Das Kulturhaus in Russland: Postsozialistische Kulturarbeit zwischen Ideal und Verwahrlosung [1. Aufl.] 9783839427125

Noble demands and hard work - on cultural work between mandatory aesthetics and instructions to artistic self-optimizati

167 42 5MB

German Pages 342 [337] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Kultur, Kultiviertheit, Kulturbetrieb
Gründe für das ethnologische Interesse und Desinteresse an Kulturhäusern
Kapitel, Leitmotive und zentrale Ideen dieser Studie
Zum Hintergrund des Forschungsprojekts
Redaktionelle Hinweise
Kapitel 1. Kultur und Respekt: Die Aushandlung gesellschaftlicher Anerkennung im Kulturhaus
Kolyvan': Eine um ihr Image bemühte Kleinstadt und ihr Kulturhaus
Tocmaševec: Nachbarschaftliche Hilfe im Wohngebiet einer Großstadt
Ethno-Kultur
Die Aushandlung sozialer Anerkennung
Respekt als Ziel der Kulturarbeit
Kapitel 2. Kultur und Freizeit: Wer geht (nicht) ins Kulturhaus, und warum?
Möglichkeiten der Freizeitgestaltung in Kolyvan'
Gründe, weshalb Menschen nicht ins Kulturhaus gehen
Freizeitgestaltung und Kulturhausbesuch in der Großstadt
Das heutige Funktionsfeld der Kulturhäuser
Die Angst vor der Verwahrlosung der Jugend
Kapitel 3. Kultur und Bürokratie: Offizielle und inoffizielle Regeln des Kulturbetriebs
Das Gefüge der Bildungs-, Freizeit- und Kultureinrichtungen
Organisationsstruktur, Stellenpläne und Tätigkeitspläne
Zusammenarbeit mit anderen örtlichen Institutionen
Finanzen, Statistiken und Tätigkeitsberichte
Das Werden und Vergehen der Kollektive
Das Gesetz zur kommunalen Selbstverwaltung: Neue Prinzipien der Finanzierung im Kulturbetrieb
„Nebenerwerb“ im Kulturbetrieb
Fazit: Grenzen der Bürokratie, Grenzen der Unterstützung
Kapitel 4. Kultur und Ritual: Feier, Festakt und die Party danach
Performanz, Ritual, Spektakel
Der 9. Mai: Tag des Sieges
Der „Tag des Einberufenen“
Stëb und Bühnenspiel
Die Feier nach der Show
Kollektive Efferveszenz: Momente der Euphorie, Momente der Offenbarung
Kapitel 5. Kultur und Patriotismus: Kompatible Normen und Projekte
Gesamtstaatliche Richtlinien zur patriotischen Erziehung
Interpretationen der Hinwendung zum Patriotismus
Praktische Umsetzung der patriotischen Erziehung
Patriotismus als innere Überzeugung? „Liebe zum Vaterland“ und Individualismuskritik
Kapitel 6. Kultur und Religion: Von der Interaktion zwischen dem alten und dem neuen Ritus
Substituierung oder Hybridisierung des alten durch den neuen Ritus
Kulturhäuser als Tempel des neuen Ritus
Das sakrale Element der Verschlossenheit und Leere der Kulturhäuser
Resakralisierung: das Kulturhaus als möglicher Ort religiöser Handlungen
Die Säkularisierung des Kulturkonzepts
Fazit: Gebot und Angebote der Seelsorge
Kapitel 7. Kultur und Zivilisation: Begegnungen mit dem Neuen Menschen
„Zivilisatorische Mission“ und „Kultur“ im russischen Wortschatz: Zu den Anfängen
Kulturbasis und Kulturhaus als Vorposten der Zivilisation
Stalinismus als Zivilisation
Formenwandel im Kulturbetrieb
Fazit: Die Konturen des Neuen Menschen
Kapitel 8. Kultur als Selbstdisziplinierung
Performative Selbsttechniken
Reproduktion der Form – Missachtung des Inhalts
Darbietung und Disziplinierung
Gelehrige Körper während ihrer Freizeit
Ästhetisierung der Existenz: Transzendenz und Talentesuche
Kapitel 9. Schlussbetrachtung: Das Gute und Schöne
Nachwort. Kulturhäuser als öde Orte?
Anhänge
Anhang 1: Grundlage und Methodik des Forschungsprojekts
Anhang 2: Fieldwork Checklist
Anhang 3.1: Survey-Fragebogen
Anhang 3.2: Survey-Ergebnisse
Anhang 4.1: Liste der Interviewfragen Q1
Anhang 4.2: Liste der Interviewfragen Q2
Anhang 5: Organigramm des staatlich geförderten Kulturbetriebs im Kreis Kolyvan'
Anhang 6: Liste der im Kulturhaus Kolyvan' registrierten Kollektive
Anhang 7.1: Stellenplan des Kulturhauses Kolyvan' (2005)
Anhang 7.2: Stellenplan des Dorfkulturhauses Ponomarevka (2005)
Anhang 8.1: Arbeitsplan des Kulturhauses Koylvan' für Mai 2006
Anhang 8.2: Arbeitsplan des Dorfkulturhauses Ponomarevka für 2006
Anhang 9.1: Tätigkeitsbericht des Kulturhauses Kolyvan' für Januar und Februar 2006
Anhang 9.2: Tätigkeitsbericht des Dorfkulturhauses Ponomarevka für Januar 2006
Danksagung
Literaturverzeichnis 315
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Das Kulturhaus in Russland: Postsozialistische Kulturarbeit zwischen Ideal und Verwahrlosung [1. Aufl.]
 9783839427125

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Joachim Otto Habeck Das Kulturhaus in Russland

Edition Kulturwissenschaft | Band 42

Joachim Otto Habeck ist Professor am Institut für Ethnologie der Universität Hamburg. Bis April 2014 war er Koordinator des Sibirienzentrums am MaxPlanck-Institut für ethnologische Forschung in Halle (Saale).

Joachim Otto Habeck

Das Kulturhaus in Russland Postsozialistische Kulturarbeit zwischen Ideal und Verwahrlosung

Gedruckt mit Unterstützung des Max-Planck-Institutes für ethnologische Forschung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildungen: Cover: Kreiskulturhaus Kolyvan’, 1974. Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Regionalmuseums von Kolyvan’. Buchrückseite: Joachim Otto Habeck Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2712-1 PDF-ISBN 978-3-8394-2712-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Kapitel 4 Kultur und Ritual: Feier, Festakt und die Party danach | 101

Performanz, Ritual, Spektakel | 101 Der 9. Mai: Tag des Sieges | 107 Der „Tag des Einberufenen“ | 116 Stëb und Bühnenspiel | 124 Die Feier nach der Show | 128 Kollektive Efferveszenz: Momente der Euphorie, Momente der Offenbarung | 138 Kapitel 5 Kultur und Patriotismus: Kompatible Normen und Projekte | 145

Gesamtstaatliche Richtlinien zur patriotischen Erziehung | 146 Interpretationen der Hinwendung zum Patriotismus | 149 Praktische Umsetzung der patriotischen Erziehung | 157 Patriotismus als innere Überzeugung? „Liebe zum Vaterland“ und Individualismuskritik | 161 Kapitel 6 Kultur und Religion: Von der Interaktion zwischen dem alten und dem neuen Ritus | 167

Substituierung oder Hybridisierung des alten durch den neuen Ritus | 168 Kulturhäuser als Tempel des neuen Ritus | 171 Das sakrale Element der Verschlossenheit und Leere der Kulturhäuser | 178 Resakralisierung: das Kulturhaus als möglicher Ort religiöser Handlungen | 181 Die Säkularisierung des Kulturkonzepts | 185 Fazit: Gebot und Angebote der Seelsorge | 186 Kapitel 7 Kultur und Zivilisation: Begegnungen mit dem Neuen Menschen | 189

„Zivilisatorische Mission“ und „Kultur“ im russischen Wortschatz: Zu den Anfängen | 190 Kulturbasis und Kulturhaus als Vorposten der Zivilisation | 194 Stalinismus als Zivilisation | 202 Formenwandel im Kulturbetrieb | 208 Fazit: Die Konturen des Neuen Menschen | 223

Kapitel 8 Kultur als Selbstdisziplinierung | 229

Performative Selbsttechniken | 229 Reproduktion der Form – Missachtung des Inhalts | 233 Darbietung und Disziplinierung | 236 Gelehrige Körper während ihrer Freizeit | 240 Ästhetisierung der Existenz: Transzendenz und Talentesuche | 243 Kapitel 9 Schlussbetrachtung: Das Gute und Schöne | 249 Nachwort Kulturhäuser als öde Orte? | 257 Anhänge | 263

Anhang 1: Grundlage und Methodik des Forschungsprojekts | 263 Anhang 2: Fieldwork Checklist | 269 Anhang 3.1: Survey-Fragebogen | 273 Anhang 3.2: Survey-Ergebnisse | 284 Anhang 4.1: Liste der Interviewfragen Q1 | 287 Anhang 4.2: Liste der Interviewfragen Q2 | 290 Anhang 5: Organigramm des staatlich geförderten Kulturbetriebs im Kreis Kolyvan' | 293 Anhang 6: Liste der im Kulturhaus Kolyvan' registrierten Kollektive | 294 Anhang 7.1: Stellenplan des Kulturhauses Kolyvan' (2005) | 300 Anhang 7.2: Stellenplan des Dorfkulturhauses Ponomarevka (2005) | 302 Anhang 8.1: Arbeitsplan des Kulturhauses Koylvan' für Mai 2006 | 303 Anhang 8.2: Arbeitsplan des Dorfkulturhauses Ponomarevka für 2006 | 305 Anhang 9.1: Tätigkeitsbericht des Kulturhauses Kolyvan' für Januar und Februar 2006 | 308 Anhang 9.2: Tätigkeitsbericht des Dorfkulturhauses Ponomarevka für Januar 2006 | 310 Danksagung | 311 Literaturverzeichnis | 315

Einleitung

K ULTUR , K ULTIVIERTHEIT , K ULTURBETRIEB Dieses Buch ist eine Inspektion des staatlich organisierten Kulturbetriebs in Russland und zugleich eine Annäherung an die spezifisch sowjetische und postsowjetische Begrifflichkeit von Kultur. Im Mittelpunkt stehen die gesellschaftliche Bedeutung und der kulturpolitische Kontext von Kulturhäusern in Sibirien. Das Kulturhaus ist eine relativ klar abgegrenzte Institution, die in allen größeren Orten vieler sozialistischer Staaten existierte, eine zentrale Position im jeweiligen Ortsbild einnahm und für die Gemeinde gewisse Funktionen erfüllte. Kulturhäuser gibt es in Russland auch in der Gegenwart, wenngleich sich ihre Daseinsberechtigung, ihre institutionelle Zuordnung, ihr gesellschaftlicher Stellenwert und ihr Tätigkeitsprofil in vielerlei Weise verändert haben. Der Anspruch der Kulturhäuser zu Zeiten des Sozialismus war ein nicht geringer: sie sollten zur Vervollkommnung der Persönlichkeit beitragen. Teilweise haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kulturhäuser auch heute noch diesen Anspruch; teilweise orientieren sie ihre Tätigkeit stärker in Richtung „Freizeitgestaltung“, wobei sie sich in Konkurrenz mit anderen, oft kommerziellen, Freizeitangeboten befinden. Das Spannungsverhältnis zwischen dem hehren Anspruch auf Bildung (Aufklärung, Erbauung) und dem profaneren Anspruch auf Unterhaltung ist eines der immer wiederkehrenden Themen dieses Buches. Diese Untersuchung liefert eine Darstellung des Kulturbegriffes in seinen vielgestaltigen Bedeutungen in der Alltagswelt. Das Kulturhaus ist der Ort, an dem die verschiedenen Bedeutungen von „Kultur“ zusammentreffen. Oder, um es anders auszudrücken: Das Kulturhaus gleicht einem Prisma, dessen Tätigkeitsspektrum die verschiedenen Färbungen von „Kultur“ umfasst. Jedes Kapitel widmet sich einem bestimmten Kontext, einer bestimmten Färbung, die auf eine bestimmte Definition dessen, was „Kultur“ ist, hinführt. Jedes Kapitel verweist auf unterschiedliche Fra-

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gestellungen, wissenschaftliche Diskurse und Forschungsfelder. „Kultur“ wird in diesem Buch nicht deskriptiv verwendet, sondern ist Gegenstand der Analyse. Fortan werde ich bei der Verwendung des Begriffes Kultur die Anführungsstriche fortlassen. Wer möchte, kann die Anführungsstriche mitdenken. Allerdings befasst sich dieses Buch mit sehr gegenständlichen und handfesten Aspekten der Kultur, nämlich Kulturarbeit und Kulturbetrieb. Die Kultur, die in den Kulturhäusern vermittelt wird (oder vermittelt werden soll), hat sowohl dingliche als auch transzendente Qualität. Diese Art von Kultur ist erlebbar und erfahrbar. Man kann sie an und mit dem eigenen Leib erfahren. Im Verlauf der Studie möchte ich erläutern, auf welchen Verständnissen von Kultur der Kulturbetrieb in Russland basiert, welche Versionen von Kultur akzeptiert und welche zurückgewiesen werden, welches Kulturkonzept durch den Kulturbetrieb perpetuiert werden soll. Hier folgt eine erste und notgedrungen skizzenhafte Heranführung an diese Fragen. Der russische Begriff kul'tura ist in seinen verschiedenen Bedeutungen nicht minder komplex als seine Entsprechungen in anderen Sprachen, doch scheinen bestimmte Konnotationen besonders deutlich mitzuschwingen. Anstelle einer Abhandlung über die Definition von Kultur, die den lange währenden kulturwissenschaftlichen, ethnologischen und soziologischen Debatten Rechnung trägt1 und dabei auch marxistisch-leninistische Interpretationen des Kulturbegriffes gebührend berücksichtigt, soll an dieser Stelle eine erste Annäherung an das landläufige Verständnis von Kultur erfolgen. „Landläufiges Verständnis“ bezieht sich hier auf formale und informelle Gesprächssituationen während der Feldforschung, sowohl mit Kulturarbeiterinnen als auch mit „Laien“, also Personen, die keinen beruflichen Bezug zur Kultur haben. Spontane Definitionsversuche des Substantivs kul'tura seitens der „Laien“ liefen vielfach ins Leere; dagegen hatten die meisten von ihnen nicht die geringste Mühe, die adjektivische Ableitung kul'turno („kulturell“, aber auch „kultiviert“) und das verwandte Substantiv kul'turnost' („Kultiviertheit“) mit Inhalt zu füllen. Kul'turnost' kann man erstreben und erwerben, kul'tura kann man dagegen „lediglich“ erleben und erfahren. Mit kul'turnost' (Kultiviertheit) ist ein recht deutlich umrissener Codex von Umgangsformen und äußerer Erscheinung gemeint: Anstand, gute Manieren und ein gewisses Maß an Reinlichkeit in Sachen Körperpflege ebenso wie in der verbalen Ausdrucksweise (in Kapitel 7 werde ich genauer darauf eingehen). 1

Der Kulturbegriff ist in der Ethnologie, der Soziologie und vielen anderen Wissenschaften Gegenstand langer und teils erbitterter Auseinandersetzungen, und manche Kollegen sind dafür, den Begriff gänzlich aus dem Fachvokabular zu streichen (so beispielsweise Hann 2007). Einen Einstieg in die sozialwissenschaftliche Debatten über den Kulturbegriff liefern Moebius (2009) und Soysal (2009).

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Dem gegenüber steht das unkultivierte, „kulturlose“ Benehmen (beskul'turnoe povedenie). Dieser Begriff bezieht sich vor allem auf ein ungepflegtes oder schmutziges Äußeres, auf den Gebrauch von Schimpfwörtern, auf Besäufnisse und andere transgressive Verhaltensweisen. Kultiviertheit (kul'turnost') kommt sozusagen in Abstufungen vor. Sie ist ein Aspekt menschlichen Verhaltens und zugleich ein temporärer Zustand, denn das Sich-Benehmen und das Sich-Gehen-Lassen sind Phasen im Leben eines jeden Individuums.2 Die Kulturarbeiterinnen hatten erwartungsgemäß weniger Schwierigkeiten bei der Definition von kul'tura. In vielen Antworten kam ein holistischer Kulturbegriff zum Ausdruck („Kultur ist überall“3, „das, was das Leben verschönert, was es besser, schöner, reiner macht, das ist Kultur“4), gelegentlich auch ein relativistischer („Jegliche Kultur ist einzigartig. Sie ist schön an sich. Eines jeden Volkes“5). In beiden Fällen wird Kultur also als etwas Gegebenes vorausgesetzt. Jenseits dieser Definitionen klangen aber auch andere, eher an der Berufspraxis orientierte Nuancen an: Kultur als ein knappes und in der Tat defizitäres Gut6, das es zu bewahren gilt; Kultur als etwas, das in die Massen getragen werden soll7; Kultur als etwas, das der Gemeinde zueigen ist („Wir haben hier eine reiche Geschichte und Kultur“8). Ähnlich wie im Falle von kul'turnost' scheint es also möglich zu sein, von einem kleineren oder größeren Maße an kul'tura zu sprechen. Der Unterschied besteht offenbar darin, dass kul'turnost' von einer einzelnen Person erworben werden kann, kul'tura jedoch nicht. Mit anderen Worten, Kultiviertheit kann sich auf Individuen beziehen, Kultur nur auf Gruppen, Gemeinden oder ganze Völker. Es handelt sich um ein kollektives Gut. Von den unterschiedlichen Nuancen, die der Begriff kul'tura annehmen kann, sei noch eine besondere erwähnt: Kultur als Synonym für den Kulturbetrieb, wie zum Beispiel in solchen Aussagen: „es ist kein Geheimnis, dass die Kultur sehr

2

Arnol'dov (1975: 46) erwähnt die „Antipoden der Kultur“: „Trunksucht, Rowdytum, Schmarotzerei, Habgier, u.ä.m.“

3

G.I. Kupreeva, Kolyvan', 10. April 2006: „kul'tura est' vezde“.

4

G.I. Kupreeva, Kolyvan', 5. Mai 2006: „to, čto ukrašaet žizn', to čto delaet ee lučše, kraše, čišče – ėto i est' kul'tura.“

5

O.M. Chomenko, Novosibirsk, 7. Juni 2007: „Ljubaja kul'tura unikal'na. Ona krasiva sama po sebe. Každogo naroda.“

6

L.I. Kosinceva, „deficit kul'tury“ – siehe das einleitende Zitat zum Abschnitt über die „Verwahrlosung der Jugend“ in Kapitel 2.

7 8

N.S. Volkova, Kolyvan', 3. Mai 2006: „nesti kul'turu v massy“ N.S. Družinina, Kolyvan', 26. April 2006: „u nas v Kolyvane kul'tura est'. To est', u nas […] očen' bogataja istorija, kul'tura.“

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schlecht finanziert wird“9, oder auch „in jenen Jahren hat sich bei uns die ganze Kultur ins [Gebäude des] Technikum[s] verlagert“10. Kultur hat also eine organisatorische Gestalt, sie wird geplant, bezahlt, ausgeübt und verwaltet. Zuweilen entwickeln sich politische und administrative Konflikte und sogar Intrigen um den Kulturbetrieb. Kultur und Kulturbegriffe werden dann instrumentalisiert, um lokalpolitische oder andere Machtinteressen durchzusetzen. Diese Beispiele sollen genügen, um einige weithin im Umlauf befindliche, nicht selten einander widersprechende Aspekte von Kultur und Kultiviertheit vorzustellen. Sie stecken das Spektrum ab, das den Inhalt dieses Buches ausmacht. In den einzelnen Kapiteln werden, wie eingangs angekündigt, bestimmte Bereiche dieses Spektrums genauer betrachtet. Zunächst aber möchte ich erläutern, wieso Ethnologinnen und Ethnologen, die sich klassischerweise mit den indigenen „Kulturen“ in Russland und speziell in Sibirien befassen, das Kulturhaus in aller Regel links liegen gelassen haben. Anschließend werde ich einen knappen Überblick über die Kapitel geben und darlegen, welche Leitmotive sich mit ihnen verbinden.

G RÜNDE FÜR DAS ETHNOLOGISCHE I NTERESSE D ESINTERESSE AN K ULTURHÄUSERN 11

UND

Trotz – und teilweise auch wegen – ihrer Zentralität ist die Institution Kulturhaus in ethnologischen Untersuchungen mit Bezug auf Russland bisher auffallend vernachlässigt worden; lediglich die Monographien von Bruce Grant (1995) und Anne White (1990) nehmen auf das Kulturhaus Bezug.12 Zwei Gründe sind zu nennen. Der erste Grund liegt in dem relativ geringen Stellenwert, der dem Thema Freizeit 9

N.S. Družinina, Kolyvan', 26. April 2006: „ne sekret, čto kul'tura na samom dele očen' plocho finansiruetsja“.

10 Anonymer Interviewpartner in Kolyvan', der Mitte der 1960er Jahre im Kulturbetrieb tätig war, 28. April 2006: „v ėti gody u nas vsja kul'tura perekatilas' v technikum“. 11 Dieser Abschnitt ist eine von mir angefertigte sinngemäße Übersetzung des Abschnitts „Reasons for Bypassing, Reasons for Studying the House of Culture“ im einleitenden Kapitel des Sammelbandes Reconstructing the House of Culture (Habeck 2011a). 12 Anne Whites 1990 erschienene Monographie analysiert die kulturpolitischen Richtlinien und die praktische Arbeit von Kulturhäusern in der Sowjetunion, Polen und Ungarn und geht dabei der Frage nach, wie sich der Prozess der Entstalinisierung in ihrer Tätigkeit nachverfolgen lässt. Bruce Grants 1995 veröffentlichtes Buch In the Soviet House of Culture ist eine ethnohistorische Studie über den Einfluss innersowjetischer Entwicklungspolitik auf das Leben der Niwchen auf der Insel Sachalin. Er benutzt dabei den Begriff House of Culture weniger in einem direkten denn vielmehr in einem übertragenen Sinne, nämlich als Sinnbild für eine Vielzahl von staatlichen Interventionen.

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in den Studien zu Transformationsprozessen in postsowjetischen Gesellschaften beigemessen wurde. Während der letzten 25 Jahre lag das Augenmerk der in der ehemaligen Sowjetunion forschenden Ethnologinnen und Ethnologen ganz überwiegend auf den wirtschaftlichen und politischen Aspekten der Transformation von der sozialistischen hin zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Viele ihrer Untersuchungen befassten sich mit der Abwicklung von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (kolchoz) und Staatsgütern (sovchoz), mit neuen Betriebsformen und Arbeitsbedingungen, dem Verhältnis zwischen dem formellen und dem informellen Sektor, den Einkommensquellen und Überlebensstrategien von Privathaushalten. Mit anderen Worten, diese Untersuchungen hatten vor allem den Wandel der Wirtschafts- und Lebensbedingungen, der Produktion und der Subsistenz zum Thema (diese Fokussierung in der Fachliteratur über Sibirien wird auch von Gray/Vakhtin/Schweitzer 2003: 200, 206 erwähnt). Den Veränderungen in der Sphäre der Freizeit wurde weniger Beachtung geschenkt. Zu Zeiten der Sowjetunion gebührte Arbeit das ideologische Primat über Freizeit. Nur vereinzelt zeigten nicht-sowjetische Autoren Interesse am Untersuchungsgegenstand Freizeit in der Sowjetunion (Brine et al. 1980; Stites 1992; White 1990). Die ethnologischen Forschungen in Sibirien während der 1990er Jahre – des ersten nach-sowjetischen Jahrzehnts – thematisieren das Bemühen um ethnisches und materielles „Überleben“ an vielerlei Beispielen. Freizeit erschien daher nicht von Belang. Lediglich in soziologischen Arbeiten über die Gegenwart der russischen Großstädte wurde das Thema Freizeit aufgegriffen (bspw. von Oswald/Voronkov 2002; Pilkington 1994; Pilkington et al. 2002). Meine Kolleginnen, Kollegen und ich hatten an den Orten unserer Feldforschungen in den 1990er und frühen 2000er Jahren selbst vielfach den Eindruck, dass Freizeit von unseren Gegenübern als „Luxus“ aufgefasst wurde – es gab in der Tat dringendere Fragen. Jedoch hat sich während des letzten Jahrzehnts im Zuge des volkswirtschaftlichen Wachstums der Russischen Föderation auch die finanzielle Situation vieler – wenngleich nicht aller – Haushalte verbessert. Daher hat das Thema Freizeitgestaltung in den russischen Medien und der sozialwissenschaftlichen Forschung an Relevanz gewonnen. Als zweiter Grund für das geringe Interesse an den Kulturhäusern ist das generelle Interesse der Ethnologinnen und Ethnologen an „authentischer“ Kultur zu nennen. Viele von ihnen bemühten sich, an die Wohnplätze der indigenen Bevölkerung in der Tundra oder Taiga oder in entlegenen Bergregionen zu gelangen, um traditionelle indigene Wirtschafts- und Lebensweisen so weit entfernt wie möglich von den Siedlungen und Städten (d.h. so unbeeinflusst wie möglich vom sowjetischen Modernisierungsprojekt) kennenzulernen. Während meiner früheren Aufenthalte in Russland verfolgte ich selbst diesen Ansatz und war entsprechend argwöhnisch gegenüber den Präsentationen und Repräsentationen indigener Kultur in den Kulturhäusern der städtischen und ländlichen Siedlungen, in denen ich mich aufhielt (auf dem Weg zum „eigentlichen“ Ziel, dem Rentierhirtencamp, s. Habeck

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2005a). Es kam mir so vor, als ob die Substanz indigener Kultur in sowjetzeitliche Pralinenschachteln abgefüllt worden wäre – schön anzuschauen und sehr süß, aber auch von einheitlichem Format und mit einem leichten Grauschleier. Die Irritation, die diese süßliche Art der Präsentation in mir und manchen Kolleginnen und Kollegen auslöste, war später dann Anlass, sich bewusst mit Kulturkonzepten und Kulturarbeit in den Teilregionen der Russischen Föderation auseinanderzusetzen. Es ging auch darum zu begreifen, was Menschen dazu veranlasst, sich und ihre Kultur in dieser Weise zu zeigen. Die Institution Kulturhaus ist mit der kulturellen Produktion auf lokaler Ebene befasst. In den Regionen, in denen indigene Völker siedeln, hat das Kulturhaus den Auftrag, ethnische Identitäten darzustellen und zur Aufführung zu bringen. Es gibt also gute Gründe, warum Ethnologinnen und Ethnologen das Kulturhaus nicht links liegen lassen, sondern seiner Tätigkeit eine gewisse Aufmerksamkeit zollen sollten.

K APITEL , L EITMOTIVE

UND ZENTRALE I DEEN DIESER

S TUDIE

Während eine große Zahl von ethnologischen, historischen und soziologischen Arbeiten existiert, die sich mit „der“ russischen Kultur oder mit „den“ Kulturen in Russland befassen und darunter viele verschiedene gesellschaftliche Phänomene einordnen, behandelt die vorliegende Studie Kultur selbst als ein gesellschaftliches Phänomen, als einen konkreten Ausschnitt der Alltagswelt, als kommunalen Tätigkeitsbereich, Dienstleistung und sozialen Anspruch zugleich. Im Mittelpunkt stehen hier die Praxis und das Ethos einer bestimmten Berufsgruppe, deren Angehörige sich gern als Teil der ländlichen bzw. städtischen Eliten sehen, sowie die Erwartungen und Erfahrungen ihrer Klientel. Die Verwendung von disparat erscheinenden Korpora wissenschaftlicher Literatur in dieser Studie ist darin begründet, dass die gesellschaftliche Rolle der Kulturhäuser in Russland bisher nur en passant betrachtet wurde. Von einigen architekturhistorischen Abhandlungen abgesehen finden sich nahezu keine wissenschaftlichen Darstellungen, die das Kulturhaus zum zentralen Gegenstand haben (dies lässt sich nicht nur für Russland bzw. die Sowjetunion, sondern auch für andere ehemals sozialistische Staaten einschließlich der DDR festhalten). Insofern halte ich es für berechtigt zu behaupten, dass die hier präsentierten Ergebnisse und Gedanken eine Leerstelle in der sozialwissenschaftlichen Forschung füllen. Daraus ergibt sich auch die Feststellung, dass eine eindeutige theoretische Kontextualisierung des Gegenstandes nicht möglich ist. Ich werde mich in dieser Arbeit nicht mit einer bestimmten wissenschaftlichen Debatte auseinandersetzen, sondern verfolge das Ziel, disparate Forschungsansätze zu identifizieren und zusammenzubringen. Daher gibt es

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nicht den einen, umfassenden theoretischen Kontext für diese Untersuchung, wohl aber eine zentrale Fragestellung und eine These. Das Ziel der Studie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: In konkreter Form geht es hier um eine Ethnographie der Alltagswelt der Menschen, die im öffentlichen Kulturbetrieb in Russland tätig sind. In etwas allgemeinerer und zugleich ausführlicher Form gesagt, befasse ich mich mit der Praxis der Kulturarbeit und den Normen, die sich mit dem staatlichen Kulturauftrag verbinden. Wie haben diese Normen die Kulturarbeit geprägt, wie werden sie durch die Kulturarbeit an die Adressaten herangetragen, und wie setzen sich die Adressaten mit diesem Appell auseinander? Zwei Schlüsselbegriffe, die ich dabei verwende, lauten „der Neue Mensch“ und „Arbeit an sich selbst“. Beide sind dem Sprachgebrauch der Kulturarbeit und der Kulturtheorie in Russland entlehnt (novyj čelovek; rabotat' nad soboj). Wenngleich der sozialistische Anspruch an die Formung des Neuen Menschen offiziell der Vergangenheit angehört, so hat er in der Kulturarbeit und in den gesellschaftspolitischen Debatten im Russland der Gegenwart doch einen sehr deutlichen Nachhall, so mein Argument. In dem Begriff „Arbeit an sich selbst“ manifestiert sich der zentrale Appell, den das Kulturhaus seiner Besucherschaft vermittelte und auch heute vermittelt. Diese „Arbeit an sich selbst“ kann niemals zu einem wirklichen Ende kommen (Bröckling 2003: 91). Ich stelle diesen Appell in den Kontext der „Technologien des Selbst“ (Foucault 1993): Das, was Menschen auf der Bühne des Kulturhauses darbieten, beschreibe ich als „performative Selbsttechniken“. Das, was sie zum Ausdruck bringen, ist ein ästhetisches Prinzip, eine gewisse Ordnung, ein Idealzustand. Kapitel 1 bietet einen ersten Eindruck von der Arbeit der Kulturhäuser in Sibirien. Im Verlauf des Kapitels konzentriere ich mich auf die im Kulturhaus allgegenwärtige Praxis der Auszeichnung, sei es in Gestalt von warmen Dankesworten, Teilnahmezertifikaten oder Preisen. Neben der Anerkennung von Individuen als Ausdruck der Wertschätzung seitens der Gemeinschaft erörtere ich auch die Anerkennung von Gemeinschaften (ethnischen Gruppen, Berufsständen usw.) als Ausdruck der gesamtgesellschaftlichen Legitimation. Dabei berufe ich mich auf Axel Honneth (2000, 2003a) und Charles Taylor (1994, 1995), also auf Vertreter der Soziologie mit einer moralphilosophischen Orientierung. In dem abschließenden Abschnitt vertrete ich die These, dass kul'tura und kultiviertes Verhalten in Russland häufig mit Respekt gleichgesetzt werden. Zur Beschreibung dieser Kategorie beziehe ich mich auf einen Soziologen, der in meiner Darstellung ansonsten eher eine „Nebenrolle“ spielt: Erving Goffman (1956, 1986). Die beiden anschließenden Kapitel basieren im wesentlichen auf den während der Feldforschungen gesammelten Daten. In beiden Kapiteln berufe ich mich hauptsächlich, jedoch nicht ausschließlich auf die Ergebnisse meiner eigenen Feldforschungen, darüber hinaus beziehe ich mich auf die Erkenntnisse der Kolleginnen und Kollegen, die 2006 an anderen Orten vergleichbare Daten erhoben haben. Lite-

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raturverweise sind hier nur in geringer Zahl enthalten, da ich es für angebracht halte, zunächst bestimmte Teile der Empirie der komparativen Untersuchung zusammenhängend darzustellen und nicht durch Verweise auf die Arbeiten „Dritter“ zu unterbrechen. Kapitel 2 – Kultur und Freizeit – nähert sich dem Kulturhaus aus der Perspektive der potenziellen Besucherinnen und Besucher. Hier wird der Frage nachgegangen, wieviel Zeit (wenn überhaupt) die in den untersuchten Gemeinden lebenden Menschen tatsächlich im Kulturhaus verbringen, was sie zum Besuch dieser Institution veranlasst, was sie davon abhält, und wie sie ihr Freizeitverhalten insgesamt beschreiben. Die Mehrheit der Erwachsenen, mit denen wir während der Feldforschungen gesprochen haben, betonen die Wichtigkeit des Kulturhauses – selbst diejenigen, die kaum jemals das Kulturhaus besucht haben. Das Kulturhaus ist in ihrer Wahrnehmung ein unverzichtbarer Bestandteil der örtlichen Infrastruktur, speziell für die Kinder und Jugendlichen der Gemeinde, die ihre Freizeit in sinnvoller Weise gestalten sollen. Mit einem Wort: Es ist gut, ein Kulturhaus zu haben, auch wenn man nicht dort hingeht. In einer Kleinstadt wie Kolyvan' profitiert das Kulturhaus davon, dass die Zahl der Veranstaltungsorte und öffentlichen Treffpunkte sehr begrenzt ist. Im Vergleich zu den Kulturhäusern in den Kleinstädten und Dörfern stehen die Kulturhäuser in der Großstadt unter einem eindeutig höheren Konkurrenzdruck zu kommerziellen Anbietern im Freizeitbereich. Deswegen verfolgen die städtischen Kulturhäuser in der Regel andere, „spezialisiertere“ Strategien hinsichtlich des Portfolios ihrer Angebote und Aktivitäten. Damit erreichen sie eher die älteren als die jungen Personen in der Nachbarschaft. Der letzte Abschnitt in Kapitel 2 porträtiert die weitverbreitete Klage vieler Erwachsener über die kulturelle Degeneriertheit der Jugendlichen (diese seien „zombifiziert“ durch Massen- und Popkultur, so heißt es). Jugendliche stehen bei den Erwachsenen unter dem Generalverdacht, sich zu Drogenkonsum und anderen „devianten“ Verhaltensweisen hinreißen zu lassen. Der Appell, der Devianz, Delinquenz und Degeneriertheit der Jugend entgegenzutreten, ist in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft vernehmbar. Das Kulturhaus, so wird erwartet, kann hier eine prophylaktische Wirkung entfalten, denn es bietet ein kontrolliertes Umfeld für die Freizeitgestaltung der jungen Menschen. Kapitel 3 behandelt zum einen das, was offiziell „zählt“ im Kulturbetrieb, also die Kriterien, nach denen sich die Leistung (performance) bemisst bzw. nach denen die Kulturhäuser und ihre Angestellten eingestuft werden. Zum anderen geht es um die ungeschriebenen Regeln der täglichen Arbeit und die lokalen Netzwerke gegenseitiger Unterstützung, an denen das Kulturhaus bzw. seine Angestellten teilnehmen. Kulturarbeiterinnen arbeiten an mehreren örtlichen Institutionen gleichzeitig, sind aber aufgrund der kargen Gehälter auch auf private Nebenverdienste angewiesen, z.B. durch Auftritte auf privaten Feiern. Naturgemäß werden diese informellen Arrangements in den Rechenschaftsberichten und Statistiken nicht abgebildet, sind

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aber für die erfolgreiche Arbeit des Kulturhauses umso entscheidender. Viele Angestellte sind mit dem „alten“, dirigistischen System des Kulturbetriebs wohl vertraut und können die informellen Freiräume gut abschätzen. Sie fühlen sich verunsichert von der gesetzlich verordneten „Flexibilisierung“: zwar verspricht diese mehr punktuelle Unterstützung für kreative Ideen und erfolgreiche Kollektive; zugleich impliziert sie die Abkehr von dem Prinzip der kulturellen Grundversorgung durch den Staat auch in den kleinen, entlegenen Ortschaften. Damit verabschiedet sich die staatliche Kulturpolitik von einem Ideal, das die Angestellten der Kultureinrichtungen im ländlichen Raum verständlicherweise weiterhin für wichtig erachten. Kapitel 4 ist der vom empirischen wie theoretischen Gehalt umfangreichste Teil meiner Studie. Es ist in mehrerer Hinsicht das zentrale Kapitel. Zum einen entwerfe ich hier den theoretischen Rahmen, der an die Diskussion von Anerkennung und Respekt in Kapitel 1 anknüpft und eine Grundlage für die Einordnung der in Kapitel 8 geäußerten Ideen (über performative Selbsttechniken) liefert. Zum anderen illustriert die ethnographische Beschreibung eine Facette des Kulturbetriebs, die besonders hell glitzert: der Show, der Zeremonie, der Aufführung. Anhand verschiedener Arten von Feiern, die vom bzw. im Kulturhaus durchgeführt werden, erörtere ich in einem ersten Schritt den Zusammenhang von Performanz, Ritual und Spektakel. Marvin Carlson (2004), Richard Quantz (1999), Victor Turner (1982, 1989), Don Handelman (1998), Michael Herzfeld (2001) sowie Caroline Humphrey und James Laidlaw (1994) sind die Autoren, auf die ich mich dabei im wesentlichen berufe. Im zweiten Schritt erweitere ich den gesteckten Rahmen, indem ich eine bestimmte Art des over-acting thematisiere. Der russische Begriff dafür lautet stëb, und Alexei Yurchak (2006) ist derjenige, der ihn in sozialwissenschaftlichen Umlauf gebracht hat. Stëb ist ironisch und todernst zugleich. Er entsteht nicht zufällig: mit Brian Sutton-Smith (1997) argumentiere ich, dass (Bühnen-)Spiele nicht so sehr dem Spieltrieb der Mitwirkenden entspringen, sondern dass sie zur Aufführung kommen müssen. In Anlehnung an Burkhard Schnepel (2008) konstatiere ich, dass die Mitwirkenden nicht die Akteure der Handlung, sondern die Getriebenen des Spiels sind. In einem dritten Schritt wende ich mich dem von Marcel Mauss und Émile Durkheim (1912) geprägten Begriff der Efferveszenz und seiner Doppeldeutigkeit zu, die nach Durkheim aus dem zweischneidigen Charakter des Menschen resultiert. Efferveszenz beschreibt einen Zustand der Erregung, des Aus-SichHinaus-Tretens. Er mündet – so mein Argument – entweder in Transzendenz, als ein Über-Sich-Hinaus-Wachsen, oder aber in Transgression, als ein Sich-GehenLassen. Dies veranschauliche ich anhand der inoffiziellen Feiern, die in Kolyvan' und auch andernorts den offiziellen Feiern regelmäßig folgen, und bei denen so gut wie immer Alkohol im Spiel ist (Koester 2003; Pesmen 2000). Es scheint, als ob die Ordnung der Dinge, die die offizielle Veranstaltung konstruiert und präsentiert, gelegentlich durch kollektive Entgleisungen wieder umgeworfen werden muss. Die

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Arbeit des Kulturhauses zielt darauf ab, gegen Chaos und Transgression anzuarbeiten, Ordnung zu schaffen, an das Gute und Schöne in den Menschen zu appellieren, sie zu kultivieren. Aber manchmal werfen auch die Angestellten des Kulturhauses selbst dieses Ideal über Bord. Kapitel 5 hat das Ziel, die Rolle der Kultureinrichtungen bei der staatlich propagierten patriotischen Erziehung zu analysieren. Dazu charakterisiere ich zunächst den offiziellen und gesellschaftlichen Diskurs über Patriotismus und seine militärischen ebenso wie zivilgesellschaftlichen Aspekte. Dabei beziehe ich mich auf die Arbeiten von Marlène Laruelle (2009), Anne Le Huérou und Elisabeth SiecaKozlowski (2008), Serguei Oushakine (2009), Anatoli Rapoport (2009) und anderen. Patriotismus hat normative Züge. Der Staat und seine Institutionen fordern, dass alle Staatsbürgerinnen und -bürger sich patriotisch verhalten. Das Projekt des Patriotismus bezweckt die Besinnung auf die „eigenen“ historischen Leistungen und Werte. Es enthält eine bewusste Abgrenzung von westlichen Wertmaßstäben, speziell eine Abgrenzung gegenüber dem Individualismus, der häufig als ein westliches, für die russländische Gesellschaft ungeeignetes Modell befunden wird. Hierin sehe ich eine wiedererstarkende Tendenz, die Bevölkerung zu disziplinieren und zur Selbstdisziplinierung zu bewegen. Die Kulturhäuser partizipieren in einem pädagogisch-militärisch-spielerischen Geflecht, dessen Aktivitäten – von der Volkstanzgruppe bis hin zum Wehrsportlager – alle mit dem Etikett „patriotische Erziehung“ versehen werden können. Die zunehmend inflationäre Verwendung des Begriffs „Patriotismus“ schafft neue Nischen, Betätigungsfelder und Finanzierungsquellen – auch für die Kulturhäuser. Kulturarbeit und patriotische Erziehung harmonieren so auffällig gut miteinander, weil sie an einem gemeinsamen Projekt arbeiten: an dem Appell an die Menschen, die geschaffenen Werte zu achten und sich für das Gemeinwohl (ihrer Kommune, ihres Staates) einzusetzen. Weit weniger kompatibel und harmonisch ist das Verhältnis zwischen Kultureinrichtungen und der dominierenden religiösen Gemeinschaft, der RussischOrthodoxen Kirche. In Kapitel 6 diskutiere ich die Zusammenhänge zwischen Religion als dem „alten“ Ritualsystem und Kultur als dem „neuen“, welches das alte gemäß den atheistischen Grundprinzipien des Staates ersetzen sollte. Hier beziehe ich mich vor allem auf die Arbeiten von Christopher Binns (1979), Sonja Luehrmann (2005) und Malte Rolf (2006). Des weiteren sind die Ergebnisse der von Chris Hann geleiteten Arbeitsgruppe Religion and Morality in European Russia (Köllner 2012; Ładykowska, in Vorb.; Zigon 2008) sowie die von Chris Hann und Hermann Goltz (2010) präsentierten Beiträge über die Russisch-Orthodoxe Kirche in diese Betrachtungen mit eingegangen. Hier bewege ich mich also im Übergangsbereich zwischen ethnologischen, religions- und geschichtswissenschaftlichen Studien. Die Ausführungen über die Leere und Unvollendetheit sozialistischer Vorzeigeobjekte wurden inspiriert durch die am Kulturhaus-Forschungsprojekt beteiligten Kolleginnen und Kollegen sowie durch Mathijs Pelkmans (2003) und Nikolai

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Ssorin-Chaikov (2003). Dieses Kapitel behandelt auch die Gestaltung des Kulturhauses als (Arbeiter-)Tempel. Die architekturhistorischen Arbeiten, die mir hierzu vorliegen, sind die von Michael Drewelow (1989), Simone Hain (1996a, b), Ulrich Hartung (1997), im weiteren Sinne auch Boris Groys (1994) und Vladimir Papernyj (2007). Kapitel 7 enthält vier historische Skizzen, die unterschiedliche Facetten des Prozesses der Kultivierung als Zivilisierung beleuchten. Die erste Skizze spürt dem Erscheinen dieser Begrifflichkeit (konkret: civilizatorskaja missija und kul'turnost') in der russischen Sprache nach. Michael Khodarkovsky (2002), Gabriela LehmannCarli (2011), Jürgen Osterhammel (2005), Klaus Städtke (1995) und Yuri Slezkine (1994) geben mir die Möglichkeit der historischen Kontextualisierung. Die zweite Skizze behandelt die zivilisatorische Mission der Sowjets gegenüber der indigenen Bevölkerung im Hohen Norden und Fernen Osten. Es geht hier um den Aufbau eines Netzes von Kultureinrichtungen in den entferntesten Landesteilen. Yuri Slezkine (1994), Michail Sergeev (1955) und meine früheren Forschungen in diese Richtung bilden die Basis für die Ausführungen. In der dritte Skizze setze ich Norbert Elias’ Theorie der Zivilisation ([1939] 1997) in Bezug zu den Ausführungen von Stephen Kotkin (1995) über die Kultivierung des neuen Industrieproletariats in den Industriezentren der Sowjetunion der 1930er Jahre. Damit folge ich dem Ansatz von Vadim Volkov (2000), die Grundlinien des „Stalinist civilizing process“ herauszuarbeiten. Die vierte und umfangreichste Skizze beleuchtet den Wandel bestimmter Formen nicht nur in der architektonischen, sondern vor allem in der performativen Ausrichtung der Kultureinrichtungen. Konkret geht es um die Abkehr von den lauten und grellen Formen (die um 1920 und nochmals um 1930 präferiert wurden) und die Hinwendung zu neo-klassischen, symmetrischen, hierarchisierenden Formen (die ab etwa 1933 Einzug hielten und bis in die 1960er Jahre nachwirkten). Hier berufe ich mich auf Michael David-Fox (1999), Sheila Fitzpatrick (1970), Lynn Mally (2000, 2003) und Richard Stites (1992). In allen vier Skizzen werden Prinzipien behandelt, die ein idealistisches Bild vom „richtigen Leben“ vermitteln sollen. Diese Überzeugungsarbeit findet in komplementären Modi statt: der Appell an das Gegenüber („du musst dich ändern“) wird durch bestimmte Mechanismen und unter bestimmten Bedingungen als ein Appell an sich selbst verinnerlicht („ich muss mich ändern“). Ziel der Veränderung ist das Erreichen einer neuen Existenz, die aber in ihrer strengen Normativität unerreichbar bleibt. Der „Neue Mensch“, dessen Formung das Ziel des sowjetischen Modernisierungs- und Kultivierungsprojekts war, hat aufgrund seiner Perfektion nicht nur etwas Unnatürliches, sondern auch etwas Unmenschliches. Kapitel 8 dreht sich um die Frage, was das Bühnenspiel mit den Personen auf der Bühne macht, und wie sie mit ihm umgehen. Anlass dieser Betrachtung ist der scheinbare Widerspruch zwischen dem Aspekt des Mitmachens, um den Schein zu wahren (pokazucha), und dem Aspekt der enthusiastischen Freude, der Transzen-

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denz und Efferveszenz, die in Kapitel 4 angesprochen wurden. Diese beiden Aspekte beschreiben lediglich zwei „Herangehensweisen“ in einer Vielzahl von Motivationen und Haltungen, die die Darbietenden gegenüber der Darbietung einnehmen. Des weiteren lassen sich folgende Motivationen und Haltungen ausmachen: Mitmachen, um die eigenen Talente unter Beweis zu stellen und die Anerkennung der Gemeinschaft zu erlangen (Kapitel 1); Mitmachen, um eine Ausgrenzung zu vermeiden (Oleg Kharkhordin 1999); Mitmachen, weil es „eigentlich um etwas ganz anderes geht“ – weil die Beteiligung informelle Gestaltungsräume schafft (Alexei Yurchak 2006); übertriebenes Mitmachen als eine Flucht nach vorn (ebd.); Mitmachen, weil irgend jemand sich ja opfern muss, damit das (top-down instruierte) Spiel ausgeführt werden kann (Istvan Sántha und Tatiana Safonova 2011). Diese Motivationen und Haltungen können simultan, in Kombination miteinander am Werke sein, selbst wenn sie nicht in Einklang miteinander stehen. Insofern die Bühne des Kulturhauses ein öffentlicher Raum ist, machen sich auch die Darbietenden öffentlich. Sie verkörpern mit ihren Aufführungen das Streben nach einem Zustand der Ordnung und der Kultiviertheit. Sie zeigen die Resultate der „Arbeit an sich selbst“. Für dieses Sich-Zeigen verwende ich Foucaults Konzept der publicatio sui und den von ihm in diesem Zusammenhang angeführten Begriff der „Technologien des Selbst“ (Michel Foucault 1993). Die Darbietungen auf der Bühne des Kulturhauses beruhen auf der Ausübung performativer Selbsttechniken. Es handelt sich um öffentlich zur Schau gestellte Akte der Selbstdisziplinierung. Wenngleich diese Begrifflichkeit zunächst einmal überwiegend negative Assoziationen (Druck von außen, Autoaggression usw.) impliziert, so zeigen sich doch – nicht nur im Kulturhaus, aber gerade dort – die produktiven, euphorischen, manchmal auch ekstatischen Elemente (Tamara Kohn 2008). Ich setze das Kapitel fort mit der These, dass Foucaults Ausführungen über gelehrige Körper, über den „Menschen als Maschine“ nicht nur auf Schulhof und Kaserne, Werkstatt und Spital (1994: 180) zutreffen, sondern auch und gerade auf den Bereich der Freizeit. Freizeit soll sinnvoll und produktiv genutzt werden, sie ist Zeit für „Arbeit an sich selbst“. Der letzte Teil des Kapitels 8 enthält meinen Versuch, die positiven, performativen Aspekte der Selbstdisziplinierung im Lichte der von Foucault thematisierten „Ästhetisierung der Existenz“ zu betrachten. Dabei nehme ich nochmals den Begriff der Transzendenz aus Kapitel 4 wieder auf: hier steht er für die Magie der Bühne, das Lampenfieber, die „Entdeckung“ des eigenen Talents und das Über-Sich-Hinauswachsen. Zum Abschluss der Studie füge ich in Kapitel 9 die verschiedenen zuvor dargestellten Facetten und „Färbungen“ von Kultur zusammen und argumentiere, dass das landläufige Verständnis von Kultur in Russland ein idealisiertes ist, denn Kultur selbst ist das Ideal, nach dem alle streben. Kultur steht synonym für Ordnung und vollendete Ästhetik, für die Ordnung der Dinge und den geordneten Zustand der Gesellschaft. Das Kulturhaus sollte der Ort sein, wo diese Ästhetik bildlich und klanglich dargestellt wird, wo die Gemeinde sich selbst in einer positiven, harmoni-

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schen Form präsentieren und im Spiegel betrachten kann, wo sie sich selbst von ihrer Kultiviertheit überzeugen kann. All das sollte das Kulturhaus leisten – idealerweise. Nicht immer kann das Kulturhaus dem hehren Anspruch gerecht werden, ein Haus der Kultur zu sein; nicht immer strahlt es Freude und Schönheit und niveauvolle Freizeitbeschäftigung aus. Im Gegenteil: viele Kulturhäuser scheinen sehr weit von diesem Ideal entfernt zu sein, sie sind Orte der Ödnis, Langeweile und Armut. Sie verkörpern das Scheitern eines gesellschaftlichen Projekts. Im Nachwort spüre ich dieser Ödnis nach, versuche mich aber zugleich an einem „zivilgesellschaftlichen“ Plädoyer für die Institution Kulturhaus. Meine Schlussfolgerung lautet, dass das, was zur Aufführung kommt, einen Idealzustand evoziert: angestrebt wird ein kultiviertes Leben. Der Begriff Kultur selbst bezeichnet dieses Ideal. Die künstlerische performance dient der Erziehung und der Überzeugungsarbeit. Im übertragenen Sinne bezieht sich das Wort performance aber auch auf die organisatorischen, management-bezogenen „Leistungen“ der Kultureinrichtungen, welche in den offiziellen Berichten oft ein wenig geschönt werden, um dem staatlich vorgegebenen Leitbild des Kulturhauses zu entsprechen. Die Mission des Kulturhauses richtet sich also zum einen an seine potenziellen Besucherinnen und Besucher: diese „sollen an sich arbeiten“ und durch kreative Selbstexpression einem gesellschaftlichen Ideal näherkommen (die künstlerische Darbietung dient als Mittel der Kultivierung). Zum anderen aber muss die Arbeit des Kulturhauses auch dem staatlichen Ideal eines effizienten Kulturbetriebs Rechnung tragen und darauf abzielen, die Bedeutung der Institution für die Gesellschaft herauszustreichen.

Z UM H INTERGRUND DES F ORSCHUNGSPROJEKTS Das Projekt Social Significance of the House of Culture in Siberia wurde als vergleichendes Forschungsprojekt des Sibirienzentrums am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung formuliert. Neben mir selbst waren Brian Donahoe, Agnieszka Halemba, István Sántha, Virginie Vaté maßgeblich daran beteiligt. Im Frühjahr 2006 haben wir an fünf Orten in Sibirien Feldforschungen speziell für dieses Projekt durchgeführt. Die Ergebnisse wurden – zusammen mit Beiträgen anderer Autorinnen und Autoren – in einem Sammelband mit dem Titel Reconstructing the House of Culture veröffentlicht, an dem ich als Mitherausgeber beteiligt war (Donahoe/Habeck 2011). Die einzelnen Etappen der Planung, Durchführung und Auswertung der komparativen Untersuchung sind in Anhang 1 dargestellt. Die vorliegende Arbeit macht sich die Ergebnisse der vergleichenden Studie zunutze, geht aber sowohl in empirischer als auch theoretischer Hinsicht darüber hinaus.

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Abbildung 1: Feldforschungsorte

Die in dem vorliegenden Buch dargelegten Gedanken wurden, falls nicht anders gekennzeichnet, von mir selbst formuliert, sind aber zu einem nicht unwesentlichen Teil vom gemeinsamen Forschungsprojekt inspiriert (dort, wo ich auf die Daten der beteiligten Kolleginnen und Kollegen zurückgreife, weise ich explizit darauf hin).13

13 Die in diesem Buch dargelegten Erkenntnisse basieren also auf folgenden Materialien: 1. die Daten meiner Feldforschung 2006 in Kolyvan' im Rahmen der vergleichenden Studie (Survey, Interviews, Dokumente aus Kulturhaus- und Archivbeständen) unter Mitwirkung von Svetlana Aleksandrovna Ivanova (Madjukova); 2. zu Vergleichszwecken die Daten meiner Kolleginnen und Kollegen, die 2006 andernorts arbeiteten (Survey, Interviews, Dokumente aus Kulturhaus- und Archivbeständen); 3. die Daten meiner Feldforschung 2007 in Novosibirsk im Nachgang zur vergleichenden Untersuchung (Survey, Interviews, Dokumente aus Kulturhausbeständen) unter Mitwirkung von S.A. Ivanova

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R EDAKTIONELLE H INWEISE Ich habe mich bemüht, beim Abfassen des Manuskripts einen möglichst klaren und einfachen Stil zu verwenden. Von einem übermäßigen Gebrauch wissenschaftlicher Fachtermini habe ich, wo es möglich war, abgesehen. Ich sehe keinen Anlass, mich vom Objekt der Forschung und den Personen, mit denen ich während der Feldforschung zu tun hatte, durch eine allzu abstrakte Sprache zu distanzieren. Viele meiner Gewährsleute haben mit einem gewissen Stolz und manchmal mit einem Augenzwinkern auf meine Fragen Antwort gegeben. Diesen Stolz, aber auch das Augenzwinkern, möchte ich an die Leserschaft weitergeben. Die Feldforschungen brachten sehr viel Freude, aber auch gelegentliche Frustrationen mit sich. Letztere finden Ausdruck im Nachwort, das in essayistischer Form gehalten ist. Die Freude am Forschungsgegenstand, die im Kulturbetrieb gelegentlich auftretende Situationskomik und die Verve der Kulturarbeiterinnen, aber auch mein nie erloschenes Erstaunen über manche Prinzipien und Praktiken der Kulturarbeit sind hoffentlich aus diesem Text herauszulesen. Sozialwissenschaftliche Texte in deutscher Sprache enthalten häufig eine Fußnote, in der die Autorin bzw. der Autor sich zur Verwendung des grammatischen Geschlechts bei Pluralformen von Substantiven äußert. Wenngleich ich die Verfechter der konventionellen Variante – wonach weibliche Personen in grammatisch männlichen Pluralformen „inbegriffen“ sind – in ihrer Haltung verstehen kann, so ist diese Herangehensweise für das hier zu erörternde Thema nicht angebracht. Sowohl in Hinblick auf die Personen, die im Kulturhaus arbeiten, als auch auf diejenigen, die das Kulturhaus besuchen, sind signifikante Ungleichgewichte zwischen den Geschlechtern zu konstatieren: die meisten Angestellten in den Kulturhäusern sind weiblich, die für Tontechnik und andere technische Belange zuständigen Angestellten jedoch männlich. Pädagogische und – allgemein gesprochen – erzieherische Tätigkeit ist in der russischen Gesellschaft überwiegend weiblich konnotiert. In pädagogischen Berufen findet sich nur ein geringer Prozentsatz von Männern. Was die Gruppe der Besuchenden angeht, so sind unter Kindern beide Geschlechter etwa gleich stark vertreten, während in der Gruppe der Erwachsenen der Anteil der Frauen überwiegt (die Gründe dafür werde ich später präzisieren). Ich habe mich entschieden, in diesem Text neutrale Formen zu verwenden, wo es möglich ist; im übrigen nenne ich beide Formen. In Komposita wie Besucherschaft, Einwohnerschaft usw. benutze ich die männliche Grundform, ebenso wie bei Begriffen wie (Madjukova); 4. wissenschaftliche Veröffentlichungen in russischer, englischer, deutscher und französischer Sprache, die der Ethnologie, Sozialanthropologie, Soziologie, Philosophie, Geschichte und Architektur, aber auch den Politik- und Erziehungswissenschaften zuzuordnen sind; sowie 5. Materialien und Berichte über Kultur und Freizeit in Russland, die in Printmedien und/oder online erschienen sind.

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Anbieter, Träger usw., die sich eher auf Organisationen denn auf Personen beziehen. Die Wahl der weiblichen Pluralform „Kulturarbeiterinnen“ ist beabsichtigt, denn ich beziehe mich dabei auf einen Personenkreis, der ganz überwiegend aus Frauen besteht, in einzelnen Fällen aber auch Männer mit einschließen kann. Für die vergleichende Feldforschung wurde eine Vielzahl von Interviews durchgeführt, dabei haben die Mitglieder des Teams die Informantin bzw. den Informanten gefragt, ob der Name genannt werden darf. Einige Personen zogen es vor, anonym zu bleiben. Die Namen der anderen Gewährsleute nenne ich mit deren ausdrücklicher Zustimmung. In Kapitel 4 und an einigen anderen Stellen berichte ich über Veranstaltungen im Kulturhaus, hier erscheint mir die Nennung der Namen der beteiligten Personen als unproblematisch, da sie auf der Bühne und in aller Öffentlichkeit agierten. Zitate aus Veröffentlichungen in englischer Sprache sind nicht übersetzt. Russische Namen von Autorinnen bzw. Autoren englischsprachiger Veröffentlichungen sind so angegeben, wie sie im Titel der jeweiligen Publikation erscheinen. Übersetzungen aus dem Russischen habe ich, wenn nicht anders vermerkt, selbst vorgenommen. Die Werke von Georgij Smirnov ([1973] 1975) und Arnol'd Arnol'dov (1975) habe ich in ihrer deutschen Übersetzung benutzt und hier zitiert. Bei der Wiedergabe von Begriffen und Zitaten aus dem Russischen und anderen Sprachen, die das kyrillische Alphabet verwenden, folge ich der im deutschsprachigen Raum üblichen wissenschaftlichen Transliteration nach DIN 1460. Dabei steht ein einzelner Anführungsstrich ' für den kyrillischen Buchstaben ь, ein doppelter Anführungsstrich " für ъ.

Kapitel 1 Kultur und Respekt: Die Aushandlung gesellschaftlicher Anerkennung im Kulturhaus

Zum Auftakt dieses Kapitels ein Ausschnitt aus einem Interview mit der Leiterin der Abteilung für Kultur in Kolyvan', Natal'ja Stepanovna Družinina (26. April 2006): „Wir nehmen ganz viele verschiedene Nominierungen vor, um möglichst viel auszuzeichnen. Das Papier [der Urkunde] selbst kostet [nur] 10 Rubel, aber es ist moralisch wertvoll. Moralisch sehr wertvoll, wenn man jemanden auf die Bühne ruft, ihm die Hand drückt und sagt, ‚Danke dafür, dass es dich gibt, dafür dass du, auch wenn du so beschäftigt bist, dir das Leben schön gestaltest und dank deines Talents auch anderen die Freizeit schön machst.‘ Genau dafür sage ich ihnen Dankeschön. Und sie sind stolz darauf, sie hängen sich das zu Hause im Rahmen an die Wand und sagen: ‚so und so viele Urkunden habe ich!‘ ‚Und ich so und so viele!‘ Wissen Sie, das ist wie ein Zeichen der Anerkennung dafür, dass sie ohne Bezahlung arbeiten, so wie … – wie sagt man? – Altruisten.“ „Na, also eben Auszeichnungen, um …“ „Ja, Auszeichnungen. Wir haben, sagen wir, 45 Personen, und belohnen 10 bis 15 [von ihnen]. Und von den 15 wählen wir die aus, die sich am meisten hervorgetan haben. Den einen für das Neuartige, den anderen für das Artistische [an der Darbietung], irgend so eine Nominierung, die … Was das künstlerische Niveau angeht, ist alles gleich, aber … wie es dann halt ausgeführt wurde, wie anrührend es war. Und dafür geben wir eine Ehrenurkunde. Das heißt, das [Stück] war halt doch von allen das Beste. Und den Leuten gefällt das, sie schätzen das.“

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In diesem ersten Kapitel1 möchte ich einige wesentliche soziale Funktionen der Kulturhäuser vorstellen, nämlich die Pflege sozialer Netzwerke, die Einbeziehung von Personengruppen in bestimmte gesellschaftliche Projekte, sowie die Gestaltung distinkter kollektiver Identitäten. Gleichzeitig dient dieses Kapitel dazu, die beiden Kulturhäuser, die ich im Laufe der Feldforschungen 2006 und 2007 besonders eingehend erforscht habe, vorzustellen und ihr Tätigkeitsspektrum zu charakterisieren: zum einen das Kulturhaus Točmaševec [sprich: Totschmáschewjetz] in einem alten Arbeiterbezirk der Stadt Novosibirsk, zum andern das Kulturhaus von Kolyvan', einer Kleinstadt in der weiteren Umgebung von Novosibirsk. Točmaševec stellt in der „Kulturlandschaft“ von Novosibirsk einen besonderen Standort dar: es dient nicht nur als Treffpunkt für nachbarschaftliche Aktivitäten des Wohngebietes, in dem es sich befindet, sondern war zeitweilig auch Basis für die kulturellen Organisationen verschiedener ethnischer Minderheiten der Stadt. Daher möchte ich in diesem Kapitel auch auf die Besonderheiten der ethnokulturellen Produktion und Präsentation eingehen. Das Kulturhaus von Kolyvan' stellt einen ganz anderen Fall dar: Musik- und Tanzpädagogik und Bühnenspiel nehmen hier eine viel wichtigere Rolle ein als nachbarschaftliches „networking“ oder auch ethno-kulturelle Inszenierungen. Die sozialen Netzwerke in Kolyvan' scheinen vergleichsweise intakt und sind nicht so sehr von der Arbeit des Kulturhauses abhängig; in einer Kleinstadt kommen Begegnungen – auch zufällige – häufiger zustande als in einer Großstadt. Die Tätigkeit des Kulturhauses von Kolyvan' richtet sich eher auf künstlerische Darstellungen für ein Publikum, das sowohl aus Kolyvan' selbst als auch von auswärts kommt. Das Kulturhaus nimmt teil an der Imagepflege des Städtchens, wobei das reiche kulturelle Erbe beschworen wird. Zum Ausdruck kommt also die Identität der Kommune (im Sinne eines sich seiner eigenen Bedeutung bewussten Gemeinwesens). Der Vergleich der beiden Fälle führt darüber hinaus zu einer allgemeineren Beobachtung von sozialer Relevanz. Hinter all den unterschiedlichen Funktionen der Kulturhäuser wird eine gemeinsame, aber nicht explizit geäußerte Motivation erkennbar, nämlich der Ausdruck gesellschaftlicher Anerkennung im öffentlichen Raum. Anhand einer Erörterung des Begriffes „Anerkennung“ in den von Charles 1

Dieses Kapitel ist eine leicht veränderte und um den Abschnitt „Ethno-Kultur“ ergänzte Übersetzung des Kapitels „‚Thank You for Being‘: Neighborhood, Ethno-Culture, and Social Recognition in the House of Culture“ im Sammelband Reconstructing the House of Culture (Habeck 2011b). Eine Skizze über das Kulturhaus in Kolyvan' wurde außerdem als Teil des Artikels „Inszenierungen von Kultur und Kultiviertheit, oder warum manche Menschen ihre Freizeit im Kulturhaus verbringen und andere nicht“ in der online-Zeitschrift kultura veröffentlicht (Habeck 2007). Diese Zeitschrift erschien als deutsche und englische Ausgabe. Die von Hartmute Trepper besorgte und von mir autorisierte Übersetzung ins Deutsche weicht sprachlich von der Version im vorliegenden Werk ab.

K ULTUR

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Taylor und Axel Honneth dazu verfassten Arbeiten möchte ich zeigen, wieso und wie sehr das Kulturhaus in den Prozess der Zuteilung gesellschaftlicher Anerkennung eingebunden ist.

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Im folgenden möchte ich die Leserinnen und Leser mit dem Kulturhaus von Kolyvan' bekannt machen, welches im Vergleich mit anderen Kulturhäusern der Region Novosibirsk als vorbildlich gilt. Auf den ersten Blick erscheint Kolyvan' als eine ganz gewöhnliche westsibirische Kleinstadt, doch würden wohl viele der 11.000 Einwohner gegen diese Einschätzung protestieren. Sie verweisen auf die Architektur aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Stadt ein recht dynamisches Handels- und Dienstleistungszentrum und eine wichtige Station auf der alten Fernstraße von Moskau nach Irkutsk war. Nachdem aber 1896/97 die Eisenbahnbrücke über den Fluss Ob' 50 km südlich von Kolyvan’ fertiggestellt worden war, wurde die Stadt in jeder Hinsicht vom schnell wachsenden Novosibirsk, damals noch Novonikolaevsk, überholt. Kolyvan' blieb zwar das Zentrum eines ländlich geprägten Landkreises, entwickelt sich jedoch seit etwa 15 Jahren immer mehr zu einem weit vorgelagerten Vorort von Novosibirsk, wohin viele Leute täglich mit dem Auto oder dem Bus pendeln. Die Zahl der Arbeitsplätze in Kolyvan' selbst hat abgenommen. Die in Kolyvan' wohnenden Berufspendler haben praktisch keine Zeit, an den Aktivitäten des örtlichen Kulturhauses teilzunehmen oder größere Veranstaltungen in Kolyvan' zu besuchen, mit Ausnahme einiger besonders wichtiger Events an hohen Feiertagen. Zu denen gehört die Gedenkfeier am 9. Mai, dem Tag des Sieges der Roten Armee über Deutschland, die auf dem Platz vor dem Kriegerdenkmal stattfindet. Für die Organisation der Feier sind vorwiegend die Kulturhausmitarbeiterinnen zuständig; sie entwerfen das Szenario, führen durch das Programm und kümmern sich um die erforderlichen technischen Anlagen. Von den Kindern und Jugendlichen, die sich mehr oder weniger regelmäßig in den Tanz- oder Gesangsgruppen des Kulturhauses betätigen, wird erwartet, dass sie die Feier mitgestalten. Wer in welcher Funktion an den Feierlichkeiten zum 9. Mai teilnimmt, wird in Kapitel 4 detailliert dargestellt. Generell gleichen die Prinzipien der Ausrichtung von Feiertagen in Kolyvan' denen in vielen anderen Orten Russlands: die Verwaltung des Ortes gibt etwas Geld, die Angestellten des Kulturhauses entwickeln die Ideen und übernehmen ihre Umsetzung, und mehrere künstlerische Kollektive und Zirkel üben in ihrer Freizeit Lieder und Tänze ein, die sie dann bei den Festlichkeiten vorführen.

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Die Bediensteten des Kulturhauses von Kolyvan' bereisen von Zeit zu Zeit die kleineren Kulturhäuser und Klubs auf dem Land, um dort Wettbewerbe und Musikveranstaltungen zu organisieren und die Weiterbildung anzuleiten. Derlei Besuche haben häufig den Charakter einer Kontrollvisite: Die Jury, der sowohl Vertreterinnen des Kreiskulturamtes als auch Mitarbeiterinnen des Kulturhauses von Kolyvan' angehören, bewerten erklärtermaßen die Leistungen der Laienkünstler, gleichzeitig haben sie die Gelegenheit, inoffiziell die Leistung des jeweiligen Kulturhauses oder Klubs zu beurteilen. Letztere sind dem Kreiskulturamt unterstellt. Das Kulturhaus von Kolyvan' trägt den Namen „Kreiskulturhaus“ und soll den anderen Kulturhäusern im Kreis organisatorische und auch technische Hilfe und Unterstützung anbieten (vgl. Kapitel 3). Es war bei einem solchen Laienwettbewerb, dass die Leiterin des Kreiskulturamtes sich wiederholt bei allen Teilnehmenden mit dem zu Beginn dieses Kapitels zitierten Ausruf Spasibo za to, čto vy est'! („Danke dafür, dass es

Abbildung 2: Der Laienwettbewerb in Skala, einem Dorf in der Nähe von Kolyvan', endet mit der Verleihung von Urkunden an alle Mitwirkenden. Der Schriftzug auf dem Vorhang lautet POVER' V SEBJA! – zu deutsch: „Glaube an dich selbst!“. Die teilnehmenden Personen werden ermutigt, ihre Talente unter Beweis zu stellen. Foto: JOH, 30. April 2006

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Sie gibt!“) bedankte (Abb. 2). Dabei sein ist alles, und für alle Mitwirkenden gab es eine Urkunde – selbst für diejenigen, deren künstlerische Qualität nicht so sehr überzeugte. Die Mitarbeiterinnen des Kulturhauses von Kolyvan' zeigten sich bei diesem Anlass nonchalant und behandelten ihre Kollegen aus den Dörfern und die ländliche Bevölkerung leicht herablassend. Bei anderen Anlässen jedoch sind sie es selbst, die sich bewähren müssen. Im Vorfeld von „hohem Besuch“ aus Novosibirsk macht sich im Kulturhaus von Kolyvan' zunehmende Nervosität bemerkbar, und die Zahl der Proben nimmt wenige Tage vor dem eigentlichen Event sprunghaft zu. Proben für ein großes Ereignis mit wichtigen auswärtigen Gästen finden nicht regelmäßig statt, müssen aber, wenn sie dann stattfinden, umso effizienter sein. Nach offiziellen Angaben hat das Kulturhaus von Kolyvan' 30 zumeist weibliche Mitarbeiter, die üblicherweise zwei oder sogar drei Arbeitsstellen innehaben, indem sie außer am Kulturhaus noch in anderen Einrichtungen, wie z. B. den örtlichen Schulen, tätig sind. Neben dem Entwerfen von Szenarios für die verschiedensten Anlässe gehören die Proben mit Kindern und Jugendlichen aller Altersstufen zur alltäglichen Arbeit. An einem gewöhnlichen Werktag tönt vom frühen Nachmittag bis zum Abend Musik durch die Flure des Gebäudes. Klavierspiel, Gesang und Begleitmusik vom Band für die Tanzgruppen dringen aus den verschiedenen Räumen. Offiziell hat das Kulturhaus 22 künstlerische Arbeitsgruppen, von denen allerdings nur 14 wirklich aktiv sind (die Gründe dafür werden in Kapitel 3 benannt). Die erfolgreichsten Gruppen erhalten offizielle Anerkennung, indem sie zu „Vorbildlichen Kollektiven“ (obrazcovyj kollektiv) oder „Volkskollektiven“ (narodnyj kollektiv) ernannt werden. Mit dieser Auszeichnung geht eine Art Beförderung und bessere Bezahlung der leitenden Person der Gruppe einher. Kolyvan' ist stolz darauf, drei solcherart ausgezeichnete Kollektive zu beherbergen.2 Weniger glanzvoll, doch ebenfalls Teil des Alltagsgeschäfts des Kulturhauses sind gelegentliche Filmvorführungen. Nach Angaben einiger Befragter kamen die Leute früher viel häufiger ins Kulturhaus, um Filme anzusehen, denn sie hatten zu Hause noch keine Fernsehgeräte. Der Kinobesuch auf den hölzernen Sitzgelegenheiten und in dem etwas spartanischen Ambiente des Saals lässt sich nur schwerlich mit dem Kino-„Erlebnis“ in den neuen strahlenden Kinopalästen von Novosibirsk vergleichen, wo Experten der örtlichen Kulturszene von einem spürbaren KinoRevival sprechen. Mit den Filmvorführungen zieht das Kulturhaus daher keine größeren Gruppen Jugendlicher an, wohl aber mit den Disco-Veranstaltungen jeden Samstag, zu denen bis zu 200 Besucher kommen. Der Erfolg der Disco beleuchtet deutlich den in vielen Kulturhäusern schwelenden Konflikt zwischen Unterhaltung und erzieherischem Anspruch. In den Augen der Kulturhausbediensteten hat die 2

Drei davon sind im Stellenplan aufgeführt, siehe Anhang 7.1, das vierte Kollektiv – ein Kindertanzensemble mit dem Namen „Rovesnik“ – hat diesen Status vor einigen Jahren eingebüßt, s. Anhang 6.

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Disco nur einen geringen oder gar keinen kulturellen Wert. Im Gegenteil: Die Jugendlichen werden gelegentlich in Raufereien hineingezogen, sie trinken Alkohol (außerhalb des Gebäudes) und pflegen andere „schlechte Gewohnheiten“. Dennoch ist die Disco unverändert eine der populärsten Veranstaltungen des Kulturhauses. Kinder und Jugendliche besuchen das Kulturhaus häufiger als die erwachsenen Einwohner von Kolyvan'. Aber auch unter den Kindern und Jugendlichen ist die Zahl derjenigen, die sich in den Gesangs- oder Tanzgruppen engagieren, nur gering. Dennoch lassen die Ergebnisse der Umfrage (vgl. Anhang 3.2) vermuten, dass das Engagement dieser „Aktiven“ von denen, die lieber zu Hause bleiben, hoch geachtet wird, denn sie stärken den Gemeinschaftsgeist im kommunalen Leben und stellen den hohen Grad der „Kultiviertheit“ des Gemeinwesens zur Schau. Die Anlässe für solche Präsentationen sind verschiedener Art. Es scheint, als müsse die Kommune, genauer gesagt, ihre politische und intellektuelle Elite, größtmögliche Unterstützung seitens der Bürger für die Inszenierung von „Kultur“ und „Kultiviertheit“ mobilisieren, wenn Honoratioren aus Novosibirsk oder anderen Städten zu Besuch kommen. Der materielle Anreiz äußert sich in Preisen für die erfolgreichsten Ausführenden und gelegentlich auch in einer großzügigeren Finanzierung der kommunalen Kultureinrichtungen. Der nichtmaterielle Gewinn besteht darin, dass die Kleinstadt ihren Ruf als ein Zentrum kultureller Kompetenz mit einem lebendigen Kulturerbe erfolgreich verteidigt. Auf dieselbe Weise wird in vielen anderen Kommunen und Regionen Russlands verfahren. Einige meiner Projektpartner interpretieren dies als pokazucha (d.h. als einen Ausdruck bloß gespielter Anteilnahme, das Zurschaustellen unechten Interesses, siehe Sántha/Safonova 2011). Doch die „Show“ zielt nicht nur auf die Außenwirkung ab, sie bestätigt auch das Selbstbewusstsein der Kommune insgesamt sowie der einzelnen Teilnehmenden. Diese sind es, die dem Ort sein Gesicht geben und zu seiner Identität beitragen, wobei das Kulturhaus ihnen den Handlungsraum zur Verfügung stellt. Bestärkt werden sie darin von einem Publikum, das hauptsächlich aus Unterstützern, vor allem Verwandten und Freunden, besteht. Selbst wenn das Drehbuch, die Bewegungen oder die Kostüme manchmal übermäßig kitschig oder unfreiwillig komisch wirken, ist den Akteuren freundliche – zuweilen begeisterte – Anerkennung gewiss, denn das Image des ganzen Gemeinwesens steht auf dem Spiel. Das Kulturhaus hat offenbar in nicht wenigen Kleinstädten und ländlichen Kommunen seine Funktion als Treffpunkt und als wichtiger Bezugspunkt im öffentlichen Leben bewahren oder wiedererlangen können. Darüber hinaus bereitet es den Menschen Freude und macht sie stolz, wenn sie sich selbst, ihr Kollektiv oder ihr Gemeinwesen auf der Bühne vorstellen können. Sie demonstrieren ihren Mitbürgern wie auch auswärtigen Besuchern ihre Kreativität, ihr Talent und ihr „kulturelles Niveau“ (uroven' kul'turnosti). Das Kulturhaus bietet damit einen Ort, wo das Gemeinwesen kreativ und kollektiv an seinem Erscheinungsbild arbeitet.

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T OČMAŠEVEC : N ACHBARSCHAFTLICHE H ILFE W OHNGEBIET EINER G ROSSSTADT

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Das zweite Fallbeispiel, das Kulturhaus Točmaševec, befindet sich im Nordosten der Stadt Novosibirsk, die ungefähr 1,5 Millionen Einwohner zählt. Das Kulturhaus ist vergleichsweise klein, es besitzt etwa zehn Räume unterschiedlicher Größe, hat aber keine Bühne mit Auditorium. In vielerlei Hinsicht lässt es sich als Nachbarschaftszentrum charakterisieren. Untergebracht ist das Kulturhaus im Erdgeschoss eines vierstöckigen Gebäudes aus den 1930er Jahren mit wechselvoller Geschichte, was seine Planung und Nutzung betrifft. In dem Gebäude sind neben dem Kulturhaus die örtliche Justizvollzugsbehörde, ein kleines Computergeschäft sowie weitere Unternehmen und Behörden untergebracht; die oberen Stockwerke werden als Wohnfläche genutzt. Viele der Personen, die das Kulturhaus regelmäßig besuchen, sind bemüht um die Aufrechterhaltung der sozialen Netzwerke, die sich in den umliegenden Fabriken und Betrieben entwickelt hatten und durch die Schließungen und Entlassungen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Dieser Stadtteil – Dzeržinskij rajon – hat ein sehr industrielles Gepräge. Das Wohngebiet, in dem sich das Kulturhaus befindet, ist umringt von kleineren und größeren Betrieben, die Militärflugzeuge, Radiogeräte, Maschinen und Werkzeug produzierten. Einer der größten Betriebe war Točmaš (ein Kurzwort, dass sich auf Messtechnik bezieht) – im Stadtteil auch bekannt unter dem Namen Kometa. Er hatte in seinen besten Tagen etwa 14.000 Angestellte. Die Produktionsaufträge kamen vor allem vom Militär, daneben wurden auch Kassettenrecorder für den zivilen Bedarf hergestellt. Ab etwa 1990 wurde die Produktion zunächst konvertiert, doch schon wenige Jahre darauf musste die Produktion fast gänzlich eingestellt werden, so dass Tausende ihre Arbeitsplätze verloren. Erst seit etwa 2006 bestand die Aussicht, die Produktion wieder aufzunehmen.3 Ähnlich wie Točmaš erging es zahlreichen anderen Betrieben. Ihr Niedergang führte u.a. dazu, dass die betriebseigenen Kulturhäuser aufgegeben oder in kommunale Trägerschaft übergeben wurden. Dies betraf auch das Kulturhaus Točmaševec. Seit seiner Gründung im Jahre 1943 hatte es mehrfach recht komplexe Änderungen seiner Organisationsstruktur erfahren, 1991 wurde es nochmals umstrukturiert und dem Betrieb Točmaš unterstellt. Wie schon zu Sowjetzeiten lief die Verbindung zwischen Betrieb und Betriebskulturhaus über den Gewerkschaftsbund (Profsojuz). Die Leitung des Kulturhauses war rechenschaftspflichtig gegenüber der Betriebsgewerkschaftsleitung sowie der regionalen Zentrale des Gewerkschaftsbundes in Novosibirsk. Die überaus enge soziale und symbolische Verknüpfung mit dem Betrieb und seiner „Abteilung für Soziales“ – damit meine ich die Betriebsgewerk3

Diese Angaben stammen aus meinen Interviews mit Marija Ivanovna Korčagina, Jg. 1937, 7. Juni 2007, und Ljubov' Dmitrievna Rodičeva, ebenfalls Jg. 1937, 8. Juni 2007.

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schaftsleitung – hat ihren Nachhall in der Arbeit des Kulturhauses bis in die Gegenwart. Der Übergang von betrieblicher in kommunale Trägerschaft erfolgte 2002 (seitdem wird das Kulturhaus vom Kulturamt der Stadt Novosibirsk und der Verwaltung des Stadtbezirkes Dzeržinskij rajon beaufsichtigt). Dies bedeutete neben Änderungen in der Finanzierung und Rechenschaft auch eine teilweise inhaltliche Umorientierung in der Arbeit des Kulturhauses, von denen im Folgenden die Rede sein soll. Točmaševec kooperiert mit dem Bürgerrat des umliegenden Wohngebietes (territorial'noe obščestvennoe samoupravlenie, zu übersetzen als „territoriale öffentliche Selbstverwaltung“ und im Weiteren abgekürzt als TOS). Mit der TOS ist ein neues Element im lokalpolitischen Gefüge entstanden, auf das ich hier kurz eingehen möchte. Infolge der Initiative des Bürgermeisters, die lokale Selbstverwaltung zu stärken, formierten sich allmählich TOS in den einzelnen Wohngebieten der Stadt. Sie befassen sich mit der Renovierung von Wohnblöcken, der Begrünung von Innenhöfen, der Ausrichtung von Hoffesten, aber auch mit bestimmten Formen lokaler Kontrolle (die an die Tätigkeit der „neighbourhood watches“ in Großbritannien erinnert). Die Vorsitzenden der TOS arbeiten üblicherweise recht eng mit den „Wohnblockältesten“ (staršie po domam) zusammen. Im Dzeržinskij rajon existieren heute mehrere TOS; derjenige aber, der zuerst gegründet wurde, ist der des Wohngebietes, in dem sich das Kulturhaus Točmaševec befindet. Initiatorin und erste Vorsitzende der TOS ist Marija Ivanovna Korčagina, Direktorin des Kulturhauses Točmaševec von 1991 bis 2008. In einem unserer zahlreichen Gespräche betonte sie, sie habe die Gründung der TOS unter anderem mit der Idee verfolgt, eine konkrete Zielgruppe für die Aktivitäten des Kulturhauses zu schaffen. Tatsächlich verfügt das Kulturhaus durch die TOS nun über einen besseren „Draht“ zur örtlichen Einwohnerschaft, es kann gezielter Reklame machen und auch auf die Hilfe der TOS-Aktivistinnen für größere Veranstaltungen zurückgreifen. Die TOS wiederum nutzt das Kulturhaus als Ausgangspunkt für ihre eigenen Aktivitäten. So ergibt sich eine Symbiose zwischen Kulturhaus und TOS: gemeinsam bemühen sie sich um die Stärkung nachbarschaftlicher Solidarität, gemeinsam richten sie die von der Bezirksverwaltung in Auftrag gegebenen Feste an Feiertagen aus, und gemeinsam versuchen sie, städtische Gelder einzuwerben. Die langjährige Vorsitzende der TOS, Ljubov' Dmitrievna Rodičeva, bezog sich im Interview mit mir wiederholt auf den Zusammenhang von Nachbarschaft, TOS, Kulturhaus und Betrieb (und sprach gern von seinen rühmlichen Tagen). Dienstjubiläen, Feierstunden und andere betriebliche Veranstaltungen wurden häufig im Kulturhaus abgehalten. „Unser ganzes Leben, kann man sagen, ist mit dem Kulturhaus verbunden“. Wenngleich derlei Aussagen als ein stark idealisiertes Bild der Vergangenheit ausgelegt werden dürfen, so spiegelt sich in ihnen sehr deutlich die alltägliche Sozialstruktur eines städtischen Wohnviertels zu Zeiten des Sozialismus wider. Arbeit stand im Mittelpunkt der sozialen Beziehungen. Das Arbeitskollektiv

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bildete den wesentlichen Bezugsrahmen für soziale Interaktion und Identität, und die Betriebsfeiern dienten der Bekundung von Respekt und sozialem Status von Personen innerhalb des Kollektivs. Der Gewerkschaftsbund und das Kulturhaus beteiligten sich an der Konstruktion dieser sozialen Gefüge: Der Gewerkschaftsbund wirkte mit bei öffentlichen Danksagungen, der Verteilung von Auszeichnungen und auch der Vergabe bestimmter Privilegien; das Kulturhaus bot die Bühne, auf der die Anerkennung individueller Leistungen, die Auszeichnung von Arbeitskollektiven und die Selbstinszenierung des Betriebes als Ganzen vollzogen wurde. Offenbar besteht in diesem Wohngebiet auch in der Gegenwart ein stark ausgeprägtes Bedürfnis nach solchen Bekundungen sozialer Anerkennung, denn das Kulturhaus und die TOS reproduzieren und perpetuieren diese Praktiken: „Wir schreiben ihnen Dankesbriefe. Nachname, Vorname, Vatersname, wir gratulieren ihnen auch an Feiertagen. All dies geschieht vor den Leuten, und das ist doch angenehm!

Abbildung 3: Der Veteranenchor des Kulturhauses Točmaševec bei einem Auftritt in einem kleinen Park neben dem Kulturhaus. Anlass ist der „Tag der Stadt“ (s. Kapitel 4), an dem sich das Kulturhaus mit einem Stadtteilfest beteiligt. Foto: JOH, 24. Juli 2007

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Als ob jene Zeit wiedererstanden wäre, als es das in den Betrieben gab, wissen Sie, Ehrentitel und Straße der Besten.“ (L.D. Rodičeva, 8. Juni 2007) Mit dem Niedergang der Industriebetriebe und dem Zerfall der Arbeitskollektive sind die alten sozialen Gefüge in die Brüche gegangen. Ebenso wie viele andere ältere Leute in der Umgegend beklagt Rodičeva, „dass die Leute vereinsamt sind“. Die aus dem Berufsleben ausgeschiedenen Personen versuchen, die alten sozialen Netzwerke zu erhalten bzw. wieder aufzubauen. Darin ähneln sie sicherlich den Rentnern in vielen anderen Teilen der Welt. Was dieses Fallbeispiel jedoch spezifisch belegt, ist das Zusammenwirken der TOS, einer Organisation der kommunalen „Selbstverwaltung“, mit den Einrichtungen des Kulturbetriebes. Beide pflegen die Rituale einer Gemeinschaft, deren Mittelpunkt, der Industriebetrieb, kollabiert ist und ein soziales Vakuum hinterlassen hat. Nach meinen Beobachtungen sind etwa 50% der Besucher dieses Kulturhauses im Rentenalter. Nach Angaben der Direktorin spiegelt sich die Sozialstruktur des Wohngebietes sehr klar im Besucherprofil wider: „Es sind Leute mit betrieblichem Hintergrund (zavodskaja kategorija). […] Es sind gewöhnlich ältere Leute. Auch in den öffentlichen Organisationen sind die Leute älter als 45 oder 50. Unsere Achillesferse ist die Jugend“ (M.I. Korčagina, 8. Juni 2007). Korčagina sieht mehrere Wege, wie Jugendliche stärker angezogen werden können. Eine Möglichkeit bestünde in der Förderung des Sports, doch dies ginge nicht ohne eine nennenswerte Erweiterung der Räumlichkeiten und Anschaffung der nötigen Geräte. Daher sind derlei Pläne, wenn überhaupt, nur langfristig realisierbar. Eine andere Möglichkeit ist die Schaffung einer Gruppe politisch aktiver Jugendlicher mit Sitz im Kulturhaus. Dies wurde in den vergangenen Jahren bereits praktiziert: „Ich habe der TOS-Vorsitzenden und dem Rat gesagt: Hier habt ihr eine Aufgabe, für die neue […] Saison organisiert bitte eine Gruppe von Heranwachsenden, die sich ein bisschen durch ihre Führungsqualitäten hervorgetan haben, damit wir daraus dann eine kleine […] Struktur bilden können, die – natürlich mit der Hilfe der TOS – auf ihre Altersgenossen Einfluss nehmen kann. Damit sie sich im Wohngebiet nützlich machen.“ (M.I. Korčagina, 8. Juni 2007)

Hinter diesen Maßnahmen steht meines Erachtens das in Russland häufig geäußerte Bedürfnis, Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, ihre Freizeit in einer gesellschaftlich nützlichen und zugleich für die eigene Person förderlichen Weise zu gestalten. Kulturhäuser haben nach wie vor den Auftrag, die Menschen zu einer „kulturvollen“ (sinnvollen) Freizeitgestaltung anzuregen, und da gerade die Jugend als „Risikogruppe“ wahrgenommen wird, bedarf sie besonders der wohlmeinenden Führung durch andere (dazu ausführlicher in Kapitel 2). Das Kulturhaus und die TOS sind in diesem Sinne auch an der Umsetzung kommunaler und staatlicher Programme zur Förderung der Jugend beteiligt.

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Točmaševec ist Treffpunkt und Tagungsort für eine recht bunte Mischung von Zirkeln und Interessenverbänden (kluby po interesam). Diese Gruppen treffen sich relativ regelmäßig, außer während der Sommerferien von Juli bis September (zu dieser Zeit finden im Kulturhaus überhaupt nur sehr wenige Aktivitäten statt). Sie lassen sich drei verschiedenen Kategorien zuordnen. Erstens sind es diejenigen Gruppen, die sich um die Anerkennung oder Erhaltung ihres besonderen Status und teilweise auch um finanzielle Entschädigung bemühen. Hierzu gehören die Kriegsveteranen, Arbeitsveteranen, Opfer politischer Verfolgung während der Sowjetzeit, Kriegswaisen (d.h. Kinder von Personen, die bei Kämpfen in Afghanistan oder Tschetschenien ums Leben kamen), die Ortsgruppe des Verbandes der Schwerbehinderten und der Verband der Opfer des Reaktorunfalls von Černobyl' 1986. Die zweite Kategorie umfasst Gruppen, die einem bestimmten Hobby nachgehen oder einem bestimmten Lebensstil zugeordnet werden können, so z.B. Kleingärtner, Motorradfahrer, Autorallye-Liebhaber, ein Zirkel namens „Cherchez la femme“ und den örtlichen Jagdverein. Drittens gibt es Gruppen mit künstlerischer Ausrichtung im engeren Sinne, die sich vor allem musikalisch betätigen: einen Gitarrenzirkel, den Veteranenchor (Abb. 3), einen Chor für jüngere Leute sowie „Assorti“, ein Tanzensemble für Kinder.4 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich das Kulturhaus Točmaševec vor allem um die Pflege sozialer Netzwerke in diesem Teil von Novosibirsk bemüht. Im Unterschied zum Kulturhaus von Kolyvan' hat Točmaševec nicht den Anspruch, das Image der ganzen Stadt zu präsentieren (dies wäre von einem Kulturhaus dieser Größe zu viel verlangt). Doch verkörpert Točmaševec einen bestimmten Teilaspekt des politischen und gesellschaftlichen Lebens der Millionenstadt, nämlich das kulturelle Erscheinungsbild der ethnischen Minoritäten, von dem der folgende Abschnitt handelt.

E THNO -K ULTUR Neben den oben aufgeführten Gruppen treffen sich im Kulturhaus Točmaševec auch die kulturellen Organisationen (nacional'no-kul'turnye organizacii bzw. nacional'no-kul'turnye avtonomii) verschiedener ethnischer Minderheiten der Stadt. 2005 erhielt Točmaševec von der Stadterwaltung die Anregung, in diesem Bereich tätig zu werden. Das Kulturhaus verfolgte nunmehr das Ziel, den multikulturellen Charakter von Novosibirsk zu präsentieren und die soziale Kohärenz nicht nur des 4

Die Leitung des Kulturhauses Točmaševec (ebenso wie das Personal vieler anderer Kulturhäuser) führt in ihren Berichten an die Verwaltung und das Kulturamt eine möglichst große Zahl von Gruppen an. Manche Gruppen existieren in Wirklichkeit nur auf dem Papier. Die Gründe dieser Praxis werden in Kapitel 3 erläutert.

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Wohngebietes, sondern auch bestimmter ethnischer Gruppen zu stärken. Im Frühjahr 2007 trafen sich im Kulturhaus Točmaševec die belorussische, finnische, inguschische, kasachische, koreanische und polnische Gemeinde, also sechs mehr oder weniger aktive Organisationen. Die burjatische und griechische Gemeinde waren ebenfalls in den Unterlagen des Kulturhauses aufgelistet, aber sie schienen sich nie dort zu treffen. Ukrainer, Deutsche und Tataren – sie bilden die größten ethnischen Minoritäten in Novosibirsk – haben jeweils ihr eigenes Kulturzentrum. Das Vorzeigestück des Kulturhauses war zu dieser Zeit das „Zentrum der nationalen Literaturen“ (Centr nacional'nych literatur). Diese Bibliothek zog 2005 in das Gebäude des Kulturhauses, blieb jedoch der Stadtbibliothek unterstellt und damit einer anderen Instanz als das Kulturhaus selbst. Sowohl die Leitung des Kulturhauses als auch die Direktorin der Bibliothek erwarteten, dass die beiden Organisationen nach einigen Jahren zum „Zentrum der nationalen Kulturen“ der Stadt Novosibirsk verschmolzen würden. Damit wäre auch der Forderung der Stadtverwaltung Rechnung getragen worden, das Profil der Kulturhäuser genauer zu definieren und ihre Tätigkeitsfelder zu diversifizieren.5 Für diesen Aspekt des kulturellen Lebens verwende ich den Begriff „EthnoKultur“. Hier sei auf die Repräsentation von Ethnizität im öffentlichen Kulturbetrieb in Russland genauer eingegangen. Zu Beginn meiner Forschungen in Russland erstaunte mich der artifizielle Charakter solcher Darbietungen. Ähnlich wie andere Ethnologen auch war ich auf der Suche nach „authentischen“ indigenen Kulturen (vgl. den zweiten Abschnitt der Einleitung). Ich habe damals Kulturhäuser eher gemieden, da sie eine überaus formalisierte und folklorisierte Version von ethnischer Kultur vermitteln. Kostüme, Lieder und Tänze wirken merkwürdig grell und übertrieben. Der Kleiderwechsel, das An- und Ausziehen scheint ein notwendiger Bestandteil der Abgrenzung zwischen Bühne und „wirklichem“ Leben zu sein. Die Darbietung von Ethno-Kultur (und, im weiteren Sinne, von Kultur im öffentlichen Kulturbetrieb) muss offenbar gewissen klar definierten Formaten und Konventionen folgen. Diese Formate und Konventionen ergeben sich vermutlich aus der klassischen Abgrenzung rekombinatorischer Genres in der russischen und europäischen „Hochkultur“ (s.u.): Gesang und Instrumentalmusik, Tanz, Dichtung und Bühnenspiel. Zu diesen Genres gesellen sich im Kulturhaus Kunsthandwerk, Kostümschneiderei und gelegentlich Kochkunst. Die Spannbreite der Genres ist 5

Letztendlich aber fand diese Verschmelzung nicht statt: als ich im Frühjahr 2009 Točmaševec erneut besuchte, waren die Bibliothek und mit ihr mehrere kulturelle Organisationen der ethnischen Minderheiten in ein größeres Gebäude in einem anderen Stadtbezirk umgezogen. So konzentriert sich Točmaševec nun wieder auf das Wohngebiet und seine Nachbarschaft. Die jetzige Direktorin plant, die Arbeit mit Jugendlichen zu verstärken. – Zum Zusammenleben der verschiedenen ethnischen Gruppen in der Stadt Novosibirsk s. Ušakov (2006).

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festgelegt, ebenso ihre Kombinierbarkeit. Die einzelnen ethnischen Kulturen sollen möglichst präsentabel sein in dem Sinne, dass sie sich über die ganze Breite der Genres präsentieren können, sich sozusagen in vorgefertigte Formen gießen lassen (vgl. Friedgut 1992: 198). Hierin äußert sich die Existenz einer distinktiv sowjetischen Kultur, deren Entwicklung u.a. von İğmen (2011) am Beispiel der Kirgisischen SSR während der 1920er und 1930er Jahre dargelegt worden ist. Distinktiv sowjetisch ist an ihr nicht nur der Umstand, dass das kirgisische Volk in ein größeres politisches und gesellschaftliches Arrangement einbezogen wurde, sondern auch die Kombination überlieferter kirgisischer Ausdrucksformen mit jenen Formen und Genres, die den bürgerlichen europäischen Konventionen des frühen 19. Jahrhunderts entsprechen. Es erscheint als Ironie der Geschichte, dass die Werte des europäischen Bürgertums der Jahrhundertwende ab den 1930er Jahren im sowjetischen Kulturbegriff verankert und dann perpetuiert wurden (Boym 1994: 105; Dunham [1976] 1990: 19-23; Fitzpatrick 1992: 216; Nielsen 1994; Volkov 2000: 216). Diese Etablierung eines kulturellen Kanons, der ständig die großen Klassiker des 19. Jahrhunderts beschwört, wurde vom zeitgenössischen Soziologen Timasheff (1946: 264-284) als „Rückzug“ (retreat) aus der experimentierfreudigen und exzentrischen Kulturproduktion der zwanziger Jahre interpretiert.6 Timasheff bezieht sich dabei auch auf die Wiederentdeckung und öffentliche Verbreitung regionaler Folklore in allen Teilen der Sowjetunion (ebd.: 272). Diese Rückbesinnung lieferte denn auch die Versatzstücke für die Konstruktion von Ethno-Kultur in den späteren Jahrzehnten und bis hinein in die postsowjetische Zeit. Es gibt Indizien dafür, dass die folklorisierte und „bereinigte“ Präsentation von Ethnizität in der Öffentlichkeit bereits auf die Leninsche Nationalitätenpolitik der frühen zwanziger Jahre zurückgeht, als es darum ging, regional- und landestypische Feste und Feiertage in allen Bereichen der Sowjetunion umzudeuten und ihres bisherigen, häufig religiösen, Inhalts zu bereinigen (Martin 2001). Diese „show of diversity in unity“ (Luehrmann 2005: 51) ist bis zum heutigen Tag die wohl wichtigste Komponente in allen ethno-kulturellen Aufführungen (Abb. 4). Die in sozialistischen Zeiten propagierten Prinzipien von Gleichheit, Solidarität und Harmonie, und vor allem Völkerfreundschaft (družba narodov) werden in der heutigen ethnokulturellen Produktion mechanisch weitergeführt. „Wir sind alle gleich“, „wir alle gehören zu einer Familie“, wie manche Mitarbeiterinnen des Kulturhauses öfters versicherten. Mir scheint allerdings, dass der liebliche Klang der Harmonie für die Auseinandersetzung mit Vorurteilen über diese oder jene ethnische Gruppe nicht förderlich ist, ja derlei Vorurteile gelegentlich sogar noch verstärkt. Ethno-Kultur

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Rolf (2006: 153, 247) und Kotkin (1995: 3) hinterfragen die generelle Gültigkeit von Timasheffs These. Vgl. meine Ausführungen in Kapitel 7.

