öffnen kann, dass sie mich nicht falsch verstehen, deswegen bleibt man lieber reserviert“. (ID 4)
Zum zweiten ist Nadine für die Einheimischen immer die Fremde (vgl. Kapitel 5.5.2.1): „Natürlich habe ich noch einen kleinen Akzent. Das ist vielleicht nicht die erste Frage, aber die Frage kommt am Anfang einer jeden neuen Bekanntschaft. Fragen sie [die Einheimischen] woher ich komme, wie lange ich schon hier bin und jeder muss sagen, wie gut ich schon Deutsch kann, aber die meisten wissen nicht, dass die Aussiedler deutsche Wurzeln haben und ich finde es so blöd, wenn vier Millionen nach Deutschland gekommen sind, das ist ja irgendwo auch eine deutsche Geschichte, und dass sie da nicht Bescheid wissen“. (ID 4)
Ein anderer Aspekt, warum Nadine bewusst ihre Freunde unter (Spät-) Aussiedlern oder russischstämmigen Migranten auswählt, liegt darin, dass
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Nadine bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr in einem ganz anderen Kontext sozialisiert wurde. Neben dem Wertesystem des Aufnahmelandes (Deutschland), die die letzten 16 Jahre Nadines Lebens ausmachten, wurde Nadine auch mit dem Wertesystem des Herkunftslandes konfrontiert. Sie vermeidet häufig die Kontakte mit gleichaltrigen Einheimischen, weil sie mit denen oft dieselben kulturellen Symbole und Werte nicht teilen kann. Dass sie mit Einheimischen über „Zeichentrickfilme aus der Kindheit“ und über „Hits in den 80ern in Deutschland“ nicht diskutieren kann, weil sie in den 1980ern nicht in Deutschland gewesen ist, stößt bei den Einheimischen oft auf Verständnislosigkeit: „[…] wie Du kennst das nicht? Das war ja Mitte der 80er voll der Hit […]“. (ID 4)
Diese kulturellen Unterschiede zwischen Nadine und den Einheimischen verstärken Nadines Gefühl des Fremd- und Andersseins, so dass sie sich in solchen Situationen weniger als Teil der einheimischen Gesellschaft betrachtet: „[…] und ich sag: Leute ich war Mitte der 80er nicht da [in Deutschland]! Also ich fühl mich schon irgendwie ausgegrenzt […] das sind einfach ein paar Worte, die für die anderen ein Begriff sind und wo ich mich absolut fremd fühle. Ich fühl mich nicht als Teil dieser Gesellschaft dann […]“. (ID 4)
Und daher hat sie auch „nie den Wunsch [gehabt], sich unbedingt in eine rein deutsche Gesellschaft zu integrieren“ (ID 4). Über eine Rückkehr in den Herkunftskulturraum macht sich Nadine bereits in den Anfangsjahren ihrer Migration nach Deutschland Gedanken. Diesem Wunsch zufolge kehrt sie für einen kurzen Schüleraustausch nach Russland zurück und besucht ihre Verwandten in Kasachstan. Nadines kulturelle Zugehörigkeit hat sich aber während ihres Aufenthaltes in Deutschland bereits verändert. Sie gehört nicht mehr vollkommen zu der Herkunftsgesellschaft und kann sich nicht vorstellen, im Herkunftskulturraum ihr ganzes Leben zu verbringen. Deutschland bezeichnet sie als ihren Lebensmittelpunkt, aber Deutschland ist nicht ihre Heimat. Nadines einzige Strategie bleibt, zwischen ihrem Herkunftskulturraum und ihrem Lebensmittelpunkt zu pendeln, um die Beziehung zu den eigenen Wurzeln nicht zu verlieren:
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„Ich möchte diese Beziehung einfach nicht verlieren, weil ich fühle, dass ich russische Wurzeln habe und die möchte ich nicht verlieren. Ich möchte diese Beziehung aufrechterhalten. Das ist oft sehr schwer, aber so mit kleinen Schritten mache ich das wieder“. (ID 4)
Beruflich zwischen Russland und Deutschland zu pendeln gehört zu Nadines transnationalen Lebensprojekten: „Mein Wunsch ist, ein paar Jahre in Russland zu arbeiten oder zumindest so, dass ich ständig hin und her pendele, ob ich jetzt hier von Deutschland aus nach Russland gehe oder in Russland arbeite und dann nach Deutschland komme“. (ID 4)
Die „kleinen Schritte“, die Nadine in diesem Interviewkontext erwähnt, sorgen bereits jetzt dafür, dass Nadine ihren beruflichen Fokus im transnationalen Raum „platziert“. Bewusst entscheidet sie sich für ein Studium der Regionalwissenschaften mit dem Schwerpunkt Osteuropa, das sie als „großen Schritt“ hin zu ihrem späteren transnationalen Berufsentwurfes betrachtet: „[…] Und ich möchte auch später so arbeiten, dass ich wieder mit beiden Kulturen zu tun habe. Deswegen sehe ich mein jetziges Studium schon als einen großen Schritt in diese Richtung“. (ID 4)
So wie bei Fedja (ID 1) konnte auch bei Nadine ein hoher Grad der Transnationalität beobachtet werden: seit ihrer Migration nach Deutschland ist sie bereits mehr als fünfmal zwischen Deutschland und ihrer Herkunftskulturraum gependelt mit dem Ziel, dort in russischen Unternehmen als Praktikantin „zu schnuppern“ und sich durch Studienaustauschprogramme weiterzubilden. Zum Zeitpunkt unseres zweiten Vertiefungsinterviews, in dem Nadine sich in Russland zwecks eines Doppelstudienganges als Masterabschluss aufhielt, waren schon ihre nächsten transnationalen Karriereziele geplant: „Ich möchte mich schon in nächster Zeit nach einem Praktikum umschauen. Es gibt hier [in Russland] ja eine Stelle der deutschen Außenhandelskammer und ich möchte noch versuchen über die an ein Praktikum bei einem deutschen Unternehmen zu
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kommen, welches hier angesiedelt ist. Weil ich später schon in einem deutschen Unternehmen arbeiten möchte, das Kontakte zu Russland pflegt“. (ID 4)
Nadines zukünftiger transnationaler Karrierewunsch besteht darin in beiden Ländern -Russland und Deutschland - einen Platz zu finden, was aber auch bedeutet, dass meine Interviewpartnerin sich zu beiden Ländern zugehörig fühlt: „Also ich würde schon gerne eine Schnittstelle zwischen den beiden Ländern sehen und ich möchte auch schon einen Job finden, der mir ermöglicht, zwischen den beiden Ländern zu vermitteln […]“. (ID 4)
„Die Schnittstelle zwischen den beiden Ländern“ kann als transnationaler Sozialraum (vgl. Pries 2001) verstanden werden, in dem sich Nadines Lebensentwurf heute und in Zukunft bewegt. Dieser transnationale Lebensentwurf ermöglicht ihr zum einen ihr Bildungs-, Kultur- und Sozialkapital auf dem transnationalen Arbeitsmarkt (in Russland und in Deutschland) auszuschöpfen und dadurch (vermutlich) bessere Karrieremöglichkeiten zu gewinnen. Es kann neue Chancen und Berufsmöglichkeiten für Nadine eröffnen, wovon nicht nur sie selbst sondern auch Deutschland und Russland profitieren können. Zum anderen bedeutet diese transnationale Berufsstrategie für Nadine wie für Fedja (ID 1), ihrer transnationalen Identität(en) und Beheimatungsstrategien in multiplen, transnationalen Räumen gerecht zu werden. Denn sie bieten diesen Transmigranten die Alternative, sich zwischen zwei Kulturen zu bewegen ohne dabei ein Teil ihrer kulturellen Zugehörigkeit aufgeben oder gar abstreiten zu müssen. Beide wollen sich nicht weiter „festlegen“, wenn es um ihre Identität geht: „Ich bin halb Russin, halb Deutsche. Das kann ich jetzt sagen und ich will nicht einen Teil von mir verleugnen und abstreiten. Wenn ich nach Russland komme, merk ich wie Deutsch ich bin. Hier [in Deutschland] merke ich, dass ich nicht komplett deutsch bin. Ich will mich nicht weiter festlegen […]“. (ID 4) „Ich möchte mich nicht weiter festlegen. Ich kann nicht das eine abstreiten und das andere akzeptieren […]“. (ID 1)
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Hier gelingt sowohl Nadine als auch Fedja (ID 1) sich von „Heimat“ und anderen geographischen Grenzen zu lösen und darüber hinaus zu leben (vgl. Kapitel 5.5.5.3). Die beiden Fallbeispiele zeigen, dass die Suche nach einer transnationalen Karriereperspektive zwar durch ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen motiviert wird, dennoch stellen diese Ressourcen nicht die alleinigen Rückkehrgründe für Fedja und Nadine dar. Für die Entscheidung der temporären Rückkehr auf dieser Ebene spielen noch weitere Einflussfaktoren eine wichtige Rolle, die vor allem durch symbolische Bindungen (symbolische Ressourcen/Identifikationsprozesse) erklärt werden können. Beide Interviewpartner streben nach einer transnationalen Berufsperspektive zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland, um ihre multiplen Identitäten aufrechtzuerhalten und vor allem ihre Herkunftswurzel nicht zu verlieren. Hinzu kommen noch weitere externe Einflussfaktoren, wie beispielsweise ein studienbedingtes Praktikum, das als Ermutigung oder Anreiz (vgl. Anhang 3) die temporäre Rückkehr in den Herkunftskulturraum von beiden Interviewpartnern fördert. Somit stellen auch in diesem Fall die temporären Rückkehrmotive ein Bündel aus verschiedenen individuellen Beweggründen dar, die einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen. 5.6.1.3 Suche nach beruflicher Freiheit und personeller Identifikation Sascha (ID 18): Ein bisschen „höher springen“ können… Sascha gehört zu den Interviewpartnern, die von der Definition Generation 1.5 durch ihr Migrationsalter (18) nach Deutschland abweichen. Seine Migrationsbiographie ähnelt aber der Migrationsgeschichte der „mitgenommenen Generation“ insofern, dass Sascha wegen der Familienzusammenführung ohne eigenen Wunsch oder aus eigener Entscheidung im Jahr 2002 aus Kasachstan nach Deutschland migriert ist, um den Familienzusammenbruch zu vermeiden. Zum Zeitpunkt des Interviews (2010) war Sascha 26 Jahre alt, verheiratet und hatte bereits zwei Kinder. Im Gegensatz zu allen anderen Interviewpartnern gehört Sascha zu jenen Befragten, dessen Rückkehrwunsch ins Herkunftsland sehr stark ausgeprägt ist. Während unseres Interviews ist auch Saschas Frau anwesend, die mit ihren Bemerkungen den Rückkehrwunsch ihres Mannes beeinflussen
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möchte, um ihn von diesen Absichten etwas abbringen möchte. Später stellt sich heraus, dass auch sie einen Rückkehrwunsch hat, der aber einen transnationalen Charakter trägt. Dabei ist für Saschas Frau die Möglichkeit, jederzeit wieder nach Deutschland zurückzukommen eine wichtige Voraussetzung, um ins Herkunftsland zurückzugehen. Bei einer dauerhaften Rückkehr muss sie auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit womöglich verzichten und somit den Bezug zu Deutschland für immer verlieren. Zurück zu Saschas Migrationsbiographie: Bis zu seiner Einreise nach Deutschland arbeitet Sascha in Kasachstan bereits seit einem Jahr nach seiner abgeschlossenen Lehre als Elektrotechniker.60 In diesem Zeitraum heiratet er in Kasachstan seine Frau, die bereits seit 14 Jahren als (Spät-) Aussiedlerin in Deutschland lebt und beschließt gemeinsam mit ihr nach Deutschland zu kommen. Die Wahl zwischen Kasachstan und Deutschland fiel dem damals 18jährigen nicht leicht, denn er hinterlässt in Kasachstan seinen Vater und seinen Bruder. Er habe auf alles verzichtet und sei nach Deutschland gekommen. Auf der anderen Seite hatte Sascha keinerlei Informationen über sein Migrationsland und verließ sich lediglich auf die Aussagen seiner Frau: „Sie [die Frau] hat mir nur gesagt, da ist besser in Deutschland, ein besseres Leben. Ich habe gefragt womit ist besser. Sie sagte besser und das war´s. Und so bin ich gekommen und habe dieses bessere Leben gesehen. […] Ich hab schon im Flugzeug so ein komisches Gefühl gehabt, als ich diese ganzen roten Dächer in Deutschland gesehen hab […]“. (ID 18)
Zweifelhaft scheint aber auch, dass Saschas Frau genug Informationen über Deutschland hatte. Sascha ist empört darüber, dass seine Frau bei Behörden seine Religionszugehörigkeit als evangelisch angegeben habe, obwohl er orthodox sei. Daraufhin erklärt seine Frau, dass sie doch selbst nicht genug Informationen hatte und habe zwischen orthodox, evangelisch und katholisch nicht unterschieden können. Saschas Empörung über seine falsche Religionszugehörigkeit kann vor allem damit erklärt werden, dass er als An-
60 An dieser Stelle ist auf unterschiedliche Schul- und Bildungssysteme von GUS und Deutschland zu verweisen. Eine Lehre in der ehemaligen Sowjetunion bzw. in der heutigen GUS beginnt nach dem Abschluss der 8. Klasse einer mittleren Reife.