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ist eine problembereinigte, von den zuständigen Behörden für gut befundene Form der Selbstdarstellung; sie bringt positive Werte und Emotionen zum Ausdruck. Für die einzelne Person ebenso wie für ganze Gemeinden besteht die Kunst der kulturellen Produktion und Präsentation darin zu zeigen, dass sie sich an die Spielregeln halten und zugleich geschickt zu spielen vermögen, wodurch sie ihren Anspruch auf Zugehörigkeit zur kulturellen Ökumene bekräftigen.7 Von der Person, die sich auf der Bühne befindet, erwarten die Zuschauer, dass sie sich bei ihrem Schauspiel an die Regeln des Genres hält. Ethno-kulturelle Performanzen haben symbolische Bedeutung für die dargestellte ethnische Gruppe, sie vermitteln die „traditionelle Kultur“ dieser Gruppe in einer leicht erkennbaren Gestalt und demonstrieren zugleich die Fähigkeit, die Gruppe in einer legitimen Weise und einem günstigen Licht zu präsentieren. Ethno-kulturelle Darbietungen operieren – ähnlich wie auch kleinstädtische Imagepflege – mit „community narratives“: Ristolainen (2008: 75) beschreibt in ihrer Studie über das kulturelle Leben einer Kleinstadt im Westen Russlands „community narratives“ als „positive, konventionelle und zukunftsorientierte Narrative, die in ritueller Weise wiederholt werden“. Gerade die Starre des Formats sowie die Kompatibilität und Kombinierbarkeit der gezeigten ethnischen Attribute machen es möglich, dass eine bestimmte Person mit ethnischem Hintergrund „X“ als Repräsentantin der ethnischen Gruppe „Y“ oder „Z“ auftreten kann. Ein Beispiel: als das Kulturhaus Točmaševec im Juli 2007 eine tatarische Folkloregruppe zum Siebten Internationalen Folklorefestival „Łužica“ nach Bautzen entsandte, war unter den sieben Mädchen der Gruppe nur eins, das sich selbst als Tatarin identifizierte. Diese Beobachtung soll nicht dazu dienen, die Praktiken der Kulturarbeiterinnen abzuwerten, sondern soll illustrieren, dass ethno-kulturelle Produktion weitgehend unabhängig von persönlich gefühlter ethnischer Identität funktioniert. Manche mögen hierin die Konstruktion von „staged authenticity“ (MacCannell 1973) erkennen, aber darum geht es eigentlich gar nicht. Die Frage der Authentizität der dargebotenen Inhalte stellt sich m.E. für die Darbietenden im Kulturhaus nur sehr selten, vielmehr sind sie mit der (Re-)Präsentation der vorgegebenen Form beschäftigt. Genau aus diesem Grunde liegt die Verwendung des Begriffes „Performanz“ für diese Art der Darstellung nahe. Das, was auf den Bühnen der Kulturhäuser überall im Land aufgeführt wird, darf zurecht als „künstlich“ – im Sinne von unnatürlich – bezeichnet werden, aber eben auch als „kunstvoll“, denn jede der Aufführungen hat ein oder mehrere LiveBestandteile und stellt somit eine „einmalige“ artistische Leistung dar (vgl. Olson 2004: 1-7). Die Darsteller haben die Möglichkeit, ihr Talent und Können durch kreatives Variieren und Rekombinieren vorhandener Elemente und Motive unter Beweis zu stellen. Durch Variation, Kreativität und Virtuosität erlangt die Darbietung 7

Ähnlich argumentiert Malte Rolf (2006: 251) mit Bezug auf die Ausführung von Festtagsszenarien in den 1930er Jahren (s. Kapitel 7, speziell S. 220).

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Abbildung 4: Öffentliche Bekundung der Völkerfreundschaft. Beim alljährlichen „Festival der Nationalen Kulturen“ der Region Novosibirsk, das 2007 in der Kleinstadt Masljanino veranstaltet wurde, formieren sich zum Auftakt die Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen ethnischen Gruppen zu einen Rundtanz. Foto: JOH, 1. Juli 2007

ihren „authentischen“ Wert („authentisch“ nicht im ethnischen, sondern im künstlerischen Sinne). Wie Alexander King (2005: 16) bemerkt: „Traditional dances in Kamchatka are more than mimesis; they are not really copies of anything, just as a jazz solo is not a copy, even if it contains iconic elements of the song’s melodic line and stays within the song’s harmonic structure.“ Variation, Virtuosität und Kreativität sind also erlaubt, jedoch nur innerhalb bestimmter Grenzen, die sich aus den für das Kulturhaus typischen Genres herleiten. Die Grenzen dessen, was als gerade noch oder schon nicht mehr akzeptabel gilt, unterliegen der ständigen Reinterpretation und Aushandlung im Alltag des Kulturbetriebs.8

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Eine Anmerkung zu diesem Abschnitt und zur vorliegenden Literatur: Guido Houbens Buch Kulturpolitik und Ethnizität: Staatliche Kunstförderung im Russland der neunziger

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D IE AUSHANDLUNG SOZIALER ANERKENNUNG Aus dem Tätigkeitsprofil und den Praktiken der Arbeit der beiden hier vorgestellten Kulturhäuser lassen sich die wesentlichen Funktionen der Institution ableiten: − die Gestaltung einer gemeindlichen Identität, eines kommunalen Images; − die Gewährung eines Ortes, an dem Personen zusammenkommen, ihren Interessen nachgehen, (Lebens-)Erfahrungen austauschen und Probleme bereden können; − der Erhalt und die Weiterführung sozialer Netzwerke, zum Beispiel solcher, die aus den Arbeitskollektiven der Sowjetzeit hervorgegangen sind; − die lokale Umsetzung der vom Staat oder der Kommune aufgelegten sozial- und jugendpolitischen Programme; − die Propagierung sittlicher Werte, speziell eines gewissen ästhetischen Empfindens, Kreativität bei gleichzeitiger Wahrung der Form, Selbstachtung, gegenseitige Hilfe und Rücksichtnahme; − die Betonung der guten Nachbarschaft und Solidarität in einer ansonsten anonym anmutenden Millionenstadt; − schließlich die (Selbst-)Präsentation ethnischer Minderheiten entsprechend den Konventionen, die im Bereich der Ethno-Kultur gelten. Die Wahrnehmung dieser Funktionen führt in ihrer Gesamtheit zu einer recht spezifischen – eben kultivierten – Form des Umgangs miteinander: die Stärkung der sozialen Kohäsion einer bestimmten Gemeinde oder ethnischen Gruppe „nach innen“ vereint sich mit ihrer künstlerischen Präsentation „nach außen“. Hier ist zu unterscheiden zwischen den nachbarschaftlichen, post-kollektiven Netzwerken, in denen sich reale, alltägliche Kontakte zwischen den Teilnehmenden vollziehen, und den ethnischen Gruppen, die als imagined communities zu charakterisieren sind. (Einzelne Mitglieder der ethnischen Minoritäten in der Stadt Novosibirsk kennen sich natürlich gegenseitig, aber in nahezu allen Fällen dürften sie nur mit einem Bruchteil ihrer Gruppe tatsächlich kommunizieren.) Ethno-kulturelle Darbietungen dienen daher nicht der Auszeichnung individueller Leistungen oder der Verdienste eines Kollektivs, sondern zielen auf die positive Repräsentation größerer und abstrakterer Gruppen ab, welche mittels ihrer „Kultiviertheit“ und „Vorzeigbarkeit“ den Respekt der städtischen und gesamtstaatlichen Gesellschaft einfordern. Hinter beiderlei Motiven und Handlungen können wir ein vereinendes Prinzip ausfindig machen: den Wunsch nach Anerkennung. In Ergänzung der obigen Liste besteht eine weitere wesentliche Funktion des Kulturhauses darin, den einzelnen Jahre (2005) erschien mir zunächst vielversprechend; ich habe aber aufgrund der mangelnden Kohärenz im Aufbau seines Buchs von einer weiteren Verwendung abgesehen.

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Personen und Teilen der Gesellschaft ritualisierte Respektbekundungen, Danksagungen, also gesellschaftliche Anerkennung zukommen zu lassen. Der Ausdruck der Anerkennung betrifft zum einen den Status des Individuums als Teil des Kollektivs oder der Gemeinschaft, zum anderen den Status eines Kollektivs oder einer Gemeinschaft als Teil der Gesellschaft. Beide Formen (oder Stufen) der Anerkennung wurden aus soziologisch-philosophischer Perspektive erörtert: Axel Honneth (2000, 2003a) hat sich vor allem mit ersterer befasst, Charles Taylor (1994, 1995) hat sich in seinen Schriften über „recognition“ eher mit letzterer auseinandergesetzt.9 Taylor liefert u.a. eine historisch orientierte Abhandlung über die Entstehung der „Besorgnis um Identität und Anerkennung in der Moderne” (1994: 26), welcher zwei Prozesse zugrunde liegen. Zum einen konstatiert er eine Verlagerung von „Ehre“, die die Ansprüche bestimmter Gesellschaftsschichten bedient, hin zu „Würde“, die den Anspruch eines jeden menschlichen Wesens auf Wertschätzung bekräftigt. Zum anderen argumentiert er, dass sich mit der Moderne in den westlichen Gesellschaften die Auffassung durchgesetzt habe, der Ursprung allen moralischen Urteils befinde sich „tief in uns selbst“ (ebd.: 28-29) und nicht in einer göttlichen Instanz. In zunehmendem Maße ist es das Selbst, das Behauptung, Entwicklung und Vervollkommnung verlangt. In zunehmendem Maße wird das Selbst abhängig von der expliziten Anerkennung durch andere. „Das moderne Zeitalter hat nicht das Bedürfnis der Anerkennung mit sich gebracht, sondern die Bedingungen, unter denen der Versuch, anerkannt zu werden, fehlschlagen kann. Daher wird das Bedürfnis nun zum ersten Mal erkannt“ (ebd.: 35). Die Verweigerung der Anerkennung bzw. die Aberkennung der Ansprüche führt in aller Regel zu einer Kränkung, zu einer Verletzung des Selbstwertgefühls des Individuums, und ebenso verhält es sich mit Gruppen, beispielsweise ethnischen Minderheiten. Im Anschluss an diese Einleitung analysiert Taylor dann das Dilemma zwischen den „politics of universalism“, die die gleiche Würde und die gleichen Rechte aller Menschen betonen, und den „politics of difference“, welche die Vielfalt der Identitäten und die Einzigartigkeit des Individuums in Schutz nehmen. Alle politischen Auseinandersetzungen über die Rechte von Minderheiten und Multikulturalismus sind von diesem Dilemma geprägt. Dem möchte ich hinzufügen, dass Ethno-Kultur – so wie sie sich im Kulturhaus darstellt – als Ergebnis der staatlichen Bemühungen, mit diesem Dilemma umzugehen, verstanden werden kann. Die von jeglichem politischen Konfliktpotenzial gereinigte, freundlich-flauschige „show of diversity in unity“ (Luehrmann, s.o.) bildet das unabdingbare Prinzip der sowjetischen und 9

Eine ausführliche Analyse der von Honneth, Taylor und weiteren Autoren vertretenen Ideen zu „Anerkennung“ findet sich bei Heck (2002). Eidson (2006) verwendet das Konzept der „politics of recognition“ in seiner Analyse des Vereinslebens in einer Kleinstadt am Mittelrhein und diskutiert in diesem Zusammenhang auch die performativen Aspekte.

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postsowjetischen Nationalitätenpolitik, welche kulturelle Differenz mit der Gleichberechtigung aller Menschen in Einklang bringen möchte. Besagtes Dilemma besteht freilich nicht nur in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, aber es gibt eine eigenständige und eigenartige sowjetische Weise, auf dieses Dilemma zu reagieren. Diese Reaktion lässt sich in Anlehnung an Taylor als eine bestimmte „Form“ oder auch „Gussform“ (im Englischen: mold) beschreiben, die nach seinen Worten eine große Stärke besitzt, ganz unabhängig von der Frage, wessen „hegemonische Kultur“ diese Gussform abbildet (ebd.: 43). Wenden wir uns nun Honneth (2000) und seiner Unterscheidung dreier verschiedener Arten von Anerkennung zu. Diese hilft uns, die Mechanismen der sozialen Anerkennung, die sich im und um das Kulturhaus herum abspielen, aus einem wiederum anderen Blickwinkel zu verstehen. „Und wo es sich schließlich um jene [dritte] Form der Anerkennung handelt, durch die der Wert von individuellen Fähigkeiten bekräftigt wird, bestehen reziproke Pflichten zur solidarischen Anteilnahme, die sich auf alle Mitglieder der entsprechenden Wertegemeinschaft erstrecken; zu denken ist hier an jene Art der besonderen Rücksichtnahme, die wir uns wechselseitig schuldig sind, soweit wir gemeinsam an der Realisierung eines Projektes partizipieren.“ (Honneth 2000: 73; vgl. 2003a: 211). Die oben angeführten Fallbeispiele bringen genau dies zum Ausdruck: die öffentlich vollzogene Anerkennung des Individuums auf Grundlage seiner Fähigkeiten und des Einsatzes für die Nachbarschaft oder das Kollektiv; die öffentlich proklamierte Anerkennung ethnischer Minderheiten unter Berufung auf gemeinsame Identität; die öffentlich zelebrierte Anerkennung der gemeindlichen oder staatlichen imagined community unter Berufung auf gemeinsame Werte. Jede dieser communities arbeitet an der Realisierung ihrer eigenen Projekte: Der nachbarschaftliche Ortsverband ist an der Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingungen interessiert; das Kollektiv verfolgt bestimmte Aufgaben am Arbeitsplatz und darüber hinaus in der Freizeit; die ethnische Gruppe sucht die Bewahrung ihres „kulturellen Erbes“ und die Stärkung ihrer politischen Position (im von der Ethno-Kultur gesetzten Rahmen der Möglichkeiten); der Staat schließlich verlangt die Loyalität und Unterstützung seiner Bürger, indem er die Werte der „Staatlichkeit“ (gosudarstvennost'), „Staatsbürgerlichkeit“ (graždanstvennost') und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung propagiert. Honneth konstatiert außerdem, „dass das Selbstbewusstsein des Menschen von der Erfahrung sozialer Anerkennung abhängig ist“ (Honneth 2000: 61)10 und „dass die menschlichen Subjekte im Vollzug ihres Lebens auf den Respekt oder die Wert10 Der sowjetische Sozialwissenschaftler Aret, der 1961 ein einflussreiches Werk über Selbsterziehung und Selbsterkenntnis vorlegte, bemerkte, dass Menschen (in seiner Fallstudie: Schulkinder) sich selbst erkennen, indem sie Anerkennung und Bestrafung erfahren (laut Kharkhordin 1999: 243).

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schätzung ihrer Interaktionspartner angewiesen sind“ (Honneth 2000: 61). Ebenso wie Taylor stellt Honneth also fest, dass sich Identität aus Interaktion und Solidarität konstituiert. Dem sei in Anbetracht der monetären ebenso wie der symbolischen Auszeichnungen – die, wenngleich häufig, so doch ungleichmäßig verteilt werden – hinzugefügt, dass Identität sich auch und nicht zuletzt durch einen solidarischen Wettbewerb mit Menschen im näheren Umfeld schöpft. Das Selbstwertgefühl artikuliert sich sowohl im Anspruch auf Mitgliedschaft im Kollektiv als auch in der Erwartung, dass einem die Anerkennung des Kollektivs explizit zuteil wird. Die Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten bildet die allgemeine Grundlage der Mitgliedschaft im Kollektiv, aber erst das Herausstellen der individuellen Fähigkeiten und Talente ermöglicht die Ortung der eigenen Rolle und Position innerhalb des Kollektivs. Die Teilnahme einer Person am kollektiven Bühnenspiel im Kulturhaus ist der eine Bestandteil des Werbens um Anerkennung; der Versuch, das individuelle Können zu präsentieren, ist der andere Bestandteil.11 Das Ende des Sozialismus bedeutete das Ende einer Wertegemeinschaft, es bedeutete auch die Auflösung der gewohnten intersubjektiven Strukturen. Anerkennung und Selbstwertgefühl müssen sich nun aus anderen Interaktionsmustern speisen. Točmaševec arbeitet genau daran: an der Wiederherstellung sozialer Netzwerke, Positionen und Gewissheiten. Kulturhäuser sind – ebenso wie in früheren Jahrzehnten der Gewerkschaftsbund – zentrale Schaltstellen der Zuweisung und Übermittlung gesellschaftlicher Anerkennung. Wenn kultiviertes Benehmen tatsächlich (so wie es mir an verschiedenen Orten Russlands wiederholt gesagt wurde) als Respekt gegenüber den Mitmenschen definiert werden kann, dann darf auch das Kulturhaus mit Fug und Recht als der Ort gelten, an dem kultiviertes Benehmen vermittelt wird. Respekt und Dankbarkeit manifestieren sich in einer immensen Anzahl von Teilnahmebescheinigungen, schriftlichen Dankesbekundungen, Auszeichnungen und Preisen, die zu allen möglichen Anlässen überreicht werden. Die Empfänger nehmen sie meistenteils mit

11 Eine auf Foucaults Werk bezogene Erörterung des Verhältnisses zwischen Subjekt, Macht und Anerkennung liefert Judith Butler in einem von Honneth und Saar herausgebenen Tagungsband: „Die Macht kann nur auf ein Subjekt einwirken, wenn sie der Existenz dieses Subjekts Normen der Anerkennbarkeit aufzwingt. Überdies muß das Subjekt Ankennung begehren und muß sich damit von Grund auf an die Kategorien gebunden fühlen, die die soziale Existenz gewährleisten“ (2003: 63). „Um zu sein, können wir sagen, müssen wir anerkennbar sein“ (2003: 64). Laut Butler führt das Infragestellen des normativen Bezugsrahmens dazu, dass das Verhaftetsein mit sich selbst an Kohäsion verliert; dieses Weniger an Beschränkung „bringt jedoch die Gefahr der Nicht-Anerkennbarkeit mit sich, und es birgt das Risiko der Strafen, denen die ausgesetzt sind, die der gesellschaftlichen Ordnung nicht entsprechen“ (2003: 64).

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strahlenden Augen und Stolz entgegen. Wie sagte doch die Vorsitzende der TOS: „All dies geschieht vor den Leuten, und das ist doch angenehm!“12

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In diesem Abschnitt möchte ich die soeben aufgestellte These, dass kultiviertes Benehmen sich im Respekt gegenüber den Mitmenschen ausdrückt, untermauern und weiter ausführen. Die Interviews, die das Forschungsteam im Rahmen der komparativen Studie durchgeführt hat, liefern deutliche Belege: in der Tat werden kul’tura bzw. kul’turnost’ und Respekt häufig in einem Atemzug genannt, wie die Zitate auf den folgenden Seiten illustrieren. Das Wort uvaženie lässt sich mit dem Wort „Achtung“ ebenso wie mit dem Wort „Respekt“ übersetzen (was für die spätere Diskussion noch von Bedeutung sein wird). Das zugrunde liegende Verb uvažat’ hat im wortwörtlichem Sinne die Konnotation: (jemandem oder einer Sache) Gewicht bzw. Wichtigkeit beimessen. Was sind die Voraussetzungen, die eine Person mitbringen muss, um Respekt zu empfinden und auszudrücken? Um Respekt zu empfinden, benötigt eine Person zunächst einmal Empathie – d.h. sie muss nicht nur sich selbst, sondern auch den anderen als ein fühlendes Wesen wahrnehmen – sowie Anerkennung – d.h. sie muss akzeptieren, dass der oder die andere die gleichen (Grund-) Rechte beansprucht wie sie selbst. (Es geht hier um Respekt im Sinne der Ebenbürtigkeit, nicht der Ehrfurcht, denn letztere verbindet sich mit dem Gefühl, dass der oder die andere weitergehende Rechte als man selbst hat.) Um Respekt auszudrücken, benötigt eine Person kul'turnost', also gute Manieren – etwas, das sich als soziale Kompetenz bezeichnen lässt, nämlich die Kenntnis bestimmter Verhaltensweisen und ihrer Wirkung auf den oder die Anderen. Soziale Kompetenz bezeichnet nicht nur die Kenntnis der sozialen Spielregeln, sondern auch das Gefühl, dass man sie kennt und mit ihnen umzugehen versteht.

12 Hier als Ergänzung die Worte einer Mutter, die in der Nachbarschaft von Točmaševec lebt: „Wir wollen, dass das alles, die Traditionen und Veranstaltungen, bewahrt werden, wir wollen sie weitergeben an unsere Kinder, damit unsere Kinder sich auch kultiviert (kul'turno) entwickeln […] und die Traditionen unterstützen, die auch uns in der Kindheit beigebracht wurden.“ – „Traditionen welcher Art?“ – „Feiertage. Eben der Tag der Stadt [Novosibirsk], der Tag des Sieges, damit sich auch unsere Kinder erinnern, das Andenken an unsere Väter und Großväter bewahren. Weil das Kulturhaus schon so lange existiert wie auch der Betrieb. 65 Jahre, denke ich.“ (Interview mit Anžela V. Šestakova, Novosibirsk, Jg. 1970, 20. Juni 2007, Antwort auf Frage 6)

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Im Rahmen des Forschungsprojekts Social Significance of the House of Culture fragten wir unsere Interviewpartner/innen, wie sie Kultur (kul'tura) bzw. Kultiviertheit (kul'turnost') definieren. In mehreren Fällen enthielt die Antwort einen Verweis auf den Begriff „Respekt“ (uvaženie), „respektvoll“ (uvažitel'no) oder auch „respektieren“ (uvažat'). Hier folgt eine Zusammenstellung der entsprechenden Aussagen: „[Kultiviertes Benehmen] ist ein respektvolles Verhältnis zu den Mitmenschen und sich selbst (uvažitel'noe otnošenie k okružajuščim i k sebe).“ (Ljudmila Andreevna Lysjakova, ehemalige Leiterin des Kulturamtes von Kolyvan' und später Mitarbeiterin im Kulturhaus Točmaševec, Jg. 1959, Novosibirsk, 18. Juni 2007, Antwort auf Q1 Frage 32 gegenüber JOH, vgl. Anhang 4.1) „Ein kultivierter Mensch (kul'turnyj čelovek), das ist ein Mensch, der während seines Lebens lediglich Positives vermittelt, oder falls er irgendwelche Meinungsverschiedenheiten [mit jemandem] hat, sich auf keinen Fall in einen Konflikt begibt. Ein kultivierter Mensch wird die Meinung [des anderen] respektieren, selbst wenn sie nicht völlig übereinstimmt mit seiner eigenen Meinung. Vor allem soll ein kultivierter Mensch seine Umwelt und Mitmenschen respektieren.“ (Marija Ivanovna Korčagina, Jg. 1937, Novosibirsk, 7. Juni 2007, Antwort auf Q1 Frage 32 gegenüber JOH) „Kultiviertes Benehmen – das ist wie die Gebote Gottes, also ‚füge [niemandem] Schaden zu‘, ‚verhalte dich nicht schandhaft‘ (ne navredi, ne oskverni), also einfach Achtung gegenüber sich selbst, gegenüber den Leuten in der Umgebung, gegenüber der Natur, den Nachbarn, den Kollegen, einfach gegenüber den Menschen. Von dort, allein schon von innen [kommt] kultiviertes Benehmen. Wenn der Mensch den neben ihm stehenden Mitarbeiter oder seinen Kollegen oder das Gebäude, in dem er sich aufhält, achtet, dann zieht das ganz von selbst kultiviertes Benehmen nach sich, und wenn es ihm nicht zu mühsam (dorogo) ist, so wird er sich entsprechend benehmen.“ (Gul'mira Iglanbekovna Kupreeva, Jg. 1970, Kolyvan’, 5. Mai 2006, Antwort auf Q1 Frage 31 gegenüber JOH) „Kultiviertes Benehmen? Andere Leute zu achten und zu lieben (uvažat' i ljubit' drugich ljudej).“ (Aleksandr Jakovlevič Šul'c, Jg. 1957, Kolyvan', 25. April 2006, Antwort auf Q1 Frage 32 gegenüber JOH) Kultiviertes Benehmen ist, „wenn Leute einander respektieren“. (Sergej Sergeevič Aglonenkov, Jg. 1988, Kolyvan', 25. April 2006, Antwort auf JOHs Zusatzfrage zu Q2 nach der Bedeutung des Begriffs „kul'turnoe povedenie“)

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„[Kultur bedeutet] die Kenntnis der Kultur des eigenen Volkes und überhaupt aller Völker, respektieren, sich geistig entwickeln, um sich harmonisch zu entwickeln. Wo – also, an diesem kulturellen Ort (kul'turnom meste) sollen die Menschen sich treffen, um die Kunst und Kultur zu schätzen. Um sie zu respektieren, sie zu schätzen, sie zu erhalten und entwickeln.“ (Angestellte des Kulturhauses von Koš-Agač, Jg. 1968, Antwort auf Q1 Frage 31 gegenüber Agnieszka Halemba) „Kultiviertes Benehmen, das ist wahrscheinlich – jeder Mensch soll wahrscheinlich Respekt haben, wir sollen jeglichen Mitmenschen achten. In ihm den Menschen sehen. Seine Persönlicheit. Diese Persönlichkeit sollen wir kultiviert machen. Aber wir [im Kulturhaus] allein können sie nicht kultiviert machen, darum arbeiten wir alle zusammen: die Schulen, die Ärzte, die alle, wir tun uns zusammen [dafür]“ (Direktorin des Kulturhauses von Kurumkan, Jg. 1954, 29. April 2006, Antwort auf Q1 Frage 32 gegenüber István Sántha) „Respektvoller Umgang mit den Mitmenschen, Kenntnis der Etikette, anständiges Benehmen“ (Direktorin des Kreiskulturhauses von Šagonar, Jg. 1962, 11. Juni 2006, Antwort in tuwinischer Sprache auf Q1 Frage 32 gegenüber Brian Donahoe) „Ein kultivierter Mensch soll sich richtig [mit anderen] unterhalten können, Sprichwörter und Redewendungen kennen und ebenso die Traditionen seiner Vorfahren. Er soll die Älteren achten, den Kleinen helfen, verstehen, was schön ist und was unschön, was das Benehmen angeht.“ [Und weiter als Antwort auf die Frage: was ist ein unkultivierter Mensch?] „Ein unkultivierter Mensch ist jemand, der sich mit Alkohol betrinkt, schimpft und dabei unanständige Wörter benutzt, [andere] bestiehlt, betrügt und eine schlampige Arbeitshaltung hat. Sich respektlos gegenüber Mitmenschen verhält.“ (Künstlerischer Leiter des städtischen Kulturhauses von Šagonar, Jg. 1976, 6. Juni 2006, Antwort in tuwinischer Sprache auf Q1 Frage 32 gegenüber Brian Donahoe) „Sagen wir, ein kultivierter Mensch – der ist höflich, respektvoll, fleißig, angenehm und genau (akkuratnyj).“ [Antwort auf die Frage: was ist ein unkultivierter Mensch?] „Das ist jemand, der nicht nur sich selbst, sondern auch seine Mitmenschen nicht respektiert.“ (Schülerin, Jg. 1989, 7. Juni 2006, Antwort in tuwinischer Sprache auf Q2 Zusatzfrage gegenüber Brian Donahoe)

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All dies soll den Besuchern des Kulturhauses vermittelt werden: Empathie, Anerkennung, sittliches Urteilsvermögen und soziale Kompetenz (gute Manieren). Kulturhäuser produzieren Respekt (uvaženie) in den Menschen. Auf diese Weise leistet das Kulturhaus einen Beitrag zu einem würdevollen Umgang der Menschen untereinander und damit zur Realisierung einer besseren Gesellschaft. Dies klingt wie eine wohlmeinende Absichtsbekundung der Kulturarbeiter, scheint aber darüber hinaus einem breiten gesellschaftlichen Konsens zu entsprechen. Respekt und Ehrerbietung sind Kategorien, die von Erving Goffman aufgegriffen und herausgearbeitet worden sind. Hier beziehe ich mich speziell auf seinen Artikel „The Nature of Deference and Demeanor“ (1956) und die deutsche Übersetzung „Über Ehrerbietung und Benehmen“ (1986). In der Abgrenzung der Termini stimme ich nicht ganz mit Goffmans Darstellung überein. Respekt (respect), so Goffman, ist ein Verhalten gegenüber Menschen, die einem nicht vertraut sind: „Wo der Handelnde vorsichtig sein muss, wenn er sich dem Empfänger nähert, sprechen wir von Nichtvertrautheit oder Respekt“ (1986: 71). Ich denke, dass die Kategorie der Vertrautheit bzw. Nichtvertrautheit (nonfamiliarity) hier irreführend wirken kann. Es geht eher um das, was von Goffman an anderer Stelle als Vermeidung des Eindringens in die Privatsphäre, als Distanz beschrieben wird. Goffman nimmt dabei Bezug auf Simmels „ideelle Sphäre“ und auf Durkheims Beobachtung, dass dem Individuum etwas Heiliges innewohnt: „Die Persönlichkeit des Menschen ist etwas Heiliges; man wagt nicht, sie zu verletzen, man hält sich fern von ihrem Umkreis, während gleichzeitig die Gemeinschaft mit dem Mitmenschen das Gute par excellence darstellt“ (Durkheim 1967, zit.n. Goffman 1986: 82).13 Mit anderen Worten: das Gute besteht im Beisammensein mit anderen Menschen bei gleichzeitiger Wahrung eines gewissen Ab- oder auch Anstandes. (Jede Kulturarbeiterin könnte diesem Ideal beipflichten.) Genau diese Form von Respekt gegenüber der Privatsphäre und Würde des Gegenübers wird im Kulturhaus einstudiert. Sie betrifft aber m.E. die vertrauten Mitmenschen ebenso wie die nicht vertrauten. Hier scheinen unsere Gewährsleute in Kolyvan' und andernorts nicht zu unterscheiden („wir sollen jeglichen Mitmenschen achten“, wie eine Person sagte). Wenden wir uns nun der zweiten Konnotation zu, die sich mit uvaženie verbindet: Achtung. Nach Goffman ist Achtung (regard) ein Gefühl, das durch eine bestimmte Form des Benehmens – der Ehrerbietung – zum Ausdruck gebracht wird (1986: 65-67). Achtung kann auf Zuneigung (affection) oder Zugehörigkeit (belongingness) beruhen oder auch auf einer „nur“ vorgespielten Akzeptanz des Status des Gegenübers, „weil er der Vertreter oder Repräsentant einer bestimmten Gruppe ist“ (ebd.: 66).14 Die Achtung, die in den Ehrerbietungen 13 Raab (2008: 28) betont die Zentralität dieser Äußerung von Durkheim in Goffmans Denken. 14 Zur Möglichkeit der Persiflage s. Kapitel 4, Anmerkung13.

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auf der Bühne des Kulturhauses zum Ausdruck kommt, mag manchmal nur vorgespielt sein – derlei Phänomene von pokazucha werden in späteren Kapiteln thematisiert –, oft beruhen sie jedoch auf einer tief empfundenen Zuneigung und Zugehörigkeit. Die warmen Dankesbekundungen und Urkunden sind einerseits „Formen symmetrischer Ehrerbietung, die sozial Gleiche einander schulden“ (ebd.: 67), also die Anerkennung der Gemeinsamkeiten; andererseits sind sie asymmetrische Ehrerbietungen, also die Anerkennung einer einmaligen Leistung, einer spezifischen Rolle des geachteten Individuums innerhalb des Kollektivs. Zum Abschluss dieses einleitenden Kapitels sei festgehalten, dass neben der öffentlichen Zurschaustellung sozialer Anerkennung auch die Vermittlung von Respekt in den „Zuständigkeitsbereich“ der Kulturhäuser fällt. Anstand (priličie) ist ein wichtiger Teil des Ideals, das sich im Begriff der Kultiviertheit (kul'turnost') ausdrückt. Und dieser Anstand kann erlernt, geprobt, dargeboten und zelebriert werden. Menschen, die Anstand verweigern, ihr Gegenüber ignorieren oder verhöhnen, die ideelle Sphäre verletzen, handeln unanständig. Merkwürdigerweise lassen sich (auf den Hinterbühnen, in den Hinterzimmern des Kulturhauses) zahlreiche Fälle konstatieren, in denen die Barrieren der ideellen Sphäre kollektiv und willentlich niedergerissen werden. Mehr noch, es scheint die Beteiligten geradezu danach zu dürsten, nach einer anständigen Show die „Arbeit an sich selbst“ ruhen zu lassen, sich gehen zu lassen und gemeinsamen Entgleisungen hinzugeben. Auf solche transgressiven Situationen komme ich in Kapitel 4 zurück. Hiermit verlassen wir zunächst das Podest der moralphilosophisch gefärbten Betrachtungen über Anerkennung, Achtung und Anstand. Das folgende Kapitel behandelt eine recht profane Frage: welche Bedeutung hat das Kulturhaus im Alltag der Menschen in Kolyvan' bzw. der Bewohnerschaft des oben vorgestellten Stadtteils von Novosibirsk? Womit beschäftigen Menschen in der russischen Provinz sich überhaupt in ihrer Freizeit? Das Kulturhaus legitimiert seine Arbeit damit, dass es den Leuten in der Nachbarschaft die Möglichkeit bietet, sich in ihrer Freizeit kreativ zu betätigen und sich mit anderen Menschen zu treffen. Wie sehr nehmen die Bewohnerinnen und Bewohner dieses Angebot eigentlich wahr, und welche anderen Foren stehen ihnen zur Verfügung?

Kapitel 2 Kultur und Freizeit: Wer geht (nicht) ins Kulturhaus, und warum?

Kapitel 2 ist der Frage gewidmet, welche Rolle das Kulturhaus in der Freizeitgestaltung der Menschen in den untersuchten Gemeinden spielt, was sie motiviert oder davon abhält, diese Einrichtung zu besuchen. Es geht hier also in erster Linie um die Wahrnehmung und das Verhalten derjenigen, für die das Kulturhaus da sein soll, und nicht so sehr derjenigen, die für das Kulturhaus da sind (in ihm tätig sind). Diese Frage lässt sich anhand des vom Forschungsteams entwickelten Instrumentariums recht eingehend und konkret beantworten. Dieses Kapitel stützt sich daher – in weit stärkerem Maße als die anderen Kapitel – auf die Ergebnisse des Surveys und der Interviews, die mit einem Teil der Survey-Respondentinnen und Respondenten geführt wurden (zur Methodik vgl. die Anhänge 1 bis 4). Die aus der teilnehmenden Beobachtung gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen die Beantwortung der Frage, was Menschen im Kulturhaus tun, wie oft sie dort sind und womit sie sich beschäftigen. Doch die teilnehmende Beobachtung im Kulturhaus liefert nur unzureichende Aufschlüsse über die Freizeitaktivitäten im Allgemeinen: um diese in Erfahrung zu bringen, war das Forschungsteam auf die Auskünfte der Respondentinnen und Respondenten selbst angewiesen. Die Daten über Freizeitgestaltung, die in dieses Kapitel eingeflossen sind, beruhen also notwendigerweise auf den Einschätzungen, die die Gewährsleute selbst vornehmen. Durch den Survey war es möglich, Personen einzubeziehen, die nach eigenen Angaben das örtliche Kulturhauses nur äußerst selten oder niemals besuchen (non-goers). Durch die Befragungen in den fünf untersuchten Gemeinden im Frühjahr 20061 wurde u.a. die Häufigkeit der Besuche im jeweiligen Kulturhaus eruiert. Bei der

1

Ausführlich dazu Habeck/Donahoe/Gruber (2011). Zu den Methoden dieses Surveys s. Anhang 1 und 3.1 zu diesem Buch bzw. Donahoe et al. (2011). Im Frühjahr 2006 wurden

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Analyse der Daten zeigte sich, dass die im Survey definierten dreizehn Altersgruppen zu zwei großen Gruppen aggregiert werden können, die sich in ihren Antworten häufig signifikant unterscheiden: zum einen die Gruppe der 11- bis 20-Jährigen, zum anderen die der über 20-Jährigen. (Kinder im Alter bis zu 11 Jahren wurden nicht befragt). Hier die signifikantesten Ergebnisse:2 Im Falle der 11- bis 20-Jährigen ist die Häufigkeit der Besuche im Kulturhaus hoch, bei den über 20-jährigen Befragten dagegen niedrig. Von den 11- bis 20-Jährigen gab etwa die Hälfte an, dass sie das örtliche Kulturhaus „einige Male pro Monat“ oder häufiger besucht. Von den älteren befragten Personen sagte nur jede achte, dass sie „einige Male pro Monat“ dorthin gehe. Während also Erwachsene relativ selten das Kulturhaus besuchen3, stimmten dennoch 90% der Formulierung zu, dass „das Kulturhaus eine wichtige Bedeutung für unseren Ort“ hat.4 Diese Zustimmung wird sogar von denjenigen Erwachsenen geäußert, die niemals das Kulturhaus besuchen (Anhang 3.2; Habeck/ Donahoe/Gruber 2011). Die wichtige Bedeutung der Kulturhäuser – so die Aussage mehrerer erwachsener Befragter – liegt darin, zur Erziehung Jugendlicher beizutragen und ihnen einen Ort für kreative Freizeitgestaltung anzubieten. Betrachten wir nun, wie die Befragten unserer Befragung von 2006 ihre Freizeit im Allgemeinen gestalten.5 Wenn sie sich nicht in der Schule oder am Arbeitsplatz befinden, verbringen sie die Zeit vielfach damit, fernzusehen, Musik zu hören, Einkäufe zu machen oder Freunde und Bekannte zu treffen. Welchen Stellenwert die jeweilige Tätigkeit hat, hängt u.a. vom Alter der Befragten ab. Die 11- bis 20Jährigen nennen Fernsehen und Musik-Hören, die Befragten höheren Alters Ferninsgesamt 428 Personen in fünf Orten befragt (u.a. in Kolyvan', dort wurden 101 Personen befragt). Die Ergebnisse für einige der gestellten Fragen (Q12 und Q20-Q23) sind in Anhang 3.2 wiedergegeben. 2

Dieser und der nächste Absatz sind eine direkte Übersetzung der entsprechenden beiden Absätze in Habeck (2011a: 13).

3

Vom Kulturhaus organisierte Veranstaltungen außerhalb des Kulturhauses wurden in unserer Befragung nicht in allen fünf Orten berücksichtigt.

4

Die Befragten konnten wählen zwischen „ich stimme überhaupt nicht zu“, „stimme eher nicht zu“, „stimme eher zu“ und „stimme völlig zu“. Die beiden ersteren Kategorien werden in der obigen Auswertung als Ablehnung gewertet, die beiden letzteren als Zustimmung.

5

Die folgenden Aussagen gelten für 298 Personen, die wir in fünf verschiedenen Orten hinsichtlich ihres Freizeitverhaltens befragten und die entsprechende Matrix vollständig ausfüllten, wobei die für Kolyvan' ermittelten Daten mit wenigen Ausnahmen dem Gesamtbild entsprechen. In Kolyvan' gibt es mit 44% einen deutlich höheren Prozentsatz von Personen, die angeben, dass sie sich niemals mit Sport beschäftigen, als im Durchschnitt (36%).

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sehen und Einkaufen als häufigste Tätigkeiten. Hier ist anzumerken, dass sich Fernsehsendungen, Radio, Musikaufnahmen usw. auch „im Hintergrund“ verfolgen lassen, sie hindern also nicht an der gleichzeitigen Erledigung anderer Dinge wie z.B. Hausaufgaben oder Hausarbeit (im Sinne von „unkonzentriertem Fernsehen“ und Radio als „Geräuschkulisse“ (vgl. Dubin/Zorkaia 2011: 28, 39). Einige der Befragten geben an, dass sie außerdem lesen6 oder Sport treiben.7 In Kolyvan' sind laut unseren Ergebnissen Lesen und Sport als Freizeitbeschäftigungen deutlich weniger populär als in den anderen Orten (möglicherweise aufgrund der Tatsache, dass nicht wenige Personen täglich nach Novosibirsk pendeln, s.u.). Die meisten Befragten hatten zum Zeitpunkt der Erhebung keinen Computer, aber sie besuchten gelegentlich Bekannte, die über einen Computer verfügten. Die Analyse der Survey-Daten speziell für Kolyvan' ermöglicht weitere Aussagen über die Unterschiede in den Freizeitaktivitäten zwischen jugendlichen (11- bis 20-jährigen) und erwachsenen Personen. Die Zahl der Personen, die angeben, sie gingen selten oder nie ins Kino und selten oder nie ins Café, ist deutlich höher unter den Erwachsenen als unter den Jugendlichen. Gleichzeitig ist die Zahl der Personen, die angeben, sie würden häufig, sehr häufig oder nahezu ständig fernsehen, deutlich höher unter den Erwachsenen als unter den Jugendlichen. Außerdem ist zu konstatieren, dass Jugendliche offenbar mehr Zeit damit verbringen, Freunde zu treffen, als Erwachsene. Diese Indizien interpretiere ich dahingehend, dass erwachsene Personen ihre freie Zeit tendenziell mehr zu Hause verbringen, während Jugendliche sich während der freien Zeit häufiger von zu Hause weg bewegen, durch die Kleinstadt laufen, mit Freunden ihre Zeit verbringen und/oder die Freizeiteinrichtungen nutzen (darunter auch das Kulturhaus). Hingegen zeigen die Erwachsenen eine größere Mobilität, wenn es darum geht, sich aus dem Ort hinaus zu begeben, sich in der Umgebung zu erholen und eher „naturnahen“ Aktivitäten wie Pilzesammeln oder Fischen nachzugehen. Das mag auch daran liegen, dass Jugendliche, da sie noch nicht Auto fahren dürfen, in ihrer Mobilität eher auf die Kleinstadt ausgerichtet sind als auf die Umgebung. Novosibirsk ist als Destination für Freizeitaktivitäten für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen von Interesse, aber aufgrund der Entfernung, des zeitlichen und finanziellen Aufwands ist es nicht allen

6

Lesen wird in der russischen Gesellschaft positiv konnotiert, wobei sich auch hier ein weit verbreiteter Kulturpessimismus bemerkbar macht, wonach die Leute „früher“ anspruchsvollere Literatur gelesen und vor allem miteinander über das Gelesene gesprochen hätten (zu den veränderten Lesegewohnheiten in Russland siehe Dubin/Zorkaia 2011; vgl. Arnol'dov 1975: 48-49).

7

Sport wird in Russland als wichtige Komponente eines „gesunden Lebensstils“ (zdorovyj obraz žizni) konnotiert und lässt sich mit dem normativen Anspruch der „Arbeit an sich selbst“ und der Selbstdisziplinierung sehr direkt in Verbindung bringen (vgl. Kohn 2008).

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Leuten in Kolyvan' möglich, regelmäßig „nach Feierabend“ in die Großstadt zu fahren. Soweit die Interpretation der signifikantesten quantitativen Ergebnisse der Befragung – diese sollen nun durch eigene Beobachtungen und Interview-Ausschnitte ergänzt und kommentiert werden.

M ÖGLICHKEITEN DER F REIZEITGESTALTUNG

IN

K OLYVAN '

Um den Stellenwert des Kulturhauses in der Freizeitgestaltung speziell der Jugendlichen von Kolyvan' zu beschreiben, ist es nötig, das Gesamtangebot an Freizeiteinrichtungen und überhaupt der Betätigungsmöglichkeiten zu betrachten. Neben dem Kulturhaus „Junost'“ existieren weitere staatlich finanzierte kulturelle, pädagogische und Jugendeinrichtungen. Namentlich sind dies die örtliche Bibliothek, die Musikschule, das Jugendzentrum, das Haus des Kreativen Schaffens der Kinder (ehemals das Pionierhaus, dazu mehr in Kapitel 3), die Sporthalle mit Sportplatz sowie der Dorfklub des nahe gelegenen Dorfes Bol'šoj Oëš. Ein kleines, kommerziell betriebenes Café befindet sich neben dem Busbahnhof, ein Restaurant an der Umgehungsstraße (in Laufweite des Zentrums). Jeder dieser Orte hat seine Funktion, der sich auch mit bestimmten Geboten und Einschränkungen verbindet: im Restaurant ist der Aufenthalt sehr teuer, so dass sich junge Leute den Besuch – wenn überhaupt – nur selten leisten können; im Pionierhaus können Jugendliche ihren technischen Hobbys nachgehen, aber nicht tanzen oder laut Musik hören. Ein Computerzentrum mit dem Namen „Dialog“ bietet neben Geräten, Zubehör und Beratung auch preiswerten Zugang zum Internet, aber die Öffnungszeiten sind auf die üblichen Bürostunden begrenzt, und die Übertragungsraten erlauben keine raffinierten Anwendungen wie zum Beispiel 3D-Spiele. Weitere Orte, an denen sich junge Leute in ihrer Freizeit bei entsprechendem Wetter regelmäßig versammeln, sind Schulhöfe, der Stadtpark von überschaubarer Größe sowie der Eingangsbereich des Warenhauses in der Stadtmitte. Jugendliche können sich selbstverständlich auch in einer Wohnung treffen, wobei sie aber der elterlichen Kontrolle unterworfen sind, solange die Eltern in der Nähe sind (so dass die Möglichkeiten für Sex oder Alkoholkonsum beschränkt sind); daher dienen unter Umständen auch die Garagen am Rande der Kleinstadt oder das örtliche Heizkraftwerk als mögliche Treffpunkte.8 8

Sántha (2009) und Ventsel (2010) beschreiben am Beispiel von peripheren Gemeinden in Ostsibirien, wie Jugendliche sich an Orten verabreden, wo sie der Kontrolle der Erwachsenen entgehen, ungestört Alkohol trinken und Sex haben können. Zu solchen Orten zählen u.a. die örtlichen Heizkraftwerke. Vgl. zur Position des Heizkraftwerks in der symbolischen Geographie russländischer Siedlungen Habeck (2005b: 198, 2006c: 64); Yurchak (2006: 151-155).

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Wenn es nicht gerade schneit oder regnet oder das Thermometer strengen Frost anzeigt, verbringen Jugendliche auch Zeit in der näheren Umgebung der Siedlung, vor allem in der Nähe des Flusses oder an einem See am Weg ins benachbarte Bol'šoj Oëš. Kurz gesagt, in Kolyvan' gibt es nicht viele spektakuläre Orte für Jugendliche. Es ist aber noch gar nicht so lange her, da gab es solch einen Ort. Mehrere Jugendliche erwähnten eine Disco namens Phoenix, die drei oder vier Jahre vor meinem Aufenthalt in Kolyvan' geschlossen wurde. Artem, ein 24-jähriger Mann, der oft im Kulturhaus anzutreffen ist, sprach über die Gründe: „Abends war für die Jugend das Phoenix der einzige [Ort], wo man hingehen und Spaß haben konnte, tanzen und sich mit anderen Leuten treffen konnte. Aber dann – so viel wie ich gehört habe, ich weiß nicht genau, was los war – dass [besorgte] Eltern damit anfingen, an den Bürgermeister zu schreiben, dass im Phoenix Drogen verkauft würden oder damit gehandelt worden wäre und all sowas, dass alle [Besucher] hochprozentige Sachen (spirtnoe) ohne Erlaubnis mitgebracht hätten. […] Nachdem sie es dann geschlossen hatten, gab es für die Jugend nichts, wo sie hin konnten (nekuda podat'sja) und [nun] laufen sie einfach herum, haben nichts zu tun, hängen auf den Straßen herum, manchmal gibt es auch Schlägereien.“ (Artem Dmitrievič Idelevič, Jg. 1982, 1. Mai 2006)9

Abbildung 5: Artem beginnt seine Tätigkeit als DJ für die Disco vor dem Kulturhaus am Abend des 9. Mai, dem Tag des Sieges. Foto: JOH, 9. Mai 2006

Die Schließung des Phoenix wurde mittelfristig dadurch kompensiert, dass das Kulturhaus damit begann, regelmäßig Disco-Abende zu veranstalten, zu denen auch Artem ging. Irgendwann begann er, dem DJ zu assistieren und schließlich auch

9

Nur ausnahmsweise äußerten auch ältere Interviewpartner in Kolyvan', dass sie selbst gern das Phoenix besuchten oder besuchen wollten: „[D]er Mensch muss sich auch mal physisch austoben. Also auch selbst Leute anderen [höheren] Alters – warum denken Sie, dass wir nicht auch gern tanzen? Nicht nur Retro, Tango, ruhige [Tanzmusik]. Wir können auch mal herumhopsen, wenn uns danach ist (My tože možem poprygat', poskakat' v zavisimosti ot nastroenija)“ (Frau, Jg. 1957, 29. April 2006).

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selbst Musik aufzulegen (Abb. 5).10 Viele Jugendliche, so erzählte er, „glühen vor“, bevor sie zur Disco im Kulturhaus gehen bzw. kaufen Bier oder andere Alkoholika in den Spätkaufgeschäften in der Nähe. Die Interviews in Kolyvan' (und andernorts) belegen, dass viele Kulturarbeiterinnen und auch ältere Besucherinnen und Besucher des Kulturhauses gemischte oder deutlich negative Gefühle gegenüber Disco-Veranstaltungen in „ihrem“ Kulturhaus hegen, denn während und nach der Disco kommt es immer wieder zu Situationen unanständigen Verhaltens (Alkoholkonsum, rüpelhaftes Benehmen und auch Schlägereien). Offensichtlich ist die Besorgnis über Drogenmissbrauch und Delinquenz unter Jugendlichen nicht nur auf die ältere Generation beschränkt – sie wird auch von jungen Leuten selbst geäußert. Artem meinte dazu, dass zwei oder drei Bier im Rahmen des Verträglichen seien – „man will sich ja entspannen“ – und kein prinzipielles Problem darstellen. Auch vor dem Kulturhaus komme es gelegentlich zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, meist endeten sie aber schon, bevor die von der Garderobendame herbeigerufene Polizei am Orte des Geschehens eintrifft, so Artem.11 Aus mehreren Interviews ergab sich, dass das Gros der Besucher der Disco im Alter von 13 bis 18 Jahren ist. Offiziell betrug der Eintrittspreis 50 Rubel (umgerechnet knapp 1,50 Euro), wobei manche Gäste kostenlos eingelassen wurden. Musikveranstaltungen speziell für Leute ab dreißig oder vierzig (so wie sie von manchen Kulturhäusern in Novosibirsk organisiert werden) wurden in Kolyvan' vor einigen Jahren versuchsweise organisiert, aber dann nicht weitergeführt. Diejenigen Interviewpartnerinnen, die dies mir gegenüber mit Bedauern erwähnten, vermuteten, dass die Kulturarbeiterinnen für die Organisation solcher Veranstaltungen (d.h. für ihren zusätzlichen Arbeitsaufwand) auch zusätzliche Bezahlung haben wollten, die ihnen aber die Verwaltung offenbar nicht gewährte, und so beschlossen die Kulturarbeiterinnen, dieses Format nicht weiterzuverfolgen (Frau, Jg. 1957, 29. April 2006). Bestätigungen dafür habe ich nicht gefunden, doch scheint mir diese Vermutung plausibel aufgrund der schlechten Bezahlung und der vielen zusätzlichen Verpflichtungen der Kulturarbeiterinnen (siehe Kapitel 3). Wie viele andere Kulturhäuser in Russland bietet auch das Kulturhaus von Kolyvan' Filmvorführungen an, die sich wiederum vor allem an ein jüngeres Publikum richten, da auch Zuschauer vor allem Jugendliche sind. Es kommen aber merklich weniger Besucher zu Filmvorführungen als zur Disco. Über die Jahre hat das Kino im Kulturhaus an Popularität verloren, was vor allem darauf zurückgeführt 10 Auch der Dorfklub von Bol'šoj Oëš organisiert gelegentlich Disco-Abende, aber das Musikprogramm ist schon vorab zusammengestellt und wird dann einfach abgespielt, es gibt also keinen DJ im eigentlichen Sinne. 11 Ich selbst wurde während meines Aufenthaltes in Kolyvan' allerdings nicht Zeuge solcher Vorfälle.

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werden kann, dass viele Haushalte über einen Fernseher und Videorecorder verfügen. Während in der Großstadt Novosibirsk das Kino ein come-back erlebt hat und Filmpaläste viel in zeitgemäße Technik und Interieur investieren, lässt sich dies von Kolyvan' nicht behaupten. Da die Leihgebühren für neue Filme in der Regel für das Kulturhausbudget unzumutbar hoch erscheinen, behilft man sich nach Auskunft eines Respondenten gelegentlich mit dem Zeigen von Raubkopien (was bisher offenbar keine rechtlichen Folgen hatte). Disco und Kino im Kulturhaus sind die beliebtesten Typen von Veranstaltungen: hierhin kommen auch junge Leute, die sonst an dem, was im Kulturhaus geschieht, nicht interessiert sind. Das, was „sonst noch geschieht“, also die Proben für Konzerte, Theateraufführungen usw., zieht einen relativ kleinen, aber steten Kreis von Jugendlichen an. Es gibt also eine Gruppe von jungen Leuten in Kolyvan', die sich bereitwillig an den Gesangs- und Tanzgruppen beteiligen, während der Manifestation am 9. Mai die Fahnen tragen, bei Vorbereitungen helfen usw., die sich also immer wieder im Kulturhaus oder auf vom Kulturhaus ausgerichteten Events begegnen, dort gemeinsam ihre Zeit verbringen, sich unterhalten (s.u.: obščenie), Spaß miteinander haben, etwas gemeinsam auf die Beine stellen. Meiner Ansicht nach ist dieses „Aktiv“ an jungen Leuten ein Kapital, auf das die Kulturarbeiterinnen, Pädagoginnen und auch die Politiker zurückgreifen können. Es scheint fast so, als ob diejenigen Jugendlichen, die sich auf die Bühne trauen und ein Stück darbieten, als vermeintlich sozial aktive Hoffnungsträger ins politische Leben der Kleinstadt kooptiert werden. Ein Forum, das explizit diesen Zweck verfolgt, ist das Jugendparlament (Molodežnyj Parljament), zu welchem mehrere Jugendliche zählen, die auch oft im Kulturhaus präsent sind. Einer meiner Interviewpartner – Ivan – erzählte über die Anwerbung von Mitgliedern für das Jugendparlament, dessen Aufgaben und die Zusammenarbeit mit dem Kulturhaus. Die Zahl der im Jugendparlament engagierten Personen ist recht gering und muss immer wieder „aufgefüllt“ werden, da junge Erwachsene aufgrund der Einberufung, des Berufseinstiegs und/oder des Wegzugs dem Parlament nicht mehr zur Verfügung stehen. Neue Mitglieder werden in den Schulen angeworben, speziell in den neunten Schulklassen.12 Das Jugendparlament von Kolyvan' engagiert sich für verschiedene soziale Zwecke: gelegentliche Hilfe für ältere Mitbürger, 12 Um die Institution Jugendparlament ist es in den letzten Jahren in Russland etwas stiller geworden. Es gibt Jugendparlamente in vielen Regionen Russlands, doch zeigt sich eine zunehmende Bürokratisierung, so mein Eindruck beim Studium der Webseiten (z.B. http://newparlament.ru/news/view/4051, Abruf am 12. März 2014). Allgemein erfüllt das Jugendparlament die Rolle als Kaderschmiede für Politikernachwuchs (Blum 2006: 104); in Kolyvan' übernahm es zum Zeitpunkt meiner Feldforschung aber auch einige sehr konkrete zivilgesellschaftliche Funktionen, wie aus dem im Haupttext wiedergegebenen Interview ersichtlich wird.

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Nichtraucherkampagnen („Bonbons statt Zigaretten“), Aufräumaktionen usw. „Das Kulturhaus bittet das Parlament [um Beteiligung]. Im Kulturhaus haben sie nicht genügend Leute, man bittet [uns] zu helfen bei allerlei Veranstaltungen. […] Wir lehnen nie ab. Das heißt, zu jeder Tages- oder Nachtzeit, wie es heißt, kann man zur Hilfe kommen. Im Kulturhaus gibt es wenig Leute, das heißt, man muss – also, die junge Generation steht [ihnen] zur Seite, im Wesentlichen bei allen Festtagen und Aktivitäten.“ (Interview mit Ivan Sobol'nikov, Jg. 1988, 24. April 2006) Die jungen Leute, die während der Zeremonie zum Tag des Sieges die Flaggen trugen, waren nach meinen Beobachtungen meistenteils Vertreterinnen und Vertreter des Jugendparlaments. Treffpunkt des Jugendparlaments ist das Jugendzentrum, aber häufig verabreden sich die Mitglieder auch im Kulturhaus. Auf die Frage, was ihm am Kulturhaus vor allem gefalle, meinte Ivan: „Das Umfeld (obstanovka) gefällt mir. Moralisch. Das Zusammenwirken der Leute. Das heißt, wenn ich dort hingehe, erhole ich mich, moralisch. Das heißt, ich unterhalte mich mit den Freunden. Nicht irgendwo da draußen an irgendeiner Ecke sind wir abends. Sondern eben hier sitzen wir zivilisiert [zusammen] (ne gde-to tam na ulice za uglom čto-to guljaem večerom. A imenno čto zdes' sidim civilizovanno)“ (Interview mit Ivan Sobol'nikov, Jg. 1988, 24. April 2006).13 Die kulturell, gesellschaftlich und/oder politisch aktiven Jugendlichen stellen keine isolierte Gruppe dar, sie grenzen sich nach meinen Beobachtungen nicht explizit von anderen Jugendlichen ab, sie zeigen nicht, dass sie sich für etwas Besseres halten. Die Formen der Distinktion sind unter den Jugendlichen in der Kleinstadt Kolyvan' insgesamt nicht besonders stark ausgeprägt, so dass auch „sichtbare“ (an ihrer Kleidung oder Verhalten erkennbare) Subkulturen bei weitem nicht so sehr herausgekehrt werden, wie dies in Novosibirsk der Fall ist.14 Andererseits wissen junge Leute um die ökonomische und soziale Situation ihrer Nachbarn, Mitschüler usw., so dass soziale Stratifikation im Umgang der Jugendlichen miteinan-

13 So lässt sich festhalten, dass der Diskurs über die Notwendigkeit, Jugendliche von der Straße zu locken und ihnen einen Ort der sinnvollen Freizeitgestaltung anzubieten, auch in den Worten mancher Jugendlicher selbst zum Ausdruck kommt (siehe dazu das Intermezzo im Anschluss an dieses Kapitel). 14 Da die anderthalb Millionen Einwohner zählende Stadt Novosibirsk mit dem Bus oder PKW von Kolyvan' aus in ein bis zwei Stunden zu erreichen ist, ist sie ein natürliches Ziel für alle Jugendlichen (und Erwachsenen), die „anders“ sind oder sein wollen und sich in der Kleinstadt nicht wohl fühlen. Nicht jeder kann es sich leisten, in die Stadt zu ziehen, da die Wohnungen teurer sind als auf dem Lande, andererseits bietet der Arbeitsmarkt von Novosibirsk weitaus mehr Chancen als der von Kolyvan', so dass es entsprechend viele Berufspendler gibt. Jugendliche Subkulturen sind in bestimmten Arealen der Großstadt durchaus präsent; ausführlicher dazu Habeck/Ventsel (2009).

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der durchaus eine Rolle spielt. (Wer gibt wem Geld für den Eintritt in die Disco? Wer besitzt was für ein Mobiltelefon?) Wenngleich die Veranstaltungen im Kulturhaus von Kolyvan' keinen oder nur einen geringen finanziellen Beitrag erfordern, so sehen sich nicht alle Jugendliche in der Lage, die Zeit und das Geld für den Besuch aufzubringen. Die Arbeit im Gemüsegarten nach Schulschluss oder Ende der Lohnarbeit ist unbedingt nötig für die Existenz nicht weniger Familien.15 Und wenn zum Beispiel für ein neues Mofa kein Geld da ist, muss das alte immer wieder repariert werden, so gut es geht, und auch das kostet Zeit. Der finanzielle Spielraum ist für die große Mehrheit der Bewohner von Kolyvan' überaus eng. Anfang Mai 2006 lag laut den Angaben der Kreisverwaltung der Durchschnittslohn bei 3298 Rubeln pro Monat, das waren zu dem Zeitpunkt umgerechnet 95,60 Euro. Das Pro-Kopf-Einkommen wurde mit 2096 Rubel pro Monat beziffert, also 60,75 Euro. Weitere Daten ergeben sich aus der Befragung, die ich unter Mitwirkung von Svetlana Aleksandrovna Ivanova (Madjukova) durchgeführt habe. Demnach lag das Haushaltseinkommen der in Kolyvan' befragten Haushalte bei etwa 7935 Rubel oder 230 Euro pro Monat (wobei Rentner- und SingleHaushalte in unserem Sample kaum vertreten waren – zumeist handelte es sich bei den befragten Haushalten um Zwei- bis Drei-Personen-Haushalte). Ein Menü im Café am Stadtrand kostete im Frühjahr 2006 – Getränke nicht inbegriffen – zwischen 250 und 350 Rubel. Die Eintrittskarte für den Disco-Abend im Kulturhaus belief sich auf 20 Rubel, also etwa 60 Euro-Cent. Die Kostenbeteiligung, die die Kulturarbeiterinnen von den Eltern verlangen, deren Kind in einem Ensemble mitmacht, war nicht festgelegt und hing wohl auch vom finanziellen Spielraum der Eltern ab. Für Einzelunterricht, z.B. für Gesangsstunden, berechneten die Kulturarbeiterinnen besondere Sätze (s. Kapitel 3). Grundsätzlich jedoch gilt, dass nichtkommerzielle Kultur- und Freizeiteinrichtungen für alle Einkommensgruppen offen stehen sollen, und diesem Anspruch wird das Kulturhaus in Kolyvan' auch tatsächlich gerecht. Selbst die Familien, die keinen einzigen Rubel übrig haben, sind in der Lage, Veranstaltungen des Kulturhauses zu besuchen und bestimmte Angebote wahrzunehmen, vorausgesetzt, dass sie Zeit und Interesse haben und das Kulturhaus zu Fuß oder anderweitig kostenlos erreichen können.

15 Die Auswertung der Befragung ergab, dass sich ein kleiner Prozentsatz von Haushalten ausmachen lässt, in dem weder die Kinder noch die Eltern das Kulturhaus jemals besuchen, und diese Haushalte scheinen überdurchschnittlich stark mit Fischen, Jagen und Pilzesammeln beschäftigt zu sein. Es wäre aber ein vorschnelles Urteil, diese Haushalte als „bildungsfern“ zu bezeichnen.

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G RÜNDE , WESHALB M ENSCHEN K ULTURHAUS GEHEN

NICHT INS

Damit wende ich mich der Frage zu, was die Bewohner der Kleinstadt Kolyvan' davon abhält, das Kulturhaus zu besuchen. Die entscheidendsten Faktoren sind sicherlich die eigene ökonomische Situation (was bereits angesprochen wurde) sowie die Veränderungen im eigenen Freizeitbudget. Schulabgänger, die ihre Ausbildung im Technikum fortsetzen, sehen sich größeren Anforderungen ausgesetzt und haben weniger freie Zeit. Der Einstieg ins Berufsleben oder der Berufswechsel geht mit einem neuen Rhythmus einher, so dass sich ein Mehr oder Weniger an freier Zeit ergibt. Oft ist mit dem neuen Beruf auch ein Ortswechsel verbunden: Kolyvan' bietet kaum mehr Arbeitsplätze; die besten Chancen, einen Job zu finden, verspricht die nahegelegene Großstadt Novosibirsk. Eine Respondentin sagte, ihr 27-jähriger Sohn und fast alle seine Altersgenossen arbeiteten „in der Stadt, weil dort die Gehälter höher sind. Deswegen [treffen und] unterhalten sie sich auch in der Stadt. Und wer ist also im Kulturhaus vertreten? Eben die Kinder, die in die Schule gehen, und die Rentner“ (Frau, Jg. 1957, 29. April 2006). Die Betreuung der eigenen Kinder und Enkelkinder, aber auch der älteren Verwandten, nimmt Zeit in Anspruch. Mehrere Interviewpartner in Kolyvan' gaben an, dass die Veränderungen solcher Lebensumstände dazu führten, dass sie ihr reguläres Engagement im und für das Kulturhaus unterbrechen oder völlig aufgeben mussten. Die Daten der Befragung, die meine Assistentin und ich im Rahmen der vergleichenden Studie durchgeführt haben, bestätigen dies: von den 25 Befragten in Kolyvan', die angaben, sie hätten das Kulturhaus in den letzten drei Jahren nicht besucht, begründeten 17 Personen dies damit, dass sie keine freie Zeit hätten.Von den insgesamt 101 Befragten in Kolyvan' gaben 53 an, sie würden häufiger das Kulturhaus besuchen, wenn sie mehr freie Zeit hätten. „Keine Zeit zu haben“ ist zweifelsohne eine naheliegende Ausrede, aber im Vergleich zu anderen Orten, an denen die Befragung durchgeführt wurde, scheinen die in Kolyvan' lebenden Befragten noch etwas häufiger „keine Zeit zu haben“ als die anderen. In der Erhebung wurden auch die Gründe für den Nicht-Besuch und die Bedingungen für den häufigeren Besuch in konkreter Form abgefragt. Frage 17 richtete sich an diejenigen Befragten, die angegeben hatten, sie hätten das Kulturhaus in den letzten drei Jahren nie besucht: „Warum waren Sie nicht dort? (Mehrere Antworten sind möglich)“. Eine der elf Antwortoptionen lautete: „Mich interessiert nicht, was dort passiert“. In Kolyvan' antworteten von den 101 befragten Personen knapp 8% in diesem Sinne. Dagegen antworteten mehr als 65% auf diese Frage mit der Option: „Ich hatte keine freie Zeit“.16 16 In Frage 19 stellten wir als Ergänzung für den Satz „Ich würde häufiger ins Kulturhaus gehen, wenn …“ eine Reihe verschiedener Formulierungen zur Auswahl (wiederum wa-

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Neben Einkommen, familiärer Situation und work-life balance sind es Veränderungen in der Verfügbarkeit von Unterhaltungsmedien, die die Menschen vom Besuch des Kulturhauses abbringen. Die Nutzung von Fernsehgeräten, Videorecordern Mobiltelefonen und Heimcomputern haben laut Auskunft vieler Interviewpartner die Besucherzahlen des Kulturhauses ganz allgemein schrumpfen lassen. Dies ist ein Prozess, der schon vor vielen Jahren begonnen hat, aber noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Auf die Frage, ob es bestimmte Gruppen gibt, die nicht ins Kulturhaus gehen und wie sich ihr Verhalten charakterisieren lässt, antworteten die Kulturarbeiterinnen gern mit dem Verweis auf ein fehlendes Bewusstsein für kulturelle Werte; die anderen Interviewpartner in Kolyvan' brachten das Desinteresse aber eher mit der Präferenz fürs Fernsehen in Verbindung: Zu Sowjetzeiten „gab es hier und da den Zwang [das Kulturhaus zu besuchen], aber […] doch selten. Dass man mehr teilnehmen sollte, lag daran, dass – na, sagen wir, das Bewusstsein war stärker. Und damals gab es im Fernsehen ja auch nur zwei Programme […], Computer gab es nicht“ (Mann, Jg. 1975, 10. Mai 2006). „Heutzutage hat der Fernseher alles verdorben (sejčas televizor vsë ugrobil)“ (Mann, Jg. 1950, 28. April 2006).17 Fernsehen bedeutet Kommunikationsfluss in eine Richtung und bedarf nicht des Austauschs mit anderen.18 Eben dieser Austausch mit anderen, das Sich-mitanderen-Unterhalten (obščenie) wird oft als Hauptgrund bezeichnet, warum Leute – auch ältere Leute – ins Kulturhaus gehen. Derselbe Interviewpartner erklärte:

ren Mehrfachnennungen explizit möglich). Eine Option lautete: „wenn es dort interessante Veranstaltungen gäbe“. In Kolyvan' antworteten 23 der insgesamt 101 Befragten in diesem Sinne. Eine weitere Option lautete: „Wenn ich mehr freie Zeit hätte“. 53 Personen äußerten sich in dieser Weise. Den Satz „Ich würde in keinem Falle häufiger ins Kulturhaus gehen“ nahmen 3 Befragte für sich in Anspruch. In anderen Orten wurde deutlich öfter die Option „wenn es dort interessante Veranstaltungen gäbe“ gewählt als in Kolyvan' (Koš-Agač: 35 von 73 Befragten, Kurumkan: 32 von 93 Befragten, Šagonar: 62 von 97 Befragten). Diese Zahlen sollen die Aussage untermauern, dass nur ein sehr kleiner Anteil der Einwohner von Kolyvan' an einem Besuch im Kulturhaus grundsätzlich nicht interessiert ist. 17 Ähnlich äußerte sich die Direktorin des Kreiskulturhauses von Šagonar gegenüber meinem Kollegen Brian Donahoe: speziell Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre hätten diverse Fernsehserien die Besucherzahlen des Kulturhauses stark gesenkt. Gemeint sind damit vermutlich die telenovelas, die auch schon Mitte der 1990er Jahre so beliebt waren, dass zu bestimmten Zeiten die Straßen der Kleinstädte wie leerfegt wirkten (eigene Beobachtung). Vgl. auch White (1990: 27). 18 In manchen Haushalten jedenfalls kam es mir so vor, als ob das gemeinsame Fernsehen eine Möglichkeit darstellt, Gespräche miteinander zu vermeiden.

60 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND „Natürlich [spielt das Kulturhaus eine wichtige Rolle für unsere Stadt]. Dorthin kommen Leute und unterhalten sich miteinander (na živuju obščajutsja). Es gibt Musik, Lieder, man unterhält sich miteinander. Das ist der Austausch zwischen den Leuten (obščenie ljudej), eben nicht Fernsehen, das ist einfach der Austausch, das verstehen Sie doch, oder?“ – „Also kommt man in erster Linie [dorthin], um sich miteinander zu unterhalten?“ – „Ja, sich mit lebenden Menschen zu unterhalten, nicht mit dem Fernseher oder dem Cassettenrecorder. Wenn ich den Stall ausmiste, schalte ich das Cassettengerät an, aber da bin ich mit der Kuh …“ (Mann, Jg. 1950, 28. April 2006, Antwort auf Q2 Frage 6)19

Von den sieben Personen, die aus dem Kreis der Survey-Respondentinnen und Respondenten in Kolyvan' ausgewählt wurden, hat nur einer sein völliges Desinteresse am Kulturhaus zum Ausdruck gebracht. Dieser Schüler der 9. Klasse machte auf meine Forschungsassistentin und mich einen recht in sich gekehrten Eindruck, brachte seine Vorliebe für Rammstein und andere „westliche“ Hardrock-Musik zum Ausdruck und bemerkte, er verbringe viel Zeit mit Computerspielen (speziell mit solchen, die im Deutschen als Ego-Shooter bezeichnet werden). Selbst wenn es im Kulturhaus einen Rammstein-Fanclub gäbe, so wäre er nicht sicher, ob er daran teilnehmen wollte, sagte er auf Nachfrage meiner Forschungsassistentin. Lieber verbringe er seine Zeit allein (Mann, Jg. 1990, 24. April 2006). Dieser junge Mann steht für genau das, worauf andere Interviewpartner stereotypisch hinwiesen: ungesellige/computerfixierte/„zombifizierte“/vaterlandslose Zeitgenossen haben kein Interesse an Kultur. Das Gros der Bewohner von Kolyvan' – um es kurz zusammenzufassen – zeigt ein gewisses Interesse an den Aktivitäten des Kulturhauses, zumal die Disco, das Konzert, jede offizielle Feier und überhaupt „alles immer dort stattfindet“ (Ivan Sobol'nikov, Jg. 1988, 24. April 2006). Zeit und Geld sind die wesentlichen limitierenden Faktoren: Die meisten Einwohner haben sehr begrenzte finanzielle Ressourcen, was die Attraktivität des Kulturhauses mit seinen preiswerten – teilweise kostenlosen – Veranstaltungen erhöht. Mehr noch als in anderen Kleinstädten Russlands scheinen die Einwohner von Kolyvan' unter dem Eindruck zu stehen, keine Zeit zu haben. Dennoch erachten sie die Existenz des Kulturhauses als wichtig und haben recht klare Vorstellungen darüber, was das Kulturhaus leisten soll. Dies wiederum ist ein Indiz für die Haltung, die ich auch in weiteren Kapiteln thematisieren 19 Der Begriff obščenie, die Unterhaltung mit anderen Menschen, wird nicht nur in Kolyvan' als Motiv für den Besuch des Kulturhauses genannt, sondern auch in den anderen Orten, in denen Personen auf Grundlage des Leitfadens Q2 interviewt wurden. Mehrere Befragte – insbesondere in Anadyr' und Kurumkan – antworteten auf die Frage nach dem „idealen Kulturhaus“, dass dies ein Ort sein solle, an dem man sich mit anderen unterhalten kann (poobščat'sja). Obščenie ist in der russischen Gesellschaft ein Wert an sich, vgl. Pesmen (2000) und Yurchak (2006).

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werde: Es ist gut, ein Kulturhaus am Wohnort zu haben, auch wenn man selbst nicht hingeht. Unter den Jugendlichen, so hatte ich erwähnt, findet sich eine zahlenmäßig kleine Gruppe von Personen, die sich für das Kulturhaus engagieren. Diese Feststellung lässt sich auch auf die Erwachsenen in Kolyvan' übertragen: manche lassen sich zu einem Besuch oder sogar zum Mitwirken an einer Veranstaltung „überreden“, aber nur wenige beteiligen sich aus freien Stücken. Und diese wenigen Personen scheinen nicht nur im Kulturhaus, sondern überhaupt im öffentlichen Leben der Kleinstadt omnipräsent. Die Soziologin Meri Kulmala (2010) bemerkte im Zuge ihrer Untersuchung über bürgerschaftliches Engagement am Beispiel mehrerer Dörfer in der Republik Karelien (Russische Föderation), dass der Personenkreis, der sich sozial engagiert, eher klein ist: „community activism relies on middle-aged and well-educated women holding a good position in municipal institutions. Thus, the roles of the activists and administrators blur“ (2010: 164). Diese Frauen nennen als Motiv für ihr Engagement das Prinzip der „aktiven Lebenseinstellung“ (aktivnaja žiznennaja pozicija). Wie Kulmala vermerkt, war die Formel der „aktiven Lebenseinstellung“ bereits zu Sowjetzeiten im Umlauf, und tatsächlich gehören viele derjenigen, die zu jener Zeit soziales und kommunalpolitisches Engagement zeigten, auch heute noch zum Kreis der gesellschaftlich „Aktiven“. Bürgerschaftliches Engagement lässt sich laut Kulmala in diesen Kommunen nicht von politischer Tätigkeit trennen, denn in beiden Bereichen trifft man immer wieder auf dieselben Personen: „only a handful of women are active, but those very same women are involved in numerous positions“ (ebd.: 170; vgl. Gernet 2008; Volkov 2000: 219-220). Genau dies lässt sich auch für Kolyvan' diagnostizieren: die politischen Eliten sind mit den pädagogischen und kulturellen Eliten sowie mit den Protagonisten bürgerschaftlichen Engagements eng verknüpft, oft handelt es sich in der Tat um dieselben Personen. Ähnlich wie das „Aktiv“ der Jugendlichen, das sowohl im Parljament molodeži sitzt als auch das Kulturhaus tatkräftig unterstützt, bemüht sich ein „Aktiv“ der Erwachsenen um die Belange der Gemeinde. Die örtlichen Eliten sind sowohl in das kulturelle als auch das kommunalpolitische Leben in ihrer jeweiligen Gemeinde involviert. Ich schließe diesen Abschnitt mit einer kurzen Bemerkung darüber, wie die Gewährsleute die Arbeit des Kulturhauses von Kolyvan' qualitativ bewerteten. Unter den Personen, die schon längere Zeit in dem Ort leben und sich ein Urteil in dieser Frage zutrauen, besteht große Einigkeit darüber, dass sich die Qualität deutlich verbessert hat. Allgemein wird der Beginn dieses Aufschwungs mit der Ernennung von Ljudmila Ivanovna Kosinceva (die bis dahin schon viele Jahre am Kulturhaus „Junost'“ tätig gewesen war) zur Direktorin in Verbindung gebracht. Sie habe es vermocht – so konstatieren manche –, gute Spezialistinnen anzuwerben, die die großen Shows und Feiern professionell zu organisieren verstehen. Kaum jemand von den Interviewten äußerte sich in irgendeiner Weise negativ. Vereinzelt wurde

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bemerkt, dass sich die Kulturarbeiterinnen für die Nebeneinnahmen mehr interessieren als für innovative Programmgestaltung im Kulturhaus selbst, was auf die überaus geringe Bezahlung zurückzuführen sei. Das Niveau der Arbeit ließe sich durchaus noch steigern, so äußerte sich ein kleiner Teil der Gesprächspartner. Konkret wurde vorgeschlagen, das Kulturhaus könnte mehr Reklame für seine Veranstaltungen machen, das Interieur des Gebäudes verbessern, das Café im Foyer reaktivieren und – wie schon vermerkt – das Angebot der Aktivitäten vielfältiger gestalten. Auf diesen Punkt – die Diversifizierung und auch die „Modernisierung“ des Angebots – werde ich im nächsten Abschnitt eingehen.

F REIZEITGESTALTUNG DER G ROSSSTADT

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Die besonderen Funktionen und die Bedeutung des Kulturhauses in Kolyvan' für die dortige Bevölkerung treten noch prägnanter zu Tage, wenn man die Institution mit einem Kulturhaus in Novosibirsk vergleicht. Im konkreten Fall geht es um das Kulturhaus Točmaševec, das sich in einem durch Industrieanlagen und Gewerbegebiete abgegrenzten Wohngebiet im Dzeržinskij rajon, im Nordosten der Stadt Novosibirsk, befindet. In Kapitel 1 wurde es bereits vorgestellt. Točmaševec hat eindeutig geringere Anziehungskraft als das Kulturhaus der Kleinstadt Kolyvan'. Obwohl zentral in dem Wohngebiet gelegen, empfängt es deutlich weniger Besucher als das Kulturhaus von Kolyvan'. Die 2007 in diesem Wohngebiet erhobenen Survey-Daten weichen von den im Vorjahr in den ländlichen Zentren gesammelten Daten eklatant ab: in letzteren gaben im Schnitt etwa drei Viertel der Befragten an, sie hätten das örtliche Kulturhaus innerhalb der letzten drei Jahre mindestens einmal besucht; in dem Wohngebiet, in dem sich Točmaševec befindet, gaben hingegen etwa drei Viertel der Befragten an, sie hätten das Kulturhaus Točmaševec in den letzten drei Jahren nie besucht. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass die Besucherschaft von Točmaševec zu etwa 50% aus Personen im Rentenalter besteht. Die Survey-Daten, die meine Assistentin und ich 2007 erhoben, bilden dies nicht ab,20 wohl aber wird diese Beobachtung gestützt von den Interviews mit den Mitarbeiterinnen, den Besucherinnen und Besuchern und auch den non-goers. Mit Bezug auf die Frage, was die Menschen, die das Kulturhaus besuchen, verbindet, bemerkte eine Interviewpartnerin namens Natal'ja Aleksandrovna Evtichina: „Heute gehen ältere Leute [dorthin], wenig Jugendliche [und] Kinder. Kleinkinder gehen wahrscheinlich [dorthin], im Kindergarten- oder Grundschulalter. Aber wenn sie etwas älter werden, ist es nicht 20 Haushalte mit Rentnerinnen und Rentnern sind im Survey unterpräsentiert; Haushalte, in denen nur Rentnerinnen oder Rentnern wohnen, sind in ihm gar nicht berücksichtigt.

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sehr interessant [für sie]. Ihnen wäre das Internet-Café oder irgendwelche Clubs [lieber]. Aber vielleicht gibt es auch solche, die [ins Kulturhaus] gehen.“ (N.A. Evtichina, Jg. 1970, 20. Juni 2007, Antwort auf Q2 Frage 10)21 Auf meine Frage, ob es ein bestimmtes Alter gebe, in dem das Kulturhaus nicht mehr den Interessen der Heranwachsenden entspricht, antwortete Evgenija Alekseevna Abdulkina, eine junge Frau aus der Nachbarschaft von Točmaševec: „Wahrscheinlich speziell die Jugend in meinem Alter. Mir scheint, dass ihnen das Kulturhaus als etwas Veraltetes scheint. Vielleicht haben sie recht, ich weiß nicht. Die Jugend heutzutage, meist gehen die Leute ins Theater, im wesentlichen gehen sie heute ins Kino, selten zu Ausstellungen. Ja, und wohin noch … Das Kulturhaus zählt schon nicht mehr zu den Vergnügungen, die ihnen gefallen (DK uže ne vchodit v čislo razvlečenii, kotorye im nravjatsja).“ (E.A. Abdulkina, Jg. 1987, 23. Juni 2007, im Nachgang auf Q2 Frage 11).

Als Antwort auf die Frage, ob das Kulturhaus ein Überbleibsel aus alten Zeiten (perežitok starych vremen) sei, entgegnete Abdulkina: „Vielleicht, mir scheint es [jedenfalls] so. Aber der Begriff ‚Überbleibsel aus alten Zeiten‘ hat eine negative Konnotation. Und ich möchte nicht sagen, dass ich dazu negativ eingestellt bin. Denn mir scheint, dass überhaupt alles, was sich aus der Vergangenheit bewahrt hat, das sind Dinge, die – Die Kulturhäuser, zum Beispiel, zeugen doch von einer [gewissen] Stabilität […] Wenn man ständig alles zeitgemäß macht, alles ändert, dann wird es doch irgendwie traurig, und es scheint, dass irgend etwas verloren geht.“ (E.A. Abdulkina, Jg. 1987, 23. Juni 2007, Antwort auf Q2 Frage 29)

Auf dieselbe Frage antwortete ein Mann namens Maksim Viktorovič Saev: „Schon die Bezeichnung Kulturhaus, das ist so eine sowjetische Bezeichnung. Und natürlich wird die Mehrheit der Leute, wenn sie das Wort Kulturhaus oder Kulturpalast hören, verstehen, dass das so etwas Unzeitgemäßes, Altes (nesovremennoe, nenovoe) ist. Nicht Club, sondern Haus. Also, wenn es Kulturclub oder Jugendclub hieße, dann wäre auch die Einstellung eine andere, [nämlich] dass es zeitgemäß (sovremenno) ist.“ – „Oder Freizeitzentrum?“ – „Freizeitzentrum, ja. Aber wenn es Kulturhaus [genannt wird], kommt bei den Leuten die Assoziation hoch, dass es so etwas Sowjetisches [sein muss], wo man auf der Ziehharmonika spielt und Lieder singt.“ (M.V. Saev, Jg. 1963, 19. Juni 2007, Antwort auf Q2 Frage 23) 21 Dieselbe Interviewpartnerin äußerte sich auch recht prägnant über den Einfluss neuer Medien auf das Freizeitverhalten: „Als der Computer da war, saß er [mein Sohn] die ganze Zeit davor. Der Computer ist [vor kurzem] kaputt gegangen, jetzt wird er spazierengehen, ins Kino gehen, zum Akkordeon greifen, im Garten arbeiten und im Haus.“ (N.A. Evtichina, Jg. 1970, 20. Juni 2007, Antwort auf Frage 12)

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Aus obigen Aussagen geht zum einen hervor, dass Točmaševec noch stärker als andere Kulturhäuser von älteren Personen frequentiert wird, was mit den Spezifika seiner Entstehung und Entwicklung als Betriebskulturhaus und der bis heute existierenden nachbarschaftlichen Bindung an die ehemalige Belegschaft zu erklären ist. Zum anderen manifestiert sich in den Aussagen die Meinung, dass die Institution Kulturhaus für die in der Stadt lebenden Jugendlichen eine nur mäßige Anziehungskraft besitzt und dass nicht zuletzt der Name der Institution der Popularität im Wege steht.22 An dieser Stelle ein kurzer Exkurs zu der Formulierung „Überbleibsel aus alten Zeiten“, die sowohl im Survey als auch in den beiden Interview-Leitfäden (Q1 und Q2) enthalten ist und die von einigen Gewährsleuten in den Kleinstädten mit einem gewissen Erstaunen oder auch Befremden aufgenommen wurde (bis hin zu der Gegenfrage: „Wieso würde irgend jemand so etwas denken?“). Die Idee, diese Formulierung den Befragten vorzulegen, rührte aus meiner im Sommer 2005 gemachten Beobachtung, dass viele junge Menschen in Novosibirsk – speziell diejenigen, die sich zur neuen kulturellen Elite, zu den „progressiven“ (prodvinutye) Gruppen oder zu bestimmten Subkulturen zählen – der Institution Kulturhaus gegenüber gleichgültig oder explizit negativ eingestellt sind, wobei sie oft ihre Zustimmung zu der Formulierung, dass „Kulturhäuser ein Überbleibsel aus alten Zeiten“ seien, ausdrückten. Nach ihrer Auffassung repräsentiert die Institution Kulturhaus etwas Gestriges, dem nicht nachgetrauert werden muss. Wenngleich diese Formulierung in den Kleinstädten der 2006er Untersuchung teilweise auf Unverständnis stieß, so zeigt sich in den oben wiedergegebenen Stellungnahmen von Abdulkina und Saev, dass dieser Punkt nicht abwegig ist. Abdulkina betonte im weiteren Verlauf des Interviews, sie sei in vielen Dingen konservativer eingestellt als ihre Altersgenossinnen, und im Gegensatz zu ihnen finde sie an den Aktivitäten des Kulturhauses durchaus Gefallen. Saev verwies im Gespräch darauf, dass die Institution ihre Daseinsberechtigung habe, aber der Name halt nicht zeitgemäß sei. Mit dem in der Nähe seiner Wohnung befindlichen Čkalov-Kulturpalast (s.u.) verbinde er positive Erlebnisse. Er selbst kenne das Kulturhaus Točmaševec nur von einem kurzen Dienstgang, nicht als Besucher. Točmaševec hat in der Tat einen recht geringen Bekanntheitsgrad. Knapp die Hälfte der Befragten gab an, sie würden häufiger in dieses Kulturhaus gehen, „wenn ich mehr darüber wüsste, was dort vor sich geht“. Wir dürfen annehmen, dass unter den Befragten einige sind, die erst durch meine Befragung von der Existenz dieses Kulturhauses erfahren haben. 22 Auch die Direktorin von Točmaševec vertrat diese Meinung: „Ich würde solche Einrichtungen wie das Kulturhaus, also das, was sich heute Kulturhaus oder Kulturpalast nennt, [anders] nennen, man kann sie als Freizeitzentren (centr dosuga) bezeichnen.“ (Marija Ivanovna Korčagina, 8. Juni 2007)

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Das Kulturhaus Točmaševec ist auch vom Gebäude her nicht so auffällig wie andere Kultureinrichtungen in der Nachbarschaft (der Čkalov-Kulturpalast und der Kulturpalast „Stroitel'“, letzteres bedeutet „Bauarbeiter“).23 Es ist gut zu erreichen und befindet sich an einer Kreuzung nur wenige Meter von einer stark frequentierten Haltestelle entfernt, aber es steht weder unmittelbar an einer Hauptstraße noch besitzt es einen Vorplatz, der es zu einer Landmarke im Gefüge der Stadt machen würde. Die Räumlichkeiten bieten Platz für kleinere und größere Gruppen, aber eine Art Auditorium oder einen großen Saal mit einer Bühne wird man hier vergeblich suchen. In unseren Interviews wurden die feiertäglichen Festveranstaltungen und Wettbewerbe auf dem Hof neben dem Kulturhaus häufig thematisiert, dagegen scheint die Zahl der Befragten, die das Kulturhaus von innen kennt, recht gering zu sein. In den Interviews, die ich in Novosibirsk durchgeführt habe, wird die Frage der Kosten, die sich mit der Teilnahme an Kulturhaus-Kursen verbinden, häufiger thematisiert als in Kolyvan'. Točmaševec bietet sowohl kostenfreie als auch einige kostenpflichtige Aktivitäten an. Zu den letzteren zählt auch der Gitarrenzirkel, so berichtet Abdulkina: „Hätte ich die Möglichkeit, so würde ich auf jeden Fall zu Kursen (kružki) gehen.“ – „Zu welchem genau?“ – „Gitarre. Ich möchte sehr gern lernen, Gitarre zu spielen, aber ich habe nicht die Möglichkeit. Irgendwann vielleicht einmal.“ – „Wovon hängt das denn ab? Von der freien Zeit?“ – „Im wesentlichen vom Geld. […] Gegenwärtig arbeite ich, aber freie Zeit bleibt keine übrig. Und dabei verdiene ich dennoch nur wenig.“ – „Und die Gitarrenkurse kosten Geld?“ – „Ja, und sie kosten nicht wenig.“ (Interview mit E.A. Abdulkina, Jg. 1987, 23. Juni 2007, Antwort auf Q2 Frage 7)

Eine Interviewpartnerin gab an, „aufgrund der finanziellen Möglichkeiten“ gehe sie heute seltener ins Kulturhaus als in früheren Jahren (Anžela Valer'evna Šestakova, Jg. 1970, 20. Juni 2007, Antwort auf Frage 22). Eine andere Gesprächspartnerin, die bereits oben zitierte Natal'ja Aleksandrovna Evtichina, stellte einen nostalgischen Vergleich zwischen der Sowjetzeit und der Situation heute an: „Vor 20 Jahren gab es [in den Kulturpalästen in der Nachbarschaft] viele Leute, es gab sehr viele Zirkel für Kinder. Diverse musikalische Studiengruppen und Gruppen für darstellende Kunst. Für die Leute war es erschwinglicher (dostupnee). Ich denke, damals haben die Eltern sogar nichts bezahlt. Früher war das alles erschwinglicher.“ (N.A. Evtichina, Jg. 1970, 20. Juni 2007, Antwort auf Q2 Frage 24) 23 Sowohl der Čkalov-Kulturpalast als auch „Stroitel'“ verfügen über eine eigene Website (http://www.dkchkalova.ru, http://dks.nsk.ru), demgegenüber finden sich zu den Aktivitäten des Kulturhauses Točmaševec nur verstreute Informationen auf diversen Websites.

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Damit verband sie die Vorstellung, dass das ideale Kulturhaus für alle Einkommensgruppen offen stehen sollte: „Alles sollte schön [eingerichtet] sein, erschwinglich für jeden Menschen. [In der Stadt gibt es große] soziale Unterschiede: manche sind reicher, andere sind ärmer. Für alle, selbst für die allerärmsten. Und jeder könnte hierhin kommen und sich mit irgend etwas beschäftigen.“ (N.A. Evtichina, Jg. 1970, 20. Juni 2007, Antwort auf Q2 Frage 30)

Andere Gewährsleute betonten hingegen, dass es gerade ein Vorzug des Kulturhauses gegenüber anderen Lokalitäten sei, auch für Leute mit wenig Geld zur Verfügung zu stehen. Ein Vertreter der Motorrad- und Autorallye-Gruppe sagte, das Kulturhaus Točmaševec sei ein Ort, wo der Zugang für alle frei ist, es gebe hier keine Eingangskontrolle, wie es in Bars oder Restaurants der Fall sei. Eine andere Person ergänzte: „Es ist besonders geeignet für Leute in Rente und für Kinder, weil es hier billig ist. Die Zirkel sind sehr billig, praktisch kostenlos. Das heißt, auf Kosten des Staates“ (Frau, ca. 40 Jahre alt, 28. Juni 2007, Antwort auf Q2 Frage 17). Diese Bemerkung korrespondiert mit den Aussagen über die Hauptzielgruppen des Kulturhauses, die weiter oben angeführt wurden. Manche der Personen, mit denen ich sprach, fanden es gerechtfertigt, dass die Kulturhäuser in der Stadt für ihr Angebot mittlerweile einen gewissen Preis verlangen (dürfen). Darunter Maksim Viktorovič Saev: „Ich denke, dass der [Čkalov-]Kulturpalast sich hin zu einer Kommerzialisierung verändert hat. Während das früher alles auf irgendeiner kostenlosen, sozialen Grundlage war, muss man heute für alles Geld bezahlen. Das ist aber in Ordnung, denn der Kulturpalast muss Geld einnehmen, um das dann an die Leute zurückzugeben in Form von […] Zirkeln oder Veranstaltungen.“ (M.V. Saev, Jg. 1963, 19. Juni 2007, Antwort auf Q2 Frage 23)

In einer Kleinstadt wie Kolyvan' ist das Kulturhaus sozusagen der kulturelle „Alleinversorger“. In Novosibirsk kann davon selbstverständlich nicht die Rede sein, auch nicht in den einkommensschwachen Wohnvierteln am Stadtrand, wie mein Beispiel zeigt. Ebenso wie diese beiden Kulturpaläste muss auch das kleine Kulturhaus Točmaševec sich mit den zahlreichen anderen Freizeitangeboten und Veranstaltungsorten in der Nähe messen lassen, und das Management muss Strategien entwickeln, um im Wettbewerb mit den anderen Anbietern mithalten zu können. Die kommerziellen Anbieter haben in der Regel mehr Mittel für Werbung, Gestaltung der Fassade und Innenräume und Verbrauchsmittel als die mager finanzierten Kulturhäuser. Die Kulturhäuser und Kulturpaläste in Novosibirsk mussten jeweils ihre eigene Nische finden und wurden auch von den städtischen und regionalen Kulturbehörden dazu angehalten, ein eigenes Profil zu entwickeln. Točmaševec setzt auf nachbarschaftlich orientierte Aktivitäten, Interessenverbände mit NGO-

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oder halboffiziellem Charakter, Hobby-Verbände usw. sowie – in etwas geringerem Maße – auf Tanz- und Gesanggruppen. Damit steht das Kulturhaus auch als Treffpunkt für Personen mit geringen Einkommen und sozial benachteiligte Gruppen zur Verfügung. Allerdings konnte die ethno-kulturelle Profilierung, von der in Kapitel 1 die Rede war, nicht dauerhaft etabliert werden, so dass Točmaševec weiterhin auf der Suche nach einer „neuen“ (und insgesamt jüngeren) Klientel ist. Wenden wir uns abschließend der Frage zu, was die Leute in diesem Stadtteil in ihrer Freizeit machen und welche Rolle – wenn überhaupt – für sie der Besuch eines Kulturhauses spielt. Generell ähnelt das im Survey ermittelte Freizeitverhalten, wie es die Novosibirsker Befragten 2007 beschreiben, in vielen Punkten dem der Personen, die in den ländlichen Zentren im Jahr zuvor befragt worden waren. Bemerkenswert sind folgende Unterschiede: Fernsehen spielt keine so übermäßig gewichtige Rolle wie in den Landstädten, dagegen gehen die Befragten häufiger ins Kino.24 Die Befragten in Novosibirsk sitzen häufiger zu Hause vor dem Computer oder besuchen ein Internet-Café, als dies in den meisten Landstädten der Fall ist,25 wobei die Zahlen sehr moderat erscheinen, wenn man in Betracht zieht, dass knapp die Hälfte der Befragten in Novosibirsk angibt, sie würden „selten“ oder „nie“ zu Hause vor dem Rechner sitzen. Die Befragten in Novosibirsk wirken in ihrer Gesamtheit etwas „geselliger“ angesichts des Stellenwerts, den sie den Treffen mit Freundinnen, Freunden und Bekannten einräumen, und auch etwas „kommunikabler“ angesichts der größeren Häufigkeit von Café-Besuchen. Nach ihren Angaben verbringen die Befragten in Novosibirsk mehr Zeit mit Shopping (chodit' po magazinam – Geschäfte besuchen) als diejenigen in anderen Orten.

D AS

HEUTIGE

F UNKTIONSFELD DER K ULTURHÄUSER

Es erfordert zunächst einmal eine gewisse Phantasie seitens der Kulturarbeiterinnen und auch ihrer Vorgesetzten, die konventionellen Bahnen zu verlassen und den durch das sowjetische Verständnis von Kultur als dem Guten und Schönen vorgegebenen Kanon zu erweitern. Kreative Versuche dieser Art lassen sich punktuell bereits für die sowjetische Periode konstatieren, sie sind aber in den letzten 25 Jah24 In dieser Hinsicht zeigen sich deutliche Parallelen zwischen dem untersuchten Novosibirsker Wohngebiet und der Stadt Anadyr', einem regionalen Verwaltungszentrum an der Beringsee im äußersten Nordosten Russlands mit einer großen Zahl von Spezialistinnen und Spezialisten, die der Arbeit wegen in diese entfernte Region gekommen sind und teilweise als Fernpendler/innen leben, vgl. Vaté/Diatchkova (2011). 25 Wiederum zeigt sich eine Parallele zwischen Novosibirsk und Anadyr'. In manchen Landstädten gab es zum Zeitpunkt der vergleichenden Untersuchung keine öffentlichen Orte mit Internetzugang.

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ren zahlreicher geworden. Die Situation in Novosibirsk liefert Belege dafür, dass die Kulturhäuser und -paläste in den Großstädten ihr Tätigkeitsspektrum relativ häufig erweitern oder umgestalten. Zurückgeführt werden kann dies auf die „Nischenfunktion“ der großstädtischen Kultureinrichtungen, die mit einer großen Schar kommerzieller Anbieter konkurrieren müssen. Die sich vergrößernden Einkommensunterschiede haben den Effekt, dass die kommerziellen Freizeitangebote in aller Regel nur von einigen – nicht von allen – Leuten in Anspruch genommen werden können. Hier agieren die Kulturhäuser zwischen dem Anspruch, ihre Dienstleistungen professioneller (und dadurch kostenpflichtig) zu gestalten und dem entgegengesetzten Anspruch, weiterhin für die Masse der Einwohnerschaft zur Verfügung zu stehen, speziell für diejenigen, die sich kommerzielle Freizeitangebote nicht leisten können. Die kommunalen Kulturämter senden ebenso widersprüchliche Botschaften aus: zum einen sollen die Kulturhäuser sich in ihrer Arbeit profilieren und professionalisieren, zum anderen sind die finanziellen Mittel weiterhin so bescheiden, dass den Ambitionen enge Grenzen gesetzt sind und die Kulturhäuser unweigerlich in die Rolle von Freizeiteinrichtungen für Kinder, Rentnerinnen und Rentner und andere Personen mit geringem Einkommen gedrängt werden. Ein Teilaspekt der Unterfinanzierung zeigt sich darin, dass keines der Kulturhäuser, die ich in Novosibirsk besucht habe, nennenswerte Kapazitäten und Kompetenzen im Bereich neuer Musikstile, Medien und Technologien aufweist, obwohl gerade diese auf die Jugendlichen in der Stadt eine enorme Anziehungskraft ausüben. Mit anderen Worten: Kulturhäuser sind nach wie vor zwangsläufig das Anathema zu Drum&Base, und sie können hinsichtlich der Kommunikationsnetze und -möglichkeiten, die Facebook, vkontakte.ru oder ähnliche Online-Foren auszeichnen, nicht mithalten. Was sie hingegen bewerkstelligen können, ist der direkte Austausch mit anderen (obščenie), die öffentliche Bekundung von Solidarität und sozialer Anerkennung sowie – darauf werde ich später noch genauer eingehen – eine bestimmte Bandbreite von Techniken der kreativen „Arbeit an sich selbst“. Die ideologischen Vorgaben der Sowjetzeit sind verblasst; der gesellschaftliche Druck, sich an Laienkunstaktivitäten und Wettbewerben zu beteiligen, hat nachgelassen. Vaté und Diatchkova (2011) beschreiben am Beispiel des Kulturhauses von Anadyr' besonders anschaulich, wie der Formalismus der Sowjetzeit in den 1990er Jahren allmählich nachließ. „[P]erfunctory formalism led to a loss of creativity and restricted opportunities for self-realization“ (2011: 34). Nun also ist „mehr Platz“ für kreative Eigen-Initiativen und Selbstverwirklichung. Nun können die Verantwortlichen im Bereich Kulturpolitik und die Leiterinnen der Kulturhäuser tatsächlich die ausgetretenen Pfade verlassen, ihre Angebote profilieren, auf die Entwicklung neuer Musikrichtungen und Medien reagieren, den Besuchenden mit weniger normativen Vorgaben entgegentreten und versuchen, neue Interessengruppen anzulocken. Ansatzweise hat diese „Öffnung“ in vielen Kulturhäusern, die ich in Sibi-

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rien und andernorts in Russland besucht habe, tatsächlich stattgefunden. In den Großstädten macht sich dies mehr bemerkbar als auf dem Lande. Um so bedenklicher ist aus meiner Sicht die Tendenz, die Kulturarbeit (und in noch stärkerem Maße die Bereiche Bildung und Jugendpolitik) vermehrt auf das Thema patriotische bzw. militärisch-patriotische Erziehung auszurichten (s. Kapitel 5). Die Vorgaben der staatlichen Programme und ihre finanziellen Anreize korrespondieren mit den enttäuschten Kommentaren vieler Pädagoginnen und Kulturarbeiterinnen, wonach die „Freiheit“ der perestrojka und der 1990er Jahre in einem individualistischen und selbstzerstörerischen laissez-faire geendet habe. Auf meine Frage, warum heutzutage so viel von patriotischer Erziehung die Rede sei, wo doch „vor zehn Jahren kaum jemand darüber sprach“ (so meine Einschätzung), sagte Ljudmila Andreevna Lysjakova, die sowohl in Kolyvan' als auch in Novosibirsk im Kulturbetrieb Berufserfahrung hat: „Das liegt daran, dass, als die perestrojka begann, alle sich frei fühlten. Unverständlich, wovon frei. [Alle] wollten Freiheit, aber wie und wovon? Und nun kommen wir zu dem Schluss, dass wir mehr als eine Generation von Kindern verloren haben. Natürlich gibt es auch kluge Kinder, vernünftige, die sich bemühen, etwas zu erreichen. Aber im Allgemeinen – Bier, Drogen, keine Lust auf Arbeit.“ (L.A. Lysjakova, Jg. 1959, Novosibirsk, 18. Juni 2007)

D IE ANGST

VOR DER

V ERWAHRLOSUNG DER J UGEND

Ein längeres Zitat aus der Diplomarbeit einer Kulturarbeiterin illustriert, wie sich der Diskurs über die Heranwachsenden mit Pessimismus verbindet:26 „Gegenwärtig lebt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung unter den Bedingungen eines gravierenden Kulturdefizits (deficita kul'tury), die Einwohner vieler Regionen ernähren sich von einer mageren kulturellen Ration, sie haben keine Möglichkeit, ihre geistigen Bedürfnisse zu befriedigen. Wahrlich, wir durchleben heutzutage das, was die Soziologen ein kulturelles Defizit nennen. Einzigartige literarische und künstlerische Werke, die dem Talent großer Künstler entstammen, finden sich [nun] in einer marginalen Position wieder. Für den ‚künstlerischen Massenkonsum‘ (chudožestvennyj širpotreb) stehen [hingegen] die Signale auf grün. Es ist alarmierend, dass junge Menschen, die von den schlimmsten Exempeln der PopShow-Estradenmusik zombifiziert wurden (zombirovannye), nicht selten zu Überträgern der Subkultur werden. Sie verlieren das Interesse an der künstlerischen Klassik, an den Volksliedern und -tänzen, ja überhaupt an allem Vaterländischen (ko vsemu otečestvennomu). Gerade 26 Das Zitat und die beiden folgenden Absätze sind in englischer Version veröffentlicht in Habeck (2011a).

70 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND hier kommt den Kulturschaffenden und den Kultureinrichtungen eine enorme mobilisierende Rolle zu, denn sie sind es, die den Menschen die Welt des Schönen eröffnen und sie zu moralischen Handlungen (k nravstvennym postupkam) bewegen. Eine jede davon ist eine feine, delikate Handlung, die nach Maßgabe der Vernunft ausgeführt wird und von gutwilligem und mitfühlendem Herzen kommt.“ (Kosinceva 2005: 4)

Mit Ljudmila Ivanovna Kosinceva, der Autorin dieser Diplomarbeit, schloss ich im Frühjahr 2006 Bekanntschaft, als ich sie um Erlaubnis bat, im Kulturhaus von Kolyvan' meine Feldforschung zur gegenwärtigen Situation und Bedeutung von Kulturhäusern in Sibirien durchzuführen. Kosinceva ist die Direktorin des örtlichen Kulturhauses, welches für seine erfolgreiche Arbeit bekannt ist, vor allem im Vergleich mit den anderen Einrichtungen dieses Typs in anderen Landkreisen der Region Novosibirsk. Daher war es kein Zufall, dass das Kulturdezernat der Verwaltung der Region Novosibirsk mich nach Kolyvan' entsandte. Die Feldforschung in Kolyvan' erwies sich als ein überaus bestrickendes Erlebnis: von einem kulturellen Defizit war zumindest in dieser Kleinstadt nichts zu spüren. Die Ausführungen in der Diplomarbeit von Ljudmila Kosinceva, die ich erst nach Abschluss meiner Feldforschung las, überraschten mich durch ihren pessimistischen und polarisierenden Duktus. Kultur (kul'tura) kann den Menschen zu einem besseren Leben verhelfen, so lese ich aus diesen Zeilen heraus, aber nichtsdestoweniger ist sie ein knappes Gut. Mehr noch, Kultur ist bedroht, sie bedarf des besonderen Schutzes. Der Verweis auf das kulturelle Defizit, die kulturelle Krise, erinnert an frühere Zeiten, als es hieß, dass Popkultur und „Subkultur“ – wenn in hohen Dosierungen konsumiert – zu asozialem oder deviantem Verhalten und zu Schädigungen des Charakters führen können.27 Die jungen Leute, von denen Kosinceva spricht, sind dadurch zu Zombies geworden, dass sie (angeblich) völlig geistlos und gedankenlos konsumieren, dass sie kein Urteilsvermögen und keinen Sinn für Geschmack haben. Sie haben sich in kaltblütige Individualisten verwandelt, sie nehmen keinen Anteil an der Gesellschaft um sie herum. Es ist eben diese Indifferenz, die sie als Halbtote erscheinen lässt. Wahre Kultur, also edle Kultur, kann sie wieder zu Leben erwecken. Im Grunde hegen viele Kulturarbeiterinnen – und nicht nur sie – ein tiefes Misstrauen gegenüber ihren Mitmenschen: zum einen misstrauen sie der geschmacklichen Kompetenz,28 zum anderen der Bereitschaft der Mitmenschen, für sich selbst 27 Yurchak (2006: 172-202) gibt mehrere aufschlussreiche Illustrationen für den Zeitraum 1949-1981. 28 Auch Kulturkritiker des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts glaubten zu wissen, was für das Publikum gut sei, und dass das Publikum nicht die Kompetenz habe, dies zu beurteilen. So forderte der Berliner Tonkünstler-Verein in Zusammenhang mit der Bemerkung, dass die Oper als ein künstlerisches Volksbildungsinstitut dienen soll: „Auf geisti-

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Verantwortung zu übernehmen, ihr Leben konstruktiv zu gestalten und ihre eigenen kreativen Potenziale zu realisieren. Dies äußerte sich vielfach in Interviews, aber auch in dem „Auftrag“, mit dem ich in meiner Rolle als ausländischer Sozialwissenschaftler von Politikern, Pädagoginnen und Pressevertretern in Kolyvan' ausgestattet wurde. Um meine Feldforschung zum Thema Kulturhäuser in Kolyvan' durchführen zu können, benötigte ich grünes Licht seitens der örtlichen Behörden. Dem üblichen Prozedere folgend29 sah ich mich eines Tages der Dezernentin des Landrates für soziale Fragen gegenüber, die mich mit dem Landrat, der Leiterin des Kulturamtes (Natal'ja Stepanovna Družinina) und der Direktorin des Kulturhauses (Ljudmila Ivanovna Kosinceva) bekannt machte. Die Begegnung mit dem Landrat erfolgte zuerst, und sie war etwas angespannt. Der Landrat bat mich zu erläutern, wieso ein Deutscher sich für die Kulturarbeit in Russland interessiert (implizit: interessieren sollte) und ob es nicht genügend Probleme in meinem Heimatland gebe. Die Dezernentin für soziale Fragen stand mir zur Seite und sagte, meine Interessen würden sich mit denen ihres Dezernats überlappen, denn ich würde herausfinden, wie man Jugendliche davor bewahren kann, herumzulungern oder sich dem Drogenmissbrauch hinzugeben. Sie betonte also den potenziell angewandten Charakter meines Forschungsvorhabens. Sie gab mir somit eine Vorlage für die Rechtfertigung meines Forschungsinteresses, welches sich als allenthalben einleuchtend und daher genehm erwies. Nahezu alle meine Gesprächspartner in Kolyvan' gingen davon aus, dass das Kulturhaus die Aufgabe erfüllt, Jugendlichen ein Betätigungsfeld zu geben, so dass sie sich nicht „herumtreiben“ und auf dumme Gedanken kommen. Es gebe ja sonst kaum Orte, wo Jugendliche zusammenkommen können, so die Meinung mehrerer Respondenten (vgl. weiter oben in diesem Kapitel). gem Gebiete [muss] es nicht minder Sanitätsbehörden geben, wie im materiellen Leben, aber sie müssen auch nicht bloß das Faule, Krankhafte verhüten, sondern an die Stelle desselben Gutes und Schönes setzen.“ (Denkschrift des Tonkünstler-Vereins in Berlin über die Reorganisation des Musikwesens, in: Neue Berliner Musikzeitung 2 (1848): 257-265, zit.n. Hentschel 2006: 88) 29 Mit meinem Ansinnen, die Situation der Kulturhäuser zu erforschen, wandte ich mich zunächst an einen Kollegen am Institut für Philosophie und Recht der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften, da klar war, dass eine wissenschaftliche Organisation vor Ort für mich „bürgen“ musste. Der Direktor dieses Instituts setzte daraufhin ein Gesuch auf, mit dem ich ich mich an das Kulturdezernat der Verwaltung der Region Novosibirsk wandte. Von dort wurde ich an die Dezernentin des Landrats von Kolyvan' für soziale Fragen weitervermittelt, wobei der Landrat des Kreises von meiner Absicht persönlich in Kenntnis zu setzen war. Im allgemeinen zeigten sich die Verantwortlichen an den verschiedenen Stationen dieser Kette als sehr offen, hilfsbereit und schnell in ihrer Unterstützung für mein Projekt (s. die Danksagung).

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Auf Grundlage der Daten der komparativen Untersuchung von 2006 lässt sich feststellen, dass die Besorgnis der Erwachsenen über die Jugend ein Phänomen ist, das in den ländlichen Regionen Russlands (und wohl auch in den städtischen) allgegenwärtig ist. Kulturarbeit wird oft mit Jugendarbeit, also Arbeit mit Jugendlichen und für sie, assoziiert. Auf die Frage, ob und in welchem Maße die Institution Kulturhaus ihrer Meinung nach ein Überbleibsel alter Zeiten (perežitok starych vremen) sei, antwortete eine leitende Kulturarbeiterin in der Stadt Anadyr': „[Kulturarbeit] wird jetzt nicht [genügend] finanziert, es gibt nun die Losung, dass es ein Überbleibsel sei, und anstelle dessen bauen wir mit Erfolg Gefängnisse, sie sind überfüllt, wir haben viele Drogenabhängige. Darüber zerbrechen wir uns in den Zeitungen die Köpfe, errichten Suchtzentren, behandeln Alkoholismus bei 19-Jährigen, gründen irgendwelche Kommissionen zum Schutz Minderjähriger. Ich meine, dass es besser ist, zu jenem Überbleibsel zurückzukehren, das wird einfacher und billiger.“ (Kulturarbeiterin, Antwort auf Q1 Frage 27 gegenüber Virginie Vaté, Anadyr', April 2006)

Auch westliche Beobachter zeigen sich seit längerem besorgt über die Lage der Jugend in Russland, so zum Beispiel der amerikanische Politologe Douglas Blum in seinem Aufsatz über Jugendpolitk in Russland (2006: 97): „In short, available evidence suggests the emergence of an asocial, apolitical, unhealthy, often delinquent, and generally disaffected younger generation, with all this implies for the future of Russia.“ Er erwähnt die Besorgnis von Politikern und Pädagogen über den „Verlust einer ganzen Generation“ (ebd.; vgl. Bigg 2008). Soziologische Studien zur Situation von Jugendlichen in Russland (wie auch in anderen Staaten) haben Jugend oft als „soziales Problem“ aufgefasst (vgl. Glendinning/Pak/Popkov 2004: 33; Omel'čenko 2003: 146). Jugendliche werden im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs einerseits als Humankapital, als Hoffnungsträger und Gestalter der Zukunft gesehen (Blum 2006: 98; Rožnov 2008), aber eben auch als potenzielle Problemfälle (Čuprov/Zubok/Uil’ams 2001). So ergibt sich der Eindruck, dass Jugendliche unter dem Generalverdacht stehen, drogenabhängig, delinquent oder beides zu sein. Die Soziologin Elena Omel’čenko kommt in einer kritischen Betrachtung über die Jugendsoziologie (2004) zu dem Schluss, dass neben derlei Studien, die die Probleme der Jugendlichen analysieren und dabei von einem „strukturellen“ Paradigma ausgehen, ein weiteres Genre von Studien existiert, die in teils exotisierender Weise den Subkulturen von Jugendlichen nachspürt und sich dabei von einem „kulturellen“ Paradigma leiten lassen. Im politischen und pädagogischen Diskurs wird m.E. die Existenz von Jugendsubkulturen jedoch ebenfalls als ein gesellschaftliches Problem gewertet: Subkulturen stehen allgemein unter dem Verdacht, „aus dem Westen“ zu stammen und von Jugendlichen in Russland gedankenlos (implizit: zu ihrem eigenen Schaden) übernommen zu werden (vgl. Bigg 2008). Der westliche Einfluss wird assoziiert mit einem „hedonistic shift in youth values“ (Blum 2006:

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98), unreflektiertem Konsumverhalten und rücksichtlosem Individualismus. Gerade dieser Individualismus sei – so ist nun vermehrt zu lesen – dem russischen Wesen fremd, denn er entspreche nicht dem „Bedürfnis der Bewohner Russlands nach einem kollektiven Leben“ und ihrem Gemeinsinn (Koncepcija patriotičeskogo vospitanija 2003: 3). Ich werde in Kapitel 5 ausführlicher auf die Individualismuskritik zurückkommen. Dieser Position wurde auch im „Konzept der geistig-sittlichen Entwicklung und Erziehung der Persönlichkeit des Bürgers Russlands“ offiziell Ausdruck verliehen (Daniljuk/Kondakov/Tiškov 2009). Damit wurde ein Kanon von „grundlegenden nationalen Werten“ festgelegt, die für das „multinationale Volk der Russischen Föderation“ (ebd.: passim) allgemeine Gültigkeit haben sollen. Diese Werte sind: Patriotismus (dieser wird an erster Stelle genannt); soziale Solidarität; Bürgersinn; Familie; Arbeit und [kreatives] Schaffen; Wissenschaft; die traditionell in Russland verbreiteten Religionen; Kunst und Literatur; Umwelt; Menschlichkeit (ebd.: 1819). Logisch aufgebaut und konsistent in seiner Argumentation ist dieses Konzept ein wichtiges Zeugnis des gegenwärtigen Wertekonservativismus in Russland.30 In diesem Dokument geht es um die „sittliche Selbstvervollkommnung“, die „sittliche Selbstkontrolle“ und das allseitige Bemühen, „‚besser zu werden‘“ (ebd.: 12). Endlich gibt es also eine nationale (Entwicklungs-)Idee, einen für alle verbindlichen Wertekanon, der von so vielen Pädagoginnen und Akademikern vermisst wurde (z.B. Tjuškevič 2006: 280). Mit der gesamtgesellschaftlichen Sorge über die „gefährdete“, „verwahrloste“ und manchmal auch „verwestlichte“ Jugend habe ich an dieser Stelle einige Aspekte angesprochen, auf die ich in Kapitel 5 zurückkommen werde. Ich habe den dortigen Ausführungen vorgegriffen, um bereits an dieser Stelle zu verdeutlichen, welche Erwartungen und konkreten Aufträge sich mit der Tätigkeit des Kulturhauses verbinden. Die Debatten über die verwahrloste Jugend liefern den Kulturarbeiterinnen ein wichtiges Argument zur Legitimierung ihrer Arbeit, und sie können sich der verbalen Unterstützung durch staatliche Stellen sicher sein. Wie die Aufgaben der Kultureinrichtungen offiziell formuliert sind und mit welchen Instrumenten die „Ausführung“ nachgehalten wird, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.

30 Einer der Autoren, Valerij Aleksandrovič Tiškov, ist langjähriger Direktor des Instituts für Ethnologie und Anthropologie der Russischen Akademie der Wissenschaften (seit 1989) und war kurzzeitig Minister für Nationalitätenfragen der Regierung Russlands (1992).

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Kapitel 3 Kultur und Bürokratie: Offizielle und inoffizielle Regeln des Kulturbetriebs

Kapitel 2 handelte davon, wie Menschen in einer bestimmten Region in Russland ihre Freizeit verbringen und inwieweit sie die Angebote des Kulturhauses wahrnehmen. In diesem Kapitel wechsle ich die Perspektive und beschreibe die Arbeitsweise des Kulturhauses aus der Sicht der Kulturarbeiterinnen und ihrer Vorgesetzten sowie den institutionellen Kontext. Wiederum soll Kolyvan' als Beispiel dienen, diesmal aber schließe ich die kleineren Kulturhäuser und Dorfklubs, die sich im Landkreis von Kolyvan' befinden, in die Betrachtung mit ein.1 Zunächst skizziere ich die Position des Kulturhauses im Gefüge der anderen öffentlichen Einrichtungen, die mit Kulturarbeit, Erziehung, und Freizeitgestaltung betraut sind. Dann gehe ich der Frage nach, wie der von der öffentlichen Hand finanzierte Kulturbetrieb organisiert ist, und welche Kriterien der Planung und Auswertung der Arbeit existieren. Im Vordergrund stehen also vor allem die formalen Aspekte – jene, die einem bürokratischen Reglement unterworfen sind. Im Laufe der Darstellung beschreibe ich aber auch einige wesentliche Schwierigkeiten in der Praxis der Kulturarbeit sowie einige Taktiken, mit denen bestimmte offizielle Vorgaben umgangen werden können. Erst dadurch wird die Relevanz der offiziellen Kriterien vollends deutlich. Die 2003 begonnene, aber nur allmählich vollzogene Umstellung der Finanzierungsgrundlagen des Kulturbetriebs („Gesetz № 131“) hat den Kulturarbeiterinnen und örtlichen Verwaltungen einen neuen, vermeintlich größeren Handlungsspielraum eröffnet. Diese Neuerung ist jedoch mit wenig Begeisterung und viel Skepsis aufgenommen worden.

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Das Kulturhaus Točmaševec in Novosibirsk wird hier nicht berücksichtigt.

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D AS G EFÜGE DER B ILDUNGS -, F REIZEIT UND K ULTUREINRICHTUNGEN Um die Rolle der Kulturhäuser und ihren pädagogischen Auftrag im Gemenge der öffentlichen Bildungs-, Freizeit- und Kultureinrichtungen zu verdeutlichen, ist es sinnvoll, zunächst eine grobe Kartierung dieses Feldes vorzunehmen. Viele dieser Institutionen bestanden in gleicher oder ähnlicher Form bereits zu Sowjetzeiten, doch sind eine Reihe von Änderungen im System schulischer und außerschulischer Erziehung zu verzeichnen. Das Ende der Sowjetunion brachte auch den Zerfall der Kinder- und Jugend-Massenorganisationen – Pioniere, Komsomol – mit sich (vgl. Dimke 2008; Yurchak 2006); aber die Rückbesinnung auf pädagogische Praktiken der Sowjetzeit haben zu ihrer punktuellen Wiederauferstehung in altem oder neuem Gewand geführt. Die Aussage, dass in Russland Bildung ein besonders hohes Gut sei, mag pauschal erscheinen; aber sie findet Bestätigung in der Sorge und den finanziellen Mitteln (Eklof 2005: 15-16; Glendinning/Pak/Popkov 2004: 45), die Eltern in Russland in die schulische und weitere Ausbildung ihrer Kinder investieren. Die Schulaufsicht und die grundsätzliche Gestaltung des Lehrplans sind Prärogativ des Staates, und das Schulsystem bis zur 9. Klasse zeichnet sich durch eine große Einheitlichkeit aus. Danach verzweigt es sich in verschiedene weiterführende Schulformen. Am Anfang steht die allgemeinerziehende Schule (obščeobrazovatel'naja škola), die die 1. bis 9. Klasse unterrichtet. Viele allgemeinerziehenden Schulen bieten auch die 10. und 11. Klasse an. Der erfolgreiche Abschluss der 11. Klasse trägt die Bezeichnung polnoe srednee obrazovanie (vollständige Mittelschulbildung). Manche Absolventen der 9. Klasse verbleiben aber nicht in der allgemeinerziehenden Schule, sondern wechseln in ein Lyzeum, eine Berufsschule (PTU, professional'notechničeskoe učilišče) oder ein Kolleg (Eklof 2005: 1-3, 6-17, Anh. 1). Mit der zum September 2007 in Kraft getretenen Ausweitung der allgemeinen Schulpflicht von neun auf elf Jahre ist der Abgang nach der 9. Klasse mit der umgangssprachlichen Bezeichnung nepolnoe srednee obrazovanie (unvollständige Mittelschulbildung) nicht mehr vorgesehen (Federal'nyj zakon № 194). Der obligatorische Schulbesuch wird ergänzt von außerschulischen Bildungsangeboten. Die učreždenija dopolnitel'nogo obrazovanija detej (Einrichtungen der zusätzlichen [d.h. außerschulischen] Bildung für Kinder) umfassen ein sehr diverses Spektrum von Institutionen. Dazu zählen u.a. Musikschulen (muzykal'nye školy), Sportschulen und Zentren zur Förderung der Kreativität bei Kindern (Dom detskogo tvorčestva – diese sind oft aus den Pionierhäusern der Sowjetzeit hervorgegangen (s.u.). „Stationen der jungen Naturforscher“ (stancii junych naturalistov) und „Stationen der jungen Touristen“ (stancii junych turistov) gehören ebenfalls zu den außerschulischen Bildungseinrichtungen, ihre Zahl ist jedoch vergleichsweise klein.

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B ÜROKRATIE

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Die hier genannten Einrichtungen werden ebenso wie Jugendklubs in aller Regel vom jeweiligen örtlichen Jugendamt (in einigen Fällen vom Schulamt) betreut. Ihre Finanzierung erfolgt heute zumeist aus kommunalen Budgets. Außerschulische bzw. außeruniversitäre Bildungseinrichtungen für Erwachsene beschränken sich auf berufliche Fortbildung. Institutionen, die mit den Volkshochschulen in Deutschland direkt vergleichbar wären, existieren in Russland nicht. Tatsächlich sind es die Kulturhäuser, die mit der Erwachsenenbildung betraut wurden – der Auftrag der Kulturhäuser bestand ja von Anbeginn in der Aufklärung der Massen. Und tatsächlich listen nicht wenige Kulturhäuser Aktivitäten, die sich unter Erwachsenenbildung subsumieren lassen, in ihren Programmen auf. Wenngleich sich die Tätigkeitsbereiche der pädagogischen und der Jugendeinrichtungen mit denen der Kulturhäuser überschneiden, so gehören letztere zu einem anderen behördlichen Zuständigkeitsbereich, nämlich dem der Kulturämter. Die formale Bezeichnung „Kultur- und Freizeiteinrichtungen“ (učreždenija kul'tury i dosuga) dient als Sammelbegriff für Kulturpaläste (in den Großstädten), Kulturhäuser (in Städten und größeren Dörfern), sowie Klubs (in den kleineren ländlichen Siedlungen). Die drei Kategorien Kulturpalast – Kulturhaus – Klub unterscheiden sich hinsichtlich ihrer personellen und finanziellen Ausstattung, worauf ich weiter unten genauer eingehen werde. Während sich bis in die 1990er Jahre viele Kulturpaläste und Kulturhäuser in betrieblicher Obhut befanden, ist heutzutage das Gros der kulturellen Einrichtungen in kommunaler Trägerschaft. Ebenso verhält es sich mit dem weit ausgedehnten und immer noch vergleichsweise dichten Netz von Bibliotheken, den Museen, den städtischen Parks mit Freizeitangebot (parki kul'tury i otdycha),2 den Theater- und Opernhäusern. Weiterhin sind die Einrichtungen der „nationalen“ Kulturen zu nennen: in Novosibirsk zählen dazu beispielsweise das Haus der ukrainischen Kultur und das Russisch-Deutsche Haus, die hinsichtlich ihrer Organisationsprinzipien den Kulturhäusern im allgemeinen Sinne gleichen. In ländlichen Regionen mit nicht-russischer (in den meisten Fällen bedeutet dies: indigener) Bevölkerung kommen ethnokulturelle Aktivitäten zumeist in den Kulturhäusern zur Aufführung, in manchen Orten sind jedoch spezielle Zentren damit betraut, so z.B. in Koš-Agač (Republik Altai) das „Zentrum der nationalen Kulturen“, welches mit dem örtlichen Kulturhaus in einem gewissen Konkurrenzverhältnis steht (Halemba 2011). In Kolyvan' selbst findet ethno-kulturelle Arbeit nur auf Ebene von Zirkeln statt: in der örtlichen Bibliothek trifft sich eine Gruppe von Personen, die sich mit deutscher Literatur befassen; in den Dörfern der Umgebung gibt es ukrainische und tatarische Ensembles, die auch gelegentlich im Kulturhaus der Kreisstadt auftreten.

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Zu den sowjetischen Kulturparks liegen Beschreibungen von Kucher (2003) und Schlögel (1998) vor, vgl. auch Kotkin (1995: 186-187).

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Die genannten schulischen, außerschulischen und kulturellen Einrichtungen existieren in allen größeren Orten vom einen Ende der Russischen Föderation bis zum anderen, aber in den einzelnen Orten in verschiedenen Kombinationen. Schulen finden sich in nahezu allen Ortschaften mit mehr als 500 Einwohnern, ebenso in vielen kleineren Siedlungen. Außerschulische Bildungseinrichtungen sind seltener vertreten. Nicht jede Gemeinde hat eine Musik- oder Sportschule. Die Aufgaben dieser spezialisierten Einrichtungen werden dort, wo sie fehlen, von anderen Institutionen abgedeckt. Aus den unterschiedlichen Kombinationen in einer bestimmten Stadt ergeben sich auch verschiedene Formen der Interaktion im Bildungs-, Kulturund Freizeitangebot. So ist es keine Seltenheit, dass in ein und derselben Ortschaft Musikzirkel sowohl an Schulen als auch in Kulturhäusern und Jugendklubs bestehen (teilweise organisieren die Institutionen diese Angebote gemeinsam). Nicht zuletzt sind die persönlichen Kontakte der Mitarbeiterinnen der Schulen, außerschulischen Bildungseinrichtungen, Kultur- und Jugendeinrichtungen für die Ausprägung des örtlichen „Profils“ entscheidend. Da in all diesen Institutionen geringe Gehälter gezahlt werden, haben nicht wenige Kulturarbeiterinnen neben ihrer Anstellung im Kulturhaus auch eine halbe Stelle an einer örtlichen Schule und/oder einer anderen Einrichtung im pädagogisch-kulturellen Bereich. Außerdem nutzen manche Kulturarbeiterinnen die Möglichkeit, auf Feiern und Jubiläen, die privat oder von Firmen in Restaurants oder Bars begangen werden, gegen Bezahlung aufzutreten und sich damit einen inoffiziellen Nebenverdienst zu erwerben (s.u.). Mehr noch, die offiziell von den Mitarbeiterinnen des Kulturhauses organisierten Zirkel treffen sich nicht notwendigerweise im Kulturhaus selbst, sondern beispielsweise an einer Schule. Begründet hat dies eine kompetente Interviewpartnerin, die selbst früher einen Nähkurs im Kulturhaus anbot, mit dem Platzmangel im Kulturhaus und der zeitlichen Überschneidung mancher Aktivitäten (Interview mit Natal'ja Sergeevna Volkova, Jg. ca. 1957, 3. Mai 2006). Während also einerseits so manche Aktivität des Kulturhauses nur auf dem Papier existiert (s.u.), geben die Mitarbeiterinnen des Kulturhauses Unterricht in Gesang und Tanz auch in anderen Institutionen. Fast scheint es, als ob die einzelnen Kursleiterinnen ein Portfolio an Kompetenzen und Kursen mitbringen, die sie an den Schulen, kulturellen Einrichtungen und auch im privaten Rahmen anbieten – je nachdem, welche Arbeitsbedingungen und Ressourcen sie im jeweiligen Rahmen antreffen.

O RGANISATIONSSTRUKTUR , S TELLENPLÄNE UND T ÄTIGKEITSPLÄNE Die koordinierende Stelle bei der Kreisverwaltung, die Abteilung für Kultur, bietet den Ausgangspunkt für die Inspektion der organisatorischen Prinzipien, die die Ar-

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beit der Kultureinrichtungen bestimmen. Die Abteilung für Kultur der Verwaltung der Gebietskörperschaft „Landkreis Kolyvan'“ (Otdel kul'tury administracii MO „Kolyvanskij rajon“), so die offizielle Bezeichnung, war bis vor wenigen Jahren Teil des Systems der vertikal angelegten Kulturverwaltung, wonach übergeordnete Kulturämter Weisungen und Zielvorgaben an die örtlichen Kultureinrichtungen übermittelten, die entsprechenden Gelder anwiesen, die Effizienz der Arbeit der Kultureinrichtungen überwachten und zu diesem Zweck Tätigkeitsberichte von „unten“ anforderten. Zwar sieht sich die Abteilung für Kultur seit der Kommunalreform Mitte der 2000er Jahre in mancherlei Hinsicht entmachtet und hat nur noch einen mittelbaren Einfluss auf die Finanzierung der Kulturarbeit (siehe unten, Gesetz № 131), aber nach eigenen Angaben ist es nach wie vor die Aufgabe der Abteilung für Kultur, „die Kontrolle und Koordination der Tätigkeit der Kultureinrichtungen in der Ausführung der Kulturpolitik im Landkreis“3 zu gewährleisten. Neben der Leiterin, Natal'ja Stepanovna Družinina, die ich schon im Auftakt zu Kapitel 1 vorgestellt habe, arbeitet eine weitere Person in der Abteilung und befasst sich vor allem mit den alltäglichen Aspekten des Berichts- und Planungswesens. Družinina ist diejenige, die repräsentative Funtionen ausführt, mit den anderen Abteilungen der Verwaltung verhandelt und die Kulturhäuser und Bibliotheken im Landkreis aufsucht. Mit den Gemeindeverwaltungen auf dem Lande arbeitet die Abteilung für Kultur „partnerschaftlich“ zusammen, dagegen ist die Arbeit mit den Kultureinrichtungen auf dem Lande hierarchisch definiert: sie „besteht in der Kontrolle der Zusammenstellung und Ausführung von Plänen, vor Ort ebenso wie des Kreises als Ganzes, [sowie] in der methodischen Versorgung.“4 Pläne und Berichte sind die wichtigsten Mittel der offiziellen Kommunikation zwischen der Kontrollstelle und der Basis, und wir werden sehen, dass sie nach bestimmten, wohl in ganz Russland allgemein üblichen Konventionen aufgebaut sind. Das Schema zur Organisationsstruktur des Kulturbetriebes im Landkreis in Anhang 5 vermittelt, dass neben den Dorfklubs (in der Graphik ganz rechts), den Kulturhäusern in den ländlichen Gemeinden und dem Kulturhaus in der Kreisstadt auch das Museum, die Musikschule und das Bibliothekssystem des Landkreises unter der Kuratel der Abteilung für Kultur stehen.5 Die Gemeindeverwaltungen agieren nach dieser Darstellung ebenfalls als Aufsichtsinstanz. Bei der Einstellung von Personen als Angestellte des Kulturhauses beraten sich die Bürgermeister mit der Abteilung für Kultur.6 3

Otčet o rabote učreždenij kul'tury Kolyvanskogo rajona za 2005 god (Bericht über die Arbeit der Kultureinrichtungen des Landkreises Kolyvan'), S. 3.

4 5

Ebd.: S.3. Ebd.: S. 2. Das Bibliothekssystem hat Ähnlichkeit mit dem System der Kulturhäuser und Dorfklubs, das heißt, die Kreisbibliothek hat Filialen in den kleineren Gemeinden.

6

Ebd.: S. 3.

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Auch wird aus dem Schema die Hierarchie der Kulturhäuser selbst ersichtlich, die an anderer Stelle schon kurz angesprochen wurde. Das Kulturhaus in der Kreisstadt darf sich Kreiskulturhaus nennen (rajonnyj dom kul'tury, abgekürzt als RDK). Es bietet den Dorfkulturhäusern (sel'skie doma kul'tury, SDK) und Dorfklubs (sel'skie kluby, SK) methodische und in der Praxis auch technische und künstlerische Unterstützung. Letztere sind die kleinsten Einheiten im System des öffentlichen Kulturbetriebs auf dem Lande und in der Regel einem nahegelegenen SDK zugeordnet, stellen also deren „Filialen“ dar. Die Arbeit der Dorfkulturhäuser und Dorfklubs verläuft erwartungsgemäß auf vergleichsweise niedrigem finanziellen Niveau, entsprechend mäßig ist ihre Arbeit und Attraktivität. Verfallende und verrammelte Dorfklubs lassen sich in vielen kleinen Gemeinden im ländlichen Russland finden (dazu mehr im Nachwort), so auch in den entlegeneren Dörfern des Landkreises Kolyvan'. Manche Dorfklubs dort sind dauerhaft geschlossen, und die Weiterbeschäftigung von ein oder zwei Arbeitskräften lässt sich nur damit begründen, dass in diesen Dörfern fast keine anderen Arbeitsplätze bestehen. Družinina und ihre Kollegin machen kein Geheminis daraus, betonen aber auch die Ausnahmefälle, in denen es aufgrund des Engagements einzelner Personen doch gelingt, den Dorfklub offen zu halten und zumindest einige Veranstaltungen pro Jahr zu organisieren. Im Norden des Landkreises, von der Kreisstadt am weitesten entfernt, liegt Ponomarevka, eine 300-SeelenGemeinde mit Dorfkulturhaus (SDK), dem der Dorfklub (SK) in der Nachbarsiedlung Chochlovka mit ihrer Einwohnerschaft von maximal 100 Personen unterstellt ist. Den Stellenplan der beiden Einrichtungen, den Jahresplan des Kulturhauses von Ponomarevka für 2006 und den Tätigkeitsbericht für Januar 2006 habe ich in den Anhang aufgenommen, um zu illustrieren, wie sich Kulturarbeit in den kleinen und peripheren Einrichtungen aktenkundig macht (Anh. 7.2, 8.2, 9.2). Laut Družinina (der Leiterin der Abteilung für Kultur) gehören Ponomarevka und Chochlovka zu den problematischsten Fällen, mit denen sie in ihrer Arbeit konfrontiert wird: „Dort [in Ponomarevka] ist der Klub [das Dorfkulturhaus] überhaupt in einem furchtbaren Zustand. Und das, weil sie weit weg sind, niemand stört sie, niemand kontrolliert sie. […] In der Bibliothek dort, da arbeitet eine Frau, die ist wunderbar. In der Bibliothek zwar, aber sie führt alle Veranstaltungen durch. Aber der Klub … während der letzten Attestierung haben wir sie hinuntergestuft, das Gehalt gemindert, ihre Dienststellung hinabgestuft – ohne, dass es etwas genutzt hätte. […] Es gibt aber auch niemanden [sonst], den man anstellen könnte. Tja, der menschliche Faktor ist ausschlaggebend und [auch] die materielle Basis. […] Ich möchte damit aber nicht sagen, dass in Ponomarevka die Leute sich nicht mit Kultur beschäftigen (kul'turoj ne zanimajutsja).“ (Natal'ja Družinina, 26. April 2006)

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Auf meine Frage, wieso für den Dorfklub von Chochlovka nur der Stellenplan, aber keine Tätigkeitsberichte oder Pläne vorliegen, entgegnete Družinina: „Na, solche gibt es bei uns, und nicht nur Chochlovka. […] Von solchen gibt es fünf. Das sind nicht Dörfer, [sondern] ganz kleine [Siedlungen], dort leben 60 oder 70 Leute. […] Warum halten wir [sie] auf halben Stellen? Weil wir trotz allem hoffen, dass sich das alles ändern wird. Und auch, um das Gebäude selbst zu erhalten. Sie [die Angestellten] heizen und streichen [das Gebäude], dort versammelt sich die Dorfgemeinschaft. Veranstaltungen führen sie keine durch […] Wenn irgendwelche Fragen anstehen, Aussaat, Ernte, dann versammeln sich [die Leute]. Das heißt, der Mensch, der dort Geld kriegt auf einer halben Stelle – na etwa 500 Rubel – kriegt das Geld dafür, dass er das Gebäude erhält. […] Wenn wir ihm jetzt kündigen, wird der Klub gefleddert (ego rastaščat, razgrabjat), dann werden wir diesen Klub nicht mehr haben. Aber eine volle Stelle können wir ihm auch nicht bezahlen, weil er nicht die drei Kollektive führt [welche die Voraussetzung für die Gewährung einer vollen Stelle sind]. Vielleicht kann er irgendeinen [Dorf-] Tanz zu Neujahr durchführen. Also solche Feiertage wie Neujahr, der 8. März, der 23. Februar, der Tag des Sieges, da kommen sie [die Leute] eindeutig hin, versammeln sich alle, trinken zusammen Tee. Singen Lieder im Chor. Das nennt sich bei uns [dann] Volksfest (narodnoe guljanie). Das ist alles. Kollektive hat er gar keine. Und deswegen kriegt er auch nichts.“ (Natal'ja Družinina, 26. April 2006)7

Nicht nur die Abteilung für Kultur bei der Verwaltung des Landkreises, sondern auch das Kulturhaus in der Kreisstadt ist mit der Schulung der Kulturarbeiterinnen aus den Dörfern des Landkreises betraut. Zu diesem Zweck werden in Kolyvan' Seminare organisiert. Aus Kostengründen nehmen daran aber in aller Regel nur Personen aus den nahegelegenen Ortschaften teil. Nicht selten fahren die Mitarbeiterinnen des Kreiskulturhauses aufs Land, fungieren bei Laienkunstwettbewerben in irgendeinem Dorfkulturhaus als Jury und treten auch selbst auf, wodurch sie dem jeweiligen Wettbewerb ein bisschen mehr Glanz verleihen. Vom Ablauf dieser hierarchisch geprägten Begegnungen war schon in Kapitel 1 die Rede. Wenngleich die finanzielle Situation und die Professionalität des Kulturhauses von Kolyvan' niedriger liegt als bei manch einem Kulturpalast in der Großstadt, so strahlt es aus der Perspektive der ländlichen Gemeinden doch eine beachtliche Größe, eine gewisse Eleganz und künstlerische Kompetenz aus. 7

Tatsächlich ist im Stellenplan für den Dorfklub Chochlovka für das Jahr 2005 eine volle Stelle (Einheit) für die Leitung des Klubs und eine halbe Stelle (Einheit) für eine Reinigungskraft vorgesehen. Aus dem weiteren Verlauf der Analyse der Daten ergibt sich, dass „Einheiten“ auf dem Stellenplan in der Berufspraxis wohl eher einer halben denn einer vollen Stelle entsprechen. Ich selbst habe mir von der Arbeit der Kultureinrichtungen in Ponomarevka und Chochlovka kein Bild verschaffen können, weil ich keine Gelegenheit hatte, dorthin zu fahren.

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Der in Anhang 7.1 wiedergegebene Stellenplan gibt einen guten Überblick über die Organisation des Kulturhauses von Kolyvan'. Mit 44 Stellen laut Stellenplan wirkt das Kreiskulturhaus überaus reich bedacht, speziell wenn man sich die Anstellung von vier Brandschutzbeauftragten vergegenwärtigt. Tatsächlich aber arbeitet ein- und dieselbe Person in verschiedenen Funktionen – im Grunde handelt es sich um Doppelanstellungen – wodurch der jeweiligen Person ein einigermaßen anständiges Gehalt gewährt werden kann. Bemerkenswert ist hierbei, dass das Kreiskulturhaus in seinem statistischen Bericht „nur“ eine Zahl von 28 Angestellten angibt. Diese 28 Angestellten teilen sich also die 44 Planstellen. Von den vier Brandschutzbeauftragten zum Beispiel arbeitet eine gleichzeitig als Garderobière, einer als Hausmeister, eine als Arbeiterin zur umfassenden Wartung des Gebäudes und eine als Einlasskontrolleurin. So kann die jeweilige Person ihr Gehalt von 1.834 Rubeln pro Monat (für den Brandschutz) um 990 bis 1.224 Rubel pro Monat (je nach zweiter Funktion) aufstocken.8 Des weiteren besteht die Möglichkeit, bestimmte Stellen offiziell zu halbieren und an Personen zu verteilen, die eine Vollzeitstelle in anderer Funktion haben: so ist die vergleichsweise gut dotierte Position „Künstlerische Leitung“ zur Hälfte an die Leiterin der Abteilung für Arbeit mit Kindern und Heranwachsenden und zur anderen Hälfte an die Leiterin des Kinderkollektivs „Kolokol'čiki“ vergeben. Letztere hat, ebenso wie mehrere andere Kulturarbeiterinnen, auch einen Vertrag mit einer der örtlichen Schulen, so dass zweioder auch dreifache Beschäftigung der Kulturarbeiterinnen nicht allzu ungewöhnlich ist.9 Wenngleich diese Praxis bestimmte Fragen hinsichtlich der Arbeitsleistung schon aus rein physischer Sicht aufwirft, so ist sie doch angesichts der niedrigen Löhne und der relativ hohen Lebenshaltungskosten durchaus nachzuvollziehen. Ebenso wie die Stellen überschneiden sich auch die Arbeitsfelder der einzelnen Personen, so dass Leute ganz unterschiedlicher Funktion die Erstellung des Szenarios für eine bestimmte Festveranstaltung ausführen können. Eine Fachkraft für Methodik befasst sich in der Praxis sowohl mit Gesangsunterricht für Kinder, Choreographie, Planung der Bühnendekoration für eine Show, führt dann selbst durch die Show und/oder tritt in einem der Programmpunkte auf. Klar getrennt sind lediglich die technischen Tätigkeiten einerseits von den künstlerischen und administrativen Tätigkeiten andererseits. Dagegen ist die Betreuung der einzelnen Zirkel, Kollektive und Ensembles personenbezogen. Falls die Leiterin des Ensembles erkrankt, wird die nächste Probe eher abgesagt, als dass die Leiterin eines anderen Ensembles die Vertretung übernimmt.

8

Selbst im günstigsten Falle lagen sie damit zwischen 80 und 90 Euro Salär im Monat (nach Umrechnungskurs für den Mai 2006).

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Die Regisseurin des Kulturhauses arbeitete zum Zeitpunkt meiner Feldforschung an den Wochenenden als DJ in einem angesagten Club in Novosibirsk.

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Zur Planung der Arbeit im Kulturhaus werden Jahres- und Monatspläne erstellt (als Beispiele dienen der Jahresplan von Ponomarevka für 2006 und der Monatsplan für Kolyvan' für den Mai 2006, Anh. 8.1 und 8.2). Die Tatsache, dass manche Jahrespläne nicht dem Kalenderjahr, sondern dem Schuljahr entsprechen, deutet darauf hin, dass die Arbeit der Kulturhäuser mit dem Schulbeginn jeweils zum 1. September neuen Schwung erhält, und tatsächlich sehen die Pläne der Kollektive für Kinder für den August und September die „Komplettierung“ (komplektovanie) oder „Auswahl“ (podborka) von Teilnehmenden vor. Jedes Kollektiv soll seinen eigenen Jahresplan vorlegen. Die Kulturhäuser wiederum legen ebenfalls Jahrespläne vor, die nicht auf die Arbeit der einzelnen Kollektive, sondern auf die großen Veranstaltungen eingehen. Diese Pläne folgen einer bestimmten Matrix: Sie sind nach Arbeitsrichtungen gegliedert. Jede einzelne Aktivität lässt sich einer oder mehrerer dieser Arbeitsrichtungen zuordnen. Der Kanon der „Richtungen“ (napravlenija) hat sich über die Jahre zwar verändert, geht aber in seiner Grundstruktur auf die Sowjetzeit zurück.10 Er wird sowohl in den Jahresplänen der einzelnen Kulturhäuser als auch in dem Plan, den die Abteilung für Kultur für den Landkreis als ganzes ausarbeitet, eingehalten. So trifft man bei Durchsicht der Unterlagen immer wieder auf dieselbe Reihenfolge: − − − −

historisch-patriotische Erziehung (istoriko-patriotičeskoe vospitanie); moralisch-rechtliche Erziehung (nravstvenno-pravovoe vospitanie); Arbeitserziehung (trudovoe vospitanie);11 ästhetische Erziehung (ėstetičeskoe vospitanie);

10 „Früher hatten wir [die Kulturhäuser und deren Personal] drei grundlegende Funktionen: Aufklärung (prosveščenie), Erziehung (vospitanie) und Entwicklung (razvitie). Also, so wie es in der Pädagogik war, so war es auch bei uns. [Überdies] gab es Richtungen [der Arbeit]: die ästhetische, die moralische (nravstvennoe) und die patriotische. Auch gab es die atheistische Richtung […]“ (Ljudmila Andreevna Lysjakova, ehemalige Leiterin des Kulturamtes von Kolyvan' und später Mitarbeiterin im Kulturhaus Točmaševec, Jg. 1959, Novosibirsk, 18. Juni 2007, Antwort auf Q1 Frage 27). Anweiler (1978: 579) erwähnt die ideologisch-politische Erziehung, die Arbeitserziehung und die sittliche Erziehung als die wesentlichen Aufgabenfelder der Erziehungskonzeption für das gesamte sowjetische Schulwesen ab 1976. 11 Diese Richtung ging hervor aus den Bemühungen der Kommunistischen Partei in den 1920er und 1930er Jahren, die in die neuen Industriezentren strömende Landbevölkerung zu einer höheren Arbeitsdisziplin und einem besseren Zeitmanagement zu bewegen, vgl. Petzoldt (1988) und in anderer Interpretation Trotzki ([1923] 2001: 33). In heutiger Zeit geht es im Falle von trudovoe vospitanie eher um die Vorbereitung junger Menschen auf das Berufsleben.

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− Arbeit mit sozial benachteiligten Gruppen (rabota s social'no-nezaščiščennymi slojami naselenija); − Arbeit mit Kindern und Heranwachsenden (rabota s det'mi i podrostkami); − Bewahrung der Traditionen (sochranenie fol'klornych tradicij). Bemerkenswert ist, dass im Jahresplan von Kolyvan' 2005-2006 noch die Arbeitsrichtung „Freizeit“ (dosug) hintangestellt wird, welche den Eindruck einer Residualkategorie vermittelt, da sie aus dem Paradigma der „Erziehung“ zu bestimmten Werten oder „Arbeit“ mit bestimmten Gruppen herausfällt. Generell sollte die „Erziehung“ bzw. „Arbeit“ mit den das Kulturhaus besuchenden Menschen ja in deren Freizeit stattfinden – wozu bedarf es dann noch einer Extra-Rubrik mit dem Titel „Freizeit“? Mir scheinen zwei Ansätze geeignet, diesen Umstand zu deuten. Der erste ist rein praktischer Art: Lehrerinnen bringen die Kinder während der Schulzeit ins Kulturhaus, damit sie dort Tanzen und Singen lernen können (s.u.), daher wird es als schulische und nicht als Freizeitaktivität gedeutet. Der zweite Ansatz ist eher normativer Art: Freizeit spielt trotz der offiziellen Bezeichnung „Kultur- und Freizeiteinrichtung“ noch keine zentrale Rolle in der Tätigkeit des Kulturhauses, das noch der „alten“ Mission folgt.12

Z USAMMENARBEIT

MIT ANDEREN ÖRTLICHEN I NSTITUTIONEN

Zur Realisierung seiner Aktivitäten ist das Kulturhaus auf die Zusammenarbeit mit anderen örtlichen Institutionen angewiesen, sowohl in rein technischen und bürokratischen Dingen als auch in der Planung und Finanzierung von größeren Veranstaltungen und in der Betreuung der Kollektive (Zirkel, Ensembles, Formationen, Gruppen, dazu unten mehr). Im Jahresplan des Kulturhauses finden sich Angaben darüber, welche Institution sich an welchem Event beteiligt: das Kreiswehrersatzamt „bestellt“ und beteiligt sich an der Finanzierung des „Tags des Einberufenen“ (vgl. Kapitel 4), die Bibliothek organisiert gemeinsam mit dem Kulturhaus den Tag der slawischen Schrift und Kultur (Kapitel 5), und das Kreiskrankenhaus wirkt mit an dem Showprogramm anlässlich des „Tags der Mitarbeiter des Gesundheitswesens“ – einem der zahlreichen Ehrentage, die in Beibehaltung der sowjetischen Praxis den einzelnen Berufsgruppen gewidmet sind (Kapitel 6).

12 Ein Indiz dafür ist die folgende Aussage der Regisseurin des Kulturhauses Lena S.: „Freizeit, das ist zu Hause, das ist etwas Häusliches (Dosug, ėto doma, domašnee čto-to). Ich [zumindest denke] so. Während der Freizeit vergnügen wir uns. Ja genau. Na, das hat überhaupt keinen Bezug zur aufklärerischen [Richtung], es findet hier am Kulturhaus nicht statt.“ (Elena V. Stojlik, Jg. 1982, 17. April 2006, Antwort auf Q2 Frage 2)

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Am engsten gestaltet sich die Kooperation zwischen den vier in Kolyvan' existierenden Schulen, dem Kulturhaus und dem Zentrum zur Förderung der Kreativität bei Kindern (Dom detskogo tvorčestva), das ich im Folgenden einfach bei seinem alten Namen – Pionierhaus – nennen werde. Der agile Leiter des Pionierhauses, Sergej Timofeevič Agafonov, erläuterte, dass allein schon der Platzmangel im Pionierhaus dazu führe, dass die Aktivitäten in andere Gebäude verlagert werden müssen. Von den 35 Zirkeln, die auf der Tafel im Eingangsbereich des Pionierhaus ausgewiesen sind, finden 11 in den verschiedenen Schulgebäuden statt, 8 im Pionierhaus selbst (vor allem sind dies Modellbau- und handwerkliche Zirkel) und 4 im Kreiskulturhaus.13 Diese vier Zirkel – es handelt sich um musikalische Kollektive – werden jeweils von einer oder einem Angestellten des Kulturhauses betreut. Diese Personen werden vom Pionierhaus als „Pädagoginnen der außerschulischen Erziehung“ auf Teilzeitbasis beschäftigt, wie aus dem Vertrag über die Zusammenarbeit zwischen Pionierhaus und Kulturhaus hervorgeht. Das Pionierhaus ist im Gegenzug berechtigt, die Räumlichkeiten und technische Ausstattung des Kulturhauses zu nutzen. Die jährliche Leistungsschau (tvorčeskij otčet) des Pionierhauses findet im Kulturhaus statt – so auch am 1. Mai 2006, wo im vollbesetzten Auditorium die Eltern sich an den Fertigkeiten und Lernerfolgen ihrer Kinder erfreuen konnten. Zu diesem Anlass trat unter anderem die Karate-Gruppe des Pionierhauses auf (Abb. 23 in Kapitel 8). Um die Beschreibung der Kooperation zwischen Kulturhaus, Pionierhaus und Schulen zu „komplettieren“, betrachten wir nun die dritte Seite dieses Dreiecks: die Zusammenarbeit zwischen dem Kulturhaus und den Schulen. Wie diese in der Praxis aussieht, wird aus den Worten einer Lehrerin deutlich: „Wir haben auch Zirkel (kružki) gemeinsam mit dem Kulturhaus. Das sind Tanzgruppen. Wir bringen die Kinder dort als ganze Klasse hin. Das heißt, es steht beim Lehrer gleich im Stundenplan, dass er die Kinder zur Tanzgrupe dorthin bringt. […] Das ist alles kostenlos. Die Schule zahlt, und die Kinder zahlen gar nichts. Wir bezahlen die Leiter dieser Zirkel, und für die Kinder ist es kostenlos“ (Gespräch mit einer Lehrerin der Schule № 1, 29. April 2006).14 Diese Besuche im Kulturhaus seien vor allem für Schülerinnen und Schüler der 4., 5. und 6. Klassen im Stundenplan vorgesehen, so sagte diese Lehrerin. Sie gehören also zum obligatorischen Teil des Unterrichts, nicht zu der als Freizeit definierten Zeit. Darüber hinaus besteht aber auch eine Rei13 Wenn man sich vergegenwärtigt, wieviele auf der Tafel im Pionierhaus genannten Zirkel tatsächlich außerhalb des Pionierhauses stattfinden, so kann man von einer Art Vermittlungsfunktion des Pionierhauses sprechen: es dient als Koordinationsstelle der Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche. 14 Dadurch, dass die Leiterinnen der Zirkel von der Schule entlohnt werden, können sie das Gehalt bzw. die Gehälter, die sie aus dem Budget des Kulturhauses erhalten, aufstocken (s.o., S. 78).

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he von fakultativen Angeboten, die nachmittags oder abends teils im Kulturhaus, teils an den Schulen stattfinden: in der Sporthalle der Schule № 1 beispielsweise treffen sich zweimal wöchentlich abends Jugendliche zum Volleyball bzw. Hockey, für Kinder wird Fußball angeboten. An derselben Schule hat sich eine Gruppe von jungen Leuten zusammengetan, die sich mit Fragen des Umweltschutzes beschäftigt (ėkoklub). Im Kulturhaus proben regelmäßig zwei Tanzgruppen aus den örtlichen Schulen und eine Gesangsgruppe aus Schule № 1. Ob diese musikalischen Kollektive sich in der Schule oder im Kulturhaus treffen, hängt von den Räumlichkeiten der jeweiligen Schule ab. So lässt sich festhalten, dass es hinsichtlich vieler Zirkel und Freizeitangebote schwierig ist, eine klare Abgrenzung zwischen dem Kulturhaus, dem Pionierhaus und den Schulen zu treffen. Kinder und Jugendliche nehmen Angebote wahr, die von einer Organisation geplant und bezahlt, aber im Gebäude einer anderen Organisation realisiert werden. Für das Kulturhaus ergibt sich aus der Zusammenarbeit mit den Schulen und dem Pionierhaus der Vorteil, dass die Kinder in die Tanz- und Gesangensembles des Kulturhauses sozusagen hineinwachsen und auch für wichtige zeremonielle Anlässe wie den Tag des Rekruten „mobilisiert“ werden können. In dieser Weise äußerte sich auch Sergej Agafonov: „Die Kleinen – mit denen arbeiten wir […] ja, wir füllen die Erwachsenen-Kollektive auf, [der Ballettmeister des Kulturhauses] hätte kein Kollektiv [ohne uns]“. Das Kollektiv, das der Ballettmeister betreut, findet sich in den Tätigkeitsberichten des Kulturhauses. Auf meine Frage nach der Abgrenzung der Tätigkeit des Kulturhauses von der Tätigkeit des Pionierhauses sagte Agafonov in demselben Interview: „Die grundlegende Ausrichtung unserer Tätigkeit [bezieht sich] auf die Kinder, dagegen beschäftigt sich das Kulturhaus mit denen, die älter sind (DK zanimaetsja temi, kto vyros)“ (Interview mit Sergej Agafonov, 3. Mai 2006). Bemerkenswert an dieser Aussage ist, dass sie in einem gewissen Widerspruch steht zu der Beobachtung, dass die Kinder de facto die eifrigsten Besuchenden des Kulturhauses darstellen und die Jugendlichen an der Grenze zur Volljährigkeit ihr Interesse am Kulturhaus häufig verlieren. Tatsächlich besteht der Unterschied zwischen Kulturhaus und Pionierhaus m.E. darin, dass die musikalischen Aktivitäten allesamt in die Domäne des Kulturhauses fallen.

F INANZEN , S TATISTIKEN UND T ÄTIGKEITSBERICHTE Die Organisation einer Festveranstaltung kostet Geld. Diese Kosten deckt das Kulturhaus von Kolyvan' teils aus laufenden Mitteln, teils aus speziellen Zuwendungen der Abteilung für Kultur und teils aus den Mitteln der Institutionen, die die Festivität in Auftrag geben. Ich war erstaunt zu erfahren, wie niedrig die Kosten für größere Veranstaltungen angesetzt werden. So wurden für das Showprogramm anlässlich

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des Tags des Einberufenen (s. Kapitel 4) der Verwaltung (zu Händen der Leiterin der Abteilung für soziale Fragen) ganze 1150 Rubel in Rechnung gestellt (das entsprach zum damaligen Zeitpunkt 33,30 Euro). Der Kostenvoranschlag, der mir übermittelt wurde, umfasste lediglich Ausgaben für Farbe, Lack, Holzfaserplatten und andere Materialien. Weder für Kostüme noch für die Geschenke, die den Rekruten zum Abschluss der Show auf der Bühne überreicht wurden, sind auf dem Kostenvoranschlag irgendwelche Ausgaben vermerkt. Es ist anzunehmen, dass die Geschenke von der Verwaltung oder dem Kreiswehrersatzamt gesponsort wurden. Nicht nur die Personalmittel der Kulturhäuser bewegen sich auf einem niedrigen Niveau, sondern auch die Ausgaben. Mit Bezug auf dieses Kulturhaus, aber auch viele andere Kulturhäuser, wurde mir berichtet, dass Eltern sich an den Kosten bzw. der Herstellung der Kostüme für ihre Kinder selbst beteiligen. Im Grunde ist dies ein informeller Mitgliedsbeitrag, den die Eltern für ihre Kinder zahlen. Viele Dinge, die das Kulturhaus Geld kosten könnten, werden auf der Basis nachbarschaftlicher Hilfe bewerkstelligt. Eine Lehrerin näht den Kulturarbeiterinnen gegen ein geringes Entgelt originelle Kostüme aus preiswerten Materialien. Die älteren Jugendlichen vom Pionierhaus können sich handwerklich betätigen, wenn irgendwelche Bühnenoder Modellbauarbeiten zu erledigen sind. Um über die zweckmäßige Verwendung der Mittel, die sie meistenteils von der Verwaltung der Kommune oder des Landkreises erhalten, Rechenschaft abzulegen, müssen die Kultureinrichtungen neben den Plänen auch Tätigkeitsberichte und statistische Daten einreichen. Diese Dokumente liefern zusätzliche Aufschlüsse über die organisatorischen Prinzipien der Kulturarbeit und der damit betrauten Institutionen. Die statistischen Daten werden anhand von Formularen erfasst, die in ihrer Grundstruktur schon seit mindestens 1975 verwendet wurden, sich aber während der letzten Jahrzehnte hinsichtlich der abzufragenden Parameter beträchtlich verändert haben. Abgefragt werden in der heutigen Zeit die materiell-technische Basis (Zustand der Gebäude, Anzahl der Säle und Sitzplätze, Musikinstrumente und technische Geräte), die Anzahl der Kollektive (Formationen, formirovanija) nach Tätigkeitssparten sowie die Zahl der daran teilnehmenden Personen, die Anzahl der vom Kulturhaus organisierten Veranstaltungen sowie die ungefähre Besucherzahl, die Anzahl der Angestellten, ihre Ausbildung und bisherige Dauer der Tätigkeit an der jeweiligen Kultureinrichtung. Ein Vergleich der Formulare von 1975 und 2005 ergibt, dass damals die Zahl und vor allem das Format bzw. der Zweck der kulturellen Massenveranstaltungen (kul'turno-massovye meroprijatija) stärker im Vordergrund standen, als dies heute der Fall ist. Nachgeordnet waren die Angaben über Zirkel, Kollektive und Vereinigungen (kružki, kollektivy i ob''edinienija). Deren Aufschlüsselung nach Sparten zeigt (im Vergleich 1975 zu 2005), dass die politische, agitatorische und wissenschaftlich-aufklärerische Sparte heute keine Erwähnung mehr findet: geblieben sind lediglich die künstlerischen Sparten und die Residualkategorie der „anderen“ (pro-

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čie). Wesentlich größer und differenzierter als 1975 nimmt sich dagegen heute der Abschnitt „Finanzen“ aus. Wurde 1975 lediglich nach Einnahmen und Ausgaben „laut Budget“ und „Spezialmitteln“ gefragt, so besteht nunmehr schon allein auf der Seite der Einnahmen eine Differenzierung nach Mitteln des Trägers, anderen Mitteln der öffentlichen Hand und Mitteln aus unternehmerischer Tätigkeit (Eintrittsgelder, Serviceleistungen, Vermietung von Räumen usw.). Auf der Seite der Ausgaben umfasst die Aufschlüsselung die Personalkosten, Gebäudereparatur- und Renovierungskosten, die Ausgaben für die Anschaffung von Geräten und für „sozialrelevante Maßnahmen“ (social'no-značimye meroprijatija). Letztere Kategorie impliziert, dass die örtlichen Sozialämter manche Veranstaltungen mitfinanzieren. Aus dem Vergleich 1975 zu 2005 ergibt sich also, dass das agitatorisch-aufklärerische Element in der Arbeit der Kulturhäuser in den letzten dreißig Jahren zurückgegangen ist – eine Tendenz, die im Kontext der historischen Entwicklung der Kulturarbeit steht, vgl. Kapitel 7 – und dass sich die Finanzierung der Kulturhäuser diversifiziert hat, was ganz im Sinne der gegenwärtigen staatlichen Kulturpolitik ist (s.u.). Auf einen bestimmten Aspekt, nämlich die Anzahl der Kollektive, werde ich wegen seiner finanziellen Tragweite in einem gesonderten Abschnitt genauer eingehen. Die statistischen Angaben müssen jährlich (jeweils im Januar) zusammengestellt werden. Noch mehr Aufwand erfordern die schriftlichen Berichte (tekstovye otčety), die nicht stichpunktmäßig, sondern brav ausformuliert alle zwei Monate angefertigt werden sollen. Dadurch hat sich ein spezifisches literarisch-bürokratisches Genre herausgebildet. Sicherlich bereitet es kein allzu großes Vergnügen, solche Berichte zu fertigen. Die Autorinnen benutzen standardisierte Grundformulierungen (beispielsweise die Phrase: „Am soundsovielten fand auf der Bühne des Kulturhauses […] statt“). Die Berichte des Kreiskulturhauses von Kolyvan' sind elaborierter und emotionaler als die des Dorfkulturhauses von Ponomarevka, was sich damit erklären lässt, dass in Kolyvan' mehr Veranstaltungen stattfinden und geübtere Berichterstatterinnen am Werk sind. Durch die Lektüre erhalten wir einige Hinweise auf das, worauf es den Absendern und den Empfängern dieser Berichte ankommt und welche Kriterien – von den in den Statistiken erfassten quantitativen Kriterien abgesehen – in der Kulturarbeit wichtig sind. Wie in wohl jeder Art von Rechenschaftsberichten werden außergewöhnliche Begebenheiten meist nur dann hervorgehoben, wenn sie positiver Natur sind (Pannen werden dagegen fast nie erwähnt). Bestimmte Formen der Selbstkritik sind jedoch zulässig, wodurch kontrolliert Angriffsflächen geschaffen werden können. So lesen wir im Bericht des Kulturhauses von Kolyvan' für Januar/Februar 2006, dass dessen Leitung sehr wohl auf die Filmwünsche des Publikums eingehe, allein das Publikum wolle sich trotzdem nicht bequemen, Filme zu schauen. Vor allem der pädagogische Erfolg der Veranstaltungen wird besonders betont: Kinder lernen während der Spiele, Wettbewerbe und Konzerte im Kulturhaus sozusagen „neben-

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bei“ die Grundregeln moralischen Verhaltens und die Notwendigkeit einer patriotischen Gesinnung. Im Jahreslauf manifestieren sich wichtige Daten und Etappen der Arbeit der Kulturhäuser, zu denen festliche Veranstaltungen routinemäßig organisiert werden: Neujahr, Weihnachten, Tag der Verteidiger des Vaterlandes, Frauentag, Tag des Humors (1. April), Ostern, 1. Mai und 9. Mai usw. Regionale und lokale Ereignisse wie zum Beispiel das jährliche tatarische Volksfest Sabantuj können in dieses Grundgerüst ergänzend eingebaut werden. Wenngleich viele Veranstaltungen jährlich wiederkehrenden Charakter besitzen, wird die Einzigartigkeit der jeweiligen mise en scène durch das Motto, das jedes Jahr neu formuliert wird, unterstrichen. Der regulären Arbeit der Kollektive wird in diesem Bericht nur in einem Satz Beachtung geschenkt. Was im Bericht zählt, sind die Events, zu denen sie auftreten.

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Obwohl in den schriftlichen Berichten die Events im Vordergrund stehen, so ist dennoch die Anzahl der Kollektive, Zirkel, Ensembles, Hobbygruppen usw., die im offiziellen Sprachgebrauch mit dem Begriff „Formationen“ (formirovanija) oder „Vereinigungen“ (ob"edinenija) zusammengefasst werden, von entscheidender Bedeutung. Denn nach der Anzahl der Kollektive richten sich die Einstufung des Kulturhauses, sein Stellenplan und die Finanzierung, wie ich weiter unten ausführen werde. In den statistischen Angaben des Kulturhauses von Kolyvan' vom Januar 2005 werden 21 Formationen genannt, davon 16 als Formationen, die sich an Kinder im Alter bis zu 14 Jahren richten. Eine Liste mit den Namen der am Kulturhaus von Kolyvan' bestehenden Formationen wurde mir von der Direktorin zur Verfügung gestellt, so dass ich die Möglichkeit hatte, die wichtigsten Charakteristika der einzelnen Formationen in einem ausführlichen Gespräch mit einer sehr geduldigen Kulturarbeiterin der Reihe nach abzufragen.15 Die Daten dieser Charakterisierung finden sich in Anhang 6. Generell lässt sich konstatieren, dass in fast allen Kollektiven der Anteil der Mädchen/Frauen überwiegt (die beiden Schach-Clubs bilden die Ausnahme: in ihnen sind die Teilnehmer mehrheitlich Männer). Aus den Nachfragen ergab sich auch die Erkenntnis, dass das Werden und Vergehen eines Kollektivs nicht selten mit dem Hinzukommen bzw. Weggang der leitenden Person verbunden ist. Als beispielsweise eine Praktikantin, die sich vor allem mit Theater für Jugendliche befasste, fortging und ein neuer Kollege eingestellt wurde, sah sich dieser nicht in der Lage, die damals auseinanderdriftende Theatergruppe weiterzuführen, stattdessen bemühte er sich um die Etablierung eines neuen Kollektivs, das sich auf die „Ausbildung“ von Clowns konzentrieren sollte. Die alte Theatergruppe 15 Interview mit Ol'ga Jur'evna Bykova, Jg. 1966, 5. Mai 2006 (Anhang 6).

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war in der Liste vom Januar 2005 nicht mehr, die Clown-Gruppe noch nicht aufgeführt. Manche Angestellte schaffen es, mittels ihrer eigenen Begeisterung die Teilnehmenden zu Höchstleistungen anzuspornen; andere dagegen haben Schwierigkeiten, ihre Gruppe zu motivieren, und denken darüber nach, aus Kolyvan' wegzugehen. Während meine Interviewpartnerin und ich die Liste durchgingen, stellte sich heraus, dass eine kleine Zahl von Kollektiven zwar gelistet ist, aber in Wirklichkeit nicht mehr zusammenkommt, sei es aufgrund des nachlassenden Interesses der Teilnehmenden oder aufgrund personeller Veränderungen. Konkret betraf dies einen Club junger Tontechniker und ein Diskussionsforum für Frauen mittleren Alters. Wenn die Interessentinnen und Interessenten nach den Sommerferien ausbleiben, so lässt sich das Kollektiv für einige Zeit auf dem Papier aufrechterhalten: damit verbindet sich die Hoffnung, dass sich doch wieder einige Interessierte melden werden. Speziell zum Beginn des neuen Schuljahrs werden Schülerinnen und Schüler von den Lehrerinnen ermutigt, sich in Zirkeln und Kollektiven zu betätigen. In den Berichten des Kulturhauses von Kolyvan' zeigt sich also eine gewisse Tendenz, die Zahl der Kollektive möglichst hoch anzusetzen, auch wenn das eine oder andere Kollektiv nur auf dem Papier – sozusagen als ein Potenzial – existiert. Das Kulturhaus von Kolyvan' steht hinsichtlich der Statistiken allerdings vergleichsweise „ungeschönt“ da, wenn wir die Kulturhäuser in anderen Orten betrachten (Halemba 2011; Sántha/Safonova 2011).16 Um die übertrieben großen Zahlen der Kollektive in den Rechenschaftsberichten der Kulturhäuser erklären zu können, müssen wir uns nochmals ihren Organisationsprinzipien zuwenden, speziell den Einstufungs- und Evaluierungsregeln. Die Kultureinrichtungen sind in vier verschiedene Kategorien eingeteilt: die erste, zweite und dritte Kategorie sowie auf der untersten Stufe – „ohne Kategorie“ (vne kategorii) – die kleinsten Einrichtungen, in der Regel sind dies Dorfklubs. Kategorie, Stellenplan (štatnoe raspisanie) und die Anzahl der Formationen (količestvo formirovanij) stehen in wechselseitigem Verhältnis. Eine Kultureinrichtung mit einer vollen Stelle sollte zumindest über drei Kollektive verfügen – wenn diese Zahl unterschritten wird, wird die volle Stelle möglicherweise in eine halbe umgewandelt werden. Das Salär der Direktorin errechnet sich aus der Kategorie des Kulturhauses, das sie leitet, aus ihrer beruflichen Qualifikation und den Auszeichnungen, die sie im Laufe ihrer Karriere erhalten hat. Die Vergütung einer Leiterin eines Kollektivs (rukovoditel' formirovanija) hängt vom Erfolg des Kollektivs ab. Erhält das Kollektiv den Status eines „Volkskollektivs“ (narodnyj kollektiv) oder eines „vorbildlichen Kollektivs“ (obrazcovyj kollektiv), so geht dies mit einer besseren Bezah-

16 Dass das Schönen der Statistiken auch zu Sowjetzeiten eine gängige Praxis war, ergibt sich aus den Beobachtungen von White (1990: 39, 44, 71-136).

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lung der leitenden Person einher. Die Verleihung dieser Prädikate macht mittelfristig auch die Aufstockung des Stellenplans des Kulturhauses wahrscheinlicher.

D AS G ESETZ ZUR KOMMUNALEN S ELBSTVERWALTUNG : N EUE P RINZIPIEN DER F INANZIERUNG IM K ULTURBETRIEB Die Abteilung für Kultur prüft die jährlichen statistischen Berichte der einzelnen Kulturhäuser und führt in größeren, aber regelmäßigen Abständen Evaluierungen (attestacii) durch; sie vergibt dann in Abhängigkeit von den Resultaten der Evaluierung und den zur Verfügung stehenden Finanzmitteln zusätzlichen Lohn, zusätzliche Planstellen oder eine höhere Kategorie. Es kommt aber auch vor, dass die Mittel gekürzt werden. Im Landkreis Kolyvan' (und offenbar in der gesamten Region Novosibirsk) wurde zum 1. April 2006 eine leistungsorientierte Bezahlung eingeführt: „Wir wollen es jetzt wie folgt machen, schon seit dem 1. April: [alle] erhalten ihr Gehalt. 75 Prozent des Gehalts erhalten sie wie gehabt. Aber 25 Prozent geben wir ihnen unter der Voraussetzung, dass sich dort etwas rührt, etwas unternommen wird, dass sie [die örtlichen Kulturarbeiterinnen an den regionalen Wettbewerben und Konzerten] überall teilnehmen. […] Das nennt sich übertariflicher Fond (nadtarifnyj fond). Es läuft also wie eine Prämie. Eine Prämie für gute Arbeit.“ (Natal'ja Družinina, 26. April 2006)

Durch den schrittweisen Übergang von den vertikalen Kontrollmechanismen im öffentlichen Kulturbetrieb hin zum „koordinierten“ Modell und einer neuen „Vielfalt“ von Finanzierungsquellen verliert die Abteilung für Kultur an Macht, doch haben wir gesehen, dass sie bei der Gestaltung der Stellenpläne, in Einstellungsfragen und auch beim Salär nach wie vor einen gewissen Einfluss hat. Das Prinzip der vertikalen Kontrolle und Finanzierung ist für beide Beteiligten – für die Leitungen der Kulturhäuser und die zuständigen Stellen in der Verwaltung nach wie vor die gewohntere und offenbar vorteilhaftere Variante, von der mit einem gewissen Widerwillen Abschied genommen wird: die Angestellten der Kulturhäuser müssen jetzt mehr Arbeit investieren, um Gelder einzuwerben (s.u.). Das Berichtswesen hat zwar viel Zeit in Anspruch genommen, wurde aber von den Angestellten hingenommen in dem Wissen, dass die Finanzierung des Kulturhauses – auf bescheidenem Niveau – vorhersagbar und gesichert ist. Der Umstand, dass das Berichtswesen unter den neuen Bedingungen weiter praktiziert wird, deutet darauf hin, dass das vertikale System der Kontrolle und Ressourcenverteilung in der Arbeitspraxis der Kulturhäuser nach wie vor von Bedeutung ist. Anne White schrieb mit Bezug auf die 1980er Jahre, dass die leitenden Personen der Kulturhäuser nicht gerne vom Kultusministe-

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rium zu hören bekommen, dass sie die Dinge „selbst entscheiden“ sollen, was die Entscheidungen über Finanzen angeht (White 1990: 115). Als Replik darauf konstatiert mein Kollege Brian Donahoe (2011: 128), dass dies auch für das von ihm untersuchte Fallbeispiel gilt: „Shagonar's House of Culture workers likewise did not want to be told to ‚decide for themselves,‘ especially when it came to coming up with funding.“ Die vom Staat initiierte Devolution des Kulturbetriebs betrachten viele Kulturarbeiterinnen mit großer Skepsis. Von dieser soll nun die Rede sein. Durch die Übertragung der Finanzierung der Kultureinrichtungen auf die Landkreise und Gemeinden haben sich die administrativen und finanziellen Grundlagen des Kulturbetriebs seit 2003 entscheidend verändert. Auslöser war das damals verabschiedete Gesetz zur kommunalen Selbstverwaltung, welches in den Büros des Kulturhauses und der Kreisverwaltung einfach als „Gesetz № 131“ bezeichnet wird und Anlass zu vielen erregten Diskussionen bot.17 Es sieht vor, dass künftig über „Fragen von lokaler Bedeutung“ (voprosy mestnogo značenija) auf lokaler (also kommunaler oder Kreis-) Ebene entschieden werden soll, womit eine Abkehr von der strikt zentralisierten Verwaltung, wie sie sich aus der sowjetischen Tradition ergeben hat, bezweckt wird. Zu den „Fragen von lokaler Bedeutung“ zählt auch „die Schaffung der Bedingungen für die Organisierung der Freizeit und die Versorgung der Bevölkerung des Ortes mit den Diensten der Kultureinrichtungen“.18 Offenbar bietet sich nun endlich die Gelegenheit, die Kulturarbeit „von unten“ und mit Blick auf die Anforderungen der Einwohnerschaft zu organisieren: „After eighty years of Soviet vertical power structures and state-controlled institutions, and especially the heavy-handed regulation of cultural institutions (White 1990), the state has finally decided to relinquish control over certain spheres and have the local-level administrations take more responsibility and control.“ (Donahoe 2011: 127)

Im Herbst 2003 wurde das Gesetz vom Parlament verabschiedet und dann im Laufe der nächsten Jahre in den verschiedenen Verwaltungsgebieten umgesetzt. Durch das vergleichende Forschungsprojekt haben meine Kolleginnen und Kollegen und ich feststellen können, dass die Auslegung und konkrete Umsetzung der neuen Bestimmungen zur Selbstverwaltung in durchaus unterschiedlicher Weise verlief (spe17 Gesetz „Über die allgemeinen Prinzipien der Organisierung der örtlichen Selbstverwaltung in der Russischen Föderation“ (Federal'nyj zakon № 131-F3 „Ob obščich principach organizacii mestnogo samoupravlenija v Rossijskoj Federacii“). Der Wortlaut des Gesetzes findet sich auf http://www.consultant.ru/popular/selfgovernment/ (Abruf 12. März 2014). Ich danke Brian Donahoe für die Hinweise zum Gesetzestext und zu den dazu erschienenen Kommentaren von Gel'man et al. (2008). 18 Im Original: „sozdanie uslovij dlja organizacii dosuga i obespečenija žitelej poselenija uslugami organizacij kul'tury“ (Federal'nyj zakon № 131 §14 Absatz 12).

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ziell dazu siehe Donahoe 2011; Halemba 2011). Das Gebiet Novosibirsk gehörte zu denjenigen Regionen, in denen relativ früh mit der Umsetzung begonnen wurde. Darüber berichtet die Leiterin der Abteilung für Kultur: „Als das Gesetz vor einem Jahr in Kraft trat, wussten wir überhaupt nicht, wie wir [künftig] arbeiten werden. Das Gebiet Novosibirsk war eines der ersten, wo es angewandt wurde. Wir waren so etwas wie – die anderen haben auf uns alle geschaut, wie wir mit diesem Gesetz zurechtkommen werden (kak my budem bit'sja v ėtom zakone). Und wir wussten selbst nicht, wie. Das Kulturamt galt nicht länger als juristische Person. Nur ich und Svetlana, sonst niemand mehr […]. Ein Jahr haben wir [nun auf dieser Basis] gearbeitet, und es ist besser geworden. Und zwar in welcher Hinsicht? Sehen Sie, welchen Vorteil ich [jetzt] habe: wir setzen uns beim Landrat zusammen, er hat alle Bürgermeister bei sich versammelt, den Leiter der Abteilung für Erziehung, mich und den fürs Gesundheitswesen. Er sagt: ‚man hat uns anderthalb Millionen für Renovierung im Sozialbereich (na remont social'noj sfery) gegeben. Was werden wir renovieren?‘ Alle Schulen müssten renoviert werden. Die Krankenhäuser und Klubs müssten renoviert werden. Ich stehe auf und sage: ‚Werte Kollegen, wenn wir heute nicht den Dorfklub von S[…] und den von K[…] renovieren, so können wir nächstes Jahr die Frage streichen, denn dann werden sie nicht mehr sein‘ […] Die Bürgermeister haben das unterstützt, und all dieses Geld, fast alles, wurde dann für die Renovierung eingesetzt in S[…] und in K[…]. In diesem Jahr werden sie der Kultur nichts geben (v ėtom godu kul'ture uže ne dajut), sondern sie geben es vor allem der Erziehung, um irgendwelche Schulgebäude zu reparieren.“

Der Effekt ist nach den Worten der Leiterin der Abteilung für Kultur also eine schlankere Verwaltung, in denen die Verantwortlichen flexibler über die Mittel entscheiden können. Nicht alle sind so zufrieden mit den neuen Regelungen wie sie. Manche befürchten, dass sich der Konkurrenzdruck bei der Vergabe der (weiterhin knappen) Mittel nur noch erhöhen wird. Wenn kein Geld da ist, dann kann auch Selbstverwaltung nicht funktionieren (vgl. Kulmala 2010). Das Gesetz № 131 verspricht Selbstverwaltung, aber viele vermuten, dass es den Politikern in den oberen Verwaltungsebenen einfach die Möglichkeit verschaffen soll, die Verantwortung über bestimmte Bereiche abzustreifen und nach unten zu delegieren. Was in Kolyvan' und in anderen Orten am meisten die Gemüter erregte, war das Hin und Her in Fragen der Zuständigkeit. Wie ist die Formel „von lokaler Bedeutung“ im konkreten Fall zu verstehen? Soll das Kreiskulturhaus unter die Kuratel des Landkreises oder der Kommune Kolyvan' gestellt werden? Mit dem Übergang zum System der kommunalen und regionalen Ausschreibungen ist in den letzten Jahren für die Kulturhäuser erstmals ein gewisser Anreiz und Druck entstanden, preiswerte, gut geplante und „pfiffige“ Veranstaltungskon-

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zepte vorzulegen.19 Vladimir Miller, der Leiter des Departements für Kultur bei der Verwaltung des Gebietes von Novosibirsk, erläuterte mir in einem Interview (am 12. Mai 2006), dass im Zuge des Gesetzes № 131 kulturelle Dienstleistungen nunmehr als eine Art Ware zu betrachten sind, die die Kultureinrichtungen gleichsam auf dem Markt anbieten können. Die Kommunen definieren nun ihren kulturellen „Bedarf“ (zum Beispiel bestimmte Feiern oder öffentliche Veranstaltungen) und unterbreiten diese durch Ausschreibungen. Im Russischen werden dafür die Begriffe „Bestellung“ (zakaz) oder „Zuwendung“ (grant) verwendet. Kultureinrichtungen sollen sich aus der institutionellen Obhut der Kulturämter lösen und zu selbständigen juristischen Einheiten werden, die ihre Leistungen konkret formulieren und gezielt anbieten. Einzelne Kulturhäuser können sich als juristische Einheiten anmelden oder aber sich mit anderen Kultureinrichtungen zu solchen Einheiten zusammenschließen. Des weiteren ist eine Diversifizierung der Finanzierung vorgesehen: − Kultureinrichtungen sollten sich erfolgreich an Ausschreibungen beteiligen und grant-Gelder einwerben, − sie sollten versuchen, ortsansässige Unternehmen, Organisationen und Individuen als Sponsoren zu gewinnen, − sie sollten kommerzielle Dienste wie Internetzugang, Diskotheken, technische und künstlerische Service-Leistungen bei Hochzeiten und anderen privaten oder Firmenfeiern anbieten, − sie sollten wie schon bisher üblich einen Teil der Kosten der im Kulturhaus organisierten Veranstaltungen durch Eintrittsgelder wieder hereinholen, − und schließlich sollten die Kultureinrichtungen ihre laufenden Kosten für Gehälter, Heizung, Wasser, Elektrizität, Buchbestände usw. mittels der Zahlungen decken, die sie regelmäßig von den Gebietskörperschaften erhalten. Diese Zahlungen der Gebietskörperschaften bezeichnete Miller als objazalovka (sinngemäß: „Pflichtbetrag“), weil sie vom grant-System selbstverständlich nicht abgedeckt werden können. So weit die Ideen über die künftige Gestaltung des Kulturbetriebs. Davon abgesehen, dass der „Markt“ der kulturellen Serviceleistungen bisher sehr verzerrt ist und in den Kleinstädten von Monopolisten (wie es das Kreiskulturhaus von Kolyvan' nun einmal ist) beherrscht wird, ergibt sich aus den neuen Bestimmungen noch eine andere Schwierigkeit: Bisher ist nicht hinreichend definiert, welche Gebietskörperschaft den regelmäßigen Betrag zur Deckung der laufenden Kosten zahlen soll – die Kommune oder der Landkreis? Laut Gesetz № 131 kommt sowohl die Kommune 19 Die folgenden zwei Absätze (die Äußerungen von Miller) einschließlich der Auflistung sind eine Übersetzung der von mir formulierten entsprechenden Textstelle in Habeck/ Donahoe/Gruber (2011: 153-154).

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als auch der Landkreis als möglicher Geldgeber in Betracht. Zum Zeitpunkt der Einführung und anfänglichen Umsetzung des Gesetzes war die Auslegung dergestalt, dass die Kommunen für die Kosten aufkommen sollen, denn sie profitieren ja unmittelbar von den Leistungen der Kulturhäuser bzw. Bibliotheken. In zahlreichen Fällen ist darüber ein politischer Streit entbrannt (Halemba 2011 beschreibt solch einen Konflikt). Was die Kommune Kolyvan' und den Landkreis angeht, so wurden die laufenden Kosten des Kulturhauses 2004 der Kommune in Rechnung gestellt, aber 2005 bereits wieder von der Verwaltung des Landkreises (konkret der Abteilung für Kultur) beglichen (über die Gründe für dieses Hin und Her hielten meine Gewährsleute sehr verschiedene Spekulationen bereit). Wenn eine Kommune wie die Kleinstadt Kolyvan' schon kaum die Mittel aufbringen kann, um ein Kulturhaus zu unterhalten, so dürfte dies einer Kommune wie Ponomarevka sicherlich noch schwerer fallen (selbst wenn der Stellenplan von geringem Umfang ist). Daher lässt sich prognostizieren, dass in vielen Regionen die kleinen Kulturhäuser „auf dem Dorf“ künftig noch stärker in ihren Finanzen eingeschränkt sein werden, wobei ihre Erfolgschancen noch stärker abhängen werden von den Sympathien bzw. Antipathien, die die Kulturarbeiterinnen mit den Kommunalpolitikerinnen und -politikern verbinden. Zwar steht es auch den kleinen Kulturhäusern anheim, sich an regionalen Ausschreibungen zu beteiligen, jedoch sind die Angestellten dort in der Regel geringer qualifiziert und auch schlechter vernetzt als die in den größeren Institutionen. Um die Situation zusammenzufassen: die Kulturhäuser sehen sich mit einer Verwaltungsreform konfrontiert, die ihre finanzielle Situation flexibler und gleichzeitig unberechenbarer macht, und sie befinden sich in einer noch relativ ungewohnten „Marktsituation“ kultureller Serviceleistungen, die die bestehenden Disparitäten vermutlich noch verstärken dürfte. Investitionen dürften pointierter auf einzelne Projekte und Prioritäten ausgerichtet werden, ähnlich wie es in den größeren Städten schon in einem stärkeren Maße der Fall ist. Als Ergebnis erwarte ich daher einen Rückzug des Kulturbetriebs aus der Fläche, also die Schließung vieler Dorfklubs und kleiner Kulturhäuser (besonders in den peripheren Gebieten), und damit letztendlich den Vollzug der Abkehr vom Anspruch, Kultur „in die Massen zu tragen“ und „für alle“ da zu sein. War eines der Ergebnisse des vorangegangenen Kapitels die Erkenntnis, dass das Kulturhaus eine bestimmte Klientel „bedient“, zu der einkommensschwache Personen und bestimmte Altersgruppen (Kinder und Rentner) zählen, so ergibt sich aus diesem Kapitel der Befund, dass auch diese Funktion des Kulturhauses als Institution der „Wohlfahrtspflege“ nicht länger als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann.

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Im Unterschied zu den Kulturhäusern in der Großstadt sind die musikpädagogischen Angebote des Kulturhauses von Kolyvan' für die teilnehmenden Personen weiterhin kostenlos (wobei von den Eltern erwartet wird, dass sie sich an den Kosten für die Kostüme ihrer Kinder beteiligen). Die Gebietskörperschaft zahlt die Gehälter für die Kulturarbeiterinnen. Da die Gehälter selbst im Falle der Beschäftigung von ein- und derselben Person auf zwei oder drei Planstellen gleichzeitig gering bemessen sind, stocken die Angestellten ihr Salär mit privaten Einnahmen auf. Die Kulturarbeiterinnen von Kolyvan' bieten musikpädagogischen Unterricht auf individueller Basis an, und für dieses intensive Training verlangen sie von den Eltern hundert oder mehr Rubel pro Stunde. Sie kombinieren also die staatlich gewährte kostenlose musikpädagogische „Grundversorgung“ mit kostenpflichtigen Extrastunden. Eine weitere Verdienstmöglichkeit sind Auftritte auf Hochzeiten und anderen Privatveranstaltungen, gewöhnlich abends in einem der beiden Cafés der Stadt. Zu solchen Veranstaltungen werden zwei oder drei Artistinnen und oft auch der Techniker des Kulturhauses samt Anlage und Boxen verdingt. Solche Auftritte können beim Kulturhaus bestellt werden, so dass das Kulturhaus auch die finanziellen Transaktionen übernimmt und die beteiligten Personen auszahlt. Es lässt sich aber davon ausgehen, dass viele dieser Engagements direkt zwischen den Artistinnen und den Party-Veranstaltern ausgehandelt werden. Wie Artem (s. Kapitel 2), der häufig das Kulturhaus frequentierte und auch mit den internen Aspekten vertraut war, zu berichten wusste, sind die Preise dafür in Kolyvan' sehr viel geringer als in Novosibirsk: „Vor kurzem sind [zwei Kulturarbeiterinnen] irgendwo aufgetreten, es war [wohl keine Hochzeit, sondern] ein Jubiläum. Bei den Verwandten [der einen], die dann auch einen Tontechniker gefunden hat, und sie waren mit [der anderen Kollegin] zusammen [dort]. Haben dort verdient, na vielleicht jede von ihnen 1500 und der Tontechniker 3000 [Rubel]. Das heißt, das ist sehr billig, und natürlich – es waren halt irgendwelche Verwandten von ihr, daher haben sie schon nicht nach mehr gefragt. Wenig, trotzdem. Und sie haben dort fast sechseinhalb Stunden gearbeitet. […] [Oder] zum Beispiel, wenn sie zum Stadion geschickt werden, irgendwelche Sportveranstaltungen. Beim Kulturhaus, also dort die Verwaltung – ich weiß nicht, wie das bezahlt wird. Auch so 100 oder 150 Rubel. […] Außerdem kommen manchmal Leute zum [Tontechniker], sie brauchen Musik. Auf eine Cassette zum Beispiel. […] Sie bringen eine [leere] Kassette mit. Und geben dann irgendwas an Geld, ich weiß nicht, 50 Rubel wohl trotz allem. Damit der Mensch nicht einfach so gearbeitet hat, natürlich. Irgendwie und sei es nur ein bisschen. Keine großen Summen, 50 oder 100 Rubel, und trotzdem kommt es vor, dass die [Angestellten] alle ganz ohne Geld sitzen. Und dass es keine Zigaretten gibt.“ (Artem Idelevič, Jg. 1982, 1. Mai 2006)

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Die unterschiedlichen Arrangements können also Vereinbarungen zwischen Kulturhaus und Verwaltung, Kulturhaus und anderen kulturellen bzw. pädagogischen Einrichtungen, Kulturhaus und privaten Kunden, einzelnen Angestellten und privaten Kunden umfassen. Dabei verschwimmt oft die Grenze zwischen „öffentlichen“ und „privaten“ Aufträgen und Nutzungen, beispielsweise wenn die technischen Geräte des Kulturhauses zu privaten Feiern mitgenommen werden. Die öffentliche Institution Kulturhaus kann somit als Plattform für private Initiativen genutzt werden (die von den Ressourcen der öffentlichen Einrichtung profitieren können und nicht der Besteuerung unterliegen).

F AZIT : G RENZEN DER B ÜROKRATIE , G RENZEN DER U NTERSTÜTZUNG In diesem Kapitel habe ich die Instrumentarien und „Spielregeln“ beschrieben, die in der Organisierung des Kulturbetriebs zur Anwendung kommen, auf bestimmte Varianten in der Auslegung und auf informelle Spielräume hingewiesen und die staatlichen Bemühungen skizziert, die „Spielregeln“ an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Der Blick auf das Regelwerk und die Tätigkeitsberichte ermöglicht die Bestandsaufnahme der als „relevant“ erachteten Kriterien der Kulturarbeit (unter anderem der Wirkungsgrad, definiert als Zahl der Besuchenden bzw. Teilnehmenden) und die Strategien, die die Kulturarbeiterinnen zur Legitimierung ihrer Arbeit benutzen. Vermutlich betrachten die meisten Kulturarbeiterinnen den Papiertiger des Berichtswesens als notwendiges Übel, das ihnen die Grundlage verschafft, sich ihren „eigentlichen“ Aufgaben zu widmen: der Ausrichtung von mitreißenden Shows zu bestimmten Feiertagen, der Förderung junger musikalischer Talente und nicht zuletzt der Bereitstellung eines Ortes für ein soziales Miteinander (obščenie). Die Begeisterung über eine gelungene Show, einen neuen Nachwuchskünstler oder eine Feier mit alten Bekannten lässt sich nur unzureichend in Zahlen oder Texten ausdrücken. Pläne, Statistiken und Rechenschaftsberichte sollen für Klarheit und Transparenz sorgen. Wie in jedem bürokratischen Apparat geht es auch hier um den Versuch, durch die Konstruktion von Taxonomien eine weitgehende Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit zu schaffen (Douglas 1986; Handelman 1998; Herzfeld 1993). Dadurch, dass Kultureinrichtungen in eine für alle geltende Skala eingeordnet und denselben Evaluierungsprozeduren unterzogen werden, entsteht die Möglichkeit, sie zu Konkurrenten im Wettkampf um Finanzmittel und Prestige zu machen. Wie jede andere bürokratische Taxonomie, so ist auch die hier dargestellte gewolltermaßen „betriebsblind“ gegenüber einer Vielzahl von Spezifika jedes einzel-

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nen Kulturhauses. Die Taxonomie beruht auf klaren Konventionen und Grenzziehungen. Diese Grenzziehungen sind in bestimmten Situationen von Bedeutung, aber sind nicht dazu angetan, die Praxis der Kulturarbeit in ihrer alltäglichen Komplexität abzubilden. Jenseits der Welt der Berichte und Statistiken existieren die administrativen Doppeldeutigkeiten, die kleinen Routinen und Tricks des Alltagsgeschäfts, die kurzen Dienstwege, die heimlichen Koalitionen und Intrigen, die zahlreichen ungeschriebenen Gesetze und informellen Praktiken. Dieses Kapitel hat eine Vielzahl von Situationen aufgezeigt, in denen notgedrungen oder auch willkürlich „Grenzen verwischt“ werden: die Grenze zwischen „privaten“ und „öffentlichen“ Aktivitäten und Nutzungen; die institutionellen Grenzen zwischen den verschiedenen pädagogischen und Kultur- und Freizeiteinrichtungen; die Grenzen zwischen den Aktivitäten, die „angeboten“, also als Potenzial oder Versprechen gelistet werden, und denen, die de facto stattfinden. Hingegen ist vieles, was im Kulturhaus stattfindet, nicht im Programm gelistet, weil es nicht in den Bereich der offiziell definierten Funktionen fällt (Halemba 2011; Sántha/Safonova 2011, vgl. Kapitel 6). Derlei Ambivalenzen und widersprüchliche Normen in der Kulturarbeit führen regelmäßig zu großen und kleinen Spagatübungen, zu Notlösungen und gelegentlich auch zu Notlügen. Bestimmte Ambivalenzen in der Arbeit des Kulturhauses sind durchaus im Interesse derjenigen, die es als Ressource nutzen, also der Angestellten des Kulturhauses selbst, der Privatleute, die sich eine Tänzerin oder Band „mieten“ können, gelegentlich auch der örtlichen Politiker. Diese Ambivalenzen haben sich über viele Jahre oder auch Jahrzehnte eingespielt und bestimmte Arrangements produziert. In jeder Gemeinde arbeiten die pädagogischen und Kultureinrichtungen in unterschiedlichen Konstellationen zusammen, haben jeweils eigene Beziehungen zu den örtlichen Betrieben, zur örtlichen Verwaltung und zu den regionalen Behörden. Der Erfolg der Arbeit eines jeglichen Kulturhauses ist also nicht zuletzt von „Beziehungen“, von lokalen Netzwerken und Arrangements abhängig.20 Die staatlichen und regionalen Leitlinien im Bereich der Kulturpolitik sind nicht frei von Widersprüchen. Die Abkehr von den alten, dirigistischen Formen des Kulturmanagements verläuft recht zögerlich, und nicht alle Angestellten im Kulturbetrieb sind über die neuen Handlungsspielräume erfreut. Was die Finanzierung des 20 Im Kulturbetrieb ist diese Abhängigkeit vielleicht weniger sichtbar und weniger stark ausgeprägt als im Falle der landwirtschaftlichen Betriebe (Habeck 2005a), aber sie ist dennoch ein entscheidender Faktor. Man kann diese Beziehungsgeflechte – also die Arrangements – als kleinere, auch kurzlebigere Varianten von Figurationen im Eliasschen Sinne auffassen: bestimmte gesellschaftliche Gruppen sind in Interdependenzen verstrickt, und in ihrer Verstricktheit entwickeln sie bestimmte Formen der Kommunikation, der moralischen Rechtfertigung, der Hierarchisierung, des Stils im Umgang miteinander (zu Eliasʼ Idee der Figuration vgl. Kapitel 7, S. 203).

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Kulturbetriebs angeht, so herrscht jedenfalls eine klare Tendenz – weg von der flächendeckenden staatlichen finanziellen Unterstützung für alle Kultureinrichtungen, hin zu einem Wettbewerbssystem und zu Arrangements der Mischfinanzierung. Einerseits entsteht dadurch mehr Spielraum für innovative Ideen und für eine gezielte Förderung von herausragenden Projekten, andererseits eine größere Unsicherheit und ein Rückzug aus der Fläche. Meine Prognose lautet, dass dies die Kultureinrichtungen in den kleinen und mittelgroßen Dörfern besonders hart treffen wird, zumal dort wenig Kompetenz im fund-raising besteht. Die Kulturhäuser in den Großstädten, so haben wir in Abschnitt 2.4 gesehen, bestehen den Wettbewerb mit den kommerziellen Anbietern von Konzerten und Freizeitaktivitäten vor allem dadurch, dass sie sich auf bestimmte Nischen spezialisieren. So ergibt sich für die Kulturhäuser in den mittelgroßen Siedlungen (in ländlichen Zentren Kreisstädten wie Kolyvan') ein Standortvorteil: ein vergleichsweise großes Publikum unter Einschluss vieler Schülerinnen und Schüler und eine vergleichsweise geringe Präsenz von kommerziellen Freizeitanbietern, allein schon aufgrund der sehr mäßigen Durchschnittseinkommen in diesen Orten. Wichtiger noch als dieser allgemeine Standortfaktor sind freilich die Motivation und die Kompetenz des Kollektivs des Kulturhauses. In dieser Hinsicht hat Kolyvan' es gut getroffen. Doch auch in Kolyvan' ist die Fluktuation der Angestellten im Kulturbetrieb recht hoch: die geringen Löhne und der Wohnraummangel bewegen besonders die ambitionierten Kulturarbeiterinnen, sich nach Arbeitsmöglichkeiten an anderen Orten und in anderen Berufen umzusehen.