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gehörige der orthodoxen Kirche Kirchensteuer bezahlen müsse. Dies sei jedoch für seine Frau eine wichtige Voraussetzung, um von der Kirche finanzielle Hilfe zu bekommen.61 Über seine eigene Herkunft ist Sascha etwas verunsichert. In einem persönlichen Telefonat vor unserem Interview erzählt er mir, dass seine Vorfahren ethnische Deutsche sind. Auch sein Nachname klingt kaum kasachisch oder russisch, sondern deutsch. Doch im Interview spricht er nicht mehr über seine deutschen Vorfahren, sondern betont mehrmals, er sei Russe aus Kasachstan. Saschas Verunsicherung ist somit zu erklären, dass er sich mit Deutschen überhaupt nicht identifizieren kann. Sein autoritärer Erziehungsstil in der ehemaligen Sowjetunion habe ihm Respekt vor älteren Menschen gelehrt und er könne sich nicht mit der „respektlosen“ und „egoistischen“ Verhaltensweise der einheimischen Jugendlichen identifizieren: „[…] die Gesetzte in Deutschland, die haben die Jugendlichen so verwöhnt. Wenn der Vater dem Sohn einmal bestraft hat und einmal auf Hintern gehauen hat, das war´s, der Sohn kann ihn verklagen. Wir haben sowas nicht. Wir haben Respekt vor den Eltern. […] unsere Menschen erziehen ihre Kinder sowieso anders“. (ID 18)
Saschas berufliche Integration in Deutschland scheint ebenfalls gescheitert zu sein (vgl. Kapitel 5.4.2). Als gelernter Elektrotechniker ist Sascha zum Zeitpunkt unseres Interviews als Aushilfe in einem russischen Geschäfttätig, da sein Abschluss aus Kasachstan in Deutschland nicht anerkannt wurde. Er berichtet über die schlechten Arbeitsbedingungen und die schlechte Bezahlung seines heutigen Arbeitgebers. Vor allem glaubt Sascha, einen höheren Abschluss zu haben, als die Elektrotechniker in Deutschland und kann nicht verstehen, warum seine Kenntnisse in Deutschland nicht geschätzt werden. Dies erklärt die Tatsache, dass Sascha sich im gesamten Interview als „Studierter“ bezeichnet, obwohl er nur eine dreijährige Lehre abgeschlossen hat. „I: Sie denken, Sie haben einen höheren Abschluss als die Elektriker hier? P: Ja und wir waren auch hier an der Uni in der Bibliothek und haben ein paar Bücher ausgeliehen und in den Büchern, alles was über Elektronik geschrieben ist,
61 Welche finanzielle Hilfe die Familie von der Kirche bekommt und zu welchem Zweck wurde im Interview nicht erörtert.
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diese ganzen Diagramme etc. […] ich hab das in Kasachstan in der Schule gehabt. Und hier lernt man das an der Uni. […] I: Aber Sie können hier keine Arbeit finden? P: Ja, weil die meinen Abschluss nicht anerkennen können […] und es spielt für sie keine Rolle, ob meine Ausbildung besser ist oder nicht, sie haben mir gesagt ich soll eine Umschulung machen. I: Und Sie wollen nicht? P: Nein. Ich hab da drei Jahre studiert und jetzt soll ich auch noch hier studieren? Man muss alles noch mal neu machen!“(ID 18)
Für seine nicht gelungene berufliche Integration in Deutschland spielt aber auch ein weiterer Aspekt eine relevante Rolle: Sascha beherrscht zwar die deutsche Sprache, aber seine Sprachkenntnisse reichen nicht, um das Interview auf Deutsch zu führen.62 Dies ist eine Erklärung, warum Sascha auf dem deutschen Arbeitsmarkt Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche hat. Zum anderen belegt das Bild Saschas sozialer Netzwerke, die nach unserem Interview mit dem Interviewpartner und seiner Frau gemeinsam erhoben wurden, im Gegensatz zu allen von mir interviewten Personen eine eindeutige ethnische Homophilie, die für Saschas soziale Integration in Deutschland verantwortlich ist. Sascha besitzt keine einheimischen Kontakte (vgl. Netzwerkkarte ID 18):
62 Das Interview mit Sascha wird im Gegensatz zu den meisten (17 Interviewpartner) auf Russisch durchgeführt.
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Abbildung 26: Netzwerkkarte ID 18
Spätaussiedler
Einheimische Deutsche
Andere ethische. Gruppen
Analyse: Nicht eingekreist:
0
Kreis Deutschland:
43
Kreis Russland:
2
Kreis Kulturraum GUS:
17
In keinem Sektor :
0
Sektor Einheimische Deutsche:
4
Sektor Spätaussiedler:
36
Sektor andere ethnische Gruppen:
22
Total:
62
Dichte (mit Ego):
0,019
Quelle: Eigene Erhebung und Visualisierung
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Saschas mangelnde soziale, strukturelle und kulturelle Integration in Deutschland führen dazu, dass er im Laufe seines Aufenthaltes in Deutschland Rückkehrgedanken entwickelt. Doch das Hauptmotiv seines Rückkehrwunsches besteht nicht darin, sondern wie später in der Interviewanalyse deutlich wird, in Saschas Verlangen nach Freiheit, vor allem auf der beruflichen Ebene. Bereits am Anfang unseres Interviews thematisiert Sascha bei jeder Gelegenheit das Gesetzes- und Steuersystem in Deutschland, die eine berufliche Freiheit, die beispielsweise in Kasachstan oder Russland gewährleistet sei, automatisch einschränken. „Ich weiß es nicht, diese ganzen Steuern und Gesetze, diese ganzen Rahmen, in denen die Menschen leben, das alles...man kann nicht ein bisschen höher springen“. (ID 18)
Sascha ist während seines Aufenthaltes in Deutschland bereits einige Male in Kasachstan gewesen und hat dort durch seine Freunde die berufliche Freiheit kennengelernt. Saschas Assoziation mit dem Begriff beruflicher Freiheit ist nicht nur mit Gesetzen und Steuern zu verbinden, sondern vielmehr mit der individuellen Selbstrealisierung einer flexiblen Karriere. Saschas Streben nach beruflicher und individueller Freiheit ist vor allem in Zusammenhang mit der Freiheit der Wahl zwischen beruflichen Möglichkeiten zu erklären, die ihm gewährleisten neben seiner Ausbildung als Elektrotechniker auch andere Berufe auszuüben. Die Gestaltung einer solchen beruflichen Flexibilität ist für Sascha mittlerweile in Kasachstan durch die Zunahme der kasachischen Sprache und Kultur weniger attraktiv. Dagegen sei Russland durch seine vielfältigeren beruflichen Möglichkeiten für meinen Interviewpartner der richtige Rückkehrort: „Ich habe mit meinem Onkel [in Russland] gesprochen und er meinte, im schlimmsten Fall kann ich z.B. Bus fahren. Ich kann aber auch Motoren reparieren, es ist auch möglich als Elektriker zu arbeiten. Ich kann auch als LKW Fahrer arbeiten, vor allem habe ich den europäischen Führerschein und dann konnte ich auch ruhig mit europäischen Ländern arbeiten“. (ID 18)
Das in Deutschland gut funktionierende Sozialsystem liefert Sascha und seiner Frau allerdings den Anlass, über eine endgültige Rückkehr besser
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nachzudenken. Vor allem auf eine gute Medizinversorgung ist die Familie aufgrund der Erkrankung des jüngsten Sohnes angewiesen. Diese Versorgung sei aber weder in Kasachstan noch in Russland zu erwarten, zumindest nicht ohne Krankenversicherung und „viel Geld“. Folgenderweise beleuchtet Saschas Frau diese Situation: „Wenn man keine Versicherung hat und etwas passiert, geht man zum Arzt, aber es ist dann vielleicht zu spät, weil man kein Geld hat“.
Ein transnationaler Ansatz im Familienentwurf wird dadurch sichtbar, dass Saschas Frau durch eine Frage die Absicht äußert, in Russland mit einem deutschen Pass zu leben, d.h. die deutsche Staatsangehörigkeit zu behalten und sich im Idealfall die russische zusätzlich anzueignen und die Versicherungen in Deutschland (Krankenversicherung, Autoversicherung etc.) beizubehalten. Hier wird also auch sichtbar, dass Transnationalität angestrebt wird, um die Vorteile beider Länder zu nutzen. „[…] und wenn was ist, z.B. wenn unser Kind operiert werden soll, dass ich mit ihm direkt nach Deutschland fliege und hier die OP vornehme“.
In Bezug auf andere Rückkehrwillige äußert sich Saschas Frau später folgendermaßen: „Ich denke diese ganze Sicherheit in Deutschland hält sie hier fest. […] die meisten bleiben wegen den Lebensbedingungen in Deutschland lieber hier“.
Mit Blick auf Saschas Migrationsbiographie kann die Migration nach Deutschland für ihn als eine falsche Entscheidung festgestellt werden, die durch einen Kulturschock, Integrationsschwierigkeiten, Identifikationsprobleme sowie sprachliche Barrieren noch bis heute begleitet wird. Saschas stark ausgeprägter Rückkehrwunsch im Gegensatz zu anderen Interviewpartnern, die durch temporären Rückkehrmotive wie Austauschstudium, Praktika, transnationale Karriere, Suche nach der Herkunft/Identität gekennzeichnet sind, wird vor allem durch strukturelle Rahmenbedingungen des Herkunftskulturraumes (vgl. Schönhuth 2008a; vgl. Anhang 3) begründet. Diese strukturellen Rahmenbedingungen können für Sascha eine berufliche Freiheit im Herkunftsland durch für seine Wahrnehmung bessere gesetzliche Rahmenbedingungen realisieren, vor allem aus dem Hinter-
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grund seiner gescheiterten beruflichen Positionierung in Deutschland, die Sascha trotz seines Bildungserfolgs nicht verwirklichen konnte. Saschas Rückkehrentscheidung ist aber nicht nur von strukturellen Einflussfaktoren begleitet, sondern auch symbolische und individuell. – situative Aspekte lassen sich im Interviewkontext herauskristallisieren. Im Gegensatz zu seiner Frau, die keine Probleme mit der deutschen Bürokratie zu haben scheint, weil sie „alles so hinnimmt wie es ist“, bleibt Saschas Denk- und Zugehörigkeitsmuster stark im Herkunftskontext verankert. Er zeigt im Interview keinerlei Verständnis für die deutsche Gesetzeslage und keine Motivation für die Aneignung der Aufnahmekulturelemente. Ebenfalls wird von ihm keine Anpassung an die einheimische Gesellschaft angestrebt. Ob Sascha eine Annäherung an die einheimische Gesellschaft jemals versucht hat, bleibt aufgrund seines homogenen sozialen Kontexts zu bezweifeln. Vitali (ID 7): „Dort, irgendwo auf dem Land, kriege ich das, was ich mentalitätsmäßig brauche“… Das Interview mit Vitali ist in zweierlei Hinsicht interessant: zum einen aus methodischer Sicht und zum anderen aufgrund des starken temporären Rückkehrwunsches meines Interviewpartners, der in mehrfacher Hinsicht personelle Identifikationsprobleme und damit verbundene Integrationsschwierigkeiten in Deutschland zu verzeichnen hat. Bevor Vitalis temporäres Rückkehrmotiv ausführlich analysiert wird, soll der methodische Hintergrund dieses Interviews kurz erläutert werden. Mit Vitali wurden im Abstand von einem Jahr zwei Interviews per Skype durchgeführt.63 Das erste Interview mit ihm fand in der Phase seiner ersten temporären Rückkehrvorbereitung Mitte 2010 in Deutschland statt. Während des zweiten Interviews Mitte 2011 stand Vitali bereits kurz vor seiner geplanten Russlandreise. Ein Face-to-Face Interview wünschte sich mein Interviewpartner bereits vom Anfang an nicht, daher bot sich die Möglichkeit des Austausches per Skype als eine gute Alternative an. Das zweite Interview mit Vitali fand eher spontan statt. Nach unserem ersten Interview hatte ich aus forschungsstrategischer Sicht ein großes Interesse an Vitalis weiterer Rückkehrplanung und - realisierung. Für die weiteren Forschungsergebnisse hielt ich es für beson-
63 Ausführlicher zum Thema Interview per Skype vgl. Kapitel 4.2.2.
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ders wichtig zu beobachten, ob dieser starke Rückkehrwunsch, der zunächst für einen temporären Aufenthalt als „Test“ für weitere Aufenthalte geplant war, realisiert wurde. Daher versuchte ich noch mehrmals mit Vitali Kontakt aufzunehmen. Mein Interviewpartner „blockierte“ allerdings und signalisierte damit, dass er keinen weiteren Kontakt wünschte. Er schrieb mir aber, dass sein geplanter temporärer Aufenthalt in Russland aus zeitlichen Gründen noch nicht realisiert werden konnte. Vitali ist Mitinhaber einer kleinen Hotel-Gastronomie und betreibt dieses Geschäft schon seit Jahren gemeinsam mit seinen Eltern. Ein Jahr später, Mitte 2011, bekam ich zu meiner Überraschung von Vitali eine schriftliche Meldung per Skype. In dieser spontanen Situation kam es zu einem schriftlichen Interview64 zwischen Vitali und mir, dessen Inhalt in die Datenanalyse einbezogen wird, um an relevante Aspekte und weitere Hintergrundinformationen über sein Rückkehrmotiv zu gelangen. Vitali stammt aus Kasachstan und migrierte 1992 mit seinen Eltern (beide ethnische Deutsche aus Kasachstan) nach Deutschland. Im Alter von zehn Jahren hatte Vitali keine Entscheidungsbefugnisse über diese Migra– tion. Er betrachtete sich im weitesten Sinne des Wortes als „mitgenommen“, da seine Entscheidung in einem erwachsenen Alter anders ausfallen würde: „Ich war zehn. Die [die Eltern] haben es entschieden. Ich weiß nicht, wie ich entschieden hätte, wäre ich in einem anderen Alter gewesen. Wenn ich älter gewesen wäre, 24 oder 25…Das ist eine andere Entscheidung. Aber mit zehn […] Da habe ich mich nicht gefragt, ob ich bleiben würde oder gehen. Es war klar, dass die Familie zieht und wir ziehen alle mit. So ungefähr war das“. (ID 7)
Bereits in der Anfangsphase der Integration in Deutschland sind bei Vitali Schwierigkeiten zu beobachten. In der Schule macht er im Alter von elf Jahren seine ersten „Diskriminierungserfahrungen“, trotz seiner Bemühungen, mit gleichaltrigen Einheimischen Kontakte zu knüpfen. Vitalis gesamter Erzählkontext über die einheimischen Deutschen ist durch das betonte Personalpronomen „DIESE“ gekennzeichnet. So nennt er die einheimischen Deutschen „diese Einheimischen“, was auf eine Distanzierung zu der einheimischen Gruppe hindeutet. Diese Gruppe bleibt meinem Inter-
64 Das schriftliche Interview dauerte 45 Minuten.
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viewpartner nach seiner Wahrnehmung meistens verschlossen und er findet keinen Zugang zu ihr. Vitali bleibt mit anderen russisch-stämmigen Jugendlichen „unter sich“. Auch in seiner späteren Ausbildung und dem beruflichen Leben scheint mein Interviewpartner den Zugang zu der einheimischen Gesellschaft nicht gefunden zu haben. Er ist der „Fremde“ und genießt als „Russlanddeutscher“ keinesfalls das Privileg, schneller in die einheimische Gesellschaft aufgenommen und integriert zu werden, denn auch ein „Russlanddeutscher“ ist „genauso ein Fremder“ (ID 7) wie andere Migranten (vgl. Kapitel 5.5.2.1): „Ich glaube, vom Gefühl her waren wir trotzdem wie Fremde. […] Natürlich haben wir es vielleicht leichter gehabt, weil wir das europäische Aussehen haben. Ich weiß nicht, wie sich ein Schwarzer in Deutschland fühlt, der auch noch kein Deutsch spricht. Allerdings denke ich, dass wir genauso wie Fremde waren. […] Man hat uns schon angesehen, dass wir nicht von hier sind“. (ID 7)
In dieser Interviewpassage versucht mein Interviewpartner das „wir als Fremde“ (die Gruppe der Migranten, zu der auch (Spät-)Aussiedler zählen) der Gruppe der Einheimischen gegenüber zu stellen, von der alle Migranten als Fremde identifiziert werden. Dieses Gefühl, „ständig fremd zu sein und ständig daran erinnert zu werden“ (ID7), ist der Auslöser für den starken Rückkehrwunsch meines Interviewpartners: Vitali weist im Gesamtinterviewkontext personelle Identifikationsprobleme mit Bundesdeutschen aus: „[…] ich kann mich mit diesen Leuten einfach nicht identifizieren!“ (ID 7)
„Diese Leute“, also die einheimischen Deutschen, denken nach der Wahrnehmung meines Interviewpartners anders als er („Keine Flexibilität im Denken mehr und das Mainstream-Denken“ (ID 7)), die haben eine andere „Mentalität“ und andere Handlungsmuster, die mit seinen persönlichen Werten nicht übereinstimmen, insbesondere wenn es um Geschlechterverhältnisse geht. Das „starke“ Frauenbild und das „schwache“ Männerbild in Deutschland scheint in den Augen meines Interviewpartners das größte Identifikationsproblem mit der deutschen Kultur zu sein. „Ich sag mal, in Russland haben wir es so gehandhabt: ein Mann war ein Mann. Und eine Frau eine Frau. Eine Frau hat einen Rock getragen und ein Mann hat Hosen
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getragen. Und hier tragen ja fast alle Frauen nur noch Hosen! [lacht] Und die Frauen haben auch noch kurze Haare! Dann ist schon fast kaum erkennbar, ob es eine Frau oder ein Mann ist! Und das macht auch einfach einen Mann ich rede jetzt mal von der männlichen Seite macht einen Mann einfach ziemlich unzufrieden […]. In Deutschland hat die Frau meiner Meinung nach einfach viel zu […] Ich meine, die Frau ist viel zu stark geworden und der Mann hat nichts dagegen getan. Der deutsche Mann! […] in Deutschland ist eine Frau zu einem ‚Dasǥ geworden, weil einfach die Frau irgendwo das gleiche will wie der Mann […]“. (ID 7)
Daraufhin thematisiert Vitali die autoritäre Vaterrolle in seinem Elternhaus und die autoritäre sowjetische Erziehung, die ihn zu einem „Mann“ gemacht haben. Dies stellt aber in Deutschland ein Problem dar, vor allem wenn Frauenkontakte gesucht und gepflegt werden sollen. Die Tatsache, dass Vitali schon seit langem nicht in einer Partnerschaft lebt, kann auf seine Angst, das eigene „starke, autoritäre“ Männerbild in der Partnerschaft zu verlieren, zurückgeführt werden. Auch dies scheint ein wichtiges Motiv für Vitali zu sein, (temporär) nach Russland zurückzukehren und dort eine seinem Denkmuster zuträgliche Frau zu finden: „Ich kenne einfach Mädels, die in Russland sind. Ich war da schon im Urlaub vor zwei Jahren und ich habe in Moskau und in St. Petersburg ein bisschen zu tun gehabt. Sie sind so selbstbewusst, sind mit diesen hier nicht zu vergleichen. […] Da gibt's halt noch Grenzen! Ein Mann ist ein Mann und eine Frau ist eine Frau. Man behandelt eine Frau wie eine Frau, man respektiert sie, man geht mit ihr sehr höflich um, was hier nicht der Fall ist! Hier verschwimmt alles zu einem!“ (ID 7)
Während unseres zweiten Interviews 2011 sitzt Vitali sozusagen bereits „auf gepackten Koffern“ und hat sein Ticket nach Russland in der Hand. Der gesamte Interviewkontext deutet darauf hin, dass Vitals Unzufriedenheit innerhalb von einem Jahr stark gewachsen ist, vor allem aus beruflicher Perspektive betrachtet. So wie meine Interviewpartner Sascha (ID 18), dessen Rückkehrmotiv oben dargestellt wurde, kann sich Vitali beruflich nicht verwirklichen, weil aus seiner Sicht die berufliche Freiheit in Deutschland fehle: „Hier in Deutschland sind die Strukturen einfach schon so festgelegt, man wird fast wie in eine Kaste geboren, aus dieser kommt man nur sehr schwer raus“. (ID 7)
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Seine Argumentation, in Russland könne man schneller „ans große Geld“ kommen, weil dort viele Möglichkeiten bestünden, kann er allerdings nur realisieren, wenn er einen russischen Pass besitzt.65 Auf legalem Weg kann das durch das Ablegen der deutschen Staatsangehörigkeit geschehen. Den deutschen Pass abzugeben, kommt für meinen Interviewpartner aber nicht in Frage. Dadurch würde er die Option jederzeit visumfrei nach Deutschland zurückzukommen bzw. eigene Geschäftsideen gleichzeitig in zwei Ländern zu realisieren, verlieren. Der berufliche Aspekt spielt zwar in Vitalis gesamter Migrations- und Integrationsgeschichte eine wichtige Rolle, jedoch scheint die Sehnsucht nach einer personellen Identität, die seinem eigenen Denk- und Handlungsmuster entspricht, ein viel zu großes Motiv zu sein, weshalb Vitali die Option einer (temporären) Rückkehr nach Russland in Betracht gezogen hat. „Dort, irgendwo auf dem Land, kriege ich das, was ich mentalitätsmäßig brauche! Was mich so gestört hat an der deutschen Mentalität, glaube ich, dass ich dort [in Russland] praktisch das kriege“. (ID 7)
Vitalis Rückkehrgeschichte, wenn auch temporär, soll nicht aus einer „Verliererperspektive“ betrachtet werden, sondern kann gleichzeitig als Erfolgsstory und als return of innovation (vgl. Cassarino 2004) angesehen werden. Aus dieser Perspektive gesehen gehört Vitali zu denjenigen Transmigranten, die ihre in Deutschland gesammelten Erfahrungen wie die Sprachkompetenz und Arbeits-/Berufserfahrung im Herkunftskulturraum besser ausschöpfen als in Deutschland. Vor allem nach seiner gescheiterten Selbstständigkeit glaubt Vitali seine beruflichen Ziele in Russland durch eigene persönliche Kompetenzen besser realisieren zu können als dies bis jetzt in Deutschland geschah: „Deswegen denke ich schon, dass ich einen gewissen Geschäftssinn habe. Ich habe die ersten Sprachen Deutsch, Russisch und ein bisschen Englisch und wenn man das
65 Im Gegensatz zu russischen Staatsangehörigen gibt es in Russland für die ausländischen Staatsangehörigen laut meinem Interviewpartner sehr hohe Steuerabgaben.
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noch auffrischt. Und dass ich, wenn ich das richtig in Russland verkaufe, dass ich dort mehr gefragt bin als in Deutschland!“. (ID 7)
Vitalis Fallanalyse macht deutlich, dass auch hier neben den strukturellen Einflussfaktoren der Rückkehrentscheidung (bessere Aufstiegsmöglichkeiten im Herkunftskulturraum und bessere Bedingungen Geld zu verdienen) auch andere Faktoren für seinen temporären Rückkehrwunsch eine wichtige Rolle spielen: Vitalis Exklusionserfahrung als Fremder in Deutschland und daraus resultierende Gefühl seiner mangelnden Identifikation mit Deutschen, insbesondere vor dem Hintergrund des Genderaspekts stärken seinen Rückkehrwunsch (vgl. dazu auch Schönhuth 2008a: 13). Hinzu kommen seine mobilisierbaren ökonomischen und kulturellen Ressourcen (Sprache, berufliche Erfahrungen etc.), die einen besseren Start für die Reintegration in die Herkunftsgesellschaft ermöglichen. 5.6.2 Ausblick: Transnationale Lebensperspektive als soziokulturelles, ökonomisches und symbolisches Kapital? Die dargestellten Fallbeispiele zeigen, dass sich der Mehrebenansatz der Einflussfaktoren (vgl. Anhang 3) für die Beschreibung der temporären Rückkehrgründe der Interviewpartner sehr gut eignet, da dieses theoretische Modell alle Bereich der individuellen Einflussfaktoren der Rückkehrentscheidung beinhaltet. Die Motivanalyse zeigt, dass die deutsche Passnationalität und unter Umständen die doppelte Passnationalität günstige Bedingungen auch für junge (Spät-)Aussiedler schaffen, ihren Lebensmittelpunkt in jedes beliebige Land zu verlegen und ein Leben „Hier und Dort“ aufzubauen. Aufgrund der eigenen sozialen, kulturellen und personellen Kompetenzen wie Bikulturalität, Mehrsprachigkeit, berufliche Erfahrungen und akademische Kompetenzen wird der russische Kulturraum für zeitlich befristete Aufenthalte wie einem Austauschstudium (ID 1 und ID 4), aber auch für Innovatoren mit einem Geschäftssinn (ID 7) als Ziel gewählt. Insbesondere in Bezug auf die zirkulären Migrationsbewegungen von Studierenden betont Han (2010), dass diese im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft weiter zunehmen wird:
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„Zum einen stellen die Sprachkenntnisse (language skills) der Auslandsstudierenden eine der wichtigsten Grundqualifikationen für die Übernahme verantwortungsvoller Aufgaben in der globalisierten Wirtschaft dar. Zum anderen sind die kulturellen Erfahrungen, die Studierende im Ausland machen, wertvolle Ressourcen, die für den Ausbau von Handelsbeziehungen sinnvoll eingesetzt werden können. […] Ein Studienaufenthalt im Ausland wird somit zunehmend attraktiver, weil er die beruflichen Chancen erhöht“ (Han 2010: 108-109).