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Kapitel 4 Kultur und Ritual: Feier, Festakt und die Party danach

P ERFORMANZ , R ITUAL , S PEKTAKEL Performanz, Ritual, Spektakel, Event, Spiel – jeder einzelne dieser Begriffe eignet sich, ja drängt sich geradezu auf zur Charakterisierung der Dinge, die im Kulturhaus geschehen. Jeder einzelne dieser Begriffe ist breit in der sozialwissenschaftlichen Literatur diskutiert worden. Auffallend sind die scheinbar widersprüchlichen Bedeutungen, die den Performanzen, Ritualen und öffentlichen Ereignissen zugeschrieben werden: einerseits wird oft ihr transformativer (einen neuen Zustand herbeiführender) Charakter betont, andererseits wird ihnen eine repräsentative (die soziale Ordnung bestätigende) Funktion zugewiesen. Manchmal wird darüber hinaus bestimmten öffentlichen Ereignissen auch ein – zumindest potenziell – subversives oder „liminoides“ (vgl. Turner 1982: 52-55) Element zugesprochen. Der erste Hälfte des Kapitels hat das Ziel, diese scheinbare Widersprüchlichkeit zu thematisieren und anhand der Befunde über die von mir besuchten Veranstaltungen zu diskutieren. Sowohl das transformative als auch das repräsentative Element sind in jedem Fallbeispiel „am Werk“, aber jeweils unterschiedlich kombiniert. Auch gestalten sie sich für Initiatoren, Akteure und Publikum in unterschiedlicher Weise. Worin besteht die transformative Kraft des jeweiligen Ereignisses, worin besteht die legitimatorische Rolle? Wer übt sie aus, und wer ist Adressat? Was sind die Bedingungen ihres Gelingens, und in welchen Situationen versagt die Wirkung der Rituale? Von dem subversiven Charakter mancher öffentlicher Ereignisse wird gesondert die Rede sein. Zunächst folgt eine kurze Verortung und Verknüpfung der Begriffe Performanz, Ritual und Spektakel.

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Performanz, das Performative und Performativität sind in der Linguistik, den Sozialwissenschaften, der Psychologie, den Theater- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten mit vielen verschiedenen Absichten und in vielen verschiedenen Deutungen verwendet worden. Einen Überblick über die schillernde Begrifflichkeit gibt Marvin Carlson (2004). Es liegt auf der Hand, die Dinge, die im Kulturhaus vor sich gehen, mit dem Begriff der Performanz zu verknüpfen. Gerade weil ein wesentlicher Teil des Tätigkeitsspektrums der Kulturhäuser aus Darbietungen besteht, die als solche ausgewiesen sind, scheint es bestechend einfach, Performanz in einem recht engen, konventionellen Sinne zu definieren. Performanz ist Darbietung. Kulturhäuser sind zuständig für öffentliche Darbietungen. Sicherlich ist es möglich, alles, was im Kulturhaus geschieht – sowohl die betont kumpelhaften Umgangsformen der Tontechniker in ihrer Kammer als auch das Gezänk der Kinder im Umkleideraum – aus einer Perspektive der Performativität zu beschreiben, aber dabei würde eben das vernachlässigt, was doch eigentlich im Vordergrund stehen soll: die Show vor einem Publikum. Daher schließe ich mich Carlson (2004: 5) an, der Performanz als gerichtete Handlung versteht: „Performance is always performance for someone, some audience that recognizes and validates it as performance even when, as is occasionally the case, that audience is the self.“ Ferner (ebd.: 13) führt er aus, dass weitgehend Einigkeit besteht, dass Performanzen räumlich und/ oder zeitlich begrenzt, markiert, abgesondert sind von anderen Tätigkeiten. Beide Postulate sind für das Fallbeispiel Kulturhaus zutreffend. Ritual ist ein anderer zentraler Begriff dieses Kapitels. Wenn „Ritual“ in einem Satz mit „Performanz“ genannt wird, dann meist mit Bezug auf die grundlegenden Arbeiten von Victor Turner, der sich in seiner Charakterisierung des Rituals und dessen Phaseologie wiederum auf Arnold van Genneps Untersuchung der transformativen Bedeutung von Ritualen bezog (Turner 1989; vgl. Carlson 2004: 16-17; Fischer-Lichte 2004: 305ff.). Hierin zeigt sich bereits der Kern des eingangs erwähnten scheinbaren Widerspruchs zwischen Transformation und Bestätigung der bestehenden sozialen Ordnung: die These, dass das Ritual durch die Erfahrung eines liminalen (das heißt: zeitweiligen, besonders emotionsgeladenen) Zustandes zur Transformation des Individuums und zur Anerkennung seines (neuen) sozialen Status führt, behindert andere Deutungen. Émile Durkheim ([1981] 1994) und auch Turner selbst (1989: 136, 189-193) haben festgestellt, dass Rituale eine bestehende Ordnung zum Ausdruck bringen, sie vergegenwärtigen und bekräftigen. Durch den Affekt, den sie erzeugen, stärken Rituale die Solidarität der Personen, die sich der bestehenden Ordnung unterstellen und sich mit ihr identifizieren; gleichzeitig stärken sie die Möglichkeit der Abgrenzung gegenüber anderen.1 1

Diese solidarisierende Kraft wurde auch von den sowjetischen Theoretikern, die sich zur Funktion des Rituals äußerten, in weitgehender Übereinstimmung betont (vgl. Lane 1981: 18-23).

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Dass sowohl der festigende als auch der transformative und der potenziell subversive Aspekt im Begriff des Rituals vereint sind, hat Richard Quantz (1999) in überzeugender Weise dargelegt. Quantz definiert Ritual als formalisierte, symbolische Performanz. Ritual ist Performanz, denn – hier stimmen Quantz und Carlson (s.o.) überein – es ist eine Handlung, die an ein Publikum, an eine Audienz gerichtet ist: „recognizing ritual as a performance is important because it allows us to recognize that much public action is a ‚show‘“ (Quantz 1999: 507). Rituale sind symbolisch, da sie auf etwas verweisen, also eine Bedeutung tragen, die das Hier und Jetzt übersteigt. Rituale sind formalisiert, da sie seitens des Publikums an den Erwartungen einer idealen Form gemessen werden (ebd.: 509). Eben diese Erwartungshaltung, dieser Vergleich des Dargebotenen mit einem imaginären Muster oder Ablaufplan, gibt immer wieder Anlass zur Begutachtung und Bewertung, ob und wie sehr die Show denn eigentlich geglückt ist. Bei den Darbietungen im Kulturhaus ist eine gewisse künstlerische Freiheit erlaubt und sogar erwünscht, doch sind der Variation der Form recht enge Grenzen gesetzt. Provokationen auf der Bühne, gewagte Experimente und andere willkürliche, offensichtliche Abweichungen von der Form werden meiner Erfahrung nach weder von den Kulturarbeiterinnen in der russischen Provinz noch von den Besuchern sehr geschätzt. Es gibt eine klare Struktur in der Performanz von Kultur. Nur Profis, und bei weitem nicht alle von ihnen, sind willens und in der Lage, die Grenzen des Möglichen offen in Frage zu stellen. Aber von dem In-Frage-Stellen abgesehen gibt es ja auch noch andere performative Mittel. Eines dieser Mittel ist das over-acting (vgl. Schnepel 2001: 105), wie in nachfolgenden Abschnitten erläutert wird. Don Handelman „entlarvt“ das Wort Ritual als ein von vielen Ethnologen verwendetes, aber häufig nicht zutreffendes Synonym für „public events“ – den Hauptgegenstand seines Buches Models and Mirrors (1998). Er identifiziert drei Typen von öffentlichen Ereignissen, die sich hinsichtlich ihres „Meta-Designs“ unterscheiden: „events that model the lived-in world“, „events that present the lived-in world“ sowie „events that re-present the lived-in world“ (ebd.: 8, 23-62). Ersteren ist das Meta-Design der Transformation zueigen. Vermittels eines Ausnahmezustandes, in dem alle Gewissheiten ihre Geltung verlieren, führen diese Ereignisse zu einer Läuterung und Neubestimmung der Personen, die sich diesem Prozess unterziehen, und dadurch letztendlich auch zu einer teilweisen oder gänzlichen Rekonstitution der Gesellschaft. Somit haben sie Ähnlichkeit mit den von Turner und van Gennep beschriebenen Ritualen. Handelman argumentiert, dass nur diese Ereignisse tatsächlich als „Rituale“ bezeichnet werden sollten. Der zweiten Art von Ereignissen – den „events that present“ – liegt das Meta-Design des Spiegelns zugrunde. Sie spiegeln die herrschende Ordnung und vergegenwärtigen sie, ohne sie zu hinterfragen oder gar auf ihre Transformation abzuzielen. Diese Ereignisse bezeichnet

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Handelman als „Spektakel“ in bewusster Abgrenzung zum „Ritual“.2 Der dritte Typus schließlich enthält Ereignisse, die eine alternative Gesellschaftsordnung sichtbar und denkbar machen: „Events that re-present are like multiple or magic mirrors that play with forms of order“ (ebd.: 49), sie sind nicht Spiegel, sondern Zerrspiegel der herrschenden Ordnung. Sie arbeiten mit dem gestalterischen Mittel der Inversion, bestätigen aber letztendlich die Gültigkeit der konventionellen Taxonomien und unterwerfen sich unwillkürlich der Deutungsmacht. Dieser dritte Typus könnte in Abgrenzung zu „Ritual“ und „Spektakel“ als karnevalistisch bezeichnet werden, da das gestalterische Mittel der Vermummung oder Karikatur zum Einsatz kommt.3 Der besondere Wert von Handelmans Untersuchung liegt meines Erachtens darin, dass er das Event nicht einfach als Ausdruck einer bestimmten sozialen Ordnung interpretiert, sondern ergründet, wie der Aufbau eines Events das Potenzial bedingt, die Aufrechterhaltung oder den Wandel der sozialen Ordnung auszudrücken bzw. auszulösen. Ihm kommt es auf das Bauplan des Ereignisses an, auf die Logik seiner Form (vgl. hierzu auch Bailey 1996: 5). Problematisch aber erscheint Handelmans Versuch, jeden Typus einer gewissen Gesellschaftsformation zuzuordnen (wobei er sie eingestandenermaßen eher als Idealtypen denn als tatsächliche Kategorien betrachtet).4 Das „Ritual“, das dem transformativen Meta-Design entspricht, ist demnach für „traditionale“ bzw. „tribale“ Gesellschaften von zentraler Bedeutung (s.u.). Das „Spektakel“, so Handelman, ist die dominante Form in „modernen“, stark ausdifferenzierten und bürokratisierten Systemen. Diese Gesellschaftsordnungen gehen von der Möglichkeit einer kontrollierten Steuerung ihrer Teilbereiche aus; sie versuchen sich im social engineering unter möglichst kontrollierten Rahmenbedingungen. Zu den bürokratisierten Systemen zählt Handelman explizit auch das sowjetische; er beschreibt die Demonstrationen auf dem Roten Platz in Moskau zu Sowjet2

Hier sei nochmals Turners eigene Abgrenzung erwähnt: „Ritual is transformative, ceremony confirmatory“ (1967: 95).

3

Vgl. auch Turner 1982: 40-41. – Bachtin (z.B. 1985: 119-148, 1963: 142-176) hat in seinen Schriften die Bedeutung des karnevalistischen Weltempfindens für die europäische Literatur und Alltagsgeschichte herausgearbeitet und dabei bemerkt, dass es auch „in der Komik der Schaubudenvorstellungen“ seinen Widerhall hat (Bakhtin 1985: 146). Hier ergibt sich ein Bezug zum Variété als einer für die Programmgestaltung des Kulturhauses wesentlichen Gattung (s.u.).

4

Handelman argumentiert folgendermaßen: „the three types […] can cohere in different combinations and formations“ (1998: 60). „I have tried to treat the types of events as heuristic devices […] they are good to think with, but not to believe in. […] Any given people will have public occasions that approximate all types of events discussed here […] Nonetheless, albeit hypothetically, I would suggest that the relative centrality of these types will vary with different kinds of social order.“ (Ebd.: 77; ähnlich S. xiii).

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zeiten als öffentliche Ereignisse, die aus einer Menge von Individuen eine minuziös dressierte Formation Mensch macht (Handelman 1998: 43-44; vgl. Herzfeld 2001: 269-271). „Spectacles are the other face of bureaucracy, paralyzed by a stroke of the pen (or today, by computer command), hiding their frozen countenance behind colored spectacles that reflect spectacular fictions of coordination, discipline, control, quantification, and measurement.“ (Handelman 1998: xxxiv) Geprägt sind diese Spektakel von einer der bürokratischen Logik entspringenden, stark auf das Visuelle und das Taxonomische ausgerichteten Ästhetik (ebd.: xlviii-xlix). „[S]pectacles are the holidays of bureaucratic ethos, celebrating this while appearing to do something very different, usually in the shapes of colorful, dramatic, and exciting displays – in other words, entertainments that are thrilling to spectators and that often include contests of various kinds.“ (ebd.: xxxvi-xxxvii) Spektakel zeichnen sich dadurch aus, dass sie jeglichen Eindruck interner Widersprüche negieren; sie liefern eine holistische Vision von Gruppen, seien es Nationen oder eine andere soziale Einheiten (ebd.: xlv). In seiner Kritik an Handelman führt Michael Herzfeld (2001: 275-276) aus, dass Handelman mit seiner Typologie in mehrerer Hinsicht zu weit geht: Die Trennung der „traditionalen“ von den „modernen“ Gesellschaften sei sehr fragwürdig; sie gehe einher mit Handelmans Vorstellung, dass die zunehmende Bürokratisierung, Entzauberung und Entritualisierung der Welt unausweichlich sei. Auch lasse Handelman die subversiven Unterströmungen zu sehr außer Acht. Denn jeder Typus des öffentlichen Ereignisses könne potenziell unterlaufen werden, so dass der Ausgang letztendlich nicht völlig vorhersagbar ist: „Even the most scripted spectacles contain within themselves the possibility of reverting to Handelman’s ideal-typical ritual, with its transformative capacities awaiting activation by a skilled operator.“ (Ebd.: 272) Herzfeld impliziert, dass Handelmans Darstellung der Dinge nur der offiziösen Seite der Spektakel gerecht wird, die lokalen Umdeutungen, Konterkarierungen und Belustigungen am Rande – neben und hinter der Bühne – jedoch nicht berücksichtigt (vgl. auch Yurchak 2006). Ein weiterer Einwand gegen die Typisierung von „Ritualen“ soll hier angesprochen werden: Er ist genereller Natur. Caroline Humphrey und James Laidlaw (1994) veranschaulichen anhand ihrer Beobachtungen zum Puja-Ritual bei den Jains in der indischen Stadt Jaipur ihre Position, dass eine Einteilung von Ritualen in bestimmte Typen generell wenig Sinn mache. Statt dessen legen sie ihr Augenmerk auf die Ritualisierung von Handlungen. Grundsätzlich kann jegliche Handlung diesem Prozess unterworfen sein: „ritual is a distinctive way in which an action, probably any action, may be performed. Thus a ‚theory of ritual‘ is an account of the transformation of an action by ritualization.“ (Humphrey/Laidlaw 1994: 3, s. auch 71) Ritualisierte Handlungen haben eine besondere Eigenschaft, nämlich eine besondere Form von Intentionalität. „Ritualized action is non-intentional, in the sense that while people performing ritual acts do have intentions (thus the actions

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are not unintentional), the identity of a ritualized act does not depend, as is the case with normal action, on the agent’s intention in acting“ (Humphrey/Laidlaw 1994: 89). Weitere grundlegende Kennzeichen einer ritualisierten Handlung sind ihr aus der Perspektive der Ausführenden „externer“ und „archetypischer“ Ursprung, eine Sequenzierung und Benennung der Teile der Gesamthandlung (ebd.: 88-110; vgl. Oppitz 1999). Die Person, die ein Ritual vollzieht, geht davon aus, dass die „Anleitung“ historisch vorgegeben ist und einen unklaren Ursprung hat, daher die Verwendung des Begriffes „archetypisch“ (Humphrey/Laidlaw 1994: 158). Diese Charakterisierung ist für viele der im Kulturhaus inszenierten Ereignisse sehr wohl zutreffend, und die Darstellenden scheinen nicht selten merkwürdig „befremdet“ von dem Skript, das sie ausführen, wenngleich sie mit der Aufführung selbst durchaus eine Intention verbinden. Die Arten und Weisen, wie die Darbietenden ihre Darbietung verstehen und für sich annehmen, sind sehr unterschiedlich, wie Humphrey und Laidlaw (1994: 213) herausstellen: sie reichen von unkonzentriertem „Mitmachen“ bis hin zur tiefen emotionalen Identifikation mit dem symbolischen Gehalt der Handlung. Die Typisierung von Ritualen, die Humphrey und Laidlaw verwerfen, scheint jedoch sozusagen durch die Hintertür wieder Eingang in ihre Betrachtungen zu finden. Sie differenzieren mehrfach zwischen „liturgy-centred“ und „performancecentred“ Ritualen.5 Letztere – hierzu zählen laut Humphrey und Laidlaw Initiationsriten und schamanische Séancen – zeichnen sich dadurch aus, dass sie weniger stark ritualisiert sind: „When we say that they are less ritualized, we have in mind that the question most insistently asked of them, ‚Has it worked?‘ is different from, and in these contexts eclipses, the question asked of liturgical ritual, ‚Have we got it right?‘“ (Humphrey/Laidlaw 1994: 11). Können wir dies (ja, sollten wir dies) nicht in Beziehung setzen zu den unterschiedlichen Typen von öffentlichen Ereignissen, die Handelman typisiert? Die Parallelen zwischen „performance-centred rituals“ und den von Handelman beschriebenen „events that model“ einerseits sowie zwischen „liturgy-centred rituals“ und den von Handelman beschriebenen Spektakeln ist augenfällig. Sicherlich stehen die Veranstaltungen, die im Kulturhaus abgehalten werden, den liturgisch geprägten Ritualen hinsichtlich ihres Bauplans und ihres Duktus viel näher als den performance-geprägten. Das manifestiert sich auch in dem wesentlichen Kriterium des Gelingens der Veranstaltung: „Haben wir es richtig gemacht?“ Mit diesen Ausführungen ist nun ein theoretischer Rahmen gesetzt für die Analyse der Veranstaltungen, die im Kulturhaus zur Aufführung kommen. Zunächst 5

Humphrey/Laidlaw (1994: 8-13, 126, vgl. auch 80, 175). Die Verwendung des Terminus „Liturgie“ weist vermeintlich auf religiöse Rituale; allerdings betonen Humphrey und Laidlaw, dass Rituale nicht notwendigerweise einen religiösen Bezug haben, Religion jedoch einen komplexen Bezug zu Ritualen habe (ebd.: 13).

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werden zwei Beispiele einander gegenübergestellt. Der 9. Mai, der Tag des Sieges, gehört zweifelsohne in den Bereich dessen, was Handelman als Spektakel charakterisiert (ihren Kontrapunkt erfährt die sorgfältig durchinszenierte Gedenkveranstaltung in dem abendlichen Volksfest). Die zweite Veranstaltung, die ich beschreiben werde – ein vom Kreiswehrersatzamt bestellter Festakt anlässlich der Verabschiedung von jungen Männern aus der Kleinstadt, die zum Wehrdienst eingezogen werden – ließ ebenfalls ein genau inszeniertes Spektakel von militärischer Macht und Vaterlandsliebe erwarten. Tatsächlich jedoch hat ein „skilled operator“ die Regie und Moderation des Festaktes dergestalt angelegt, dass Pathos und Karikatur, Spektakel und Karneval, Bestätigung und Subversion zusammenfielen.

D ER 9. M AI : T AG

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Den Ablauf und die Bedeutung einer öffentlichen Zeremonie werde ich hier am Beispiel der Feierlichkeiten anlässlich des 9. Mai 2006 in Kolyvan' illustrieren. Hinsichtlich der Komplexität und Formalität seiner Ausgestaltung ist der 9. Mai das bedeutendste Spektakel im Jahreszyklus der vom Kulturhaus begangenen Feiertage, was sich auch in der besonders großen Besucherzahl manifestiert.6 Beschreibung der Veranstaltung Zur Gedenkveranstaltung vormittags gegen elf Uhr kamen knapp 1000 Zuschauer. (Später wurde mir von einem Beobachter gesagt, es seien „nur“ knapp 1000 Personen anwesend gewesen – zum 60. Jahrestag waren es bedeutend mehr.) Neben den Kulturarbeiterinnen und den Technikern des Kulturhauses waren zwei oder drei Dutzend Veteranen sowie etwa 50 Jugendliche aus Kolyvan' in die Zeremonie involviert. Die Techniker kümmerten sich von einer Art Ü-Wagen aus um Musikeinspielungen und alles andere Akustische. Als Bühne diente das Ehrenmal für die Opfer des sogenannten Großen Vaterländischen Krieges (1941-1945), der am 9. Mai 1945 mit der Kapitulation des Deutschen Reiches gegenüber der Sowjetunion endete. Das Ehrenmal befindet sich an einer zentralen Kreuzung des Ortes etwa 100 Meter vom Kulturhaus entfernt. Neben einem Obelisk und einer Skulptur eines in den Armen eines Kameraden sterbenden Soldaten umfasst das Ehrenmal unter anderem eine Feuerstelle und eine Fläche für mehrere Sitzreihen, auf denen die Veteranen Platz nehmen können. 6

Judith Beyer (2009) illustriert und interpretiert den Ablauf und die Bedeutung der Feierlichkeiten am 9. Mai 2006 in Čatbazar, einer Kleinstadt in Kyrgyzstan, d.h. am selben Tag, an dem ich in Kolyvan' die Feier verfolgte. Siehe auch Donahoe (2011: 129); Halemba (2011: 104-106).

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Rückwärtig wird das Ehrenmal von zahlreichen steinernen Tafeln mit den Namen der Gefallenen eingefasst; nach vorne, zum asphaltierten Platz hin, ist es von halbhohen Mauern gesäumt. Durch das Programm führte an diesem Tag die Kulturarbeiterin Gulmira Kupreeva, die zu diesem Anlass einen schwarzen Mantel und einen langen weißen Schal trug. Sie hatte bereits ihre Position auf dem Ehrenmal eingenommen, als der Zug der Würdenträger und Veteranen sich in etwa 50 Meter Abstand formierte. Neben den Veteranen nahmen auch die truženiki tyla, d. h. die im Hinterland tätigen Personen, an dem Zug teil – dieser umfasste also nahezu alle noch lebenden Männer und Frauen, die zu Zeiten des Krieges volljährig oder fast volljährig waren. An der Spitze des Zuges befanden sich der Landrat, die Vorsitzende der Verordnetenversammlung des Landkreises, der Bürgermeister der Gemeinde Kolyvan' und der Kommissar des Kreiswehrersatzamtes. Hinter ihnen stellten sich weitere Würdenträger und die Veteranen auf, zu beiden Seiten flankiert von je zwei jungen Fahnenträgern mit roten Fahnen und roten Halstüchern. Den Schluss des Zuges bildeten örtliche Mitglieder der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation.7 Während die Programmleiterin zum Klang von Marschmusik die Namen der Veteranen verlas, schritt der Zug langsam auf das Ehrenmal zu. Etwa 32 weibliche Teenager bildeten nun am Aufgang zum Ehrenmal ein Spalier für den sich nähernden Zug. Die jungen Damen waren nahezu einheitlich gekleidet und trugen violette, gelbe und blaue Fahnen. Die Würdenträger nahmen ihre Positionen zur Linken der Programmleiterin ein, die Veteranen setzten sich (nach einem Moment des Innehaltens) zu ihrer Rechten auf Stühle, die in zwei Reihen aufgestellt worden waren. Abbildung 6: Die Gedenkveranstaltung zum Tag des Sieges in Kolyvan': Ansicht des rechten Teils der Tribüne. Foto: JOH, 9. Mai 2006

Nachdem die Programmleiterin die Namen aller Veteranen verlesen hatte, erscholl ein anderer Marsch aus den Lautsprechern, in diesem Moment stürmte eine Menge

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Wieso den Mitgliedern dieser Partei eine so prominente Stellung in dieser Feier zuteil wurde, wird weiter unten im Haupttext erläutert.

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Kinder mit bunten Luftballons auf das Ehrenmal, gratulierten den Veteranen, überreichten ihnen kleine Geschenke und verließen danach das Ehrenmal über den hinteren Abgang, um sich dann am Rand der Freifläche in vorderster Reihe aufzustellen. Die Fahnenträgerinnen dagegen lösten ihr Spalier auf, begaben sich auf das Ehrenmal und stellten sich hinter den Veteranen auf (Abb. 6). Neben dem Obelisk, zu beiden Seiten der Programmleiterin, hatten mittlerweile zwei Soldaten Wache bezogen. Die Würdenträger hielten sich auf dem linken Teil des Ehrenmals in Bereitschaft. Abbildung 7: Die Gedenkveranstaltung zum Tag des Sieges in Kolyvan': Rede des Leiters des Kreiswehrersatzamts. Foto: JOH, 9. Mai 2006

Als nächstes begannen 16 Kinder einen Tanz, währenddessen gruppierte sich eine weitere Schar Kinder mit langen Tüchern allmählich in Form eines fünfzackigen Baldachins. Sie hielten die weißen, hellblauen und rosafarbenen Tücher in die Höhe, so dass die Kinder den Abschluss ihres Tanzes im schützenden Schatten des Baldachins vollführen konnten. Wenngleich bereits 10 Minuten vergangen waren, so war erst jetzt der Moment, zu dem die Programmleiterin die Gedenkveranstaltung für eröffnet erklärte („miting […] ob"javljaetsja otkrytym“). Unmittelbar darauf wurde zum ersten Mal die russische Nationalhymne abgespielt, wobei die Veteranen sich von ihren Sitzen erhoben (alle anderen Beteiligten standen ohnehin). Nun ergoss sich eine etwa halbstündige Abfolge von Ansprachen der einzelnen Würdenträger auf das Publikum, unterbrochen von den jeweils einleitenden Worten der Programmleiterin. Sie übergab das Wort an den Landrat, den Leiter des Kreiswehrersatzamtes (Abb. 7), an die Vorsitzende der Verordnetenversammlung des Landkreises, an einen Vertreter der Veteranen und an einen Vertreter der im Hinterland tätigen Personen. Vor allem letzterer sprach sehr lange, und im Publikum verbreitete sich merkliche Unruhe. Die weiteren Sprecher fassten sich daher sehr viel kürzer: der Bürgermeister, der Vorsitzende des örtlichen Komitees der Veteranen und Wehrdienstleistenden, ein Mann mittleren Alters, der im Namen der in Afghanistan oder im Kaukasus kämpfenden Soldaten (voiny-internacionalisty) sprach, und schließlich eine junge Frau, die das Jugendparlament vertrat.

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Charakteristisch für diese Veranstaltung war der kontrastive Wechsel zwischen der überaus pathosgeladenen Stimme der Programmleiterin, den rhetorisch weniger geübten und teils langwierigen Redebeiträgen einiger örtlicher Würdenträger und den Musik- und Wortsequenzen vom Band, die per Lautsprecher eingespielt wurden. Die Wortsequenzen – sie wurden von einer optimistisch gefärbten, anonymen männlichen Stimme vorgetragen – kommentierten die Bedeutung des historischen Ereignisses aus heutiger gesamtstaatlicher bzw. gesamtgesellschaftlicher Perspektive, die Live-Redebeiträge der Würdenträger dagegen betonten das Engagement der Bürger der Stadt Kolyvan', die Erinnerung an das Ereignis wachzuhalten und die Toten und Überlebenden des Krieges in Ehren zu halten. Fortgesetzt wurde das Spektakel mit einer symbolischen Wachablösung an der Gedenkstätte und dem (Wieder-)Entfachen der Flamme. 16 junge Männer trugen das „Tuch der Erinnerung“ (Platok pamiati) auf die Freifläche zwischen Ehrenmal und Zuschauerschar und präsentierten das Tuch – teils stehend, teils kniend – der Menge, die in diesem Moment auf Anweisung der Programmleiterin der Opfer des Krieges durch eine Minute des Schweigens gedachte (Abb. 8). Das Wiedereinsetzen der Musik und drei Schüsse signalisierten das Ende der Schweigeminute. Die jungen Männer falteten das Tuch zusammen und übergaben es der Direktorin des örtlichen Museums, die es zum Rand des Gevierts trug. Nach einigen kurzen, sehr traurigen und poetischen Worten der Programmleiterin wechselte die Musik wiederum in einen schnellen Takt und fröhlichen Modus, die Fahnenträgerinnen bewegten sich vom Ehrenmal herab (Abb. 9), marschierten in mehreren Formationen über die Freifläche und gingen dann wieder in Spalierstellung. Nun wurde das Ende der Veranstaltung verkündet („miting […] ob"javljaetsja zakrytym“) und die Nationalhymne ein zweites Mal abgespielt. Über die Lautsprecher verkündete die anonyme männliche Stimme, dass nun ein Salut erfolgen sollte, woraufhin die Wachsoldaten erneut Gewehrschüsse abfeuerten und alle Kinder, die einen Luftballon in Händen hielten, diesen nun losließen, so dass etwa 100 Ballons himmelwärts flogen. Abbildung 8: Die Gedenkveranstaltung zum Tag des Sieges in Kolyvan': Zum Andenken an die Opfer des Krieges wird das Tuch der Erinnerung entfaltet und der Menge präsentiert. Foto: JOH, 9. Mai 2006

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Abbildung 9: Die Gedenkveranstaltung zum Tag des Sieges in Kolyvan': der Umzug der Fahnenträgerinnen. Foto: JOH, 9. Mai 2006.

Nun erhielten die Zuschauerinnen und Zuschauer die Möglichkeit, das Ehrenmal zu betreten und Blumen niederzulegen. Das Spalier der Fahnenträgerinnen blieb in Stellung und löste sich erst auf, nachdem der letzte Veteran das Ehrenmal verlassen hatte. Beschwingte Musik aus den Lautsprechern des Ü-Wagens signalisierte der Menge, dass nach dem etwa anderthalbstündigen Innehalten nun ein gewisser Frohsinn legitim war. Bevor die Programmleiterin ihr Mikrofon aus den Händen legte, verkündete sie noch die weiteren Programmpunkte des Tages. Auf den Straßen um das Ehrenmal, das Kulturhaus und die Kreisverwaltung herum wurde um 12 Uhr mittags ein Staffellauf (estafeta) veranstaltet.8 Im Kulturhaus selbst fand etwa zur selben Zeit ein weiterer traditioneller Punkt im Programm des Gedenktages statt: die Darbietung des Chors der Veteranen (allerdings war sie weniger gut besucht als das Rennen, unter anderem wohl aufgrund des schönen Wetters). Nach dem Konzert gingen viele Zuschauer auf die Straße, wo an verschiedenen Ständen Schaschlyk und Bier verkauft wurden. Auf Initiative des Leiters des Veteranenchors – er ist zugleich begeisterter Schachspieler – wurde im Kulturhaus ein Schach- und Dameturnier ausgerichtet, an dem sich ein gutes Dutzend Personen überwiegend männlichen Geschlechts beteiligte. Die Kulturhausangestellten erhielten erst am späteren Nachmittag eine Gelegenheit zum Ausspannen, die jüngeren von ihnen saßen wie üblich in Büro Nummer 9, unterhielten sich, luden per Handy einige Freunde und Bekannte dazu, gute Laune machte sich breit, die eine oder andere Flasche Bier wurde geleert. Gegen 20 Uhr bauten die Techniker eine Musikanlage mit leistungsfähigen Lautsprechern auf der Eingangstreppe des Kulturhauses auf, um die musikalische

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Ich selber war mir zu diesem Zeitpunkt der Bedeutung dieses Staffellaufes nicht bewusst, kann aber im Nachhinein die Interpretation von Lane (1981: 37) aufgreifen, wonach Staffelläufe als Ausdruck des Miteinanders der Generationen betrachtet werden können. Das gemeinsame Entzünden des Ehrenfeuers, das ich beobachtet habe, hat explizit eine ganz ähnliche Bedeutung (s.u., S. 114).

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Untermalung für das Volksfest (narodnoe guljanie) zu liefern. Diese Straßendisco mit Estrada-Musik9 war mindestens so gut besucht wie die Gedenkveranstaltung am Vormittag. Als Moderator der Disco und einiger humoristischer Programmeinlagen fungierte Aleksandr Motrenko, ein junger Kulturarbeiter. Der Abend war trocken und nicht zu windig, und eine ausgelassene Menge tanzte, trank und unterhielt sich bis 23 Uhr (Abb. 10). Zu den letzten Klängen der Musik bestaunten alle Anwesenden das von der Kreisverwaltung finanzierte Feuerwerk. Die Menge begann, sich zu zerstreuen. Abbildung 10: Tag des Sieges in Kolyvan': Der Tag endet mit einer Disco auf dem Platz vor dem Kulturhaus (vgl. Abb. 5). Foto: JOH, 9. Mai 2006

Interpretation und Blick auf die zentralen Details Die Gedenkveranstaltung zum Tag des Sieges ist ein zentrales, stark formalisiertes Event, das ganz klar räumlich und zeitlich markiert ist, bestimmte Bevölkerungsgruppen in unterschiedlicher Weise einbindet und das gemeinschaftliche „Erinnern“ in den Vordergrund stellt. Das Ereignis bietet zahlreiche Reminiszenzen an die Sowjetzeit: nicht nur die Anwesenheit der Vertreter der Kommunistischen Partei mit ihren roten Fahnen, sondern vor allem die alten Sowjetmärsche beschwören die heroischen alten Zeiten herauf. Die Anwesenheit der KP auf der Tribüne des Ehrenmals ist meiner Meinung nach nicht Teil des Protokolls, sondern ein Zugeständnis an das Engagement der Vertreter bei der Vorbereitung und Mobilisierung zu diesem kommunalen Ereignis. Christel Lane (1981) bemerkte, die Gedenkveranstaltungen zum Tag des Sieges seien im Vergleich mit anderen Spektakeln der Sowjetzeit – speziell im Vergleich

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Estrada steht in direkter Bedeutung für Freilichtbühne, Konzertmuschel usw.; im übertragenen Sinne bezeichnet das Wort, je nach Interpretation, russische Populärmusik, leichte Unterhaltungsmusik oder auch die Gesamtheit der diversen Formen der Kleinkunst (MacFadyen 2002; vgl. auch Stites 1992: 183).

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mit dem 1. Mai (Tag der Arbeit) und dem 9. November (Tag der Oktoberrevolution) – von geringerem Maßstab und eher lokaler Bedeutung: „The formal side of the holiday, the public rituals, are more decentralized and occur on a much more modest scale than do the other two and, in comparison, appear almost restrained. The informal activity, the visiting of the graves of the fallen by individual Soviet families, is strongly developed, and spontaneous expressions of deep feelings about the war are frequently encountered. […] The comparative modesty of the ritual of Victory Day and its much shorter historical existence mean that little descriptive material can be found in the literature […]“ (Lane 1981: 143-144).

Mein Eindruck ist, dass der Zeitraum von etwa dreißig Jahren zwischen Lanes und meinen eigenen Beobachtungen eine historische Distanz markiert und eine Historisierung bewirkt, die sich unter anderem auf der emotionalen Ebene bemerkbar macht. Auf die Bewohner von Kolyvan', so kann ich feststellen, wirken die Feierlichkeiten am 9. Mai formaler, komplexer und pathetischer als die anderen im öffentlichen Raum inszenierten Ereignisse. Das öffentliche Gedenken an die Opfer des Krieges operiert – zumindest heutzutage – ohne den spontanen Ausdruck von Trauer. Die persönlich gehaltenen Ausführungen der beiden Redner, die damals wirklich dabei waren, wirkten vergleichsweise langwierig und verursachten im Publikum vernehmbares Desinteresse. So weit eine erste generelle Einordnung der Veranstaltung. Nun sollen die wesentlichen Sequenzen der Handlung, die Bestandteile des Szenarios, herausgestellt und interpretiert werden. Diese sind: − − − − − − − − −

der Zug der Veteranen und Würdenträger zur Tribüne des Ehrenmals; die offizielle Eröffnung mit Abspielen der Nationalhymne; die Reden der verschiedenen Würdenträger und Veteranenvertreter; das Entzünden des Ehrenfeuers; die Wachablösung; die Präsentation der „Reliquie“ und eine Schweigeminute; der offizielle Schluss mit erneutem Abspielen der Nationalhymne; der Salut und der Auszug der Veteranen; die Möglichkeit, Blumen abzulegen, und der Übergang zum fröhlichen Teil des Tages.

Die zentralen Momente – ich möchte sie hier im ethnographischen Präsens beschreiben – sind das Entzünden des Feuers, die Wachablösung, die Präsentation des Tuches der Erinnerung und die Schweigeminute. Diese finden unmittelbar nach-

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einander, teilweise sogar simultan, statt.10 Nach den teils recht langen Reden ist eine Steigerung der Dramatik zu spüren, das Pathos erreicht seinen Höhepunkt. Am Entzünden des Ehrenfeuers sind „Vertreter von drei Generationen“ beteiligt: die Generation der Veteranen; die ihrer Kinder, die heute selbst schon lange erwachsen sind; und deren Kinder (Schülerinnen und Schüler, Studierende, Berufseinsteiger). Vereint sind sie im gemeinsamen Gedenken – das Gedenken beschränkt sich nicht auf die älteren Generationen. Die Wachablösung ist ein militärisches Element in diesem ansonsten zivilen Spektakel (und nur zu diesem Ereignis wird das Ehrenmal militärisch „bewacht“). Die Programmleiterin steht unbeweglich da, während unmittelbar um sie herum die Soldaten an- und abmarschieren. Unmittelbar darauf spricht sie die allen Anwesenden wohlbekannte Formel „Niemand wird vergessen – nichts wird vergessen“ („nikto ne zabyt, ničto ne zabyto“), die in zahlreiche Ehrenmale für die Opfer des Krieges eingemeißelt ist. Zugleich breiten die 16 jungen Männer das Tuch der Erinnerung aus und gehen in Position, um es den Zuschauenden zu präsentieren. Inmitten dieser dichten Folge der Geschehnisse auf der Bühne kündigt die Programmleiterin den Moment des Innehaltens an: alle Fahnen werden gesenkt, die Handlung steht still, die Musik verstummt, anstelle dessen ist nur eine Art Puls – das Ticken einer Uhr, das Schlagen eines Herzens – aus den Lautsprechern zu vernehmen. Alle Anwesenden haben für einen kurzen Moment die Gelegenheit, in sich zu gehen, sich ihren Gedanken und Emotionen hinzugeben, sich möglicherweise der Bedeutung des kollektiven Ereignisses für ihre eigene Existenz gewahr zu werden. Liminale Momente und communitas werden kurzzeitig erzeugt durch das gemeinsame Schweigen im Gedenken an die Opfer des Krieges. In diesem momentanen Ausnahmezustand sind alle vereint. Alles davor und danach ist anders: gefüllt mit Handlungen und Hierarchien, geprägt von Bewegung, Musik und/oder Redefluss. Mit dem Tuch der Erinnerung wurde nach Aussage der Programmleiterin eine Reliquie des Landkreises ins Leben gerufen („načinaet žit' relikvija našego rajona“). Auch nach dem Ableben der letzten Person, die die damaligen Ereignisse miterlebt hat, soll die Erinnerung an den Krieg bewahrt werden, und dies kann nur gelingen, wenn sie in einen Gegenstand übertragen wird. Erinnerung nimmt materielle Gestalt an. Das Wort Reliquie wird meist in sakralem Kontext benutzt; seine Verwendung zu dieser Gelegenheit verleiht der staatlichen Zeremonie der Trauer und des Gedenkens einen religiösen Aspekt. Betrachten wir nun die Feierlichkeiten zum Jahrestag des Sieges hinsichtlich ihres Potenzials, die bestehende soziale Ordnung zu bestätigen und/oder eine Ver10 Vgl. Oppitz (1999: 73). Der zentrale Moment der Gedenkveranstaltung kombiniert Elemente, die mehreren Ebenen entstammen: der materiellen, sprachlichen, akustischen und kinetischen Ebene.

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wandlung – eine Transformation – der Anwesenden zu bewirken. Eindeutig ist der Appell an das kollektive Ganze, an das, was die Gemeinschaft zusammengeschmiedet und Solidarität erzeugt hat. Darüber hinaus ist es ein Appell, sich bewusst zu machen, dass das Leben in Würde und Freiheit einen hohen Blutzoll gefordert hat. Unüberhörbar ist auch die Botschaft, dass die Bürger von Kolyvan' sich an diesem Opfer beteiligt und teils ihr Leben dabei gelassen haben. Bürgersinn verbindet sich mit Patriotismus. Die Jungen danken den Alten; die Kinder überreichen Gaben an die Veteranen, deren persönliche Verdienste und Entbehrungen dadurch ausdrücklich und ausdrucksvoll anerkannt werden. Die Veteranen sind nahezu unbeweglich, sie sind ein passiver Teil der Performanz, gleichzeitig sind sie in gewisser Weise auch die Adressaten. Sie stellen sich nicht dar, sondern werden „ausgestellt“. Seht her, so lautet die Botschaft an die Zuschauer, wir haben solche tapferen Menschen unter uns, und sie verdienen unseren Respekt. Seht her, so lautet die Botschaft an die Veteranen, wir anderen haben Euch nicht vergessen und bringen unseren Respekt zum Ausdruck (vgl. Beyer 2009). Der soziale Status der Veteranen wird nicht verändert, sondern bestätigt. Auch das Gedenken an die Toten hat einen solchen Duktus: „Wir haben Euch nicht vergessen“. Wenn das Ereignis tatsächlich irgend jemanden prägt und verändert, so sind es vermutlich am ehesten die Kinder und Jugendlichen: nämlich dadurch, dass sie zum ersten Mal diesem Gedenken beiwohnen oder zum ersten Mal eine aktive Rolle in der Zeremonie zugewiesen bekommen. Sie werden emotional konfrontiert mit den traurigsten Stunden in der Geschichte ihrer Familie und ihres Volkes; sie „bewähren“ sich als Repräsentanten ihrer Gemeinde und erklären somit ihre Bereitschaft, die Praxis der Erinnerung weiterzuführen. Dies lässt sich als eine Initiation betrachten, aber von einer wirklichen Transformation kann wohl nicht die Rede sein. Eine Gedenkfeier dieser Art bietet im Übrigen ein sehr geringes Potenzial der kreativen Selbstexpression. Die involvierten Kinder und Jugendlichen werden nicht anhand ihres Talents beurteilt; alles, was zählt, ist ihre Bereitschaft mitzuwirken. Nur die Redebeiträge der einzelnen Sprecher bieten sich an für eine Beurteilung darüber, ob der Sprechakt „gelungen“ ist und das Publikum angerührt hat. Lane (1981: 23) hat versucht, die Bedeutung des Liminalen in sowjetischen Zeremonien zu verorten: „When we analyse it with the help of Van Gennep’s […] or V. Turner’s […] ideas about the tripartition of all ritual into the stages of separation, transition or limen and incorporation, it becomes obvious that incorporation is stressed above all and that the potentially dangerous liminal stage is minimized [in Soviet ritual]“. Ein Minimum an Liminalität, an möglicher Veränderung. Tatsächlich lässt sich mit Don Handelman sagen, dass die Feierlichkeiten zum (postsowjetischen) 9. Mai in Kolyvan' als Spektakel, nicht als Ritual interpretiert werden sollten: eine so stark bürokratisierte Gesellschaftsordnung wie die der Sowjetunion (und des heutigen Russlands) war bzw. ist weitgehend bar ritueller und damit auch liminaler Aspekte – in der offiziellen Sphäre zumindest. Solidarität kommt bei die-

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sen Anlässen durchaus zum Ausdruck, aber communitas beschränkt sich auf wenige Augenblicke. Jedenfalls ergibt sich dieser Eindruck bei der Betrachtung der Gedenkveranstaltung am Vormittag. Wenn wir aber das Volksfest (sprich: Tanzveranstaltung) und das Feuerwerk am Abend in die Betrachtung einbeziehen, so gelangen wir zu einer doch etwas anderen Einschätzung. Der Tag, der mit so viel Pathos und formalisiertem Ernst begonnen hat, nimmt eine Wendung zum Unbeschwerten, Überschwänglichen. Vereint ist die Menge nicht nur in den Sekunden des schweigenden Gedenkens an die Opfer des Krieges, sondern auch im Tanzgewusel in der Dunkelheit. Unverhoffte Flirts und mancherlei gemeinsame Rauschzustände lassen neue Horizonte und Möglichkeiten in greifbare Nähe rücken. Für die einen führt der Flirt zu umwälzenden Erlebnissen und vielleicht zu neuen Realitäten; für die anderen ist die Euphorie nur ein zeitweiliger Zustand, der mit dem Kater am Tag darauf sein Ende findet: alles wie gehabt, bis zum nächsten Mal.

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Im Unterschied zum oben dargestellten Tag des Sieges handelt es sich beim „Tag des Einberufenen“ nicht um einen offiziellen Feiertag, sondern um eine Zeremonie von lokaler Bedeutung, wenngleich der Anlass – die Einberufung – auf gesamtstaatlicher Ebene festgelegt und überall im Lande in Gestalt offizieller ebenso wie familiärer Feiern durchgeführt wird (vgl. Kormina 2005). Die anderthalbstündige Show fand an einem Freitagnachmittag (28. April 2006) im Auditorium des Kulturhauses statt, also nicht auf offener Straße, wie es kurz darauf am 9. Mai der Fall war. Etwa 100 Zuschauer waren anwesend, das heißt, dass nur ein Viertel der Sitzplätze im Auditorium belegt war. Beschreibung der Veranstaltung Protagonisten der Rahmenhandlung und zugleich die masters of ceremony waren die junge, engagierte Regisseurin Lena Stojlik in der Gestalt des Fähnrichs Šmatko (praporščik Šmatko) sowie der oben bereits erwähnte junge Kollege Aleksandr Motrenko in Gestalt eines namenlosen Rekruten (novobranec). Die Rahmenhandlung und Charaktere waren an eine bekannte Fernsehserie mit dem Titel „Soldaten“ (Soldaty) angelehnt. Beide hatten sichtlich Spaß an der Ausführung ihrer Rollen. Gekleidet waren sie in olivgrün, Šmatko trug eine Jacke mit stark wattierten Schultern sowie eine stark überdimensionierte Offiziersmütze (Abb. 11). Die gewagt ironischen, humorvollen Kurzdialoge dieser beiden dienten als „Aufhänger“, um so diverse Darbietungen wie professionellen Ausdruckstanz, Lieder von Laiensolistin-

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Abbildung 11: Der „Tag des Einberufenen“: die Protagonisten und JOH (links) in einem der Büroräume des Kulturhauses. Foto: JOH, 28. April 2006

nen, Tanzdarbietungen von jungen Schulkindern und akrobatische Einlagen zu einem programmatischen Ganzen zu verbinden. Die Mehrzahl der im Kulturhaus aktiven Kinder- und Jugendgruppen wirkte an der Show mit. Zur militärischen personnage gehörten neben Šmatko und dem Rekruten acht Krankenschwestern mit Cheerleader-Püscheln, sechs Jungen in Tarnkleidung und vier noch nicht volljährige junge Männer, ebenfalls in Uniform gekleidet. Die Krankenschwestern und „Soldaten“ traten während bestimmter Dialog-Szenen und einiger musikalischer Darbietungen in Erscheinung. Diese endete mit einem grande finale, zu dem die im Publikum befindlichen (und in Zivil gekleideten) Einberufe-

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nen auf die Bühne geholt und beschenkt wurden, woraufhin sich alle Beitragenden auf die Bühne gesellten und gemeinsam das Schlusslied sangen (Abb. 12).

Abbildung 12: Der „Tag des Einberufenen“: Zum Finale der Show sind die angehenden Rekruten (in Zivil gekleidet) auf die Bühne gerufen worden. Foto: JOH, 28. April 2006

Die Regisseurin Lena hatte gemeinsam mit Aleksandr das Szenario dieses Spektakels entworfen. In der Beschreibung des Ablaufs dieses Spektakels kann ich mich an eine Fotokopie der Kurzfassung des Szenarios halten, welche die 28 Programmpunkte auflistet. Diese sind in der folgenden Textbox kursiv dargestellt, meine Kommentare dazu sind in Klammern gesetzt. Die Langfassung enthielt neben den Programmpunkten auch die Dialoge der Rahmenhandlung, von denen ich den Beginn und das Ende weiter unten wiedergeben werde. 1. Prolog (eine grobe männliche Stimme aus dem Off, die die Einberufenen begrüßt, gleich darauf Einmarsch der vier Soldaten und acht Krankenschwestern zu up-tempo-Musik, daraufhin Auftritt Šmatko und Rekrut)

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2. Dialog Šmatko und Rekrut (Exerzieren militärischen Drills und Ausführen der Grundkommandos sowie Liegestützen) 3. Auftritt Panin (Ansprache des Landrats – diese Ansprache von etwa fünf Minuten hielt nicht der Landrat selbst, sondern ein Stellvertreter. Der Sprecher beklagt unter anderem, dass von den 40 in diesem Jahr Einberufenen nur eine kleine Schar anwesend seien. Einige Stichpunkte aus seiner Rede: Enttäuscht uns nicht. Rekruten aus Kolyvan' sind noch nie desertiert. Ein junger Mann aus Kolyvan' dient sogar in der Leibgarde des Präsidenten. Lernt Euch zu disziplinieren und richtige Männer zu werden. Denkt an Eure Eltern, Geschwister und Verwandten. Bei Problemen wendet Euch an die Kreisverwaltung) 4. Dialog der Krankenschwestern (beginnt mit einigen Takten Rave-Musik, zwei Krankenschwestern unterhalten sich über gut aussehende Soldaten, ihr vertrauliches Gespräch wird aber jäh von Šmatko unterbrochen, der die beiden von der Bühne verweist) 5. Auftritt Blinov (Ansprache des Kommissars des Kreiswehrersatzamtes, er geht auf ähnliche Punkte wie der Stellvertreter des Landrats ein) 6. Ensemble „Kolokol'čiki“ mit „Der Soldat hat Ausgang“ (Fünf junge Mädchen und ein als Soldat verkleideter Junge singen ein altbekanntes Lied in einer peppigen Disco-Version) 7. Heraustragen der Flagge, Hymne (zwei Krankenschwestern tragen je eine russische Flagge herein, präsentieren sie dem Publikum und stellen sie in Fahnenständer, dazu erklingen die Worte eines pathetischen Gedichtes über die Farben der russischen Flagge. Es ist dieselbe Stimme, die auch am Tag des Sieges von Band läuft. Darauf wird die Hymne abgespielt. Das Publikum erhebt sich) 8. Dialog Šmatko und Rekrut zum Thema Straße der Besten (der „Rekrut“ läuft ins Publikum und holt einen der Einberufenen auf die Bühne) 9. Antwort des Rekruten (der Einberufene sagt einige Worte und erhält Beifall. Die Vorsitzende der Kreisverordnetenversammlung wird auf die Bühne gebeten. Sie spricht etwa zwei Minuten, unter anderem über ihre Erfahrungen als Leutnant des medizinischen Dienstes der Russischen Armee. Sie verweist auf die Unterstützung aller Kreisverordneten und bietet Hilfe bei Problemen an) 10. Tanzensemble „Nadežda“präsentiert „Der Soldat hat eine Freundin“ (sechs junge Damen singen und tanzen ein Lied in Disco-Arrangement, dazu tanzen sechs als Soldaten gekleidete Jungen, einige von ihnen vollführen akrobatische Kunststücke) 11. Monolog Šmatko (dieser wurde ausgelassen, Ankündigung des nächsten Auftritts)

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12. Auftritt der Mutter eines künftigen Soldaten (eine der technischen Mitarbeiterinnen des Kulturhauses. Sie spricht bloß eine Viertelminute und ist sichtlich bewegt. „Schreibt uns Briefe! Wir lieben euch sehr.“) 13. Inna Kazantseva: „Das Herz einer Mutter“ (ein langsames, etwas wehmütiges Lied, gesungen von einem jungen Mädchen) 14. Dialog Šmatko und Rekrut über Kartoffeln (Die Schelte für schlecht geschälte Kartoffeln gibt Anlass für einen Monolog zum Thema Ordnung und Akkuratesse in der Armee. Šmatko erwähnt lobend den einen Soldaten aus Kolyvan', der in der Leibgarde des Präsidenten dienen wird. Weiterhin spricht er über Soldaten, die Talent zur Laienkunst – hier als Akronym verballhornt: chudsamodejatel'nost' – besitzen und sich darin betätigen. Überleitung zur nächsten Tanznummer) 15. Ensemble „Dafti“ mit „Fakir“ (Dieser Tanz wird ausgeführt von zwei Jungen, die als Scheiche verkleidet miteinander um die Eleganz ihres Harems wetteifern, und zwei mal fünf Mädchen, die als Haremdamen auftreten. Die Musik ist orientalisch-poppig) 16. Dialog Šmatko und Rekrut über Ballett (Der Rekrut erkundigt sich bei Šmatko, ob er sich auch selbst einmal mit Laienkunst befasst habe, speziell mit Ballett, denn nun komme eine Tänzerin, die einen Partner gebrauchen könnte, und da dürfte Šmatko genau der Richtige sein. Šmatko winkt ab. Also muss die Tänzerin allein tanzen) 17. Alena Martjušova: „Schrei der Seele“ (eine professionelle Tänzerin vollführt eine Tarantella, die die Umnachtung einer verzweifelten Frau darstellt. Begeisterter Beifall) 18. Dialog Šmatko und Rekrut über die Tundra (Šmatko droht dem Rekruten, ihn in die Tundra zu senden, wo er den Rentieren die Geweihe abbrechen soll. Der Rekrut entgegnet, dass die Menschen droben im Hohen Norden merkwürdige Dinge täten) 19. „Nanaischer Kampf“ (ein einzelner Akrobat trägt ein Kostüm, das ihn wie zwei kleine Männer, die offenbar einem indigenen Volk angehören, aussehen lässt. Seine Körperbewegungen erwecken den Eindruck, dass die beiden kleinen Männer miteinander ringen. Dazu läuft ein bekannter Titel des Sängers Kola Bel'dy aus den 1970er Jahren, der das Leben im Hohen Norden beschwört (Uvezu tebja v tundru). Zum Schluss „outet sich“ der Akrobat. Beifall) 20. Dialog Šmatko und Rekrut über Mädchen (Šmatko fragt den Rekruten, ob man mehr Frauen in die Armee aufnehmen sollte und was deren Rolle sein könnte. Der Rekrut bejaht freudvoll und vermutet, dass Frauen sich in der Armee unter anderem in der Laienkunst – chudsamodejatel'nost' – bewähren könnten)

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21. Ensemble „Rovesnik“ (Fünf junge Damen in schwarzen Hosen und schwarzen Hüten tanzen zum Lied „Hit the Road, Jack“ von Ray Charles) 22. Dialog Šmatko und Rekrut über Heimaturlaub (Šmatko fragt den Rekruten, ob er sich sehr nach seiner Freundin sehnt und tröstet ihn mit der Aussicht auf Heimaturlaub) 23. „Der Weg nach Hause“ (ein romantischer Schlager vorgetragen von einer jungen Frau, daraufhin ein weiterer kurzer Dialog des Fähnrichs mit dem Rekruten) 24. „Latino-Mix“ (zu einem Samba-Remix des Liedes „Would you … [go to bed with me]?“ der Gruppe „Touch and Go“ tanzen sechs junge Frauen und drei junge Männer in weißer sommerlicher Kleidung. Die Musik wechselt, es folgen Ausschnitte aus zwei weiteren Hits in englischer Sprache) 25. Dialog Šmatko und Rekrut über die Armee (s.u.) 26. Heraustreten der Einberufenen (s.u.) 27. Verteilen der Geschenke (s.u.) 28. Ensemble Kolokol'čiki (singt) „Unsere Armee“ Zu der letzten Nummer – dem Lied „Unsere Armee“ – kamen nach und nach alle an der Show mitwirkenden Kinder und Jugendlichen auf die Bühne. Sie schwenkten kleine rote Papierflaggen, auf denen in gelben Lettern das Wort „Heimat“ (Rodina) stand, und fielen ein in den Refrain des Liedes „Unsere Armee“ („Naša Armija“). Unmittelbar mit den letzten Klängen dieses Liedes schloss sich der rote Vorhang und das Licht im Saal ging an (Abb. 13). Die Dialoge der Rahmenhandlung Wiedergegeben sind hier der Dialog ganz zu Anfang und der ganz zum Schluss der Show. Šmatkos Worte sind in aufrechter Schrift gesetzt, die des Rekruten in Kursivschrift. Die Übersetzung ist nicht völlig wortgetreu. Sie wurde angepasst, um dem militärischen Duktus Ausdruck zu verleihen. „Den Gruß, meine Herren Kameraden! Stillgestanden!!! Meine Güte! Rührt euch!!! – Was habt ihr euch denn wohl gedacht? Dass ich aus irgendwelchen regulären Streitkräften zu euch komme? Weit gefehlt! Ich komme aus ganz besonderen, geheimen, unheimlich gut getarnten Spezialeinheiten! Und die, die da hinten stehen, sind meine Leute. Šmatko ist mein Name! Unsere Aufgabe ist es [heute], von euch die allerbesten auszuwählen und in die russische Armee aufzunehmen! Also: Angetreten! Richt euch! Rührt euch! Alle an ihre Plätze! – Nur der Rekrut da soll hierbleiben.“

122 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND „Stillgestanden!“ (Der Rekrut steht still) „Deckung!“ (Der Rekrut geht in Deckung) „Auf den Boden werfen!“ (Der Rekrut wirft sich auf den Boden) „Liegestütz!“ (Der Rekrut macht Liegestütze) „Was hast du gemacht?“ „Bin stillgestanden, in Deckung gegangen, habe mich auf den Boden geworfen, Liegestütze gemacht!“ „Davor! – meine Güte! – was hast du davor gemacht?“ „Bin in Deckung gegangen vor eventuellen Attacken und habe mich verteidigt! Es gibt ja [sonst] niemanden zu verteidigen!“ „Wie – „es gibt ja niemanden“?! Wir haben unseren Verteidigungsminister hier! Applaus für den Verteidigungsminister des Kreises Kolyvan'!“ (Es folgt die Rede des Vertreters der Kreisverwaltung)

Der letzte Dialog der Show gestaltet sich laut Szenario wie folgt: „Rekrut, antworte auf meine Frage!“ „Jawohl, Genosse Fähnrich Šmatko, ich antworte auf Ihre Frage!“ „Wir haben die ganze Zeit über die allermutigste und allerstärkste Armee geredet. Aber wo ist sie denn nun, die Armee?“ „Na, dort sind sie doch, die wahren Rekruten der Russländischen Armee!“ „Applaus für die Einberufenen!“ (Musik aus dem russischen Film „Soldaten“, die Einberufenen werden aus dem Saal auf die Bühne gerufen. Die sieben Männer sind, bis auf einen, in Zivil gekleidet und wirken verlegen. Šmat'ko befiehlt ihnen, sich auf eine Linie zu stellen. Die Krankenschwestern betreten die Bühne und überreichen den Einberufenen Geschenke) „Vor euch stehen die zukünftigen Adler der Russischen Armee! Sie werden euch beweisen, dass unsere Armee die mutigste ist, die stärkste – und die unbesiegbarste!“ (Die Vokalgruppe „Kolokol'čiki“ singt eine Version des bekannten Liedes „Unsere Armee“, dessen Verse hier wiedergegeben sind. Gegen Ende des Liedes schließt sich der Vorhang.)

Heute ist ein besonderer Feiertag

Segodnja prazdnik neobyknovennyj

Heute ist ein Feiertag meiner Heimat

Segodnja prazdnik rodiny moej

Die Regimenter stehen, [seht wie] die Parade geht Stojat polki, parad idet voennyj Ein Salut ertönt zu Ehren meiner Armee

Kripit saljut v čest' armiej moej

Unsere Armee ist die aller[größte]

Naša Armija samaja samaja

Unsere Armee ist die stärkste

Naša Armija samaja sil'naja

Unsere Armee ist die kühnste

Naša Armija samaja smelaja

Seht, wie unbesiegbar sie ist

Vot takaja nepobedimaja

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Abbildung 13: Der „Tag des Einberufenen“: Der Vorhang fällt. Foto: JOH, 28. April 2006

Hier eine Interpretation der Darbietung. Die Satire in diesen beiden und in allen anderen Dialogen ist kaum überhörbar. Die Regisseurin und ihr Kollege Schauspieler bedienen sich mehrerer Techniken, die Satire herzustellen: erstens, durch die Inversion des Geschlechts (der überaus dominante, bullige Fähnrich ist in Wirklichkeit eine Frau); zweitens, durch Übertreibung (der Rekrut wirft im Staccato seine Antworten zu und mimt ein Übermaß an Gehorsam); durch Transponierung auf die lokale Ebene (der Landkreis hat seinen Verteidigungsminister); sowie durch etliche nonverbale dramaturgische Elemente, darunter der Einsatz von Rap-Musik und die püschelschwingenden Krankenschwestern. Fähnrich und Rekrut reden über „Laienkunst“ (chudsamodejatel'nost') in der Armee, kurze Zeit später ertönt ein Lied mit dem Vers „Would you go to bed with me?“ All dies erzeugt eine ironische, ja subversive Grundstimmung. Darin eingebettet sind die ernsten, ernst gemeinten Ansprachen der örtlichen Würdenträger und Repräsentanten bestimmter Gruppen (z.B. die Soldatenmütter). Deren Appell wird gleichsam aufgehoben in der grotesken Rahmenhandlung. Wichtiger noch scheint mir die Wirkung dieser Groteske auf das Finale der Veranstaltung. Das Lied „Unsere Armee“ (Naša Armija) ist zwar in red-

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licher Absicht zur patriotischen Erbauung der Kinder geschrieben, die Botschaft des Liedes wird jedoch durch die Groteske hintertrieben. Die Aufführung wirkt „grenzwertig“ – man fragt sich: meinen die Artisten auf der Bühne es tatsächlich ernst oder nicht?

S TËB UND B ÜHNENSPIEL Für derlei „Grenzwertigkeit“11 gibt es in der russischen Umgangssprache ein Wort: stëb (gesprochen: s-tjob). Alexei Yurchak hat es in den Umlauf anthropologischer Begrifflichkeit gebracht. Yurchak definiert stëb folgendermaßen: „a peculiar form of irony that differed from sarcasm, cynicism, derision or any of the more familiar genres of absurd humour. It require[s] such a degree of overidentification with the object, person, or idea at which this stiob was directed that it was often impossible to tell whether it was a form of sincere support, subtle ridicule, or a peculiar mixture of the two.“ (Yurchak 2006: 249-250, Hervorh. im Original)12

Häufig äußert sich stëb in der Übererfüllung der Form, so dass der performative Aspekt eines Statements den konstativen Aspekt überschattet. Wenn jemand die an ihn gestellten Aufgaben (sei es bei einer Parteitagsrede oder einem Event im Kulturhaus) nicht einhundert-, sondern einhundertfünfzigprozentig erfüllt, so kann ihm niemand den Vorwurf machen, er sei gegen die Sache; andererseits weckt der Übereifer in der Darbietung den Verdacht, dass etwas mit dem dargebotenen Inhalt nicht ganz stimmen mag.13 Was nun die oben dargestellte Show angeht, so ist die 11 Ich benutze diesen Begriff gerade wegen der Wertung, die in ihm mitschwingt: die Darbietung bewegt sich an der Grenze dessen, was aus Sicht der örtlichen Politiker und dem Kreiswehrersatzamt gerade noch an Satire und Belustigung über das Militär erträglich ist. 12 Yurchak spricht von einer eigenen Ästhetik des stëb, die wie folgt entstanden sei: „[it] developed in the context of late socialism, when the authoritative representations of reality became immutable, ubiquitous, and hypernormalized, and when their straightforward support or criticism smacked of idiocy, narcissism, and bad taste“ (2006: 252). 13 Goffman hat in seinem 1956 erschienenen Aufsatz über „The nature of deference and demeanor“ bereits auf dieses Phänomen verwiesen: „Der Handelnde kann sich durch das Bezeugen von Achtung, die er gar nicht wirklich empfindet, eine Art innerer Autonomie behalten, da er sich von der zeremoniellen Ordnung distanziert, und zwar gerade in dem Moment, in dem er sie aufrechterhält. Wenn er sich peinlich genau an die richtige Form hält, kann er selbstverständlich jegliche Art der Mißachtung durch sorgfältiges Ändern der Betonung, Aussprache, des Sprachrhythmus usw. einschmuggeln“ (Zitat aus der dt. Übers.: 1986: 66).

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Schluss-Szene als ein passendes Beispiel für stëb anzusehen. Stünde das Lied nur für sich, so wäre seine Botschaft harmlos, da politisch korrekt. Doch die geschickte Inszenierung lässt die Zuschauer einen Moment innehalten und ermöglicht so das Nachdenken über andere, implizite Botschaften. Für die Einberufenen signalisiert diese öffentliche Abschiedsfeier den baldigen Beginn einer gehörigen Transformation, die Eingliederung ins Soldatenleben mit all seinen fremden und umso mehr beängstigenden kleinen und großen Ritualen. Es ist aber nicht die Show selbst, die die Transformation bewirkt: sie deutet sie nur an (s.u.). Daher ist es nicht sinnvoll, in Hinblick auf die Abschiedsfeier im Kulturhaus von einem „Ritual“ zu sprechen in dem Sinne, wie Handelman oder Turner dies verstehen. Den Zuschauern, seien sie Einberufene, Angehörige oder Unbeteiligte, ergibt sich der Eindruck, dass die Rahmenhandlung etwas Karnevaleskes hat. Sie arbeitet mit den Mitteln der Entstellung und Verzerrung. Sie ist subversiv, da sie die herrschende Ordnung (das Militär) ins Lächerliche zieht, bedient sich aber deren diskursiven Rahmens, um letztendlich darin zu verharren. Dies ergibt einen starken Kontrast zu den deklamatorischen Reden der Würdenträger, die unmittelbar an das Gewissen der Einberufenen appellieren und sich jeglicher Form von Ironie enthalten. Die Schluss-Szene wiederum scheint m.E. darauf hinzuweisen, dass es einen Übergangsbereich gibt zwischen dem Karnevalesken und dem Deklamatorischen, zwischen der emphatischen, ernstgemeinten Bejahung der bestehenden Ordnung und ihrer Karikierung. Gerade in der Ambivalenz der möglichen Interpretationen liegt die Stärke des Ausdrucks (vgl. auch Rolf 2006: 16). Das Gelingen dieser Darbietung bestand darin, dass die örtlichen Würdenträger ihre Appelle loswerden und die Einberufenen sich über die Persiflage der Armee amüsieren konnten, ohne dass irgend jemand Gefahr lief, sein Gesicht zu verlieren – das alles dank einer Inszenierung, die mit geringem technischen Aufwand und in einem eigentlich sehr konventionellen Format einen sehr „grenzwertigen“ Effekt erzielte. Den roten Faden dieses Kapitels bildet die Charakterisierung der Dinge, die im und um das Kulturhaus herum geschehen, als Ritual und Performanz, als Event und als Spektakel – und schließlich auch als Spiel. Betrachten wir nun also die „spielerische“ Facette – sie bietet eine neue theoretische Perspektive. Neben dem Werk von Johan Huizinga sind es wiederum die Ausführungen von Don Handelman und Alexei Yurchak, die Inspiration für diese Betrachtung liefern. Ein jedes Spiel hat einen Rahmen, der es vom Nicht-Spiel absetzt; ein jedes Spiel hat seine eigene, in sich geschlossene Wirklichkeit (Huizinga [1938] 1987: 16-30). Gedankenspiele und Fantasien, also Spiele, die ein Mensch allein unternimmt, brauchen keine Regeln; alle anderen Spiele aber operieren mit Regeln, und diese Vereinbarungen sind für das Aufrechterhalten der Wirklichkeit des Spiels ganz wesentlich. Das Tricksen und Täuschen, d.h. das heimliche Unterlaufen der Regeln, stellt das Regelwerk des Spiels nicht in Frage. Der eigentliche Spielverder-

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ber ist derjenige, der das Regelwerk explizit aufkündigt, nicht mehr mitmacht, die Illusion des Spiels zerstört und dadurch das Spiel entlarvt als einen fragilen Zustand unernster Beschäftigung (ebd.: 20). Innerhalb der weiten Domäne des Spiels nimmt das Schau-Spiel seinen eigenen Platz ein. Definiert wird das Schauspiel durch den Bezug auf Zuschauer. Da es sich an ein Publikum richtet, ist es nichts anderes als eine Performanz („Performance is always performance for someone“, Carlson 2004: 5). Die Grundregel des Schauspiels besteht darin, dass die Zuschauenden das Gezeigte in seiner eigenen Wirklichkeit akzeptieren und nicht durch die Logik des Alltags unterbrechen, wie auch Frederick George Bailey bemerkt: „A play has actors, who pretend to be what the audience knows they are not. The audience, if they are to accept the make-belief, must block the faculties they use elsewhere to distinguish real from unreal. The child at the Christmas pantomime who remarks that Peter Pan looks like a woman has not yet learned when to suspend the reality-principle.“ (Bailey 1996: 3)

Das Schauspiel folgt seiner eigenen Logik, hinter der eine bestimmte Intention steht. Diese Intention wird meist nicht zur Schau gestellt, sondern verborgen, sie ist aber die ganze Zeit amWerk. Es ist die Intention der Autorin, der Regisseurin, der Choreographin, und zu einem gewissen Anteil auch die Intention der Darstellenden. Alle arbeiten mit den Techniken der Verdichtung und der Übertreibung, sie modulieren ein deutlich vernehmbares Signal aus dem Rauschen der Tatsächlichkeit und schaffen somit „something removed from the instability of time and the variation of particularity so as to make it authoritative“ (ebd.). Genau dadurch soll Affekt entstehen: „the audience should know that the situation is faked, but at the same time feel real emotion“ (ebd.). Die Intention, die sich hinter einem Stück verbirgt, steht in einem komplexen Zusammenhang mit dem Handlungsspielraum und der Virtuosität des Darstellenden: in einem Theaterstück konventioneller Art ist die Handlung vorgegeben, so dass die Darstellenden ihre Texte auswendig lernen müssen und nur selten die Gelegenheit haben werden, sie nach Gutdünken zu variieren. Gestalten können sie das Schauspiel nur in Rücksprache mit der Regisseurin bzw. dem Regisseur. Doch können die Darstellenden ihre Rollen auf die eine oder andere Art ausführen bzw. ausfüllen. Die Form der Darbietung und die Regeln sind vorgegeben, doch die Darstellenden haben einen gewissen Spiel-Raum, der Handlung eine eigene Note zu verleihen – darin äußert sich ihre Kreativität und Virtuosität. Was für das Theaterstück konventioneller Art gilt, lässt sich in teils modifizierter Weise auch für alle anderen Darbietungen des Kulturhauses sagen. Das Kollektiv der älteren Damen, das beim Laienkunstwettbewerb auftritt, muss sich der Form und den Regeln des Wettbewerbs unterwerfen, außerdem muss jede einzelne Sängerin in zuvor genau abgestimmter Weise mit den anderen Sängerinnen kooperie-

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ren. Die Intention besteht in der Symphonie und der Harmonie, in dem gleichzeitigen Miteinander der Stimmen, Instrumente und Gemüter. Hervortun kann sich das Kollektiv oder eine einzelne Sängerin durch eine besonders anrührende, virtuose Darbietung (vgl. den Auftakt zu Kapitel 1). Das Sich-Ausdrücken als artistisch begabte, kreative Person geschieht im Rahmen eines größeren Ganzen: als Teil des Ensembles, des Wettbewerbs oder der Dorfgemeinschaft. Solo-Auftritte im Kulturhaus basieren meist auf der Interpretation eines Musikstücks, das eine andere Person verfasst hat. Nur die Solistin, die ihre eigenen Lieder aufführt und sich womöglich selbst auf der Gitarre begleitet, bietet ein originäres Produkt, sie ist aber dennoch auf die Regeln des Wettbewerbs und die Mechanismen der Anerkennung durch die Gemeinschaft angewiesen. Zur Intention des Bühnen-Spiels im Kulturhaus möchte ich abschließend bemerken, dass in den meisten Fällen die Darstellung des Schönen, die Präsentation einer ästhetischen Ordnung, bezweckt wird. Die Präsentation der Ordnung mit ästhetischen Mitteln vermittelt etwas Positives: nämlich die Versicherung, dass in einer potenziell chaotischen Alltagswelt ein Bereich der Symmetrie, der Harmonie und der Kultiviertheit existiert. Ob die ästhetische Ordnung eine gewisse gesellschaftliche Ordnung reflektiert oder nicht, ist hier nicht von unmittelbarem Interesse – wichtig ist, dass es überhaupt so etwas gibt wie Ordnung in der Welt. Ich fühle mich versucht, hier Don Handelmans Idee vom Spiel in der Variante „top-down“ anzuwenden: das Bühnenspiel muss aufgeführt werden, um die Existenz einer kosmologischen Ordnung zu vergegenwärtigen und zu rekonstituieren (vgl. Schnepel 2008) und um dem Chaos Einhalt zu gebieten.14 Nicht die spielerische Kreativität der Individuen ist hier von Relevanz, sondern ihre Teilnahme an der Aufführung eines großen Ganzen. Ähnlich beschreibt diesen Aspekt Brian Sutton-Smith (1997: 52-60), der sich selbst explizit auf Handelman bezieht, um zu demonstrieren, dass Spiel nicht immer aus freien Stücken erfolgt: „The ancient rhetorics [of play] have more extrinsic motivation about them and imply that play can be coercive“ (ebd.: 52-53). Mythen der Schöpfung ebenso wie der Zerstörung berichten vom Spiel höherer Mächte, „in which play exemplifies not our own autonomy but our being controlled by some fate“ (ebd.: 55). Mir scheint, dass das Bühnenspiel im Kulturhaus als regulär wiederkehrende, gemeinschaftliche Selbstvergewisserung des Bestehens eines ordnenden Prinzips gedeutet werden kann. Bei den Aufführungen anlässlich des Tages des Sieges ebenso wie bei etlichen anderen Festlichkeiten handelt es sich um „aufgetragenes Wiedergeben“ (Huizinga 1987: 16). Die Darbietenden scheinen gegenüber ihrer eigenen 14 Handelman (1992) selbst würde einer solchen Interpretation möglicherweise widersprechen: er verwendet die Unterscheidung „play as top-down“ und „play as bottom-up“ in einem streng formulierten Kontext und bezieht sie wiederum, wenngleich auch diesmal idealtypisch, auf verschiedene Gesellschaften. Vgl. hierzu auch Turner (1982: 34-35).

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Darbietung vielfach indifferent, so als ob sie keine tiefergehende emotionale Beziehung zu dem „Ritual“ hätten, wenngleich sie durchaus einen Grund haben mögen teilzunehmen (vgl. Humphrey/Laidlaw 1994: 213). Man spielt für sich und für andere und stellt einen geordneten Ablauf zur Schau. Die Zuschauenden sind häufig mit dem Format und Inhalt des Bühnenspiels vertraut und kennen vielfach auch die Darbietenden persönlich. Auch beim „Tag der Einberufenen“ geht es um die Darstellung eines geordneten Ablaufs, um die Ehrerweisung und Abordnung einer bestimmten Personengruppe, welcher zudem in mehrfachen Ansprachen versichert wird, dass sie sich vor den neuen Lebensumständen nicht fürchten muss und dass sie mit Rückhalt der Gemeinde rechnen kann, falls sie in chaotischen Situationen oder in existenzielle Krisen geraten sollte. „Alles unter Kontrolle“, so die Botschaft. Soviel zur Intention des Bühnenspiels, nun zur Ausführung. Was als Präsentation einer sozialen Ordnung (Handelmans „Spektakel“) intendiert war, wurde im gegebenen Fall von der Regisseurin geschickt uminterpretiert und mit karnevalesken Elementen ausstaffiert. Die Aufführung bewegt sich zwischen Spaß und Ernst – einige Episoden sind eindeutig Spiel, andere sind eindeutig Nicht-Spiel, und wiederum andere Episoden verharren auf der Schwelle von play/not-play (Handelman 1992). Dieser Schwebezustand ergibt sich nicht aus der Intention der Darbietung, sondern erst aus ihrer Performanz. Auf der Schwelle zwischen play/not-play geschieht die Mischung des Komischen mit dem Ernsthaften (Bachtin 1985: 119), auf dieser Schwelle offenbart sich ein ambivalenter Zustand, für den Yurchak den Begriff stëb geprägt hat.15 Die völlige Subversion der ursprünglichen Intention des Spektakels ist nicht ausgeschlossen, sie bleibt aber lediglich eine Möglichkeit, ein Potenzial.

D IE F EIER

NACH DER

S HOW

Sowohl nach der Show anlässlich des „Tages des Einberufenen“ in Kolyvan' (28. April 2006) als auch nach der vom Kulturhaus Točmaševec anlässlich des „Tages der Stadt [Novosibirsk]“ organisierten Veranstaltung (24. Juli 2007) wurde ich von den Kulturarbeiterinnen mehr oder weniger deutlich aufgefordert, bei ihnen zu blei15 Yurchak stellt fest: „This type of irony [stëb/stiob] shared some elements with Bakhtin’s notion of carnivalesque parody: it cannot be understood simply as a form of resistance to authoritative symbols because it also involves a feeling of affinity and warmth toward them […]. However, unlike Bakhtin’s parody, Soviet stiob was not limited to temporally and spatially bounded and publicly sanctioned ‚carnivals‘. Rather, it functioned in a much broader array of contexts, literally as an everyday aesthetic of living“. (Yurchak 2006: 250) Zu stëb und faschistischen Attributen s. Gabowitsch (2009).

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ben und mit ihnen im Hinterzimmer feiern. In Kolyvan' hatte ich mehrfach Gelegenheit, mit den jüngeren unter den Kolleginnen und Kollegen ihre Erfolge in informeller Atmosphäre zu begießen, teilweise im Büro № 9, welches zu verschiedenen Zeiten als Arbeitsraum, Probenraum, Umkleide, Pausenraum, Partyraum diente – in jeder Hinsicht also als eine Art Rückzugsraum, ein goffman-gerechtes Hinterzimmer. Wenn Bier oder andere alkoholische Getränke in Umlauf waren, so wurden sie dezent neben oder unter, nicht aber auf den Tisch gestellt. Solche informellen Situationen des Beisammenseins spielten sich meist am späteren Nachmittag ab (bevor die Angestellten ihren Weg nach Hause antraten), aber nicht in irgendeinem regelmäßigen Turnus, sondern anlässlich irgendwelcher beruflichen oder auch privaten Erfolge. Eine weitere Art des internen Feierns, die im Kulturhaus von Kolyvan' gepflegt wird, hat halböffentlichen Charakter: anlässlich des Geburtstages einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters wird mittags im sogenannten Gästezimmer (ein vergleichsweise gemütlich eingerichteter Besprechungsraum mit Stereoanlage) der Tisch mit den üblichen Salaten, Wurst und Käse eingedeckt, den weiblichen Anwesenden wird Wein eingeschenkt, für die männlichen Anwesenden gibt es Vodka in moderaten Mengen. Diese Geburtstagspartys sind gesittet, das Aufgebot der Trinksprüche wirkt recht feinsinnig; und allen Anwesenden ist klar, dass der Arbeitstag nach dem Ende dieser Feier ganz normal weitergehen soll. Ein geselliges Beisammensein, bei dem die persönliche Distanz gewahrt bleibt. Wiederum eine andere Variante der Party nach der Show bot sich mir im Kulturhaus Točmaševec in Novosibirsk, nachdem die Kulturarbeiterinnen ihren lokalen Beitrag zum „Tag der Stadt“ (Den' goroda) am 24. Juli 2007 hinter sich gebracht hatten. Bevor ich auf die „Party danach“ eingehe, gebe ich eine kurze Beschreibung des offiziellen Beitrags. Er bestand aus einem etwa zweistündigen Konzert auf einem parkartigen Innenhof hinter dem Kulturhaus, an dem sich mehrere Folkloregruppen verschiedener ethnischer Couleur sowie Gruppen singender und tanzender Kinder verschiedener Altersstufen beteiligten. Danach gab es öffentliche Dankesworte und Urkunden, unter anderem für den jüngsten Bewohner des Stadtviertels und seine Eltern (eine Geste an die staatlichen Maßnahmen zur Steigerung der Geburtenrate). Für die anwesenden Kinder wurde ein spezielles Mal- und Spielprogramm arrangiert. Für etwa eine halbe Stunde ertönte Tanzmusik aus den im Garten aufgestellten Lautsprechern; gespielt wurden vor allem Titel, die die älteren Besucher erfreuten. Die Direktorin des Kulturhauses persönlich eröffnete den Reigen, indem sie eine ältere Nachbarin zum Tanz aufforderte (es waren überwiegend ältere Frauen anwesend, und von den Männern wagte sich kaum jemand auf die Tanzfläche). Einer der betagten Damen war es ein sichtliches Vergnügen, mit den von der örtlichen Parteizelle der Edinaja Rossija ausgehändigten Flaggen und den von der Zeitung Komsomolskaja pravda angebotenen T-Shirts am Leib durch den Garten zu

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Abbildung 14: Tag der Stadt Novosibirsk. Während der Feier im kleinen Park hinter dem Kulturhaus bietet sich die Gelegenheit zum Tanz. Foto: JOH, 24. Juli 2007

tanzen (Abb. 14). Gegen siebzehn Uhr wurde die Veranstaltung offiziell beendet, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Točmaševec brachten die Technik und andere Ausrüstung vom Garten in die Innenräume zurück. Nicht lange darauf begannen in dem als Gornica („Stube“) bezeichneten Raum des Kulturhauses die Vorbereitungen für ein festliches Essen. Von irgendwoher wurden Salate, Würstchen, andere Speisen, Mineralwasser, Wein und Vodka in den Saal getragen. Die Feier des Kollektivs des Kulturhauses und der engsten Freundinnen erreichte bald einen ersten Höhepunkt, als die Direktorin und eine ehemalige Opernsängerin ein Duett zum Besten gaben. Die Anwesenden stimmten immer neue Lieder an. Nach einer weiteren halben Stunde und einigen Trinksprüchen begannen nahezu alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kulturhauses ausgelassen zu russischer Popmusik (estrada) tanzen. Die Direktorin selbst improvisierte eine Art Schleiertanz, während einige erschöpfte Kolleginnen Zigaretten rauchend am Tisch saßen und Rotwein tranken. Hier wurde also recht deutlich mit mehreren Konventionen gebrochen: dem Alkoholtabu, dem Rauchverbot, der Hierachie innerhalb der Mitarbeiterschaft. Anstelle kultureller Erbauung – populärmusikalische Massenware. Anstelle ästhetischer Formensprache – schrilles Gelächter und das Gedränge schwitzender Körper. In diesem wie auch in mehreren anderen Fällen zelebrierte man eine Feier nach der Feier, einen informellen Ausklang nach dem Ende des formalen Programms. An sich ist diese Tatsache wenig verwunderlich, sie lässt sich interpretieren als Ausdruck der Genugtuung und Erleichterung der Kulturarbeiterinnen über die erfolgreiche Durchführung der Maßnahme.16 Verblüffend ist jedoch, mit welcher Verve die während der Feier (I) dargestellten Themen während der Feier (II) konterkariert werden. Anders ausgedrückt, die

16 Derlei Partys nach Ende des offiziellen Events finden auch in Kulturhäusern in anderen Regionen statt (King 2011). Die meisten Leserinnen und Leser dürften ähnliche Fälle aus ihrem eigenen sozialen Kontext kennen.

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im Verlauf der Feier (I) propagierten Werte von Selbstdisziplin, geordnetem Miteinander und ästhetisch-kultivierter Selbstdarstellung werden im Verlauf der Feier (II) durch überschwängliches, teilweise transgressives Verhalten auf den Kopf gestellt. Solche Arten der Feier (II) finden in der privaten oder halböffentlichen Sphäre statt; d.h. die verschiedenen Gruppen, die an Feier (I) teilgenommen haben, versammeln sich nach deren Ende an dezentralen Orten und begehen anschließend die Feier (II) „unter sich“ (meždu soboj).17 Der formale Anlass des Feierns vereint also neben den Darbietungen, die im offiziellen Programm aufgeführt werden, eine Reihe von informellen Begegnungen, die – wenngleich sie am Rande stattfinden – nicht weniger bedeutsam und einprägsam für die beteiligten Akteure sind. Die Handlungen der Vorderbühne und Hinterbühne, die Nischen der verschiedenen Festtagsgruppen und die verschiedenen Ebenen der Aushandlung der „angemessenen“ Repräsentation sind Gegenstand der Dissertation von Stephan Dudeck (2013), der dies anhand des „Tages des Rentierzüchters“ in Nordwestsibirien untersucht hat. Er befasst sich mit Feiern in verschiedenen Orten im Chantisch-Mansischen Autonomen Gebiet, in denen chantische Rentierhalter einmal jährlich zu Protagonisten werden in der Alltagswelt der überwiegend russischen Städter, in deren Bewusstsein sie ansonsten nur sehr entfernt vorhanden sind, obwohl sie unweit der Stadt wohnen und ihre Rentiere weiden. Dudeck (2013: 156-163) beschreibt zunächst die obligatorischen und die rekombinatorischen Elemente dieser Feste, die Teil des offiziellen Programms sind, und geht dann auf die Zusammenkünfte der „internen Öffentlichkeiten“ ein: Die Sponsoren der Festlichkeiten, also die Repräsentanten der Erdölfirmen, bleiben unter sich im VIP-Zelt oder werden von den örtlichen Würdenträgern zu einem exklusiven Essen eingeladen; die chantischen Rentierhalter und ihre Verwandten, die im Dorf leben, haben ihren eigenen Treffpunkt, an den sie sich nach Ende des offiziellen Programms zurückziehen; die Zuschauer finden sich an wiederum anderen Orten zusammen, um den Tag ausklingen zu lassen. Dudeck konstatiert, dass die Angehörigen aller Gruppen diese Separation akzeptieren und praktizieren. Während des offiziellen Teils des Programms kommt es zu gewissen, formalisierten Interaktionen, doch das Interesse für die jeweils andere Seite hat bestimmte Grenzen, die Dudeck als „interessierte Ignoranz“ (ebd.: 148) bezeichnet.18

17 Beschreibungen dieser Abfolge finden sich auch in Berichten über sowjetische Feiern in den 1930er (Rolf 2006: 222) und 1980er Jahren (Yurchak 2006: 122). 18 Das Publikum nimmt die chantischen Lieder mit Beifall entgegen, aber Fragen nach dem Inhalt der Lyrik stellen sich nicht – man glaubt offenbar zu wissen, wovon chantische Lieder handeln oder handeln könnten. Die Rentierhalter (und auch die im Dorf lebenden Chanten) bemühen sich selten, die Vorurteile der Besucher zurechtzurücken – es scheint, dass sie aus dieser Ignoranz einen gewissen Nutzen ziehen. Diese Ignoranz ist „ganz im

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Vielleicht lässt sich dieses Verhältnis auch als eine Form der distanzierten Höflichkeit und des gebotenen Anstands beschreiben. Viele der Verhaltensregeln, die für den offiziellen Teil gelten, sind in den Nischen und Nebenzimmern jedenfalls außer Kraft gesetzt. Kritik an der Durchführung der Festivitäten, an den einzelnen Programmpunkten und Akteuren wird nicht während, sondern nach dem offiziellen Teil im kleinen Kreise erörtert.19 Hier kann man nicht nur Druck ab-, sondern gegebenenfalls auch seinen Ärger herauslassen, Aggressionen und Ablehnung zeigen. Meine obigen Beispiele zeigen, dass auch diejenigen, die als „Professionelle“ das Fest organisieren und durchführen, sich nach dessen Ende zurückziehen und das Fest nochmals „durchleben“, die Höhe- und Tiefpunkte in ihren Gesprächen Revue passieren lassen und sich gemeinsam ihren Erfolg (oder auch, in seltenen Fällen, ihren Misserfolg) vergegenwärtigen. Indem wir vergleichen, welche Verhaltensformen während der Feier (II), nicht aber während der Feier (I) legitim sind, nähern wir uns dem „eigentlichen Sinn“ der Feier (I). „Auf der Bühne der offiziellen Inszenierung sind Kundgebungen von persönlichen Meinungen und Interessen streng tabuisiert“, so Dudeck (2013: 149). In der Tat scheint mir hierin ein grundsätzliches Prinzip der Feier (I) zu bestehen: ihr Zweck ist die Betonung des geordneten und zivilisierten Miteinanders – die Ästhetik der Harmonie der Masse. An Lob wird nicht gespart. Kritik hat ihren Platz anderswo. Dudeck (2013: 121-122) erkennt im Ablauf der Feste zum „Tag des Rentierzüchters“ die Phaseologie wieder, die Malte Rolf (2006: 123-127) mit Bezug auf Feste in der Sowjetunion allgemein beschreibt: der eigentliche Festakt (Feier I)20 wird eingerahmt von einer Eröffnungssitzung am Vortag (nakanune) und der vergnüglichen Nachmittags- oder Abendveranstaltung (narodnoe guljanie). Platz für Kritik ist nicht nur nach Abschluss der Feier (I), sondern auch – in formalisierter Weise – im Vorfeld der Feier (I): die Eröffnungssitzung am Vortag wird – einer weitverbreiteten sowjetischen Praxis entsprechend – für eine Bilanzierung oder sogar Abrechnung genutzt. Dabei dürfen die lokalen Würdenträger, Bosse, Vorsitzenden etc. neben Auszeichnungen an einzelne Personen des Kollektivs auch gezielten Tadel aussprechen; die „kleinen Leute“ wiederum haben während dieser Sitzung die Gelegenheit, die Obrigkeit (načal'stvo) in bestimmten Dingen offen zu kritisieren (Dudeck 2011: 137-138). Der zentrale Teil der FestlichSinne der Aufrechterhaltung der Trennung zwischen interner und offizieller Sphäre“ (Dudeck 2013: 149). 19 Wir kennen dies auch aus zahlreichen anderen Kontexten, unter anderem dem akademischen. 20 Dieser Festakt umfasst die Kundgebung (miting) und die Parade (parada). Im Falle der Feierlichkeiten zum 9. Mai in Kolyvan' ist diese Strukturierung ebenfalls zu bemerken, wenngleich die Parade nur in rudimentärer Form – dem Umzug der Fahnenträgerinnen – erkennbar ist. Das miting selbst wird explizit für „eröffnet“ und „beendet“ erklärt.

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keit – Feier (I) – ist jedoch als Bekundung der Solidarität miteinander und des Respekts füreinander über jegliche Krittelei erhaben. Die Geschehnisse auf der Bühne geben den Takt an, das Publikum fügt sich. So gilt für den zentralen Teil genauso wie in früheren Jahrzehnten: „Auch heute noch ist das offizielle Ideal des Festes eine einmütige, kultivierte, kollektive und disziplinierte Festgemeinde, aus der alle Trunken- und Raufbolde ausgeschlossen werden müssen“ (ebd.: 124). Dies entspricht im wesentlichen auch meinen eigenen Beobachtungen. Die Feier am 9. Mai 2006 lieferte allerdings auch ein Beispiel dafür, dass bestimmte Teile der Zeremonie die Zuschauenden so sehr langweilen, dass sie sich vom Geschehen auf der Bühne ablenken lassen und ihre würdevolle Haltung teilweise ablegen. Das Publikum erwartet offenbar, dass bei Gedenkveranstaltungen die einzelnen Redebeiträge nicht zu lang sind. Der Spannungsbogen muss aufrechterhalten werden. Darüber hinaus zeigte sich bei diesem wie auch bei anderen Anlässen, dass es während der Feier (I) auf den „billigen Rängen“ bzw. am Rande der Veranstaltung zu gelegentlichen, peripheren Transgressionen kommt (Gelächter, Zwischenrufe und, sehr selten, Störmanöver). Alkohol ist aus dem Repertoire der Feier (II) nicht wegzudenken. Der Konsum von Alkohol während Feier (I) wird allgemein missbilligt und findet – wenn er denn stattfindet – heimlich bzw. am Rande der Veranstaltung statt. Dudeck (2013: 123) verweist auf Trotzki ([1923] 2001) und dessen Aussage, dass die neue sowjetische Art des Feierns dazu führen wird, dass sich die Festkultur der vorrevolutionären Zeit und mit ihr die Begleiterscheinung des Alkoholkonsums überlebt. Tatsächlich aber hat sich diese Erwartung nicht erfüllt; während der gesamten sowjetischen und auch postsowjetischen Zeit war exzessives Trinken Bestandteil des FesteFeierns, und manche Teilnehmer begannen bereits vor bzw. während der Feier (I) sich heimlich zu betrinken, vgl. Rolf (2006: 198, 244-246). Während der Feier (II) ist Alkohol ein legitimes und sogar rituelles Mittel, um die Anspannung des Festakts aufzulösen. Im gemeinschaftlichen Konsum der Substanz ergibt sich eine Komplizenschaft. Dies empfinden die Kulturarbeiterinnen – wenn sie unter sich sind – genauso wie nahezu allen anderen am Festakt teilnehmenden Gruppen. Nach dem strukturierten Zusammenarbeiten und dem Sich-Fügen in die jeweilige Funktion und Position, die die Durchführung einer Show oder eines Stadtteilfestes verlangt, ist nun Zeit für communitas. Wenn sich eine Woche von festlichen Veranstaltungen ihrem Ende nähert, ist das für die aufgetretenen Künstler, die Angestellten des Kulturhauses und ihre Freunde ein Anlass, ausgelassen zu feiern und über die gemeinsamen Erlebnisse in der Vergangenheit zu reden (s. die Beschreibung von King 2011: 195-197). Die Bedeutung des Sich-Betrinkens wird auch von Sántha und Safonova thematisiert: der phänomenale Willensakt, den die Bewohner von Kurumkan für die jährliche Vorzeige-Show in ihrem Kulturhaus aufbringen, verlangt, dass sie sich danach wieder davon befreien, indem sie gemeinsam ihr Gesicht verlieren. „People voluntarily throw themselves into creating

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illusions, and they do not do it spontaneously; rather they prepare to get into this state. Then they finally get out of it through drinking and private celebration.“ (Sántha/Safonova 2011: 79-80)21 In der Ausgelassenheit des Moments können die Beteiligten sich Dinge verbal oder auch non-verbal mitteilen, die sie sich sonst nicht mitteilen würden. Die gemeinsame Transgression schafft – selbst wenn sie in gegenseitige Feindseligkeiten und offene Konflikte ausufert – eine bestimmte Art der Intimität, die in der Regel auch nach Wiedererlangen der Nüchternheit fortbesteht. Allein die Bereitschaft, mit jemandem Alkohol zu trinken, führt bereits zu einer Nivellierung der sozialen Positionen: man setzt sich mit jemandem „an einen Tisch“, macht sich gleich mit der anderen Person und versichert einander, dass man sich achtet. Wer die Einladung zum gemeinsamen Trinken ablehnt, bleibt außen vor und macht sich verdächtig, arrogant zu sein – noch problematischer ist jedoch der vorzeitige Ausstieg aus der Gemeinschaft der Trinkenden oder die Bemerkung, dass man nicht gewillt sei, noch mehr Alkohol zu trinken. Dies wird von den anderen Personen zumeist als Spielverderbertum gewertet. Meinen eigenen Erfahrungen zufolge wird es auch sehr häufig als Ausdruck der Respektlosigkeit gewertet.22 Alkoholkonsum in Russland ist ein schier unerschöpfliches Thema auch in der ethnologischen Forschung. Das Beisammensein der Trinkenden folgt einem Komplex ungeschriebener Regeln – wie man miteinander kommuniziert, wie der Schnaps und/oder Wein verteilt wird, wer ihn austeilen darf, wer während des allmählich einsetzenden Chaos die Kontrolle bewahren muss, wie man einander am nächsten Tag wieder entgegentritt etc. Es gibt eindeutig geschlechterspezifische Arten, sich zu betrinken. Von der umfangreichen Literatur23 möchte ich mich hier nur auf eine kurze Arbeit von David Koester (2003) und Dale Pesmens Monographie Russia and Soul (2000: speziell 170-188) beziehen, weil beide das Trinken von Alkohol in direkten Bezug zum Konzept der Kultiviertheit setzen. 21 Teilweise geschieht dies gemeinsam mit den Personen der Kontrollkommission, teilweise ohne sie. In bestimmten Fällen ist es also möglich, auch die Adressaten der VorzeigeShow in die Party danach und die damit verbundene „Erlösung“ der Darsteller mit einzubeziehen. 22 In Situationen des fortgeschrittenen Trinkgelages kommt oft die rhetorische Frage „Respektierst du mich?“ (Ty uvažaeš' menja?) zum Einsatz, um das Gegenüber zum Weitertrinken zu bewegen. Wer nämlich aus dem Duell des Sich-Betrinkens aussteigt, der ist ein Spielverderber, er löst das Band der Komplizenschaft und bekundet, dass er auf den Mitspieler keine Rücksicht nimmt. Offensichtlich handelt es sich nicht um die Art von Respekt, die in den Kulturhäusern sonst gepredigt wird, sondern um die Anerkennung einer persönlichen Verbundenheit auf Augenhöhe (vgl. auch Pesmen 2000: 184-185). 23 Beispielsweise Herlihy (1991); Rogers (2005); Sokolov (2005); Timofejew (2006); Chepurnaya/Shpakovskaya (2006).

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Koesters Beobachtungen über Trinkverhalten in ländlichen Gemeinden auf der Halbinsel Kamčatka beschreiben verschiedene Aspekte der Nivellierung der sozialen Positionen24, der Komplizenschaft, der Schaffung einer Gruppe, die ihr UnterSich-Sein zelebriert, die sich aber auch durch ihre Komplizenschaft nach außen abgrenzt. Einmal wurde Koester von einem seiner russischen Gastgeber gebeten, an einer solchen Runde teilzunehmen, sich nicht zu distanzieren und auch nicht verächtlich auf die Trinkenden hinabzuschauen. Der Gastgeber sagte: „wir sind einfache Leute“ (prostoj narod) und versuchte, sich der Ebenbürtigkeit seines ausländischen Gastes zu vergewissern. Koester überlegt im Nachhinein: „The practice of drinking to become inebriated is a mark of being ‚simple‘, prostoi. Pesmen has described this idea as associated with peasant life. It means not cultured (kul'turny) in the sense of haute culture but rather living a simple lifestyle and using simple technology, being hospitable, generous, peaceable and unpretentious.“ (Koester 2003: 44, Verweis auf Pesmen 2000: 91)

Pesmen selbst erklärt: „Culture was often mentioned as an alternative or cure for drinking, as if they occupied the same place“ (2000: 176). Sowohl kul'tura – auch Pesmen benutzt des öfteren diesen Begriff in seiner russischen Form – als auch das gemeinsame Trinken kann als ein Akt des Öffnens der Seele (duša) verstanden werden (ebd.). Es vermag sogar, das „wahre“ Selbst zu finden (ebd.: 183) – hierin besteht eine weitere komplementäre Beziehung zwischen Alkohol- und Kulturgenuss. Trinken ist eine Form der Kommunion und ein Register der Kommunikation, es geschieht außerhalb der sonst üblichen zeitlichen Maßstäbe und öffnet dadurch einen besonderen Freiraum. „Drinking, as the epitome of hospitality and communion, related to exchange of all sorts and substances, physical and spiritual. Drinking, like dusha, united people and domains felt to be fractured by life“ (ebd.: 187). Das gemeinsame Trinken zeigt den Beteiligten also, dass sie unkomplizierte, einfache Menschen sind, die während des Zusammenseins darauf verzichten können, geschliffene Umgangsformen zu pflegen. Diese einfache Art hat ihre ganz natürliche Berechtigung und ihren eigenen moralischen Wert. Gerade dadurch, dass die Umgangsformen nekul'turno (nicht kultiviert) sind, zeigen Personen, dass sie sich zeitweilig (oder nachhaltig) dem Anspruch der Selbstperfektion entziehen, sich nicht darum scheren. Alkohol erscheint gleichsam als Kontrastmittel, das die per24 Koesters Hauptargument besteht darin, dass in einem postkolonialen Kontext, nämlich der Kommunikation zwischen russischen und indigenen Bewohnern der von ihm besuchten Siedlungen, die Frage des gemeinsamen Trinkens auch und gerade eine ethnische Dimension hat. „The idea that indigenous peoples were by nature simple people had positive, noble savage connotations, but also meant that the presumption was that they would accept drinking as part of their lower status on the cultural scale“ (Koester 2003: 46).