Die Motivanalyse zeigt, dass sich der Bezug zur eigenen Herkunft durch symbolische Einflussfaktoren wie Identität/Ethnizität (ID 2 und ID 11) verstärkt und sich durch ein zunehmendes Interesse an der Herkunftskultur (ID 5) äußert. Um diese Kultur noch näher kennenzulernen und die Herkunftswurzel aufrechtzuerhalten, machen sich die jungen (Spät-)Aussiedler auf den Weg nach Russland. Für meine Interviewpartner kommen zwar auch andere europäische Länder in Frage. Doch der Reiz an einer transnationalen Lebensperspektive zwischen Deutschland und Russland besteht darin, dass sie gerade den bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern ermöglicht, den eigenen kulturellen Hintergrund als ökonomisches, sozio-kulturelles und symbolisches Kapital in Russland einzusetzen. In einem solchen transnationalen Raum werden nicht nur transnationale Karriereziele verwirklicht, sondern auch neue (multiple) Zugehörigkeiten konstruiert und individuelle Beheimatungsstrategien entworfen und ausgelebt. Die transnationale Lebensstrategie der befragten jungen (Spät-) Aussiedler verstärkt sich insbesondere nach dem ersten temporären Aufenthalt und der positiven Reintegration im Herkunftskulturraum, wodurch weitere transnationalen Lebensprojekte und weitere temporären Aufenthalte für einen längeren Zeitraum (länger als sechs Monate) von Interviewpartnern befürwortet werden. Dabei sei für die befragten (Spät-)Aussiedler die wichtige Voraussetzung einer erneuten temporären Rückkehr die eigene berufliche Perspektive im transnationalen Kontext: „Also ich könnte mir vorstellen hier drei bis vier Jahre zu arbeiten, wenn ich einen guten Job habe […] und ich könnte mir auf jeden Fall vorstellen hier zu leben, aber als Deutscher mit einem deutschen Pass“. (ID 11)
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„Ich könnte mir vorstellen hier zu arbeiten. Ich hab auch mit Leuten gesprochen, die meinen, wenn du russisch kannst und auch weitere Fremdsprachen, bist du hier ganz gut aufgehoben“. (ID 9) „[…] aus der Berufsperspektive wäre Russland interessant für einen temporären Aufenthalt. Also komplett ist doch noch ein bisschen schwierig, aber temporär könnte ich mir das durchaus auch vorstellen“. (ID 3) „Wenn ich einen guten Job finden würde, im Kulturbereich oder verbunden mit Lehre und Forschung, könnte ich mir vorstellen ein halbes Jahr oder Jahr in Petersburg zu leben oder in Russland oder doch, ich könnte mir vorstellen zwei Jahre da zu leben. Vielleicht nicht unbedingt in Petersburg, aber schon in einer größeren Stadt“. (ID 2)
Die Transnationalität als erfolgreiche Lebensstrategie wird von den Interviewpartnern der Remigration im Sinne einer endgültigen Rückkehr vorgezogen, vor allem wegen der Aussicht auf ein „besseres und geregeltes Lebens“ in Deutschland, das in Russland aufgrund sozialer und politischer Infrastrukturen nicht zu gewährleisten ist. Auch die Beispiele von ID 18 und ID 7 zeigen, dass trotz eines starken Rückkehrwunsches für diese Interviewpartner die endgültige Rückkehr keine Alternative darstellt. Beide Interviewpartner versuchen durch die Beibehaltung ihrer deutschen Staatsbürgerschaft den Bezug zu Deutschland in jeder Hinsicht aufrechtzuerhalten, um den möglichen Rückweg nach Deutschland jederzeit wieder frei gestalten zu können. Die transnationale Lebensstrategie der Interviewpartner wird vor allem durch soziale Netzwerke gefördert. Und gerade deshalb wird dem Aufbau solcher Netzwerke im transnationalen Raum eine große Bedeutung beigemessen (vgl. Cassarino 2004). Dies soll im nächsten Kapitel gezeigt werden. 5.6.2.1 Die Rolle der soziale Netzwerke im transnationalen Migrationskontext In diesem Abschnitt soll anhand eines Netzwerkbildes (VennMaker) in Zusammenhang mit Transmigration, temporärer Rückkehr und transnationalem Lebensentwurf diskutiert werden, inwieweit transnationale Sozialräume über Grenzen hinweg für die Interviewpartner entstehen und welche
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Rolle die sozialen Netzwerke für die transnationalen Lebensentwürfe der befragten jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler spielen. Nach dem Grad der Häufigkeit, Dauerhaftigkeit und Bedeutung der transnationalen Austauschprozesse findet man bei Pries (2010) drei Ebenen der transnationalen Sachverhalte als Analyseeinheiten: transnationale Beziehungen, transnationale Netzwerke und transnationale Sozialräume (vgl. Pries 2010: 29). Im Gegensatz zu transnationalen Beziehungen66 sind transnationale Netzwerke mehr oder weniger verbindliche, grenzüberschreitende, intensive und dichte Interaktionsverhältnisse zwischen Akteuren einer oder mehreren Gruppen (z.B. Familienverbund), die durch eine gewisse Gruppenidentität gekennzeichnet sind (vgl. ebenda). Die Stärke und Bedeutungsrelevanz solcher transnationaler Netzwerke kann durch die Schaffung transnationaler Sozialräume begründet werden, „in denen die entsprechenden sozialen Praktiken, die Symbolsysteme und auch die Artefaktesysteme insgesamt eine so große Intensität entwickelt haben, dass sie zur hauptsächlichen sozial-räumlichen Bezugseinheit der alltäglichen Lebenswelt geworden sind“ (Pries 2010: 30). Eine solche Intensität der transnationalen sozialen Netzwerke kann bei den jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern beobachtet werden: die sozialen Netzwerke werden sowohl in Deutschland als auch im Kulturraum GUS „direkt“, „persönlich“ und „intensiv“ aufrechterhalten, unabhängig von der physischen Präsenz. Folgendes Beispiel soll dies näher erläutern:
66 Diese können nach Pries z.B. als Beziehungsaustausch oder regelmäßige Kontakte von Absolventen einer Uni oder einer Community bezeichnet werden, wo zwischen mehreren Akteuren der Gruppe ein eher sporadischer Austausch besteht. Die Dichte dieser Beziehungen ist gering (Pries 2010: 29f).
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Abbildung 27: Netzwerkkarte ID 267
Spätaussiedler Einheimische Deutsche
Andere ethnische Gruppen
Analyse: Nicht eingekreist:
1
Kreis Deutschland:
26
Kreis Russland:
3
Kreis Kulturraum GUS:
4
In keinem Sektor :
1
Sektor Einheimische Deutsche:
14
Sektor Spätaussiedler:
8
Sektor andere ethnische Gruppen:
11
Total:
34
Dichte (mit Ego):
0,044
Quelle: Eigene Erhebung und Visualisierung
67 Akteur 25 (Finnland).
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Das Schaubild stellt die sozialen Netzwerke eines Interviewpartners (ID 2) dar, der durch zirkuläre Migrationsbewegungen zwischen Deutschland und GUS seine sozialen Netzwerke nicht nur lokal, sondern auch translokal zwischen den beiden Kulturräumen gestaltet. Das soziale Netzwerkbild des Befragten (EGO in der Mitte) hebt somit die Transnationalität in seinem Lebensentwurf hervor, indem er seine Vernetzung zu verschiedenen Akteuren – gekennzeichnet durch kleine Kreise (Familie, Freunde, Verwandte, Organisationen etc.).– durch drei konzentrische Kreise innerhalb des Netzwerkes,68 die die räumliche Nähe der Netzwerkakteure zu Ego darstellen und drei Sektoren,69 die die ethnische Zugehörigkeit der Akteure bezeichnen, wiedergibt. Hervorzuheben sind insbesondere die Akteure, die Russland und Kasachstan zugeordnet sind. Diese Akteure spielen für den transnationalen Lebensentwurf meines Interviewpartners eine große Rolle, da sie seine temporären Aufenthalte im Herkunftskulturraum durch unterschiedliche Hilfeleistungen (Wohnungssuche, Visaangelegenheiten) unterstützen.70 So greift mein Interviewpartner beispielsweise während seines temporären Aufenthaltes in Russland oder Kasachstan auf finanzielle und emotionale Unterstützung seiner Großmutter zurück und hält engen Kontakt mit seiner Cousine in Kasachstan wegen gemeinsamer Interessen. Seine transnationalen Kontakte bestehen nicht nur aus verwandtschaftlichen Beziehungen in Kasachstan, sondern er pflegt auch gute Kontakte mit dem Freundeskreis seiner Eltern in Russland und durch seine transnationalen Karriereabsichten mit verschiedenen NGO´s und Organisationen in Russland, unter anderem auch mit Kultur- und Forschungseinrichtungen. Durch die rasante Entwicklung der Kommunikations- und Transporttechnologien kann er wie andere Transmigranten heute seine sozialen Netzwerke über die Grenzen hinweg so konstruieren, dass Zeit, Raum und physische Präsenz dabei kein zentrales Hindernis darstellen. Über Internet und verschiedene soziale Netzwerke (z.B. Skype und Facebook) „betritt“ er einen von den Netzwerkmitgliedern gemeinsam definierten transnationalen sozialen
68 Drei konzentrische Kreise: Deutschland, Russland, Kasachstan 69 Drei Sektoren: (Spät-)Aussiedler, ethnische Deutsche, andere ethnische Gruppen. 70 Die unterschiedlichen Unterstützungsarten sind durch Linien gekennzeichnet.
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Raum,71 in dem er mit allen Netzwerkmitgliedern (gleichzeitig) aktive Beziehungen pflegt und somit Inklusionen in zwei oder mehreren Gesellschaften schafft. Im Laufe der empirischen Erhebungen konnten solche Inklusionsmuster über Grenzen hinweg auf der Netzwerkebene bei der Mehrheit der Befragten beobachtet werden. Transnationalität wird aber nicht nur durch die Anzahl der transnationalen Kontakte ausgeprägt, sondern auch durch die Intensität und Häufigkeit der Vernetzung. Der Interviewpartner gibt an, mindestens einmal in der Woche per Internet (Skype und Facebook) seine sozialen Beziehungen über Grenzen hinweg zu pflegen. Daher kann hier von aktiven und starken sozialen Bindungen gesprochen werden, die wiederum eine Inklusion in die Herkunftsgesellschaft bedeutet. Da er mit einheimischen Kontakten stark vernetzt ist, kann von einer ethnischen Homophilie hier nicht die Rede sein.72 Von insgesamt 34 genannten Akteuren gehören acht Akteure zu der Gruppe der (Spät-)Aussiedler, zehn Akteure der anderen ethnischen Gruppe,73 darunter zwei institutionelle Kontakte (Organisationen). Weitere 16 Akteure fungieren in der Gruppe der einheimischen Deutschen, darunter drei institutionelle Kontakte (Organisationen und Institutionen). Die ethnischen Kontakte mit den anderen (Spät-)Aussiedlern beschränken sich auf Familienangehörige, Verwandte und zwei Freunde, während die fremdethnischen Kontakte mit einheimischen Deutschen und anderen ethnischen
71 Zu „transnationalen sozialen Räumen“ vgl. Pries (2001) und (2010). 72 Anhand der sozialen Netzwerke kann auch die soziale Integration von Migranten bemessen werden. So kann das Muster der Freundschaftsbeziehungen (z.B. Beziehungen zu einheimischen Deutschen) oder das Muster der Partnerwahl, aber auch das Muster der Mitgliedschaften in Vereinen und Organisationen ein Indikator für die soziale Integration sein. Esser (2001) definiert die Rolle der sozialen Netzwerke bei der sozialen Integration durch den Grad der ethnischer Homogenität und weist darauf hin, dass je ethnisch homogener die Netzwerke, desto niedriger die soziale Integration und umgekehrt, ein geringer Grad an ethnischen Homogenität der Netzwerkbeziehungen verweist auf ein höheres Maß der sozialen Integration (vgl. Haug 2010). 73 In diesem Beispiel wird die andere ethnische Gruppe von russischstämmigen Personen zusammengesetzt.
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Gruppen auf Freunde, Partner, Arbeitskollegen, Kommilitonen, Organisationen und Institutionen hinweisen. Dieses transnationale Beziehungsgeflecht kann für meinen Interviewpartner im Sinne von Bourdieu (1983) als Sozialkapital angesehen werden,74 was eine wichtige Voraussetzung für seinen transnationalen Lebensentwurf darstellt. In Bezug auf Transnationalität und Sozialkapital geht Dahinden (2010) davon aus, dass gerade im transnationalen Raum Sozialkapital katapultiert und die Nutzung des Sozialkapitals vonseiten der Migranten postuliert wird (vgl. Dahinden 2010: 397). Somit erhöhen transnationale Beziehungen die Migrationsbewegungen (vgl. ebenda). Vor dem Hintergrund des oben dargestellten Beispiels kann diese Annahme ebenfalls bestätigt werden: nicht nur die Anzahl transnationaler Kontakte von meinem Interviewpartner spielen bei seinem transnationalen Lebensentwurf eine wichtige Rolle, sondern gerade die Ressourcen der Kontaktpersonen, die meinem Interviewpartner bei jeder grenzüberschreitenden Mobilität zur Verfügung stehen, wie beispielsweise emotionale und ökonomische Hilfeleistungen von Verwandten in Russland und Kasachstan. Durch die Unterstützung der Netzwerke kann sich mein Inteviewpartner einerseits schneller im temporären Rückkehrland reintegrieren und positionieren. Andererseits kann er durch seine Mitgliedschaft in diesem transnationalen Beziehungsgeflecht Anerkennung erfahren, so dass er nicht als Fremder oder Tourist wahrgenommen wird. Darüber hinaus kann er jederzeit auf transnationale Ressourcen zurückgreifen, beispielsweise durch seine Mitgliedschaft in den genannten Forschungsinstitutionen etc., um seine transnationalen beruflichen Perspektiven zu verbessern bzw. zu fördern. In diesem Sinne wird durch Sozialkapital die transnationale Perspektive ins Zentrum gerückt.
74 Im Sinne Bourdieus kann Sozialkapital die Gesamtheit von den aktuellen und potenziellen Ressourcen bezeichnet werden, die mit der Teilhabe am sozialen Netzwerk von mehr oder weniger Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind (vgl. Bourdieu 1983: 190). Vgl. dazu auch Haug und Pointner 2007.
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5.7 ABLEITUNG VON
TRANSNATIONALEN
T YPEN
In diesem Abschnitt wird versucht anhand von transnationalen Biographien und Lebensentwürfen der Interviewpartner Typen bildungserfolgreicher Transmigranten zu bilden. Die Konfiguration dient lediglich zum Exkurs für ein besseres Verständnis transnationaler Perspektiven und ist im strengen Sinne nicht repräsentativ für alle bildungserfolgreichen Transmigranten. Im theoretischen Teil dieser Arbeit wurden bereits Idealtypen von Migranten (vgl. Pries und Dahinden) vorgestellt, die nach ihren sozialen Netzwerk- und Identitätsstrukturen sowie der Häufigkeit ihrer Migrationsbewegungen unterschieden werden (vgl. Kapitel 2). Diese theoretischen Erklärungsansätze sollen im Folgenden für eine Konfiguration transnationaler Typen weitere Impulse geben. Für die Ableitung transnationaler Typen in diesem Exkurs sollen vier Kriterien herangezogen werden, die besonders wichtig für den transnationalen Lebensentwurf der befragten Interviewpartner zu sein scheinen: a) Migrationsbewegungen und deren Häufigkeit zwischen Herkunfts- und Aufnahmekulturraum, die Aussagen über den Grad der Transnationalität der befragten jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler zulassen. b) Soziale Netzwerke, die, wie oben dargestellt, einen wichtigen, untestützenden Beitrag zur transnationalen Perspektive leisten und somit Transnationalität erhöhen und fördern können (vgl. dazu auch Cassarino 2004; Schönhuth 2008; Haug 2010). c) Die im Zuge der Identifikationsprozesse entstandenen Identitätsentwürfe und Positionierungen zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft. Denn Transmigranten unterschieden sich von Migranten nicht nur durch Vervielfältigung und Aufrechterhaltung der sozialen Beziehungen zu ihren Herkunftsgesellschaften, sondern etablieren neue Zugehörigkeiten und Identitäten im transnationalen Sozialraum (vgl. Strasser 2009: 75). d) Das Verhältnis zur Heimat bzw. die Strategie der Beheimatung zwischen Herkunfts- und Aufnahmekulturraum. Pries (2007) hebt hervor, dass Transmigranten im Gegensatz zu Emigranten, Rückkehrmigranten und Diasporamigranten ein sehr ambivalentes Verhältnis zu ihrer Her-
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kunfts- sowie Ankunftsregion haben (vgl. Pries 2007: 34). Die Beheimatungsstrategie kann gerade in diesem Kontext ein aktives strategisches Handeln eines Transmigranten sein, um sich zwischen Herkunftsund Ankunftsregion bewusst zu positionieren. Diese Kriterien lassen drei transnationale Konfigurationstypen zu, die sich im Wesentlichen durch ihre transnationalen Lebensentwürfe und damit verbundenen Zugehörigkeitsmuster unterschieden. 5.7.1 Typ 1: Der mobile Bildungserfolgreiche Der erste Typus, dem sich die meisten Interviewpartner zuordnen lassen, könnte als mobiler bildungserfolgreicher Transmigrant bezeichnet werden. Damit entspricht dieser Typus Dahindens (2010) vierter Typbezeichnung der hochqualifizierten transnationalen Mobilen, die sich durch hohe Mobilität und hohes Bildungskapital auszeichnen (vgl. Dahinden 2010: 412). Pries’ (2007) Typisierung des klassischen Transmigranten scheint in diesem Kontext ebenfalls anschlussfähig zu sein, wenn es um die Häufigkeit der transnationalen Migrationsbewegungen und Identitätskonstruktionen dieses Typus geht. Der mobile Bildungserfolgreiche wechselt häufig seinen Lebensmittelpunkt zwischen Herkunfts- und Aufnahmekulturraum (hier: zwischen GUS und Deutschland). Seine Identitätskonstruktion ist eine Mischung aus beiden kulturellen Kontexten, denn er versucht beide Länder durch Transnationalität mit einer Brücke zu verbinden, ohne das eine oder das andere zu bevorzugen. Er ist aber auch imstande, neue Zugehörigkeiten im transnationalen Raum zu bilden, die sich weder der Herkunfts- noch der Aufnahmegesellschaft zuordnen lassen, sondern als eine übergeordnete Einheit fungieren wie beispielsweise europäische bzw. weltbürgerliche Identitäten (vgl. Kapitel 5.5.3.1, Fallbeispiele ID 1 und 2). Damit positioniert sich dieses Typus jenseits aller ethnisch- nationalen Grenzen. Der mobile Bildungserfolgreiche hat zu beiden Ländern ein ambivalentes Verhältnis, was sich wiederum in seiner Wahrnehmung zur Heimat widerspiegelt. Dieser Typus strebt nicht nach einer bestimmten Heimat, sondern versucht sowohl in der Herkunfts- als auch in der Aufnahmegesellschaft seinen Platz zu finden (vgl. z.B. Lebensentwürfe von ID 4 und ID 1) und entwickelt damit im Laufe seines transnationalen Lebensentwurfes un-
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terschiedliche Beheimatungsstrategien, die aber temporärer Natur sind. Eine dauerhafte Heimat existiert bei diesem Typus nicht, denn er lebt „Hier“, „Dort“ und „Dazwischen“. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum des mobilen bildungserfolgreichen Transmigranten sind seine stark ausgeprägten grenzüberschreitenden Netzwerke, wobei diese nicht nur zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland angelegt sind, sondern sie erstrecken sich auch in weitere Ländern und sogar andere Kontinente, z.B. in die USA, Kanada usw. (vgl. dazu z.B. Netzwerkkarte ID 1). Im Herkunftsland bzw. Herkunftskulturraum (GUS) bestehen die sozialen Beziehungen der befragten mobilen bildungserfolgreichen Transmigranten nicht nur aus Familienangehörigen, sondern auch aus Studien- und Arbeitskollegen bzw. karrierefördernden Kontakten (Institutionen/Organisationen). Da diese aber einen zweckgebundenen Charakter für den mobilen Bildungserfolgreichen haben, d.h. sie werden von ihm nur je nach Situation für bestimmte Karrierezwecke herangezogen, sind diese Kontakte oft sporadisch im Gegensatz zu den eher dauerhaft angelegten verwandtschaftlichen Kontakten oder zum Freundeskreis im Herkunftskulturraum. Die temporären Rückkehrmotive in den Herkunftskulturraum von diesem Typus sind hauptsächlich ausbildungs- und karrierebedingt: der mobile Bildungserfolgreiche versucht durch sein häufiges Hin- und Herpendeln seine transnationalen Karrierechancen zu erhöhen, durch seine soziokulturellen Ressourcen Potenziale des Herkunfts- und Aufnahmelandes auszuschöpfen, durch seine befristeten Aufenthalte (z.B. durch Praktika oder Auslandssemester) in der Herkunftsgesellschaft Zugang zum Arbeitsmarkt (z.B. deutsche Unternehmen, die in Russland ansässig sind, internationale Organisationen etc.) zu schaffen (vgl. dazu Kapitel 5.6.1.3). Weitere temporäre Besuche der Verwandten oder Freunde bringen vor allem den Vorteil, dass der mobile Bildungserfolgreiche sein Landes- bzw. Regionalwissen weiterhin erweitert und fördert. Sein transnationales Karriereziel im Herkunftskulturraum ist allerdings nicht auf Dauer angelegt, d.h. der mobile bildungserfolgreiche Transmigrant bezweckt durch seine temporären Aufenthalte keine spätere dauerhafte Niederlassung im Herkunftsland.
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Auch sein geplantes Beruf- bzw. Karriereziel im Herkunftskulturraum ist befristet.75 5.7.2 Typ 2: Der transnationale „Herkunftssucher“ Ein weiterer Typus, den wir als transnationalen „Herkunftssucher“ bezeichnen könnten, zeichnet sich vor allem durch seine starke emotionale Verbundenheit mit der Herkunftsgesellschaft und Herkunftskultur aus. Wichtige Kriterien zur Bezeichnung dieses transnationalen Typus sind seine Heimatwahrnehmungen und seine identitäre Positionierung zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland. Die Identität dieses Typus ist einer starken emotionalen Ambivalenz ausgesetzt. Die befragten Interviewpartner, die sich diesem Typus zuordnen lassen (vgl. ID 2; ID 5; ID 11) bezeichnen sich selbst zwar je nach Situation als Hybride, als Mischung. Ihre Identitätsambivalenz ist jedoch manchmal so stark, dass sie den Eindruck erwecken zwischen Herkunft- und Aufnahmegesellschaft zerrissen zu sein. Dieser Typus ist aber auch wie der mobile Bildungserfolgreiche imstande im Laufe seines transnationalen Lebensentwurfes seine emotional stark ambivalente Zugehörigkeit neu zu formieren, gerade um solche Identitätskrisen durch Mehrfachzugehörigkeiten zu bewältigen. Das Verhältnis zur Heimat bei diesem Typus ist ebenfalls stark ambivalent. Wie bei dem mobilen Bildungserfolgreichen wird auch hier Heimat keinesfalls mit einem geographischen Ort in Verbindung gebracht. Während der mobile Bildungserfolgreiche versucht, durch seine temporären Aufenthalte in beiden Gesellschaften verankert zu bleiben, schafft der transnationale Herkunftssucher sich einen bestimmten Ort für die eigene Heimatwahrnehmung. Das kann z.B. ein „Zuhause“, ein Haus, wo die Fa-
75 Dies kann durch empirische Ergebnisse allerdings nicht belegt werden, da die befragten Interviewpartner zum Zeitpunkt der Interviews noch in der Planungsphase ihrer transnationalen Karriereziele waren. Laut der Aussagen der Interviewpartner kann aber vermutet werden, dass sie ihre Karriereziele in Russland bzw. in der GUS nur für einen befristeten Zeitraum von ein bis fünf Jahren vorsehen. Unter guten Voraussetzungen und Arbeitsbedingungen im temporären Aufenthaltsland ist aber auch eine dauerhafte Niederlassung nicht auszuschließen.
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milie zusammen wohnt, ein Ort der sozialen Beziehungen oder eine bestimmte Stadt/bestimmtes Dorf sein. Mit dem analytischen Begriff Heimat hat dies keine direkte Verbindung, sondern eine solche Heimatwahrnehmung beschränkt sich lediglich auf die enge Umgebung der Person. Die Umgebung kann aber häufig wechseln und der transnationale Herkunftssucher ist imstande sich neue Orte als neue Heimat(en) anzueignen. Die soziale Netzwerkstruktur dieses Typus variiert zwischen wenig bis stark transnational angelegte soziale Kontakte. Während beispielsweise beim ID 2 ein starkes transnationales Beziehungsgeflecht bestehend aus Familien, Verwandten und institutionellen Kontakten zu beobachten ist (vgl. Kapitel 5.6.2.1), können bei ID 5 und ID 11 nur mittelstarke transnationale Beziehungen verzeichnet werden (vgl. Netzwerkkarten). Ein weiteres Merkmal des transnationalen Herkunftssuchers sind seine temporären Motive in den Herkunftskulturraum. Im Gegensatz zu dem mobilen Bildungserfolgreichen, für den der Karriereaspekt in den Vordergrund seiner transnationalen Migrationsbewegungen rückt, ist die temporäre Rückkehr des Herkunftssuchers vor allem durch den symbolischen Aspekt seiner Identitäts- und Herkunftsambivalenz motiviert (vgl. Kapitel 5.6.1.1). Durch seine temporären Aufenthalte entdeckt er zwar auch die Potenziale auf den Berufs- und Karriereeben in der Herkunftsgesellschaft, diese bilden aber nicht den Mittelpunkt seines transnationalen Lebensentwurfes. Die Transnationalität dient hier vor allem zur Suche und Bewahrung der kulturellen Wurzeln, der Herkunftszugehörigkeit, zum besseren Verständnis der Selbstzuschreibung und des eigenen Selbstbildes (z.B. ID 2, ID 5, ID 11). 5.7.3 Typ 3: Der transnationale Aufsteiger Ein dritter Typus, der konfiguriert werden konnte, entspricht dem des transnationalen Aufsteigers. Der transnationale Lebensentwurf dieses Typus kann sowohl von positiven als auch von negativen Migrations- und Integrationsfaktoren abhängig sein. Vor allem der berufliche Integrationsaspekt ist für die transnationale Perspektive dieses Typus ausschlaggebend. Auf theoretischer Ebene kann für diesen Typus der Erklärungsansatz von Cassarino (2004) herangezogen werden. Bei der Beschreibung einer return of innovation (vgl. Cassarino 2004: 257) geht Cassarino davon aus, dass Migranten zurückkehren, weil sie bessere Aufstiegsmöglichkeiten im Herkunftsland in Betracht ziehen. Zwar geht Cassarino von einer Remigra-
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tionsperspektive aus, jedoch trifft dieser Erklärungsansatz auch auf eine transnationale Perspektive zu. Der transnationale Aufsteiger kehrt für einen befristeten Zeitraum in den Herkunftskulturraum zurück, hauptsächlich in die größeren Urbangebiete, um einen beruflichen Aufstieg zu erzielen, weil sich die strukturellen Rahmenbedingungen im Herkunftsland für diesen Aufstieg als günstig erweisen (vgl. Anhang 3). Insbesondere trifft dieses transnationale Muster auf Personen zu, deren berufliche Integration sich in der Aufnahmegesellschaft schwierig gestaltet hat (vgl. Kapitel 5.6.1.3). Die Gründe dafür können unterschiedlich ausfallen: bei Sascha (ID 18) ist das seine Ausbildung, die in Deutschland nicht anerkannt wird, bei Vitali (ID 7) seine gescheiterte Selbstständigkeit. Der berufliche Aufstieg wird zusätzlich durch in Deutschland erworbenes ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital (individuelle und soziale Ressourcen) ermöglicht. Solche Kapitalarten können beispielsweise die bereits erworbenen fachlichen Kenntnisse, Mehrsprachigkeit, berufliche Praxen etc. sein, die im Herkunftsland von Unternehmen als interkulturelle Kompetenz angesehen wird und die Chancen eines transnationalen Aufsteigers auf höhere Karrierepositionen verbessern. Oft fehlt bei diesem Typus eine Identifikation mit dem lokalen Wertesystem und mit der Aufnahmegesellschaft. Sein gesamter Lebensentwurf ist durch die Herkunftskultur motiviert, was die Integration – sowohl die soziale als auch die berufliche - im Aufnahmeland zusätzlich erschwert. Dagegen erleichtert es aber die Reintegration im temporären „Rückkehrland“, denn er kennt sich bereits mit dem dort vorherrschenden Wertesystem aus. Ein weiterer Aspekt für die Beschreibung des transnationalen Aufsteigers sind soziale Netzwerkstrukturen. In der Aufnahme- als auch in der Herkunftsgesellschaft beschränken sie sich auf eigenethnische Kontakte (ethnische Homophilie). Für den transnationalen Aufsteiger spielen diese Kontakte gerade im Herkunftsland eine große Rolle, weil diese seinen beruflichen Aufstieg mit verschiedenen Hilfeleistungen unterstützen. Zusammenfassend sollen die drei transnationalen Typen anhand von vier Kriterien-Transnationalität, soziale Netzwerkstrukturen, Identität und Beheimatungsstrategien zwischen Herkunfts- und Aufnahmeraum tabellarisch als Übersicht dargestellt werden:
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Tabelle 2: Übersicht transnationaler Typen
Dimension
Transnationali-
Soziale
Identitäts
Verhältnis zur
tät/Motiv
Netzwerke
entwurf
Heimat
Typ 1: Mobile
sozio-kulturell
stark ausge-
Multiple
Multilokale
Bildungs–
orientiert
prägt
Identitäten
Heimat(en),
erfolgreiche
(Karriere)
(Herkunfts-
multiple
/Aufnahme–
Inklusion
raum)
(Beheimatung
Typ
Herkunfts/Aufnahme– gesellschaft) Typ 2: Trans.