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sönliche Kultiviertheit dadurch unterstreicht, dass es sie zeitweilig außer Kraft setzt. Der Zustand der Trunkenheit ist die Entgleisung von der kultivierten Norm. Es ist nicht unbedingt verwunderlich, dass auch Kulturarbeiterinnen gelegentlich gemeinsam bechern. Bemerkenswert ist allerdings, dass gerade ihr professionelles Ethos in so starkem Widerspruch dazu steht. Ihr Bestreben geht ja nach ihren eigenen Bekundungen dahin, ihre Mitmenschen zu ermutigen, Haltung anzunehmen, sich nicht gehen zu lassen und nicht hemmungslos Drogen zu konsumieren. Wenn wir uns noch einmal vergegenwärtigen, wie die Kulturhaus-Direktorin Kosinceva, aber auch andere leitende Kulturarbeiterinnen, das „kulturelle Defizit“ ihrer sozialen Umwelt mit alarmierenden Worten beschreiben (s. Kapitel 2), so wird klar, dass ihre Arbeit ständig gegen die allzu menschliche Tendenz, sich gehen zu lassen, gerichtet ist. Sie versuchen sozusagen, gegen das Dritte Gesetz der Thermodynamik anzuarbeiten. Kultur ist ja aus ihrer Sicht genau das Gegenteil des Chaos. Ihr Auftrag ist, den Strom der Gleichgültigkeit und Trägheit aufzuhalten, sich dem Schlechten im Menschen entgegenzustemmen. Dahinter verbirgt sich ein impliziter Pessimismus, der mir für die russländische Gesellschaft der Gegenwart charakteristisch erscheint: Menschen lassen sich gehen, wenn sie nicht von außen dazu angehalten werden, Haltung anzunehmen. Im Grunde besteht die Aufgabe der Kulturarbeiterinnen darin, den durkheimschen homo duplex dazu zu bringen, seinen angeborenen Egoismus zu bändigen und ihn „zu moralischen Handlungen zu bewegen“ (mehr dazu im nächsten Abschnitt). Letztlich erklärt sich aus diesem Gesellschaftspessimismus auch der Kontrast zwischen dem Verbot der Transgression während der Feier (I) und der legitimen Möglichkeit der Transgression während der Feier (II). Denn die Feier (I) ist die Präsentation der Kultiviertheit, sie ist die Demonstration der Selbst-Beherrschung, die der Gesellschaft von den herrschenden Institutionen abverlangt wird. Daher scheint Feier (I), wie weiter oben verdeutlicht wurde, nur eine affirmative Funktion zu haben; es ist – um mit Handelman zu sprechen – ein Spektakel, aber kein Ritual. Zwar kann es während des Spektakels seitens des Publikums zu sarkastischen Zwischenrufen und kleinen Sabotagen am Rande der Veranstaltung kommen. Aber derlei subversive Handlungen kleinen Stils scheinen das „Drumherum“ der Feier (I) weit weniger auszumachen als die Tendenz unter den Teilnehmenden, sich ablenken zu lassen, ihr Interesse nicht der Bühne, sondern anderen, ihnen bekannten Personen zuzuwenden. Wer sich nicht auf der Bühne befindet oder in der ersten Reihe, wechselt gern in den Modus der informellen Kommunikation, sobald sich dazu eine Gelegenheit ergibt. Folgen wir der Interpretation von Yurchak (2006: 121), die weiter unten genauer dargestellt wird, so kommen wir zu dem Schluss, dass Feier (I) – gerade weil sie ein offizieller Anlass ist – die Bedingungen schafft, dass Leute sich treffen und am Rande oder eben auch nach Feier (I) ihr Zusammensein feiern. Feier (I) schafft sowohl die Nischen (Dudeck 2013) als auch den Anlass der verschiedenen Gruppen

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von Teilnehmenden, sich im kleineren Kreis weiter zu unterhalten. Feier (I) ist ein willkommener Anlass für Feier (II). Dieses Umschalten zwischen offizieller und informeller Interaktion wird speziell von Sántha und Safonova (2011) thematisiert. Es scheint den Leuten auf und gegenüber der Bühne völlig klar, dass der offizielle Anlass (und, wie Sántha und Safonova schreiben, der öffentliche Raum insgesamt) nicht dazu geeignet ist, persönliche und flexible Beziehungen zueinander zum Ausdruck zu bringen. Es muss zunächst ein Motiv, ein Anstoß da sein, um in den informellen Modus zu wechseln. Dieser informelle Modus ist mit dem Begriff po-čelovečeski belegt (wörtlich übersetzt bedeutet dies: „auf die menschliche Art“). Dieser Begriff steht für das unverstellte, ehrliche und humane Miteinander.25 Der Wechsel in diesen Modus muss aber nicht von Dauer sein – er ist reversibel. „Afterwards the public frozenness can be restored as easily as it had been abandoned, and the intimacy that was built for the moment of interaction would play no further role“ (Sántha/Safonova 2011: 85). Problematisch an diesem Modell erscheint mir allerdings die hier postulierte Ausschließlichkeit der Zustände. Es scheint keine fließenden Übergänge oder irgendwelche Grauzonen zwischen der offiziellen und der informellen Sphäre zu geben (vgl. Oswald/Voronkov 2003). Solche Ausschließlichkeit ist aber zugegebenermaßen auch in meiner eigenen Unterscheidung zwischen Feier (I) und Feier (II) zu erkennen. Ich habe den Kontrast zwischen den zwei Formen von Feiern sehr scharf gezeichnet. Beide haben aber jeweils Elemente der anderen. Feier (II) ist nicht immer Transgression und endet nicht immer in Chaos. Manchmal geht es einfach nur um eine gemütliche Unterhaltung. Diese Form des Feierns hat einen stark informellen Charakter, aber sie ist nicht frei von sozialen Konventionen. Die Feiern des Typs (I) haben zwar allesamt eine offzielle Grundlage, aber selbstverständlich sind auch sie nicht alle gleich: sie appellieren an verschiedene Personenkreise, verschiedene Emotionen etc. Die Feiern haben verschiedene Baupläne, und die einzelnen Elemente entsprechen sehr unterschiedlichen Abstufungen des Offiziösen. Der Den' goroda in Novosibirsk hat einen anderen Charakter als der 9. Mai in der Kleinstadt. Die Differenz beginnt bereits im Anlass der Feier. Ist der 9. Mai eine Veranstaltung des kollektiven Trauerns und der anschließenden kollektiven Vergnügung, so ist der Den' goroda eher so etwas wie ein Gartenfest mit Konzerteinlagen. Das Gartenfest als Feier (I) bietet Programmpunkte, die an Feier (II) erinnern. Die Großmütter tanzen auch nüchtern, es bedarf nicht erst des Alkohols, sie zu enthemmen. Um die verschiedenen in diesem Abschnitt dargelegten Punkte und Sichtweisen zu summieren: aus meiner Beobachtung, dass es nach der offiziellen Feier häufig noch Feiern im kleinen Kreise gibt, habe ich die holzschnittartige Differenzierung 25 „[H]uman beings stripped of status role characteristics – people ‚just as they are‘, getting through to each other“ (Turner zum Thema communitas, zit.n. Olaveson 2001: 104).

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zwischen Feier (I) und Feier (II) entwickelt, wenngleich beide Typen jeweils Elemente des anderen aufweisen. Feier (I) scheint vielfach den Anlass und die Grundlage zu konstituieren, auf die dann Feier (II) aufbaut, wobei sie anderen Konventionen folgt und am Rande, in bestimmten Nischen oder im Nachgang stattfindet. Feier (I) steht für Kultivierung, wenngleich auch nicht immer und gänzlich, so aber doch im Kern für Kultur. Thematisiert werden positive Themen, Heldentum oder Solidarität – kurzum, das Gute im Menschen. Daran zu appellieren, ist der Arbeitsauftrag der Kulturarbeiterinnen (ebenso wie der Pädagoginnnen und Politiker, wie wir später sehen werden). Es bedarf einer Extra-Aufforderung, wenn Menschen Haltung annehmen sollen. In den Modus des Sich-Gehen-Lassens scheinen Menschen relativ schnell und einfach zu verfallen. Auch die Kulturarbeiterinnen selbst lassen sich ab und an gehen, wobei sie in einen potenziellen Konflikt mit ihrem eigenen beruflichen Ethos geraten. Andere sind einem solchen Ethos nicht oder nicht so sehr verpflichtet. Das Gros der Zuschauenden hat während der Feier (I) wenig Probleme und häufige Anlässe, vom Modus des Pathos in den „humanen“, also informellen Modus und wieder zurück zu wechseln. Sie scheinen diese Situationen weniger als eine Form der Täuschung, der Dissimulation (Kharkhordin 1997, 1999) zu betrachten, sondern vielmehr als eine pragmatische Kombination der Erwartungen und Interessen, die von offizieller Seite an sie gestellt werden, mit den Erwartungen und Interessen, die sie selbst mitbringen (Yurchak 1999, 2006). In Kapitel 8 werde ich diese These weiterverfolgen.

K OLLEKTIVE E FFERVESZENZ : M OMENTE M OMENTE DER O FFENBARUNG

DER

E UPHORIE ,

„Kollektive Efferveszenz“ ist eines der theoretischen Konzepte, das die Arbeit am Forschungsprojekt zum Thema Kulturhäuser in Russland von Anfang bis Ende begleitet hat.26 Hier ist der Moment, das Potenzial dieses Konzepts auszuloten und es mit den oben thematisierten Begriffen communitas (die durch einen Ausnahmezustand bedingte Form eines besonderen Zusammengehörigkeitsgefühls) und pokazucha (der Ausdruck bloß gespielter Anteilnahme) in Beziehung zu setzen. Um es vorwegzunehmen: das Kulturhaus ist kein Ort, wo Efferveszenz (Euphorie, Hysterie) besonders häufig in Erscheinung tritt (angesichts der Leere und Verschlossenheit vieler Kulturhäuser kann sich sogar der gegenteilige Eindruck ergeben). Doch lösen manche der regulär wiederkehrenden Ereignisse, die in oder von der Institution Kulturhaus organisiert werden, durchaus „efferveszente“ Emotionen aus. Der folgende Abschnitt beleuchtet die Ambivalenz des kollektiven Affekts und setzt die bereits vorgenommene Differenzierung zwischen Feier (I) und (II) fort. 26 Dank gebührt hier insbesondere Patrick Heady für seine Anregungen.

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Zunächst einmal ist es sinnvoll, die Bedeutung von Efferveszenz im direkten und im übertragenen Sinn zu klären. Im direkten Sinn bedeutet dieses Wort das Aufsteigen von Bläschen in flüssigen Substanzen, als Ergebnis des Siedens, des Sprudelns oder irgendeiner Fermentierung bzw. Gärung. Im übertragenen Sinne geht es also um ein kollektives Aufbrausen oder auch um soziale Gärung (vgl. Liell 2003: 125). Fermentierung und auch Gärung deuten an, dass sich der chemische Zustand der Substanz – in diesem Falle der sozialen „Substanz“ – verändert. Das Bild der aufsteigenden Bläschen impliziert, dass in dieser „Substanz“ etwas Neues passiert; etwas, was seine eigene und nicht gänzlich vorhersagbare Dynamik hat. Das Konzept der kollektiven Efferveszenz wird mit dem Werk von Émile Durkheim verbunden, speziell mit dem 1912 erstmals erschienenen Buch Les formes élémentaires de la vie religieuse, wobei Marcel Mauss (Durkheims Neffe) den Begriff bereits einige Jahre zuvor verwendet hatte (Mauss/Beuchat [1904-1905] 1999: 470; vgl. Allen 1998: 157). Durkheim selbst lieferte mehrere recht illustrative Darstellungen von dem, was er mit Efferveszenz bezeichnet. Es geht um Momente einer kollektiven Ergriffenheit, eines gemeinsamen Rausches, einer Kommunion im gemeinsamen Erleben einer außergewöhnlichen Handlung, in manchen Fällen kann Efferveszenz gleichbedeutend sein mit Massenhysterie. Olaveson (2001) weist m.E. zu Recht darauf hin, dass Durkheims Efferveszenz sehr viel Gemeinsamkeiten aufweist mit Turners Konzept der communitas, auf das ich bereits an anderer Stelle eingegangen bin. In den mir vorliegenden Exegesen (Olaveson 2001; Pickering 1984: 382-389; Ramp 1998; Shilling/Mellor 1998) findet sich der Hinweis auf die problematische Zweideutigkeit des Begriffs, wobei die verschiedenen Autoren differenzieren zwischen einer Variante von Efferveszenz, die durch den Ausnahmezustand die Gemeinschaft der Gruppe bestätigt und einer anderen Variante, die eine unerwartete Sprengkraft offenbart, die zu einer fundamental neuen Konstitution der Gesellschaft führen kann. In diesem ambivalenten Sinne lässt sich auch Durkheims eigene Charakterisierung lesen (1994 [1981]: 285-295). Beiden Varianten ist gemeinsam, dass sie in Ritualen zum Einsatz kommen (können), dass es sich um Momente kollektiver Entgrenzung handelt und dass sie kollektive Schlüsselerlebnisse darstellen, die zur Bildung neuer Mythen geeignet sind. Ein Vergleich mit Handelmans (1998) Typologisierung von Events – Rituale versus Spektakel – liegt auf der Hand.27

27 Die Gleichsetzung von Efferveszenz mit communitas behält ihren Sinn auch im Falle der Differenzierung zwischen Ritual und Spektakel, wie Handelman (1998) sie vornimmt, da auch Spektakel Momente der communitas zeitigen können, wie ich mit Bezug auf den Tag des Sieges gezeigt habe. Mit Entgrenzung meine ich sowohl Transzendenz (Feier I – Ritual) als auch Transgression (Feier II – Spektakel), wie ich weiter unten illustrieren werde.

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Es existiert darüber hinaus aber noch eine weitere Lesart dieser Ambivalenz, die sozusagen auf das Soziale und das bloß Triebhafte im Menschen Bezug nimmt, und hier scheinen Autoren wie Graham (2007),28 Shilling und Mellor (1998) und auch Durkheim selbst (1994 [1981]: 290-291) in ziemlicher Übereinstimmung mit der von den Kulturarbeiterinnen vorgenommenen Unterscheidung zwischen instinktiven (oft egoistischen) Beweggründen und sozial orientierten (moralischen) Motiven. Der tiefere Grund dieses Zwiespalts scheint nach dieser Interpretation im Wesen des von Durkheim ([1914] 1969) identifizierten homo duplex angelegt zu sein: „the ambivalence [is] inherent within the homo duplex nature of humans […] [E]ffervescent assemblies can have nefarious effects, stimulating violence, hatred and anger, but can also inspire acts of self-sacrifice and moral concern for others“ (Shilling/Mellor 1998: 205; vgl. Lukes 1985: 286). Nach Durkheim (1994 [1981]: 289) muss die Gemeinschaft die Momente der Gärung ab und an durchleben, um ihren Bund symbolisch zu erneuern, denn ansonsten schwände die Wirkungsmacht der kollektiven Vorstellungen (répresentations). Damit komme ich wieder auf die Bedeutung der Ereignisse im und um das Kulturhaus zu sprechen. Am anschaulichsten ist wohl das Fallbeispiel, das Sántha und Safonova (2011) diskutieren: der Besuch der Kommission aus der Hauptstadt, der das „kulturelle Leben“ in der Provinzstadt evaluieren soll und deren Bewohner in fieberhaften Aktivismus verfallen lässt. „They clean up the property, illuminate the rooms, and fill them with emotion and music. There is a genuine effervescence in the Durkheimian sense that people experience in the course of this collective action (Durkheim 1995 [1912]). And after this event people have the chance to start a new cycle, a cycle of inertia and indifference that lasts until the next arrival of the commission from the republic’s capital“ (Sántha/Safonova 2011: 81).

Der Beginn des neuen Zyklus beginnt mit einem berauschenden Sich-GehenLassen, mit der Erzeugung einer Efferveszenz mit anderen Mitteln. Wie sehr das Phänomen der sozialen Gärung mit den extremeren Formen des Feierns (II) zusammengeht, muss hier nicht ausführlich erörtert werden. (Die Ant28 Graham (2007) liefert eine historisch angelegte, religiös motivierte Analyse, die skeptisch ausfällt: demnach habe Durkheim ungenügend differenziert zwischen der Art von Efferveszenz, die einen Sündenbock als Opfer verlangt und jener anderen Art, die den Sündenbock kollektiv in Schutz nimmt. „In writing the Elementary Forms, Durkheim could not foretell the horrors of the twentieth century. It is hard to imagine that he could have had such optimism in social effervescence had he witnessed the destructive capacities of Communism, Fascism, ethnic cleansing and all the other crimes against humanity perpetrated in the name of social bonding. He had little idea how dangerous the ‚new gods‘ of European social effervescence would become“ (Graham 2007: 34).

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wort ist klar: diese extremeren Formen münden nicht selten in euphorische oder gelegentlich auch aggressive Überschwänglichkeiten. Die gemeinsame Entgleisung schafft communitas.) Die Fragen, denen ich mich im Rest dieses Abschnitts widmen möchte, sind folgende: Welche Bedeutung hat Efferveszenz für die verschiedenen Teilnehmer am offiziellen Teil der Feier (also Feier I)? Wie verhält es sich mit dem (scheinbaren) Widerspruch zwischen angeblich aufrichtig empfundener Efferveszenz und angeblich nur gespielter pokazucha? Wie lassen sich die verschiedenen „Spielarten“ des kollektiven Affekts charakterisieren? Die Antworten stützen sich wiederum auf die Beobachtung der oben analysierten Ereignisse: zum einen die Feierlichkeiten zum 9. Mai, dem Tag des Sieges; zum anderen die theatralisierte Show anlässlich der Abschiedsfeier für die Rekruten. Wenngleich der 9. Mai durch die Erinnerung an die Opfer des Krieges an den Gemeinschaftssinn der Anwesenden appellieren soll, so ist die Feier vom Ablauf her kaum geeignet, überbordende kollektive Emotionen zu erzeugen; dazu ist sie viel zu formal und hierarchisch aufgebaut und von oben her organisiert. Lediglich der eine zentrale Moment – die Minute des Schweigens im Gedenken an die Toten – hat etwas von kollektiver Ergriffenheit und besitzt ein Quäntchen communitas, denn in dieser Minute spielen Status und Hierarchie der anwesenden Personen keine Rolle mehr, die Handlung ist für einen Moment ausgesetzt, und die Menschen haben die Möglichkeit, in sich hineinzuhorchen und sich gleichzeitig als Teil einer Gemeinschaft von Mit-Fühlenden zu empfinden. Tatsächlich dürfte dies der Moment sein, in dem die Bedeutung des Opfers für das Überleben und den Zusammenhalt der Gemeinschaft am stärksten empfunden wird. Das Gedenken ist aber keinesfalls ein Moment der Krise oder gar der Unberechenbarkeit, sondern ein eindeutig vorhersagbares Schlüsselereignis, das jährlich wiederholt wird. Wesentlich größeres Potenzial sozialer „Gärung“ steckt in der abendlichen Disco, dem freudigen Befreiungsschlag, der auf das Gedenken folgt, und der nicht wenige Menschen zu transgressiven Handlungen inspiriert, die unerwartete Folgen haben können. Aber selbst dieses „Prickeln“ ist nicht dazu angetan, erdrutschartige Veränderungen im sozialen Gefüge der Kleinstadt herbeizuführen. Das Resultat sind also keine revolutionären Erregungen, sondern „lediglich“ neue Allianzen, die gewohnten Mustern folgen. Kollektive Efferveszenz findet an anderer Stelle statt. Sie betrifft die Personen auf der Bühne, zumal die jüngeren und unerfahreneren unter denen, die auftreten. Sie erfahren sich neu im gemeinsamen Lampenfieber, im quirligen Durcheinander der hektischen Minuten vor dem Auftritt und dann schließlich in der (hoffentlich) geordneten, oft sogar symmetrisch angelegten Choreographie ihrer Darbietung. Sie bieten nicht nur ein Werk dar, sondern sie bieten auch sich selber der Menge dar; sie nehmen das auf sich, wozu viele andere viel zu feige wären – die Vergegenwärtigung einer kultivierten représentation als kollektiver Körper. Sie opfern sich auf, um im Namen der Gemeinschaft bestimmte Werte zu regenerieren. Die Personen auf der Bühne unterziehen sich einer „kollektiven Magie“:

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Bei dieser Art von Efferveszenz geht es nicht – wie bei der Disco – um das anarchische Gewurle der Körper im Sinne von Maffesoli ([1988] 1996), sondern um eine wohlgeformte, taktvolle, „feine, delikate Handlung“ (Kosinceva 2005: 4). Aber auch für diese Art der körperlichen Betätigung gilt, dass die Motorik, der Rhythmus und die Virtuosität der Darbietung dazu geeignet sind, Emotionen nicht nur zu repräsentieren, sondern sie in den Darstellern zu produzieren (Schnepel 2008: 124). Der Rhythmus treibt die körperlichen Bewegungen und Empfindungen an.29 Das prickelnde Gefühl setzt nicht unbedingt während der Vorführung selbst ein, denn dazu sind die Ausführenden noch viel zu sehr mit dem eigenen Körper und denen um sie herum beschäftigt („Die vor mir ist schon wieder aus dem Takt!“ – „Der neben mir ist schon wieder zu sehr aus der Reihe getanzt!“). Oft ergreift es das Kollektiv unmittelbar nach dem Abgang von der Bühne, nachdem das Publikum seinen Beifall bekundet hat. Breit macht sich eben jenes Gefühl, das wohl auch die siegreiche Fußballmannschaft nach der Rückkehr in ihre Kabine ergreift.30 In solchen Momenten haben die Beteiligten das Gefühl, dass sie über sich selbst hinausgewachsen sind, dass sie aufgrund der kollektiven Leistung etwas geschafft haben, was niemand von ihnen alleine hätte bewerkstelligen können. Es ist ein Gefühl der Transzendenz. Wenn das prickelnde Gefühl der feuchtfröhlichen Feier (II) transgressive Züge hat, so hat das prickelnde Gefühl nach erfolgreicher Darbietung im Rahmen der Feier (I) transzendente Züge. Sowohl Transgression als auch Transzendenz bringen Bewegung zum Ausdruck: Transgression ist das Überschreiten von Grenzen (d.h. sozialen Normen, Konventionen), Transzendenz das Überwinden des Mittelmäßigen (Konventionellen), das Emporsteigen (zu letzterem vgl. Durkheim 29 Vgl. Allen (1998: 159); Carrithers (1985: 247); Savova (2011). In Kapitel 8 wende ich mich den Selbsttechniken (Technologien des Selbst) zu. Diese stehen zweifellos mit der Entwicklung der Körpertechniken in Zusammenhang. Marcel Mauss’ Arbeit über Körpertechniken liegt mir vor, sie erscheint mir jedoch aufgrund der nur sehr kursorischen Betrachtungen zum Thema Tanz ([1950] 1999: 380-381) wenig zur Vertiefung dieser Frage geeignet. 30 Die Parallelen zwischen Sport und kulturellen Aktivitäten sind vielfältig, sie betreffen nicht nur die körperliche Selbst-Erfahrung und die „Arbeit an sich selbst“, sondern auch den moralischen und gesundheitlichen Nutzen, welcher diesen Betätigungen in der öffentlichen Meinung zugemessen wird.

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1994: 289).31 Kul'tura steht im Zeichen der Transzendenz, des Über-Sich-SelbstHinauswachsens. Demgegenüber ist der Akt der Transgression, des Entgleisens, das Gegenteil von dem, was kul'tura ausmacht. Vom Publikum und den (Laien-)Darstellern auf der Bühne war bereits die Rede, es fehlt noch eine ergänzende Bemerkung zur emotionalen Erregung der Kulturarbeiterinnen selbst. Da sie ja zur Planung und Durchführung solcher Events „berufen“ sind, dürfte sich ihr Lampenfieber mit den Jahren legen, wobei sie jedoch im Jahreslauf mit besonders kritischen (weil ausschlaggebenden) Ereignissen konfrontiert werden. Eine eindrucksvolle Beschreibung einer solchen Situation liefert Donahoe (2011), der im Rahmen unseres vergleichenden Studie im April 2006 in Šagonar, einer Kleinstadt in der südsibirischen Republik Tyva (Tuwa) eintraf, als gerade Vorbereitungen auf einen republikweiten Wettbewerb anstanden: „[T]he entire town, it seemed, was actively involved in preparation for the single biggest event of the year, a talent competition called Tyva – Bisting Örgeevis. […] It was to be held in Kyzyl that very first weekend of my field research, and everyone was frantically rehearsing their various musical and dance numbers. […] With everyone exhausted but upbeat after the successful dress rehearsal, the meeting turned out to be more than an organizational meeting – it was also an inspirational meeting, with everyone getting psyched up to do his/her best. They weren’t out just to participate – they were going to win the whole thing!“ (Donahoe 2011: 121-123)

Donahoe berichtet dann, wie die Hoffnungsträger innerhalb von Stunden das Geld zusammenkratzten, um die Reise nach Kyzyl, die Hauptstadt der Republik, zu bewerkstelligen. Nach dem Auftritt machte sich unter den Leuten aus Šagonar ein Gefühl der kollektiven Efferveszenz breit: „The show went extremely well, much better even than the dress rehearsal. Outside in the parking lot after the show there was a sense of euphoria from being finished and having pulled it off, with a dawning realization, fuelled by the enthusiastic comments of other teams, that maybe this year [they] will pull in the grand prize“ (Donahoe 2011: 124)32 31 Der Gedanke, Transgression und Transzendenz als zwei Varianten der Efferveszenz zu kontrastieren, kam mir aufgrund der Ausführungen von Ramp (1998: 144), der in seiner Analyse von effervescence übrigens auch direkt auf den Tag des Sieges (Victory in Europe Day, VE Day) verweist: „[W]ho could deny the emotion, personal and collective, generated in extra-ordinary gatherings at signal points in time: VE Day, rock concerts, revival meetings – or the Nuremberg rallies?“ (Ebd.: 147) 32 Leider reichte es dann doch nur für den Platz Drei, wobei wohl auch gewisse politische Animositäten zwischen den Teilregionen von Tyva eine Rolle spielten, wie Donahoe ausführt.

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Kollektive Efferveszenz entsteht auch im umgekehrten Fall, wenn der Besuch einer Kommission aus der Hauptstadt ansteht. Wie wir aus dem Bericht von Sántha und Safonova (2011) bereits wissen, kann dies eine ganze Kleinstadt „elektrisieren“. Andererseits verdanken wir ihnen aber auch die Beobachtung über pokazucha, womit ich mich der zweiten der beiden oben gestellten Fragen zuwende. Wenngleich ich hier keine definitive Antwort zu geben vermag, so scheint mir, dass eine Aufführung, die nur dem schönen Schein dienen soll, genauso – oder vielleicht sogar noch mehr – viel Konzentration erfordert wie eine Aufführung, hinter der ein echtes Interesse, eine innere Motivation, steht. In beiden Fällen wird ja etwas vorgestellt (vorgemacht), und in beiden Fällen soll die Vorstellung gelingen. Die ernste, gelegentlich indifferente oder bedrückte Miene rührt m.E. aus dem Zustand der besonderen Konzentration. Auch im Falle von pokazukha gibt es die Sorge, dass die Mitspielenden die Show durch irgendwelche Ungeschicktheiten verderben könnten, die Gruppe ihr Gesicht verlieren könnte und die Adressaten den wahren Charakter der Veranstaltung „durchschauen“. Andererseits scheinen sowohl die Rezipienten (im konkreten Falle die Kommission) als auch die Produzenten und Ausführenden der Darstellung zu wissen, dass die Show nur dem schönen Schein dient. Es ist gar nicht von Bedeutung, welche Motivation hinter der Show steht, wie sorgsam oder lieblos sie ausgeführt wird, manchmal ist es noch nicht einmal von Bedeutung, ob sie tatsächlich oder nur als Idee (auf dem Papier) stattfindet oder stattgefunden hat. Mehr noch, in ihrem Wissen darum befinden sich alle Beteiligten in Komplizenschaft. „Elektrisierend“ wirkt auf die Laienkünstler und auch auf die Kulturarbeiterinnen die Nachricht, dass die Kommission tatsächlich eintrifft, dass also tatsächlich demnächst der Besuch ansteht, der die Selbstpräsentation und den schönen Schein verlangt. Schließen möchte ich diesen Abschnitt mit der Bemerkung, dass die beiden hier herausgearbeiteten Varianten der kollektiven Efferveszenz – sowohl der Akt der Transgression als auch der der Transzendenz – in einem komplementären Verhältnis stehen. Hier sehe ich eine Parallele in dem von Pesmen (2000: 176) angesprochenen Verhältnis von Alkoholisierung und Kultivierung: „as if they occupied the same place“. Diese beiden Prozesse schließen sich normativ aus, wenngleich sie im konkreten menschlichen Miteinander (po-čelovečeski) durchaus simultan auftreten können. In Kapitel 8 werde ich die Phänomene der Transzendenz und Transgression wieder aufgreifen und sie mit Foucaults Konzepten der Selbsttechniken und der Ästhetisierung der Existenz in Beziehung setzen.

Kapitel 5 Kultur und Patriotismus: Kompatible Normen und Projekte

Ljudmila Andreevna Lysjakova (die Kulturarbeiterin, die sowohl in Kolyvan’ als auch später für Točmaševec tätig war) äußerte mir gegenüber mehrfach ihr Bedauern darüber, dass die späten 1980er und die gesamten 1990er Jahre von Chaos und Gewissenlosigkeit geprägt gewesen seien, was sich negativ auf die Entwicklung der Jugend ausgewirkt habe: „Mehr als eine Generation haben wir [dadurch] verloren“. Die Klage, die sie führt, wurde auch von vielen anderen (erwachsenen) Personen, die ich interviewte, zum Ausdruck gebracht. Der beklagenswerte Zustand der jungen Generation wird immer wieder thematisiert – von Politikern, Soziologen, in der Presse, ebenso wie in Gesprächen am Küchentisch (s. den letzten Abschnitt in Kpaitel 2; vgl. Ries 1997; Zabka 2011: 198-209). Es ist nicht nur die brachiale Einführung des Kapitalismus, es sind auch die Abkehr von der charakterlichen und patriotischen Erziehung und das laissez faire der 1990er Jahre, die heutzutage von vielen Kulturarbeiterinnen und Politikern für die Verwahrlosung der Jugend verantwortlich gemacht werden. Dazu gesellt sich das vielfach geäußerte Gefühl, dass solche „West-Importe“ wie Verherrlichung von Gewalt im Fernsehen,1 Pornogra-

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Wenngleich auch die in sowjetischer Zeit gedrehten Kriegsfilme grausame Szenen enthalten, so wird ihnen von den älteren Personen ein moralischer Wert zuerkannt, da diese Filme den Sieg der sowjetischen Gesellschaft über den faschistischen Angriff thematisieren. Demgegenüber werden im russischen Fernsehen gezeigte amerikanische Produktionen aus den 1990er Jahren oft mit der sinnlosen und unmoralischen Zurschaustellung von roher Gewalt assoziiert. Seit Mitte der 2000er Jahre ist in der russischen Filmindustrie ein neuer Professionalimus und eine verstärkte Hinwendung zu historischen Themen zu beobachten, was auch im Zusammenhang mit den staatlichen Programmen zur Propagierung des Patriotismus zu sehen ist (Le Huérou/Sieca-Kozlowski 2008: 18). Zur Entwick-

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phie und die Propagierung freier Liebe wesentlich zur Zersetzung der Moral der Bevölkerung in Russland insgesamt beigetragen haben. Umso mehr werden staatliche Initiativen zur Förderung der sittlichen Werte und der Liebe zum Vaterland von vielen, ja wohl den meisten, Mitarbeiterinnen der pädagogischen und kulturellen Einrichtungen gutgeheißen. Die folgenden Abschnitte sind einer genaueren Betrachtung der Grundlagen und der Ausführung des staatlich „verordneten“ Patriotismus gewidmet. Ausgehend von den gesamtstaatlichen Richtlinien zur patriotischen Erziehung, den kritischen Exegesen dazu und dem gesellschaftlichen Kontext, in dem die patriotische Erziehung stattfindet, bewege ich mich auf die „lokale Sicht“ der Dinge zu. Mich interessiert die Rolle, die das Kulturhaus in der Vermittlung dieses gesamtgesellschaftlichen Projekts einnimmt. Teilweise geschieht diese Arbeit in Kooperation mit den in Kapitel 3 schon genannten Institutionen (Schulen, Bibliotheken usw.), aber darüber hinaus in Kontakt mit Organisationen ganz anderer Art: dem Militär, der DOSAAF2 und den Veteranenverbänden. So lässt sich ein Feld konstatieren, in dem kulturelle, militärische, spielerische und wehrsportliche Aktivitäten ineinander übergehen. Ich komme in diesem Kapitel zu dem Ergebnis, dass Kulturarbeit und patriotische Erziehung recht ähnliche Botschaften an die Bevölkerung enthalten: beide propagieren die Besinnung auf die Werte, die frühere Generationen geschaffen haben, und die Besinnung auf das solidarische Prinzip, also das Einstehen für die gemeinsame (kommunale bzw. staatsbürgerliche) Sache.

G ESAMTSTAATLICHE R ICHTLINIEN PATRIOTISCHEN E RZIEHUNG

ZUR

Die Bemühungen der russländischen Regierung zur Stärkung des Patriotismus im Lande sind in drei offiziellen Programmen konkretisiert. Mitte März 2001, also etwa ein Jahr nach dem erstmaligen Amtsantritt Vladimir Putins als Präsident, wurde ein „Staatliches Programm zur patriotischen Erziehung der Bürger der Russischen Föderation 2001-2005“ (Gos. Programma 2001-2005) verkündet (ausführlich dazu Scherrer 2001). Eine Fortführung des Programms für das nächste Jahrfünft (Gos. Programma 2006-2010) wurde von der Regierung im Juli 2005 verabschiedet.3 Im

lung des Genres Kriegsfilm in Russland seit 1991 siehe Gillespie (2005); Laruelle (2009: 185-188) gibt ergänzende Angaben über Filme und Fernsehserien. 2

Dobrovol'noe obščestvo sodejstvija armii, aviacii i flotu (Freiwilligenvereinigung zur Unterstützung der Armee, Luftfahrt und Flotte), mehr dazu weiter unten.

3

Als genauere Auslegung zu diesen beiden Programmen wurde ein „Konzept zur patriotischen Erziehung der Bürger der Russischen Föderation“ erstellt (Koncepcija 2003) und

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Oktober 2010 schließlich wurde das Programm zur patriotischen Erziehung für die dritte Phase (2011-2015) beschlossen. Der Inhalt dieser Dokumente ermöglicht wichtige Rückschlüsse auf die staatliche propagierten Ideale der Erziehung und auf das offiziell deklarierte Verhältnis von Staat und Individuum, allerdings soll nur das aktuelle Programm zur patriotischen Erziehung (Gos. Programma 2011-2015) hier vorgestellt werden.4 Programm zur patriotischen Erziehung der Bürger der Russischen Föderation 2011-2015 Das im Oktober 2010 verabschiedete Programm umfasst neben dem Haupttext auch drei Anlagen (im Internet veröffentlicht): 1. einen sehr ausführlichen Katalog von Maßnahmen, die der Umsetzung des Programms dienen; 2. ein Budget, und 3. eine Aufstellung von Indizes zur Beurteilung der erfolgreichen Umsetzung. Wenden wir uns zunächst dem Haupttext zu. Im Vergleich zu den beiden vorhergehenden Phasen ist die Beurteilung der Ausgangssituation in der Phase 20112015 überaus positiv. Das Programm konstatiert: „Die Organisation der patriotischen Arbeit vervollkommnet sich. Das Niveau und die Effizienz der Durchführung von Festivals des künstlerischen Schaffens, Wettbewerben, Ausstellungen und Wettkämpfen ist gewachsen. Zur Durchführung der Maßnahmen mit patriotischer Ausrichtung wird das Potenzial der Zentren der traditionellen Volkskultur, der Theater, Bibliotheken und Museen genutzt. Erneuert hat sich die Durchführung von militärisch-sportlichen Spielen und anderen Maßnahmen, die auf die militärisch-patriotische Erziehung Jugendlicher orientiert sind. Wieder eingeführt wurden traditionelle, in der Vergangenheit bewährte Formen der pädagogischen Arbeit. In der Tätigkeit der staatlichen Stellen (organov gosudarstvennoj vlasti) finden Innovationen der pädagogischen Arbeit breite Anwendung. Die Arbeit mit der studentischen Jugend verbessert sich. Junge Leute arbeiten aktiv in gesellschaftlichen Vereinigungen, deren Tätigkeit auf die patriotische Erziehung der Bürger ausgerichtet ist.“ (Gos. Programma 20112015: Teil I) von der Regierungskommission für soziale Fragen der Wehrdienstleistenden, der aus dem Wehrdienst Entlassenen und den Familienangehörigen verabschiedet. 4

Wesentlichen Anteil an der Erstellung der Programme hat das Staatliche Zentrum für militärische Kulturgeschichte (Rossijskij gosudarstvennyj voennyj istoriko-kul'turnyj centr pri Pravitel'stve Rossijskoj Federacii oder kurz Rosvoencentr). Laruelle (2009: 180-182) liefert weitere Details zu dieser und einer weiteren Einrichtung namens Rospatriotcentr (Rossijskij centr graždanskogo i patriotičeskogo vospitanija detej i molodeži), das 2001 auf Grundlage des ersten staatlichen Programms gegründet wurde. Beide Organisationen sind im Internet präsent (rosvoencentr-rf.ru, rospatriotcentr.ru).

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Die Grundlagen für die patriotische Erziehung seien also im Wesentlichen gelegt, so das Programm, allerdings seien weiterhin grundlegende Verbesserungen nötig, vor allem in folgenden Bereichen: „die Vervollkommnung der Gesetzgebung der Russischen Föderation in diesem Bereich, die Modernisierung der materiell-technischen Basis der patriotischen Erziehung, […] die Entwicklung des Systems der patriotischen Erziehung in den Arbeitskollektiven, die aktivere und breitere Einbeziehung der Medien und der Kultur in diese Tätigkeit sowie die breitere Nutzung der Möglichkeiten des Internets.“ (Ebd.)

Die angestrebten Verbesserungen zielen also auf eine Ausweitung der Institutionen und Technologien, mit deren Hilfe patriotische Erziehung realisiert soll. Eine Neuerung im Vergleich zu den beiden vorhergehenden Programmen ist die Einführung von Indizes (pokazateli), anhand derer die erfolgreiche Umsetzung des Programms beurteilt werden kann. Diese erinnern an die Kennziffern, die auch die Kulturhäuser in ihren Berichten an die örtlichen und regionalen Kulturämter senden sollen. Mit diesen Planvorgaben finden sich in dem Programm der dritten Phase überaus deutliche Reminiszenzen an sowjetische Planungs- und Kontrollpraktiken der Kultur- und Erziehungsarbeit, daher gebührt ihnen das ausführliche Zitat: −

„Anteil der Bürger, die an Maßnahmen zur patriotischen Erziehung teilnehmen, in Relation zur Gesamtzahl der Bürger (in Prozent);



Anteil der Bürger, die die Resultate der Durchführung der Maßnahmen zur patriotischen Erziehung positiv einschätzen (in Prozent);



Anzahl der unterrichteten Organisatoren und Spezialisten der patriotischen Erziehung (in Tausenden Personen);



Anzahl der von föderalen staatlichen Stellen ausgeführten Maßnahmen zur patriotischen Erziehung in Relation zur geplanten Anzahl (in Prozent);



Anzahl der tätigen patriotischen Vereinigungen, Klubs, Zentren, einschließlich derjenigen für Kinder und Jugendliche (in Tausenden);



Anzahl der historisch-patriotischen, heroisch-patriotischen (geroiko-patriotičeskich) und militärisch-patriotischen (voenno-patriotičeskich) Museen (in Erziehungs- und anderen Einrichtungen, in Betrieben, Vereinigungen usw.) (in Tausenden)



Anzahl der Wehrsportlager (oboronno-sportivnych lagerej) (Zahl)

− Anzahl der Forschungsarbeiten zu den Problemen der patriotischen Erziehung und Grad ihrer Einbringung in die Praxis der Exekutivorgane und Organisationen (Stück/Prozent).“

So weit der Wortlaut der ersten Spalte der Kennziffern (Gos. Programma 20112015, Anlage/priloženie № 3). Kultureinrichtungen werden im Haupttext und in den Anlagen des Programms ausdrücklich in die Aufgabenstellungen einbezogen. Insgesamt wird die Arbeit mit

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Jugendlichen stärker betont als in den vorhergehenden Phasen. Die „Propagierung des Patriotismus in den Medien (propagandy patriotizma v sredstvach massovoj informacii)“ wird unumwunden als einer der Mechanismen der Umsetzung des Programms genannt. Über die Rolle des Individuums oder gar das patriotische Selbstverständnis der Bürger erfahren wir aus den Zeilen des Dokuments nur in indirekter Form. Abgesehen von der Bemerkung, dass das „patriotische Bewusstsein der Bürger der Russischen Föderation zugenommen“ habe und dass dieses Bewusstsein „einen der Faktoren der nationalen Einigung“ darstelle, findet sich nur die Forderung, dass die „Rolle der staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen in der Formierung eines hohen patriotischen Bewusstseins bei den Bürgern der Russischen Föderation“ gestärkt werden solle. Kein direkter Hinweis also auf den eigentlichen Gehalt oder Inhalt der patriotischen Gesinnung. Indirekte Hinweise finden sich in der Formulierung des Ziels, die „Dynamik des Patriotismus im Lande“ zu fördern und in ihren Unterpunkten: bezweckt werden „das Anwachsen der sozialen und arbeitsmäßigen Aktivität der Bürger, vor allem der Jugend, ihr Beitrag zur Entwicklung der hauptsächlichen Lebens- und Tätigkeitssphären der Gesellschaft und des Staates, die Überwindung von extremistischen Bekundungen einzelner Gruppen der Bevölkerung, die Wiedergeburt der Geistlichkeit (duchovnosti), die sozioökonomische und politische Stabilität und die Stärkung der nationalen Sicherheit“.5 Auf die Frage, wer in Russland diese Anleitungen und Ausführungen tatsächlich in welcher Weise ernst nimmt, werde ich erst später in diesem Kapitel eine Antwort versuchen.

I NTERPRETATIONEN

DER

H INWENDUNG

ZUM

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Was sind Anlass und Beweggründe für die Propagierung der patriotischen Erziehung, wieso enthält ihre Rhetorik so eindeutig militärische Elemente, und wie (bzw. wie ernsthaft) wird sie umgesetzt? Wenden wir uns zunächst den kritischen Exegesen zu, die (da das Programm zur patriotischen Erziehung eine kritische Auseinan-

5

Manche Autoren beschreiben Patriotismus als einen Charakterzug, der den Menschen in Russland zueigen sein soll, so z.B. der Militärhistoriker Zolotarev (2006: 8): „Gerade mit der Militärgeschichte sind hervorragende Traditionen (lučšie tradicii) Russlands verbunden. Das Gedächtnis des Volkes bewahrt sorgsam all das, was mit der Verteidigung des heimischen Herdes, der Reliquien und Grabsteine des Vaterlandes verbunden ist. Die hervorragendsten Wesenszüge (lučšie čerty duši) des Russen sind Patriotismus, Treue hinsichtlich dem Dienst (dolg) für das Vaterland, Ehre und Würde, der militärische Ruhm des Vaterlandes.“

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dersetzung mit seiner Grundidee implizit ablehnt6) kaum in russländischen, sondern eher ausländischen Publikationen zu finden sind. Die kritischen Auslegungen nähern sich der patriotischen Erziehung aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Kritik an der patriotischen Erziehung aus pädagogischer Sicht Beginnen möchte ich die Betrachtung mit der Analyse, die Anatoli Rapoport (2009) bietet. „[A]uthors with opinions on patriotism alternative to official ones are rare guests on the pages of major educational journals in Russia“, so Rapoport (2009: 142). Einen von ihnen, Bol’šakov, zitiert er folgendermaßen: diejenigen, die am meisten über den Mangel an Patriotismus im heutigen Russland besorgt sind, seien in der Regel Angehörige der älteren Generation; für sie gehe es um den Patriotismus der sowjetischen Art, mit dem sie aufgewachsen sind und der ihr Leben geprägt hat – insofern handele es sich um den Wunsch nach Rückkehr zu den altvertrauten Werten (Bol’šakov 2004, zit.n. Rapoport 2009: 146). Eine weitere kritische Stimme bringt zum Ausdruck, dass angesichts der recht geringen Finanzmittel, die der Staat für die Umsetzung des Programms zur patriotischen Erziehung vorgesehen hat, die Wende in der Erziehungspolitik „eher stilistisch denn substantiell“ ausfallen dürfte (Karpov/Lisovskaja 2005: 45). Hier widerspricht Rapoport allerdings und kommt zu dem Schluss, dass die sorgfältig orchestrierte, durch staatlich kontrollierte Medien, Verlagshäuser und politische Jugendorganisationen betriebene patriotische Wende in der Erziehungspolitik nicht als bloße symbolische Geste betrachtet werden kann (Rapoport 2009: 151). Die neuerliche Hinwendung zur patriotischen Erziehung und die Wiedereinführung von Wehrkunde als Schulfach wird auch von russischen und auswärtigen Erziehungswissenschaftlern und Historikern in dem Konferenzband Educational Reform in Post-Soviet Russia (Eklof/Holmes/Kaplan 2005) diskutiert. Unter anderem findet sich hier der Beitrag von Karpov und Lisovskaya (2005), auf den sich Rapoport kritisch bezieht (s.o.). Janet Vaillant (2005) vertritt die Meinung, dass die Propagierung der patriotischen Erziehung keinen Sinn macht, solange eine einseitige und unkritische Version der Geschichte Russlands und der Beziehungen seiner ethnischen Gruppen an den Schulen gelehrt wird (2005: 238). Dem lässt sich hinzufügen, dass die in den Teilrepubliken unterrichtete regionale Geschichte und Geographie (kraevedenie) seit 2009 nicht mehr Bestandteil des obligatorischen Lehrplans sind und nurmehr fakultativ vermittelt werden (Kirill Istomin, Mitt. 23. Februar 2011). Dieser Umstand und die in den Programmen zur patriotischen Erziehung ge6

Das Programm 2006-2010 enthält die Absichtserklärung, „Versuchen der Diskreditierung und Abwertung der patriotischen Idee in den Medien entgegenzuwirken“ (Gos. Programma 2006-2010, Teil IV, Abs. 4).

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äußerte Notwendigkeit, „Verdrehungen“ der vaterländischen Historiographie entgegenzuwirken, signalisieren m.E. die Rückkehr zu einer einheitlichen und politisch „korrekten“ Version der Geschichte Russlands, seiner Völker und seiner außenpolitischen Beziehungen (vgl. Zolotarev 2006). Die Konturen einer militarisierten Gesellschaft Rapoport (2009) argumentiert unter anderem, dass die Begriffe „patriotische Erziehung“ (patriotičeskoe vospitanie) und militärisch-patriotische Erziehung (voennopatriotičeskoe vospitanie) im Grunde austauschbar sind, denn im ersteren ist das militärische Element immer schon mitcodiert. Was die staatlichen Programme und andere offizielle Verlautbarungen angeht, so dürfte dies zutreffen. Weiter unten wird Rapoports These jedoch modifiziert: neben dem olivgrünen Patriotismus, von dem hier die Rede ist, lässt sich noch ein weiterer Diskurs über Patriotismus ausmachen, der eher „zivile“, zuweilen zivilgesellschaftliche Züge trägt. Der militärisch geprägte Diskurs ist jedoch der dominierende. Dezidiert pazifistische Positionen sind in der russischen Gesellschaft sehr selten zu finden. Um den Frieden zu wahren, muss die eigene Nation wehrhaft sein, so die Meinung vieler.7 Patriotismus wird also offenbar nicht pazifistisch gedacht, sondern militärisch. Es stellt sich die Frage, wieso das Militärische eine so starke Komponente des Alltagslebens darstellt und eine so große symbolische Bedeutung aufweist – in der sozialistischen Vergangenheit ebenso wie in der Gegenwart. Antworten auf diese Frage wurden bereits in den späten 1990er Jahren vorgelegt. Harald Bluhm (1997) vertritt die These, dass der militaristische Duktus im Projekt des Sozialismus insbesondere von Lenin gepflegt wurde. Er entspricht der revolutionären Tradition, dem Primat des Klassenkampfes und der Rolle der Bol'ševiki als Speerspitze der proletarischen Auflehnung. Die Rhetorik des „militarisierten Sozialismus“ (Michael Mann) habe sich, so Bluhm, auch in der DDR durchgesetzt, vor allem in der „Berichterstattung von allen ‚Fronten‘ des Klassenkampfes, vom äußeren und inneren Feind bis zur Schlacht in der Ernte und der Produktion“ (Bluhm 1997: 8-9). Manfred Sapper ([1999] 2005) vertritt eine ähnliche Ansicht und stellt die These auf, dass die russische Gesellschaft während der 1990er Jahre es kaum vermochte, von einem militarisierten in einen zivilen (nichtmilitärischen) Zustand überzugehen – gleichzeitig aber Fernsehbilder aus dem Tschetschenienkrieg die miserable Situation der schlecht ausgestatteten und demoralisierten Armee der ganzen Nation vor Augen führten (vgl. auch Oushakine 2009: 7

Dieser Patriotismus wirkt auf mich wie der trotzige Stolz einer Nation, deren Angehörige gern behaupten, Russland müsse seinen eigenen Weg gehen, habe wenig Freunde, werde von anderen Nationen nicht anerkannt. Es ist der Patriotismus einer Gesellschaft, die sich selbst in vielerlei Hinsicht als isoliert betrachtet.

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130ff.). Die zivilgesellschaftlichen Organisationen seien schwach ausgeprägt, es gebe keine zivile Kontrolle über militärische und paramilitärische Institutionen, zumal diese mit den Jahren immer unübersichtlicher geworden seien. Was bei Bluhm gar nicht und bei Sapper nur sehr knapp zum Ausdruck kommt, ist der Stolz über den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten im Zweiten Weltkrieg – im „Großen Vaterländischen Krieg“, wie er in der Sowjetunion genannt wurde bzw. in Russland genannt wird. Mehr als jedes andere Ereignis hat der gewonnene Krieg die Völker der Sowjetunion zusammengeschmiedet, er bietet auch heute eine wichtige Basis für eine positiv empfundene nationale Identität (bspw. Tjuškevič 2006; vgl. Oushakine 2009: 36). Die Tatsache, dass die Sowjetunion und die Rote Armee zu jener Zeit von Stalin geführt wurden, führt zu großen Ambivalenzen in der Interpretation der Umstände und Folgen des militärischen Sieges – mit Verfechtern der Rehabilitierung Stalins auf der einen Seite und Anhängern der These, dass Stalin Abertausende von Menschen in diesem Krieg willentlich geopfert hat, auf der anderen Seite (Laruelle 2009: 190-191; Merridale 2003) – aber dennoch steht außer Frage, dass das ganze Volk an dem Sieg seinen Anteil hatte und stolz darauf sein darf. Jegliche kritische Äußerung zur damaligen Kriegsführung hat etwas Ehrverletzendes (vgl. Rapoport 2009: 149), vor allem, wenn sie aus den Reihen der eigenen Bevölkerung kommt. Tatsächlich gibt es wohl kaum eine Siedlung, kaum eine Familie in Russland, die keine Opfer zu beklagen hat. In allen größeren Dörfen und in allen Städten stehen Ehrenmale an zentralen Plätzen; vielerorts verfügen Schulen über Kabinette, die mit Fotografien der Gefallenen, Überlebenden und den „Mithelfern im Hinterland“ (truženiki tyla) sowie mit anderen Reminiszenzen an die Kriegsjahre erinnern. In dem Maße, in dem kaum mehr Veteranen des Krieges unter den Lebenden sind, werden alle, die in den 1940er Jahren schon gelebt haben, zu Adressaten kollektiver Verehrung (s. Kapitel 4). Serguei Oushakine (2009) zufolge ist es nicht so sehr die Freude über den errungenen Sieg, sondern das gemeinsam erinnerte und verinnerlichte Leiden, das die Familien, die Kommunen und das Land als ganzes verbindet: „solidarity emerges in the process of sharing losses, and communities are built around practices of incorporating past suffering in the present“ (ebd.: 201). Patriotische Erziehung besteht zu einem nicht geringen Teil aus der Weitergabe dieses Erinnerungskultes und der Bereitschaft, Leid zu teilen, an die junge Generation (vgl. Agadjanian und Rousselet 2010: 319). Vielerlei Siege des russischen Heeres – sei es in Kulikovo Pole 1380 oder Borodino 1812 − sind Gegenstand des kollektiven Erinnerns, aber der Große Vaterländische Krieg ist der wichtigste Topos in dieser Hinsicht. Junge Menschen in Russland sollen sich nicht nur der historischen Größe ihrer Heimat bewusst sein, sondern auch gewappnet sein für mögliche künftige Bedrohungen. Sie sollen bereit sein zur Verteidigung ihres Vaterlandes, sie sollen bereit sein, Opfer zu bringen, im äußersten Falle sich selbst zu opfern.

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Ergänzt und abgerundet werden die oben erörterten kritischen Auslegungen der patriotischen Erziehung von Marlène Laruelle (2009) sowie von den Autoren des von Anne Le Huérou und Elisabeth Sieca-Kozlowski (2008) herausgegebenen Bandes. Die beiden letzteren beleuchten in der Einleitung zu dem Band die Rolle der Jugend in Russland als Scharnier zwischen Gesellschaft und Armee (ebd.: 30), d.h. die militärisch-patriotische Erziehung ermöglicht die frühe Heranführung der heranwachsenden Generation an die militärischen Aspekte des Lebens. „Diese Inanspruchnahme der Jugend scheint sich in einen größeren Kontext einzufügen, nämlich in das Projekt der Militarisierung [der Gesellschaft]“ (ebd.: 20, Übers. JOH). Die Armee scheint – trotz ihres nach wie vor negativen Images – ganz allmählich wieder als tragende Säule der russischen Gesellschaft anerkannt zu werden.8 Die Reputation der Armee wird immer wieder durch Berichte über unzureichende Versorgung der Soldaten mit Kleidung, Nahrung u.a., Misshandlungen und Erniedrigungen (dedovščina) und tödliche Unfälle in Zweifel gezogen (Daucé 2008; Webber 2008; zur Interpretation der Situation der russischen Armee in Tschetschenien vgl. Oushakine 2009). Jugendliche ebenso wie ihre Eltern äußern heute ihre kritische Einstellung zur Armee in recht unverblümter Weise, so Webber (2008: 188). Es scheint, dass die Armee in Ansätzen auf diese Kritik reagiert hat: so gelten seit Herbst 2006 neue Regeln im Umgang mit Rekruten.9 Auch lassen sich gewisse verbale Zugeständnisse an die Rekruten, ja fast schon eine Rhetorik des Werbens um junge Menschen beobachten (Webber 2008: 186). Dies geht mit einer verstärkten Anwerbung von Zeitsoldaten einher (s.u.). An die Umwandlung der russischen Armee in eine Berufsarmee, die zeitweilig von den Verbänden der Soldatenmütter gefordert (Daucé 2008: 215) und auch längere Zeit von der Regierung avisiert wurde, ist aber derzeit nicht zu denken. Auch die Einführung des Zivildienstes im Jahre 2003 (ebd.: 217) wird nicht als Alternative wahrgenommen. Ich selbst habe in den letzten zehn Jahren in Russland keinen Jugendlichen kennengelernt, der beabsichtigte, Zivildienst zu leisten. Eher noch versuchen junge Männer, sich durch ärztliche Atteste oder andere Methoden von der Einberufung „freizukaufen“ (vgl. Webber 2008: 178). Für männliche Jugendliche gehört der Wehrdienst zur unvermeidlichen Realität, und die weitaus meisten von ihnen kommen aufgrund der öffentlichen Rhetorik ebenso wie der Äußerungen ihrer älteren Verwandten zu dem Schluss, dass der Wehrdienst zur „Mannwerdung“ unbedingt dazu gehört.

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Das in den 1990er Jahren stark abgesunkene Prestige der Armee und des Wehrdienstes wird von Zolotarev (2006: 17) angesprochen, ausführlich analysiert wird es u.a. von Bannikov (2002) und Oushakine (2009: 131ff.).

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Rekruten erfahren nunmehr vorab über ihren Einsatzort und dürfen per Telefon bzw. Internet Kontakt halten mit ihren Verwandten (Webber 2008: 187).

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Was für junge Männer gilt, ist nicht in gleicher Weise für junge Frauen zutreffend. Im Diskurs über patriotische Erziehung werden sie äußerst selten explizit genannt. Die klassische Rolle, die weibliche Jugendliche in der schulischen Wehrerziehung zu Sowjetzeiten ausfüllten, war die der Sanitäterin (Webber 2008), also der Person, die den (männlichen) Kämpfer zu pflegen und wiederherzustellen versucht.10 Aber auch Mädchen und junge Frauen üben sich im Auseinandernehmen und Zusammensetzen von Gewehren, im Nahkampf und in der Selbstverteidigung, auch sie tragen Tarnkleidung und nehmen Ränge und Posten in militärischen Hierarchien ein (Kursanty 2011). Im Zuge der verstärkten Anwerbung von Zeitsoldaten (voennaja služba po kontraktu, Wehrdienst auf Vertragsbasis) stellt die Armee vielfach Frauen ein.11 Während die Anzahl der Frauen in der russischen Armee prozentual steigt, sind die Berufsfelder für Frauen in der Armee beschränkt auf die Bereiche Ärztin, Krankenschwester, Telefonistin, Technikerin, Köchin, Dolmetscherin, Juristin und Finanzfachfrau12; an direkten Kampfhandlungen sind Frauen demnach nicht beteiligt. Patriotismus, Ausgrenzung, Kooptierung Dieser Zusammenhang zwischen Patriotismus und der Suche nach einer neuen nationalen Idee, nach neuen verbindlichen Werten, soll in diesem Abschnitt eingehender betrachtet werden. Es liegt auf der Hand, dass der Staat – konkret: Präsident und Ministerpräsident, die Partei Edinaja Rossija („Einiges Russland“) und die ihr nahestehenden Eliten – den Appell an den Patriotismus der Staatsbürger zu mehreren Zwecken nutzen können und dies auch tun. Zum einen ermöglicht er es ihnen, sowohl die Armee als auch die Kirche, die jeweils auf ihre Art an der Wiederherstellung der alten Größe interessiert sind, zu kooptieren (vgl. Köllner 2012: 169-192). Zum anderen dient er dazu, nationalistische „Ausbrüche“ nach Möglichkeit unter Kontrolle zu halten, also den in Russland erstarkten nationalistischen Bewegungen etwas entgegenzusetzen und ihnen gleichzeitig ein Angebot zur Zusammenarbeit zu machen. Alle hier genannten Beweggründe werden eingehend von der Politikwissenschaftlerin Marlène Laruelle (2009) analysiert und in ihrer Entwicklung im poli10 Die symbolische Dichotomie zwischen „dem Weiblichen“ und „dem Männlichen“ in militärischen Auseinandersetzungen wird von Rjabov (2007) analysiert. Frauen nehmen verschiedene symbolische Positionen ein: die Rolle der Repräsentantin des friedlichen Alltagszustandes, der von feindlichen Übergriffen Bedrohten, der Helferin im Hinterland sowie die Rolle der auf den siegreichen Soldaten Wartenden (ebd.: 85-87). 11 Vgl. Rykov (2007). Bogoslovskij (2010) behauptet, 50% der Zeitsoldaten seien Frauen. 12 Nach Angaben einer Nachrichtensendung der Čeljabinsker Staatlichen Fernseh- und Radio-Gesellschaft von 2011 (http://chelyabinsk.rfn.ru/video.html?type=r&id=70789, Abruf 12. März 2014).

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tischen Kontext der letzten zwanzig Jahre erläutert. Sie beschreibt in ihrem Buch den Fremdenhass, der sich in Russland breit gemacht hat, behandelt Nationalismus als Phänomen des außerparlamentarischen Widerstands, als Phänomen des Populismus der Oppositionsparteien sowie als Ausdruck des konservativen Zentrismus der regierenden Partei. Die von Putin und anderen Politikern gemachte Unterscheidung zwischen Patriotismus und Nationalismus ist denkbar einfach: „Patriotism is seen as a positive and constructive value, which turns to pride in oneself rather than the hatred of others, while nationalism is understood as a negative, destructive, and aggressive phenomenon“ (Laruelle 2009: 144). Nationalismus entspringt nach dieser Logik einem Partikulärinteresse, das gegen „Fremde“ (innerhalb wie außerhalb des Staates) durchzusetzen ist, Patriotismus dagegen ist der Appell an das Solidargefühl aller Staatsbürger – unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit – und die Durchsetzung der gemeinsamen Interessen gegen externe, oft als „westlich“ bezeichnete, Mächte. Daher rühren auch die häufigen Rekurse auf das harmonische, familiäre Miteinander der Völker der Russischen Föderation (vgl. den Abschnitt zur Ethno-Kultur in Kapitel 1) und der explizite Verweis auf den multinationalen Charakter des russländischen Staatsvolkes. Dieser wird auch im Staatlichen Programm zur patriotischen Erziehung gewürdigt: „Es wächst die Einsicht, dass die Multinationalität unseres Landes, die Vielfalt der nationalen Kulturen und ihre wechselseitige Durchdringung dem materiellen und geistigen Fortschritt der Gesellschaft dienlich ist“ (Gos. Programma 2006-2010, Teil II). Im öffentlichen Raum und speziell in der Umsetzung zeigt sich allerdings die Tendenz, dass alternative Erinnerungskulturen und Geschichtsschreibungen nach und nach verschwinden – eine Tendenz, die auch Laruelle (2009: 190-191) beobachtet. Die „integrated history of Russia“, die Vaillant 2005 noch vermisste, ist also mittlerweile vorhanden, aber die Kontrolle über sie ist nun zentralisiert. Auch befasst sich seit 2009 eine vom damaligen Präsidenten eingesetzte Kommission mit der Verhinderung „von Versuchen, die Geschichte zum Schaden der Interessen Russlands zu falsifizieren“ (Ukaz Prezidenta 2009). Es scheint, als ob es Platz nur für eine Version der Geschichtsbetrachtung geben könne; ein kritischer Vergleich mehrerer Interpretationen macht zuviel Mühe und birgt zu viele Risiken (Merridale 2003). Im letzten Kapitel ihres Buches charakterisiert Laruelle den Prozess der Kooptierung der Russisch-Orthodoxen Kirche und der Armee und die Schaffung einer gemeinsamen Realität, eines gemeinsamen Erlebens durch die Erinnerung an ausgewählte Schlüsselszenen der russischen und sowjetischen Geschichte an offiziellen Feiertagen („consensus through commemoration“, Laruelle 2009: 157).13 Bezeich13 Laruelle nennt auch die Bereiche des Strebens nach gesellschaftlichem Konsens, auf die sie nicht eingeht: „economic patriotism in the name of safeguarding Russian industries

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nend ist, wie sich der Kanon der Feier- und Gedenktage über die letzten zwanzig Jahre verändert hat. Eine im Herbst 2010 erfolgte Gesetzesänderung rehabilitiert unter anderem den 9. November, den Tag der Oktoberrevolution, als einen Tag des Gedenkens (pamjatnye dni) (Federal'nyj zakon № 32). Die Tage des Gedenkens sind keine arbeitsfreien Tage und somit keine „hohen“ Feiertage. Doch wird gegenüber dem zugrundeliegenden Ereignis eine Referenz, eine positive Würdigung, zum Ausdruck gebracht. Im Falle des 9. Novembers darf dies als eine Wiederannäherung an die kommunistisch orientierten Teile der Bevölkerung sowie die alten und jungen Nostalgiker der Sowjetunion interpretiert werden. Das Zelebrieren von Fest- und Gedenktagen im patriotischen Geiste hat gewisse Züge eines Ahnenkults. Die Erinnerung und Beschwörung einer gemeinsamen (historischen) Herkunft soll das Band zwischen den Generationen stärken. Der Respekt der Jugendlichen gegenüber den Älteren, dessen Mangel oft beklagt wird, wird an diesen Fest- und Gedenktagen zumindest formal erbracht. Patriotische Erziehung wird jedoch nicht nur in dieser, sondern in vielfältiger Weise als Instrument der Kooptierung der jungen Generation in das gesamtgesellschaftliche „Projekt“ genutzt. Die Jugend soll sich durch ihre Kreativität, Energie und Arbeitskraft der Sache des Gemeinwohls nützlich machen. Regierung und Partei definieren die Sphären und Projekte, wo Handeln nötig und legitim ist. Gleichzeitig erfolgt damit das Angebot an die jungen Leute, „sich selbst zu realisieren“ (realizovat' sebja) und der eigenen Existenz eine Perspektive zu geben. Patriotismus dient dem Staat also als Vehikel zur Kooptierung und Integration der einzelnen Teilgruppen der Bevölkerung. Diese Kooptierung kann aber nur gelingen, wenn auch für die andere Seite etwas dabei „herausspringt“. Zudem sind auch die Individuen (Teilgruppen, Subkulturen) in der Lage, den Verweis auf Patriotismus als Instrument zur Verfolgung ihrer eigenen Interessen zu nutzen. Je schwammiger und allumfassender der Begriff des Patriotismus wird, umso allzweckmäßiger, aber auch stumpfer wird er als Instrument, bis er sich letztendlich – im Sinne des performative shift (s. den letzten Abschnitt dieses Kapitels) – in eine inhaltsleere, rein performative Floskel verwandelt. So allseitig und inklusiv ist der and companies, the educational indoctrination of youth, and the latter’s politicization through youth movements inspired by Komsomol and so forth“ (Laruelle 2009: 154). Die Suche nach Konsens und nationaler Einheit ist Thema der Dissertation von Tobias Köllner (2012), der speziell auf das Verhältnis von Kirche und Großunternehmern eingeht und ihre Zusammenarbeit mit der führenden Partei, Edinaja Rossija, bei der Gestaltung und symbolischen Besetzung von Feiertagen und Zeremonien eingeht. Meine eigene Analyse dokumentiert die Zusammenarbeit von Regierung, örtlichen Eliten, kulturellen und pädagogischen Einrichtungen, Militärs, paramilitärischen Gruppen und Jugendorganisationen bei der Formulierung und Ausgestaltung dessen, was Patriotismus konkret sein soll.

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Begriff aber doch (noch) nicht; in seinem Namen finden gegenwärtig nicht nur Kooptierungen, sondern auch vielerlei soziale Ausgrenzungsprozesse statt. Es gibt klare Feindbilder. Es existieren auch zahlreiche Variationen, wie der Diskurs zum Thema Patriotismus „von unten“ genutzt wird, um die explizite Ausgrenzung bestimmter Gruppen zu fordern und möglicherweise selbst in die Hand zu nehmen. Damit bleibt die von Putin und anderen getroffene Unterscheidung zwischen „gesundem“ Patriotismus und „extremistischen“ Nationalismus im Bereich der Schwebe, der ständigen Umbewertung. Die Deutungshoheit darüber, was Patriotismus und was Nationalismus ist, liegt nicht allein bei der Regierung.14

P RAKTISCHE U MSETZUNG

DER PATRIOTISCHEN

E RZIEHUNG

Die praktische Seite der patriotischen Unterrichtung hat mehrere Aspekte, in denen sowjetische Traditionen des Wehrsports sich mit Computerspielen, Boot-Camps, Rollenspielen und historical re-enactment verbinden. Ein Element in der militärisch-patriotischen Erziehung besteht in der Begegnung von Veteranen mit Jugendlichen, meistens in der Schule oder in Einrichtungen wie der örtlichen Bibliothek oder dem Kulturhaus. Die militärisch-patriotischen Klubs, von denen schon die Rede war, bieten ein institutionalisiertes Forum für solche Begegnungen. Serguei Oushakine (2009: 187-188) liefert ein Beispiel aus Barnaul (Hauptstadt der Nachbarregion von Novosibirsk), wo ein entlassener Tschetschenien-Kämpfer in den Bergen des Altai Boot-Camps für Jugendliche organisiert. „[T]he ordering and normalizing effect of this education is associated with the incorporation of a militarized structure of conduct. Clubs’ activity normally includes assembling and disassembling Kalashnikov automatic rifles, shooting, hand-to-hand combat, body building, and games (basketball, volleyball, soccer). There is a strong symbolic activity in this too. All cadets (kursanty), as they are called, are expected to memorize and recite on request the actual Rules of Army Conduct (ustavy sluzhby). All cadets know their respective place in the hierarchy, determined by a respective rank“ (Oushakine 2009: 188). 14 Für diese und andere Anregungen zu diesem Kapitel möchte ich Stephan Dudeck, Mischa Gabowitsch, Kirill Istomin und Joe Long danken. Long beschreibt in seiner Dissertation (2010: 141-142), wie der Verweis auf die staatsbürgerliche Gemeinschaftlichkeit als Aufforderung benutzt wurde, beim Volksentscheid 2006 für die Auflösung einer ethnisch definierten Verwaltungseinheit, dem Ust'-Ordynsker Burjatischen Autonomen Gebiet, zu stimmen. Nationalismus, Rassismus und Fremdenhass im Russland der Gegenwart wurden u.a. von Laruelle (2009), Gabowitsch (2003) und Umland (2008, 2009) thematisiert. Oushakine (2009: 30-32, 109-129) gibt Beispiele für nationalistische, antisemitische und biologistische Positionen in Barnaul, einer Gebietshauptstadt südlich von Novosibirsk.

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Wehrerziehung für Jugendliche wurde zu Sowjetzeiten vorrangig von der DOSAAF organisiert. Diese Abkürzung steht für Dobrovol'noe obščestvo sodejstvija armii, aviacii i flotu (Freiwilligenvereinigung zur Unterstützung der Armee, Luftfahrt und Flotte). Von September 1991 bis 2009 wurde die DOSAAF von einer Organisation anderen Namens ersetzt, im Dezember 2009 aber ist die DOSAAF wieder auferstanden (Postanovlenie 2009).15 In der Verordnung zur Neugründung der DOSAAF wird die „patriotische (militärisch-patriotische) Erziehung der Bürger“ als vorrangige Aufgabe genannt. Gesprächspartner im Alter von über 35 Jahren erinnern sich häufig an die zu Sowjetzeiten von der DOSAAF organisierten militärischen Geländespiele mit dem Namen Zarnica (wörtliche Übersetzung: „Wetterleuchten“), welche heute wieder vielerorts von verschiedenen Trägern für Jugendliche organisiert wird (vgl. Webber 2008), unter anderem von der DOSAAF in Teilerfüllung des staatlichen Programms zur patriotischen Erziehung.16 Bemerkenswert ist m.E. die „spielerische“ Heranführung von Jugendlichen an militärische Normen und Verhaltensweisen, die mit einem wachsenden Interesse an Freizeitaktivitäten wie Paintball und Nachstellungen von Schlachten verschiedener Jahrhunderte einhergeht. Diesen unübersichtlichen Komplex von freizeitlichem Kriegsspiel beschreiben Barchunova und Beletskaia (2004, 2007) aus soziologischer Perspektive mit Bezug auf die Region Novosibirsk. Auch das Kulturhaus von Kolyvan' beteiligt sich an der Patriotischen Erziehung. Festakte wie der Tag des Sieges (9. Mai) und des „Tages des Einberufenen“ appellieren mit großem Pathos an den Patriotismus der Teilnehmer und Zuschauer. Beispielhaft für die Unterstützung, die die Kulturarbeiterinnen von Kolyvan' der patriotischen Erziehung entgegenbringen, ist folgende spontane Stellungnahme: „Nehmen wir [zum Beispiel] den diesjährigen Tag des Einberufenen […] Mir scheint, dass die militärisch-patriotische Erziehung eine dermaßen ernste [Angelegenheit] ist, dass es dermaßen ernst ist, die Liebe zur Heimat, zu anderen Dingen, zum Militär (k voennomu delu) wiederzuerwecken … Und es schien mir immer, dass − ja, man muss irgendein feierliches Programm durchführen, so dass die Hymne erklingt, die Flagge [in den Saal] hinein getragen wird, das Kreiswehrersatzamt auftritt, ein Veteran auftritt, der sagt: ja, Jungs, es ist nötig – 15 Die Organisation hatte Anfang 2009 mehr als drei Millionen Mitglieder und unterhielt etwa 1000 militärische und Sportgruppen (Laruelle 2009: 182). DOSAAF-Zentren bieten Fahrschulunterricht für alle Fahrzeuggruppen an, vermitteln technische Kenntnisse, verschiedene (zivil-)berufliche Qualifikationen usw. 16 DOSAAF verfügt hierzu über ein eigenes Programm für die Jahre 2011-2015. Derzeit beraten die Gremien der Organisation über ein Konzept der patriotischen (militärischpatriotischen) Erziehung Jugendlicher durch die DOSAAF Russlands im Zeitraum bis 2020, http://www.dosaaf.ru/2011-11-23-07-18-27/2011-11-30-06-35-54 (Abruf 12. März 2014).

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wer, wenn nicht wir [wird das Land schützen]?“ (Interview mit der Kulturarbeiterin Ol'ga Jur'evna Bykova, Jg. 1966, über die Perspektiven der Kulturarbeit, 5. Mai 2006) 17

Die Angestellten der Kulturhäuser und Schulen diskutieren gelegentlich auch untereinander über die Umsetzung des Programms zur patriotischen Erziehung und vergleichen dabei die heutige Situation mit derjenigen der Sowjetzeit. Der Kanon der verschiedenen Richtungen der pädagogischen Arbeit während der Sowjetzeit – die ästhetische, die charakterliche und die patriotische Richtung – hat auch heute noch Bestand (vgl. Kapitel 3). Von den interviewten Kulturarbeiterinnen und Pädagogen haben – darauf lassen meine Interviews schließen18 – eine durchweg positive Einstellung zur patriotischen Erziehung. Gehalt und Umsetzung scheinen heute aber problematischer: zum einen aufgrund des Zerfalls der Sowjetunion und damit der sowjetischen Leitbilder und Identifikationsmuster, zum anderen aufgrund neuer konsumorientierter Freizeitmöglichkeiten, die das Interesse vieler Jugendlicher von den staatlich kontrollierten Räumen der Freizeitgestaltung ablenken. Dies klingt an in folgender Aussage, in der eine Lehrerin in Kolyvan' versucht, den Wandel in der Arbeit des örtlichen Kulturhauses zu charakterisieren: „Früher hatten wir die Kommunistische Partei, und dementsprechend wurden alle Arbeitsrichtungen betrieben: wir hatten die militärisch-patriotische und die charakterliche Richtung, [auch] die ästhetische Richtung – im Prinzip gibt es sie auch heute – aber [damals] wurde mehr Zeit, mehr Aufmerksamkeit gerade der Erziehung zum Staatsbürger (vospitanie graždanina strany) gewidmet, gerade diesem wurde Priorität gewidmet, und zwar deshalb, weil es sozusagen in den Entschlüssen unserer Partei festgeschrieben war. Aber jetzt wird der [staats-]bürgerlichen Erziehung weniger Aufmerksamkeit zugewendet, obwohl die militärisch-patriotische Erziehung weiterhin existiert und jene Klubs der ehemaligen AfghanistanKämpfer (kluby byvšich afgancev), jene Klubs der ehemaligen Tschetschenien-Kämpfer – das heißt, die, die in der Armee gedient haben – das heißt, sie arbeiten dennoch und sie bemühen sich, mit den Kindern zu arbeiten. […] Vielleicht hat sich die Mentalität der Leute schon verändert und jeder hat schon das Recht, sich seine Art zu leben (obraz žizni) und seine Erziehung selbst auszuwählen. Niemand gibt uns die Richtung vor (Nas nikto ne napravljaet), das heißt, jeder lebt schon sozusagen nach seinem eigenen Kopf (svoej golovoj), deshalb hat sich die Arbeit des Kulturhauses halt geändert … das heißt, mit dem Zeitgeist.“ (Natal'ja Sergeevna Volkova, Jg. ca. 1957, 3. Mai 2006, mit Bezug auf Q2 Frage 24) 17 Zu Beginn der Veranstaltung am 28. April war eine gewisse Enttäuschung zu erkennen, als sich herausstellte, dass von den Einberufenen nur sieben im Saal anwesend waren und auf die Bühne geholt werden konnten. 18 Ebenso wie die Interviews meiner Kolleginnen und Kollegen, die in anderen Regionen an dem vergleichenden Forschungsprojekt The Social Significance of the House of Culture mitgewirkt haben.

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Treffen mit Veteranen, Repetitionen und Darbietungen von Liedern patriotischen Inhalts – dazu zählt man im weiteren Sinne auch die meisten russischen Volkslieder – werden als Aktivitäten zur patriotischen Erziehung angesehen und gegebenenfalls in den Arbeitsberichten der Kulturhäuser in Novosibirsk, Kolyvan' und Umgegend verbucht (vgl. Oushakine 2009: 67, 166). Der Tag der slawischen Schrift und Kultur (Den' slavjanskoj kul'tury i pismennosti) in der zweiten Maihälfte jedes Jahres liefert einen regelmäßig wiederkehrenden Anlass zum Gedenken an die Ausbreitung des christlichen Glaubens in Russland, aber auch zur Rezitation bedeutender literarischer Werke in russischer Sprache.19 Die Kenntnis der Klassiker der russischen Literatur ist nicht allein Bestandteil der intellektuellen und ästhetischen Bildung des Individuums, sondern wird auch als staatsbürgerliche Tugend und Voraussetzung für patriotische Gesinnung betrachtet. Seit Oktober 2010 gibt es für Kulturhäuser, Jugendklubs, Vereine und Zirkel einen weiteren Grund, ihre Arbeit im Bereich der patriotischen Erziehung zu verstärken: die Aussicht auf staatliche Finanzierung. Während die Grundfinanzierung der kulturellen und Freizeiteinrichtungen in den 2000er Jahren von den größeren Verwaltungseineiten an die Kommunen „abgegeben“ wurde,20 können diese Einrichtungen speziell für die Ausrichtung von Maßnahmen der patriotischen Erziehung – wie sie im Anhang zum staatlichen Programm 2011-2015 definiert sind – staatliche Gelder erwarten. Jährlich sollen Mittel von je über 100 Millionen Rubeln bereitgestellt werden. Den zweitgrößten Batzen der Gesamtsumme soll das Ministerium für Kultur beisteuern (laut Gos. Programma 2011-2015 durchschnittlich 25 Millionen Rubel pro Jahr). Darüber hinaus sind weitere Mittel aus den Etats der Föderationssubjekte, so auch der Region Novosibirsk, sowie von Firmen und anderen Sponsoren zu erwarten. Natal'ja Beletskaja, Mitarbeiterin des Jugendklubs „Del'fin“ in einem peripheren Wohnbezirk von Novosibirsk, äußerte die Einschätzung, dass die neuen Finanzierungsperspektiven sich auf die inhaltliche Arbeit der Klubs und Kulturhäuser auswirken werden (mündl. Mitt., 11. Februar 2011).21 19 Von der Konzeption des Feiertages her betrachtet geht es nicht nur um Schriften in russischer Sprache, sondern um Schriftlichkeit und Literatur der slawischen Völker insgesamt, angefangen von der Entwicklung der kyrillischen Schrift ab dem 9. Jahrhundert bis hin zu gegenwärtiger bulgarischer, polnischer, sorbischer, russischer, ukrainischer usw. Literatur. In der Praxis des Landkreises von Kolyvan' jedoch spielen nur russische und gelegentlich ukrainische Literatur eine Rolle bei der Ausgestaltung des Programms. 20 Grundlage dieser Änderung ist das Gesetz № 131 „Über die allgemeinen Prinzipien der örtlichen Selbstverwaltung in der Russischen Föderation“ vom 6. Oktober 2003. Die Folgen der Umsetzung des Gesetzes werden in Kapitel 3 beschrieben. 21 Anhang 1 des Programms nennt die Vielzahl der geplanten Aktivitäten, die beteiligten Organisationen und die bereitzustellenden Finanzmittel. Die beiden größten Einzelposten sind „die Bewerkstelligung staatlicher Aufträge zur Gestaltung von Spektakeln, Muse-

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P ATRIOTISMUS ALS INNERE Ü BERZEUGUNG ? „L IEBE ZUM V ATERLAND “ UND I NDIVIDUALISMUSKRITIK Nun also zur Frage, wie sehr die verschiedenen Adressatengruppen den Inhalt dieser Programme „ernst nehmen“.22 Selbstverständlich bedeutet die Verabschiedung von staatlichen Programmen zur Propagierung patriotischer Erziehung noch nicht, dass die Bürger des Landes daran interessiert sind, sich der verordneten Doktrin anzuschließen. Andererseits können sie sich ihr auch nicht entziehen. Die patriotische Dauerbeschallung hat zur Folge, dass die Individuen (als Teile der Gesellschaft) nicht nur ihre Verhaltensweisen, sondern längerfristig auch ihre inneren Überzeugungen und Werte überprüfen, in Zweifel ziehen und gegebenenfalls an die herrschende Doktrin anpassen. Françoise Daucé sieht im Appell an den Patriotismus ein Instrument, das das Individuum, welches zeitweilig seinen partikulären Interessen nachgeht, letztlich doch wieder an das Kollektiv bzw. die Solidargemeinschaft bindet: „Das Individuum verlässt das Feld des Bürger-Seins, um sich in der privaten Sphäre zu engagieren. Nur der Rückgriff auf den Begriff des Patriotismus kann ihm die Rückkehr in den Schoß des Kollektivs gewähren. Patriotismus geht aus von der Negierung der Individuen zugunsten der Gesamtheit der nationalen Gemeinschaft. In der Wertschätzung der ‚Pflichten‘ vergisst [die Gemeinschaft] ‚die Rechte‘ der staatsbürgerlichen Gleichung. Die Wertschätzung des Patriotismus ersetzt teilweise die kommunistische Ideologie. Sie wird von denselben Akteuren bedient.“ 23

Letztendlich hängt die Antwort auf die Frage, wer in Russland in welchem Maße das Gebot der patriotischen Erziehung inhaltlich ernst nimmt, davon ab, welche Auffassung über den Umgang des Individuums mit dem ihm vom Kollektiv, von der Gesellschaft aufgetragenen Ansprüchen zugrunde gelegt wird. Zwei unterschiedliche Konzeptionen vom „Selbst“ – zum einen die von Oleg Kharkhordin, zum anderen die von Aleksei Yurchak – werde ich in Kapitel 8 ausführlich vorstellen, daher seien sie hier nur kurz umrissen. Beide Autoren beziehen sich auf den umsexpositionen und Ausstellungen und der verlegerischen Tätigkeit, welche auf die militärisch-patriotische Erziehung der jungen Bürger Russlands gerichtet sind“ (11,24 Mio. Rubel pro Jahr, davon 9,7 Mio. aus dem föderalen Budget) sowie „Foto-Wanderausstellungen in den Föderationsgebieten zum Thema ‚In Russland liegt mein Schicksal‘“ (8,0 Mio. Rubel pro Jahr, zu 100% aus dem föderalen Budget). 22 Vgl. Laruelle (2009: 198); Le Huérou/Sieca-Kozlowski (2008: 24 et passim); Webber (2008: 171-172 et passim). 23 Daucé, Françoise 2001. L’État, l’armée et le citoyen en Russie post-soviétique, S. 255. Paris: L’Harmattan. Zit.n. Le Huérou/Sieca-Kozlowski (2008: 14-15), Übers. JOH.

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Lebensalltag während der mittleren bzw. späten Phase der Sowjetunion. Nach Kharkhordin war der Sowjetbürger ständig bemüht, die Rolle zu erfüllen, die von ihm erwartet wurde (Kharkhordin 1999: 274). Er musste sich ständig offenbaren, sein wahres Gesicht zeigen24, wobei er sich entweder als ehrliche Haut erwies, oder der Enttarnung ausweichen konnte, oder aber sich die Blöße gab. Er konnte die geforderte Überzeugung für sich annehmen, sie lediglich nach außen demonstrieren oder sie offen ablehnen. Diese Konzeption vom „Selbst“ operiert zwangsläufig mit den Begriffen von „wahr“ oder „falsch“, die grundlegend sind für das Verständnis der Beziehung zwischen „Individuum“ und „Kollektiv“. Anders dagegen die Person, die wir aus Yurchaks ethnographischen Studien der späten Sowjetzeit kennen: sie realisiert ihr „Selbst“ durch die Teilhabe an der Gemeinschaft von ihresgleichen (svoi, die seinigen, Leute des eigenen Schlages, vgl. Yurchak 2006: 102-125). Dieses „Selbst“ akzeptiert die Notwendigkeit „an sich selbst zu arbeiten“ – wenn überhaupt – lediglich auf der performativen Ebene. Die Kultivierung des „Selbst“ ist also nach ersterer Lesart verbunden mit ständiger Besorgnis, nach letzterer Lesart dagegen mit informeller Geselligkeit unter weitgehender Ignorierung der ideologischen Aspekte. Aus meiner Sicht beschreiben die beiden Standpunkte nicht einfach historische „Epochen“ der Selbstwahrnehmung (sozusagen die mittlere im Kontrast zur späten Sowjetzeit), sondern vielmehr Situationen, die – wenngleich in verschiedener Intensität – durch alle „Epochen“ hindurch auszumachen waren. Auf Grundlage meiner Feldforschungen vermute ich überdies, dass auch in heutiger Zeit die Rezipienten pädagogischer, kultureller, politischer und auch militärischer Instruktion beide Aspekte der Kultivierung des „Selbst“ im Kollektiv erleben: sowohl die Sorge darum, das Gesicht zu wahren, als auch die Freude am Mitmachen. Der in Russland allgegenwärtige Diskurs zum Thema Patriotismus, so mein Argument, befindet sich derzeit an der Schwelle der „performativen Verschiebung“ (performative shift, Yurchak 2006). Wenn der Diskurs in dieser Intensität über die nächsten Jahre beibehalten wird, so wird – dies meine Voraussage – seine inhaltliche (konstative) Substanz immer mehr schwinden und seine performative Dimension immer stärker zunehmen. Die von einem Kollegen geäußerte ironische Bemerkung „Wahrscheinlich ist jeder Nähzirkel in Russland irgendwie patriotisch“ (Stephan Dudeck, mündl. Mitt., 25. Februar 2011) bringt dies auf den Punkt. Patriotismus wird zu einem allgemeingültigen und damit inflationären Kriterium. Alles ist Patriotismus, weil alles sich patriotisch legitimieren muss.25 24 Vgl. die Verse des bekannten Liedes Sag mir wo du stehst von der Gruppe Oktoberklub: „Wir haben ein Recht darauf, dich zu erkennen. Auch nickende Masken nützen uns nicht. Ich will beim richtigen Namen dich nennen, und darum zeig mir dein wahres Gesicht.“ Text: Hartmut König (1967). 25 Ähnlich äußert sich auch Laruelle: „the patriotism promoted by the Kremlin has turned out to be nothing more than a protean container largely devoid of content“ (2006: 196);

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Aber nicht alles ist – wie oben bereits angesprochen – durch Patriotismus legitimiert und inkludiert. Auf dem Weg zur Einigung der Nation werden diejenigen ausgeschlossen, die sich aus dem einen oder anderen Grunde als unpatriotisch zu erkennen geben oder dafür gehalten werden (vgl. Argounova-Low 2007). Dies sind die üblichen Verdächtigen: dazu zählen Vertreter westlicher Organisationen, Besucher und auch Rückkehrer aus dem Westen. Dies sind in weiterem Sinne alle Zugezogenen, die keinen russischen Pass haben, weil sie nicht (oder noch nicht) der Solidargemeinschaft des Staatsvolks angehören. Der starke Antisemitismus im Russland der Gegenwart gründet sich auf der Theorie der „jüdischen Weltverschwörung“ zum Schaden Russlands (vgl. Merridale 2003: 24, 28). Homophobie speist sich aus der Ansicht, dass ein offenes Bekenntnis zur Homosexualität ein WestImport sei, der zudem die moralische und auch demographische Degradierung der russischen Gesellschaft fördere (vgl. z.B. Michajlov 2013; Mitrokhin 2013). Wenngleich das Gebot des Patriotismus auch von gesellschaftlichen Randgruppen benutzt werden kann, um an die Toleranz der Mehrheit zu appellieren, so wird es doch in den meisten Fällen gegen diese Randgruppen eingesetzt, da ihnen unterstellt wird, sie würden oder wollten die Solidargemeinschaft sabotieren und sich eben nicht als „Patrioten“ verhalten. Die politischen, militärischen und auch kirchlichen Autoritäten werden mit Verweis auf das Gebot des Patriotismus die Spielräume gesellschaftlicher Pluralität vermutlich weiter einschränken. Mit dem Argument, Individualismus westlicher Prägung passe nicht zur russischen Lebensweise, werden nicht nur bestimmte Gruppen, sondern ganze Teilbereiche der Gesellschaft einer neuen Welle der Disziplinierung und Selbstdisziplinierung unterworfen. Die Individualismuskritik hat in Russland eine bemerkenswerte Kontinuität: sie findet sich in theologischen Schriften des 19. Jahrhunderts ebenso wie in der heutigen Russisch-Orthodoxen Kirche (nuanciert beschrieben von Agadjarian und Rousselot 2010), in dem „Konzept zur patriotischen Erziehung der Bürger der Russischen Föderation“ (Koncepcija 2003) ebenso wie in sowjetischen sozialwissenschaftlichen Schriften. Der sowjetische Kulturtheoretiker Arnol'dov, auf den in diesem Buch an anderer Stelle eingehend Bezug genommen wird, bemerkte: „Die Begriffe ‚Individualität‘ und ‚Individualismus‘ gehen zwar auf einen gemeinsamen Wortstamm zurück, sie drücken jedoch diametral entgegengesetzte Haltungen aus. Eine ausgeprägte Individualität ist meilenweit von Individualismus, Egozentrismus und Egoismus entfernt. Ein Mensch, der lediglich persönliches Glück anstrebt, wird niemals ganz und vollständig glücklich werden, wenn er bloß die Vervollkommnung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit im Auge hat.“ (Arnol'dov 1975: 42)

„A declaration of patriotism is a conformist gesture by which each citizen confirms his or her acceptance of the rules of the game“ (ebd.: 197).

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Was damals als unbefriedigende und asoziale, mit dem Sozialismus unvereinbare Haltung identifiziert wurde, wird heute gern als ein mit dem russischen Kollektivgeist und den Russisch-Orthodoxen Glaubensgrundsätzen unvereinbarer Wesenszug dargestellt. Die Gegenüberstellung von Individualismus als vermeintlich westlichem Wesenszug und Kollektivismus als vermeintlich russischem (und russländischem) Wesenszug gehört „seit dem 19. Jahrhundert zur Prämisse russischer Identitätskonstruktionen und westlicher Russlandbilder“ (Lehmann-Carli 2011: 80). Sie wird auch heute häufig als politisches Argument verwendet. Thematisiert wird sie in dem Buch The Patriotism of Despair: Nation, War, and Loss in Russia von Serguei Oushakine (2009), für welches er von 2002 bis 2006 Feldforschungen in der Stadt Barnaul im Altajskij kraj, der Nachbarregion von Novosibirsk, unternommen hat. Diese Kontrastierung findet sich in den Diskursen diverser von Oushakine beschriebener Gruppen, seien sie Neokommunisten, Nationalisten oder auch Soziologen der regionalen Universität: „[T]he anxiety about individualism that opposes the traditional ‚Russian path‘ was a major theme in my discussions with Altai neocoms. Emerging in different contexts and articulated in different metaphors, this threat of ‚alienating individualism‘ (and the private property that reifies it) contrasted with the idealized collectivity that was allegedly so typcial for the Soviet people“ (Oushakine 2009: 36, vgl. 43-44 und 67-68).

Eine dieser Metaphern ist das Wort sobornost’ (ebd., 100 und 128), das Oushakine als „universal communion“ übersetzt. In der Tat hat sobornost’ stark religiöse Konnotationen.26 Es bezieht sich auf die Gemeinschaft von Gläubigen, im eher weltlichen Sinne sozusagen auf die Gemeinschaft von Leidensgenossen, wie sich aus Oushakines Kommentaren folgern lässt. „Again and again, […] the individual was perceived first of all as an element of the whole, as a part of the totality. My informants, however, tended to reject the other side of the equation: the status of the part of the totality was rarely specified“ (ebd.: 39, Hervorh. im Original). Genau dies scheint mir der Schlüssel zu sein, der sich zur Interpretation der Konzepte und Programme zur patriotischen und geistig-sittlichen Erziehung anbietet: der Wunsch nach einem für alle verbindlichen Wertekanon, nach einer Richtlinie für das Zusammenleben und nach sobornost’ ist so stark, dass dahinter die Sorge um die Entfaltung indvidueller Talente und Fertigkeiten zwangsläufig in den Hintergrund rückt (vgl. Rapoport 2009: 148; Rolf 2006: 241). 26 Zum Konzept von sobornost’ im 18. und 19. Jahrhundert s. Lehmann-Carli (2011: 33, 7479). Über sobornost’ im heutigen religionsphilosophischen Kontext bzw. in der Interaktion von Kirche und wirtschaftlichen Eliten vgl. Agadjanian und Rousselot (2010: 313315) und Köllner (2012: 151, 180).

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Kulturhäuser sind Orte einer bestimmten Form von sobornost’: sie verbinden Menschen in ihrer performativen Bekundung der einenden Kraft der Kultur. Ähnlich wie es in Schulen, Jugendlagern und Boot-Camps der Fall ist, soll in Kulturhäusern kollektives Verhalten, Solidarität und Verantwortung füreinander geübt werden. Im Kulturhaus liegt der Akzent auf der ästhetischen Seite des gemeinsamen Schaffens und auf den Spielregeln für ein anständiges (kultiviertes) Miteinander. Junge Menschen sollen durch schöpferische Betätigung lernen, sich selbst als Teil der Gemeinschaft zu sehen und für ihr Betragen Verantwortung zu übernehmen. Nach dem Wegfall der Notwendigkeit, dieses Projekt im Rahmen der sozialistischen Ideologie zu definieren, und nach einer Periode der versuchten Neuorientierung sind die Kulturarbeiterinnen und Pädagoginnen nun dazu übergegangen, den neuen sittlichen Wertekanon, den neuen Gemeinsinn und die neue patriotische Gesinnung als ideologische Basis zu benutzen. Beunruhigend wirkt der Umstand, dass die offiziellen Programme zum Thema Patriotismus so stark militärisch akzentuiert sind, dass also die „wehrhafte“ Komponente zumindest im offiziellen Diskurs eben doch sehr stark hervorgehoben wird. Die vorherrschende Farbe des russischen Patriotismus ist olivgrün, sein Gewand die Uniform. Laruelle weist darauf hin, dass das zivilgesellschaftliche (civic) Element bei der Propagierung des Patriotismus nur selten berücksichtigt wird. Mit Verweis auf das Programm 2006-2010 bemerkt sie: „Although the duties of citizens are listed many times over, the ultimate one being to die for one’s country, the rights of citizens are totally absent. The individual is thus understood as a subject of the state, more than a citizen“ (Laruelle 2009: 180, Hervorh. im Original). Zum Abschluss des Kapitels möchte ich noch einmal die Rolle des Kulturhauses in dem staatlich betriebenen Projekt der patriotischen Erziehung zusammenfassen. Bis vor wenigen Jahren waren die Kultureinrichtungen den staatlichen Behörden unterstellt und wurden von diesen finanziert. Damit hatten sie auch den Auftrag der patriotischen Erziehung, was sich u.a. in den Plänen und Rechenschaftsberichten manifestierte (s. Kapitel 3). Auch heute sind die Kultureinrichtungen aktiv an der patriotischen Erziehung beteiligt. Die Kulturhäuser teilen sich den Auftrag mit vielen anderen Organisationen. Bemerkenswert ist die Vermischung der kulturellen, militärischen, sportlichen und spielerischen Aktivitäten. Ebenso wie die Politiker von Edinaja Rossija sind auch die Pädagoginnen und Kulturarbeiterinnen der Auffassung, dass Patriotismus etwas Erstrebenswertes sei, Nationalismus dagegen etwas Schädliches. Daher bemühen sich die Kulturhäuser um eine politisch korrekte, auf ein friedliches Zusammenleben ausgerichtete Darbietung von nationalen Besonderheiten. Genau darin besteht ihr Auftrag im Bereich der Ethno-Kultur (s. Kapitel 1). Patriotismus ist etwas Gutes an sich: in ihm soll sich die Bewahrung und Besinnung auf die kulturellen Werte des Vaterlandes manifestieren ebenso wie die Verantwortung des Einzelnen für das Gemeinwohl. Letzteres geht einher mit dem Zurückstellen der individuellen Interessen. Die Interessen des (staatsbürgerlichen)

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Kollektivs sind angeblich wichtiger als die des Individuums. Mit einem Wort, patriotische Erziehung und Kulturarbeit sind in vielen Bereichen kompatibel. Sie beziehen sich auf dieselben Werte und Symbole, sie benutzen dieselben Bühnen und bedienen sich derselben Genres. Mit dem „Begriff“ Patriotismus verbindet sich ein genauso gewichtiger normativer Gehalt wie mit dem Begriff „Kultur“. Ein jeder Mensch in Russland soll kultiviert sein, und ein jeder soll Patriot sein.