symbolisch-
ausgeprägt
multiple
kein Bedürfnis
„Herkunfts
emotional
(Herkunfts-
Identitäten
nach Heimat
sucher“
orientiert
/Aufnahme–
(Beheimatung
(Identität)
raum)
in
sozio-
kulturellen Räumen; Zuhause, Erinnerungsraum etc.) Typ 3: Trans.
ökonomisch-
ethnische
Starke Identi-
Ambivalenz
Aufsteiger
strukturell
Homophilie
fizierung
(keine
mit
orientiert
Herkunfts
eindeutige
(berufliche
kultur
Verortung)
Chancen)
Quelle: eigene Darstellung
6. Schlussbetrachtungen: Diskussion der empirischen Befunde und abschließende Thesen
Die empirischen Ergebnisse bezüglich der transnationalen Lebensentwürfe von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern legen zwei wichtige Erkenntnisse nahe: Erstens lassen sich viele Parallelen zwischen transnationalen Lebensentwürfen sowie multiplen Identitätsmustern der Untersuchungsgruppe und anderen bildungserfolgreichen Transmigrantengruppen ziehen.1 Der Status der besonderen Migrantengruppe wird dadurch zwar nicht unwichtig: er gewährleistet von Anfang an eine rechtliche Inklusion, etwa durch die deutsche Passnationalität in die Aufnahmegesellschaft, was bei anderen jungen Migrantengruppen (Generation 1.5) nur unter bestimmten Bedingungen (z.B. Einbürgerung) der Fall ist. Dieses Privileg kann jedoch auch bei der besonderen Migrantengruppe die Zuschreibung als Fremde und Andere und dadurch erzeigten Exklusionssemantiken nicht vollständig aufheben. Die zweite Erkenntnis legt die Annahme nahe, dass durch die Globalisierung und Mobilität der Begriff der Identität und der Heimat nicht mehr starre, für immer gesetzte Strukturen, sondern flexible und kreative „Projekte“ sind, die sich prozesshaft im Rahmen unterschiedlicher Identifikationsprozesse entwickeln. Die individuellen Strategien und Verhaltensweisen im Umgang mit multiplen Identitäten verlangen jedoch von den beteiligten
1
Vgl. dazu etwa die Immigrantenjugendlichen von Badawia 2002; von Micheril 2003; deutsch-türkische Akademiker von Sievers et al. 2010, nordafrikanische Studierende in Deutschland von Aits 2008.
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Personen bestimmte sozio-kulturelle Kompetenzen und setzten bestimmte Ressourcen voraus. Daher ist an dieser Stelle noch einmal anzumerken, dass es sich bei der Untersuchungsgruppe um bildungserfolgreiche Transmigranten handelt, die sich durch geeignete Kompetenzen, Mehrsprachigkeit und vor allem ihr Bildungskapital gleichzeitig in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften bewegen können.2 Durch theoretische und empirische Hervorhebung der Transnationalität und des Transnationalismusansatzes sollte nicht der Eindruck erweckt werden, als könnten durch die Transnationalisierung die klassischen Migrationsformen und die dauerhafte Inklusion in der Aufnahmegesellschaft überflüssig werden. Wie aber Sievers et al. (2010) zu Recht feststellen, „müssen sie um die Analyse der transnationalen Sozialräume und des neuen Wanderungstyps der Transmigration ergänzt werden“ (Sievers et al. 2010: 141). Deutlich wird dennoch, dass gerade für die Untersuchungsgruppe Transnationalität zu einer neuen Lebensperspektive und zugleich als Bereicherung für den eigenen Lebensentwurf geworden ist. Es wurde gezeigt, dass die transnationale Perspektive das Risiko durch Migration reduziert und den jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern ermöglicht, die Potenziale der Bildung, Karriere, Selbstverwirklichung und Selbstfindung durch Involviertheit in zwei oder mehreren kulturellen Kontexten besser zu nutzen. Dabei streben die befragten (Spät-)Aussiedler mit Strassers (2009) Worten ausgedrückt „weder nach Assimilation noch nach sozialer und kultureller Grenzziehung, sondern leben soziale Beziehungen über nationale Grenzen hinweg, wodurch sie mindestens zwei Gesellschaften in ein soziales Feld zusammenzuführen“ (Strasser 2009: 74). Dies ermöglicht die Gestaltung transnationaler Lebensprojekte, die über eine Remigrationsdebatte (vgl. z.B. Currle 2006) hinausgehen: Rückkehr wird nicht als einzige Option für die Verbindung mit dem Herkunftskulturraum gesehen.
2
An dieser Stelle ist anzumerken, dass sich nicht alle jungen (Spät-)Aussiedler als Transmigranten definieren lassen. Denn gerade diejenigen (Spät-)Aussiedler, die in den früheren Einwanderungswellen nach Deutschland migriert sind, haben jegliche sozialen Kontakte zum Herkunftsland bzw. Herkunftskulturraum abgebrochen und eine Assimilation in der neuen deutschen Gesellschaft angestrebt (vgl. dazu Kaiser 2006: 31).
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In Anlehnung an Pries (vgl. Pries 2010: 59-62) lässt sich der Lebensentwurf der befragten jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler zwischen Herkunfts- und Aufnahmeraum als typisch für das Verhalten moderner Transmigranten bezeichnen: die sozialen Netzwerke werden sowohl in Deutschland als auch im Kulturraum GUS direkt, persönlich und intensiv aufrechterhalten, unabhängig von der physischen Präsenz (vgl. Kapitel 5.6.2.1). Das geschieht etwa über Kommunikationsprozesse, welche bei geographischer Distanz soziale Nähe signalisieren können (Faist 2000:15). So „treffen“ sich die Interviewpartner täglich mit ihren Freunden und Verwandten bei Skype oder Facebook zu intensiven Gesprächen über Familienereignisse, Politik, Wirtschaft u. a. Auf diese Weise schaffen sie eine räumliche Inklusion, die auf Dauer angelegt wird und sich über verschiedene Nationalgesellschaften hinweg aufspalten kann (vgl. Pries 2001: 41). Durch die Überbrückung der räumlichen Distanz gelingt den Interviewpartnern, über große Entfernungen hinweg an Gesellschaften teilzuhaben, ohne eine innere Zerrissenheit oder Wurzellosigkeit zu erleben (vgl. ebenda: 16). Dies hängt oft damit zusammen, dass sie Bildung und Sprache als Ressource für die Verbindung beider Länder produktiv nutzen und im besten Fall nationalgesellschaftliche und kulturelle Wertevorstellungen beider Länder gleichermaßen aufrechterhalten können. Die Interviewpartner leben insofern nicht „Zwischen-den-Kulturen“, sondern streben im Gegenteil gerade die Aufrechterhaltung unterschiedlicher Kulturen an. Diese neue soziale Wirklichkeit ermöglicht den bildungs-erfolgreichen (Spät-) Aussiedlern sich sowohl Hier als auch Dort „zu Hause“ zu fühlen und das zwischen den Welten zu leben und zu pendeln als strategisches Handeln zu erleben. Die Entscheidung für einen transnationalen Lebensstil geschieht bewusst, da gerade diese Gruppe der (Spät-)Aussiedler – jung und bildungserfolgreich – über die mehrfach betonten wichtigsten Ressourcen verfügt, die einen transnationalen Lebensstil zusätzlich fördern. Für die temporären Rückkehrmotive in den Herkunftskulturraum bildet die Motivanalyse in Anlehnung an Schönhuths (2008) Mehrebenenansatz der Einflussfaktoren für Rückkehrmigration unterschiedliche Typen: zum einen geht es um symbolische (emotionale) Gründe der temporären Rückkehr, die vor allem Fragen der in Migrationsprozessen mehrfach wechselnden Identitätszuschreibungen und Konstruktionen sowie Beheimatungsstrategien (Erinnerungen) in Vordergrund der Diskussion rücken (vgl. Schön-
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huth 2008a: 14; vgl. Kapitel 5.6.1.1). Hier spielt die Suche nach der Identität und Herkunft, nach kulturellen Wurzeln eine zentrale Rolle. Zum zweiten geht es um individuelle und soziale Einflussfaktoren (ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital), wobei die transnationale Karriere- und Berufsperspektive über die nationalen Grenzen hinweg einen Teil der Interviewpartner zur temporären Rückkehr bewegt. Gerade diese Gruppe neigt zu häufigem Pendeln zwischen Russland und Deutschland. Zum dritten geht es aber auch um strukturelle Einflussfaktoren (makropolitische/makroökonomische etc.), die günstige Bedingungen für die temporäre Rückkehr der Interviewpartner verschaffen. Wie aber bereits im Kapitel 5.6.1 betont, bedingen und ergänzen die genannten Einflussfaktoren sich gegenseitig und sollten deshalb nicht als getrennte Kategorien angenommen werden, sondern als ein komplexes Geflecht unterschiedlicher persönlichen Beweggründe. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die temporäre Rückkehr von den Interviewpartnern als ein erneuter Migrationsprozess angesichts sozialer und kultureller Wahrnehmung und Reintegration erlebt wird: insbesondere diejenigen Befragten, die zum ersten Mal nach langem Aufenthalt in Deutschland „zurückkehren“, berichten von einem Kulturschock und Schwierigkeiten bei der Reintegration. Die ersten Konfrontationen mit dem Herkunftsland, der Herkunftsgesellschaft und Herkunftskultur bringen eine Migrationssituation hervor, die ähnlich wie die Migration nach Deutschland beschreiben wird: „Ich bin im Flughafen zuerst rausgegangen, habe mir das angeschaut, habe eine Zigarette geraucht, dann habe ich ein Taxi genommen und alles auf Russisch, alles ist ungewöhnlich, die Häuser und Leute, alles ist anders. Das war ungefähr so wie ich damals nach Deutschland gegangen bin. Ein Kulturschock. Du wirst ins kalte Wasser geworfen […]“. (ID 11)
Deutlich wird allerdings, dass die Reintegration der Interviewpartner im Herkunftskulturraum weniger problematisch erlebt wird als im Falle einer endgültigen Remigration, da der Anpassungsdruck bei einer temporären Rückkehr nicht so hoch zu sein scheint und die Reintegration lediglich aus der Perspektive eines temporären Aufenthaltes stattfinden soll. Die temporäre Rückkehr kann auch in diesem Kontext als „Erfahrungsschatz“ für die befragten jungen (Spät-)Aussiedler betrachtet werden, weil
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diese den differenzierten Blick auf weitere Identifikationsprozesse eröffnet und ggf. eine (erneute) Selbstfindung ermöglicht, wie dies zum Beispiel in dieser Interviewpassage deutlich wird: I: Hattest du ein bisschen Heimatgefühle? P: Ich weiß es nicht, ob das Heimatgefühle waren, aber ich wusste, ich war vier und ich weiß ganz wenig. Ich wusste noch ungefähr wie unser Haus und unsere Straße aussehen und als ich das dann gesehen habe, dann war mir irgendwie klar, das gehört zu deinem Leben. Und das war vorher wie so ein Traum, weil der schon so eine ganz alte Erinnerung ist und es war gar nicht Realität. Und als ich auf einmal da war, dann wusste ich auf einmal, hier komme ich her […] es ist mein Ursprung“. (ID 6)
Als wichtiger Faktor in der Gestaltung solcher transnationaler Lebensentwürfe von jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern können ihre grenzüberschreitenden sozialen Netzwerke betrachtet werden, die sich teilweise nicht nur zwischen Russland und Deutschland konstruieren, sondern auch über mehrere Nationalgrenzen, Kontinente (Europa, Amerika, Mittelasien) und Kulturen hinweg erstrecken. Dabei zeigt sich gerade bei den jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern ein transnationales Geflecht von Familie, Verwandtschaft, Freunde und karriere/berufsorientierten Beziehungen wie Institutionen und Organisationen auf, im Gegensatz zu anderen (Spät-)Aussiedlergruppen, die im Herkunftsland größtenteils über familiär-verwandtschaftliche Beziehungen verfügen (vgl. Fenicia et al. 2010: 318). Die empirischen Darstellungen zeigen, dass vor allem während der temporären Aufenthalte im Herkunftskulturraum transnationale Kontakte geknüpft werden, die auch weiterhin während des Aufenthalts in Deutschland aufrechterhalten bleiben. In diesem Kontext sind auch Parallelen zu anderen bildungserfolgreichen Migranten festzustellen, die ihr Alltagsleben keinesfalls ortsbezogen gestalten, sondern in transnationale Beziehungen eingebunden sind.3 Durch vereinfachte Austausch-, Kommunikations- und Reisemöglichkeiten werden gesellschaftliche und politische Entwicklungen
3
In Bezug auf afrikanische Studierende in Deutschland vgl. Aits 2008; deutschtürkische Akademiker vgl. Sievers et al. 2010; afrikanische Bildungsmigranten vgl. Martin 2005.
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im Herkunftsland verfolgt, familiäre Entscheidungen diskutiert und zu wichtigen Anlässe gefeiert, religiöse Feiern geteilt und materielle Güter ausgetauscht (vgl. Aits 2008: 205). Für die (Spät-)Aussiedler als besondere Migrantengruppe kommt noch die Doppelpassmöglichkeit hinzu, die Transnationalität zusätzlich fördert und somit zum Mittelpunkt ihres Lebensentwurfes macht. Die Form und Häufigkeit der Kontaktaufnahme lässt sich bei den befragten jungen (Spät-)Aussiedlern unterschiedlich auswerten. Während die Mobilen Bildungserfolgreichen (Typ 1: vgl. Kapitel 5.7.1) und transnationalen „Herkunftssucher“ (Typ 2: vgl. Kapitel 5.7.2) durch ausgeprägte transnationale Netzwerke charakterisiert sind und sich ihre transnationale Kommunikation auf mehreren Kommunikationsebenen erstreckt (E Mail, Skype, Facebook, Reisen), vollzieht sich die Kommunikation bei Typ 3 (vgl. Kapitel 5.7.3) beispielsweise passiver. Dementsprechend sind auch seine transnationalen Kontakte etwas sporadischer und zweckgebundener als bei Typ 1 und 2. Gerade bei Typ 3 kann auch in Bezug auf soziale Netzwerkstrukturen sowohl in Deutschland als auch im Herkunftskulturraum (GUS) eine ethnische Homophilie festgestellt werden, d.h. es werden Kontakte aus dem engen ethnischen Familien und Freundeskreis intensiv gepflegt, während Beziehungen zu Bundesdeutschen kaum unterhalten werden. Anhand des dargestellten Beispiels im Kapitel 5.6.2.1 wird deutlich, dass solche transnationalen Netzwerkstrukturen die Migrationsperspektive junger, bildungserfolgreicher (Spät-)Aussiedler im höchsten Maße beeinflussen: abgesehen davon, dass diese transnationalen Beziehungen in Migrationsprozessen die Reintegration im Herkunftskulturraum fördern und erleichtern, werden sie von Befragten ebenso auch als Bereicherung empfunden. Durch diese Netzwerke wird der Zugang zu den wichtigsten Ressourcen und karrierefördernden Institutionen unterstützt und somit eine Inklusion im Herkunftskulturraum gewährleistet. Aits (2008) stellt in diesem Kontext fest, dass gerade transnationale Bindungen das Gefühl der Geborgenheit, Heimat und zahlreicher Erinnerungen symbolisieren und zugleich als Projektionsfläche für Wünsche und Hoffnungen dienen (vgl. Aits 2008: 207). „Die entfernten Orte und Menschen bilden somit auch Teile ihrer komplexen Identität“ (ebenda: 208), die als weiteres zentrales Ergebnis der empirischen Befunde dargestellt werden können.
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Die vorgestellten transnationalen Biographien der befragten jungen (Spät-)Aussiedler zeigen, dass Migrationsprozesse die Identitäten stark beeinflussen. Das multiple Zugehörigkeitsmuster, das für die Interviewpartner als typisch charakterisiert werden kann, vollzieht sich in drei Migrationsphasen, die auch als drei Identifikationsphasen gekennzeichnet werden können: Während die erste Identifikationsphase (Kindheit im Herkunftsland) durch eine übergeordnete sowjetische Identität geprägt ist (vgl. Kapitel 5.5.1), wird die zweite Identifikationsphase nach der Migration in Deutschland durch erlebte kulturelle Unterschiede und Fremdzuschreibung begleitet. In dieser Phase werden ambivalente Zugehörigkeiten der Befragten konstruiert, die teilweise das Gefühl von Hin und Hergerissenheit oder „nicht zu wissen wo man hingehört“ suggerieren und konflikthafte Spannungen zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur im eigenen Selbst hervorrufen. Die Identitätskrise, die dadurch erzeugt wird, mündet in einer Exklusionssemantik des Fremd- bzw. Andersseins, demzufolge auch die (Spät-)Aussiedler als besondere Migrantengruppe von anderen Migrantengruppen (türkische, afrikanische etc.) nicht unterschieden werden.4 In Anlehnung an zwei fremdheits-bestimmenden Dimensionen von Hahn (1994) kann also hervorgehoben werden, dass der Fremde als Unvertraute, Unbekannte, Unerforschte in uns allen bzw. in uns selbst steckt. Insofern sind wir alle „nur in höchst eingeschränktem Maße für einander durchschaubar und einander bekannt. Wir bleiben einander unverfügbar“ (Hahn 1994: 142) und können immer (wieder) zu Fremden werden. Dies gilt auch für (Spät-)Aussiedler mit einem besonderen Migrantenstatus. Die empirischen Ergebnisse zeigen jedoch, dass die negativen Folgen solcher Exklusionssemantiken von Interviewpartnern bewältigt werden können, während sie ihr Anderssein und das Selbst in Einklang bringen. Für die Bewältigung solcher Identitätskrisen sind auch akademische
4
Auch Aits (2008) stellt in seiner Studie in Bezug auf afrikanische Studenten in Deutschland eine Marginalisierung durch Fremdzuschreibung von Seiten der Aufnahmegesellschaft fest und geht davon aus, dass die eigene Identität durch diese Fremdzuschreibung teilweise ambivalent erlebt wird, so dass die Befragten sich in Deutschland nicht vollständig anerkannt und integriert fühlen (vgl. Aits 2008: 212ff).
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Kompetenzen als wichtig anzusehen (vgl. Aits 2008).5 In einer solchen dritten Identifikationsphase mündet die konflikthafte Identität in eine hybride Identität, die eine Positionierung jenseits der Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft in einem „dritten Raum“ (Third Space, Bhabha 1990) ermöglicht.6 Insofern kann die gelebte Kultur und die kulturelle Zugehörigkeit der Interviewpartner jenseits ihres Migrationshintergrundes und der russisch bzw. sowjetisch geprägten Elternkultur als Herausbildung eines solchen „Third Space“ bezeichnet werden (vgl. dazu Kaiser 2006: 33). Diese neue soziale Wirklichkeit ermöglicht den bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedlern, sich sowohl „hier“ als auch „dort“ „zu Hause“ zu fühlen und das „Zwischen-den-Welten-leben“ als einen Normalzustand zu erleben. Die Interviewanalyse zeigt, dass die identitäre Positionierung junger, bildungserfolgreicher (Spät-)Aussiedler durch Parallelität und Gleichwertigkeit von zwei Kulturen im eigenen identitären Selbstentwurf gekennzeichnet ist. Somit lässt sich auch Badawias (2002) Alternativmodel des „Dritten Stuhls“ auf die Untersuchungsgruppe übertragen. Für die Untersuchungsgruppe wird also von einem Modell der multiplen Identitätsform ausgegangen, die sich im Lauf der zirkulären Migrationsprozesse vollzieht, beeinflusst durch mehrere Faktoren, wie z.B. Familienstruktur, Übertragung des Wertesystems aus dem Herkunftsland durch Erziehung an die Nachfolgegenerationen (Kinder, Enkelkinder) und nicht zuletzt Selbst- und Fremdethnisierung (Semantiken der Inklusion und Exklusion). Dabei kann die Identitätsfindung bzw. Identitätstransformation im transnationalen Kontext als ein dauerhafter Prozess angenommen werden, während dessen die befragten jungen, bildungserfolgreichen (Spät-) Aussiedler verschiedene Zugehörigkeitskonzepte gleichzeitig anwendet, um sein eigenes Modell der multiplen Identität auszubauen. Gleichzeitig wird durch die dargestellten Biographien deutlich, dass gerade die multiple Identitätsperspektive von Interviewpartnern als Bereicherung zum eigenen Lebenskonzept empfunden wird, auch wenn ihre Kon-
5
„Die eigene Intellektualität und besondere akademische Kompetenzen werden als individuelle Strategien genutzt, um den Wanderungsprozess zu bewältigen und die mit ihm verbundenen Brüche […] zu kompensieren“ (Aits 2008: 220).
6
In diesem Zusammenhang spricht Hall (1999) zu Recht vom „Niedergang der alten Identitäten“ und der Entstehung „neuer Identitäten“ und kritisiert damit die Vorstellung eines starren Identitätskonzepts (vgl. Hall 1999: 393-396).