Kapitel 6 Kultur und Religion: Von der Interaktion zwischen dem alten und dem neuen Ritus

„On the evening of April 26, I went to the club ‚Zarya‘ to celebrate Komsomol Easter. There is the crossroads. People divide into two almost equal groups – some of them turn left to the club, and the others turn right to the church. I notice the disapproving glances of one of the believers at a young local man, who followed me and dared to go the atheist, ‚evil‘ club, decorated with a coat of arms depicting a hammer and a sickle.“1

Das Zitat, das diesem Kapitel vorangestellt ist, veranschaulicht den Antagonismus von Dorfklub und Kirche in der frühen Sowjetzeit (1924), es dokumentiert die Separation der Sphäre der Religion von der Sphäre dessen, was unter sozialistischer Führung als kul'tura aufgebaut und gepriesen wird. Dieses Kapitel behandelt das spannungsreiche Verhältnis zwischen Religion (Religionsgemeinschaften) und Kulturarbeit, es thematisiert zunächst den Versuch der Substituierung der Religion durch kul'tura als neuen Ritus und illustriert dies anhand der baulichen Konzeption der Kulturhäuser. Gerade in der Auswahl und Gestaltung von Festtagen zeigt sich jedoch, dass der Versuch der Substituierung oft in ein Nebeneinander der beiden Ritualsysteme2 mündete, wobei die ideologischen Barrieren zwischen den beiden

1

Zitat aus dem Bericht eines ungenannten Reporters in der Zeitschrift Jugyd Tuj vom 10. Mai 1924 über die Ereignisse zu Ostern 1924 in Ust'-Vym', einer Kleinstadt in der von Komi (Syrjänen) bewohnten Region im Norden der europäischen Sowjetunion; zit.n. Kotyleva (2004: 140).

2

Mit den Termini „neuer Ritus“ bzw. „neues Ritualsystem“ bezeichne ich die aufeinander abgestimmten (d.h. im Laufe des 20. Jahrhunderts in ein System gebrachten) öffentlichen Zeremonien und Darbietungen, wie sie in Kapitel 4 illustriert sind. Neben den dort beschriebenen Zeremonien gehören z.B. auch Eheschließungen (in eigens dafür errichteten

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Sphären aufrechterhalten wurden. In der postsowjetischen Zeit wurden diese Barrieren teilweise wieder aufgehoben. Diese erneute Annäherung verbindet sich einerseits mit der Säkularisierung der Vorstellungen über kul'tura und der Idee, dass Kulturarbeit zu einer Dienstleistung „degradiert“ wird, und andererseits mit der Abkehr vom Prinzip des Atheismus. Das Kapitel endet mit der These, dass der Ritualtransfer von der religiösen in die kulturelle Sphäre sich nur unter der Voraussetzung vollziehen konnte, dass kul'tura selbst als das Gute und Hehre an sich konstruiert wurde – und auch heute in dieser Weise begriffen wird. Diese Parallele zwischen Kultur und Religion (Kultur als Objekt der Verehrung) ist allerdings nicht von derselben Kompatibilität geprägt wie die Interaktion von Kultur und Patriotismus, die Gegenstand des letzten Kapitels war. Das Heilsversprechen der Kulturhäuser ist nicht kongruent mit dem Heilsversprechen der Kirche, sondern kollidiert gelegentlich mit ihm.

S UBSTITUIERUNG

ODER H YBRIDISIERUNG DES ALTEN DURCH DEN NEUEN R ITUS Sonja Luehrmann zeichnet in ihrem 2005 erschienenen Artikel „Recycling Cultural Construction“ ein tiefgründiges und differenziertes Bild sowohl der Substituierung als auch der Resäkularisierung, so dass ich in diesem Kapitel an mehreren Stellen näher auf ihre Thesen eingehen werde. Die These der Substituierung, wonach Religion in Sowjetrussland und der Sowjetunion durch einen neuen Ritus ersetzt wurde, zieht sich durch viele historische und anthropologische Untersuchungen; unter anderem wird sie von Binns (1979, 1980), Peris (1998), Roth (2008: 14), Rolf (2006) und Stites (1989) diskutiert. Luehrmann selbst benutzt die These der Substituierung als Ausgangspunkt für ihre Betrachtung, zeigt aber auch die Grenzen des Erkenntniswertes der These auf: „Placing religion and atheist culture into a relation of substitution … makes it hard to account for the way in which the socialist period itself has shaped people’s understanding of religion, and has provided them with skills and resources which they are now bringing into their work for religious organisations“ (2005: 36).3 Anders ausgedrückt: die Propagierung sozialistischer Lebensmaximen hat der bewussten Gebäuden – dvorec brakosočetanija) und weitere Zeremonien dazu, die von der kirchlichen in die weltliche Sphäre verlagert wurden. 3

Luehrmann stellt den Bezug zwischen Kultur und Religion folgendermaßen dar: „Scholarship on secularisation has pointed out that ‚culture‘ and ‚religion‘ as concepts emerged from a process of differentiation during which religion came to be seen as a bounded set of beliefs and practices that were relegated to a ‚sacred‘ domain, distinct from politics and only partially overlapping with culture (Asad, 1993).“ (Luehrmann 2005: 37)

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Auseinandersetzung der in der Sowjetunion lebenden Menschen mit ihrer eigenen Religiosität eine bestimmte Richtung verliehen und auch ein bestimmtes Repertoire moralischer Vergleichsmöglichkeiten an die Hand gegeben. Für hochdekorierte Kulturarbeiterinnen wie Marija Ivanovna Korčagina (Kapitel 1) war die „atheistische Richtung“ (ateističeskoe napravlenie) der Kulturarbeit Teil ihrer beruflichen Ausbildung, was sie aber nicht darin hindert, ihre sozial-organisatorischen Fähigkeiten nun mit religiösen Motiven der Nachbarschaftshilfe in Einklang zu bringen. Als Ergebnis dieser Entwicklung sind nicht nur synkretische Moralvorstellungen, sondern frühzeitig auch „hybride Festkulturen“ entstanden. Letztere stehen im Fokus der umfangreichen und überzeugend vorgetragenen historischen Untersuchung von Malte Rolf (2006) über die Festkultur der frühen Sowjetzeit. In diesem Zusammenhang verwendet er die Begriffe Ritualtransfer und Sakraltransfer4 (2006: 143, 238-242): „Praktiken und Symbole, die in der kirchlichen Tradition eine sakrale Konnotation hatten, sollten in die revolutionäre Festkultur integriert werden. Die bolschewistischen Kulturaktivisten hofften, mit einem solchen Sakraltransfer die Attraktivität sowjetischer Feste in der permanenten Konkurrenzsituation mit ihren religiösen Rivalen zu steigern. Als Nebenprodukt einer solchen Integrationsstrategie traditionalisierten sie das sowjetische Fest in vielen Bereichen. […] Die beiden Festsysteme existierten insofern nicht nur parallel nebeneinander, vielmehr war der gegenseitige Einfluss und der Transfer von Praktiken ein wichtiger Faktor in ihrer Entwicklung.“ (Rolf 2006: 143)

Wenngleich die Isolierung der Religion als rückständiger cultus und ihre Ablösung durch neue Formen des Glaubens und des Feierns intendiert waren, so vollzog sich in den 1920er Jahren eine Vermischung christlicher und revolutionär-laizistischer Festtagsbräuche, und zwar „nicht über die Verdrängung althergebrachter, religiöser Festanlässe und -praktiken, sondern über die Harmonisierung zweier Festsysteme, die sich [zunächst] in der Perspektive ihrer Sittenwächter gegenseitig ausschlossen.“ (Rolf 2006: 242)5 Die geplante Substituierung des alten Ritus erforderte auch die Einführung neuer Feiertage, die Rolf (2006: 135-145) unter dem Stichwort „Roter Kalender“ abhandelt. Aus seinen Ausführungen und denen von Binns (1979), Kotyleva (2004), Peris (1998) und Stites (1989) zum selben Thema ergibt sich ein recht stimmiges Bild, dem zufolge neben den zu Beginn der Sowjetherrschaft etablierten „großen“ 4

Ebenso wie Peris (1993: 89) bezieht sich Rolf bei der Verwendung des Terminus „transfer of sacrality“ auf Mona Ozoufs Arbeit über die Feste der Französischen Revolution. Vgl. auch Dudeck (2013: 120, Anm. 103).

5

Einige Fälle besonders bizarrer Überlagerungen werden von Rolf (2006: 242) und Kotyleva (2004: 141) geschildert.

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sozialistischen Zeremonien wie dem 1. Mai oder dem 9. November bald auch zahlreiche kleinere Festanlässe und Gedenktage, unter anderem für bestimmte Berufsgruppen, ausgerufen wurden. Dieser „Rote Kalender“, in den nach dem Ende des Großen Vaterländischen Krieges auch der 9. Mai als Tag des Sieges aufgenommen wurde, bestimmt in Kolyvan' und andernorts im heutigen Russland die Arbeit der Kulturhäuser nach wie vor, wenn auch mit wichtigen Modifizierungen.6 Er strukturiert den jährlichen Arbeitszyklus ebenso wie die Erinnerungen, Vorstellungen und Erwartungen der Bevölkerung, da viele Bewohnerinnen und Bewohner mit dem Kulturhaus insbesondere die großen Veranstaltungen, die diesen Fest- und Ehrentagen gewidmet sind, assoziieren. Der „Rote Kalender“ hat jedoch den Kalender der christlichen Feiertage nach meinen Beobachtungen nicht gänzlich substituiert (sprich: verdrängt). Das höchste Fest im christlichen Jahreslauf, Ostern, wird in Kolyvan' niemals im Kulturhaus, sondern in einem anderen zeremoniellen Raum, dem örtlichen Kloster, zelebriert. Bestimmte rituelle Ereignisse im Jahreslauf sind also das Privileg der RussischOrthodoxen Kirche. Offenbar war das Osterfest nur in geringem Maße von Substituierung oder Hybridisierung durch den neuen Ritus betroffen; zudem ist es besonders rasch und eindeutig als „rein“ kirchliches Fest redefiniert worden. Andere Zäsuren, die dem christlichen Kalender entstammen, werden in Kolyvan' in folklorisierter Weise zelebriert. Speziell trifft dies auf die Fastnacht (maslenica) und die Johannisnacht (Ivan Kupala) zu, die – vom Kulturhaus organisiert – auf den Plätzen der Kleinstadt bzw. am Ufer eines nahegelegenen Flusses begangen werden. Hierin sehe ich eine teilweise Bestätigung der von Rolf vertretenen These der Hybridisierung. Vor allem aber veranschaulichen diese beiden Events die Folklorisierung religiöser Anlässe: „Socialist activists struggled to separate religious content from social, educational or identitybuilding aspects of folk practices, and to provide new, socialist settings for these desirable aspects […]. In this respect they were doing more than substituting new forms for old: they were creating new distinctions between folk culture, which was worth preserving, and religion, which needed to be overcome.“ (Luehrmann 2005: 39)

Gerade die Fastnacht wurde in den letzten Jahren in Kolyvan' verstärkt als das regionale russische Äquivalent zu ethnisch definierten Festen (wie z.B. das sowjetischtatarische Fest Sabantuj) ausgewiesen, wie aus den Tätigkeitsberichten der Abteilung für Kultur der Kreisverwaltung zu entnehmen ist.

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Der 1. Mai wurde in Kolyvan' zur Talenteschau des Pionierhauses „umfunktioniert“ und der 9. November als Festivität gänzlich gestrichen.

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Inwieweit die Etablierung des sozialistischen Ritus mit den Begriffen der Substituierung bzw. der Hybridisierung gefasst werden kann, möchte ich im Folgenden anhand lediglich eines Kriteriums, nämlich der baulichen Merkmale der Kulturhäuser, herausarbeiten. Das Ergebnis, zu dem ich komme, sei hier vorweggenommen: die symmetrische, neoklassizistisch-tempelhafte Formensprache der stalinzeitlichen Kultur- und Klubhausarchitektur zeugt von der Konkurrenz mit sakralen Gebäuden des alten Typs unter Verwendung ähnlicher Mittel. Das Aufpropfen von Kulturhäusern auf die Fundamente von Kirchen und die Umwidmung von Kirchen zeugt von einem unversöhnlichen Gegeneinander bis zum Ende der Sowjetzeit. Einer der Respondenten in Kolyvan' schafft es gleichwohl, beide Gebäude in einen „hybriden“ Zusammenhang zu stellen (s. Textkasten S. 175). Die sich aus der prekären finanziellen Situation der Kulturhäuser ergebende Leere und Verschlossenheit wiederum zeitigen einen unfreiwillig „sakralen“ und asketischen Charakter, der es mit jeder reformierten Kirche aufnehmen kann.

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In Kleinstädten und ländlichen Siedlungen in Russland (ebenso wie in vielen anderen postsozialistischen Staaten) nehmen Kulturhäuser und Klubs oft einen zentralen architektonischen Platz ein. Sie befinden sich häufig im Mittelpunkt der Siedlung, vielfach sind sie auf Anhieb zu erkennen an ihrem neoklassizistischen Äußeren. Ähnlich äußert sich Ulrich Hartung über die Kulturhausbauten, die in den 1950er Jahren in der DDR entstanden: „Fallen diese Bauwerke zunächst durch ihre Größe und repräsentative Lage auf, so verblüfft bei näherem Hinsehen die Pracht, die hier entfaltet wurde. Säulen- oder pfeilergetragene Portici, fein profilierte Fassaden mit Sgraffitos oder Reliefs und eine großzügige Raumgliederung zeugen von früherer gesellschaftlicher Bedeutung. Oft in exklusiver Lage im Ortsinnern, weithin übers Land sichtbar oder eingebettet in eine Parkanlage wirken die Prachtbauten auf den Betrachter wie Zeugnisse einer längst vergangengen Zeit“ (Hartung 1997: 9).7 Es würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, die architektonische Entwicklung der Institution Kulturhaus in der Sowjetunion darzulegen. Nicht zu vernachlässigen ist jedoch, dass die Kulturhauskonzeption der frühen Sowjetzeit von der Volkshaus-Bewegung im Russischen Reich (s. Kapitel 7), im Deutschen Reich und anderen europäischen Staaten beeinflusst wurde und später auf die bauliche Gestaltung der Kulturhäuser in der DDR zurückstrahlte. Neben Ulrich Hartung 7

Kaneff (2004: 33) vermerkt, dass in den Kleinstädten und Landgemeinden Bulgariens die kulturellen und Bildungsinstitutionen räumlich in den Mittelpunkt gesetzt werden, während kommerzielle Institutionen wie bspw. Märkte sich am Rande der Siedlungen befinden. Zur Entwicklung des Fest- und Ritualsystems in Bulgarien siehe Brunnbauer (2008).

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haben dies auch Michael Drewelow (1989) und Simone Hain (1996b: 110ff.) demonstriert. Hain liefert auch Zitate, aus denen hervorgeht, dass die Proponenten der Volkshäuser sich durchaus der rituellen Funktion dieser Bauten bewusst waren: „Das Volkshaus der Zukunft muß das schönste Haus der Stadt oder des Ortes sein. Es muß schöner sein als die Kirche der Vergangenheit. […] Das Volkshaus wird ja auch die Kirche der Zukunft sein“.8 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Niederlage des Nationalsozialismus hatte die Sowjetunion als Hegemonialmacht starken Einfluss auf die politischen Geschicke in der Sowjetisch Besetzten Zone und der DDR, so auch im Bereich der Kulturpolitik.9 Die Programmatik der Kulturhäuser legte dem sowjetischen Vorbild folgend eine noch stärkere Betonung auf den atheistischen Aspekt der Kulturarbeit. Typenprojekte für Kulturhäuser wurden Ende der 1940er Jahre nach sowjetischem Vorbild von der Bauakademie in Berlin entwickelt und als „kanonische Kulturhäuser“ in einzelnen Orten der DDR realisiert (Hain 1996b: 116, 124). Auch Ulrich Hartung (1997) hat in seiner Analyse der Kulturhausarchitektur in der DDR der 1950er Jahre die Bezüge zur sowjetischen Baukunst und ihrer politischen Programmatik herausgearbeitet. Er konstatiert, dass „eine systematische Analyse sowjetischer Kulturhäuser der dreißiger bis fünfziger Jahre nach Kenntnis des Verfassers noch nicht vorliegt“ (1997: 38) – dies ist auch mein Kenntnisstand.10 Für den genannten Zeitraum lässt sich immerhin an vielen Beispielen in Russland erkennen, dass das neoklassizistisch angelegte Modell mit Säulenportikus und Dreiecksgiebel, welches deutliche Bezüge auf die Archiktur antiker Tempel nimmt, in den sowjetischen Kleinstädten besonders häufig realisiert wurde. Die Lyra als im Dreiecksgiebel präsentierte Insignie vieler Kulturhäuser verstärkt die antike Assoziation. Dieser sozialistische (Neo-)Klassizismus vereint m.E. die Tradition des bürgerlichen europäischen Kulturideals des 19. Jahrhunderts mit der pompösen Zurschaustellung politischer Macht unter Stalin. Die architektonische Gestaltung der Arbeiter- und Bauerntempel (so der Titel von Hartungs Buch) mit den dazugehörigen Wandbildern und Verzierungen geschah in der Absicht, die visuelle Wahrnehmung des Kulturhauses zu beeinflussen: als Tempel, nicht als Treffpunkt. Den For8

So der sozialdemokratische Politiker und Schriftsteller Heinrich Peus in einer Programmschrift aus dem Jahr 1913 (zit.n. Hain 1996b: 94). Zu den Volkshäusern vgl. Mahn ([1983] 1987: speziell 199ff.) und Pöschl (2007).

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Zu den Kultur- und Klubhäusern in der DDR sowie allgemeiner zur Kulturpolitik und Kulturarbeit liegen folgende (retrospektive) Arbeiten aus den letzten zwei Jahrzehten vor: Groschopp (2001); Häußer/Merkel (2009); Ruben/Wagner (1994); Schuhmann (2006).

10 Drewelow (1989) behandelt ansatzweise dieses Thema. Groys (1994) und Chmelnizki (2007) liefern bemerkenswerte architektonische „Studien zu Ideologie und Stil“, aber gehen nicht speziell auf Kulturpaläste, Kulturhäuser oder Klubhäuser ein. Die architekturhistorische Debatte wurde wesentlich inspiriert von Vladimir Papernyj, vgl. Kapitel 7.

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menwandel weg von den konstruktivistischen Tendenzen der frühen 1920er hin zu den neoklassizistischen Gestaltungsprinzipien der späten 1930er Jahre kommentiert Drewelow: „Ein festlich-repräsentativer Charakter, gleichzeitig auch optimistisch-heiterer Charakter entspricht nach zu enger Auffassung des Auftraggebers dem inhaltlichen Anliegen eines Kulturhauses und der mit ihm ‚abzubildenden‘ Ideen. Dazu scheint ihm ein Rückgriff auf gesicherte, tradierte und dem Volk vertraute Formen am besten geeignet. […] So kommt es zu dem Widerspruch, daß die revolutionäre Arbeiterklasse ihren progressiven Inhalt zur Repräsentation ihrer Macht in alte, dafür ungeeignete Formen hüllt.“ (Drewelow 1989: 82, Hervorh. JOH)11

Wenn wir uns die These der Substitution vergegenwärtigen, wonach Religion durch einen anderen cultus abgelöst, die Gebäude der Kirche umfunktioniert, die alten Feiertage und Rituale durch neue ersetzt wurden, so erscheint die tempelhafte Gestaltung der Kulturhäuser als kein Zufall. „Soviet culture houses, grown out of a tradition of European working-class efforts to create their own public spaces (Hain, 1996), had been portrayed as the antithesis of churches from the 1920s on“ (Luehrmann 2005: 44). Den das Ortsbild dominierenden, vergleichsweise prächtig gestalteten Bauwerken der Kirche mussten repräsentative, symmetrisch gebaute Hallen für den neuen Ritus in zentraler Lage entgegengestellt werden. Der Rückgriff auf das bauliche Paradigma des Tempels, die Negierung der byzantinisch geprägten Architektur der Russisch-Orthodoxen Kirche und die Hinwendung zur Formensprache der Neoklassik (und damit zum Humanismus) resultierte in einem deutlichen Kontrast der neuen Gebäude zur bis dahin die russischen Kleinstädte dominierenden, von den Formen her byzantinischen Sakralarchitektur. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, den religiösen Gebäuden ihre Funktion zu entziehen und ihr prächtiges Äußeres umzugestalten. Während der späten 1920er und frühen 1930er Jahre wurden in vielen Orten Kirchen zu Kulturhäusern umgewandelt und umgebaut (Kotyleva 2004; Peris 1998: 84-85; Sundström 2011: 80).12 Genau dies vollzog sich auch in der Kleinstadt Kolyvan'. Mehrere meiner dortigen Gewährsleute erinnerten sich gut an das alte Kulturhaus, welches bis 1976 in Nutzung war. Erbaut wurde es auf den Grundmauern einer Kirche, wovon einige bauli11 Drewelow benutzt „Auftraggeber“ als Synonym für Stalin – an dieser und anderen Textstellen. In dem obigen Zitat distanziert sich Drewelow implizit von den Prinzipien der Kulturhausarchitektur und den Vorstellungen der Kulturarbeit in der Sowjetunion der 1930er bis 1950er Jahre. 12 Die Umwandlung von Kirchen in Kulturhäuser ist m.E. ein Spezifikum der Sowjetunion der 1920er, 1930er und noch der 1940er Jahre; ich kenne keine Belege für derlei Umwandlungen in anderen sozialistischen Staaten.

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che Details noch Zeugnis ablegten. Die Fassade und die Aufbauten wurden jedoch (vermutlich nach 1932) gänzlich umgestaltet: der symmetrische Bau mit seinem neoklassizistischen Giebel entsprach den ästhetischen Ansprüchen der Stalinzeit. Zum Zeitpunkt meiner Feldforschung (2006) diente das Gebäude als Sporthalle, außerdem war in ihm das örtliche Sozialamt untergebracht. Die ursprüngliche Bedeutung des Gebäudes war vielen älteren Personen in Kolyvan' durchaus bewusst, aber 2006 war noch nicht abzusehen, dass bereits fünf Jahre später eine Rückübertragung erfolgen und kurz darauf der Rückbau beginnen würde (Abb. 15-17). Im Zuge der Restitution kirchlichen Eigentums (s.u.) kehrt also das „alte“ Kulturhaus zu seinem ursprünglichen Äußeren und seiner religiösen Bestimmung zurück. Abbildung 15: Das Kulturhaus von Kolyvan' in seinem alten Gebäude. Foto: Archiv des Regionalmuseums von Kolyvan', vermutlich aus den frühen 1960er Jahren

Abbildung 16: Das ehemalige Gebäude des Kulturhauses (Zustand zum Zeitpunkt der Feldforschung). Foto: JOH, 6. Mai 2006

Abbildung 17: Das ehemalige Gebäude des Kulturhauses im Frühjahr 2012, während des Umbaus zu einer Russisch-Orthodoxen Kirche. Foto: JOH, 28. Februar 2012

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JOH: „Wie stellen Sie sich das ideale Kulturhaus vor? Wie soll es aussehen? Was würde dort vor sich gehen? Was wären seine Aufgaben?“ Mann: „Ich würde das Kulturhaus, das heute existiert, nur nicht an der Stelle, sondern dort, wo die Kirche [war, bauen und] aus ihm irgendeinen Kulturpalast machen mit fünf Etagen.“ Frau: „Oh je, wozu das denn (za čem on tebe nužen)?“ Mann: „Dort wäre alles mit Fliesen bedeckt … Nein, ich erinnere mich einfach, wie ich [damals] aus dem Kinosaal […] zum Tanzen [in den Nachbarraum] gelaufen bin. Dort war der Fußboden mit Fliesen gedeckt und ein Blasorchester spielte.“ [Dialog über Musik] JOH: „Wenn so ein Palast gebaut werden sollte, warum denn gerade an der alten Stelle neben dem Museum? Warum nicht dort, wo …“ Mann: „Weil das ein heiliger Ort ist. Dort war die Kirche.“ JOH: „Also so ein symbolischer Ort?“ Mann: „Ja, ein symbolischer Ort. Dort gibt es, kurz bevor man die Kirche erreicht, bis heute noch einen Altar. Früher [als junge Männer] haben wir uns dort geprügelt… […] Ich weiß nicht, das war ein gutes Klubhaus – warum hat man es dort vergammeln lassen? ‚Junost'‘ [das neue Kulturhaus] haben sie auf einer Müllgrube gebaut (postroili na pomojke).“ (Mann, Jg. 1950, Interview vom 28. April 2006, Antwort auf Q2 Frage 30) Das frühere und das heutige Kulturhaus von Kolyvan' veranschaulichen auch den Paradigmenwechsel in der Architektur der Kulturhäuser in der Sowjetunion insgesamt. In den 1960er und 1970er Jahren wurde die neoklassizistische Form aufgegeben (nicht jedoch die Symmetrie der Fassade). Fortan wurden Kulturhäuser nüchterner konzipiert. Bei den größeren Gebäuden ersetzt die Glasfront den Säulenportikus, dadurch erhalten die Innenräume mehr Licht, und die Vorderfront erscheint insgesamt offener und zugänglicher (Abb. 18-19). Die Reminiszenz an die griechischen und römischen Tempel ist verschwunden, der repräsentative Charakter des Gebäudes beruht nun auf der exponierten Lage, dem Vorplatz und den baulichen Dimensionen. Die neue „openness, accessibility and visibility“ stellt Luehrmann (2005: 41) in Kontrast zur „secrecy associated with sacred spaces“, zur Heimlichtuerei der „alten“ Religion. Sicherlich wurden Kulturhäuser geplant als Räume, die für die gesamte Einwohnerschaft des jeweiligen Ortes offen stehen sollen. Weiter unten werde ich allerdings die These entwickeln, dass in der Praxis häufig genau das Gegenteil der Fall ist: gerade die Verschlossenheit der Kulturhäuser und ihre innere Leere produzieren eine gewisse sakrale Stimmung.

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Dieser Widerspruch zwischen architektonischem Ideal und den vielfachen baulichen Mängel ist zu einem nicht geringen Teil der spärlichen Finanzierung der öffentlichen Kultureinrichtungen geschuldet. Anne White hat die Unterfinanzierung des Kulturbetriebs während der späten Sowjetzeit eingehend beschrieben (1990) und konstatiert, dass die finanzielle Situation der Kulturhäuser in den frühen 2000er Jahren nicht sehr viel besser aussah (White 2004: 93): „Little has changed: leaky roofs still leak.“ Wie sich die knappe Finanzierung auf die Arbeit und Entlohnung der Kulturarbeiterinnen auswirkt, und welche Hoffnungen und Probleme sich mit der 2003 initiierten Umstellung der Finanzierungsgrundlage verbinden, wurde in Kapitel 3 dargestellt. Hier geht es lediglich um den baulichen Aspekt, um einen kurzen Exkurs über das architektonische make-shift, das die Kulturarbeit in vielen Orten Russlands prägt. In Anlehnung an Klaus Gestwa (2003: 97) ließe sich von einer Landschaft gescheiterter (kultureller) Projekte sprechen. Gebäude erweisen sich mit der Zeit als zu klein, zu baufällig oder aus anderen Gründen ungeeignet. Der Umzug der Institution Kulturhaus in einen zweckbestimmten Neubau oder ein anderes Gebäude nimmt Jahre, manchmal auch Jahrzehnte in Anspruch. Hier zeigen sich überraschende Parallelen in verschiedenen Regionen Sibiriens. Agnieszka Halemba (2011: 97-98) berichtet, dass das Kulturhaus in Koš-Agač 2003 abbrannte, danach erfolgte der Umzug in ein provisorisches Gebäude, welches eindeutig ungeeignet ist und von der örtlichen Bevölkerung nicht als Kulturhaus wahrgenommen wird, es gibt Pläne zum Neubau eines überdimensionierten Kulturhauses, der Bau hat jedoch noch nicht begonnen. Ähnlich äußerte sich Alexander King (2011: 193) über das Kulturhaus des Korjakischen Kreises in Palana: das alte Gebäude brannte Anfang der 1980er Jahre ab, der Neubau wurde nie fertiggestellt und kann aus bautechnischen Gründen auch nicht mehr vollendet werden, mittlerweile residiert das Kulturhaus im Wohntrakt eines pädagogischen Instituts. Brian Donahoe (2011: 119) bemerkt, dass das Kulturhaus von Šagonar seit dem Abriss der alten Siedlung Šagonar13 in verschiedenen Gebäuden residierte, von denen das eine abbrannte. Derzeit ist das Kulturhaus in einem umfunktionierten Kino untergebracht. Der aufwändige Neubau für ein neues Kulturhaus, der 1988 begonnen wurde, blieb unvollendet. Die verschiedenen Institutionen des Kulturund Bildungsbetriebes „erben“ die Gebäude voneinander, aus einem Kino wird ein Kulturhaus, aus einem Kulturhaus wird ein Kino. Bauliche Lösungen, die als provisorisch intendiert wurden, etablieren sich über die Jahre. Provisorien verstetigen sich, wobei die Aussicht auf ein besseres Gebäude aufrecht erhalten bleibt.14 13 Šagonar musste einem Staudamm weichen, das neue Šagonar steht stellvertretend für die unzulänglich vollzogenen Großprojekte, die Gestwa (2003: 81) in seinem provokanten Aufsatz thematisiert. 14 Den traurigen Rekord im „Abbrennen“ hält vermutlich das Kulturhaus von Batširėėt im Nordosten der Mongolei. Viermal brannte es vollständig nieder, viermal wurde es wieder

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In allen genannten Fällen (Koš-Agač, Palana, Šagonar) ist Kritik der Bevölkerung an dem unzureichenden Zustand des Kulturhausgebäudes zu vernehmen. Ebenso in Kolyvan', wo sich mehrere Besucherinnen über den Anblick der Garderobe – diese wird teilweise als Lagerraum genutzt – beklagten. Ihnen war offenbar bewusst, dass dieses andauernde Provisorium, die Verstetigung des Unvollendeten, in deutlichem Widerspruch zum Streben nach einer höheren Ordnung sowie zur ErAbbildung 18: Das Kulturhaus von Kolyvan'. Foto vermutlich von 1976 (anlässlich der Fertigstellung des neuen Gebäudes). Foto: Archiv des Regionalmuseums von Kolyvan'

Abbildung 19: Das Kulturhaus von Kolyvan' im Zustand zum Zeitpunkt der Feldforschung. Das Mosaik auf der rechten Seite wurde offenbar nach 1976 angebracht und ist in seinem unteren Teil mittlerweile beschädigt. Foto: JOH, 10. April 2006

ziehung der ästhetischen Sinne steht. Wenn in diesem Abschnitt ebenso wie in dem nächsten den baulichen Aspekten der Institution Kulturhaus so viel Platz eingeräumt wird, so geschieht aus dem Grund, dass das architektonische Konzept der Kulturhäuser Gleichmaß, Symmetrie und eine (möglichst) vollendete Ordnung ausdrücken soll, um den Tempeln des neuen Ritus eine würdige Erscheinung zu geben; andererseits zeugen die Provisorien der Nutzung von der Vergänglichkeit und Unvollkommenheit der kulturellen Zentren. Vielleicht ist aber ein Teil der sakralen Wirkung der Kulturhäuser gerade darauf zurückzuführen, dass sie in gewisser Weise abweisend, dunkel und verschlossen erscheinen. aufgebaut. Offensichtlich wurden die Brände von einem oder mehreren Brandstiftern verursacht (Empson 2011: 300-302).

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D AS SAKRALE E LEMENT DER V ERSCHLOSSENHEIT L EERE DER K ULTURHÄUSER 15

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Der Innenraum des Kulturhauses ist nur zeitweilig (in manchen Fällen gar nicht) für den Laien zugänglich, er wirkt nicht nur verschlossen, sondern in vielen Fällen merkwürdig leer und verlassen. Die Bedeutung des leeren Raumes für das Gemeinwesen wird von verschiedenen Kolleginnen und Kollegen unterschiedlich interpretiert. Gemäß der Interpretation von Agnieszka Halemba (2011) muss das Kulturhaus (konkret das Kulturhaus Koš-Agač) ein leerer Raum sein, damit örtliche Politiker es nach Ermessen und Belieben als Projektions- und Repräsentationsfläche benutzen können. Gleichzeitig sind die Politiker angewiesen auf eine flexible Disposition der Künstlerinnen, Mitarbeiterinnen und anderer Ressourcen, die mit dem Kulturhaus affiliiert sind: „the House of Culture was privatized by the local bosses and used for variety of purposes, from private entertainment to the representation of the successes of local government.“ (Ebd.: 111). Leere bezeichnet demnach einen Zustand der „permanenten Verfügbarkeit“, so Halemba, einen andauernden kulturellen standby-Modus. Wenngleich diese Interpretation auf einem bestimmten Fallbeispiel beruht, so scheint dieser Funktionsmodus auch für Kulturhäuser in vielen anderen Gemeinden zuzutreffen, wie aus den Ausführungen anderer Kolleginnen und Kollegen hervorgeht. So kommen Sántha und Safonova (2011) aufgrund ihres Aufenthaltes in Kurumkan in der Republik Burjatien ebenfalls zu der Einschätzung, dass das dortige Kulturhaus ein leerer Raum ist, der, wenn die Notwendigkeit besteht, als kommunale Repräsentationsfläche benutzt wird (zum Konzept der pokazucha s. Kapitel 8). Das Gebäude ist in einem sehr unansehnlichen, ja schmutzigen Zustand, der dem Ethos von Kultiviertheit keine Ehre macht. Die meiste Zeit ist es leer. „It seems that the only product of the House of Culture is the provision of the place and the decorations, and sometimes also the costumes for the pokazukha.“ (Ebd.: 77) Das Kulturhaus bietet einen Veranstaltungsraum und gewissermaßen einen Freiraum sowohl für die offiziell stattfindenden kulturellen Aktivitäten (die aber tatsächlich nur einmal im Jahr stattfinden, s.u.) ebenso wie für „nicht-kulturelle“ Aktivitäten. Letztere umfassen die Disco, die ein- oder zweimal pro Woche stattfindet und von der Tochter einer Angestellten des Kulturhauses organisiert wird, ohne dass das Kollektiv des Kulturhauses irgend etwas formal damit zu tun hätte, oder auch eine Werbeverkaufsschau für Kosmetik und Kleidung aus China. „In the House of Culture we witnessed activities that social anthropologists would unhesitatingly identify as cultural, though the members of the staff regarded them all as not cultural.“ (Ebd.: 89) „Nicht-kulturell“ bedeutet, dass die Mitarbeiterinnen des Kulturhauses nicht für 15 Die Ausführungen in diesem Abschnitt beruhen auf einer überarbeiteten Übersetzung des Abschnitts „Cultivated Sobriety“ in Habeck (2011a).

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diese Aktivitäten verantwortlich sind und sich auch nicht weiter damit befassen müssen. Diese Aktivitäten werden also aus dem staatlich beaufsichtigten Kulturbetrieb bewusst ausgeblendet. Dagegen existieren die offiziell als solche anerkannten kulturellen Aktivitäten (Proben, Zirkel, Arbeitsgruppen, Lesungen usw.) nur auf dem Papier; in Wirklichkeit finden sie in anderen Institutionen oder gar nicht statt – mit einer Ausnahme: das alljährlich wiederkehrende feierliche Programm anlässlich des Besuches der Kommission aus der Hauptstadt der Republik Burjatien, die sich ein Bild macht vom Kulturbetrieb in Kurumkan. Zu diesem Anlass, und ausschließlich zu diesem Anlass, präsentieren sich die Tanz- und Laienspielgruppen auf der Bühne des Kulturhauses und vermitteln den Eindruck, als ob das Kulturhaus das ganze Jahr über aktiv wäre.16 Tatsächlich aber handelt es sich nur um ein kurzes Auflodern von kulturbetrieblichem Aktionismus. Sántha und Safonova (2011: 79) vergleichen das Kulturhaus mit einer Lampe, die bei Bedarf eingeschaltet wird, wodurch sich ein Stromkreis schließt, durch den die Energie aus Nervosität und Angespanntheit der Beteiligten fließt. Nach der Abreise der Kommission geht das Licht wieder aus und der Aktionismus versiegt. Neben Kurumkan gibt es viele andere Bezirke in der Republik Burjatien, und man kann sich die Bezirkskulturhäuser wie Lämpchen auf einem Tableau oder einer Landkarte vorstellen: je nachdem, wo sich die Kommision gerade befindet, gehen die Lampen an und wieder aus. Die Besuche der Kommission bestimmen den Takt des staatlich gelenkten Kulturbetriebes in der Republik. Dieser Betrieb nimmt einen mobilen, nomadischen Charakter an. Das einzelne Kulturhaus als bauliche Struktur bleibt die meiste Zeit des Jahres unbenutzt, steht jedoch bereit für die großen und feierlichen Momente und Rituale des Jahres, ähnlich wie eine Arena oder ein großes Sportstadion. Ali İğmen, der den Kulturbetrieb in Kirgisien aus historischer Perspektive beleuchtet, sieht in der „Leere“ der Kulturhäuser eine sakrale Bedeutung.17 Das Innere des Kulturhauses ähnelt damit dem Inneren eines Tempels, vielleicht einer evangelischen Kirche, die auch nur kurzzeitig, zu den Zeiten des Kultus, für Laien zugänglich ist. Sicherlich sind die Leere und Verschlossenheit der Innenräume vieler Kul16 „It was moment when everybody who could perform anything on stage was there.“ (Sántha/Safonova 2011: 78) Vgl. die Abschnitte „Die Feier nach der Show“ und „Kollektive Efferveszenz“ in Kapitel 4. 17 Ali İğmen, Diskussionsbeitrag während des Workshops „Reconstructing the House of Culture“, Halle, 13.-14. September 2007. Ein ähnlicher Eindruck ergibt sich aus der These des britischen Literaturwissenschaftlers Terry Eagleton, nach der Kultur im Zeitalter der Moderne all das „enthält“, was in der rationalen Alltagswelt ansonsten nur einen geringen Stellenwert und somit keinen gebührenden Platz hat: „This area, like most officially sacred spaces, was both venerated and ignored, centred and sidelined. Culture was no longer a description of what one was, but of what one might be or used to be.“ (Eagleton 2000: 31)

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turhäuser auch auf trivialere Gründe zurückzuführen: die Gebäude, die zu Zeiten großzügigerer Finanzierung geplant, gebaut und ausgestattet wurden, erscheinen in den Zeiten der wirtschaftlichen und ideologischen Krise als überdimensioniert. Altes, beschädigtes Mobiliar wird in Ecken und Abstellkammern verfrachtet. Ungeheizte Räume bewegen sowohl Besucherschaft als auch die Mitarbeiterinnen dazu, möglichst wenig Zeit im Kulturhaus zu verbringen. In der Tat sehen viele Kulturhäuser beim Betreten, auf den ersten Blick, wenig einladend aus. Die ernüchternde, ja manchmal gar öde Atmosphäre steht in merkwürdigem Kontrast zum Auftrag der Kulturhäuser, die doch darin bestehen soll, den Menschen Erbauung, Entspannung und Freude zu gewähren. Andererseits verbirgt sich gerade in der Ernüchterung eine bestimmte Katharsis, liegt gerade in der Öde eine bestimmte Form der Askese, die mit dem Kulturbegriff – kul'tura – in Verbindung steht. Erst die Läuterung des Individuums von billigen, materialistisch orientierten Motivationen ermöglicht den Zugang zu geistigen Werten.18 Die asketisch-feierliche Atmosphäre im Kulturhaus ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass die Besuchenden in einen besonderen Gemütszustand, in eine Art der Kontemplation, versetzt werden bzw. sich selbst in diesen Zustand versetzen. Beim Betreten des Auditoriums vollzieht sich ein Übergang von der Sphäre des Profanen in die Sphäre des Geweihten (Durkheim [1981] 1994: 293), ein Übergang in einen abgegrenzten und der Alltagswelt entrückten Raum, der eigens für Zeremonien geschaffen wurde (vgl. Rolf 2006: 17). Die Leere und Verschlossenheit der Kulturhäuser erinnert an ein von Mathijs Pelkmans (2003) beschriebenes Phänomen – die Leere und Unfertigkeit öffentlicher Gebäude in der georgischen Teilrepublik Adscharien (zu Sowjetzeiten die Adscharische ASSR). Die Verschiebung der Fertigstellung dieser öffentlichen „Projekte“ auf den Sankt-Nimmerleinstag hilft, so Pelkmans, das Versprechen einer besseren Zukunft aufrechtzuerhalten (vgl. auch Ssorin-Chaikov 2003). Wenngleich der Modus des kulturellen standby nicht aus der Unfertigkeit, sondern aus der Willkür der Nutzung rührt, so verweist er doch ebenfalls auf einen Idealzustand, auf ein Potenzial: das ständig präsente Versprechen einer kultivierten Existenz.

18 Das Gebot der Selbstvervollkommnung und der Aufruf zur inneren Askese, Selbsterkenntnis, Lektüre und Kontemplation als Mittel zum Erreichen des wahren, des „inneren Menschen“ (vnutrennij čelovek) wurden bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts innerhalb der Moskauer Freimaurerloge propagiert, wobei sich Querbezüge zum halleschen Pietismus ausmachen lassen (Lehmann-Carli 2011: 43-44). „Arbeit an sich selbst“ ist also keinesfalls ein Phänomen, das sich erst in der sozialistischen Phase manifestiert hat. Ich werde in Kapitel 7 und 8 aber herausstellen, dass das Gebot der „Arbeit an sich selbst“ in der Sowjetunion eine bestimmte Form annahm und eine besonders starke Wirkung entfaltete.

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R ESAKRALISIERUNG : DAS K ULTURHAUS O RT RELIGIÖSER H ANDLUNGEN

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ALS MÖGLICHER

Weiter oben war die Rede davon, wie in den 1920er und 1930er Jahren in vielen Orten der Sowjetunion Kirchen in Kulturhäuser umgewandelt wurden. Der alte cultus, der der Russisch-Orthodoxen Kirche, sollte durch einen neuen cultus, den des Neuen Menschen (in Gestalt des kreativen und verantwortungsvollen Werktätigen), ersetzt werden. Diese Tendenz wird gegenwärtig in vielerlei Hinsicht umgekehrt: zum einen durch die faktische Umwandlung von Kulturhäusern in Kirchen; zum zweiten durch die Aufnahme von Gruppen oder Veranstaltungen mit religiöser Ausrichtung in das Tätigkeitsspektrum der Kulturhäuser, womit der frühere atheistische Auftrag der Kulturhäuser ad absurdum geführt wird. Zum dritten ist zu beobachten, dass auch die Angestellten der Kulturhäuser – ebenso wie Lehrerinnen und andere Pädagoginnen – in ihren Biographien ihre gesellschaftliche „Mission“ mit einem religiösen Bekenntnis verbinden und dies in ihrem erzieherischen Anspruch zusammenbringen, so dass auch hier die Grenzen zwischen der Sphäre der religiösen und der außerschulischen Erziehung verwischen. Diese drei Phänomene und ihre Deutung sind Gegenstand des hiesigen Abschnitts. Zum vierten hat durch die Kommerzialisierung des Kulturbetriebs und die Schaffung eines „Marktes“, auf dem kulturelle „Bedürfnisse“ mit kulturellen „Service-Leistungen“ zusammentreffen, der Kulturbegriff selbst einiges an seinem weihevollen Status eingebüßt. Davon wird im folgenden Abschnitt die Rede sein. „[T]he church is converted into a club, a red flag appears instead of the cross“ – dies ist das Sinnbild der Negierung des „alten“ Glaubens und des sozialistischen Heilsversprechens, und tatsächlich wurde dieses Sinnbild während der frühen Sowjetzeit der Landbevölkerung in Form eines Theaterstücks vermittelt (Kotyleva 2004: 141). Häufig waren es „amateur actors“, die diese Lehrstücke zum Besten gaben (ebd.: 142), also die Vertreterinnen und Vertreter der samodejatel'nost', welche damals noch mit dem agitprop zusammenfiel. Es blieb aber nicht bei der symbolischen Entweihung und Umwidmung der sakralen Orte. Es könnten viele Belege für die tatsächliche Umwandlung von Kirchen in Dorfklubs und Kulturhäuser geliefert werden. Die Kleinstadt Kolyvan' zählt, wie zuvor dargestellt, zu den davon betroffenen Gemeinden – sie steht zugleich beispielhaft für die Kommunen, in denen die Rückwandlung von Kulturhausgebäuden in Kirchen stattfindet. Die Frage der Rückübertragung hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen, zumal das Parlament der Russischen Föderation im Herbst 2010 die Rückgabe des Eigentums der Kirche gebilligt hat, so dass neben dem moralischen Restitutionsanspruch der Kirche nun auch ein gesetzlich verbriefter Anspruch auf Eigentum „religiöser Bestimmung“ besteht (Federal'nyj zakon № 327). In vielen Orten sind Kultur- und Freizeiteinrichtungen von den Restitutionsansprüchen be-

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troffen. In den Städten und größeren Landgemeinden wird die Kirche schon aufgrund des Immobilienwertes auf Dauer wohl kaum von der Restitution absehen. Im Fall von Kolyvan' waren besonders günstige Voraussetzungen gegeben: eine Bevölkerung, die sich gern auf die historische Bedeutung ihrer Kleinstadt bezieht (vgl. Kapitel 1), ein einflussreiches Kloster im Weichbild der Stadt (s.u.), ein offen zur Schau gestelltes religiöses Bekenntnis vieler Mitarbeiterinnen der Verwaltung und des Kulturbetriebs und nicht zuletzt die Notwendigkeit, die mittlerweile baufällige Sporthalle durch eine neue, größere, zu ersetzen. Weniger spektakulär, aber in ihrer Wirkung nicht minder gewichtig, ist die zweite Form der Resakralisierung: es ist die Wiederkehr religiöser Inhalte und Veranstaltungen in die Kulturhäuser, die sich an vielen Orten bemerkbar macht. Diese vollzieht sich allmählich, gelegentlich trifft sie auch auf Widerstand. Luehrmann berichtet über ihre Feldforschung in der Stadt Joškar-Ola (Hauptstadt der Republik Marij-Ėl) im Jahre 2003: „A number of Protestant churches are […] renting auditorium space in culture houses for their services […] Several started out using the auditorium of the Lenin Culture Palace, but the new director who took over the Palace in 2000 is refusing to rent to Protestant groups. Since then a registered Baptist group has been meeting weekly in the Culture House of the All-Russian Society of the Blind. The Neoapostolic Church meets in the Culture House of the Society of the Deaf.“ (Luehrmann 2005: 41)

Dadurch werden Kulturhäuser zu Gemeinde-Zentren nicht nur im weltlichen Sinne, sondern auch im kirchlichen. An anderer Stelle (Kapitel 2) bin ich auf die Funktion des Kulturhauses als Raum für Kommunikation und Geselligkeit (obščenie) eingegangen. Daher ist der Gedanke, das Kulturhaus auch als einen Ort der Kommunion zu nutzen, durchaus legitim. Als Ort des kommunalen Gemeinsinns (sobornost', Kapitel 5) bietet sich die Institution des Kulturhauses heutzutage potenziell auch als eine Stätte für Zusammenkünfte von Gläubigen an. Insbesondere die protestantischen Religionsgemeinschaften scheinen davon Gebrauch zu machen, wie Luehrmanns Beispiel suggeriert. Nicht jedoch die Russisch-Orthodoxe Kirche, da die räumliche Organisation des Ritus eine andere ist als die der protestantischen Kirchen: „instead of speaker/ preacher and audience facing each other, priests and lay believers together face the altar.“ (Luehrmann 2005: 43) In Kolyvan' sind die Räume, die dem Kulturbetrieb gewidmet sind, von den Räumen, die für Gottesdienste bestimmt sind, deutlich getrennt. Protestantische Gemeinden haben in Kolyvan' m.E. keine öffentliche Präsenz (wohl aber in Novosibirsk), die Russisch-Orthodoxe Kirche dagegen beherrscht ein ganzes Quartal im Straßenraster der Kleinstadt in Form eines Klosters. Dieses Kloster, das 1992 am Standort eines Gotteshauses aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet wurde, hat zwar nur geringe ortsbildprägende Wirkung, da es sich nicht

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im zentralen Bereich befindet, doch steht es sehr wohl im Enklang mit dem Image der Stadt, die mit ihrer reichen Geschichte und historischen Bauten wirbt. Der Umstand, dass im zentralen Teil der Stadt lange Zeit keine Kirche existierte, rechtfertigte den Wiederaufbau der Kirche an alter Stelle – am Standort des „alten“ Kulturhauses – umso mehr. Nicht wenige der Kulturarbeiterinnen, mit denen ich mich 2006 bzw. 2007 unterhielt, kamen in den Interviews auf ihren Glauben zu sprechen und/oder verwiesen auf die Nähe der Kultureinrichtungen zu den Kirchen (sowie den Schulen) im gemeinsamen Auftrag, die Menschen zu moralischen Handlungen zu bewegen und sie zu Respekt gegenüber dem Nächsten zu erziehen. Damit komme ich auf den dritten Aspekt der „neuen Religiosität“ zu sprechen, der von den Kulturarbeiterinnen selbst ausgeht. Es ist das offene Bekenntnis zur Kirche, konkret zur RussischOrthodoxen Kirche. Wiederum kann ich auf Luehrmann (2005: 36) verweisen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hat: sie begegnete „many people who received an education in what might be called the Soviet ‚cultural professions‘ and were now active members of religious communities.“ Luehrmann wertet diese neue religiöse Engagement als „another form of cultural construction“ (ebd.), also als eine neue Version des „kulturellen Aufbaus“ (kul'turnoe stroitel'stvo), der unter der Herrschaft Stalins, aber auch in der Spätphase der Sowjetunion, propagiert wurde und neben vielen anderen Aspekten auch den des Kampfes gegen tradierte Glaubensvorstellungen betraf. Für die älteren unter den Kulturarbeiterinnen, speziell für diejenigen, die schon vor 20 oder 30 Jahren in leitender Position waren, ließe sich dies als bewusste Abkehr von den früheren moralischen Prinzipien interpretieren. Luehrmann beschreibt diesen Prozess als Recycling, eine Wiederaufbereitung der eigenen Maximen: „it is not surprising that some teachers, journalists and other cultural professionals are recycling themselves from atheists into religious people – they may have been some of the central agents and foci of atheist propaganda, but as state employees, many of them have also been among the most marginalised by postsoviet developments. […] It is because of their strong integration into a particular niche of socialist society that these people are threatened with marginality now, and for some, turning to religion becomes a strategy to avoid going into the dustbin of history.“ (Luehrmann 2005: 52, Hervorh. im Original)

Hier erfolgt also offenbar eine Abkehr bzw. ein Verwerfen (Wegwerfen) von alten Glaubenssätzen. „In order for something to be recycled, it must first declared to be trash“ (ebd.: 37). Die strategische Hinwendung zur Religion mag in der Tat zutreffen „for some“, allerdings scheint mir, dass das genannte Motiv (die Überwindung der sozialen Marginalisierung) und der genannte Prozess (Recycling) nicht in allen

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Fällen eine zutreffende Erklärung bieten.19 Der Glaube an die Prinzipien des Leninismus (und an Lenin als unfehlbare, nahezu gottgleiche Gestalt, vgl. Binns 1979: 598ff.; Peris 1998: 86; Yurchak 2006: 74) scheint bei vielen meiner älteren Gewährsleute nicht gewichen, sondern eher überlagert worden zu sein vom Glauben an Gott, Christus und die alleinseligmachende Orthodoxe Kirche. Die moralischen Prinzipien der sozialistischen Zeit, so schreibt Tobias Köllner (2011: 242), seien nicht verschwunden, sondern ergänzt worden durch die zunehmend bedeutsame religiöse Erziehung und Bildung, vor allem die der RussischOrthodoxen Kirche. Agata Ładykowska (in Vorb.) berichtet über ihre Gespräche mit Lehrerinnen in einer Großstadt im Süden Russlands zum Thema Religiosität und das sowjetische Erbe der Pädagogik: diese Lehrerinnen empfanden „no contradiction between Soviet and Orthodox morality and insist on the issue of continuity“. Für die Kulturarbeiterinnen in Kolyvan' kann ich ebenfalls konstatieren, dass sich die unterschiedlichen Paradigmen der moralischen Erziehung (nravstvennoe vospitanie) aus ihrer Sicht nicht ausschließen. Vielmehr werden sie von dem Kreis der Personen, die sich in ihrer jeweiligen Gemeinde für die Erbauung, Erziehung und Aktivierung ihrer Mitmenschen zuständig fühlen, in unterschiedlichen Kontexten genutzt, teilweise simultan eingesetzt und kombiniert.20 Im nächsten Abschnitt argumentiere ich, dass sich in den letzten Jahren ein Prozess abzeichnet, der zu einer Säkularisierung der Kultur und zu einem „pragmatischeren“ Kulturverständnis in Russland führt. Diese Behauptung steht in scheinbarem Widerspruch zur „desecularisation of culture in Mari El“, die Luehrmann ausmacht. Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs liegt darin, dass sich der Begriff der Desäkularisierung auf die Reintegration religiöser Inhalte und Praktiken in den Kulturbetrieb und in die Biographien der Kulturarbeiterinnen bezieht, in manchen Fällen auch auf die Resakralisierung von Räumen, die im Zuge der atheistischen Kampagne „entweiht“ und umgewidmet wurden. Der Begriff der Säkularisie19 Luehrmann bemerkt, dass ihre Gewährsleute sich hinsichtlich der Bewertung der eigenen Biographie und ihres Verhältnisses zu kirchlichen Dingen in der späten Sowjetzeit unterschieden: „I have not heard such ambivalent memories from people who are now active in the Orthodox church, so it may be that Protestants have more ‚conflicted‘ (emotionally ambivalent) attitudes to the kinds of church authority they encountered during the Soviet period“ (2005: 48). Protestantische Personen sprachen Luehrmann gegenüber offenbar häufiger von einem Bruch in der Biographie, einem Wendepunkt, einer Konversion. Von den älteren Frauen in Kolyvan' oder Novosibirsk, die sich offen zur Kirche bekennen, hat mir gegenüber keine von einem solchen Schlüsselerlebnis – einer Konversion, einem Bruch in der Biographie oder dgl. – berichtet. 20 In Kapitel 2 habe ich erläutert, dass ein relativ begrenzter Personenkreis sich für die Belange seiner Gemeinde einsetzt und sich dabei unterschiedlicher Register bedient, um die Mitmenschen zu verantwortungsvollem und respektvollem Handeln zu bewegen.

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rung bezieht sich auf die zeitgleich stattfindende Kommerzialisierung und Profanisierung des Kulturbetriebs. Wir können dies als zwei Aspekte desselben Prozesses verstehen: die Trennung von Kultur und Religion, die ab den 1920er Jahren erfolgte, hat an Wirkung verloren, und gleichzeitig hat Kultur als zu Sowjetzeiten etablierter (Ersatz-)Ritus an normativer Macht verloren. Nach wie vor schwingt im Wort kul'tura etwas Hehres und Geweihtes, etwas durchweg Positives mit, doch steht das Heilsversprechen, das mit dem Begriff kul'tura einhergeht, nun in Wettbewerb und Wechselwirkung zu den Heilsversprechen der religiösen Gemeinschaften, vor allem der Russisch-Orthodoxen Kirche.

D IE S ÄKULARISIERUNG DES K ULTURKONZEPTS 21 Das Konzept der Säkularisierung, das sich gewöhnlich auf die Transformation religiöser in weltliche Dinge bezieht, kann m.E. auch auf das Kulturhaus und das von dieser Institution vermittelte Kulturkonzept angewandt werden. Mehrfach wurde angesprochen, dass in den Begriffen kul'tura und kul'turnost' nach wie vor etwas Geweihtes, nahezu Heiliges mitschwingt. Durkheim beschreibt den Prozess der Sakralisierung bestimmter weltlicher Dinge im Zuge der Französischen Revolution: „Unter dem Einfluß der allgemeinen Begeisterung, wurden seinerzeit rein profane Dinge durch die öffentliche Meinung vergöttlicht […] Sogar eine Religion wurde geschaffen, die ihre Dogmen, ihre Symbole, ihre Altäre und ihre Feste hatte“ ([1981] 1994: 294-295).22 Ein solcher Prozess vollzog sich auch in den ersten Jahrzehnten der Sowjetunion (Rolf 2006), er bedingte die Entstehung einer neuen Religion. Das Kulturhaus diente als Tempel dieser Religion. In heutigen Zeiten erweist sich der Kulturbetrieb aber nicht selten als eine recht profane Angelegenheit. Das Spektrum der kulturellen Aktivitäten wird diversifiziert, die Tätigkeit der Kulturarbeiterinnen folgt heute nicht mehr so dezidiert dem Anspruch einer Mission, sondern hat zunehmend den Charakter einer Dienstleistung, und Kultur wandelt sich teilweise von einem höchst idealistischen zu einem recht pragmatischen Begriff. Dieser allmähliche Wandel vom hehren zum pragmatischen Kulturverständnis geht mit vielerlei Problemen und Konflikten einher. Er vollzieht sich nicht überall mit derselben Geschwindigkeit, und mancherorts scheint er gar nicht stattzufinden. Wenngleich dieser Wandel bei vielen unserer Interviewpartner auf eine gewisse – teils große – Sympathie stieß, so gab es zugleich vielfaches Bedauern über den Verlust einer bestimmten Form der Kultur und eines gewissen Grades an Kultiviertheit. 21 Dieser Teil des Kapitels basiert auf einer überarbeiteten Übersetzung zweier Absätze im Abschnitt „Cultural Salvation, Cultural Secularization“ in Habeck (2011a). 22 Vgl. auch Rolfs Verwendung des Begriffs Ritualtransfer bzw. Sakraltransfer, die zu Beginn dieses Kapitels vorgestellt wurde.

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Es gehe nur noch um Geld und stupide Unterhaltung, so ein Respondent gegenüber meinem Kollegen Brian Donahoe (2011: 134). Eben in diese Richtung geht ja auch Kosincevas Klage darüber, dass der „künstlerische Massenkonsum“ so allgegenwärtig und die gute, alte kul'tura so rar geworden ist (s. Kapitel 2). Während also einige unserer Gewährsleute der Auffassung sind, dass Kultur all das ist, was Leute für sich selbst (und möglicherweise auch für ihre Umgebung) tun, so vertreten viele andere nach wie vor die Meinung, dass Kultur ein begrenztes – also nicht völlig beliebiges – Repertoire von Werken und Tugenden umfasst und dass Kultur – wenn sie richtig ausgeübt wird – die menschliche Seele erlösen kann. Abbildung 20: Wandmalerei im Treppenhaus des Kulturhauses Metallurg in Novosibirsk. Foto: JOH, 7. September 2005

F AZIT : G EBOT

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ANGEBOTE

DER

S EELSORGE

Kultur und Religion werden von meinen Gewährsleuten in Kolyvan' (und vermutlich in Russland überhaupt) als getrennte Sphären definiert, die aber schon lange nicht mehr in jener ideologischen Feindschaft zueinander stehen, die zur Frühzeit der Sowjetunion bestand. War in den ersten Jahren nach der Revolution von 1917 zunächst die Separierung und Substituierung des christlichen durch den neuen, sozialistischen Ritus beabsichtigt, so ergab sich in der Praxis in vielfacher Weise eine Hybridisierung dieser beiden Sphären. Sowohl der These der Substituierung als auch der Hybridisierung liegt die Annahme zugrunde, dass beide Elemente strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, denn diese bilden die logische Grundlage für den Prozess des Ersetzens bzw. des Vermengens. Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und sowjetischer Kulturpolitik betraf dieselben Orte und dieselben „Seelen“. Sowohl die Kirche als auch die Verkünder des „Neuen Menschen“ waren kompromisslos in ihrem Anspruch, die einzig wahre Heilslehre zu vertreten. Wenngleich Gegner, so waren die Akteure auf beiden Seiten durch die Sprache und den Inhalt ihres Konflikts in einer direkten Interaktion verstrickt (Schlee 2006: 19). Malte Rolf hat diesen Zustand als eine „konsenslose Solidarität“ bezeichnet (2006: 311).

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Über diese Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten sollen die Unterschiede nicht außer acht gelassen werden. Die architektonische Formensprache verweist auf verschiedene Traditionen: hier die byzantinisch-ostkirchliche, dort die neoklassischaufklärerische. Auch wenn moralische Prinzipien als miteinander kompatibel erscheinen, so sind die salvatorischen Aussagen grundverschieden. Bestimmte Bereiche bleiben die alleinige Domäne der Kirche (so zum Beispiel das Osterfest) oder des Kulturhauses (bei den Feierlichkeiten zum 9. Mai waren keine Kirchenleute im Ornat zugegen). Hier zeigt sich wiederum eine Parallele zu der von Luehrmann (2005: 40) beobachteten „opposition between public spectacle and proper religious ceremony“. Darüber hinaus lässt sich konstatieren, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche aus einer Position der Stärke handelt, wie die Debatte um die Restituierung des Kircheneigentums zeigt. Die Funktionsträger der Russisch-Orthodoxen Kirche sind den Zentren der politischen Macht in den vergangenen zwanzig Jahren beträchtlich näher gekommen, wohingegen kul'tura etwas von ihrem Nimbus verloren hat und nun zur pragmatischen Befriedigung kultureller Bedürfnisse zu Markte getragen wird. Möglicherweise verstellt die Gegenüberstellung von Kirche und Kulturhaus den Blick für den weiteren Kontext, für andere Akteure, für komplexere Koalitionen (beispielsweise zwischen religiösen, pädagogischen und Kulturorganisationen, vgl. Ładykowska, in Vorb.), aber auch für dynamischere, neuartige Konfrontationen (so zum Beispiel zwischen dem öffentlich subventionierten Kulturbetrieb, in dem die „klassischen“ Formen der Kreativität gelehrt und gezeigt werden, und den virtuellen Netzwerken, in denen andere, neue Formen der Kreativität ihren Raum haben). Es wäre sicherlich kurzsichtig, davon auszugehen, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche eine einheitliche Interessengemeinschaft darstellt (die inneren Fraktionsbildungen und die Diversität ritueller Praktiken werden von Agadjanian/Rousselet 2010, Hann/Goltz 2010 u.a. Beiträgen im selben Band thematisiert). Politisch hat sie jedoch in den letzten Jahren unzweifelhaft an Macht gewonnen, was sich in ihrer Nähe zur Staatsmacht widerspiegelt. Im Wettstreit um die alleinseligmachende Wirkung hat die Kirche den Sieg davongetragen und das Kulturhaus in seiner salvatorischen Rolle reduziert. Der frühere Auftrag der Kultureinrichtungen, Religion zu bekämpfen, besteht nicht mehr. Von allen Tätigkeitsrichtungen, die die Mission der sowjetischen Kulturhäuser ausmachten, ist die atheistische Richtung (ateističeskoe napravlenie) diejenige, die besonders rasch und ohne große Wehmut zu Grabe getragen wurde. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wurde angedeutet, dass die Kommerzialisierung des Kulturbetriebs nicht von allen Mitarbeiterinnen (und auch nicht von allen Besuchenden) begrüßt wird. Dies interpretiere ich als ein Zeichen der Befürchtung, dass kul'tura damit entwertet, degradiert und profanisiert werden könnte. Wenngleich am Nimbus von kul'tura gekratzt wurde und ihr Heilsversprechen relativiert wurde, so ist sie nach wie vor wertvoll und gut an sich.

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In Anlehnung an meine Gewährsleute habe ich kul'tura als ein knappes kollektives Gut charakterisiert, unter anderem in der Einleitung, wo ich Beispiele für die Verwendung des Begriffs gegeben habe. Dort habe ich auch vermerkt, dass sich kul'turnost' (Kultiviertheit) erstreben und erwerben lässt, kul'tura dagegen „lediglich“ erlebbar und erfahrbar ist – selbst wenn sie, wie manche Formulierungen suggerieren, quantifizierbar ist. Auf der Bühne des Kulturhauses ist sie verkörpert in der Stimme oder der Bewegung der Darbietenden, sie ist zum Greifen nah, und dennoch bleibt sie etwas letztendlich Volatiles, Unerreichbares, da die Interaktion zwischen den Darbietenden und den Betrachtenden nur für den Moment hergestellt werden kann. Aus diesem Grund kann es nie ein Genug an kul'tura geben. „Das, was das Leben verschönert, was es besser, schöner, reiner macht, das ist Kultur“ (Wdh. eines Zitats aus dem Vorwort). Diese Feststellung, dass kul'tura in der Vorstellung vieler von mir interviewter Personen das Gute und Hehre an sich verkörpert, werde ich im abschließenden Kapitel 9 wieder aufgreifen. Trotz dieser Volatilität und Unerreichbarkeit wird kul'tura nicht als etwas wahrgenommen, das „wegläuft“. Selbst wenn manche Individuen sich völlig kulturlos gebärden und manche Personen behaupten, dass kul'tura bedroht sei, so wird es sie doch immer geben. Sie ist ein Motiv, das Menschen zu bestimmten Regungen und Handlungen bewegen kann. Auch wissen die Menschen, wo kul'tura zu finden ist. Mit diesen scheinbar essentialisierenden und esoterischen Ausführungen möchte ich zum Abschluss dieses Kapitels die These aufstellen, dass Kultur und Religion eine weitere Gemeinsamkeit aufweisen: in beiden Fällen handelt es sich um ein Versprechen, um ein Motiv menschlicher Entwicklung. Ähnlich wie kul'tura ist auch Religion (religija) etwas, was nicht wegläuft, dessen man aber auch nicht habhaft werden kann. Ähnlich wie kul'turnost' sind Religiosität (religioznost'), Ausübung des Glaubens (veroispovedanie) und die Nähe zur Kirche (vocerkovlennost') Kategorien persönlicher Handlungen und somit Bereiche, wo ein Mensch „an sich arbeiten“ kann – aber nicht zwingend muss. Sowohl die Kirche als auch das Kulturhaus sind Orte, die man aufsuchen kann, aber nicht muss. Sicherlich könnte man sie öfter besuchen – genau dies ist der beharrliche Appell der Gemeinde und der Seelsorger – aber die profanen Angelegenheiten des Alltags halten einen häufig davon ab. Die „Beschäftigung“ mit Kultur wird somit – ähnlich wie die Ausübung des Glaubens – zu einer persönlichen Option.23 Man kann nie oft genug in die Kirche bzw. ins Kulturhaus gehen. Andererseits hat der soziale Druck, die Kirche bzw. das Kulturhaus zu besuchen zu müssen, nachgelassen. Daraus folgt die Einsicht: Es ist gut, ein Kulturhaus im Ort zu haben, selbst wenn man nicht hingeht.

23 Hierbei beziehe ich mich auf die Idee der „thin religiosity“ (Agadjanian und Rousselet 2010: 323; vgl. Kormina 2010).

Kapitel 7 Kultur und Zivilisation: Begegnungen mit dem Neuen Menschen

In den vorangegangenen Kapiteln stand die Analyse der Feldforschungsergebnisse im Vordergrund. In diesem Kapitel geht es um die Einordnung dieses Materials in einen weiteren historischen Zusammenhang (wofür Kapitel 6 schon einige Komponenten geliefert hat). Das Ethos, die Praxis und auch die Bürokratie der Kulturarbeit stehen in der Kontinuität eines aufklärerischen, zivilisatorischen und modernisierenden Bemühens, dessen Dynamik sich über die letzten drei Jahrhunderte der russischen Geschichte zurückverfolgen lässt. Um es vorweg zu sagen: eine detaillierte und zugleich ausgewogene Darstellung der Geschichte des Kulturbegriffs und der Kulturarbeit kann und soll hier nicht geleistet werden. Diese Arbeit ist von anderen geleistet worden.1

1

Einen breit angelegten, bis in die 1930er Jahre reichenden kulturgeschichtlichen Abriss hat Miljukov geliefert ([1937] 1993-1994), er handelt auch das Verhältnis von „Kultur“ und „Zivilisation“ ab (ebd.: I, 57ff. und II.2: 466ff.). Zum Kulturkonzept im Leninismus vgl. neben den in diesem Kapitel genannten Arbeiten auch Fitzpatrick (1992). Zur Populärkultur im Russland des frühen 20. Jahrhunderts und in der Sowjetunion s. Stites (1992: 9-36). Eine der größten Lücken in der historischen Untersuchung des Kulturbetriebs in Russland bzw. der Sowjetunion betrifft m.E. die Schaffung eines flächendeckenden Netzes von Kultureinrichtungen im ländlichen Raum während der 1930er Jahre. Wir wissen, dass um 1920 und wieder ab etwa 1930 solche Einrichtungen in großer Zahl gegründet wurden und können dies auch im antireligiösen Kampf verorten (s. Kapitel 5), aber wir haben bisher nur sehr wenig Informationen darüber, wie die Schaffung einer kulturellen „Infrastruktur“ in Zusammenhang mit der allgemeinen Infrastruktur der frühen kolchozSiedlungen realisiert wurde bzw. realisiert werden sollte (İğmen 2011 beschreibt teilweise diesen Prozess für Kirgisien zur Sowjetzeit).

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Ich möchte die historische Betrachtung über die Entwicklung der Institution Kulturhaus hier nur anhand einzelner Aspekte skizzenhaft beleuchten. Diese Aspekte sind: der Eingang der Begrifflichkeit von Kultur und Zivilisation in den russischen Wortschatz im 19. Jahrhundert; Kulturarbeit als zivilisatorische Mission im Hohen Norden und Fernen Osten der Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren; die Idee von kul'turnost' und „Arbeit an sich selbst“ als Voraussetzung für den gesellschaftlichen Fortschritt am Beispiel der stalinistischen Phase; und schließlich die sich über die Jahrzehnte wandelnde Relevanz von agitprop und samodejatel'nost' in der sowjetischen Kulturpolitik als Indiz für ein sich veränderndes Kulturkonzept. Auch wenn diese Aspekte räumlich und zeitlich disparat sind, stehen sie nichtsdestoweniger in einem Zusammenhang: es geht um die Kultivierung der als rückständig erachteten (Teile der) Bevölkerung, die Verbesserung der Untertanen bzw. die Schaffung des „Neuen Menschen“. Kultur offenbart sich in all diesen Facetten als ein zivilisatorischer und missionarischer Anspruch.

„Z IVILISATORISCHE M ISSION “ UND „K ULTUR “ IM RUSSISCHEN W ORTSCHATZ : Z U DEN ANFÄNGEN Zunächst werde ich in einer notwendigerweise sehr kursorischen Betrachtung der Frage nachgehen, zu welcher Zeit die Termini „zivilisatorische Mission“ (civilizatorskaja missija), „Kultur“ (kul'tura) und „Kultiviertheit“ (kul'turnost') in Russland in Gebrauch kamen. Hier gehen die Meinungen innerhalb der historiographischen Zunft etwas auseinander (Khodarkovsky 2002; Osterhammel 2005; Vulpius 2012; vgl. Dahlmann 2005; Städtke 1995; Utkina und Suchov 1991). Das Erscheinen dieser drei Termini in der russischen Sprache ist im Kontext der Aufklärung in Russland zu betrachten. Das politische Projekt der Aufklärung (prosveščenie)2 in Russland ist oft als eine Art West-Import beschrieben worden; der Einfluss dieser Ideen war vor allem dem Zaren Peter I. (r. 1689-1725) und seiner Absicht, Russland zur Großmacht aufzubauen, geschuldet (Slezkine 1994: 47-60; Winter 1953). Gabriela Lehmann-Carli (2011) hat deutlich gemacht, wie konträr dieses Projekt von Peters Zeitgenossen und von Literaten des 18. und 19. Jahrhunderts, sowohl in Westeuropa als auch in Russland selbst, bewertet wurde. 2

Der Begriff prosveščenie war zu dieser Zeit allgemein gebräuchlich, im religiösen wie auch weltlichen Sprachgebrauch („Taufe“, „Erleuchtung“, „Bildung“) (Slovar' 1995). Die Konnotation der „Aufklärung“ kam später hinzu: „Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts konnte prosveščenie […] für den Prozess der Zivilisation oder für Kultur stehen, eine Bildung des Verstandes und Herzens oder rationalistische Lebensführung bedeuten. Daneben blieb prosveščenie eine Bezeichnung für religiöse bzw. mystische Erleuchtung“ (Lehmann-Carli 2011: 36, vgl. Städtke 1995: 25-26).

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Die Schriften der Frühaufklärung wurden nicht nur in den Zentren des Reiches von russischen Gelehrten rezipiert. Auch in den entfernten Landesteilen, gerade in Sibirien, führte die Tätigkeit von Missionaren, Forschungsreisenden und Kriegsgefangenen des schwedischen Heeres im frühen 18. Jahrhundert zu einer gewissen Verbreitung von aufklärerischen Gedanken und einer „westlichen“ Weltsicht, die die Prinzipien der Kausalität und Klassifizierung betonte, aber zugleich auch ein Interesse an den einmaligen und kuriosen Erscheinungen hegte.3 Es verbreitete sich zu dieser Zeit die Ansicht, dass die indigene Bevölkerung Sibiriens durch Erziehung und Aufklärung aus ihrer Rückständigkeit, Wildheit und „Beschränktheit“ (vgl. Slezkine 1994: 57-58) herausgeführt werden könne – und solle. Aufklärung schien in dieser Zeit von Christianisierung nicht trennbar. Während der Herrschaft Katharinas II. (r. 1762-1796) veränderte sich das Urteil der führenden Kreise der russischen Gesellschaft über die sibirischen Eingeborenen: nun wurden ihre Verletzlichkeit, ihr Freigeist und Edelmut betont. Verknüpft damit ist die Geschichte der Rezeption der Figur des „Edlen Wilden“, die Rousseau in indirekter und Voltaire in direkter Weise mit Katharina II. verband (Barros 2010; vgl. Bitterli [1976] 2004: 222). Damit war die Notwendigkeit der Bekehrung und Auflärung aber nicht ausgesetzt; sie beruhte nun auf anderen Motiven. Weithin herrschte die Auffassung, dass die Völker Sibiriens sich zu den Russen wie Kinder zu Erwachsenen verhielten, und letztere trügen die Verantwortung für das Heranwachsen der ersteren. Der explizite Gebrauch des Begriffs „zivilisatorische Mission“ lässt sich aber erst für die Mitte des 19. Jahrhunderts belegen.4 Diese Mission

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Die Tatsache, dass von den damaligen Forschungsreisenden nicht wenige vom intellektuellen Einfluss der Universität Halle bzw. der Franckeschen Stiftungen geprägt worden waren, dokumentiert die frühen Verbindungen zwischen Halle und Russland (z.B. Jarkov 2012; Mühlpfordt 2001; Winter 1953; Winter/Figurovskij 1962; vgl. Vermeulen 2012).

4

So Vulpius (2012) mit Bezug auf Khodarkovsky (2002: 188-189). Khodarkovsky (2002: 193) vermerkt: „The idea of civilizing the savage (‚wild‘, ‚ignorant‘, unenlightened) became a major driving force behind proselytizing efforts throughout the eighteenth century“. – Für den von Grant (2011: 264) implizierten Bezug zwischen Montesquieus Werk und Katharinas politischen Ideen habe ich keine Belege gefunden (Grant schreibt: „Montesquieu’s ‚civilizing mission‘, literally the tsivilizatorskaia missiia so favored by Catherine the Great“). Ich vermute, dass Voltaire in dieser Hinsicht einen direkteren Einfluss auf die Zarin hatte. Voltaire benutzte in seinem Brief an Katharina II. vom 27. Mai 1769 die Formel „civilisé des sauvages“ mit Bezug auf seinen Versuch, in der Nachbarschaft seines Aufenthaltsortes Ferney in der Champagne der Landbevölkerung ein besseres Los zuteil werden zu lassen (Voltaire 1882, Bd. 46: 341). Auch bei Blome/Depkat 2002 habe ich keine Belege für den Gebrauch der Begriffe civilizacija, civilizovano in der russischen Sprache in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gefunden, wenngleich „Cultivirung“

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gewann im Laufe des 19. Jahrhunderts in dem Maße an Dynamik, in dem sich das Interesse am russischen Wesen und auch der russische Nationalstolz verstärkten (Prell 2009; Slezkine 1994: 75-80). „Russland ist deshalb besonders interessant, weil sich dort im 19. Jahrhundert aus der Position wahrgenommener Rückständigkeit eine eigene, stark messianisch aufgeladene Idee der Zivisilierungsmission entwickelte. Sie wurde durch die Romantik und das Aufkommen nationalistischer Sonderwegskonzepte vorbereitet“ (Osterhammel 2005: 394; vgl. Städtke 1995). Anstelle der Völkerbeschreibungen des 18. Jahrhunderts, die nur teilweise zur Veröffentlichung gelangten, traten nun vermehrt volkskundliche Studien über das russische Bauerntum (Prell 2009), da diese nun in den Mittelpunkt des Interesses der Intelligenz rückten. Innerhalb der Intelligenz war es ein bestimmter Teil, der besonders stark vom russischen Bauerntum fasziniert war: die sogenannten Slawophilen (Olson 2004: 22ff.). Wenn von den Slawophilen die Rede ist, dann meist in Zusammenhang mit dem „anderen“ Lager innerhalb der Intelligenz, den sogenannten „Westlern“. Die Geister der beiden Lager schieden sich u.a. an der Frage, woher die Erneuerung der russischen Gesellschaft ihre geistigen Grundlagen beziehen solle: von den (west-) europäischen Nachbarn oder der (slawischen) Bevölkerung im eigenen Land. Die Position der Slawophilen bestand darin, das Ursprüngliche und Unverfälschte des russischen Wesens anhand des russischen Bauerntums zu erkunden und wiederzugewinnen, um das Vaterland mit seinen morschen Institutionen gleichsam zu verjüngen (Lehmann-Carli 2011: 74). Etwa in dieser Zeit – Mitte des 19. Jahrhunderts – entwickelte sich auch die Vorstellung von Sibirien als einem jugendlichen, unverbrauchten Land, als einer Art Experimentierfeld in politischer ebenso wie zivilisatorischer und ethnischer Hinsicht (vgl. Anderson 2004: 25). Der massenhafte Zuzug von russischen Siedlerfamilien nach Sibirien, vor allem in die südwestlichen Teile Sibiriens, entsprach diesem neuen Topos.5 In Tomsk und anderen Städten äußerte sich ab etwa 1860 ein regionales (sibirisches) Selbstbewusstsein in der Bewegung der oblastniki, welches mit den regierungskritischen Vorstellungen der narodniki, die aus den Slawophilen hervorgegangen waren, korrespondierte (Prell 2009; Thomas 1982: 81-85; Stolberg 2009: 142). In der Forderung nach Volksbildung fanden sich die Vertreter der verschiedenen Strömungen vereinigt, wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen. Um die Alphabetisierung der Landbevölkerung voranzubringen, wurden neben den religiösen nun auch weltliche Schulen (sogenannte zemstvo-Schulen) in Provinzorten errichtet (so auch in Kolyund „civilisirend“ in deutschsprachigen Schriften über Russland durchaus anzutreffen sind. 5

Der massenhafte Zuzug von Bauernfamilien aus dem europäischen Teil Russlands hatte schon lange vorher begonnen, nahm aber nach der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 noch größere Dimensionen an.

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van' 6). Die bäuerlichen Massen waren nicht nur der Jungbrunnen der russischen Nation, sondern bildeten gleichzeitig die Zielgruppe der aufklärerischen Mission. Dem russischen Historiker Vadim Volkov zufolge war es in diesem Kontext (in den späten 1870er Jahren), dass die Begriffe kul'tura und kul'turno in der russischen Provinz an Verbreitung gewannen: „Liberals working at zemstvo schools for peasant education […], teachers at Sunday schools for workers and peasants, and intellectuals (liberals as well as populists) studying popular reading habits, as well as other groups involved in similar activities, saw themselves as doing ‚cultural work‘ (kul'turnaia rabota) and, accordingly, were sometimes referred to as kul'turniki.“ (Volkov 2000: 212)

Kul'turnost' trat als Wortschöpfung kurze Zeit später hinzu; Volkov datiert das Erscheinen dieses Begriffs in der russischen Literatur in die 1890er Jahre. „Formally, the term can only be used in relation to a person or a group, and points to a relative level of personal culture and education“ (2000: 213). Kul'tura, kul'turno, kul'turnost', kul'turnaja rabota fanden alsbald Eingang in den Wortschatz der russischen Sozialdemokraten und somit der Bol'ševiki (vgl. David-Fox 1999: 193), und mit diesen Termini verbanden sich bereits in jenen Jahren durchweg positive Konnotationen: „kul'tura gradually came to constitute one of the central spiritual values of Soviet civilization“ (Volkov 2000: 213). Volkov (2000: 212), Lehmann-Carli (2011: 74) und Städtke (1995: 29ff.) vermerken außerdem zur Begriffsgeschichte von kul'tura und civilizacija, dass diese beiden Begriffe in den Debatten der Slawophilen in den 1880er Jahren als ein oppositionelles Begriffspaar verwendet wurden – in dem Sinne, wie Norbert Elias es für das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts postulierte (s.u.). Volkov (2000: 212) konstruiert überdies einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen dem russischen und dem deutschen Diskurs: „The emergence of kul'tura in the discourse of the Russian intelligentsia is usually connected with German influence“. Der tatsächliche Nachweis der These einer direkten Vermittlung des Begriffs Kultur in die russische Sprache ist jedoch schwierig. Auch in diesem Fall liegen die Meinungen auseinander (Lisjutkin 1982: speziell 104-105; Sugaj 2000). Von den wirkungsgeschichtlichen Prozessen abgesehen ist für das Ende des 19. Jahrhunderts noch eine sehr konkrete Entwicklung von Bedeutung: die Errichtung der ersten Volkshäuser (narodnye doma). In den 1880er Jahren wurden die ersten Volkshäuser in den Städten Russlands etabliert, so Stites (1992: 18-22) und White (1990: 32). Beide sprechen in diesem Zusammenhang von dem Absicht der „factory 6

In Kolyvan' wurde 1870 eine kirchliche Schule für Jungen, 1872 eine kirchliche Schule für Mädchen eingerichtet. Die Schule für Jungen wurde 1880 in eine städtische Einrichtung umgewandelt (Poleva 2009: 183).

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owners“, in dieser Weise ihre Arbeiterschaft zu befrieden und zu unterhalten. Die Einrichtung von Volkshäusern entsprach auch den Interessen der liberalen Kreise, die sich für die verbesserte Bildung in den ländlichen Regionen einsetzten. Ob dieser Prozess zu jener Zeit tatsächlich allein auf Initiative einiger Industrieller und liberal gesinnter Kräfte in Gang kam oder möglicherweise bereits von den Volkshausbewegungen in einigen westeuropäischen Staaten (Hain 1996b: 89-90) beeinflusst war, lässt sich rückwirkend kaum beurteilen; spätestens im Zuge der Russischen Revolution von 1905 entstanden Volkshäuser auf Initiative der Arbeiterschaft selbst (Post 2004: 22). „By 1913 there were 147 of them in the empire. People’s Houses were the models of the later Soviet houses and palaces of culture. They were augmented by a large network of rural cooperative cultural affiliates – ancestors of the Bolshevik reading cabins and agit-points of the 1920s“ (Stites 1992: 18). Die weitere Entwicklung dieses Netzes von Kultureinrichtungen ist Gegenstand der folgenden Ausführungen – zunächst am Beispiel der nomadisch besiedelten Regionen im Hohen Norden, dann am Beispiel der großen Industriezentren der Stalinzeit.

K ULTURBASIS UND K ULTURHAUS DER Z IVILISATION

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V ORPOSTEN

Im vorangegangenen Abschnitt wurde der Bogen vom frühen 18. zum frühen 20. Jahrhundert und von der Ostsee zum Ochotskischen Meer gespannt; dies geschah sowohl mit Bezug auf die „Zivilisierung“ der Völker Sibiriens als auch mit Bezug auf die „Kultivierung“ der in Sibirien ansässig gewordenen russischen Landbevölkerung. Kolyvan', der Schauplatz der meisten anderen Kapitel in diesem Buch, liegt im Südwesten Sibiriens, einer Region, wo offenbar schon im 18. Jahrhundert die indigene tatarische Bevölkerung von der russischen Bevölkerung zahlenmäßig überrundet wurde. Machen wir nun aber noch einmal einen Abstecher in diejenigen Regionen Sibiriens, in denen eine indigene, überwiegend nomadisch lebende Bevölkerung bis ins 20. Jahrhundert hinein die Mehrheit der Einwohner stellte. Der Anlass dazu ist folgender: durch diese Exkursion können wir in exemplarischer Weise erkennen, wie die zivilisatorische Mission, interethnischer Kontakt, Vorstellungen über ein kultiviertes Leben und die Konfrontation mit „dem Wilden“ im politischen Kontext der frühen Sowjetzeit ineinandergriffen. „Kultureller Aufbau“ in den peripheren Regionen Unter den nach Sibirien verbannten narodniki und anderen Oppositionellen waren einige, die den unfreiwilligen Aufenthalt an den Orten ihrer Verbannung (in den Siedlungsgebieten der Indigenen) für ethnographische Studien nutzten. Die Mög-

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lichkeit des ethnographischen Forschens in der Verbannung wurde nicht nur behördlich geduldet, sondern mitunter als nützlich erachtet; teilweise wurden diese Studien im Rahmen eines internationalen Forschungsverbundes realisiert.7 Die Kontinuitäten, die das Netzwerk dieser ethnographisch tätigen Verbannten mit den intellektuell und politisch einflussreichen Ethnologen der frühen Sowjetzeit verbinden, können hier nicht weiter ausgeführt werden (genauer dazu Schweitzer 2001: 144-159). Festzuhalten ist jedoch, dass die von diesem Personenkreis vertretene evolutionistisch geprägte Position in den Schriften von Friedrich Engels ihren Widerhall fand und in der Folge durch die Klassiker des Marxismus-Leninismus kanonisiert wurde (Grant 1995: 55-58; Johansen 1996; Schott 1960; vgl. Gellner 1975). Zwischen der Machtübernahme der Bol'ševiki in Petrograd (1917) und der Beherrschung auch der entlegenen Teile Russlands lagen mehrere Jahre eines verlustreichen Bürgerkriegs. Eine koordinierte Politik der Bol'ševiki gegenüber den indigenen Völkern im Hohen Norden und Fernen Ostens kam erst 1924 in Gang. Das Sendungsbewusstsein der überwiegend russischen sowjetischen Funktionäre und das evolutionistisch geprägte Bild standen in einem Verhältnis, das sich als positive Rückkopplung beschreiben lässt. Um die nomadische, illiterate, „rückständige“ Bevölkerung der Tundra und Taiga in die sowjetische Gesellschaft integrieren zu können, musste sie zunächst „aufgeklärt“ werden. Aufklärung war Voraussetzung für Kultur, genauer gesagt, für die Hebung des kulturellen Niveaus (kul'turnyj pod''em): „Eine überaus wichtige Voraussetzung für die Erfolge der sowjetischen Politik in der beschriebenen Periode [1924-1930] war die Arbeit zur Liquidierung der allgemein-kulturellen Rückständigkeit (obščekul'turnoj otstalosti) der kleinen Völker. Gerade in diesen Jahren begann ihre Heranführung an die Aufklärung und Bildung, in ihren Alltag wurden die Keime kultureller Fertigkeiten (začatki kul'turnych navykov) eingebracht, es wurden die Grundsteine des Gesundheitswesens gelegt. Die Aufklärung der Bevölkerung (narodnoe prosveščenie)

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Die Rede ist hier von der von Franz Boas initiierten Jesup North Pacific Expedition, an der auf Vermittlung von Lev Šternberg auch Vladimir Bogoraz teilnahm (Vakhtin 2001). Sowohl Šternberg als auch Bogoraz gehörten zu den Experten, die 1924 in das Komitee des Nordens berufen wurden und somit die sowjetische Politik gegenüber den indigenen Völkern für mehrere Jahre mitgestalteten (Schweitzer 2001; Slezkine 1994; Weiser 1989). Bogoraz selbst hat in einer seiner Schriften einen expliziten Vergleich zwischen der Russisch-Orthodoxen Missionstätigkeit in Sibirien und der Sowjetisierung des Hohen Nordens angestellt (Anderson/Orekhova 2002: 94 mit Verweis auf Bogoraz-Tan (1925). Die entsprechende Textstelle lautet in Übersetzung: „In den Norden sollten wir nicht Gelehrte senden, sondern Missionare, Missionare der neuen Kultur und sowjetischen Staatlichkeit. Nicht alte, sondern junge [Leute], nicht Professoren, sondern Novizen“ (Bogoraz 1925: 48, Hervorh. im Original).

196 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND stand [damals] und steht auch noch in der gegenwärtigen Zeit im Zentrum des gesamten sozialistischen Aufbaus bei den Völkern des Nordens.“ (Sergeev 1955: 262)

Dass der „kulturelle Aufbau“ (kul'turnoe stroitel'stvo) als eine wesentliche politische Komponente betrachtet wurde, zeigt sich u.a. in der Gliederung derjenigen sowjetischen Veröffentlichungen, die sich mit der Geschichte der Völker des Nordens im 20. Jahrhundert befassen. Genannt seien der soeben zitierte Michail Alekseevič Sergeev (1955) sowie Vasilij Nikolaevič Uvačan (1971) als besonders prominente Vertreter dieses Forschungsfelds. In den chronologisch geordneten Kapiteln finden sich regelmäßig Unterkapitel mit dem Titel „Aufklärung“ bzw. „Kultureller Aufbau“, in denen zunächst von den Kultureinrichtungen und dann von den Schulen die Rede ist. Obiges Zitat aus der Arbeit von Sergeev ist der Auftakt eines solchen Abschnitts, danach folgt eine detaillierte Aufzählung der neu eingerichteten Institutionen und ihrer Erfolge. In dem vorgegebenen Raster der sowjetischen Geschichtsdarstellungen (aber auch in landeskundlichen Schriften) hatten „Aufklärung“ und „Kultureller Aufbau“ also einen festen Platz. Am Anfang des „kulturellen Aufbaus“ im Hohen Norden stand der Entwurf eines Netzes von Einrichtungen, die sich gezielt mit Kulturarbeit bei den nichtrussischen Völkern in den nomadisch besiedelten Regionen befassen sollten. Dieses Netz umfasste die Kulturbasen (kul'tbazy) als stationäre Einrichtungen an entlegenen Standorten sowie die Roten Zelte (je nach Region als krasnye čumy, krasnye jurty oder auch krasnye jarangi bezeichnet) als kleinere, mobile Variante. Kulturbasen wurden ab 1927 als Ausgangspunkte der Arbeit mit der indigenen Bevölkerung errichtet, sie enthielten die infrastrukturelle Erstausstattung, die für die flächendeckende Sowjetisierung notwendig war. Sie entstanden als „Lichtungen“ im schwer zu durchdringenden Dickicht der sibirischen Wälder, manchmal in buchstäblichem Sinne. Adelheid Weiser (1987: 255) gibt eine kurze Übersicht über die Standorte der 19 geplanten Kulturbasen und geht auch auf die Funktion der Roten Zelte ein (ausführlicher dazu L'vov 1926; Suslov 1934; Terleckij 1935; Sergeev 1955: 263; Uvačan 1971: 165-168). In einer früheren Untersuchung habe ich mich speziell mit der Kulturbasis Tura befasst, welche später zum Verwaltungszentrum des Ewenkischen Autonomen Gebietes heranwuchs (Habeck 1998; vgl. Anderson/Orekhova 2002; Bloch 2004: 95-97). Von den geplanten Kulturbasen war diese die erste, deren Bau realisiert wurde. Sie wurde im Sommer 1927 am Ufer der Unteren Tunguska errichtet und beherbergte in den sieben aus Holz gezimmerten Gebäuden eine Schule mit Internat für die ewenkischen Schulkinder, eine Krankenstation, eine veterinärmedizinische Station, ein Gebäude für die Verwaltung der Kulturbasis, das Museum und die landeskundliche Forschungsstelle, ein Badehaus, eine Wäscherei, ein Wohnhaus sowie ein Dom tuzemcev, wörtlich übersetzt: Haus der Eingeborenen. Das Dom tuzemcev wurde offenbar als Versammlungsraum genutzt, außerdem

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fungierte es vermutlich als eine Art Informationszentrum der neuen Macht, wo den Besucherinnen und Besuchern Artikel aus Zeitungen und anderen Schriften vorgelesen wurde. Ähnlich wie die Kulturhäuser und damals existierenden „Lesehütten“ (izbyčital'ni) in den Städten und Dörfern waren das Dom tuzemcev und die Roten Zelte mit der Alphabetisierung der Bevölkerung betraut (vgl. İğmen 2011). Damit verband sich das Bemühen, die nomadische Bevölkerung zur Einhaltung elementarer Hygienestandards zu bewegen, sie von der Wirksamkeit der Schulmedizin zu überzeugen, sie zu impfen und ihnen somit ein sowjetisches (europäisches) Verständnis von Körperkultur anzuerziehen. In dem Auftrag der Roten Zelte und Kulturbasen, die örtliche Bevölkerung zur Abkehr von schamanischen Glaubensvorstellungen zu bewegen und den Schamanen ihre Autorität abzuerkennen, äußert sich die missionarische Rolle besonders deutlich.8 Diese Rolle haben die sowjetischen kul'trabotniki von der Russisch-Orthodoxen Mission sozusagen „übernommen“ (Sundström 2011: 90) und unterer anderen Vorzeichen weitergeführt. Der „zivilisatorische“ Gedanke der Kulturarbeit in den nomadisch besiedelten Arealen der Sowjetunion stand in den 1920er und 1930er Jahren noch ganz im Vordergrund. Erst mit der allmählichen Sesshaftmachung (Habeck 1998) und der Einführung vorgegebener Arbeitszeiten und -methoden glich sich das Tätigkeitsspektrum der Kultureinrichtungen in den peripheren und den zentralen ländlichen Regionen an, so dass die Arbeit in den Bereichen Alphabetisierung, Hygiene und politische Agitation zugunsten der „niveauvollen“ Freizeitgestaltung und der ästhetischen Erziehung in den Hintergrund rückte. Die Kulturbasen selbst wurden bereits zwischen 1935 und 1940 aufgegeben, da ihre im Keim angelegten Bestandteile nun zu eigenständigen Organisationen (Schulen, Krankenhäusern usw.) herangewachsen waren. Das Dom tuzemcev wurde als Kulturhaus deklariert. Aus jeder Kulturbasis ging somit in der Regel auch ein Kulturhaus hervor. Die Roten Zelte arbeiteten auch noch in den 1980er Jahren, wie mir einige Rentierhirten und ein Kinomechaniker berichteten.9 Die Rentierhirten erinnerten sich vor allem an die Filmvorführungen und die gelegentlichen Konzerte, die die Mitarbeiter der Roten Zelte veranstalteten. Die Roten Zelte im Hohen Norden hatten während der 1970er und 1980er Jahre also gewisse Ähnlichkeiten mit den Auto-Klubs (avtokluby) und den AgitBrigaden (agitbrigady), die die werktätigen Massen in den kleinen Dörfern in den

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Dieser Kampf gegen die Schamanen fand in den 1920er Jahren in der Regel verbal statt, nahm aber in den 1930er Jahren die Brutalität an, die im Zusammenhang mit der Verfolgung und „Liquidierung“ der „Volksfeinde“ traurige Berühmtheit erlangte (dazu u.a. Charitonova 2006: 113-126; Johansen 2004; Vitebsky 2005; Znamenski 2003: 24-27).

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Interviews im September 1998 in Charuta, einer zum Nenzischen Autonomen Kreis gehörenden Siedlung (im Hohen Norden des europäischen Landesteils von Russland).

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weiter südlichen gelegenen Landesteilen, manchmal auch während der Ernte auf dem Feld, besuchten.10 „In der Selbstbeschreibung des Regimes entwickelte sich die Erfolgsgeschichte des ‚Aufbaus des Sozialismus‘ entlang einer Helligkeitsskala. Man kam aus dem Dunkel der Vergangenheit und war auf dem Weg hin zur leuchtenden Zukunft“ (Rolf 2006: 277).11 Die russisch(sprachig)en Emissäre der ersten sowjetischen Generation, die im Hohen Norden und Fernen Osten zum Einsatz kamen, sahen sich oft als diejenigen, die das Licht der Aufklärung in das Dunkel der Polarnacht und die Tiefe der Taiga tragen sollten, was ihnen ein großes Maß an Beharrlichkeit abverlangen würde (Slezkine 1994: 162-170). In ihrem Kampf gegen unzivilisiertes Verhalten, Alkoholismus und rohe Gewalt, Vergeudung kostbarer Zeit und Ressourcen sowie gegen Schmutz und Chaos erinnern mich die Beschreibungen dieser frühen sowjetischen Aufklärer an die Kulturarbeiterinnen, die ich Mitte der 2000er Jahre in den „zentraleren“ Teilen des Landes kennenlernte. Bedrohliche Wildnis, kultiviertes Gehege In ihrer symbolischen Bedeutung als Vorposten der Zivilisation waren die Kulturhäuser an einem staatlich betriebenen Projekt beteiligt, welches man als Bändigung oder Domestizierung bezeichnen könnte. Damit meine ich das Gefügigmachen von Gruppen, die den Eindruck von Wildheit, Unberechenbarkeit und Irrationalität vermittelten. Kategorisierungen dieser Art waren nicht auf das 18., 19. oder frühe 20. Jahrhundert beschränkt; sie sind auch heute noch in Gebrauch. Ich möchte diese Bändigung des „Wilden“ und auch den gelegentlichen Rezess an zwei Beispielen veranschaulichen: das eine betrifft die Adoption schamanischer Tänze in das Repertoire des Kulturhauses; das andere handelt von einem plötzlichen Einbruch des „Wilden“ in die friedvolle, kultivierte Sphäre des Dorfes, wobei das Kulturhaus zur Zufluchtsstätte wird. Neben dem üblichen Tätigkeitsspektrum hatten (und haben) die Kulturhäuser in den Siedlungsgebieten der indigenen Völker einen wesentlichen Anteil an der folkloristischen Aufbereitung der indigenen „Kulturen“.12 Damit meine ich die Einpas-

10 Ähnlich Vaté/Diatchkova (2011: 31). Vgl. auch die lebhafte Schilderung eines Kulturarbeiters in Palana über die Reise seines Kollektivs und eines Filmteams zu einem korjakischen Rentierhirtencamp (in King 2011: 200-201). 11 Zu diesem Topos der Illumination (als „direkte“, wörtliche Auslegung von enlightenment und prosveščenie) vgl. Clark (2005: 385); Gestwa (2003: 96); Halfin (2000); Sántha (2009). 12 Hann (2002) differenziert zwischen dem Singular (die Kultur, als etwas der gesamten Menschheit Zueigenes) und dem Plural (die Kulturen, als quasi-ethnische Kategorien)

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sung von Motiven aus den Erzählungen und der Musik der jeweiligen ethnischen Gruppe in den vom bürgerlichen Ideal des 19. Jahrhunderts vorgegebenen Kanon der Künste (genauer beschrieben in meinen Ausführungen zu Ethno-Kultur in Kapitel 1). Dieser Prozess der Einpassung zog gleichzeitig die Herauslösung der Motive aus dem bisherigen religiösen und politischen Kontext mit sich, wie beispielsweise Sonja Luehrmann (vgl. Kapitel 6) und Piers Vitebsky (2005) beobachtet haben. Besonders deutlich wird dies anhand des Kampfes gegen den in Sibirien weit verbreiteten Schamanismus: Der Tanz des Schamanen wurde aus seinem alten Kontext entfernt und in den Bereich der Folklore transplantiert. Auf der Bühne des Kulturhauses konstituierte er nicht länger die Anrufung der Geister, sondern demonstrierte die abergläubische Raserei der Verfechter des „rückständigen“ Lebens. Vitebsky schildert eine solche Szene, die sich in einer ewenischen Siedlung13 zutrug: „In the spring of 1990 my documentary crew took in a children’s dance performance in the village hall. The culminating scene was set in the middle of a herd of reindeer, played by little girls in white leggings and tutus, their palms upraised or heads crowned with antlers of aluminium foil. In their midst, an evil shaman struggled against a noble young Communist hero, both played by older boys. The outcome was inevitable. The shaman was flung to the ground and the hero planted his fighting stick into his recumbent body.“ (Vitebsky 2005: 232)

Indigene – in diesem Fall animistische – Glaubensvorstellungen wurden also aus der alltäglichen Lebenswelt verbannt; die Repräsentanten des „alten Lebens“ (staryj byt) wurden diskreditiert und häufig ausgelöscht. Gleichzeitig wurden Versatzstücke des alten Ritualsystems als „kulturelles Erbe“ wieder aufbereitet, in einen gesonderten Rahmen (Kultur) gestellt und auf der Bühne im doppelten Wortsinn „vorgeführt“. Was in seiner unmittelbaren Präsenz bedrohlich wirken musste, fand seinen Platz in der ästhetisierten, geordneten und künstlichen Form der Darbietung im Kulturhaus. Das Kulturhaus kann somit als ein Ort der „Zähmung“ des Irrationalen, Unzivilisierten verstanden werden. Schamanismus wurde in Form gebracht, auf dass die Begegnung mit ihm keine kontaminierende Wirkung nach sich zöge, sondern eine kathartische, läuternde Wirkung zur Folge hätte. An anderer Stelle (Habeck 2005c, 2006b) habe ich dargestellt, dass im Diskurs in vielen Regionen Russlands, speziell im Hohen Norden, drei verschiedene semantische Gradienten einander überlagern: die erste Achse beschreibt das Maß an kul'tura, sie reicht von kul'turno (kultiviert) bis nekul'turno oder auch beskul'turno (unkultiviert); die zweite Achse beschreibt den geographischen Kontext: Großstadt, Kleinstadt, Dorf und das Camp in der „Wildnis“ des Waldes oder der Tundra; die und verdeutlicht zugleich die Unschlüssigkeit, mit der die Vertreterinnen und Vertreter des Faches Ethnologie zwischen den verschiedenen Positionsbestimmungen manövrieren. 13 Diese Siedlung ist Sebjan-Küöl im Nordosten der Republik Sacha (Jakutien).

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dritte Achse schließlich beschreibt die Dichotomie zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen. Auch wenn Frauen in der Taiga oder Tundra anzutreffen sind, so werden diese Areale doch überwiegend als Räume konnotiert, in denen Männer gegen die Unbilden einer harten Natur kämpfen. Frauen haben nach dieser Auffassung ihren Platz in den Siedlungen und Städten, wo es einen gewissen Komfort gibt, die Voraussetzung für Ordnung, Schönheit und Anmut. Es sind die Errungenschaften der Zivilisation, die ein kultiviertes Leben erst möglich machen, so die weit verbreitete Vorstellung. Während meiner Aufenthalte in verschiedenen Regionen Russlands kam ich häufig mit Menschen ins Gespräch, die ein kulturelles Gefälle (das heißt: ein „Mehr“ oder „Weniger“ an Kultur) vom Zentrum hin zur Peripherie konstatierten. Nicht nur zwischen Stadt und Land, zwischen den Städten entlang der Transsib (dem infrastrukturellen Rückgrat Sibiriens) und dem Hohen Norden wird dieses Gefälle ausgemacht, sondern auch zwischen Stadtzentrum und Vorstadt, zwischen dem Dorfplatz und dem Wald. So ergibt sich auch der symbolische Gegensatz zwischen dem Kulturhaus, das oft in einem repräsentativen Zweckbau in der Mitte des Ortes untergebracht ist, und den Garagen, Ställen und anderen Wirtschaftsgebäuden am Rande des Dorfes oder der Stadt. Kulturhäuser sind (ebenso wie Schulen) nicht nur Orte, die Kultur gleichsam in das Dunkel der Peripherie ausstrahlen, sondern sind auch Refugien der Kultur. Illustriert wird dies von Heonik Kwon (1997), der berichtet, wie orotschonische Jäger aus den Wäldern der Insel Sachalin in die Siedlung14 zurückkehren, wo ihre Ehefrauen und Kinder leben. Er zitiert eine Frau mittleren Alters: „All of us had to run to the club, when they (the hunters) arrived home. They used to buy vodka in boxes, drink for the whole night, shout, and run around the streets, some of them sitting on reindeer. My God! The reindeer, those men, all were so noisy! Then, our house became totally dikii (wild). Then, all we women left them there, ‚Let them go crazy!‘ … (In the club) We chat, drank a little bit of vodka together, and danced for the whole night.“ (Kwon 1997: 149, Hervorh. und Parenthesen im Original)

Das Kulturhaus dient also als ein Refugium – im moralischen ebenso wie im rein körperlichen Sinne. Die aus der Tiefe des Waldes angerittenen Männer benehmen sich trotz ihrer Rückkehr in die Zivilisation völlig unzivilisiert und geben sich einem Exzess der Trunkenheit hin.15 Währenddessen „retten“ sich die Frauen in den

14 Schauplatz dieser Begebenheit ist die Siedlung Val. Ebenso wie die oben erwähnten Ewenken und Ewenen gehören die Orotschonen zur Gruppe der tungusischen Völker. 15 Die Rückkehr der Männer (Jäger, Viehzüchter) aus der Tundra, dem Wald oder der Steppe in die Siedlung und ihr zeitweiliges „Ausflippen“ ist ein häufiges Sujet in den Ethno-

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Dorfklub, wo sie ihre eigene Party veranstalten, die (wenn wir dem Bericht Glauben schenken) freilich kultivierter, weniger trunken und ästhetischer verläuft. Dieses Beispiel liefert auch ein Indiz für die gelegentlich geäußerte These, wonach im Prozess der Sowjetisierung und „Zivilisierung“ der indigenen Völker die Verkünder des neuen Glaubens mehr Bündnispartner unter den Frauen als unter den Männern fanden (Forsyth 1992: 286-287; Slezkine 1994: 231; Povoroznyuk/Habeck/Vaté 2010: 21-22). Als Folge der Sesshaftmachung und der Einführung bezahlter, als Berufe definierter Tätigkeiten hat sich im Hohen Norden eine bis heute gültige, klar nach Geschlechtern differenzierte Arbeitsteilung ergeben: der Beruf des Rentierhirten, Fischers oder Waldarbeiters ist eine überwiegend männliche, der Beruf der Lehrerin oder Kulturarbeiterin dagegen eine ganz überwiegend weibliche Domäne. Daher rührt der Schluss, dass indigene Frauen in die zivilisatorische Mission stärker kooptiert wurden und wohl auch stärker von ihr profitiert haben als indigene Männer (vgl. Gernet 2008). Als Tempel des neuen Ritus (Kapitel 6) und als Bühne für die Darbietungen der neuen Macht hat das Kulturhaus in den von indigenen Völkern bewohnten Gebieten eine ethnische Hierarchie etabliert. Kultur wurde, ebenso wie Fortschritt, von den Russen vermittelt (vgl. Thompson 2005: 180-181). In der marxistisch-leninistischen Interpretation bestand kein Zweifel daran, dass das russische Volk auf einer höheren sozialökonomischen Entwicklungsstufe stand als die nomadischen Völker Zentralasiens und Nordasiens (Schott 1960; Slezkine 1994: 294; vgl. Johansen 1996: 183ff.). Die politische Hegemonie war ab den späten 1920er Jahren eine sowjetische, die kulturelle Hegemonie eine russisch-sowjetische. Sowjetisch an dieser kulturellen Hegemonie war die Negierung des christlichen Glaubens (ebenso wie aller anderen Formen der Religiosität), die Ausbildung indigener Eliten, die Verschriftlichung und öffentliche Legitimierung nichtrussischer Sprachen und – allgemein formuliert – die Zuversicht, dass die Völkergemeinschaft zusammen eine neue Welt aufbauen wird. Russisch an dieser kulturellen Hegemonie war die Propagierung eines spezifischen (klassischen) Kanons kultureller Ausdrucksformen und Genres, außerdem die zunehmende Dominanz der russischen Sprache (die nicht nur als lingua franca, sondern in den Kriegs- und Nachkriegsjahren als die einzige politisch korrekte Sprache im öffentlichen Raum galt). Russisch an dieser kulturellen Hegemonie war letztlich auch die Annahme, dass dem russischen Volk eine besondere Rolle, nämlich die führende Position im Aufbau des Sozialismus zukommt. Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass im Rahmen des „kulturellen Aufbaus“ indigene kulturelle und politische Eliten geschaffen wurden. Im Grunde schufen sich die Vertreter der sozialistischen Intelligenz indigene Spiegelbilder – lokale Bezugsgruppen, mit denen sie kommunizieren konnten und die ihre Werte teilten (vgl. graphien, die von Sibirien bzw. der Mongolei handeln. Nicht immer geht es so fröhlich ab wie in Kwons Beispiel (z.B. Empson 2011: 278).

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Osterhammel 2005: 370). Die Alphabetisierung ging mit der Verschriftlichung zahlreicher Sprachen in der frühen Sowjetzeit einher, und dies war der Ausgangspunkt für die Entstehung von indigenen Literaturen ebenso wie für die Theatralisierung von Epen. Der „kulturelle Aufbau“ resultierte auch in einem neuen Selbstbewusstsein unter den Angehörigen der Völker, deren Produktionen im Bereich von Musik und Literatur nun in das sowjetische kulturelle Inventar eingingen. Andererseits waren es gerade die neuen kulturellen Eliten, die sich mit der Formalisierung und Folklorisierung von künstlerischen Ausdrucksformen beschäftigten und Motive ihrer Lebenswelt in die vorgegebenen Genres einpassten. Mit anderen Worten, sie wurden in den Prozess der Dekontextualisierung, der oben angesprochen wurde, einbezogen. Die Elemente, die für gut befunden wurden, erhielten ein eigenes Zuhause: das Kulturhaus. Dieses bietet nicht nur ein kontrolliertes, umfriedetes Gehege, in dem die Dämonen des „alten Lebens“ ihr Dasein als Pensionäre fristen, sondern auch ein Forum, wo Kulturarbeiterinnen und andere Experten über „authentische“, „traditionelle“, „wahre“ Ethno-Kultur diskutieren können (vgl. Bloch 2004: 174-181). Da das Kulturhaus in den von indigenen Gruppen bewohnten Siedlungen als Hort „ihrer“ Kultur fungiert, ist es sofort einleuchtend, dass eintreffende Ethnologinnen und Ethnologen gleich ins Kulturhaus geschickt werden: „‚Here is our culture, come and get it‘“ (Grant 2011: 265). In dieser Skizze habe ich mich mit der Bedeutung der Kultureinrichtungen in den von nichtrussischen Völkern bewohnten Regionen befasst und dabei die Konturen einer spezifischen (ethnisch definierten) Version der zivilisatorischen Mission herausgearbeitet. Die Mission betraf jedoch alle Teile der sowjetischen Bevölkerung, also nicht nur die indigene Bewohnerschaft des Hohen Nordens, sondern auch das ethnisch russische bäuerliche Milieu und die multiethnische Arbeiterschaft in den alten und neuen Industriezentren. Von der neuen Arbeiterschaft soll in der nächsten Skizze die Rede sein, dabei liegt der Akzent auf der „Arbeit an sich selbst“, speziell in den 1930er Jahren.

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Das Leitmotiv dieses Kapitels, Kultur und Zivilisation bzw. Kultivierung als ein Prozess der Zivilisierung, legt eine Beschäftigung mit dem Hauptwerk von Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, nahe.16 Zunächst sei bemerkt, dass der Begriff Zivilisation in diesem Sinne keine wirkliche Entsprechung in der russischen Sprache besitzt, denn civilizacija wird in erster Linie (gerade in der Umgangsspra16 Kommentare zur historischen Veränderung der Begrifflichkeit von Kultur und Zivilisation in Westeuropa liegen außer von Elias selbst u.a. von Eagleton (2000) und Williams (1983) vor.

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che) als das Vorhandensein einer technischen Infrastruktur (Straßennetz, Elektrizität usw.) oder bestimmter Annehmlichkeiten (WCs, Seife usw.) gedeutet – es geht also um materielle Dinge, deren Vorhandensein eine kultivierte Existenz erst möglich erscheinen lässt. In zweiter Linie wird der Begriff civilizacija zur Beschreibung von Gesellschaftsformen und Großreichen verwendet – nicht nur, aber auch mit Bezug auf vergangene „Zivilisationen“. Mir scheint, dass der Begriff civilizacija im Vergleich zu kul'tura lediglich „einen Wert zweiten Ranges“ darstellt, ähnlich wie es Elias für den Sprachgebrauch des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert konstatiert hat ([1939] 1997: I, 90 ff.). Ebenso wie – nein: mehr noch als in Deutschland, wo „ein idealistisch normativ geprägter Kulturbegriff als humanistischer Gegenpol zu ‚Zivilisation‘ verwendet“ wird (Hann 2007: 126), schwebt in der russischen Interpretation des Wortes kul'tura eine stark idealisierende, normative Note mit (vgl. Boym 1994: 104). Auf Zivilisation kann und möchte man manchmal gern verzichten, sich von ihr entfernen, um sich in die Tiefe des Waldes oder die intime Atmosphäre der dača zurückzuziehen. Auf kul'tura zu verzichten bedeutet einen viel größeren, einen fundamentalen Verlust: den Verlust der menschlichen Würde. Aber zurück zu Elias: Zivilisation als ein Prozess, also als die Zivilisierung der Gesellschaft, so wie von Elias dargelegt, geht mit dem allgemeinen Verständnis von civilizacija nicht einher (eher schon das Adjektiv „zivilisiert“, civilizovannoe). Norbert Elias schloss sein Werk Mitte der 1930er Jahre ab, zu einem Zeitpunkt, da der Stalinismus bereits deutliche Konturen entwickelt hatte. Dass zu jenem Zeitpunkt die von Elias vorgelegte historische Untersuchung nicht auf den Sozialismus als gesellschaftliches Phänomen eingeht, ist nicht verwunderlich, da er sich auf den Wandel des Rittertums und der höfischen Gesellschaft in West- und Mitteleuropa bezieht. Elias geht aber auch im 1968 verfassten Vorwort zur zweiten Auflage nur indirekt – nämlich mit Bezug auf die Rolle der industriellen Arbeiterschaft – auf die Etablierung der sozialistischen Staaten ein (Elias 1997: I, 32-36). Eine einzelne Textstelle bezieht sich auf das kommunistische System als Figuration, wobei zur Erläuterung dieses Begriffs die Metapher des Tanzes benutzt wird.17 Auffällig ist auch der geringe Widerhall, den dieses Werk in den historischen und soziologischen Arbeiten über die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Sowjetunion gefunden hat. (Einen der wenigen Versuche, Elias’ Theorie auf die sowjetische Gesellschaft anzuwenden, werde ich weiter unten vorstellen: es ist eine Studie von Vadim Volkov). Einer der möglichen Gründe für die geringe Resonanz besteht da17 „Der Begriff der Figuration läßt sich leicht veranschaulichen durch den Hinweis auf gesellschaftliche Tänze. […] Man denke an eine Mazurka, ein Menuett, eine Polonaise, einen Tango, einen Rock’n Roll. Das Bild der beweglichen Figurationen interdependenter Menschen beim Tanz erleichtert es vielleicht, sich Staaten, Städte, Familien, oder auch kapitalistische, kommunistische und Feudalsysteme als Figurationen vorzustellen.“ (Elias [1939]: 1997: I, 71)

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rin, dass der Einbruch einer unkalkulierbaren körperlichen Gewalt in den menschlichen Alltag – eine konkrete Erfahrung vieler Menschen in der Sowjetunion der 1930er Jahre – der Logik der Elias’schen These widerspricht (Elias 1997: II, 332; Plaggenborg 2006: 334-341). Ein weiterer Grund mag in dem von Elias implizierten Primat (West-)Europas im Prozess der Zivilisation liegen (vgl. Brandtstädter 2000). Dabei liegt ein Versuch, die von Elias formulierte „Theorie der Zivilisation“ (1997: II, 323-465) auf die Zivilisierung der sowjetischen Bevölkerung anzuwenden, auf der Hand. Die wesentlichen Aspekte, die Elias in seinem Entwurf benennt, seien hier stichpunktartig referiert. Dies sind: die Stabilisierung der Gewaltmonopole; die abnehmende Gefährdung des Einzelnen durch die im Affekt vollzogene rohe Gewalt anderer; die zunehmende Zügelung des eigenen Affekts und somit die Zunahme der Selbstkontrolle; die sich verstärkende Ausprägung des Über-Ichs (als das soziale Gewissen im Individuum); das Austragen von Konflikten und Statuskämpfen auf anderen Feldern und mit neuen Mitteln; die zunehmende Interdependenz der gesellschaftlichen Schichten; die zunehmende Bedeutung der Distinktion, die die Oberschicht für sich in Gestalt von korrekten Manieren und gutem geschmacklichen Urteilsvermögen in Anspruch nimmt; der ständige Auftrieb der anderen Schichten, die es der Oberschicht gleichtun wollen; und die steigende Empfindlichkeit der Oberschicht gegenüber dem Vulgären. Elias kommt es darauf an, alle diese Aspekte als Teilprozesse des einen Prozesses zu identifizieren. Er betont, dass psychische Prozesse (wie beispielsweise der zunehmende Bedarf an individueller Affektkontrolle) und die Gesellschaftsentwicklung nicht als getrennte Bereiche, sondern nur in ihrer Wechselwirkung verstanden werden können. Die Distinktion durch Sprache, Manieren, ästhetisches Urteilsvermögen usw. und die „Abwehr des Vulgären, diese steigende Empfindlichkeit gegenüber allem, was der geringeren Sensibilität von niedriger rangierenden Schichten entspricht“ (ebd.: II, 420) sind m.E. der Schlüssel zum Verständnis von kul'turnost' und dem Prozess der Zivilisierung in der Sowjetunion. Hier tun sich also Parallelen zum Entwurf von Elias auf – jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Dynamik der gesellschaftlichen „Schichtung“ eine andere ist und der Prozess explizit als staatliches Projekt betrieben wird, nämlich als „kultureller Aufbau“ (kul'turnoe stroitel'stvo).18 Die „distinguierten“ Oberschichten einschließlich weiter Teile des Bürgertums und der Intelligenz werden in den 1920er, vor allem aber in den 1930er 18 Volkov betont, dass dieser Prozess der Kultivierung keine konkret ausformulierte politische Grundlage hatte: „It should be noted from the start that the practices and policies in question did not derive from any unified explicitly formulated political project“ (2000: 211). An anderer Stelle (ebd.: 222) vermerkt er aber, dass es sich bei der Einführung hygienischer Normen und bestimmter Benehmensformen um „projects of power“ handelte.

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Jahren umgebracht oder anderweitig ausgeschaltet (diejenigen unter ihnen, die sich für das sowjetische Projekt engagieren, tragen dennoch das Stigma ihrer sozialen Herkunft mit sich, vgl. Hellbeck 2006). Ziel des Projekts ist die Herrschaft der Arbeiterschaft, mit der Industriearbeiterschaft als Speerspitze. Diese Arbeitschaft erlernt in scheinbar paradoxer Weise die Manieren und den Geschmack der Bourgeoisie – schon vor, aber vor allem ab 1935 (siehe unten). Die Empfindlichkeit gegenüber dem Vulgären äußert sich in der Ablehnung des „alten Lebens“, des Ländlichen, des Bäuerlichen (Olson 2004: 36), unter anderem auch in der Kritik an der fehlenden Selbstkontrolle der Landbevölkerung in Bezug auf Pünktlichkeit und Effizienz (Petzoldt 1988: 6-10), an der geringen Alphabetisierungsrate auf dem Land und an den Entgleisungen infolge des ungezügelten Alkoholkonsums. Das Erlernen der Manieren und des Geschmacks des Bürgertums ist notwendige Voraussetzung, um „es besser zu machen“, gleichzeitig ist dieses Bemühen verknüpft mit dem Bildungsideal und der Alphabetisierung der gesamten Bevölkerung. Überdies darf man hinter der Hinwendung zu bürgerlichen Formen die Absicht der Regierung ausmachen, die Bevölkerung zu „befrieden“, sie nach Jahren äußerster Entbehrung zu belohnen, ihr durch den nunmehr legitimen Erwerb von Konsumgütern ein „schöneres“ und „glücklicheres“ Leben zu vermitteln (Stalin 1935, zit.n. Rolf 2006: 86). Der massenhafte Zustrom gering gebildeter ländlicher Arbeitskräfte auf die Großbaustellen des Sozialismus wurde von vielen Industriearbeitern städtischer Herkunft als eine Invasion von Rückständigen wahrgenommen. Stephen Kotkin legt in seiner Sozialgeschichte der Stadt Magnitogorsk davon Zeugnis ab (der Untertitel seines 1995 erschienen Werkes lautet Stalinism as a Civilization). Die Wohnbaracken der zugezogenen Arbeiter (in manchen Fällen: Arbeiterfamilien) selbst konstituierten nach Kotkins Worten „cultural training grounds for the new civilization of socialism“, sie waren als kommunale Wohn- und Schlafbereiche gestaltet, in denen kollektiv das alltägliche Miteinander in der „neuen Zeit“ geprobt wurde. Zur politischen Bewusstseinsbildung und Kultivierung der Arbeiter war jede Baracke mit einer „Roten Ecke“ (krasnyj ugolok) auszustatten. Zwar waren die Baracken in vielerlei Hinsicht mangelhaft, zwar wurden die „Roten Ecken“ oft nicht ihrem Zweck entsprechend genutzt, aber immerhin boten sie Orte, an denen politische und kulturelle Einflussnahme möglich war. Demgegenüber war das Innere der von vielen zugezogenen Familien errichteten Lehmhütten (ähnlich wie das Innere der Nomadenzelte im Hohen Norden) zumindest für eine gewisse Zeit außerhalb des Einflussbereiches der Kultivierung: „There were no red corners in mud huts; there was nothing either ‚red‘ or ‚cultured‘ about them. It was as if the old peasant hut (izba) had reasserted itself – in the socialist city – with all its ‚backward‘, ‚pettybourgeois‘ traditions“ (Kotkin 1995: 181).19 19 Laszczkowski (2011) zeigt, wie die bauliche Persistenz des Rückständig-Ländlichen auch auf den Großbaustellen des Post-Sozialismus wahrgenommen und diskursiv verarbeitet

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Kotkin gibt einen Überblick über die Kultureinrichtungen im Magnitogorsk der 1930er Jahre. Dabei wird ersichtlich, dass wesentliche strukturelle Merkmale des staatlich organisierten Kulturbetriebs, die das heutige Bild prägen, bereits in jenem Jahrzehnt ausgebildet waren. Er beschreibt die „Roten Ecken“ in den Wohnbaracken der Arbeiter, die zwölf Klubhäuser in den verschiedenen Teilen der Stadt (diese werden von ihm als „the ‚red corners‘ of the city“ bezeichnet, Kotkin 1995: 182) sowie das alles dominierende Prunkstück des kulturellen Lebens von Magnitogorsk – den Palast der Metallurgen (Dvorec metallurgov).20 Ein großes, gut ausgestattetes Kino und zwei Theater ergänzten die kulturelle Infrastruktur der Stadt. Kotkin liefert auch eine Beschreibung der vorgesehenen Ausstattung der Klubs: „checkers and chess sets, a library, newspapers, billiards, table tennis, movie projectors, ‚circles‘ for the study of photography, painting, drama, history (for women it was often crocheting and knitting) – in short, with anything except vodka and playing cards.“ (Ebd.) Von dieser Beschreibung des Soll-Zustands wich die tatsächliche Situation häufig ab: schmutzige Innenräume, fehlende Elektrizität, und das NichtFunktionieren der Zirkel schmälerten die Attraktivität manch eines Klubs. Wichtig für die Analyse des Wandels in den Formen der Kulturarbeit (im folgenden Abschnitt meiner Untersuchung) ist Kotkins Bemerkung über einen Wandel im Kulturkonzept, nämlich die Abkehr vom Primat einer „specifically proletarian culture“ und die Orientierung an einem bourgeoisen Kulturverständnis (Kotkin 1995: 180). Dieser Wandel ist vor dem Hintergrund eines größeren Umbruchs zu sehen: die Propagierung von Eigenheimen und die Rehabilitierung der Familie als Institution der Sozialisierung (ebd.: 178-179). Kotkins Periodisierung stimmt recht genau überein mit denen anderer Autoren, insbesondere derjenigen von Volkov, auf dessen Beitrag ich nun genauer eingehen werde. Volkovs Anliegen besteht nach seinen eigenen Worten darin, einige Elemente aus Elias’ Theorie der Zivilisation aus dem Kontext der historischen Fallstudie herauszulösen und sie für die Analyse der Relevanz von kul'turnost' (Kultivierung) im „stalinistischen Zivilisierungsprozess“ zu verwenden (Volkov 2000: 210-211). Die Folgen des Zustroms der Landbevölkerung in die Industriezentren und der „ruraliwird. Die vom Lande zugereisten Personen zeigen angeblich „a lack of civility“, so die Aussage der Ältereingesessenen, die ihre eigenen Ankunftsnarrative mit einem anderen Topos verbinden: „There was nothing here“. Oft bildet dies den Auftakt für die Narration der eigenen Biographie in Verknüpfung mit dem kollektiven Aufbauprojekt. Jede Kohorte von Ankömmlingen kann somit aufs Neue auf die Erfahrung der persönlichen und urbanen Entwicklung verweisen. 20 Die Fotos 29 bis 32 in Kotkin (1995) zeigen eines dieser Klubgebäude. Ein Foto des Palasts der Metallurgen ist in dem Buch nicht enthalten. Im Internet findet sich ein Bild dieses Gebäudes (Klipinicer 1969). Säulenportikus und Dreiecksgiebel sind typisch für die damalige Kulturhausarchitektur (vgl. Kapitel 6).

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sation of the cities“ sollten mittels einer Kampagne der „urbanisation of the new workforce“ bewältigt werden (ebd.: 214-215). Bemerkenswert ist der Wandel der Ideale: an die Stelle der militanten, revolutionären Enthaltsamkeit und der selbstlosen Aufopferung für die Sache der Revolution trat nun ein zwar noch recht bescheidener, aber durchaus freudvoller Konsum bestimmter Artikel (s.u.), das Gefühl einer gewissen materiellen Stabilität und die Angemessenheit bestimmter Umgangsformen. Diese Tendenz macht sich physisch und psychisch bemerkbar, in der Kleidung, der Wohnungseinrichtung, den hygienischen Standards, den Lesegewohnheiten und den Freizeitbeschäftigungen. Zum materiellen Aspekt vermerkt Volkov: „A recurrent set of things was supposed to instil kul'turnost'. Among the items of everyday ‚equipment‘ associated with the norms of civilised life three became fetishised: curtains, lampshades, and tablecloths.“ (Volkov 2000: 221) Die Zusammenstellung dieser Textilien ist nicht zufällig. Gardinen, so argumentiert Volkov, schufen private Bereiche, also Räume, in denen sich das Individuum vom Kollektiv isolieren konnte; Lampenschirme sorgten für ein weicheres Licht, für die Mäßigung des „grellen“ revolutionären Impetus; Tischdecken wiederum signalisierten die Abkehr von den Holztischen der Arbeiterkommunen: „The ‚snow-white‘ tablecloth would immediately testify to the person’s table manners. ‚Now I cannot sit down at such a table with my hands dirty‘, wrote a worker.“ (Ebd.: 222) Häkeldeckchen zierten nun die Schränke an Bord von Schiffen auf dem Nordpolarmeer. Nicht nur der Verbrauch an Seife und anderen Detergenzien stieg, sondern auch der Verbrauch an Parfüm. War die Beseitigung des Analphabetismus eine elementare zivilisatorische Errungenschaft, so gesellte sich nun ein ungebremster Lesedurst und das Gespräch über das Gelesene als kultureller Anspruch an sich selbst und an andere hinzu. Bezeichnend sind die von Volkov zitierten Quizfragen in der Zeitschrift Ogonek im Jahre 1936 unter der Rubrik „Sind Sie ein kultivierter Mensch?“ ( Kul'turnyj li vy čelovek?). Hinsichtlich des Ergebnisses der Selbstkontrolle enthielt jedes Quiz den Hinweis, dass das Unvermögen, die Frage zu beantworten, auf eine Wissenslücke auf einem ganzen Teilgebiet der Künste oder Wissenschaften schließen ließe: „Let this compel you to WORK ON YOURSELF“ (Volkov 2000: 224, Hervorh. im Original). Die Möglichkeit, den somit diagnostizierten Mangel an Allgemeinbildung zu beseitigen, bot sich unter anderem in den Kultureinrichtungen: „Cultural clubs were advised to copy [the Ogonek questionnaires] and to hang them up as posters; so they may indeed have been a popular conversational theme and a form of self training in 1936-7.“ (Ebd.: 224-225) Um Volkovs Beitrag zusammenfassend zu würdigen: in ihm wird eine Gesamtschau verschiedener Teilprozesse präsentiert, die – allein für sich genommen – trivial erscheinen könnten (Zimmerpflanzen, Häkeldeckchen, Gardinen und frühe Formen dessen, was wir heutzutage als Trivial Pursuit kennen). In ihrer Gesamtheit

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signalisieren sie jedoch eine spezifische Spielart eben jenes Vorgangs, den Elias als Prozess der Zivilisation identifiziert hat. Volkov gibt zu verstehen, dass es ihm darum geht zu zeigen, wie in einem fundamental repressiven System kulturelle Werte und Verhaltensweisen geschaffen (nicht zerstört) werden – „the productive rather than the repressive effects of power“ (Volkov 2000: 215). Er folgert, dass kul'turnost' internalisiert und habitualisiert wird, jedoch nicht nur als ein Streben des Individuums allein.21 Es ist die Kombination der öffentlichen und der persönlichen Anstrengungen, die im Normalfall dazu führt, dass das individuelle Vermögen, in Einklang mit den Normen von kul'turnost' zu leben, ohne expliziten äußeren Zwang hergestelllt wird („without explicit external compulsion“, ebd.: 225). Volkovs Verdienst besteht darin, das sowjetische Projekt der Kultivierung – sprich: Zivilisierung – in seinen sublimen Wirkungen und zugleich als reflexives Unternehmen zu beschreiben. Vielleicht ist er zu optimistisch in seiner Einschätzung, dass der stalinzeitliche Prozess der Kultivierung „without explicit external compulsion“ verlaufen sei. Die Reflexionen über den eigenen politischen Standpunkt, die Zweifel an der Selbstdisziplin, das Bemühen, „an sich selbst zu arbeiten“, und auch die Fassungslosigkeit über die Enttarnungen der „Volksfeinde“ in der unmittelbaren Nachbarschaft kommen in persönlichen Tagebuchaufzeichnungen jener Jahre zum Ausdruck, wie Hellbeck (2006) dokumentiert.

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In diesem Abschnitt möchte ich mich einem anderen Aspekt zuwenden: dem Wandel der Formate und der Formensprache des Kulturbetriebs in der frühen Sowjetzeit. Damit meine ich die Formen, in denen Kultur dargeboten werden kann bzw. soll. Die Schlüsselbegriffe dieses Abschnitts sind samodejatel'nost' (Laienschaffen, Volkskunst, im wörtlichen Sinne: Selbsttätigkeit), Proletkul't und Agitprop (Agitation und Propaganda). Zurecht kann man hier einwenden, im Falle von Proletkul't und Agitprop handele es sich nicht um Formen, sondern um Organisationen innerhalb des sowjetischen Partei- und Regierungsapparats. Letzteres ist völlig zutreffend; aber diese Akronyme haben Bedeutungen angenommen, die über den organisatorischen Aspekt hinausgehen und auf performative Charakteristika verweisen. 21 Der Einzelne offenbart sich durch das Kollektiv, durch seine Teilhabe an den Aktivitäten des Kollektivs. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Metapher des Gesellschaftstanzes, die Elias benutzt (1997: I, 71). In diesem Tanz sind die einzelnen Personen gleichsam miteinander verstrickt; die Figur kann nur durch das „Mitspielen“ der Beteiligten aufrechterhalten werden. Dem Bewegungsspielraum der Tänzer wurden durch die Choreographie des social engineering bestimmte Grenzen gesetzt, die in bestimmten Zeitabschnitten enger, in anderen weiter gesteckt waren (s.u.).

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Insbesondere Agitprop wird in zwei verschiedenen Bedeutungen diskutiert: während Sheila Fitzpatrick (1970) über Agitprop als Organisation innerhalb der Kommunistischen Partei schreibt, behandelt Lynn Mally (2000, 2003) Agitprop im Sinne des Agitprop-Theaters. Man kann den Eindruck gewinnen, es ginge um ganz unterschiedliche Phänomene und Personen: hier die Parteifunktionäre, dort die Laienspieltruppen. Eine der Einsichten, die dieser Abschnitt vermitteln soll, ist eben diese Doppeldeutigkeit. Vor allem aber ist das Ziel meiner Ausführungen, einige besonders relevante Konzepte der Kulturarbeit in den ersten fünfzehn Jahren nach der Oktoberrevolution 1917 herauszustellen. Dazu ist es nötig, in der gebotenen Kürze sowohl auf die Organisationsformen als auch auf die Formen der Darbietung einzugehen. Proletkul't Proletkul't, Agitprop und samodejatel'nost' lassen sich in ein- und denselben Entstehungskontext einordnen: die Suche nach der künftigen Ausrichtung von Ausdrucksformen in Kunst und Kultur im Jahre 1917. Die Vokabeln kul'tura, kul’turnost', kul'turnaja rabota (letzteres mit der Bedeutung Kulturarbeit) waren, wie oben erwähnt, spätestens 1880 im russischen Sprachgebrauch anzutreffen. Ab 1880 entstanden auch die ersten Volkshäuser und somit die ersten stationären Bühnen in einer nennenswerten Zahl von Städten. Die Volkshäuser nahmen eine Mittlerstellung ein zwischen den elitär geprägten Vorstellungen der Intelligenz und dem unübersichtlichen Feld dessen, was Richard Stites (1992) als Populärkultur im Alten Russland portraitiert. Deren Inhalte und Darbietungsformen wurden von der Oberschicht mit einer Mischung aus Verachtung und Faszination (aufgrund des Interesses an der russischen bäuerlichen Volkskultur, s.o.) wahrgenommen. Zu den mehr oder weniger regulären Erscheinungen dieser Populärkultur zählten auch Schauspieltruppen, die von Ort zu Ort zogen: „They were all structurally ‚unstable‘, that is without script and open to change and improvisation. The absence of a stage or a ‚fourth wall‘ allowed intermixing of audience and public“ (Stites 1992: 17). Die Spontaneität, Volksnähe und auch der sozialkritische Inhalt vieler Darbietungen machten diese Form des Theaters zu einer Quelle der Inspiration für die erste Generation der revolutionären Kulturtheoretiker. Daraus entwickelte sich unmittelbar nach der Oktoberrevolution der Ansatz, Laienspieler auch in den Betrieb der stationären Theater einzubeziehen und die Trennung zwischen Bühne und Publikum aufzulösen. Im Grunde war dies eine Kampfansage an das etablierte, das professionelle Theater. Die Vertreter des Proletariats würden fortan nicht nur das Theater besuchen, sondern selbst die Stücke schreiben, die Regie übernehmen und an den Aufführungen mitwirken.

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Der bekannteste Verfechter dieser Idee war Platon Keržencev,22 zu jener Zeit einer der Sprecher des wenige Monate vor der Oktoberrevolution entstandenen Bundes der proletarischen Kultur- und Aufklärungs-Organisationen (Sojuz proletarskich kul'turno-prosvetitel'skich organizacij), kurz Proletkul't. 23 Mit Proletkul't verbindet sich eine kurze und dabei sehr kontroverse öffentliche Diskussion über den Gehalt der neuen, sowjetischen Kultur. Viele (wenngleich nicht alle) Anhänger des Proletkul't begeisterten sich für die Ideen des Konstruktivismus und des Futurismus24 und hegten ein tiefes Misstrauen gegenüber der „alten“, bürgerlichen Kultur. So auch Platon Keržencev, der in einer seiner Reden 1918 öffentlich forderte: „Existing theatres must be nationalized and handed over to proletarian companies. Bourgeois theatre companies must be broken up and their members redistributed to serve the needs of the whole population (by this Kerzhentsev apparently meant that bourgeois actors should be sent off to bring culture to the provinces, while proletarian companies would take over the big city theatres).“ (Fitzpatrick 1970: 96)

Die „ikonoklastische“ Haltung (ebd.) führte dazu, dass sich Keržencev schon nach den ersten Proletkul't-Konferenzen mit seinem früheren Mitstreiter Anatolij Lunačarskij entzweite, dem Volkskommissar für Aufklärung (Narkompros), dessen Behörde seit November 1917 für Bildung, Kunst und Kultur zuständig war. Keržencev „believed that proletarian theatre would be created through rejection of the past, and not – as Lunacharsky thought – through mastery and development of traditional forms“ (Fitzpatrick 1970: 146; vgl. Binns 1979: 591). Das Verhältnis blieb angespannt – nicht nur zwischen den beiden Personen, sondern auch zwischen den Institutionen. War die mitgliederstarke Vereinigung Proletkul't mitsamt ihren Ortsgrup22 Platon Michajlovič Keržencev (1881-1940) bekleidete in den folgenden Jahrzehnten eine Vielzahl recht unterschiedlicher Ämter, darunter auch hohe Staatsämter. Seine Tätigkeit als Leiter des Komitees für Kunstangelegenheiten beim Rat der Volkskommissare (19361938) fällt in die Zeit des „Großen Terrors“, und er selbst war offenbar am Sturz mehrerer Künstler und Funktionäre aktiv beteiligt (Mikkonen 2007). Zur Tätigkeit Keržencevs in der frühen Sowjetzeit, u.a. als Gründungsmitglied der Liga der Zeit (Liga „Vremja“) vgl. Stites (1989: 155ff.). Der prominenteste Vertreter des Proletkul't war Aleksandr Bogdanov. 23 Auf alle Einzelheiten der Entstehung und der weiteren Entwicklung dieser Organisation kann hier nicht weiter eingegangen werden (vgl. Fitzpatrick 1970: 89-109; Mally 2000; Stites 1989). 24 Der Wert des Futurismus für die Proletkul't-Bewegung wurde von Anfang an in den eigenen Reihen sehr konträr diskutiert (Fitzpatrick 1970: 238-239). In der Ästhetik des Proletkul't wurden aber die nüchternen, kantigen, sozusagen mechanischen Formen, die wir mit dem Futurismus verbinden, sehr häufig eingesetzt.

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pen zunächst um Unabhängigkeit vom Volkskommissariat für Aufklärung bemüht, so wurde sie ihm im Dezember 1920 auf Weisung der Partei organisatorisch untergeordnet (Fitzpatrick 1970: 186). In den zwei nächsten Jahren schwand – nicht zuletzt aufgrund kritischer Bemerkungen Lenins über die vermeintliche intellektuelle Unterwanderung und Verfälschung des proletarischen Gedankens – die Bedeutung des Proletkul't. Kurzlebig war daher auch die Rolle, die die Vereinigung mitsamt ihren Ortsgruppen in der Koordination des Klubwesens übernahm: hatte Proletkul't 1918 vom Narkompros beträchtliche Finanzmittel erhalten, um Arbeiterklubs in bestehenden Gebäuden bzw. in neuen Zweckbauten einzurichten, so wurde bereits Anfang der 1920er Jahre diese Finanzierung reduziert und schließlich eingestellt (Post 2004: 27-28). In den Industriezentren übernahmen die Gewerkschaften die Arbeiterklubs in ihre Obhut.25 Wenngleich die eigenständige Existenz und die Suche nach einem proletarischen Kulturkonzept nur als eine kurze Episode in der Geschichte des sowjetischen Kulturbetriebs erscheinen mag, so hat sie doch einige wichtige und langfristige Nachwirkungen ausgelöst. Zum einen war durch die Initiative von Keržencev und seinen Mitstreitern zumindest im Bereich des Theaters nun der Weg frei für Laienkunst – mit anderen Worten: die Möglichkeit des Laienspiels und des improvisierten Theaters als „seriöse“ künstlerische Ausdrucksform war nun denkbar geworden. Zum anderen äußerte sich die konkrete Arbeit der Ortsgruppen des Proletkul't in der Einrichtung sogenannter Studios (studii), in denen Arbeiterinnen und Arbeiter gemeinsam ihre literarischen, gesanglichen und schauspielerischen Fähigkeiten entwickeln konnten. Dies war nicht zuletzt auch ganz im Sinne des Volkskommissars für Aufklärung. Lunačarskijs 1919 geäußerte Erwartungen hinsichtlich der Arbeit von Proletkul't gingen genau in diese Richtung: Proletkul't „should concentrate all its attention on studio work, on the discovery and encouragement of original talent among the workers, on the creation of circles26 of writers, artists and all kinds of young scholars from the working class, on the creation of various kinds of studios and vital organizations in all fields of physical and spiritual culture.“ (Lunačarskij 1919, zit.n. Fitzpatrick 1970: 99)

In den Grundzügen offenbart sich also in der Arbeit der Ortsgruppen von Proletkul't und auch in der Haltung des Volkskommissariats für Aufklärung das Prinzip der Talenteförderung und der Aufruf an die werktätigen Massen, Initiative zu zeigen, 25 Proletkul't war nicht nur mit dem Volkskommissariat für Aufklärung, sondern auch mit den Gewerkschaften in Kompetenzstreitigkeiten verwickelt (Post 2004: 28-29). 26 Im russischen Originaltext: kružki. Das Wort kružki wurde auch vor der Revolution für die Lesekreise der russischen Sozialdemokraten und anderer linker Gruppen benutzt, vgl. David-Fox (1999: 187); ähnlich Stites (1992: 11).

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„selbst tätig“ zu werden und ihre Kreativität zu beweisen. Dieses Gebot der samodejatel'nost' hat sich über alle folgenden Jahrzehnte bewahrt. Es ist auch heutzutage das Ideal der Arbeit der Kulturhäuser, die darum bemüht sind, die Bevölkerung in den Ortschaften zu „aktivieren“ und ihnen ein kulturelles Bewusstsein zu vermitteln. Im Verlauf der weiteren Ausführungen wird allerdings deutlich werden, dass die künstlerische Initative „von unten“ schon nach wenigen Jahren von den professionals im Kulturbetrieb, den Parteigruppen und den örtlichen Verwaltungen eher als störend, ungelenk und vielleicht auch als naiv betrachtet wurde, so dass sich die Notwendigkeit ergab, die Kreativität „von unten“ durch Vorgaben „von oben“ zu kanalisieren. Aber zurück ins Jahr 1922. Proletkul't war noch nicht „erledigt“, aber doch auf Jahre entmachtet, aus ideologischen, aber auch aus finanziellen Gründen. Die Vereinigung hatte eine Art Kulturrevolution angefacht. Freilich war das Wort Kulturrevolution (kul'turnaja revoljucija) damals noch nicht in Gebrauch: es wurde erst 1922-1923 von Lenin in Umlauf gebracht und mit einer bestimmten Nuancierung versehen, wie Michael DavidFox argumentiert. „Lenin’s heavy-handed association of the term with inculcating the habits of ‚civilized‘ societies, overcoming ‚barbarism‘, and mastering science and technology […] came as a response to more constructivist and iconoclastic currents already embedded in the Bolshevik project“ (David-Fox 1999: 191, Hervorh. im Original). Lenins Diktum und seine offene Kritik gegenüber dem bilderstürmenden Proletkul't wirkten auch über seinen Tod (im Januar 1924) hinaus. Diese Leitlinie betonte zuvörderst die Alphabetisierung und die Verbreitung zivilgesellschaftlicher Tugenden (Fitzpatrick 1970: 251). Im Sinne einer zivilisatorischen Mission eignete sie sich als konkrete Grundlage der sowjetischen Politik im Hohen Norden, Zentralasien, aber auch in den peripheren Regionen des ‚bäuerlichen‘ Russlands. Aber für die Entwicklung einer dezidiert proletarischen Kultur, wie Keržencev und andere sie zum Ziel hatten, war diese Instruktion wenig hilfreich. Mittlerweile war auch in finanzieller Hinsicht ein Stillstand eingetreten. Im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) war ab 1921 die Zuständigkeit der Finanzierung eines großen Teils der Einrichtungen von der zentralen auf die lokale Ebene übertragen worden (Fitzpatrick 1970: 253). Die Stagnation in diesem Bereich scheint bis zum Ende der NÖP-Periode im Jahre 1928 angehalten zu haben. Sie lähmte nicht nur Proletkul't, dessen Präsenz in der sowjetischen Provinz sich allmählich auf ein Minimum reduzierte (Stites 1992: 40), sondern das ganze Volkskommissariat für Aufklärung und die Kultur- und Bildungseinrichtungen in allen Teilen des Landes, von denen die meisten ja erst kurz zuvor errichtet worden waren (Drewelow 1989: 60). Nadežda Krupskaja, Abteilungsleiterin im Volkskommissariat, mahnte: „In the provinces, the restriction of credits led to an almost epidemic closing of clubs, schools and reading-rooms – as if the wind had blown them away“ (Krupskaja 1922, zit.n. Fitzpatrick 1970: 253).

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Agitprop Zu dieser Zeit verschoben sich wiederum die Machtverhältnisse im Bildungs- und Kulturbetrieb. Die ursprünglich unabhängige Proletkul't-Bewegung war Ende 1920 in das Volkskommissariat für Aufklärung eingegliedert worden. Aber das Volkskommissariat selbst war in ein langwieriges und komplexes Kompetenzgerangel mit einer anderen Organisation verwickelt, nämlich der Abteilung für Agitation und Propaganda (kurz: Agitprop) beim Zentralkomitee der Partei. Agitprop bestand als Teilstruktur der Partei auf der zentralen und der regionalen Ebene von 1920 bis 1934. Die Dualität von Staats- und Parteiapparat war im Kultur- und Bildungsbereich in den frühen 1920er Jahren noch nicht so stark zum Tragen gekommen, weil Agitprop sich mit der Instruierung der Parteimitglieder befasste, deren Zahl damals noch recht gering war. Erst mit der allmählichen Entwicklung der Partei hin zur Massenorganisation festigte sich die Rolle der Agitprop-Abteilung in Moskau und der regionalen und örtlichen Agitprop-Abteilungen in der „politischen Aufklärung“ (političeskoe prosveščenie bzw. politprosvet). Damit kollidierten die Interessen von Agitprop immer deutlicher mit denen der Abteilung Politprosvet beim Volkskommissariat für Aufklärung. Deren Leiterin, besagte Nadežda Krupskaja, musste 1929 ihren Hut nehmen.27 Auch Lunačarskij trat 1929 von seinem Amt als Volkskommissar zurück. „In a highly symbolic move, the former head of Agitprop, Bubnov, was appointed to replace Lunacharskii“ (David-Fox 1996: 364-365). Im Jahre 1928, zum Beginn des „großen Umbruchs“ (velikij perelom) und des Ersten Fünfjahresplans, war Agitprop (als Organisation) also in der besten Ausgangsposition, um das, was im Nachhinein oft als die „eigentliche Kulturrevolution“ betrachtet wurde, zu initiieren. Nun gewann auch Proletkul't wieder an Einfluss, speziell die radikaleren unter seinen Vertretern. Mit dem Bilderstürmen konnte es kaum schnell genug gehen.28 „All-out struggle against bourgeois culture and its carriers became the new orthodoxy“ (David-Fox 1999: 198). Es war zu dieser Zeit, dass die neuen, gigantischen Industrieprojekte in Angriff genommen wurden, dass Städte wie Magnitogorsk aus dem Boden wuchsen, dass Menschen zu Tausen27 Was Krupskaja damals blieb, war die Hoffnung auf lokale Eigeninitiativen im Kulturbereich: „she was convinced that the thirst for knowledge was strong enough among the population to support libraries, reading-rooms and clubs organized by the people themselves“ (Fitzpatrick 1970: 255). 28 In vielen historiographischen Darstellungen werden die Jahre 1928-1932 als die Zeit der „eigentlichen“ Kulturrevolution beschrieben. So ergibt sich ein widersprüchliches Bild über die Datierung und Erklärung der Geschehnisse, die als sowjetische Kulturrevolution bezeichnet werden. David-Fox (1999) differenziert zwischen einer nach innen und einer nach außen gerichteten Form der Kulturrevolution, worauf ich weiter unten (im Fazit zu diesem Kapitel) zurückkomme.

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den vom Land in die Stadt strömten. Die Bequemlichkeit und kulturelle Beliebigkeit der NÖP-Periode (vgl. Mally 2003: 325) war vorbei. Ab 1930 sollte auch die Errichtung von Klub- und Kulturhäusern wieder verstärkt vorangetrieben werden (White 1990: 35). Im Zuge der allgemeinen Aufbruchsstimmung kamen nun diejenigen Formen der politisch-künstlerischen Expression wieder zur Geltung, die schon ein Jahrzehnt vorher – während der Revolution und des Kriegskommunismus – verwendet worden waren. Agitprop in der übertragenen Bedeutung – als Form der Darbietung – entsprach hinsichtlich seiner Experimentierfreude und der explizit politischen Stellungnahme den Ansätzen der frühen 1920er Jahre.29 Entwickelt hatte sich diese Form im Zuge der Agitation und Propaganda, die die Sozialdemokraten und andere linke Gruppen vor und während der Oktoberrevolution unter der überwiegend analphabetischen Bevölkerung betrieben. „A method of acting out the news for largely illiterate audiences, this performance style gained great popularity during the Russian revolution and civil war“ (Mally 2003: 325). Agitprop als Darstellungsform hatte einen ersten Höhepunkt in den Jahren der Revolution und des Kriegskommunismus. Nicht nur in den städtischen Zentren, sondern auch auf dem Lande bildeten sich damals erste Agitationstheater.30 Der zweite Höhepunkt der Agitprop-Bewegung fällt mit dem Beginn des ersten Fünfjahresplans zusammen: Mally (2000: 147-156) beschreibt, wie sich AgitpropBrigaden in den Fabriken und Betrieben als Teil der Stoßarbeiterbewegung formierten. Der Umstand, dass über ihr Konzept und ihre Aktivitäten häufig in den Fachzeitschriften für Klubs und Kulturhäuser berichtet wurde, unterstreicht die engen Verbindungen zwischen den Agitprop-Gruppen und den Arbeiterklubs (ebd.). Charakteristisch für die Aufführungen waren die improvisierten Stücke bzw. Sketche, die ohne oder mit einem nur minimalen Fundus aufgeführt werden konnten. Dadurch waren diese Theatertruppen mobil und in der Lage, an jedem beliebigen Ort zu jeder beliebigen Zeit aufzutreten. Die Truppen bestanden aus Laien, die aus politischen Beweggründen ihre Auftritte durchführten, und viele suchten die Abgrenzung zu den professionellen Theatertruppen, nicht die Annäherung an sie. Gerade dadurch errang das Agitprop-Theater auch seine Popularität in den Klubhäusern der Werktätigen – nicht nur in Sowjetrussland bzw. der Sowjetunion, son-

29 Im Agitprop konstituierte sich eine Form des Spektakels, die am ehesten mit der Ästhetik des Performativen (im Sinne von Fischer-Lichte 2004) arbeitet und die auch am ehesten die transformative Kraft hat, die Handelman (1998) dem „modellierenden“ Event zuschreibt (s. Kapitel 4). 30 Kotyleva (2004: 143) gibt ein Beispiel aus dem Jahr 1920; sie erwähnt eine durch das Land ziehende Gruppe von „amateur actors, led by V.A. Savin“ im Autonomen Gebiet der Komi (die heutige Republik Komi).

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dern auch in Westeuropa und Nordamerika.31 Agitprop als Form der Darstellung, so können wir festhalten, entsprach ziemlich genau dem Programm, das die Vertreter des Proletkul't, speziell dessen linker Flügel, verfolgten: Theater als Laienkunst unter Verwendung unkonventioneller Stilmittel. Spartanisch-grelle Formen der Expression werden von der Bühne hinunter- und in die Arbeitswelt hineingetragen, die Grenze zwischen Darstellern und Zuschauern wird in Frage gestellt, der Zuschauer soll nicht emotional berührt, sondern aufgerüttelt werden, neben der Bildung der politischen Persönlichkeit geht es um die konkrete Tat. Bezeichnenderweise ist es gerade der Agitprop, der in der Arbeit der Kulturund Bildungseinrichtungen in jener Zeit recht weit verbreitet war, aber schon in den frühen 1930er Jahren gegenüber den gefälligeren, weniger konfrontativen Genres zurücktrat. Wie kam es zu dieser baldigen Abkehr vom Agitprop? Die offizielle Kritik am Agitprop bestand darin, dass die Inszenierungen mit ihren holzschnittartigen Rollen zu grob seien, dass die Idee der Agitation von Proletariern für Proletarier überlebt sei und dass die sowjetische Gesellschaft nun völlig anders verfasst sei als zu den Zeiten des Kriegskommunismus. Mit anderen Worten, in der Sowjetunion bestand angeblich nicht mehr die Notwendigkeit, immer und überall für die Sache des Kommunismus zu agitieren (Mally 2003: 331). „In April 1932, the Soviet Communist Party issued a declaration abolishing independent cultural organizations and directly criticizing those that claimed a special relationship to the working class. Several aggressive cultural organizations that had championed agitational art during the first Five-Year Plan were summarily disbanded, including […] the Proletkult. As a giant step toward socialist realism, this declaration made it clear that the Soviet cultural production had to become more complex and address itself to the population at large.“ (Mally 2003: 329)

Ähnlich wie die erste Phase des kulturellen Ikonoklasmus (1917-1920) war auch diese Phase der „kulturellen Revolution“ (1928-1932) nur von relativ kurzer Dauer. Michael David-Fox (1999) legt nahe, die Phaseologie zu hinterfragen und die Geschehnisse während der beiden „heißen Phasen“ als extrovertierten Aspekt einer Kulturrevolution zu betrachten, die neben der nach außen gerichteten auch eine nach innen gerichtete Mission enthielt. Mit anderen Worten: der Auftrag, die Bevölkerung, die unaufgeklärte Masse, zum neuen Glauben zu bekehren, ging mit dem Auftrag, sich selbst zu verändern und zu disziplinieren, einher. David-Fox 31 Wie Funk-Hennigs (1995) zeigt, hatten die in Deutschland in den späten 1920er Jahren existierenden Agitprop-Theater ihre Wurzeln im Rotfront-Kämpferbund, der 1924 im Volkspark zu Halle gegründet wurde (vgl. Trieder 2007: 30). Zu den weiteren Verknüpfungen zwischen Agitprop in der Weimarer Republik und der Sowjetunion und speziell zur Rolle von Erwin Piscator s. Mally (2003).

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(1999: 200-201) bezieht sich dabei explizit auf Slezkine (1994) und die zivilisatorische Mission der Sowjets im Hohen Norden, von der weiter oben ausführlich die Rede war. Auch wenn es in den Jahren der Neuen Ökonomischen Politik so aussah, als ob der proselytische Eifer von Agitprop und Proletkul't nachgelassen hätte, so waren diese Jahre dennoch geprägt von einer kritischen Selbstreflexion vieler Parteimitglieder, einem nach innen gerichteten „Umbau“. Und in den entfernten Landesteilen, im Hohen Norden ebenso wie in Zentralasien, gewann die nach außen, auf andere gerichtete kulturelle Revolution in genau dem Sinne, den Lenin 1922 formuliert hatte, gerade erst an Fahrt (s.o., vgl. auch İğmen 2011: 176ff.). Was blieb übrig vom Agitprop? Sowohl in performativer als auch in organisatorischer Hinsicht schien der Agitprop 1932 bzw. 1934 obsolet geworden zu sein. Stilistisch hat er jedoch ein gewisses Erbe hinterlassen. Das Grundkonzept des Agitprop wurde im Kulturbetrieb von den Agitationsbrigaden (agitacionnye brigady, oder kurz: agitbrigady) bis zum Ende der Sowjetzeit weiterverfolgt. Viele Kulturhäuser verfügten über Agitationsbrigaden. Die Mischung von Kunst, Unterhaltung, politischer Agitation und Antrieb der Zuschauer zu besseren Leistungen blieb charakteristisch für die Arbeit dieser Brigaden, die die Werktätigen an ihren Arbeitsplätzen besuchten. Aufgrund ihrer verhältnismäßig geringen Kosten und hoher Mobilität waren die Agitationsbrigaden das geeignetste Instrument, auch mit denjenigen Teilen der Bevölkerung zu kommunizieren, die keine Möglichkeit zum Kulturhausbesuch oder kein Interesse daran hatten. Die Methoden des Agitprop wurden nun dazu eingesetzt, die kulturelle Versorgung auch der entlegenen Regionen zu gewährleisten. Das Element der Laienkunst entschwand aber aus der Tätigkeit der Agitationsbrigaden: sie wurde zunehmend zur Aufgabe der Kulturarbeiter, also der professionals. Zumindest für Kolyvan' lässt sich dies belegen: in den späten 1970er und 1980er Jahren bestand die agitbrigada überwiegend aus professionellen Kulturarbeitern (Abb. 21). Für die postsowjetische Zeit lässt sich konstatieren, dass die agilsten Mitarbeiterinnen der Kulturhäuser, sozusagen „das Aktiv“ im Kollektiv, die Arbeit der Agitationsbrigaden in gewissen Formen weiterführt: sie tingeln über die Dörfer, verursachen einen gewissen Trubel in den verschlafenen Orten und versuchen damit, die Landbevölkerung wachzurütteln, das heißt, sie zu kreativer (implizit: gesellschaftlich sinnvoller) Tätigkeit zu inspirieren.32 32 Überdies lassen sich die Nachwirkungen von Agitprop m.E. noch in einem anderen Format weiterverfolgen: im Format des KVN. Diese Abkürzung steht für Klub veselych i nachodšivych (wörtlich zu übersetzen als Club der Fröhlichen und Einfallsreichen). Zu diesem weit verbreiteten Phänomen scheinen bisher nur wenige sozialwissenschaftliche Studien vorzuliegen (D'jakova/Česnokova 2012; Šapiro 2012). Eine aufschlussreiche Informationsquelle ist in diesem Falle die russische Edition von Wikipedia (http://ru.wikipedia .org/wiki/%D0%9A%D0%92%D0%9D – abgerufen am 12. März 2014). Bei KVN handelt es sich um einen Wettbewerb zwischen zwei oder mehr Personen bzw. Teams, die im

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Abb. 21: Die Agitationsbrigade (agitbrigada) des Kulturhauses von Kolyvan' bei einem ihrer Auftritte in einem Dorf im Landkreis. Foto: Archiv des Regionalmuseums von Kolyvan', vermutlich 1973 oder 1974 aufgenommen

Samodejatel'nost' Mit diesem Begriff verbindet sich das Spannungsfeld, das sich zwischen der „Initiative von oben“ und der „Initiative von unten“ bewegt (Rolf 2006: 89). Samodejatel'nost' (wörtlich übersetzt: Selbsttätigkeit) ist einer der häufigsten und zugleich schwammigsten Begriffe im Kulturbetrieb. Dem Historiker Malte Rolf zufolge bereitete der Widerspruch zwischen dem Wunsch nach einem gelenkten, wohlkoordinierten Festgeschehen und dem gleichzeitigen Wunsch nach spontanen Kreativitäts- und Freudenbekundungen seitens der Massen den Planern der sozialistischen Feste und Großveranstaltungen schon in den 1920er Jahren gewisse Kopfschmerzen. „Es war Platon Kerschenzew, der in diesem Konflikt das vorrevolutionäre Konzept der samodejatel'nost' ins Spiel brachte und damit eine begriffliche wie institutionelle Nische für die ‚Initiative der Massen‘ in einem zentral verwalteten Fest schuf“ (ebd.: 74).33

Wettkampf miteinander ihr Wissen, ihre Gewitztheit und ihren Humor unter Beweis stellen. KVN hatte seinen Anfang in einer Fernsehshow ab 1961, wurde 1971 abgesetzt, um 1986 wieder aufgenommen zu werden. Speziell unter Jugendlichen und Studierenden ist KVN sehr populär, und an vielen Schulen und nahezu allen Universitäten des Landes haben sich KVN-Teams gebildet, die gegeneinander antreten. – Nach meinen Recherchen haben viele Kulturhäuser ein KVN-Team unter ihren Kollektiven (in Kolyvan' ist dies nicht der Fall; KVN-Teams sind an den örtlichen Schulen organisiert). Auch wenn die Verbindungen zwischen Agitprop und KVN nicht direkt nachzuweisen sind, so zeigen sich doch bedeutende Parallelen: KVN-Teams müssen redegewandt sein, sie präsentieren Sketche und kurze Szenen, und Spontaneität ist ihr Markenzeichen, d.h., sie sind prinzipiell immer und überall einsetzbar. 33 In dem zitierten Text, einem Beitrag zum ersten Band der Zeitschrift Proletarskaja kul'tura, hob Keržencev tatsächlich mehrfach die zentrale Bedeutung von samodejatel'nost' hervor, z.B. in den Sätzen „[Proletkul't] wird die schöpferische Selbsttätigkeit der Massen

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Wie bereits deutlich wurde, unterlag das Verhältnis zwischen der Initiative von oben und von unten einem bedeutenden Wandel: die unerwarteten, teilweise auch unerwünschten Erfahrungen mit dem Proletkul't zwischen 1917 und 1922 ließen eine gewisse Lenkung von oben angeraten scheinen (Stites 1989: 98-99). Ab den 1930er Jahren boten die pompösen, massenhaften Manifestationen der Sowjetmacht nicht mehr den geringsten Raum für Zufälle oder Eigenwilligkeiten. Was für die großen Festtage selbst galt, das galt auch auch in der Vorbereitungsphase. Die Mitglieder der kružki in den Betrieben malten die Transparente für den Festtag zwar selbsttätig, doch der Text der Losungen war ihnen von den Festkommissionen vorgegeben worden (Rolf 2006: 99). Eigeninitative war erwünscht, aber nur in sehr engen, sich ab den 1960er Jahren wieder ausdehnenden Grenzen.34 Ähnlich wie zuvor mit Bezug auf Agitprop versuche ich im Folgenden zu beurteilen, was von der samodejatel'nost' in späteren Jahrzehnten „übrig geblieben“ ist, wiederum mit Bezug auf Kolyvan'. Einige Aufschlüsse liefern die Artikel, die die Mitarbeiterinnen des Museums von Kolyvan' aus den Ausgaben der Lokalzeitungen von 1966 bis in die 1990er Jahre ausgeschnitten und archiviert haben. Am häufigsten findet sich das Wort in der Formel „Kollektiv der künstlerischen Selbsttätigkeit“ (kollektiv bzw. kružok chudožestvennoj samodejatel’nosti). Das Prinzip der „Selbsttätigkeit“ ist also bereits in den bürokratischen Termini festgeschrieben. Über die Anzahl und Tätigkeit der Kollektive wurde in der Zeitung regelmäßig berichtet. Bemerkenswert ist der Mechanismus, mit dem der Betrieb am Laufen gehalten wurde: er verbirgt sich hinter dem Wort smotr, also „Schau“ im Sinne von Talenteschau, Inspektion. In jedem Jahr wurde der smotr auf Kreisebene nicht nur zur Grundlage seiner Tätigkeit machen […] Die Selbsttätigkeit der Massen auf dem Gebiet der Schaffung neuer kultureller Werte wird das Unterpfand der Festigkeit der neuen proletarischen Kultur sein“ (1918: 7). Keržencev behandelte allerdings nicht so sehr den Widerspruch zwischen Festgestaltung von oben und von unten, sondern die Frage, wieso Proletkul't seine Daseinsberechtigung neben dem Narkompros hat, und begründete dies eben mit der schöpferischen Betätigung der Angehörigen des Proletariats in Theater, Literatur, Kunst und Wissenschaft. 34 Auch Dudeck thematisiert (indirekt) den Konflikt zwischen Initiative von oben und Initiative von unten. Seine Argumentation geht dann aber in eine etwas andere Richtung: die unausgesprochene und ungelöste Differenz zwischen Ideologie und praktischen Erfordernissen „ermöglichte hinter der Fassade der als gesellschaftlich nützlich erachteten Betätigung eine Vielzahl von Freizeitbeschäftigungen, deren Motive eher individuell und lokal verankert waren. […] Das Wort samodejatel'nost' wurde so zum Synonym für alle Formen kultureller Betätigung von Laien, die in die staatliche Kulturpolitik eingebunden, oft ihren privaten Vorlieben und Interessen folgten.“ Dudeck (2013: 123, Anm. 106). Eine ähnliche Position – allerdings mit Bezug auf den Alltag der Kultureinrichtungen in der DDR – vertritt Hartung (1997: 53; vgl. Petzoldt 1988: 91-102).

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einmal, sondern in mehreren Etappen organisiert, so dass ein regelmäßiges Auftreten der Kollektive gewährleistet wurde. Von den Mitarbeiterinnen der örtlichen Intelligenz wurde ganz offensichtlich erwartet, dass sie ihre künstlerische „Selbsttätigkeit“ kollektiv unter Beweis stellen. Das liest sich dann beispielsweise so: „Mit den Auftritten der Kollektive der künstlerischen Selbsttätigkeit der Intelligenz des Landkreises und der örtlichen Einrichtungen ging die erste Etappe des smotr zuende. Als erste stellten die Angestellten der Poliklinik und des Kreiskrankenhauses ihre Kunst unter Beweis. Die Bewohner von Kolyvan' wussten, dass sie ein interessantes Konzert erwartete, daher war der Saal mit Zuschauern überfüllt. Und sie wurden nicht enttäuscht. Hier sei daran erinnert, dass in der Geschichte des medizinischen Dienstes in Kolyvan’ dies der erste Massenauftritt war.“ (Gordienko 1975)

Die darauf folgenden Angaben zum Repertoire dieses Kollektivs und zum Ablauf der Veranstaltung verstärken noch den Eindruck der Einheitlichkeit. Mitmachen ist alles, so scheint es. Der smotr als Veranstaltungsformat ist übrigens nicht ausgestorben, sondern wird in verschiedenen Varianten weitergeführt – teilweise nach wie vor als „Schau“ von Leuten, die denselben Arbeitsplatz haben. Gegenwärtig scheint, in Kolyvan' zumindest, die Bezeichung tvorčeskij otčet („künstlerische Berichterstattung“, Abschlusskonzert) für dieses Veranstaltungsformat gebräuchlich zu sein. Sicherlich ist es für die Damen und Herren auf der Bühne in aller Regel ein befriedigendes Erlebnis, gemeinsam etwas geleistet zu haben. An anderer Stelle bin ich unter dem Stichwort „Lampenfieber“ auf dieses Gefühl eingangen: Die Darbietungen der Laienkünstler sind in der Tat von einem Moment großer Anspannung geprägt; Lampenfieber ist der Preis für das Sich-zur-Schau-Stellen vor der Öffentlichkeit. Nach dem Durchleben dieser Situation winkt als Belohnung die Auszeichnung des Kollektivs und die Anerkennung jeder einzelnen Person als eines geschätzten Mitglieds der Gemeinschaft. Nichtsdestoweniger lässt sich für die späte Sowjetzeit festhalten, dass der „Selbsttätigkeit“ formale und auch inhaltliche (ideologisch bestimmte) Grenzen gesetzt waren. White (1990: 39-44) konstatiert für diese Periode unter der sowjetischen Bevölkerung ein abnehmendes Interesse an den Aktivitäten der Kulturhäuser. Das folgende längere Zitat verdeutlicht die Praxis der Interventionen „von oben“ an einem konkreten Beispiel. Es ist die Schilderung eines älteren Mannes gegenüber meiner Kollegin Virginie Vaté, wieso er 1980 das Kulturhaus verließ und für etwa zehn Jahre nicht mehr dort hinging: „I will tell you on which basis I left. I left a wonderful academic choir, which was appreciated outside the region of Magadan [to which Chukotka belonged at that time]. […] We were pre-

220 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND paring the forty-fifth35 anniversary of the victory [of World War II]. A woman came, an instructor from the Regional Party Committee (okruzhkom partii), and she said to our leader: ‚You know, it is forbidden to perform these songs for people.‘ […] We had prepared, among others, songs by composers of the Italian Renaissance. Her arguments were, first, which was understandable, ‚Why do you need religious composers?‘ But her second argument concerned the fact that these songs were Italian. ‚Do you remember‘, she asked, ‚[whose side] Italy was [on] during the war?‘ We said, we did remember, […] but we were singing songs of the Renaissance period, this is world heritage! […] And the whole choir left, sixty people and the leader; and I did not come back for the next ten years.“ (Vadim, Jg. ca. 1932, Anadyr', in einem Interview mit Virginie Vaté, von ihr übersetzt und mit Ergänzungen versehen, zit.n. Vaté/Diatchkova 2011: 35)

Lässt sich diese konzertierte Form der Laienkunst ernsthaft als „Selbsttätigkeit“ (samodejatel'nost') interpretieren? Lässt sie sich hinsichtlich der Spontaneität und Selbstbestimmtheit überhaupt vergleichen mit den Proletkul't-Produktionen oder den Agitprop-Auftritten der 1920er Jahre? Vielleicht ist so ein Vergleich möglich, wenn wir die Virtuosität der Darbietung (die Qualität der Performance) von den ästhetischen und gesellschaftlichen Idealen, auf die die Performance verweist, trennen. In diese Richtung weist Malte Rolfs Argumentation hinsichtlich der Ausführung von Festtagsszenarien in den 1930er Jahren: „In der Perzeption derjenigen Zeitgenossen, die sich nicht in Konfrontation mit dem Regime sahen, war auch das Einschreiben in ein vorformuliertes Skript ein schöpferischer Akt, vergleichbar etwa mit dem alljährlichen Weihnachtskrippenspiel christlicher Gemeinden. Die allgemeine Narration war fixiert, die Rollen verteilt und das Ende der Geschichte bekannt. Aber in der künstlerischen Ausgestaltung der Details entfaltete sich das Gefühl aktiver Teilnahme und selbsttätiger Partizipation.“ (Rolf 2006: 251)

Die Initiative von unten besteht in dem Willen, das eigene Talent unter Beweis zu stellen, sich in Virtuosität zu üben. Aber die Genres und Inhalte scheinen nach wie vor begrenzt, sie folgen dem ästhetischen Ideal von Kultur als Ausdruck des Hehren und Schönen. Die schrillen Töne und Dissonanzen sind im Laufe der Jahrzehnte aus der Laienkunst verschwunden (und noch sind sie, mit wenigen Ausnahmen, nicht zurückgekehrt). Gefällige, einheitliche Kostüme sind nun ein Muss für jede Art von Gesangs- oder Tanzensemble (Abb. 22). Das einzige musikalische Genre, das einen klaren politischen Inhalt hat, besteht aus den patriotischen Liedern. Politik im Kulturhaus ist Patriotismus, und er wird unisono vorgetragen.

35 Gemeint war der 35. Jahrestag des 9. Mai 1945, nicht der 45. Jahrestag.

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Abb. 22: Das Ensemble „Kolyvanskie Prostory“ war über mehrere Jahrzehnte das bekannteste Ensemble im Landkreis (vgl. Anh. 6). Foto: Archiv des Regionalmuseums von Kolyvan', vermutlich 1973 oder 1974 aufgenommen

Von Ausrufezeichen und Serifen In den drei vorigen Abschnitten habe ich eine gewisse allgemeine Tendenz angedeutet, die ich hier kurz zusammenfassen möchte. Es geht um die Formensprache dessen, was als Kultur verstanden und legitimiert wird und zur Aufführung kommt. Diese Formensprache war immer wieder kleineren und auch größeren Veränderungen unterworfen, am bedeutendsten ist dabei jedoch der Wandel, der sich während der 1930er Jahre vollzog und der bis heute nachwirkt. Die grellen, aufrüttelnden Formen des Agitprop wurden durch gesetzte, klassizistische, „seriöse“ oder auch „elegante“ Formen abgelöst. Das Ausrufezeichen steht für den revolutionären Appell, die Serifen für die klassische Ästhetik.36 Es ist nicht zu leugnen, dass verschiedene Formen gleichzeitig koexistiert haben, aber die Richtung der Entwicklung – von den revolutionären hin zu den restaurativen Formen – scheint doch eindeutig. Diese Tendenz betraf viele Bereiche der sowjetischen Ästhetik, von der Graphik der Plakate und Schriften und den architektonischen Gestaltungsprinzipien (Papernyj 2007) über die Wohnkultur und Mode (Volkov 2000) bis hin zur Prosodie und zu 36 Die Idee zu dieser Metapher kam mir während der Lektüre des Buches Kul'tura Dva (2007) von Vladimir Papernyj. Teile des Manuskripts von Kul'tura Dva kursierten in der Sowjetunion bereits zu Beginn der 1980er Jahre. Mit kul'tura 2 (kul’tura dva) bezeichnet Papernyj einen Idealtypus des stalinzeitlichen konservativ-eklektischen Geschmacks, der zu kul'tura 1, dem Idealtypus der architektonischen Nüchternheit und Sachlichkeit, in auffälligem Kontrast steht. Eine der bildlichen Darstellungen dieses Unterschieds (Abb. 45-50) zeigt je drei Zeitschrifteneinbände (unterschiedliche Jahrgänge) einer Architekturund einer Kinozeitschrift. Die Schrifttypen auf den Einbänden ändern sich: die klobigen, teilweise grotesk in die Vertikale gezogenen Großbuchstaben der 1920er Jahre weichen den wohlproportionierten Antiqua-Großbuchstaben mit den für Antiqua typischen Serifen. Es sind die Serifen, die diese Schriftzüge „seriös“ und „elegant“ erscheinen lassen. – Ich danke Elena Liarskaya für den Hinweis auf Papernyjs Buch.

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den Inhalten in der Laienkunst. Die Vase auf der Bühne des Kulturhauses steht dort nicht zufällig (Abb. 12 in Kapitel 4). Um diese Art von Kultur-Wandel mit einem weiteren, abschließenden Beleg zu versehen, komme ich nochmals auf die Architekturgeschichte der Kultureinrichtungen zurück, von denen in Kapitel 5 schon die Rede war. Generell sind die (Dorf-) Klubhäuser, Kulturhäuser und Kulturpaläste einfach als verschiedene Größen desselben Produkts aufzufassen – so meine grundsätzliche Argumentation in diesem Buch. Aber es lohnt sich, noch einmal genauer die Unterschiede zu betrachten, denn die Typen verweisen auf bestimmte Entstehungszusammenhänge, und auch ein Klubhaus auf dem Lande hat einen anderen Hintergrund als ein Klub in einem Industriebetrieb mit langer proletarischer Tradition (vgl. Post 2004). Simone Hain verdeutlicht diese Unterschiede, auch mit Bezug auf das Potenzial für samodejatel'nost': „Gegenüber den kleineren, betriebsbezogenen Klubs, die man als verlängerte Wohnstuben großer Aufenthaltsqualität betrachtete, entstanden seit Mitte der zwanziger Jahre neben den bereits aus der vorrevolutionären Zeit bestehenden und vielfach neu geschaffenen Volkshäusern in der Sowjetunion auch die ersten großen Kulturhäuser und Kulturpaläste. Sie hoben in gewisser Weise das Selbsttätigkeitsprinzip der Volkshäuser und Arbeiterklubs auf, indem sie als Veranstaltungsorte für ein Massenpublikum dienten. Während der Arbeiterklub eher der ‚permanenten Revolution‘, dem ständigen Arbeiten an sich und der Gesellschaft dienen sollte, setzten sich im Konzept der Kulturpaläste Züge des Stalinismus durch: Die Revolution war angekommen, und sie feierte sich in zunehmendem Maße in nationalsprachlichen Würdeformeln des 19. Jahrhunderts. Ja, man gab die eigenen Errungenschaften auch an den Nachbarn weiter, wie das Beispiel des Warschauer Kulturpalastes und die ‚Geschenke‘ der SAG [der Sowjetischen Aktiengesellschaften] an die deutschen Arbeiter von Böhlen, Buna und Bitterfeld anschaulich belegen.“ (Hain 1996b: 114-115)

Klub und Kulturhaus bzw. -palast weisen nach Hain eine unterschiedliche Genese auf,37 aber sie wurden in der Sowjetunion der Nachkriegszeit immer stärker als Synonyme aufgefasst, vor allem im ländlichen Raum. In Kapitel 7 habe ich gezeigt, dass das Klubhaus, der Dorfklub, heute offiziell einfach als die kleinere Version des Kulturhauses definiert wird. Auch der Arbeiterklub als Element des städtischen, betrieblichen Lebensalltags wurde einer Veränderung unterzogen (Mally 2000: 183186; Post 2004). Er wandelte sich von der „verlängerten Wohnstube“ als Raum für politische Diskussionen hin zu einem kontrollierten und befriedeten Bereich für Repräsentations- und Auszeichnungszwecke in dem Maße, wie die Debatte um die „Arbeit an sich selbst“ während der 1930er Jahre allmählich in der Furcht vor dem 37 Zu den Vorläufern der Kultureinrichtungen in der Zeit von etwa 1880 bis 1917, den Volkshäusern, vgl. den ersten Abschnitt in Kapitel 7.

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Bekanntwerden persönlicher Schwächen und Fehltritte erstarrte. Die „Arbeit an sich selbst“ wurde aber keineswegs eingestellt, wie das obige Zitat suggeriert. Sie wurde internalisiert, war nicht mehr ernsthaft Diskussionsgegenstand zwischen Kolleginnen und Kollegen und fand nun zunehmend in der privaten Sphäre statt – bildlich gesprochen: im abendlichen Lampenlicht bei zugezogenen Gardinen.

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Michael David-Fox hat, wie bereits angedeutet wurde, die Anregung gegeben, Kulturrevolution als eine sowohl nach außen als auch nach innen gerichtete Mission zu betrachten. „Not only did the expanding party constantly draw in the backward and the uninitiated, but there was always a more advanced, more revolutionary level to achieve in forging the new way of life and the new person“ (David-Fox 1999: 197). Diese Anregung möchte ich aufgreifen und als Ausgangspunkt verwenden, um die Teilaspekte dieses Kapitels in einer Synthese darzustellen. Die Überzeugungsarbeit gegenüber den anderen („du musst dich ändern“) war stets verbunden mit der „Arbeit an sich selbst“ („ich muss mich ändern“). Nennen wir dies den externalisierten und den internalisierten Aspekt des gesellschaftlichen Umbaus. Auch wenn beide gemeinsam am Werk sind, so operieren sie in unterschiedlichen Modi: der Appell an jemanden anderen, sie oder er möge etwas an sich ändern, beruht auf einem anderen Imperativ (und auf anderen psychologischen Mechanismen) als der Appell an sich selbst, etwas an sich zu ändern. Überdies kommen die unterschiedlichen Darstellungsformen ins Spiel. Der Agitprop zeichnete sich aus durch grelle, dissonante Formen, durch die aufrüttelnde Wirkung (bis hin zum naming and shaming einzelner Personen im Publikum). Agitprop arbeitete mit der polemischen Herausstellung des Feindes mit der Absicht, die eigenen Reihen zu schließen. Die Farbe des Agitprop war das Blau der Arbeiterkluft. Er war kennzeichnend für die Periode der Industrialisierung, den Aufbruch und die Mobilisierung der Bevölkerung. In dieser Phase des rapiden Wandels war keine Zeit für Serifen. Dagegen manifestierte sich in der Kampagne der Kultivierung (kul'turnost'), von der Volkov berichtet, ein ganz anderer Appell. Der Eindruck, den dieser Appell generierte, lässt sich in etwa wie folgt formulieren: Der äußere Feind ist gerade nicht in Sicht, und um die Feinde in den inneren Reihen kümmern sich speziell dafür zuständige „Organe“; da ist es Zeit, an der Festigung der eigenen Position und an der Perfektionierung der eigenen Existenz zu arbeiten. Nicht die Konfrontation, sondern der Wettbewerb steht im Vordergrund. Sicherlich ist auch die Kampagne der Kultivierung nicht ohne Feindbilder denkbar (in Gestalt des Individualisten, des Habgierigen, des Liederlichen, des Trinkers usw.). Aber anstelle des egalitär angelegten Prinzips des Agitprop kam mit der Kampagne der

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Kultivierung ein hierarchisches Prinzip ins Spiel: das „kulturelle Niveau“, das sich beispielsweise in der Zahl der gelesenen Bücher pro Jahr ausdrückt. Es ist dies ein Beispiel für den Prozess der Zivilisation, den Elias beschreibt: eine Habitualisierung und Internalisierung von Verhaltensnormen und eines bestimmten Wissensschatzes. Die spezifisch sowjetische Eigenart dieses Prozesses besteht in der Art der politischen Steuerung, dem social engineering, mit dem die Internalisierung in Gang gesetzt wurde. Mehrere der Autorinnen und Autoren, die ich in diesem Kapitel zitiert habe, erwähnen die Idee der Schaffung des „Neuen Menschen“.38 Arnol'd Arnol'dov (geb. 1915), ein prominenter sowjetischer Kulturtheoretiker, bediente sich in seinen Schriften über das Wesen und die Aufgaben der Kultur im Sozialismus immer wieder des Bildes des Neuen Menschen.39 „Wir bauen heute nicht bloß neue Werke und Fabriken, wir schaffen auch den neuen Menschen, der durch die Vervollkommnung der sozialistischen Lebensweise und eine zielgerichtete geistige Erziehungstätigkeit der Partei geformt wird.“ (Arnol'dov 1975: 30) Die Herausbildung des neuen Menschen sei ein grandioses historisches Programm, so notiert Arnol'dov (ebd.: 27). Das Gebot der Kultivierung und der Kulturarbeit bestehe darin, den Neuen Menschen zu schaffen. Mit Arnol'dovs Worten: „Hauptsächliches Ziel der intensiven Entwicklung aller Bereiche der sozialistischen Kultur ist letzten Endes die Erziehung des neuen Menschen, seine allseitige Einbeziehung in den aktiven Aufbau eines neuen Lebens.“ (Ebd.: 91, ähnlich 62, 104) Der Neue Mensch wiederum zeichne sich durch seine Kultiviertheit aus. Er verkörpere sich in einer „harmonischen und schöpferisch tätigen Persönlichkeit, die sich durch wissenschaftliches Denken, kommunistische Bewußtheit, hohe moralische Auffassungen, einen ausgeprägten ästhetischen Geschmack und andere Eigenschaften auszeichnet“ (ebd.: 70). Arnol'dov ist nicht der einzige Autor, der den Neuen Menschen präsentiert, allerdings nimmt letzterer bei Arnol'dov relativ klare Konturen an. Sollten wir ein kurzes Portrait erstellen, so sähe dies wie folgt aus: Der Neue Mensch denkt nüchtern und rational, er ist pünktlich, ordentlich und gewissenhaft; er beweist mit seinem Handeln Verantwortung für sich und andere (in letzterem Punkt kommt er dem Ideal des Menschen in der liberalen Auffassung gleich). Er ist ehrlich, großzügig und solidarisch. Zugleich ist er sportlich, kreativ, interessiert, belesen und gebildet; er besitzt Geschmack und kann sich bei aller Rationalität auch an den schönen Dingen des Lebens erfreuen. Seine Emotionen sind positiver Art, nicht zuletzt, weil er 38 David-Fox (1999: 189ff.); Hain (1996b: 108); Hartung (1997: 45-46); Hellbeck (2006: 16 ff.); Rolf (2006: 256ff., 267); Stites (1989: 119); außerdem Bröckling (2003: 84) mit Bezug auf Praktiken der Selbstkritik, die im Kreise des Kollektivs vollzogen werden. 39 In Arnol'dovs 1975 in deutscher Sprache erschienenen Werk Kultur im entwickelten Sozialismus taucht der Neue Mensch auf gut 100 Seiten mindestens zehnmal auf.

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mit sich selbst im Reinen ist. „Ein hohes Entwicklungsniveau des Intellekts und eine hochentwickelte Kultur der Gefühle – beide Faktoren sind Bestandteile der harmonisch ausgebildeten Persönlichkeit.“ (Arnol'dov 1975: 40) Stellen wir dem Neuen Menschen seinen Antagonisten entgegen: die Person des „Alten Menschen“. Diese Formulierung wird in der mir vorliegenden Literatur so gut wie nie benutzt,40 wohl aber gelegentlich die Formel „das alte Leben“ (staryj byt). Der Alte Mensch ist abergläubisch, launenhaft, schlampig und unzuverlässig; er neigt zu kindischem, eigensinnigem und habgierigem Verhalten; er ist kleinlich, hinterhältig und feige. Er ruiniert seinen Lastern zuliebe seine Gesundheit. Er ist einfältig, interessiert sich nicht für die Welt um ihn herum, seine Ausdrucksweise und sein Benehmen sind ordinär, er hat keinen Sinn für Ästhetik. Als Spielball seiner Triebe und seiner Habgier ist er immer mit sich und den Mitmenschen unzufrieden.41 Offensichtlich werden hier Stereotype zur Schau gestellt, die realiter nicht existieren. Der Alte Mensch wirkt ob der Masse seiner Defizite unrealistisch, dabei aber immerhin irgendwie menschlich. Der Neue Mensch wirkt unpersönlich, ja sogar unmenschlich und unheimlich, was daran liegt, dass es niemanden gibt, der die im Neuen Menschen aggregierten Idealvorstellungen erfüllen kann. Sicherlich ist allen, die dem Neuen Menschen in der sozialistischen Literatur begegnen bzw. begegnet sind, bewusst, dass es hier „nur“ um ein Ideal geht. Es ist aber genau dieser idealisierte „Typ“ Mensch, der in der sowjetischen Gesellschaft als Leitbild verwendet und instrumentalisiert wurde, um real existierende Menschen zu bestimmten Handlungen zu bewegen, um ideologische Appelle an sie zu richten, um sie zu disziplinieren oder im äußersten Fall zu denunzieren. In vielen Situationen des Alltagslebens war der Neue Mensch gar nicht zugegen. Die russische Redewendung po-čelovečeski („auf die menschliche Art“) dient der Bezeichnung informeller Praktiken und Interaktionen (Kapitel 4, S. 137). Andererseits bestand immer die Gefahr (oder die Aussicht darauf), dass mit dem Wechsel des Interaktionsrahmens der ideologisch verpackte, moralische Appell wieder in den Raum trat. Salopp ausgedrückt, in nahezu jedem Moment konnte das Gegenüber den Neuen Menschen wieder herbeizitieren und einem als Beweis der eigenen 40 Hartung (1997: 45-46) zitiert Brechts Betrachtungen über den Alten Menschen im Neuen Menschen: „in wirklichkeit ist der neue mensch der alte mensch in den neuen situationen“ (Brechts Eintrag in seinem Arbeitsjournal, 12. Dezember 1940). 41 Der hier charakterisierte „Typ“ Mensch erscheint als ein Opfer der Ausbeutung durch andere. Seine Armut und sein Leben in Unkenntnis ermöglichen es ihm nicht, sich aus den negativen Handlungs- und Denkweisen zu befreien. In der entwickelten sozialistischen Gesellschaft galt diese Ausbeutung offiziell als weitgehend überwunden. – Bestimmte negative Verhaltens- und Denkweisen bestünden als Relikte weiter, sie dürften aber nicht geduldet werden, so Arnol'dov (1975: 45).

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Schwächen und Fehler vorhalten. Die unheimliche Effizienz dieser Methode beruhte eben darauf, dass die Messlatte des Anstands und korrekten Benehmens so hoch gelegt worden war, dass eigentlich niemand mehr von sich sagen konnte, er sei vor Kritik gefeit. Der Neue Mensch war das staatlich berufene Über-Ich, das institutionalisierte schlechte Gewissen. Die kleinen Tricks des Alltags, die das Leben einfacher machen, kannte er nicht. Vor lauter Tugend hatte er verlernt, Karten zu spielen, und auch sonst war er häufig ein Spielverderber. Man kann davon ausgehen, dass der Neue Mensch regelmäßig das Kulturhaus besucht hat und auch gern auf der Bühne stand, um anderen ein Beispiel zu geben. Für „die Antipoden der Kultur – für Trunksucht, Rowdytum, Schmarotzerei, Habgier“ (Arnol'dov 1975: 46) hatte der Neue Mensch kein Verständnis. Im Gegenteil: er hat zeitlebens versucht, sie zu bekämpfen. Merkwürdigerweise wurde der Neue Mensch bereits von manchen verspottet, bevor er Gelegenheit hatte, sich erstmalig zu zeigen und seine Tugenden zu demonstrieren. Die Rede ist hier vom russischen Philosophen Nikolaj Berdjaev, der in einer 1906 veröffentlichten beißenden Kritik an den Grundsätzen des Marxismus und der russischen Sozialdemokratie verkündete: „The ‚new‘ man of future socialist society is the consistent, definitive ‚bourgeois‘, the citizen of this world who has organized the world satisfactorily“ (Berdiaev [1906] 1990: 122). Berdjaev traf diese Aussage aus der Überzeugung, dass die sozialistische Heilslehre letztlich keinen positiven Inhalt habe, und auch aus der Befürchtung, dass Opfer und Grausamkeiten in der Gegenwart in Kauf zu nehmen seien, damit eine unbestimmte künftige Generation gottgleich in Glück und Wohlergehen leben könne: „The theory of progress that Marxism took to its extreme expression, is horrible in its brutality. Future society, future human generations, the perfected and happy state to which progress leads, is a kind of monster drinking the blood of past and present generations, torturing each living person in its own name, in the name of its own abstraction.“ (Berdiaev 1990: 113-114)

Die zivilisatorische Mission des Sozialismus, die sich in der Propagierung des Neuen Menschen ausdrückte, nahm kein Ende, zumindest war ihr (vorzeitiges) Ende nicht abzusehen (vgl. Yurchak 2006). In anderen ethnologischen Studien wurde der Unendlichkeitsaspekt des sowjetischen Modernisierungsprojekts bereits eingehend illustriert (Ssorin-Chaikov 2003). Im Rahmen des teleologischen Gesellschaftsbilds erschien die „Arbeit an sich selbst“ als ein immerwährender Teilaspekt der universellen Entwicklung des Lebens. „Dieser Prozeß [der Erneuerung] geht niemals zu Ende, und auch im Sozialismus findet er keinen Abschluß. In der sozialistischen Gesellschaft gibt es noch viele Menschen mit überholten, althergebrachten Auffassungen, die zu überwinden gar nicht so einfach ist.“ (Arnol'dov 1975: 45; vgl.

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Bröckling 2003: 91) Um nochmals an die eingangs zitierten Worte von David-Fox (1999: 197) zu erinnern: „there was always a more advanced […] level to achieve“. In diesem Kapitel habe ich anhand von vier Skizzen die zivilisatorische Mission und das Gebot der Kultivierung zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte Russlands und in verschiedenen regionalen Situation beleuchtet. Der Anspruch an sich selbst bzw. an die anderen und die Mittel, mit denen dieser Anspruch umgesetzt werden sollte, standen im Vordergrund der Betrachtung. Im nächsten Kapitel, Kapitel 8, wechsle ich die Perspektive und gehe der Frage nach, wie der Anspruch von den Adressaten rezipiert, umgesetzt und teilweise auch umgedeutet wird.

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Kapitel 8 Kultur als Selbstdisziplinierung

P ERFORMATIVE S ELBSTTECHNIKEN Das vorangegangene Kapitel hat die historischen Dimensionen des Projekts der „Arbeit an sich selbst“ (die zivilisatorische Mission, die Vermittlung von kul'turnost', die Schaffung des sogenannten Neuen Menschen) zum Gegenstand gehabt und speziell die normativen Seiten dieses Projekts herausgestellt. Dieses Kapitel wendet sich der Frage zu, wie die Personen, an die der Appell gerichtet ist, mit diesem umgehen. Wie in der Einleitung angekündigt, beschäftige ich mich in diesem Kapitel mit den diversen und oft divergenten Motivationen des „Mitmachens“, der Teilnahme an den öffentlichen Präsentationen und Zeremonien.1 Meinen Beobachtungen zufolge existiert in Russland eine besonders starke Besorgnis in Fragen des korrekten Benehmens, der persönlichen Moral und Erziehung sowie der Frage, nach welchen Prinzipien man sein Leben leben sollte. Diese Besorgnis resultiert m.E. aus dem weit verbreiteten Gefühl, mit einer unzulänglichen oder gar unerträglichen sozialen Umwelt konfrontiert zu sein (Ries 1997). Der Appell oder auch das Bedürfnis, „an sich selbst zu arbeiten“, wird allenthalben und in verschiedenen Variationen geäußert, und das Kulturhaus gehört zu den Orten, die speziell für diese „Arbeit an sich selbst“ vorgesehen sind. Diese auf das Selbst gerichteten Besorgnisse, Bedürfnisse und Appelle lassen sich im Lichte sehr verschiedener Theorien interpretieren. Die Interpretation, die ich in diesem Kapitel verfolgen möchte, basiert auf Foucaults Gedanken über die Selbsttechniken und das Konzept der gouvernementalité (Foucault 1993).2 Speziell beziehe ich mich auf den russischen Historiker Oleg Kharkhordin (1999), der selbst einen foucauldianischen 1

Die ersten drei Abschnitte dieses Kapitels sind leicht überarbeitete Übersetzungen der entsprechenden Abschnitte in Habeck (2011a).

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Zigon (2008: 42-45) erörtert das Verhältnis von Moral und Technologien des Selbst.

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Ansatz verfolgt. Im weiteren Verlauf werde ich mich dann den Befunden des russisch-amerikanischen Ethnologen Alexei Yurchak zuwenden, der das Konzept des Performativen (2006: 18-29) benutzt, um zu zeigen, wie in der spätsowjetischen Gesellschaft eine Verschiebung in der Wahrnehmung von Reden und Ritualen im öffentlichen Raum stattgefunden hat. Meine Absicht besteht darin, die verschiedenen Konzepte des Selbst, die den Arbeiten von Kharkhordin und Yurchak zugrunde liegen, herauszuarbeiten. In seinem 1999 erschienenen Buch The Collective and the Individual in Russia geht es Kharkhordin darum zu zeigen, dass sich die Selbsttechniken im vorrevolutionären Russland und in der Sowjetunion in anderer Weise entwickelt haben als in anderen Gesellschaften Europas (auf die Foucault Bezug nimmt). Ob man der Bewertung der historischen Kontinuitäten, die Kharkhordin hier herausarbeitet, zustimmt oder nicht, sei dahingestellt. In jedem Falle wird man aber seiner Aussage zustimmen können: „[the] self was made an object to care about, to reflect upon, to perfect. Peasants who became workers who became Communists started for the first time in their lives to think and write about themselves, to care about the possession and development of an individual self.“ (Kharkhordin 1999: 4-5)3 Die Herausbildung der sozialistischen Persönlichkeit bedingte ein ständiges Bemühen um SelbstPerfektionierung, da dieses Projekt niemals als „vollendet“ betrachtet werden konnte (vgl. Kharkhordin 1999: 231-264). Mit dem Verlust der sozialistischen Ideologie hat der Appell der Selbst-Perfektionierung m.E. wohl die Richtung geändert, nicht aber die Form. Die sozialistische Persönlichkeit hat sich verwandelt; ihre neue Gestalt ist der verantwortungsvolle, seinem Gewissen verpflichtete Bürger, der sich um sein eigenes Wohl ebenso wie um das seiner Mitbürger bemühen soll. Nach meiner Auffassung ist der Prozess der Kultivierung – also das Begreifen und Verinnerlichen dessen, was Kultur (kul'tura) ist – als eine Selbsttechnik (eine Technologie des Selbst) aufzufassen. Die Aktivitäten, die im Kulturhaus stattfinden, entsprechen einer spezifischen Variante der „Praktiken, zu denen die Kultivierung des Selbst Anlaß gegeben hat“, wie Foucault (1993: 42) bemerkt. Des weiteren führt er aus, dass der Wandel der Praktiken der Kultivierung des Selbst immer auch mit einem Wandel der Bewertung des Wissens über sich selbst einherging (er illustriert dies anhand von schriftlichen Zeugnissen aus der hellenistischen, griechischrömischen und frühchristlichen Epoche). In Analogie dazu lautet mein Argument, dass auch die sozialistische Variante der Kultivierung mit einer distinkten Form des Wissens über sich selbst – und auch einer distinkten Form des Selbst-Bewusstseins und der Selbst-Bewusstwerdung – verbunden war. Die normative Verknüpfung zwischen Kultivierung (Enkulturation) und Selbst-Bewusstwerdung wurde in der sowjetischen Pädagogik recht früh etabliert: es war Anton Makarenko, der in den 3

Hellbeck (2000, 2006) liefert aufschlussreiche Beispiele schriftlicher Selbstreflektion in Gestalt von Tagebüchern sowjetischer Arbeiter in den 1930er Jahren.

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1920er Jahren die Idee formulierte, dass die Kultivierung der Persönlichkeit des Einzelnen (kul'tivirovat' otdel'nuju ličnost') durch das Kollektiv erfolgen könne und solle (zit.n. Kharkhordin 1999: 204-205); das Individuum werde also sich selbst erkennen durch das Kollektiv. Kharkhordin beschreibt diesen Prozess der Offenbarung des Selbst durch das Kollektiv in sehr detaillierter Weise (ebd.: 176, 214, 253254). Durch die Kultivierung des Selbst kann das Individuum etwas erwerben, das im Russischen als Kultiviertheit (kul'turnost') bezeichnet wird. Dieses Konzept – ich habe es in der Einleitung zu diesem Buch bereits kurz thematisiert – wurde vor allem ab Mitte der 1930er Jahre propagiert (Dunham [1976] 1990; Volkov 2000). Vera Dunham führt aus, dass kul'turnost' mehr als nur die Vorstellung zivilisierter Umgangsformen bezeichnet: „it began to mean more important things than clean nails, abstinence from cursing and spitting, a required minimum of good manners. It began to mean the only desirable conduct, the self-image of dignified citizens“ (Dunham 1990: 22; vgl. Boym 1994: 102; Honneth 2003b: 21). Kul'turnost' steht also einerseits für anständiges Benehmen und den legitimen Auftritt der eigenen Person in der Öffentlichkeit. Andererseits steht der Begriff für die Weise, wie Personen sich idealiter wahrnehmen, und auch für ihre Einsicht in die Notwendigkeit, ihr Selbst zu entwickeln und sich zu bessern. „Sich zu bessern“ bedeutet, bestimmte Angewohnheiten und Laster abzulegen. Dazu muss das Individuum sich seiner Vergangenheit bewusst werden und sich von bestimmten Verhaltensformen der Vergangenheit freimachen.4 Es gibt spezifische Situationen und Orte, wo es legitim ist zu zeigen, dass man „an sich selbst arbeitet“, und einer der Orte, wo Kultivierung dieser Art in besonders deutlicher Weise stattfindet, ist das Kulturhaus. Nachdem ich ausgeführt habe, wieso ich den Prozess der Kultivierung im Kulturhaus als eine besondere und besonders performative Selbsttechnik betrachte, wende ich mich nun kurz dem anderen Konzept zu, welches ich von Foucault übernehme: dem Konzept der gouvernementalité.5 Es bezeichnet eine bestimmte Form der politischen Herrschaft, nämlich diejenige, in der die Legitimation weniger auf der richtenden Allmacht eines göttlichen oder weltlichen Herrschers, sondern vielmehr auf der als „rational“ vorausgesetzten Ordnung der Gesellschaft und des menschlichen Benehmens beruht (McNay 2009: 57). Zu den Methoden der indirekten sozialen Kontrolle zählen unter anderem diejenigen, die die Identität und das Verhalten des Individuums durch „practices of the self“ prägen (ebd.). Die Mitglieder der Gesellschaft haben sich die Regeln und Anweisungen demgemäß angeeig4

Ali İğmen (2011: 167-168) spricht mit Bezug auf die sowjetische Kulturarbeit mit der kirgisischen Bevölkerung von einem „disengagement with the past“, vom bewussten Bruch mit traditionellen Gewohnheiten.