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struktion in der Anfangsphase mit einem großen Spagat zwischen den Kulturen, Widersprüchen und Verunsicherungen verbunden zu sein scheint. Gerade aber in solchen unsicheren Lebensphasen und aus solchen brüchigen Zugehörigkeiten (vgl. Rosenthal 2011) können neue Lösungen und Handlungsstrategien für die Bewältigung der Krise gefunden und somit neue Identitäten konstruiert werden. Für die Aushandlungsprozesse der Zugehörigkeiten von Befragten im transnationalen Kontext kann ein weiterer wichtiger Aspekt hervorgehoben werden: die individuelle Beheimatungsstrategie zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft als strategisches Handeln für die eigene Positionierung zum Verhältnis von Heimat und Nation. Als Erstes zeigen die empirischen Ergebnisse, dass Heimat für die jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler keinen traditionellen Charakter mehr trägt, sondern die Bezeichnung „Heimat“ wird sehr häufig an familiäre Nahbeziehungen, Kindheitserinnerungen, emotionale Verbindungen gekoppelt statt an einem geographischen Ort. Dies führt dazu, dass Heimat insgesamt von den befragten jungen (Spät-)Aussiedlern ambivalent bewertet wird. Obwohl die Interviewpartner sich nicht auf einen geographischen Ort allein festlegen möchten, ist auffällig, dass bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Heimat sehr viel häufiger und ausgiebiger auf Russland Bezug genommen wird als auf Deutschland. Mögliche Gründen für diese Präferenz sind, dass mit der Bezeichnung Heimat vor allem Verlusterfahrungen in Verbindung gebracht werden: zunächst der Verlust der Kindheit, der dadurch charakterisiert ist, das es keinen Ort mehr gibt, an dem man sich als Mensch in allen Belangen zugehörig fühlen kann. Eine Erfahrung, die Interviewpartner aber mit allen modernen Individuen teilen (können). Dass Heimat mit dem Ort der Kindheit in Verbindung gesetzt wird, kann wohl kaum als Spezifikum nur für diese Untersuchungsgruppe gelten. Was allerdings die Situation selbstverständlich für die Interviewpartner weiter verschärft, ist, dass der Weggang aus ihren Geburtsländern den Punkt markiert, ab dem Semantiken der Fremdheit auf sie angewendet werden (vgl. Schmitz 2013). Dass – wie Hahn (2008) vermutet – nun die semantische Fiktion der Nation einen Teil der verloren gegangenen Beheimatung des modernen Individuums auffängt, erhält in Bezug auf eine transnationale Perspektive besondere Brisanz, da „[d]er Preis für diese Identitätsstiftung (ab diesem
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Punkt) […] hoch [ist]. Nationale Identität lässt sich nicht herstellen ohne ihre korrespondierende Definitionen von Fremden“ (Hahn 2008: 94). Wie positionieren sich also die Befragten in dieser besonderen Situation? Als Heimat bezeichnen sie eigentlich die Zeit, in der sie noch weder (Spät-)Aussiedler noch (Trans-)Migrant waren. Als erwachsener (Trans-) Migrant und als (Spät-)Aussiedler in Deutschland ist das Verhältnis zur Heimat allerdings ambivalent und es wird versucht, Bezüge zu beiden Ländern und Kulturräumen zu aktualisieren. Dies geschieht durch individuelle Beheimatungsstrategien, während die Interviewpartner sich von den semantischen Komplexen Nation, Ethnie, Heimat lösen und gleichzeitig aber auch auf beide Nationen und Länder positiv eingehen. Und selbst wenn diese Positionierung in manchen Situationen auch zu scheitern scheint, ziehen sie eine Ersatzzugehörigkeit hinzu und positionieren sich jenseits aller Nationen als „Europäer“ oder „Weltbürger“ und heben somit auch keinen Anspruch auf eine Heimat (vgl. Kapitel 5.5.3.1). Gibt es also ein Verlangen nach Heimat für einen Transmigranten? Für die Interviewpartner lässt sich diese Frage folgendermaßen beantworten: Die Sozialisation und die gelungene Integration in Deutschland, die sozialen Netzwerke, die zum größten Teil in Deutschland vorhanden sind, die Lebensqualität und demokratischen Grundsätze machen den Lebensmittelpunkt Deutschland für die jungen, bildungserfolgreichen (Spät-) Aussiedler zu einem Ort, mit dem sie sich durch ihre Zukunft bewusst verbunden fühlen. Für ihre transnationale Lebensgestaltung gibt es aber kein Verlangen nach Heimat, sondern sie bevorzugen vielmehr Freiheit statt Heimat (vgl. Kapitel 5.5.5.3) und fühlen sich somit in multiplen Orten und Gesellschaften beheimatet. Kann also die Transnationalität bzw. transnationale Perspektive als Erfolgsgeschichte für die befragten jungen, bildungserfolgreichen (Spät-) Aussiedler angenommen werden? Die Frage lässt sich nicht für Alle eindeutig beantworten. Deutlich wird jedenfalls, dass die multiple Identität und Beheimatung nicht nur eine beliebige Bezugnahme auf die Herkunftsund Aufnahmekultur, auf Russland und Deutschland, nicht nur eine vorgefundene Mischung und ein Übergangsmodell zur temporären Positionierung und Verortung darstellt, sondern auch eine individuelle, identitätsstiftende Leistung zur Bewältigung von Identitätskrisen, zur Realisierung von Chancen für Arbeit und Karriere, zur Gestaltung transnationaler Lebensentwürfe und transnationaler Netzwerke, zur Verwirklichung und Kultivie-
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rung des eigenen Selbst gerade in (zirkulären) Migrationsprozessen. Somit wird Transnationalität als Selbstkonzept und Erfolgsgeschichte zur beheimatenden Semantik im eigenen Lebensentwurf und zum spezifisch modernen Individualisationskonzept. Dahinden (2010) zufolge lässt sich diese Perspektive für seinen wissenschaftlichen Ertrag folgendermaßen zusammenfassen: die transnationale Perspektive rückt auf Migrationsphänomene soziale Netzwerke ins Zentrum, konzeptionalisiert Migration als Prozess, der über nationale Grenzen hinweg stattfindet, und verspricht, die Mängel eines „methodologischen Nationalismus“ zu beseitigen und theorierelevante Einsichten in Assimilationsprozesse zu liefern (Dahinden 2010: 398). Die Diskussion der empirischen Ergebnisse zeichnet sich zusammenfassend dadurch aus, dass folgende Kategorien im Lebensentwurf der Befragten eine besondere Relevanz einnehmen: die Transnationalität bzw. transnationale Perspektive; die Konstruktion der multiplen Identitäten und der damit verbundene Diskurs der Hybridität; die individuelle Beheimatung als aktives strategisches Handeln jenseits von festgeschriebenen (geographischen) Verortungen; soziale Netzwerke als wichtiger Bestandteil eines transnationalen Lebensentwurfes. Diese Schlüsselkategorien sind keinesfalls als getrennte Einheiten zu betrachten, sondern sie bedingen, ergänzen und vervollständigen sich gegenseitig.
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Anhang
Anhang 1: Forschungsprozess nach Grounded Theory1 Arbeitsphasen/Schritte
2009
Theoretical Sampling (GTM: Datenge-
ab 04
2010
winnung) Vorbereitungsphase Ermittlung Forschungsstand Ermittlung statistischer Daten Besuche Tagungen, Russlanddeutsche Verbände/ Organisationen in Deutschland Mehrtägiger
praxisbezogener
Feld-
aufenthalt bei „Heimatgarten“ Karlsruhe Erste Interaktionserfahrungen durch Gespräche mit Experten und jungen (Spät)Aussiedlern Analyse der Forumsbeiträge im Internet Konkretisierung Forschungsperspektive (Forschungsthema)/Erstellung der ersten Kategorien Durchführung Testinterviews Entwicklung Leitfaden Theoretische Aufarbeitung des Themas „Theoretical sensitivity“ (Literatur etc.) Erstellung theoretischer Skizzen (Basis-
1 Eigene Darstellung, verändert nach Badawia 2002, S. 56–57.
2011
2012
288
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theorien
Migration,
Transmigration,
Identität und Zugehörigkeiten) Durchführung von Hauptinterviews Transkriptionen
Theoretische
Ab 02 Me-
mos/Datenstrukturierung Vorbereitung der Feldforschung Feldforschung in St. Petersburg
08–09
Interviews (Experten und junge (Spät-) Aussiedler)) Auswertung der Feldforschung
Ab 09
Theoretical Coding (GTM: Datenanaly-
Ab 01
se) Offenes Codieren Aufstellung zentraler Hypothesen Bestimmung Ober-/Unterkategorien Axiales
und
selektives
Codieren
(Feinanalyse) Weitere Vertiefungsinterviews zur Generierung von Hauptkategorien („Theoretical Sampling“) Theoretical Writing (GTM)
Ab 08
Niederschrift empirische Ergebnisse Ausarbeitung Kernkategorien Aufbau des Theorieentwurfes Forschungsbericht/Anfertigung Dissertation
04–07
A NHANG | 289
Anhang 2: Modelübersicht: Leitfaden für die Hauptinterviews
Block 1: Migration nach Deutschland Frage: Erzählen Sie bitte etwas darüber wie Sie mit Ihrer Familie nach Deutschland gekommen sind? Inhaltliche Aspekte (Anschlussfragen): Entscheidungsprozess zur Migration nach Deutschland Eigenverantwortung im Entscheidungsprozess Vorbereitungsprozess zur Migration (Informationen über Deutschland) Block 2: Ankunft und Integration in Deutschland Frage: Erzählen Sie mir bitte etwas über die erste Zeit in Deutschland? Welche Erinnerungen haben Sie? Inhaltliche Aspekte (Anschlussfragen): Erste Eindrücke und die Konfrontation mit der Realität Strukturelle Integration (Wohnsituation) Soziale Integration Schule und Ausbildung Block 3: Das Deutschtum Frage: Wenn Sie sich mit anderen in Deutschland eingewanderten Migranten vergleichen, glauben Sie dass ihr Hintergrund als Russlanddeutsche/r und das Deutschtum, was Sie mitgebracht haben, eher ein Startvorteil war oder sogar von Nachteil war oder gar keine Rolle spielte? An welchen Ereignissen machen Sie das fest? Inhaltliche Aspekte (Anschlussfragen): Deutschtum im Herkunftsland Deutschtum heutzutage (In Deutschland) Traditionen, die fortgesetzt werden (Kochtraditionen, Feiertage etc.) Block 4: Identität und Zugehörigkeit Frage: Wie fühlen Sie sich mittlerweile in Deutschland? Haben Sie eine bestimmte Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Kultur entwickelt? Inhaltliche Aspekte (Anschlussfragen): Bikulturelle Identitäten (hybride, transnationale Zugehörigkeiten) Selbstverortung in der Kulturlandschaft Russlanddeutsche Kultur (eine eigene Kultur?) Unterschiede zwischen der deutschen, russischen und russlanddeutschen Kultur Block 5: Heimat, Heimatverständnis, Verortung
290
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Frage: Was ist Heimat für Sie? Inhaltliche Aspekte (Anschlussfragen): Heimat Deutschland, Heimat Herkunftsort Heimat als geographischer Ort Multiple Heimaten (zwei oder mehrere Orten als Heimat) Block 6: Passnationalität Frage: Was bedeutet Ihnen die deutsche Passnationalität/Staatsangehörigkeit? Inhaltliche Aspekte (Anschlussfragen): Vor- und Nachteile der deutschen Passnationalität (Vergleich mit anderen Migrantengruppen) Der Aspekt der doppelten Staatsangehörigkeit Block 7: Die Rückkehr in den Herkunftsort, Motive der Rückkehr Frage: Erzählen Sie bitte darüber, wie Sie beschlossen haben, in Ihr Herkunftsort (ehemalige Heimat) zurückzukehren? Inhaltliche Aspekte (Anschlussfragen): Beweggründe und Motive Vorbereitung Block 8: Reintegration im Rückkehrort Frage: Erzählen Sie bitte wie Sie die Zeit im Rückkehrort insgesamt erlebt haben? Inhaltliche Aspekte (Anschlussfragen): Erste Eindrücke Erlebnisse (negative/positive) Reaktionen von „Einheimischen“ Wahrnehmung der Berufs-, Karriere- und Ausbildungschancen im Rückkehrort Rekonstruktion der Kindheitserinnerungen mit dem neuen „Heimatbild“ Block 9: Zukunfts- Rückkehrorientierungen Frage: Wie sehen Ihre Zukunftspläne, auch bezüglich einer erneuten Rückkehr in Ihren Herkunftsort, aus? Inhaltliche Aspekte (Anschlussfragen): Transnationale Orientierungen und Nutzen der sozio-kulturellen Kompetenzen Rückkehr für immer? Block 10: Soziale Netzwerke (der Block wurde mit dem computergestütztem Programm VennMaker erhoben) Inhaltliche Aspekte (Anschlussfragen): Soziale Netzwerke in Deutschland (inter-/intraethnische Netzwerke) Soziale Netzwerke in der GUS (transnationale soziale Netzwerke) Block 11: Wünsche
ANHANG | 291
Anhang 3: Schaubild Einflussfaktoren Rückkehr-Migration
Strukturelle Rahmenbedingungen Externe Einflussfaktoren Anreize/ Ermutigungen
Makropol./ökonomische/ soziokult./demographische
Situative Einflussfaktoren Persönliche Situation und Umfeld
Individuelle Rückkehrentscheidungen
Individuelle und soziale Ressourcen
Symbolische Ressourcen
Ökonomisches/soziales/kulturel les Kapital
Symbolische Bindungen/Identität/ Ethnizität
Nach der Rückkehr
(Neustrukturierung sozialer Beziehungen; neue Identitätskonstruktionen und Schließungsprozesse)
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Kultur und soziale Praxis Jens Adam, Asta Vonderau (Hg.) Formationen des Politischen Anthropologie politischer Felder Dezember 2013, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,90 €, ISBN 978-3-8376-2263-8
Sonja Buckel »Welcome to Europe« – Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts Juridische Auseinandersetzungen um das »Staatsprojekt Europa« September 2013, 372 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2486-1
Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 Februar 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2364-2
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Kultur und soziale Praxis Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung November 2013, ca. 250 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2402-1
Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage Januar 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2447-2
Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Urbane Jugendbewegungen Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2130-3
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Kultur und soziale Praxis Andrea Baier »Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?« Gesundheit und soziale Ungleichheit. Erfahrungen einer Frauengruppe mit einem Gesundheitsprojekt Juni 2013, 144 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-8376-2490-8
Matthias Forcher-Mayr Fragile Übergänge Junge Männer, Gewalt und HIV/AIDS. Zur Bewältigung chronischer Arbeitslosigkeit in einem südafrikanischen Township Dezember 2013, ca. 450 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2302-4
Ayla Güler Saied Rap in Deutschland Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen Januar 2013, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2251-5
Ewa Palenga-Möllenbeck Pendelmigration aus Oberschlesien Lebensgeschichten in einer transnationalen Region Europas Dezember 2013, ca. 390 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2133-4
Simon Reitmeier Warum wir mögen, was wir essen Eine Studie zur Sozialisation der Ernährung Mai 2013, 392 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2335-2
Hannes Schammann Ethnomarketing und Integration Eine kulturwirtschaftliche Perspektive. Fallstudien aus Deutschland, den USA und Großbritannien April 2013, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2428-1
Caroline Schmitt, Asta Vonderau (Hg.) Transnationalität und Öffentlichkeit Interdisziplinäre Perspektiven
Valerie Moser Bildende Kunst als soziales Feld Eine Studie über die Berliner Szene
April 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2154-9
Mai 2013, 346 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2331-4
Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus
Alfred Nordheim, Klaus Antoni (Hg.) Grenzüberschreitungen Der Mensch im Spannungsfeld von Biologie, Kultur und Technik
August 2013, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2089-4
Juli 2013, 248 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2260-7
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