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Da mir der in manchen Übersetzungen verwendete Terminus „Kontrollmentalität“ ungeeignet erscheint, bleibe ich beim Original: gouvernementalité.

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net (internalisiert), üben sie an sich selbst aus und befolgen sie in der Annahme, dass sie aus freien Stücken und in ihrem ureigensten Interesse handelten. Eben auf diese Weise wirkt das Prinzip von kul'turnost', welches in den Medien und im öffentlichen Diskurs als ein Anliegen eines jeden Menschen konstruiert wird, wenngleich niemand jemals Vollkommenheit darin erreicht (siehe Kapitel 7). Der Appell der Kultivierung ist also verinnerlicht bzw. soll verinnerlicht sein. Das Kulturhaus wird definiert als der Ort, wo Menschen ihre „kulturellen Bedürfnisse“ ausleben und kreativ umsetzen können, also ihrem inneren Trieb der Kultivierung folgen können. Das Bemühen um eine direkte Regulierung und das konkrete Interesse der staatlichen Behörden an einer möglichst umfassenden Einbeziehung der Bevölkerung in den Kulturbetrieb offenbart sich zwar sehr wohl in den Statistiken und im Berichtswesen, aber eigentlich soll die Kultivierung der eigenen Person ein inneres Bedürfnis der Person selbst sein. Die Legitimation der Kulturarbeit schöpft sich oft aus dem Verweis auf die Verblödung speziell der Jugend, die popkulturelle Degradation, die Abkehr von den Werten, die sich bewährt haben. Bestimmte Formen von Musik, Film und Literatur werden als Schund hingestellt, ihr Konsum als eine Abweichung von der Norm betrachtet. Die Jugendlichen werden hier als Verführte dargestellt. Die Norm selbst, so wird impliziert, ist ein von innen heraus wirkendes Streben nach Vervollkommnung, Disziplinierung und Kreativität, dem die Menschen aus freien Stücken folgen. Im Kontext meiner Beschreibung des Kulturhauses bezeichnet gouvernementalité ganz kurz und bündig die Forschungsfrage, wer und was Menschen dazu bewegt, ins Kulturhaus zu gehen und an den kulturellen Aktivitäten teilzunehmen. Das Einüben bzw. das Sich-Einverleiben (embodiment) kultivierten Benehmens steht in einem größeren Zusammenhang: angeleitet wird es von einem politischen Projekt, das die Gesellschaft als ganze betrifft. Das Kulturhaus gleicht einer Werkstatt, in welcher die Gesellschaft ihren Subjekten den nötigen Schliff verleiht. „We have to create ourselves as a work of art“, so Foucault.6 Diese Aussage entstammt zwar einem anderen Kontext: Foucault benutzte diese Formel im Bemühen zu erläutern, wie sich seine Ansichten vom Existenzialismus à la Sartre unterscheiden. Und dennoch fasst sie die Mission des Kulturhauses ganz treffend zusammen: Der Werktätige übt sich in kreativer Selbstentfaltung, indem er ein Musikinstrument 6

Foucault (zit.n. Rabinow/Dreyfus 2000: 262). Vgl. Fisch (2011: 405) zur Idee der Lebenskunst, worauf ich weiter unten eingehen werde. Zum Zusammenhang von Selbstsorge, Kultur seiner selber, Kunst der Existenz (τέχνη του βίου) s. Foucault ([1984] 2000: 60ff). In diesen Kontext gehören auch die Ausführungen Foucaults über den Begriff der parrhesia (παρρησία), umschrieben als „a whole bundle of important notions and themes: care of self, knowledge of self, art and exercise of oneself, relationship to the other, government by the other and truth-telling, and the obligation to speak the truth on the part of the other“ (Foucault [2008] 2010: 45).

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oder auch eine Rolle in einem Theaterstück spielt. Er entwickelt dadurch Geschmack und einen Sinn für das Schöne, und dieses ästhetische7 Urteilsvermögen kommt ihm auch in anderen Lebenssituationen zupass. Das Konzept der gouvernementalité, welches als eine bestimmte Konfiguration der „Technologien der Beherrschung anderer und den Technologien des Selbst“ (Foucault 1993: 27) definiert wird, wirft auch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Widerstands auf (vgl. Bröckling/Krasmann/Lemke 2011: 18ff.; McNay 2009: 65ff.). Im gegebenen Zusammenhang meint dies die Möglichkeit des Widerstands mancher Personen gegen das Projekt der Kultivierung und/oder der eigenen Teilnahme an der Darbietung von Kultur. Es geht um die Fragen, welche Möglichkeiten sich den Unwilligen bieten, die Institution zu umgehen (selbst wenn die Teilnahme von anderen erwartet wird); wie eine Person die Anwesenheit im Kulturhaus für eigene, „subversive“ Zwecke nutzen kann, die von der offiziellen Agenda des Kulturhauses abweichen bzw. wie eine Person allein oder gemeinsam mit anderen versucht, sich dem Projekt der Kultivierung zu entziehen oder das Interesse nur vorzutäuschen, also zu „dissimulieren“ (Kharkhordin 1997, 1999: 270278). Bevor wir uns solchen Fällen zuwenden, scheint es mir jedoch angebracht, einen alternativen Deutungsansatz vorzustellen – ein Ansatz, der eine andere Antwort bereithält auf die Frage, wie sich Individuen, Gruppen oder auch die Gesellschaft im allgemeinen mit den Aufrufen des sozialistischen Staates zu vorbildlichem Verhalten und Selbstvervollkommnung auseinandergesetzt haben.

R EPRODUKTION

DER

F ORM – M ISSACHTUNG

DES I NHALTS

Für Alexei Yurchak (1999, 2006) ergibt eine solche Gegenüberstellung – Folgsamkeit versus Widerstand – wenig Sinn, da sie altbekannte Dichotomien – die Unterdrücker versus die Unterdrückten, Aufrichtigkeit versus Falschheit – wachruft, die wenig dazu geeignet sind, die Alltagserfahrungen der Menschen in der Sowjetunion während ihrer Spätphase zu beschreiben. Anstelle dessen, so argumentiert er, ist die Abweichung von dem, was offiziell gefordert ist, als die Aneignung eines Freiraums zu interpretieren – ein Freiraum, der durch eine Verschiebung in der Wahrnehmung des offiziellen Anlasses entstanden ist. Yurchak nennt diese Verschiebung performative shift. Unter Verweis auf die Sprechakttheorie von John Langshaw Austin legt Yurchak dar, dass Sprache im Sinne einer Ansprache niemals nur konstative Bedeutung trägt, sondern immer auch performative Funktion hat (2000: 187

Hier und anderswo benutze ich die Begriffe „Ästhetik“ und „ästhetisch“ in ihrer konventionellen Bedeutung: es geht um die menschliche Wahrnehmung des Schönen bzw. die Produktion des Schönen. Auf Foucaults Konzept der „Ästhetisierung“ bzw. der „Ästhetik der Existenz“ komme ich weiter unten zu sprechen.

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26). Bei der Analyse offizieller Diskurse, im gegebenen Fall der Rhetorik der kommunistischen Partei, müssen sowohl die konstativen als auch die performativen Dimensionen der Sprache in Betracht gezogen werden. Yurchak fährt dann fort mit der These, dass seit Mitte der 1950er Jahre die konstative Dimension ihre Bedeutung verlor, so dass die Gültigkeit und Wirkungskraft der Statements in offiziellen Reden und Texten sich nurmehr aus ihrer performativen Dimension ergab. Anders ausgedrückt, die kommunistische Rhetorik wurde hölzern: hohl in ihrem Inhalt, aber dennoch wirksam in ihrer Form und gerade durch ihre Form.8 Der überwiegende Teil der Bevölkerung war darauf eingerichtet, die standardmäßig gedrechselten Formen der hölzernen Sprache, der offiziösen Texte und der vorgegebenen Rituale nachzuahmen. Die meisten Sowjetbürger sahen dies nicht nur als eine lästige Notwendigkeit, sondern eine legitime Technik, die die soziale Interaktion im öffentlichen Raum förderte und bestimmte Räume sozialer Interaktion erst eröffnete, auch wenn diese Räume ideologisch völlig abwegig und gar nicht vorgesehen waren. Mit Yurchaks Worten (2006: 115): „Reproducing the forms of this discourse while unanchoring and ignoring their constative meanings enabled creative production of new meanings and forms of life.“ Als Beispiel dafür schildert Yurchak, wie selbstorganisierte Rockbands ihre Konzerte unter der Ägide des Komsomol9 darbieten konnten; der Komsomol verbuchte diese Konzerte als „breitenkulturelle Aktivitäten“ und erhielt dafür die Zustimmung von den regionalen Funktionären. All dies, so Yurchak, wurde dadurch möglich, dass die Produzenten „nicht-offizieller Kultur“ und die örtlichen Komsomol-Aktivisten sich gegenseitig gut kannten und gemeinsam die Vorwände für diese Veranstaltungen austüftelten (Yurchak 1999: 84). Solche Praktiken der Manipulation „involved not so much countering, resisting, or opposing state power as simply avoiding it and carving out symbolically meaningful spaces and identities away from it“ (ebd.: 80, Hervorh. im Original). Ähnliche Praktiken kamen auch in vielen Kulturhäusern zur Anwendung. In ihrer Analyse der Grenzen des Akzeptablen in den von den sowjetischen Kulturhäusern organisierten Veranstaltungen erörtert Anne White (1990: 69-95), wie die offizielle Mission dieser Einrichtungen auf informelle Weise von der örtlichen 8

Caroline Humphrey (2008) argumentiert, dass Yurchaks Theorie sich nicht auf die sowjetischen Bürokraten und Parteimitglieder anwenden lässt, die diese „hölzerne Sprache“ formulierten, rekombinierten und kreativ umgestalteten: ihre Karriere, ihre mentale Verfassung und auch ihr Selbstwert hingen ab von den Erfolgen oder auch Misserfolgen bei den Versuchen, ihre Formulierungsvorschläge, Textstücke oder auch ganze Reden durch die parteipolitischen Instanzen hindurch bis an die breite Öffentlichkeit zu bringen.

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Komsomol ist das Kurzwort des Gesamtsowjetischen Leninschen Kommunistischen Jugendverbands (Vsesojuznyj Leninskij kommunističeskij sojuz molodeži), also der Jugendorganisation der Sowjetunion.

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Bevölkerung uminterpretiert und appropriiert wurde. Einzelne Personen oder kleine Gruppen bemühten sich, ihre eigenen Ideen ins örtliche Kulturhaus einzubringen, sie mit den Kulturarbeiterinnen zu verhandeln und auch den anderen Besuchern näher zu bringen (Yurchak 2006: 192). Solche Formen der Appropriierung für lokale Zwecke gab es bereits während der 1930er Jahre (İğmen 2011), wobei zu jener Zeit dieser informellen Aneignung recht enge Grenzen gesetzt wurden. An anderer Stelle berichtet Yurchak, dass in der Sowjetunion der 1980er Jahre viele junge Leute durchaus Freude daran hatten, an den Paraden am Tag der Arbeit (1. Mai) und am Tag der Oktoberrevolution (9. November) teilzunehmen. Zu dieser Zeit hatten die Rituale bereits einen langen Prozess der Standardisierung durchlaufen, und die Teilnehmer hatten sich an die Abläufe bereits gewöhnt (Yurchak 2006: 59; vgl. Rolf 2006). Die Teilnehmer zollten den allgegenwärtigen Losungen, Bannern und Plakaten nurmehr geringe oder gar keine Aufmerksamkeit. Sie begeisterten sich offenbar weniger für die Partei denn für die Party. „Participating in these events reproduced the collectivity of belonging that was enabled by these slogans and portraits but no longer bound by their literal sense.“ (Yurchak 2006: 121) Die offiziellen Feiertage boten auch den Anlass für private Feiern, wo sich Familie, Freunde, Kollegen usw. trafen, um gemeinsam zu essen, zu trinken und zu singen (ebd.: 122). Diese Interpretation der öffentlichen Events und des Verhaltens der Teilnehmer unterscheidet sich grundlegend von der Sicht der Dinge, die Kharkhordin beschreibt: „Always on stage, always in the limelight, Soviet citizens tended to irreproachably perform the public role ascribed by the general plot, with some adopting it as a real identity and living it out as truthfully as they could.“ (Kharkhordin 1999: 274) Der Sowjetbürger, der ernsthaft versuchte, die Rhetorik der Partei für bare Münze zu nehmen, litt offensichtlich unter Realitätsverlust – zumindest aus der Sicht jener „einfachen Leute“, die Yurchak porträtiert. Denn dieser Bürger versteifte sich auf die konstative Dimension der offiziellen Rhetorik, auf die Wahrheit in den Worten, während allen Menschen um ihn herum klar war, dass die Suche nach Lüge und Wahrheit gar nicht relevant war: was zählte, war nur die Darbietung dieser Rhetorik, also ihre performative Dimension. Nach Yurchak hatten also die meisten Menschen akzeptiert, dass sie sich an die Form halten mussten, um für sich Orte und Gelegenheiten zu schaffen, wo sie eigentlich sozial interagieren konnten. Der Vergleich der beiden Interpretationen lässt sich noch etwas weiter treiben: der Sowjetbürger, wie er von Kharkhordin charakterisiert wird, erfährt seine Existenz als eine potenziell bedrohte und mag unter Umständen zu paranoiden oder schizophrenen Gedanken neigen, während der Sowjetbürger, den Yurchak vor Augen hat, sich von der ganzen ideologischen Berieselung fröhlich unbeeindruckt zeigt. Die beiden Autoren beziehen sich offenbar auf verschiedene Gefühlszustände, Befindlichkeiten, Existenzen und Handlungsmöglichkeiten. Die Differenz zwischen „Einschüchterung“ und „gesunder Ignoranz“ und ihre politischen Begleit-

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erscheinungen sollen hier nicht Gegenstand vertiefter Analysen werden, doch lässt sich festhalten, dass hier sehr unterschiedliche Konzeptionen des Selbst zutage treten.10 Kharkhordins Person ist besorgt, Yurchaks Person dagegen kreativ, wenn es um die Kultivierung des Selbst geht. Erstere kann nicht genug „an sich arbeiten“, letztere tut dies nur pro forma. Beide Interpretationen des Selbst, so denke ich, treffen zu – je nach Situation, in der sich die Person befindet, und ihrer individuellen Wahrnehmung. (Es handelt sich hier also um unterschiedliche Momente, nicht um unterschiedliche Charaktere.) Wiederum mit Verweis auf seine Erkundungen der Komsomol-Praktiken der späten Sowjetzeit geht Yurchak (2006: 100) auch auf das Verfassen von Tätigkeitsberichten ein, zum Beispiel über politische Informationsveranstaltungen und Vortragsreihen, die nur auf dem Papier stattfanden.11 Diese „frisierten“ Tätigkeitsberichte ermöglichten es den örtlichen Komsomol-Gruppen, zumindest formal die zumeist unrealistischen Vorgaben zu erfüllen, die ihnen von den höheren Organisationsebenen zugeteilt worden waren. Sowohl die Verfasser als auch die Empfänger dieser Berichte waren sich bewusst, dass die Berichte erstellt, übermittelt und archiviert werden mussten – der Form halber, wobei der Inhalt selten Relevanz hatte. Während meiner Durchsicht der Pläne, Berichte und Tabellen des Kulturhauses von Kolyvan' hatte ich häufig den Eindruck, dass Yurchaks Bebachtung der „performativen Verschiebung“ hier sehr genau zutrifft. Was im Kulturhaus eigentlich geschieht und geleistet wird, spiegelt sich in den Berichten kaum wider; und was die Berichte erzählen, spiegelt sich in der eigentlichen Tätigkeit kaum wider.

D ARBIETUNG UND D ISZIPLINIERUNG In der Tat lässt sich das Phänomen beobachten, dass manche Personen, die an den Aufführungen im Kulturhaus mitsingen und mittanzen, auffallend ausdruckslos sind oder auch ihren Part mit sichtlichem Widerwillen präsentieren. Einige meiner Kollegen – speziell Sántha und Safonova (2011) – nahmen dieses Desinteresse bzw. Unbehagen an ihren Forschungsorten in noch viel stärkerem Maße wahr als ich selbst in Kolyvan'. Die Interpretation dieser Beobachtung führte innerhalb der Forschungsgruppe zu teils recht konträren Diskussionen. Sántha und Safonova benutzen den Begriff pokazucha, um diese und andere „Ungereimtheiten“ in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen. Pokazucha ist eine Ableitung vom Wort pokaz (Schau, Vorführung) und bedeutet soviel wie „etwas, was nur zum Schein getan wird“. Sántha und Safonova diagnostizieren ein nahezu schizophrenes Verhältnis 10 Vgl. hierzu auch Yurchak (2006: 18, Anm. 27). 11 Grant (2011) berichtet in ganz ähnlicher Weise über politische Vorträge und Schulungen, die im Haus des wissenschaftlichen Atheismus in Moskau (nicht) stattfanden.

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zwischen authentischem und gestelltem Gebaren sowohl der Kulturarbeiterinnen als auch der Besucher. Im folgenden möchte ich das beobachtete Desinteresse bzw. Unbehagen und die Gründe, die dahinter stehen mögen, im Lichte der verschiedenen Konzeptionen des Selbst untersuchen, wie sie Foucault, Kharkhordin und Yurchak in ihren Schriften anwenden. Einer der Gründe, den Sántha und Safonova (2011) ausmachen, ist ein gespieltes Engagement auf Seiten der örtlichen Bewohner ebenso wie auf Seiten des Staates: die Leute tun so, als ob sie die öffentlichen Einrichtungen aktiv und kontinuierlich nutzen, und die staatlichen Stellen tun so, als ob sie die öffentlichen Einrichtungen und die Infrastruktur aufrechterhalten und finanzieren.12 Ich selbst sehe hier eine Art Kontrakt, ganz ähnlich wie sich aus Kharkhordins Ausführungen (1999: 277) zu „Dissimulation“ herauslesen lässt: demnach war in der Sowjetunion der Nachkriegszeit die schweigende Mehrheit zu einer kollektiven Komplizenschaft des So-Tun-Als-Ob übergegangen. Kharkhordin nennt das beiderseitige So-Tun-Als-Ob sowohl der politischen Führung als auch der Bevölkerung eine „doppelte Dissimulation“ (mündl. Mitt., 28. Mai 2009). „Die tun so, als ob sie uns bezahlen, und wir tun so, als ob wir arbeiten“ – diese sarkastische Formel aus sozialistischen Tagen, die auch von Yurchak (1999: 80) zitiert wird, drückt dieses Verhältnis sehr bündig aus. Gehen wir von Kharkhordins Bewertung aus, so liegt es nahe, dass eine solche Haltung in einer gewissen Art der Persönlichkeitsspaltung resultieren kann. Sántha und Safonova teilen diese Ansicht offenbar und sprechen von einem schizophrenen Verhältnis. Gehen wir aber von Yurchaks Position aus, so hat dieses gegenseitige Sich-Etwas-Vorspielen keine prinzipielle, sondern nur eine praktische Bedeutung. So auch für Andrej, einen ehemaligen Komsomol-Sekretär, dessen Einschätzung von Yurchak (2006: 93-96) wiedergegeben wird. Die Spaltung führt nicht zu einer Widersprüchlichkeit des Selbst, sondern lediglich zu einer Variierung der Verhaltensmaßstäbe: „[P]erforming the pro forma enabled Andrei to engage with other types of work and meanings. […] Andrei also learned how to minimize the pro forma so that it enabled meaningful work by not taking too much time or energy. […] For him, these two types of sentiments were not in opposition but rather mutually constitutive. And he was clearly not the only one who felt this way.“ (Yurchak 2006: 93-95)

Darüber hinaus erhielt Andrej offizielle Auszeichnungen für den Teil seiner Tätigkeit, der sowohl für ihn selbst als auch für seine Umgebung von Bedeutung ist. „Despite the formulaic nature of these awards, Andrei was proud to receive them

12 Man könnte dies auch als eine Komplizenschaft der Baumeister potemkinscher Dörfer mit den Bewohnern selbiger beschreiben.

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and kept them on the wall in his office and later at home.“ (Yurchak 2006: 94)13 Kharkhordin hat recht, wenn er schreibt, dass das Individuum sich durch das Kollektiv offenbart; zugleich erfährt das Individuum durch das Kollektiv auch Anerkennung, Solidarität und das Gefühl der Zugehörigkeit. Die Jugendlichen, die anlässlich des Besuches der Evaluierungskommission aus der Bezirkshauptstadt im Kulturhaus ihrer Kleinstadt auftreten, mögen mit Freude, Indifferenz oder auch Widerwillen auf der Bühne agieren – in jedem Falle dürften sie ihren Auftrag als ein merkwürdiges Ritual und eine bestimmte Form der körperlichen Selbstdisziplinierung empfinden. Es handelt sich um eine publicatio sui (Foucault 1993: 54-56), eine öffentliche Bejahung der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv.14 Durch die kollektive Darbietung der Kultivierung (die hier als Selbsttechnik verstanden wird) demonstriert die Person in aller Öffentlichkeit, dass sie fähig ist, sich nach allen Regeln der Kunst zu benehmen. Hierin sehe ich nicht so sehr das Bemühen, einen potemkinschen Kulturbetrieb zur Schau zu stellen, sondern vielmehr einen bestimmten Modus der Selbstpräsentation, der Vorführung (pokaz) des Selbst auf der Bühne. In der vergleichenden Studie verschiedener Kulturhäuser zeigte sich auch, dass die performative Beziehung zwischen Selbst und Kollektiv sich während der letzten zwei Jahrzehnte verändert hat: der Akzent hat sich in Richtung Individuum verlagert – zumindest in Kulturhäusern, die etwas „zu bieten“ haben (so in Anadyr', Vaté/Diatchkova 2011). Makarenkos Konzept der Kultivierung des Individuums durch das Kollektiv (s.o.) hat also nach wie vor Einfluss auf die Arbeitsprinzipien der Kulturhäuser, doch bezeugen die Aussagen vieler Besucher, die im Rahmen der vergleichenden Studie interviewt wurden, dass der Anlass zur Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung nun aus der eigenen, „inneren“ Motivation entspringt. Tanz, Gesang, Theaterspiel sind einerseits sehr ausdrückliche Formen der Selbstdisziplinierung, andererseits wecken sie in aller Regel sehr positive, freudvolle Gefühle. Die Handlungen, Verse, Melodien und Schrittfolgen sind zwar vorgegeben, doch bezieht die Person, die das Stück ausführt, Genugtuung und einen gewissen Stolz daraus, das Stück „richtig hinzukriegen“ (ganz abgesehen von den taktilen und akustischen Stimuli, die sich mit Singen und Tanzen verbinden). Selbst wenn die darbietende Person nur als „Interpretin“ (oder, wie es im Russischen heißt, „Ausführerin“, ispolnitel') erscheint, wenn sie sich an die Regeln der Kunst halten muss und das vorgegebene Format nicht einfach ignorieren kann, so hat sie doch die Möglichkeit, die Darbietung durch ihre Kreativität und Virtuosität in eine bestimmte Richtung zu lenken, ihr eine besondere Note zu verleihen, eine subtile Bedeutung zu geben, und somit zu zeigen, dass der Wert ihrer Darbietung nicht al13 Auf solche Mechanismen offizieller Respektbekundung bin ich in Kapitel 1 eingegangen. 14 Vgl. auch Kharkhordins Festsellung, dass in der Sowjetunion die Praktiken der Gruppenbildung mit den Praktiken der Selbstentwicklung zusammengingen (1999: 7).

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lein in der technischen Beherrschung liegt. Foucaults Ideen über Selbsttechniken mag bei den Leserinnen und Lesern Gedanken an Zwang und Autoaggression wachrufen (vgl. Willems 1997: 98-99). Doch die Praktiken der Selbstdisziplinierung, derer wir im Kulturhaus gewahr werden, verweisen auch auf die fröhliche, euphorische Seite der Selbsttechniken. Tamara Kohn (2008: 100) beschreibt in ihrer Studie über Aikido, wie sich die sportliche Disziplinierung des Körpers mit „Choice, Power, Desire, Agency“ verbindet. Die „Arbeit an sich selbst“ kann sich im Kulturhaus mit durchaus angenehmen Erlebnissen verbinden (vgl. Savova 2011).

Abbildung 23: Eine Vorführung der KarateTrainingsgruppe des Pionierhauses von Kolyvan'. Die jährlichen Leistungsschauen des Pionierhauses finden im Saal des Kulturhauses statt. Foto: JOH, 1. Mai 2006

Bruce Grant schlägt ebenfalls vor, das Konzept von pokazucha mit dem von pokaz zu komplementieren, wenn auch aus einem anderen Grund.15 Das von Grant besuchte Kulturhaus von Rybnoe auf der Insel Sachalin16 demonstriert trotz seiner bescheidenen Dimensionen und gelegentlicher Fälle von pokazucha, dass es tatsächlich etwas gab, das als sowjetische Kultur bezeichnet werden darf – eine sehr kontinuierliche, fassbare, gegenständliche Form von Kultur. „‚Here is our culture, come and get it‘“, so vermeint er aus den Programmen des Kulturhauses herauszuhören (Grant 2011: 265). Die Gegenständlichkeit dieser Kultur beruht darauf, dass ihr ein eigenes Gebäude zugewiesen ist. Ihre Fassbarkeit beruht darauf, dass sie eingeübt, dargeboten, vom Körper erfahren werden kann. Ihre Kontinuität beruht auf der impliziten Annahme, dass das Projekt der Kultivierung niemals wirklich zu einem En15 Er tut dies in seinem Nachwort zu dem Sammelband, in dem sich auch der Beitrag von Sántha und Safonova und die Beiträge der anderen am vergleichenden Projekt beteiligten Kolleginnen und Kollegen befinden (Grant 2011). 16 Ausführlich berichtet Grant über Rybnoe auf der Insel Sachalin in seiner Monographie (1995).

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de kommt (vgl. Ssorin-Chaikov 2003: 134-139). Gerade aus diesem Grunde sollte kul'tura immer wieder produziert, vermittelt und eingeübt werden.

G ELEHRIGE K ÖRPER

WÄHREND IHRER

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Der Neue Mensch, die Herausbildung der sozialistischen Persönlichkeit, der an das Individuum gerichtete Anspruch der Selbstvervollkommnung und die „Arbeit an sich selbst“ sind eng miteinander verflochtene Konzepte, die in der sowjetischen Kulturarbeit eine gewaltige normative Bedeutung trugen und teilweise (unter etwas anderen Vorzeichen) auch heute noch in der Kulturarbeit und Kulturpolitik verankert sind. In diesem letzten Abschnitt des Kapitels interpretiere ich die „Arbeit an sich selbst“ in noch etwas konkreterer Form als Manipulierung des Körpers. „Arbeit an sich selbst“ lautet in der russischen Sprache rabota nad soboj, wörtlich bedeutet dies Arbeit über sich selbst, nicht an sich selbst. Mit scheint der Hinweis auf diese Präposition wichtig, denn es schwingt in der Formulierung eine spezifische Deutung mit. Sie erscheint mir etwas strenger, distanzierter als ihr deutsches Pendant. Rabota nad soboj vermittelt den Eindruck, dass das Ich – Ego – auf dem Operationstisch liegt und das Über-Ich an ihm herumlaboriert. Die Operation, der sich das Ego unterzieht, ist ein Eingriff im Namen der Kultivierung. Auf dem Weg zur kultivierten Person muss sich das Ego einer Vielzahl solcher Eingriffe unterziehen. Die Manipulation des Körpers hat Michel Foucault ([1975] 1994) unter der Überschrift „Die gelehrigen Körper“ am Beispiel der Disziplinierungstechniken im Frankreich des 18. Jahrhunderts dargestellt. Foucault zufolge war zu jener Zeit nicht das Phänomen der Manipulation des Körpers an sich neuartig, sondern die bis in die kleinsten und unscheinbarsten Bewegungsabläufe und Gesten hineinreichende Standardisierung sowie die genauere Kenntnis des menschlichen Organismus. „Die Aufmerksamkeit galt dem Körper, den man manipuliert, formiert und dressiert, der gehorcht, antwortet, gewandt wird und dessen Kräfte sich mehren. Das große Buch vom Menschen als Maschine wurde gleichzeitig auf zwei Registern geschrieben: auf dem anatomischmetaphysischen Register, dessen erste Seiten von Descartes stammen und das von den Medizinern und Philosophen fortgeschrieben wurde; und auf dem technisch-politischen Register, das sich aus einer Masse von Militär-, Schul- und Spitalreglements sowie aus empirischen und rationalen Prozeduren zur Kontrolle oder Korrektur der Körpertätigkeiten angehäuft hat. Die beiden Register sind wohlunterschieden, da es hier um Unterwerfung und Nutzbarmachung, dort um Funktionen und Erklärung ging: ausnutzbarer Körper und durchschaubarer Körper. Gleichwohl gab es Überschneidungen.“ (Foucault [1975] 1994: 174)

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Den Enthusiasmus, mit dem in der Sowjetunion der 1920er Jahre die Idee vom „Menschen als Maschine“ und von der rationalen Nutzung der Zeit propagiert wurde, belegt eindrucksvoll Richard Stites (1989). Die Kultivierung des Neuen Menschen in der Zeit des Sozialismus sowjetischer Spielart, so meine Interpretation, bediente sich beider Register gleichzeitig: die Durchsetzung neuer Hygienevorschriften sowie die Propagierung einer neuen Weltanschauung und Selbstbetrachtung lassen sich nicht trennen von der Rationalisierung von Produktionsvorgängen, der Militarisierung der Arbeit und der Gesellschaft überhaupt und der Gründung von Pionierlagern. Es geht hier aber um einen Prozess, der noch weiter in das Alltagsleben der Menschen, in die Existenz der Subjekte, hineinreicht. „[D]ie Kontrolle über die kleinsten Parzellen des Lebens und des Körpers […] im Rahmen der Schule, der Kaserne, des Spitals oder der Werkstätte“ (Foucault [1975] 1994: 180) wurde um einen weiteren Rahmen ergänzt: nämlich um die Kontrolle der Freizeit. Denn genau dies war die Intention der wissenschaftlichen Bemühungen um die Absorption der Freizeit (s.u.), und genau dies ist die Intention der zahlreichen Mahnungen, Freizeit zu einem konstruktiven Zweck zu nutzen.17 Auf den ersten Blick ist Freizeit die Zeit, die Menschen zu ihrer eigenen Verfügung haben, in der sie tun und lassen können, was sie wollen.18 Tatsächlich aber unterliegt die Bestimmung dessen, was zu tun und was zu lassen ist, was als Beschäftigung lohnend und was abwegig ist, den Konventionen der Familie, der Mitmenschen, der sozialen Institutionen ebenso wie dem Einfluss politischer und wirtschaftlicher Organisationen. Wie Menschen ihre Freizeit gestalten (sollen), ist Gegenstand öffentlicher Debatten, nicht nur im Russland der Gegenwart.19 Doch weist 17 Die Kontrolle über den Bereich der Freizeit wird von Foucault implizit angedeutet ([1975] 1994: 178), aber in dem Werk Überwachen und Strafen nicht angesprochen. Der Aspekt der „Steigerung der Herrschaft eines jeden einzelnen über seinen Körper“ (ebd.: 176) – das, was Foucault später unter dem Begriff der „Technologien des Selbst“ ausformuliert – ist im Ansatz schon vorhanden, wird aber von dem Aspekt der Disziplinierung des Körpers im Rahmen einer „Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten“ (ebd.) überschattet. Zu Foucaults Interpretation der (Selbst-)Formung des Subjekts vgl. Butler (2003: 60); Honneth (2003b); Veyne (2003: 41) und weitere Beiträge in demselben Sammelband. Zum Begriff der „Arbeit an sich selbst“ siehe auch Bröckling (2003) und Rieger (2002). 18 Dieser und die folgenden beiden Absätze sind eine überarbeitete Übersetzung der ersten Hälfte des Abschnitts „Leisure to What Purpose?“ in Habeck (2011a). 19 Nordamerikanische Parallelen in der Diskussion über schrumpfende Arbeitszeit und wachsende Freizeit manifestieren sich in Stebbins’ Buch über Serious Leisure (1992: 1-3, 125-127) und der von ihm zitierten Literatur. Stebbins sieht in der ernsthaften Freizeitgestaltung die Möglichkeit „the remedy to help solve the social problem of meaningless or empty leisure“ (ebd.: 126). Zu serious leisure zählen musikalische und andere Formen

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diese Debatte in Russland einige sozial- und wissenschaftsgeschichtliche Besonderheiten auf. Sie steht in der Kontinuität der Problematisierung von Freizeit in der Sowjetunion. Gerlinde Petzoldt (1988: 5-61) und Anne White (1990: 21-23) dokumentieren, wie sowjetische Soziologen sich mit der Frage befassten, wie und in welchem Maße sich die Freizeit der Sowjetbürger mit sinnvollen Aktivitäten „absorbieren“ lassen könne. Die optimierte Nutzung der Produktivkräfte verhieß ein größeres Maß an arbeitsfreier Zeit. Je mehr Freizeit, umso nötiger ist „die Schaffung von Möglichkeiten, sie rationell zu nutzen“, so Georgij Lukič Smirnov in seinem damals autoritativen Werk über die Herausbildung der sozialistischen Persönlichkeit ([1973] 1975: 367). Smirnov verwies im weiteren darauf, dass sich die Diskrepanz zwischen Freizeit und dem Charakter der (am Kollektiv orientierten) individuellen Bedürfnisse verschärft, „wenn der Organisierung kulturvoller Muße, der Einbeziehung der Menschen in ihrer arbeitsfreien Zeit in nützliche Beschäftigungen nicht die genügende Aufmerksamkeit geschenkt wird, wenn man zuläßt, daß die heranwachsenden Jungen und Mädchen ihre Zeit in Feierrunden, an den Hausecken und auf den Höfen, beim Kartenspiel usw. ‚totschlagen‘.“ (Ebd.: 395)20 Unter Politikern, Beamten und auch in der russländischen Öffentlichkeit insgesamt herrscht auch heutzutage die Meinung, dass Freizeit in einer konstruktiven Weise verbracht werden sollte. Wenngleich dieses Ideal in der sowjetischen Periode besonders rigide vertreten wurde, so ist es doch kein alleiniges Charakteristikum sozialistischer oder postsozialistischer Gesellschaften (Stebbins 1992). Anstelle „herumzulungern“ oder sich „herumzutreiben“ sollten Menschen versuchen, sich und ihre Umwelt zu vervollkommnen, indem sie etwas lesen, gute Musik hören, Sport treiben, im Garten arbeiten, an einem subbotnik (einem freiwilligen Arbeitseinsatz) teilnehmen, älteren Mitbürgern helfen u.dgl. Gerade junge Menschen sollten sich mit etwas Nützlichem befassen, damit sie nicht auf die schiefe Bahn geraten. Ich habe im Verlauf der Darstellung eine Reihe von Beispielen dafür geliefert, wie sich dieses Ideal in Kolyvan', Novosibirsk und andernorts in der öffentlichen Meinung manifestiert. Kulturarbeit kann gemäß dieser Auffassung helfen, dem

der künstlerischen Betätigung, diverse Formen des Forschens, Sammelns und Dokumentierens (Archäologie, Heimatgeschichte, Ornithologie), die die Begegnung mit anderen einschließen, ebenso wie freiwilliges soziales Engagement. Die Spannbreite der serious leisure, die Stebbins im Sinn hat, entspricht weitgehend dem Konzept der samodejatel'nost', und beide beziehen sich darauf, dass die Betätigung von Laien bzw. „amateurs“ ausgeübt wird, nicht von Professionellen. 20 Humphrey (2008) illustriert anhand von Smirnovs Biographie die Bedingungen, unter denen die Produktion sowjetischer politischer Schriften und Reden stattfand, und verweist darauf, dass die Parteirhetoriker und Bürokraten das Verfassen dieser Dokumente mit großem Ernst und auch gelegentlichem persönlichen Risiko betrieben (s.o., Anm. 8).

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Drogenkonsum und der Delinquenz unter Jugendlichen vorzubeugen. Freizeit sollte auf die Förderung des Gemeinwohls ausgerichtet sein. Es gibt Arten des Zeitvertreibs, die den Beigeschmack des Ordinären haben, zumal wenn Alkohol im Spiel ist. Umso verführerischer wirken sie in vielen Alltagssituationen, denn sie versprechen Zerstreuung, ungezwungenes Benehmen und körperliche Freuden. Das Befolgen der Normen der Kultivierung gehört ebenso zum Lebensalltag wie das Ignorieren oder auch das bewusste Verletzen dieser Normen. Die Mission des Kulturhauses ist eindeutig – es propagiert das Befolgen der Normen (wenngleich im informellen Miteinander auch transgressive Handlungen vorkommen). Die Kulturarbeiterinnen und Kulturarbeiter sollten „den Menschen die Welt des Schönen eröffnen und sie zu moralischen Handlungen“ anleiten, wie wir den in Kapitel 2 ausführlicher zitierten Worten von Ljudmila Kosinceva (2005: 4) entnehmen können. Das Kulturhaus partizipiert an der Instruktion der gelehrigen Körper in zweierlei Weise: zum einen durch die Vermittlung von Anstand (Distanz zum Gegenüber) und anderen kultivierten Benehmensformen. Hierbei handelt es sich um für den Alltag bestimmte Habitualisierungen. Darüber hinaus vermittelt das Kulturhaus körperliche Fertigkeiten, die hinsichtlich ihrer performativen Ausstrahlung, ihrer Virtuosität, ihrer Rhythmik und Körperbeherrschung ihre Entsprechungen nur in der Tanzschule, im Sport- oder Musikunterricht finden. Die erfolgreiche Darbietung auf der Bühne des Kulturhauses besteht in der Präsentation der Körperbeherrschung, in der (virtuosen) Erfüllung der vorgegebenen Form und in der zeitweiligen Verkörperung eines harmoniebetonten gesellschaftlichen Ideals: „Seht her, alles unter Kontrolle“.

ÄSTHETISIERUNG DER E XISTENZ : T RANSZENDENZ UND T ALENTESUCHE In diesem Abschnitt möchte ich Tamara Kohns Aussage, wonach Praktiken der Selbstdisziplinierung als „Choice, Power, Desire, Agency“ (2008: 100) aufgefasst werden können, weiterverfolgen. Ich verknüpfe diese Form der Selbstdisziplinierung mit dem Begriff der „Ästhetisierung der Existenz“, der in Foucaults späterem Werk eine gewisse Bedeutung einnimmt – worin diese Bedeutung genau besteht, ist von nachfolgenden Kommentatorinnen und Kommentatoren allerdings unterschiedlich interpretiert worden. Klar ist zumindest, was Foucaults Begriff der Ästhetisierung nicht bedeutet: die Ausbildung eines ästhetischen Urteilsvermögens. Eines der Ziele der Kulturarbeit besteht – offiziellen und auch landläufigen Beschreibungen zufolge – darin, dem Individuum die Fähigkeit des Urteilens über den ästhetischen Wert literarischer, musikalischer und anderer künstlerischer Produktionen zu ver-

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mitteln. Diese Schulung des künstlerischen Geschmacks ist also nicht gemeint. Ästhetisierung bezieht sich im gegebenen Kontext nicht auf die Überprüfung der Werke und Darbietungen anderer, sondern auf die Überprüfung und mögliche Veränderung der eigenen Existenz. Bevor ich näher auf Kohns o.g. Idee eingehe, ist also zunächst eine Bestimmung der Termini „Ästhetisierung“ und „Ästhetik der Existenz“ angebracht. Dabei berufe ich mich auf die von Michael Fisch 2011 publizierte Foucault-Biographie sowie auf die Beiträge von Ulrich Bröckling, Axel Honneth, Judith Butler und Paul Veyne zur Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, die von Honneth und Saar (2003) herausgegeben wurden. Übereinstimmung besteht in dem Punkt, dass Foucault den Begriff der Ästhetisierung – ebenso wie das Konzept der Technologien des Selbst – in seinem Spätwerk entwickelt, um die scheinbare Ausweglosigkeit der von ihm in früheren Schriften herausgearbeiteten „Machtanalytik“ zu durchbrechen, so Bröckling (2003: 77).21 Die im vorangegangenen Abschnitt dargelegten Ideen vom „Menschen als Maschine“ und der perfektionierten staatlichen Kontrolle des menschlichen Körpers sind jener früheren Phase im Denken Foucaults zuzuordnen. Fisch (2011: 380, 385) zeichnet die Themenverschiebung im Werk Foucaults – weg von der Analytik der Macht, hin zur Analytik des Subjekts – in detaillierter Weise nach. Ästhetisierung, so Paul Veyne (2003: 44-45), sei die andere Seite der Subjektivierung; beide Prozesse seien miteinander verschränkt. Letztere bezeichne eine „Form von Sozialisierung“, erstere dagegen „ein Produkt der Freiheit“. Bei Ästhetisierungen „handelt es sich um eine individuelle Wahl und nicht um Lebensformen, die vom Dispositiv oder von den Objektivierungen aufgezwungen würden; oder zumindest werden diese Faktoren durch die individuelle Wahlentscheidung ‚ergänzt‘; es handelt sich um Schöpfungen, die sich nicht von selbst aufdrängen.“ (Veyne 2003: 44) Als Beispiele dienen Veyne das Mönchtum, der Puritanismus, aber auch ein militantes politisches Ethos. Ich würde Veynes Interpretation der Ästhetisierung mit dem Begriff der (selbstgewählten) Stilisierung der eigenen Existenz innerhalb einer sozial vermittelten Rolle umschreiben.22 Axel Honneth begreift das Konzept der Ästhetik der Existenz folgendermaßen: „Die Pointe einer solchen ‚Ästhetik der Existenz‘ bestünde dann darin, daß sie oberhalb jener Ebene, auf der von der Handlungsfreiheit durch Übernahme sozialer Regeln die Rede ist, noch einmal auf zweiter Stufe eine Form der menschlichen Freiheit in den Blick nimmt, die nicht in regelkonformer Handlungsfreiheit, sondern in dem souveränen Umgang mit derartigen Regeln besteht.“ (Honneth 2003b: 25) 21 Foucaults „spätes Interesse für die Hermeneutiken des Selbst und die Praktiken der Selbstsorge erscheint dann folgerichtig als […] Rückkehr zur Subjektphilosophie im Zeichen einer ‚Ästhetik der Existenz‘“ (Bröckling 2003: 77; vgl. Venn/Terranova 2009). 22 Zum Begriff der Arbeit an sich als Selbststilisierung vgl. auch Fisch (2011: 431).

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Honneth betont also die Freiheit des Handelns jenseits dessen, was durch soziale Regeln legitimiert ist – jenseits der Konformität. In einem ähnlichen Kontext erwähnt auch Judith Butler (2003: 66-67) die Chance, gerade in der Unterwerfung des Körpers unter die sozialen Normen und zugleich jenseits dieser Unterwerfung „eine andere Art zu sein zu entdecken“.23 Gerade in der Bewusstwerdung der normativen Bedingtheit der eigenen Existenz liegt demnach offenbar die Möglichkeit, sich über sie hinwegzusetzen. Die Bewusstwerdung der Grenzen erlaubt es, sie auszutesten, die gewohnten Disziplinierungen hinter sich zu lassen, um sich möglicherweise in selbstgewählten Disziplinierungen neu zu erfinden und zu beweisen.24 Michael Fisch wiederum verweist auf den Aspekt der „Lebenskunst“. Die Formulierung „einer Ästhetik der Existenz bedeutet für Foucault, das Leben als ein zu formendes Kunstwerk zu betrachten, welches den Körper und den Geist gleichberechtigt mit einbezieht. Ästhetik der Existenz meint den Willen zur selbstbestimmten, selbstbewussten und souveränen Selbstgestaltung“ (Fisch 2011: 405). Um auf Tamara Kohns Ethnographien der Selbstdisziplinierung zurückzukommen: ich bin überzeugt, dass sie den Schlüssel dazu liefern, den Begriff der Ästhetisierung im Kontext meiner eigenen Beobachtungen fruchtbar zu machen. Die Diszipeln fernöstlicher Kampftechniken wie Aikido (Kohn 2007, 2008) praktizieren eine Form des Mönchtums, sie unterwerfen sich gemeinsam einem komplexen Regelwerk, lernen allmählich, dieses Regelwerk zu beherrschen und schließlich selbst an andere Diszipeln weiterzugeben. Dadurch, dass sie in einer zugewiesenen Rolle ihre eigenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten entwickeln, betreiben sie nicht nur eine Stilisierung, sondern eröffnen sich auch ein neuartiges Empfinden ihrer (körperlichen) Grenzen, ein Sich-Beweisen, eine neue Erfahrung ihrer Existenz, „eine andere Art zu sein“. Diese Ästhetisierung durch Selbstdisziplinierung findet sich nicht allein in der Einübung fernöstlicher Kampftechniken und des zugehörigen Ethos. Genauso trifft es auf andere körperliche und geistige Fertigkeiten zu: vor allem auf Gesang und Tanz. Die oben beschriebenen (performativen) Selbsttechniken verleihen dem Individuum wohl die Möglichkeit der Ästhetisierung, aber nicht in jedem Falle werden sie in dieser Absicht ausgeführt. Das Mitmachen, die publicatio sui als Teil des 23 „Der Körper wird […] eine Leidenschaft für mein eigenes Sein, die durchlaufen muß, was das Andere ist, die Bedingung meiner Reflexivität, in der ich mich den Normen unterordne, aber die mir in der Unterordnung vielleicht die Chance lassen, eine andere Art zu sein zu entdecken.“ Butler (2003: 66-67) 24 Lois McNay (2009) schreibt über Foucaults Verständnis von „self as ethical project“ – es bestehe darin, die eigenen Grenzen auszutesten, die Habitualisierungen und Disziplinierungen über Bord zu werfen, sich immer wieder neu entdecken und erfinden. Dieses Austesten der Grenzen ist m.E. gleichbedeutend mit (zumindest) zeitweiligen Akten der Transgression, wie ich sie in Kapitel 4 beschrieben habe.

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Kollektivs bzw. der Kommune, hat nicht automatisch zur Folge, dass das Individuum beginnt, einer Stilisierung nachzugehen und eine bestimmte Rolle als Teil seiner Existenz anzunehmen. Erst dadurch, dass das Individuum anfängt, sich mit der Rolle der Tänzerin bzw. des Sängers zu identifizieren und die eigenen Fertigkeiten in der Absicht der Erfüllung dieser Rolle zu schulen, lässt sich sinnvollerweise von einer Ästhetisierung sprechen. Denn erst dadurch wird aus der zeitweiligen und „aufgetragenen“ Erfahrung des Mitspielens eine dauerhafte und selbstgewählte Erfahrung des Spielens und der spielerischen Gestaltung. Dadurch, dass das Individuum die Konventionen (der Kunst) meistert, verfügt es über die Möglichkeit, mit ihnen zu spielen, also die eigene Virtuosität unter Beweis zu stellen. Die Virtuosität selbst entsteht aus der Ästhetisierung, aus der Vervollkommnung bestimmter persönlicher Fertigkeiten. Das Kulturhaus verfolgt das Ideal, die Menschen zu ihrer eigenen Selbstvervollkommnung anzuregen. Der Appell der Selbst-Kultivierung hat – gerade dadurch, dass er ständig im Raum steht – auf die Rezipienten recht unterschiedliche Wirkung. Alle sind angehalten, ihren „guten Willen“ durch ein Mindestmaß des Mitmachens zu demonstrieren. Oft bewegt sich dieses Mitmachen in den Grenzen dessen, was als pokazucha beschrieben wurde: Mitmachen um des Mitmachens willen. Aber auch in diesen Auftritten finden sich Momente des Lampenfiebers, Momente der Transzendenz, wenn den Beteiligten bewusst wird, welche Wirkung ihre Darbietung entfaltet. Diese Qualität der Transzendenz entspricht der Beobachtung von Pierre Hadot, wonach dem Prozess der Verinnerlichung der Selbsttechniken auch ein Aspekt der Veräußerlichung innewohnt: „die Verinnerlichung ist Selbstüberschreitung und Universalisierung“ (1991: 226).25 Die Qualität der Transzendenz verstärkt sich in dem Maße, wie einzelne Personen sich bewusst bemühen, ihr eigenes Talent zu entwickeln. Sie streben danach, das eigene Talent – und somit sich selbst – durch die Darbietung der universellen Werte des Guten und Schönen zum Ausdruck zu bringen. Eine der Aufgaben des Kulturhauses besteht darin, Talente zu finden und zu vervollkommnen. Die Wettbewerbe auf örtlicher, regionaler und überregionaler Ebene zeigen gewisse Ähnlichkeiten mit casting shows, denn auch eine Show wie Deutschland sucht den Superstar treibt junge Menschen zur Selbststilisierung. Auszeichnungen werden verliehen an diejenigen, die sich durch ihre Interpretation/ Virtuosität besonders hervortun, die vorgegebene Form erfüllen und dabei in der Lage sind, eigene Akzente zu setzen und der Performanz ihre „persönliche Note“ zu verleihen. Einige Personen überschreiten die Grenze, die zwischen Laienkunst als kreativem Hobby und einem professionellen, dauerhaften künstlerischen Engage25 Hadot (1991) bemerkt in diesem Zusammenhang, dass Foucault diese transzendente, auf das Erleben der Universalität gerichtete Qualität bestimmter Praktiken des Selbst nicht genügend berücksichtigt habe.

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ment liegt. Manche nehmen ein Studium am Konservatorium, an der Hochschule für Kultur und Künste (kolledž kul'tury i iskusstv) oder einer anderen Einrichtung des professionellen Kulturbetriebs auf, machen Karriere in einem künstlerischen Beruf oder im Kulturbetrieb selbst. Auf diese Weise kann die Transzendenz, die Magie der Bühne, das Über-Sich-Hinauswachsen in eine (auch beruflich definierte) Ästhetisierung der Existenz münden. Transzendenz, so hatte ich in Kapitel 4 argumentiert, ist die eine Seite der Efferveszenz (des „Fiebers“); die andere Seite besteht in der Transgression. Wenn nun, wie oben angedeutet, die Ästhetisierung der Existenz gewisse Züge der Transgression aufweist, wie steht es dann, um mit Butler (2003: 66-67) zu sprechen, um die Möglichkeit, in der Transgression „eine andere Art zu sein zu entdecken“? Die Versuch, diese Frage zu beantworten, führt aus dem Kulturhaus hinaus, in Domänen und Zonen des Lebens, die als „unkultiviert“ konnotiert sind. Akte der Transgression im Kulturhaus sind Akte des zeitweiligen Sich-Gehen-Lassens. Das Verständnis, das sich mit kul'tura verbindet, geht mit der Möglichkeit der Transzendenz einher, nicht jedoch mit der Idee der Transgression als Mittel der Selbststilisierung. Transgression als biographische Erfahrung oder gar als „lebenskünstlerisches“ Projekt findet an anderen Orten statt. Zu diesen anderen Orten zählen Orte des Rückzugs wie beispielsweise das Heizhaus (Kapitel 2, Anm. 8#) oder auch der Wald (den manche meiner Gewährsleute als Rückzugsgebiet par excellence betrachten). Dazu zählen Orte kollektiver Euphorie wie beispielsweise die Nachtclubs der Großstadt oder die Musikfestivals im Altaigebirge. Dazu zählen schließlich auch die spielerischen Parallelwelten im virtuellen und im „realen“ Raum, Zarnica, historical re-enactment (Kapitel 5) und andere Rollenspiele. Die Erkundung dieser Orte würde Stoff für viele weitere Studien liefern.

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Kapitel 9 Schlussbetrachtung: Das Gute und Schöne

„Kultur, das ist wahrscheinlich, na, wie soll man sagen, wohl die Heranführung der Leute an das Herrliche (priobščenie ljudej k prekrasnomu). Also, na, um zu … – wie soll man das bloß sagen?“ „Kultur kann [also] nicht schlecht sein (Kul'tura ne možet byt' plochaja)?“ „Nein, natürlich nicht. Kultur. Das Wort Kultur selbst darf es nicht sein.“ Kulturarbeiterin in Kurumkan, Jg. 1962, 29. April 2006, Antwort auf Q1 Frage 31 gegenüber István Sántha)

Kehren wir nun zum Ausganspunkt der Untersuchung zurück und befassen wir uns mit dem landläufigen Verständnis des Kulturbegriffs in Russland, also mit der Frage, welche Bedeutungsfacetten dem Wort kul'tura zueigen sind und welche Funktionen sich mit der Arbeit des Kulturhauses verbinden. Im Laufe meiner Darstellung habe ich die normativen Aspekte dieses Kulturbegriffs herausgearbeitet. Die Normativität, das Streben nach einem persönlichen ebenso wie gesellschaftlichen Ideal, scheint mir das wichtigste Charakteristikum dieses Kulturbegriffs zu sein. Anne White (1990) hat sich mit der Frage beschäftigt, inwieweit im Zuge der Destalinisierung (1955-1989) die „von oben“ verordnete Kultur abgelöst wurde durch eine andere kulturelle Praxis – eine, die aus den Initiativen und bürgerschaftlichen Projekten der Bewohnerschaft selbst hervorgeht, sozusagen „von unten“ in die Kultureinrichtungen hineingetragen wird. In ihrem Vergleich zwischen Polen, Ungarn und der Sowjetunion der späten 1980er Jahre konstatiert sie, dass dieser Prozess in Polen und Ungarn weit vorangeschritten sei, viel weiter als in der Sowjetunion. Sie verbindet diese Aussage mit der Feststellung, dass die Institution Kulturhaus in der polnischen und ungarischen Bevölkerung sehr an Glaubwürdigkeit verloren habe, gerade weil das Kulturhaus so sehr in das staatliche Ideologieprojekt der Aufklärung involviert gewesen sei. Kultur ist in diesem (realsozialistischen) Sinne all das, womit sich Menschen im Kulturhaus beschäftigen, auch und

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gerade wenn es im Gegensatz zur desavouierten ideologischen Mission des Kulturhauses steht. Für die ländlichen Regionen Russlands (und in extenso auch für den städtischen Raum) würde ich mit zwanzig Jahren Abstand diagnostizieren, dass die Kulturhäuser sich durchaus mit der Idee befasst haben, ihr Tätigkeitsspektrum zu diversifizieren und auch auf Anregungen aus der jeweiligen Gemeinde einzugehen – teilweise werden sie von den staatlichen Stellen, die sie finanzieren, nachgerade dazu genötigt. Aber gleichzeitig manifestieren sich grundlegende, sublime Vorbehalte gegenüber einer „Öffnung“ der Kulturhäuser für neue Formen der bildenden und darstellenden Kunst, neue Formen der Kommunikation und auch neue Formen pädagogischer Arbeit. Diese Vorbehalte, so meine Überzeugung, beruhen nicht zuletzt auf der starken Normativität des Kulturbegriffs selbst. Diese normative Auslegung ist charakteristisch nicht allein für den Personenkreis, der die Legitimation der Institution Kulturhaus aus eigenem Interesse betreibt, sondern auch für weite Kreise der Bevölkerung (zumindest in den Kommunen, in denen das komparative Forschungsprojekt stattfand). Daher lassen sich die Diskussionen um die Aufgabe des Kulturhauses auch nicht als ein Interessenkonflikt zwischen „oben“ und „unten“ beschreiben. Das Verständnis von kul'tura als einem anzustrebenden Ideal wird von allen geteilt. Eher drehen sich die örtlichen, oft durchaus kritischen Diskussionen darum, welche Eignung das Gebäude, welche Kompetenzen die Angestellten aufweisen, um diesem Anspruch möglichst weitgehend gerecht zu werden. Wenn das Kulturhaus und die Kulturarbeiterinnen selbst nicht Vorbild sind (oder es zumindest versuchen), warum sollten dann andere Personen in der Gemeinde ihren „kulturellen Bedürfnissen“ gerade im Kulturhaus nachgehen? Allgemein wird akzeptiert, dass auch das „eigene“ Kulturhaus nicht dem idealen Kulturhaus entspricht, dass das Kollektiv die Ergebnisse seiner Arbeit in möglichst rosigem Licht erscheinen lassen muss und daher die Statistiken schönt, dass die Mitglieder des Kollektivs vielerlei Nebentätigkeiten nachgehen, und auch dass im Kollektiv selbst nicht immer Eintracht und kultiviertes Benehmen herrschen. Wenn das Kulturhaus jedoch nur noch als Projektionsfläche für die Selbstdarstellung einzelner Kommunalpolitiker dient und darüber hinaus keine Aktivitäten mehr zeigt (wie Halemba am Beispiel von Koš-Agač gezeigt hat), wenn es nur noch als Raum für Parfümverkauf und andere Geschäfte fungiert und im Übrigen ständig verschlossen ist (so wie Sántha und Safonova es für Kurumkan konstatieren), wenn also die Praxis vom gegebenen Ideal zu stark abweicht, so verliert die Institution Kulturhaus den nicht geringen Kredit der Legitimität, den es aufgrund des stark idealisierten Kulturbegriffs in Anspruch nehmen kann. Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass die im Rahmen dieser Studie beobachteten und befragten Personen (damit meine ich sowohl die diejenigen, die das Kulturhaus besuchen, als auch die, die es nicht besuchen) vom Kulturhaus eine gewisse

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Kombination von Dienstleistungen erwarten, an deren Konzeption sie zwar keinen Anteil haben, an deren Ausführung sie sich aber, wenn es nötig ist, beteiligen. Hier ist der Vergleich mit einem Gottesdienst nicht abwegig. Die Gemeinde hat Anteil an der Liturgie, ohne sie in nennenswertem Maße zu beeinflussen oder gar zu verändern. Wenn die Zeremonie es verlangt, so geben sich die meisten Gemeindemitglieder als Mitspieler für die Vorführungen im Kulturhaus her. Sie sind nicht die Gestalter des Spiels, sondern Gestalten in ihm. Sie vollziehen auf der Bühne das, was die Gemeinde als eine Notwendigkeit erachtet. Damit unterziehen sie sich einer publicatio sui. Über diese Form des Mitspielens hinaus lässt sich bei manchen teilnehmenden Personen auch der Wunsch ausmachen, das Bühnenspiel aktiv zu gestalten, die vorgegebene Form im Rahmen des Möglichen durch Talent und Kreativität auszufüllen, zu interpretieren und zu modifizieren. Da die Aufführungen immer eine liveKomponente enthalten, gleicht keine Darbietung gänzlich der anderen. Jede Darbietung bedarf eines Ausführenden oder einer Gruppe von Ausführenden, und jede eignet sich als Gegenstand einer kritischen Auswertung. Da die Ausführenden ihre Kultiviertheit auf der Bühne demonstrieren und versuchen, einem ästhetischen Ideal zu entsprechen, beschreibe ich diese Aktivität in Anlehnung an Foucault (1993) als öffentlich zur Schau gestellte Akte der Selbstdisziplinierung und benutze den Begriff der performativen Selbsttechniken. Diese Akte der Selbstdisziplinierung geschehen nicht allein auf Anweisung anderer oder aus einem inneren Pflichtgefühl heraus; vielfach steht hinter der Selbstdisziplinierung die Absicht des Individuums, sich in einer bestimmten Disziplin zu beweisen, sich neu zu entdecken und zu erfinden. Ebenso wie der Sportplatz ist das Kulturhaus ein Ort der Selbstdisziplinierung (freilich unterscheiden sie sich hinsichtlich der Disziplinen, die eingeübt werden). Die vom Kulturhaus erwartete Kombination an Dienstleistungen umfasst erstens die öffentliche Präsentation der Kommune nach außen, aber auch nach innen (als eine kollektive Selbstversicherung der eigenen Kultiviertheit). Daher lässt sich schließen, dass die Kommunikation, die im Kulturhaus gepflegt wird, nur sehr selten die Auseinandersetzung mit künstlerischen oder auch politischen (Streit-)Fragen zum Ziel hat – dazu sind schon allein die thematischen Vorgaben des Veranstaltungskalenders viel zu eingefahren – sondern ihren Wert aus dem Miteinander an sich bezieht. Dies ist die Form der kultivierten Unterhaltung und Geselligkeit (obščenie); sie beruht auf der gegenseitigen Bekundung von Sympathie und Anerkennung. Zweitens bietet das Kulturhaus auch die Bühne für öffentliche Bekundungen von Anerkennung. Diese wird von den Angestellten des Kulturhauses orchestriert und kann durchaus in Form eines Wettbewerbs ausgetragen werden, so lange sich für jede teilnehmende Person ein Wort der Anerkennung findet („Dabeisein ist alles“). Die Kür der Schönsten und Besten erfolgt vor dem Hintergrund der Solidari-

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tät der Kandidaten. In dieses Netzwerk des Wettbewerbs und der Solidarität sind nicht nur Individuen, sondern Betriebe, Kommunen, ganze Landkreise verwickelt. Die Talentesuche führt ja nicht nur zur Benennung der Stars, sondern auch zur ständig wiederkehrenden Bekräftigung der für alle geltenden Spielregeln und Kriterien („das, was zählt“). Damit komme ich zum dritten Aufgabenbereich des Kulturhauses: es hat den Auftrag, Talente zu entdecken und zu fördern, vor allem Kinder und Jugendliche zu sozialisieren und an das Gute und Schöne heranzuführen. Dieser Auftrag gilt – theoretisch zumindest – auch in Bezug auf die erwachsenen Mitglieder der Gemeinde, die sich mehrheitlich aber dieser Operation mit dem Verweis auf dringendere Verpflichtungen entziehen. Dennoch hält die ganz überwiegende Mehrheit auch derjenigen, die nie selbst einen Fuß über die Schwelle des Kulturhauses setzen, das letztere für eine wichtige Institution, eben weil das Kulturhaus ein öffentliches Ideal beherbergt. Dies ist ein wichtiges Kriterium, das das Kulturhaus von allen anderen öffentlichen Institutionen unterscheidet: es gibt in der Kulturarbeit nicht nur eine „best practice“, ein Berufsethos, einen Idealtypus der Institution und ihrer erfolgreichen Arbeit. Sondern darüber hinaus bedeutet Kulturarbeit die Hinführung der Menschen zu einem Ideal, nämlich zum Guten und Schönen. Vom Kulturhaus wird die Performance eines Idealzustands erwartet – in zweierlei Hinsicht: einerseits als Darbietung (Engl.: performance) dessen, was als das Gute und Schöne idealisiert wird, andererseits als Leistung (ebenfalls performance), an der das Kulturhaus gemessen wird. Der Modus der Darbietung entspricht den Inhalten, die auf der Bühne gezeigt bzw. durch Kulturarbeit vermittelt werden. Der Modus der Leistung bezieht sich auf die Dinge, die um die Bühne herum geschehen, also auf die Ausführung der Arbeit des Kulturhauses und ihre Auswertung durch das Publikum und durch die Kulturämter. Das ideale Kulturhaus ist erfolgreich in der Performanz der gesellschaftlichen Ideale. Das sich in der Innen- und Außenwahrnehmung des Kulturhauses manifestierende Verständnis von Kultur weist eine Reihe von Facetten auf, die sich sicherlich nicht nur im Kulturbegriff in Russland ausmachen lassen, in ihrer Kombination aber m.E. doch für den Kulturbetrieb in Russland spezifisch sind und sein heutiges Erscheinungsbild verständlich werden lassen: 1. Kultur bezeichnet die Grundlage des ästhetischen Erlebens: eine Symmetrie der Elemente, eine Harmonie der Klänge, ein Gleichmaß des Rhythmus, eine Gleichzeitigkeit der Bewegungen. Dieses ästhetische Erleben ist ein unmittelbar körperliches Empfinden. In diesem Sinne basiert Kultur auf den oben erwähnten performativen Selbsttechniken. In den musikalischen Aufführungen äußert sich der Wunsch nach Synchronisation der Bewegungen und Artikulationen besonders prägnant. Gelingt die Koordination der Bewegung, so geraten die Beteilig-

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ten in eine euphorische Stimmung. Aus der kollektiven Leistung erwächst das Gefühl der Transzendenz. Auch die äußere Hülle, sogar das die bauliche Substanz, soll Gleichmaß und Symmetrie zum Ausdruck bringen. Architektonisch war dieses Gebot am stärksten in den 1930er bis 1950er Jahren ausgeprägt, es hat aber mit gewissen Einschränkungen auch die Architektur der Kulturhausbauten der späteren Jahrzehnte beeinflusst. 2. Kultur beschreibt die Weise, wie die Gesellschaft sich selbst idealiter sehen möchte. Kultur ist ein Synonym für Vollkommenheit. Kultur steht für die Ordnung der Dinge, für das harmonische und somit geordnete Miteinander, für das Ideal des menschlichen Zusammenlebens. Der Kulturbegriff, der im Kulturhaus gilt, ist somit ein durchweg normativer Kulturbegriff. Er entspricht dem Verständnis von „culture being a pursuit of our total perfection“, wie ihn Matthew Arnold in den 1860er Jahren deklariert hat.1 In seinen Grundlinien zeichnet der allgemein gebräuchliche Kulturbegriff in Russland das nach, was auch im russischen und europäischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts als Kultur angesehen wurde. Von dort nahm er ja auch seinen Ausgang: das Kulturhaus wurde ab 1917 als eine flächendeckende Institution aufgebaut in der Absicht, diese Domäne, die bis dahin als ein Privileg des Adels und des Bürgertums erschien, auch für das Proletariat zugänglich zu machen. So vermerkt auch der Historiker Klaus Städtke (1995: 42), dass im 20. Jahrhundert „das idealistische Konzept der russischen Kultur dominiert hat und darüber hinaus sogar in die marxistischleninistische Ideologie des Sowjetstaates transformiert werden konnte“. 3. Kultur bezeichnet das Heilige. Kulturhäuser standen in ihrem missionarischen Auftrag in den 1920er und 1930er Jahren in direktem Wettbewerb mit der Kirche. Die äußere Ähnlichkeit vieler Kulturhäuser mit antiken Tempelbauten deutet auf den pseudo-religiösen Charakter des Kulturbegriffs hin. In Anlehnung an 1

Ich möchte hier ein längeres Zitat von Matthew Arnold (1869: 13) anführen: „As I have said on a former occasion: ‚It is in making endless additions to itself, in the endless expansion of its powers, in endless growth in wisdom and beauty, that the spirit of the human race finds its ideal. To reach this ideal, culture is an indispensable aid, and that is the true value of culture.‘ Not a having and a resting, but a growing and a becoming, is the character of perfection as culture conceives it; and here, too, it coincides with religion. And because men are all members of one great whole, and the sympathy which is in human nature will not allow one member to be indifferent to the rest, or to have a perfect welfare independent of the rest, the expansion of our humanity, to suit the idea of perfection which culture forms, must be a general expansion.“ In diesem Zitat äußert sich die Vorstellung von Kultur als einem Ideal, als einem ständigen Streben nach höheren Werten, als ein Projekt, welches vom Individuum im Rahmen des Kollektivs verfolgt wird (vgl. Eagleton 2000: 19). Ich bin überzeugt, dass die meisten Kulturarbeiterinnen sich mit solch einer Definition ihres Arbeitsgegenstands – kul'tura – identifizieren könnten.

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Durkheim hat Goffman (1986: 104-105) argumentiert, dass mit dem Prozess der Säkularisierung ein gewisses Maß an Heiligkeit auf jedes einzelne Individuum übergeht. Dieses Heilige in einem jeden Menschen erfordert einen gewissen Abstand oder auch Anstand im Umgang der Individuen miteinander. Kultiviertes Benehmen bildet die Grundlage für ein geordnetes Miteinander und somit auch den persönlichen Zugang zu Kultur als Objekt kollektiver Verehrung. Wie in anderen religiösen Kontexten auch ist das Individuum aufgerufen, an sich selbst zu arbeiten und sich von ablenkenden Leidenschaften freizumachen, um dem Objekt der Anbetung gegenüber in der angemessenen Verfassung gegenüberzutreten. Kultivierung ist daher auch ein Prozess der Läuterung. 4. Kultur trägt auch die Bedeutung von Kultivierung im altbekannten, während der Antike gebräuchlichen, Sinne. Kultivierung ist das einem gewissen Plan entsprechende Aufziehen und Großziehen von Lebewesen (und zwar nicht einfach irgendwelcher, sondern möglichst wohlgeratener Lebewesen). Bezüglich des Heranziehens des menschlichen Nachwuchses teilt sich das Kulturhaus die Aufgabe der sittlichen und ästhetischen Erziehung mit der Familie und den schulischen Einrichtungen. Kinder und Jugendliche erfahren nach dieser Auffassung im Kulturhaus sich selbst, können die in ihnen schlummernden Talente und Gaben entfalten, gleich einer Blüte, die ihre Blätter entfaltet. Das Kulturhaus gibt also den Raum für das geistige Wachstum, für Kreativität. Um Wildwuchs zu vermeiden, müssen aber angeblich bestimmte Grenzen gesetzt, Richtlinien vorgegeben werden. Die Kulturarbeiterinnen schreiben sich das Urteil des „richtigen“ Kulturgenusses und der „richtigen“ persönlichen Entwicklung zu. Darin, dass sie dies für andere Menschen entscheiden können, liegt ja nach ihrem eigenen Bekunden ein wichtiger Teil ihrer Kompetenz. Kulturarbeit legitimiert sich heute wie auch schon in früheren Jahrzehnten als ein Kampf gegen die angeblich wild wuchernde Popkultur, Subkultur, Unkultur. 5. Eine weitere Facette von Kultur, die allerdings nur in manchen Kontexten zur Geltung kommt, ist Kultur als die Summe der Eigentümlichkeiten einer ethnischen Gruppe. Ich habe für diese Facette den Begriff Ethno-Kultur verwendet. Auch Ethno-Kultur unterliegt dem Prinzip der Idealisierung: aus Gründen der politischen Korrektheit werden nur diejenigen ethnischen Charakteristika zur Schau gestellt, die sich in das Bild des harmonischen Miteinanders einfügen. Das Repertoire der dargebotenen ethnischen Charakteristika ist auf bestimmte Genres begrenzt und muss es sein, damit sich alle ethnischen Gruppen in ihm zur Schau stellen und es gleichberechtigt abdecken können. Dieses landläufige Verständnis von Kultur, das ich für die Einwohnerschaft der russischen Provinz (ebenso wie für viele Bewohnerinnen und Bewohner der Metropolen) porträtiere, ist von hoher Persistenz geprägt und meinen Beobachtungen zufolge stark internalisiert. Nichtsdestoweniger lässt sich durch die Jahrzehnte eine

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Dynamik des Kulturbegriffs und auch eine Verlagerung der Funktionen der Kulturhäuser ausmachen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts äußerte sich das Bemühen um Kultivierung vor allem in den grundlegenden Kategorien der Bildung (d.h. Alphabetisierung) und der Körperhygiene. Später, etwa ab Mitte der 1930er Jahre, rückten dann andere Kategorien stärker in den Vordergrund: das Bemühen um ästhetisches Gespür und Ausdrucksvermögen, eine Verfeinerung der Umgangsformen und der Wohnkultur, die Beteiligung am wohl koordinierten Bühnenspiel. In den Jahren unmittelbar nach 1917 und dann nochmals von 1928 bis 1933 nahm die Kulturarbeit (und der gesamte öffentliche Kulturbetrieb) in vielen Bereichen eine vergleichsweise grelle und disharmonische Formensprache an, die vom politischen Aufbruch und dem Willen, die Bevölkerung wachzurütteln, geprägt waren. Proletkul't und Agitprop verkörperten zu diesen Zeiten Institutionen, die diesen Ansatz besonders vehement verfolgten. Ihr Ende fanden sie in den restaurativen Tendenzen der 1930er Jahre. Agitprop hat aber bis heute einen gewissen Nachhall und äußert sich in den Praktiken der Aktivierung der ansonsten „passiven“ Bevölkerung für bestimmte politische und soziale Ziele. Die Kultureinrichtungen (Klubs) der Werktätigen als kollektive Wohn- und Lesestuben, als Fora auch für politische Diskussionen, erhielten im Laufe der 1930er Jahre ein anderes Gepräge. Sie verwandelten sich zunehmend in Stätten der genau orchestrierten Repräsentation der herrschenden Ordnung. Das Proletariat hatte in den ersten Jahrzehnten der Sowjetmacht vermöge der Arbeit der Schulen, Kulturhäuser und anderer Institutionen offenbar auf dem Weg hin zur Kultur bedeutende Fortschritte gemacht, der Grad der Bildung war allgemein gestiegen, bestimmte Formen der Kultivierung wurden dadurch allmählich obsolet. In dem Maße, wie die Vertreter des Proletariats sich mit den kulturellen Formen des Bürgertums vertraut gemacht und ein gewisses ästhetisches Urteilsvermögen erworben hatten, erhielten sie auch die Befähigung, über die Arbeit der Kultureinrichtungen zu urteilen. Auch wenn Kultur weiterhin als das (nie völlig erreichbare) Ideal betrachtet wird, so ist doch der Abstand der „Laien“ zu den „Expertinnen“ im Kulturbetrieb geschrumpft. Diese zunehmende Befähigung zum kritischen Urteil und – mehr noch – der in der späten Sowjetzeit sich immer stärker abzeichnende performative shift (die Verlagerung der Wirkung der herrschenden Ideologie vom konstativen in den performativen Bereich) haben dann dazu geführt, dass viele Bewohnerinnen und Bewohner das Kulturhaus und seine Arbeit mit einer gewissen Ernüchterung wahrnahmen. Diese Ernüchterung manifestierte sich nicht in einer öffentlich vollzogenen Kritik oder Abkehr von der Institution Kulturhaus, sondern in einem habitualisierten Mitmachen, in dem oben thematisierten Mitspielen, weil das Spektakel es verlangt. Dem staatlich definierten Bedarf an der kollektiven Präsentation von Kultiviertheit und Harmonie musste formal Genüge geleistet werden, was sich auch in den Statistiken und Berichten der Kulturhäuser widerspiegelt. Unter der Bedingung der Erfüllung dieses Bedarfs konnten die Mitglieder der Gemeinde dann das Kulturhaus

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auch als Raum für selbst definierte, informelle Aktivitäten nutzen. Um es in Yurchaks Begriffen auszudrücken: die Teilnahme an den vorgegebenen Ritualen eröffnete bestimmte Räume der sozialen Interaktion. Seit den 1920er Jahren und bis in die frühen 1990er existierte ein flächendeckendes Netz von Kultureinrichtungen in allen Großstädten, Kleinstädten und in allen ländlichen Siedlungen ab einer bestimmten Größe. Dieses hierarchisch aufgebaute Netz unterlag – formal zumindest – der Kontrolle der regionalen Kulturämter und Ministerien, der Gewerkschaften und den betrieblichen bzw. örtlichen Gremien der Kommunistischen Partei. Wenngleich also unterschiedliche Träger die Verantwortung für die Kultureinrichtungen ausübten, so waren die Vorgaben hinsichtlich ihrer Tätigkeit und der Mission relativ einheitlich geregelt. Die relative Homogenität des vorgesehenen Tätigskeitsspektrums ging einher mit einer relativen Homogenität der „Zielgruppe“: Ungeachtet der beträchtlichen Unterschiede zwischen Stadt und Land und der regionalen Lohnzulagen waren die Einkommensverhältnisse innerhalb der Regionen relativ gleichartig. Dies änderte sich ab 1991 in drastischer Weise. In den letzten beiden Jahrzehnten haben sich mit den Einkommen auch die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung auseinanderentwickelt. Am Beispiel von Kolyvan' und Novosibirsk, die als zentrale Beispiele dieser Studie dienten, wird dies deutlich. Die Aufgabe der Kulturhäuser, einen vergleichsweise homogenen sozioökonomischen Raum mit Angeboten der Freizeitgestaltung zu versorgen, besteht so nicht mehr. Kommerzielle Anbieter halten in den Großstädten Freizeitangebote parat, die das Kulturhaus veraltet und unattraktiv erscheinen lassen. Viele derjenigen Ausdrucksformen (Musikstile, Visualisierungen, Medien und Kommunikationsformen), die junge Menschen besonders interessieren, haben aufgrund der fehlenden technischen Mittel (wie z.B. Internet) und aufgrund des vorherrschenden Verständnisses von Kulturarbeit keinen Platz. Mit anderen Worten: viele Aktivitäten können und dürfen im Kulturhaus einfach nicht stattfinden, weil sie nicht zu dem normativen Kulturbegriff passen. In dem Maße, wie der Kulturbegriff auf das Gute und Schöne, auf die Ideale und den Kanon der Klassiker begrenzt wird, verlagern sich soziale Aktivitäten an andere Orte oder finden von vornherein an anderen Orten statt. Wenn das Kulturhaus im Extremfall nurmehr einen leeren Tempel darstellt, der zu bestimmten feierlichen Anlässen geöffnet wird, um ansonsten verschlossen zu bleiben, so liegt dies nicht allein am Wegfall der sozialistischen Prämissen von Kultur und Kulturarbeit oder an der in den 1990er Jahren erfolgten drastischen Kürzung der ohnehin schon immer recht spärlich bemessenen Finanzierung. Es liegt auch daran, dass der normative Kulturbegriff selbst der Entfaltung vieler sozialer Aktivitäten im Wege steht und die Kulturhäuser verwaisen lässt. Der Verfall der Kulturhäuser ist Thema des abschließenden Teils, der – als Essay verfasst – stilistisch vom Rest des Buches abweicht.

Nachwort Kulturhäuser als öde Orte?

Sajnšand (in der Mongolei), Lopatovo (bei Pskov in Russland), Eleja (in Lettland), die Herzbergstraße (in Berlin-Lichtenberg) – abweisende Fassaden, strenge Architektur, Gebäude an zentralen Stellen im Weichbild, die nichts als die ohnehin schon gegenwärtige Deprimiertheit des Ortes wiedergeben (Abb. 24). Die meist pseudoklassischen Giebel sind nichts anderes als Wahrzeichen der Leere im Zentrum der Kleinstadt. Das Kulturhaus von Kurumkan in Burjatien: das größte Gebäude der Kreisstadt. Fast immer verschlossen. Das Kulturhaus von Koš-Agač in der Republik Altai: ein Provisorium. Aktivitäten nur auf Anweisung von oben. Das Kulturhaus des Kombinats Buna: Leerstand und Verfall. Die Zeiten, in denen die Komische Oper Berlin dort ihr Ausweichquartier hatte – lange vorbei. „Wer jetzt den leeren Raum betritt, beginnt bei Notbeleuchtung die Arbeit des Erinnerns“ (Hain 1996a: 53). Die Kulturhäuser in vielen Orten Sibiriens – gammelig und kalt, manchmal abgebrannt, das Personal schlecht bezahlt, die älteren Besucher desillusioniert, die Jugendlichen desinteressiert, die Veranstaltungen nicht mehr als eine billige Vorzeige-Aktion, um die nächste Evaluierung zu überstehen. Abbildung 24: Das seit mehreren Jahren verschlossene Kulturhaus von Lopatovo, einem Dorf in der Nähe von Pskov. Foto: JOH, 27. August 2007

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Die Leere und Verschlossenheit der Kulturhäuser, so wurde in Kapitel 6 argumentiert, sei ein Zeichen der quasi-sakralen Würde. Aber wer glaubt noch an ihre Botschaft? Neue Formen der Kommunikation, des Respekts, der Performanz und der „Arbeit an sich selbst“ haben sich etabliert – es gibt einfach keine Verwendung mehr für das Modell Kulturhaus. Die Institution Kulturhaus habe sich überlebt, so sagen die jungen Menschen in den Großstädten Russlands und auch in der Provinz. Es gibt auch keinen Anlass, dem Kulturhaus nachzutrauern, kein Bedürfnis, es zu retten. Die Welt der werktätigen Massen, die ihren Feierabend gemeinsam im Kulturhaus feiern wollen, existiert so nicht mehr. Die Werktätigen verbringen ihren Feierabend im Schoße der Familie, vielleicht beim Kartenspielen in der Kneipe. Es gibt keinen Anlass mehr, die Leistungen des eigenen Kollektivs oder die Errungenschaften des Sozialismus in aller Öffentlichkeit herauszukehren. „Arbeit an sich selbst“ findet an anderen Orten statt, sei es in Fitness-Studios, in evangelischen Gemeindehäusern, beim Paintball oder beim Zurechtfeilen der eigenen virtuellen Präsenz in einer der social networking sites im Internet. Was von den Kulturhäusern in vielen Orten geblieben ist, ist also nichts als die äußere Hülle, hier und da noch bevölkert von Wesen einer vergangenen Zeit. Diese Wesen versuchen, verstaubte Rituale zu reproduzieren, sie versuchen, die Menschen um sie herum anzusprechen mit alten Liedern und vergilbten Plakaten, aber diese Lieder und Plakate wirken nicht mehr, da sie so augenscheinlich gestrig sind. Leben ist anderswo. Die Zeiten haben sich gewandelt, und manche haben es einfach noch nicht bemerkt. Gewandelt hat sich auch der Kulturbegriff. Neue Medien, neue Netzwerke. Für die Jugendlichen in entlegenen Dörfern Sibiriens ist es eine Wohltat, dass sie Freunde und Leidensgenossen über das Internet finden. Thema der Gespräche auf dem Schulhof sind die Musikvideos auf youtube, die virtuellen Zwistigkeiten auf vkontakte.ru. Es scheint, dass selbst die körperlichen Ideale und die Stilisierungen des Körpers nichts mehr mit den Formen gemein haben, die im Kulturhaus eingeübt wurden. Aufgrund des fehlenden Interesses bemerkt kaum jemand, dass für den örtlichen Dorfklub das Geld nicht mehr da ist. Es gibt ohnehin keine Hoffnung mehr, dass der Klub jemals wieder richtig aktiv werden wird, zumal die jungen Leute alle in die Stadt gehen. Wenn die Sache gut ausgeht, so besinnt sich vielleicht die Russisch-Orthodoxe Kirche, dass dort, wo jetzt das leere Klubgebäude steht, früher ein Gotteshaus war, so dass sie einen Antrag auf Restitution stellen kann. Seelenheil wird heutzutage in der Kirche gespendet, nicht mehr im Kulturhaus. Unter all diesen negativen Vorzeichen ist es umso erstaunlicher, dass einige Kulturhäuser und Dorfklubs doch noch „durchhalten“ und die Angestellten mitsamt einigen Sympathisantinnen versuchen, ein mehr oder weniger anspruchsvolles Programm aufrechtzuerhalten. Im Grunde verdanken sie ihr Überleben lediglich einer Reihe von sozialen oder wirtschaftlichen Nischensituationen. Vor allem zwei Fak-

N ACHWORT

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toren sind für die erfolgreiche Arbeit eines Kulturhauses in Russland von entscheidender Bedeutung: zum einen die Siedlungsgröße, zum anderen der Elan und die Professionalität der Kulturarbeiterinnen. Es gibt noch einen dritten Faktor, den zu beschreiben mir leicht, zu belegen aber schwer fällt. Er betrifft nur die kleineren ländlichen Gemeinden. Dieser Faktor ist die allgemeine „Stimmung“ in der jeweiligen Gemeinde. Manche Dorfgemeinschaften in Russland scheinen sich aufgegeben zu haben, „sich gehen zu lassen“. Von Alkoholkonsum und Existenzsicherung auf niedrigem Level abgesehen scheinen die Bewohner keine weiteren Interessen zu verfolgen. Dies ist ein hartes Urteil, denn es unterstellt den Bewohnern der betreffenden Gemeinde, dass sie ihre Träume und die Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben hätten. (Der Vorwurf entspricht auch genau dem, den die Kulturarbeiterinnen, Pädagoginnen und Politiker im Kopf haben, wenn sie sagen, dass es ein kulturelles Defizit gebe, wobei sie dabei nicht bestimmte Orte oder Gegenden im Sinn haben, sondern die Gesellschaft Russlands im allgemeinen.) Es gibt keine wirkliche Perspektive in diesen Orten.1 Mit 18 oder 20 Jahren versuchen die jungen Leute wegzuziehen. Irgendwann schließt die Schule, und das ist der Anfang vom Ende für die Gemeinde. Es sind also in vielen Fällen nicht die Kulturhäuser, sondern die Dörfer selbst, die öde sind, und die Existenz eines Kulturhauses vermag daran nichts mehr zu ändern. Von diesen Gemeinden, die sich im Grunde schon selbst aufgegeben haben (und auch von denen, die aus ökonomischen Erwägungen offiziell aufgegeben wurden), haben manche das Glück, dass sie als stadtnahe und/oder pittoreske Wochenendziele entdeckt werden, so dass sich reiche Städter hier einkaufen. Gelegentlich geht das Engagement der dačniki (Ferienhausbesitzer) so weit, dass sie auch das kulturelle Leben im Ort, also den Dorfklub reaktivieren. Andere Orte können „kulturell überleben“ aufgrund des Engagements der Bewohner. In diesen Gemeinden lässt sich ein gewisser Grad an „sozialer Kohäsion“ ausmachen – dieser Begriff bezeichnet einen Zustand, wo Menschen, die an einem bestimmten Ort leben, sich gelegentlich um das „Gemeinwohl“ der Siedlung Sorgen machen und nicht nur um das Wohl ihrer Nächsten. Damit scheint sich auf kommunaler Ebene zu bewahrheiten, was die Kulturarbeiterinnen auf der Ebene der individuellen Erziehung so oft betonen: ohne die Anteilnahme am Leben der anderen, ohne ein Mindestmaß an Respekt, ohne ein Fünkchen Selbstachtung und ohne ein Minimum an zivilen Umgangsformen kann ein Gemeinwesen nicht existieren. Im Grunde ist diese Aussage nicht weit entfernt von den liberalen Vorstellungen einer bürgerlichen bzw. einer Zivil-Gesellschaft, in der 1

Hier sei angemerkt, dass ich nicht dem offiziellen Sprachgebrauch der neperspektivnye naselennye punkty (Siedlungen ohne Perspektive) folge, der in den 1960er Jahren als Kriterium eingeführt wurde, um die Schließung von Siedlungen im ländlichen Raum zu betreiben (vgl. Pallot 1990).

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das Individuum ein Mindestmaß an Verantwortung für sich in der Gesellschaft übernehmen muss und sich nur in bestimmten Bereichen und Situationen „gehen lassen darf“. Geändert hat sich vielleicht weniger das Ideal, das die „neue Gesellschaft“ von sich entwirft, als vielmehr die Orte, an denen die Facetten des gesellschaftlichen Ideals entworfen, einstudiert und präsentiert werden. Einerseits scheinen viele dieser Orte heute nicht mehr lokalisierbar: ihr prozessualer, globalisierter, virtueller Charakter lässt eine konkrete Verortung gar nicht mehr zu. Andererseits laufen die Fäden der kommunikativen Netzwerke sehr wohl an ganz realen Knotenpunkten, Kontakten und Schaltstellen zusammen, und es sind die Begegnungen der Menschen, die diese Treffpunkte ausmachen. Alte Netzwerke verlieren mit der Zeit ihre Bedeutung, alte Treffpunkte sind verwaist. Das Kulturhaus tritt in Konkurrenz nicht nur mit Fitness-Studios oder der Videothek im Stadtzentrum, sondern auch mit Tankstellen und Einkaufszentren außerhalb der Stadt. Auch in Russland haben Mobilität und individueller Aktionsradius in vielen Regionen zugenommen, und die autogerechten Konsum- und Kommunikationsbereiche wirken viel attraktiver als die Kultureinrichtungen der Innenstadt. So lässt sich abschließend darüber spekulieren, ob und unter welchen Bedingungen Dorfklubs oder Kulturhäuser das Potenzial haben, ihre Arbeit weiterzuverfolgen. Damit verknüpft sich die Frage, wie wir selbst uns das Kulturhaus der Zukunft – wenn schon nicht das ideale Kulturhaus, so doch ein funktionierendes Modell – vorstellen. Meine Einschätzung ist folgende: Grundvoraussetzung ist ein intaktes Gebäude, auf dessen mögliche Trägerschaft ich weiter unten zu sprechen komme. Diese bauliche Hülle kann nur zum Leben erwachen, wenn es Personen in der Gemeinde gibt, sie mit Leben zu füllen. Dies gelingt wiederum nur, wenn diese Personen die Möglichkeit haben, ihre eigenen Ideen umzusetzen und ein „gemeinsames Projekt“ zu verfolgen. Die allmähliche Umwidmung zum Freizeit- oder Gemeindezentrum und die Abkehr vom idealistischen Kulturverständnis sind m.E. die logischen Konsequenzen aus der postsozialistischen Misere der Kultureinrichtungen. Auch scheint mir, dass das Kulturhaus nicht nur ein Ort interner (also auf die Gemeinde selbst bezogener) Kommunikation sein kann, sondern die Chance wahrnehmen sollte, als eine Art Terminal oder Knotenpunkt in einem Netzwerk von Gemeinschaften, die real und virtuell zugleich sein können, zu dienen. Dass dies möglich ist, zeigt Nadezhda Savova (2011) am Beispiel der Netzwerke von Kultureinrichtungen in Bulgarien und Brasilien: das Miteinander auf der lokalen Ebene vermischt sich mit der Neugier an den Lebenswelten, Ideen und Fertigkeiten der anderen, über Landesgrenzen und Kontinente hinweg. Kontakte jenseits der lokalen Ebene sind in der Kulturarbeit kein neues Element. Auftritte in den Nachbargemeinden, die Teilnahme an regionalen Wettbewerben und Reisen zu internationalen Festivals sind Elemente des Kulturbetriebs in heutiger Zeit und waren es schon in früheren Jahrzehnten.

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Das Raumprogramm der stalinzeitlichen Kulturhäuser, die mancherorts noch funktionsfähig sind, ist vor allem auf die Präsentation politischer Macht und die damit verbundenen Großveranstaltungen ausgerichtet. In ihren Dimensionen und der geringen Flexibilität in der Raumgestaltung sind sie für die Umsetzung kleiner Projekte und neuer Ideen nicht geeignet, wie oft betont wird. Selbsthilfegruppen zum Beispiel sind auf eine vertrauliche Gesprächsatmosphäre angewiesen, wozu ein Saalbau nicht gerade taugt (Putniņa 2011: 224). Letztendlich hat die heutige Misere der Kulturhäuser ihren Ausgangspunkt in der vertikal angelegten Kulturpolitik, in der dem Prinzip der Selbsttätigkeit (samodejatel'nost') enge Grenzen gesetzt waren. Die Ödnis hielt in den Kulturhäusern schon lange vor dem Ende des Sozialismus Einzug. Um diese verwaisten Räume wieder mit Leben zu füllen, um sie für die Gemeinden nutzbar zu machen, ist die Aufhebung der zentralisierten staatlichen Trägerschaft wohl unvermeidlich. Insofern ist die Umsetzung des 2003 in Russland eingeführten Gesetzes zur kommunalen Selbstverwaltung wohl ein erster und notwendiger Schritt: sie bietet zwar nicht die Gewissheit, aber immerhin die Chance, dass sich örtliche Initiativen der Gebäude annehmen und sie im Sinne eines „house guarding“ (Savova 2011) als soziale Räume wiederherrichten und besiedeln. Dass solche sozialen Räume in den ländlichen Kommunen erforderlich sind, steht außer Zweifel, aber sie werden nicht mehr – oder nicht mehr nur – für die Performanzen einer schönen, heilen, geordneten Welt benötigt, sondern für konkrete Leistungen im Bereich der kommunalen Solidaritäts- und Identitätsstiftung. Dort, wo die Wiederbelebung der Kulturhäuser gelingt, wird sie einhergehen mit einer ortsbezogenen Bestimmung und Ausgestaltung dessen, was Kultur ist. Und all das geht ganz ohne den Neuen Menschen.

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Anhänge

ANHANG 1 G RUNDLAGE

UND

M ETHODIK DES F ORSCHUNGSPROJEKTS

Das Projekt mit dem Titel Social Significance of the House of Culture wurde Anfang 2006 als Gemeinschaftsprojekt des Sibirienzentrums am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung konzipiert. Der Keim des vergleichenden Forschungsprojekts lag in meinem ab 2003 verfolgten Vorhaben, „cultured spaces in an uncultured landscape“ zu beschreiben. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Schulen und Kulturhäuser als solche Orte identifiziert (2005a: 53). Im Sommer 2005 besuchte ich für mehrere Wochen die Stadt Novosibirsk, dabei galt mein Interesse hauptsächlich der Musikszene dieser Großstadt (Habeck 2006a), wobei mir ein merkwürdiger Widerspruch auffiel zwischen dem Anspruch der offiziellen kulturellen Einrichtungen und den Gewohnheiten und Erwartungen der jungen Leute (im Alter zwischen 16 und 25), für die ein Besuch im Kulturhaus abwegig, weil völlig uninteressant, erschien. Nach meiner Rückkehr nach Halle, wo ich als Koordinator des Sibirienzentrums am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung tätig war, kamen meine Kolleginnen und Kollegen und ich überein, dass wir unser Potenzial als Gruppe nutzen sollten, um eine vergleichende Untersuchung durchzuführen, die mit einer vorab bestimmten Fragestellung und Methodik denselben Gegenstand an fünf verschiedenen Orten Sibiriens beleuchtet. „We became convinced that by designing and conducting a comparative project with qualitative and quantitative methods defined a priori, we would be able to make a useful contribution to the further advancement of methodology in anthropology“ (Donahoe et al. 2011: 277). Das Team entschied sich, das von mir als Forschungsobjekt vorgeschlagene Kulturhaus zum Gegenstand der komparativen Untersuchung zu machen. Dies zum einen, da es uns als vielerorts existierende, klar definierte Institution aus methodischer Sicht als sehr geeignet erschien; zum anderen hatten mehrere Kollegen den Eindruck, dass sie in ihrer bishe-

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rigen Arbeit häufig mit dem Kulturhaus konfrontiert waren (und es gelegentlich besucht hatten), ohne sich mit seiner kommunalen Bedeutung bewusst beschäftigt zu haben. Die Gründe dafür werden in der Einleitung zu diesem Buch genannt). Die genaue Formulierung der Forschungsfragen, die Auswahl der Methoden, die Ausarbeitung der Instrumente, die Planung der Feldforschung sowie die verschiedenartigen Probleme, die sich an den einzelnen Orten ergaben, sind im Anhang des Sammelbandes Reconstructing the House of Culture ausführlich beschrieben worden (Donahoe et al. 2011). Auf dieser Basis gebe ich eine kurze Zusammenfassung dessen, was das Team gemeinsam ausgearbeitet und festgelegt hat. Um die Vorkenntnisse und persönlichen Kontakte zu nutzen, planten die beteiligten Personen die jeweilige Feldforschung in einer Region Russlands, die sie bereits von früheren Aufenthalten kannten; allerdings bestand bei der konkreten Auswahl des Ortes die Vorgabe, dass dieser eine Einwohnerzahl von mindestens 6.000 und höchstens 12.000 haben sollte, um eine annähernd vergleichbare Größe zu gewähren. In einzelnen Fällen waren die Empfehlungen der regionalen Kulturämter bei der Auswahl einer geeigneten Lokalität ausschlaggebend. Die vergleichende Forschung wurde im Frühjahr 2006 an fünf verschiedenen Orten nahezu zeitgleich durchgeführt: in Anadyr' im Tschuktschischen Autonomen Gebiet (unter der Leitung von Virginie Vaté); in Kolyvan' bei Novosibirsk (unter meiner Leitung); in Koš-Agač in der Republik Altai (unter der Leitung von Agnieszka Halemba); in Kurumkan in der Republik Burjatien (unter der Leitung von István Sántha) und in Šagonar in der Republik Tyva (unter der Leitung von Brian Donahoe). Abb. 2 zeigt diese Orte im Kartenbild. Alle an diesem Forschungsprojekt beteiligten Personen werden in der Danksagung genannt. Die ursprünglich von mir vorgeschlagene Forschungsfrage nach der gegenwärtigen Bedeutung der Kulturhäuser wurde um den Aspekt des zeitlichen Wandels ergänzt: „What is the socio-political significance of the House of Culture today for the local community (and how has it changed over time)?“ (Donahoe et al. 2011: 279). Wir gliederten diese generelle Frage in drei Teilaspekte: Welche Bedeutung wird dem Kulturhaus in der jeweiligen Gemeinde zugeschrieben? Welche Funktionen übernimmt das Kulturhaus für die Gemeinde? Wie beeinflusst das Kulturhaus das Funktionieren anderer sozialer Institutionen und Netzwerke in der Gemeinde? „These questions would require (1) an analysis of the House of Culture itself (its physical facilities, and the views and everyday work practices of its staff); (2) an analysis of views of people using the House of Culture; and (3) an analysis of views of all members of the community regarding the House of Culture“ (ebd.). Wir haben diese drei Analysebereiche dann nochmals in einzelne, konkret zu beantwortende Fragen gegliedert.

A NHÄNGE

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Analysebereich 1: Das Kulturhaus − Wo befindet sich das Kulturhaus, und über welche materielle Ausstattung verfügt es? − Wie ist die Organisationsstruktur des Kulturhauses beschaffen? − Welche Aktivitäten werden vom bzw. im Kulturhaus organisiert? − Wie geschieht dies? (Mit welchen Mitteln werden die Aktivitäten realisiert?) − Wie denken die Angestellten des Kulturhauses über seine Funktion und Arbeitsweise? − Wie definieren sie die Hauptziele ihrer Arbeit und die Hauptzielgruppen? − Wie stellen sich die Angestellten das „ideale“ Kulturhaus vor? − Was denken die Angestellten über die Zukunft ihres Kulturhauses? Analysebereich 2: Der Personenkreis, der das Kulturhaus besucht (an den Veranstaltungen aktiv teilnimmt oder zuschaut) − Was ist dem Personenkreis derjenigen, die das Kulturhaus frequentieren, gemeinsam? − Wie häufig besuchen sie die Veranstaltungen des Kulturhauses bzw. nehmen aktiv daran teil? − An welchen Veranstaltungen nehmen sie teil und seit wann? − Welche Erwartungen knüpfen sie an die Teilnahme bzw. den Besuch dieser Veranstaltungen? − Wie denken sie über die Funktion und Arbeitsweise des Kulturhauses? − Wie stellen sie sich das „ideale“ Kulturhaus vor? − Wie verbringen sie – vom Besuch des Kulturhauses abgesehen – ihre Freizeit? − Welche Rolle spielt das Kulturhaus in ihrem Leben? − In welcher Relation steht ihre Teilnahme bzw. ihr Besuch des Kulturhauses zu ihrer Teilnahme an anderen sozialen Netzwerken bzw. Aktivitäten? Analysebereich 3: Einwohnerschaft des Ortes, in dem sich das Kulturhaus befindet − Wie häufig besuchen die Einwohnerinnen und Einwohner die Veranstaltungen des Kulturhauses bzw. nehmen aktiv daran teil? − Was sind die Faktoren, die den Besuch bzw. die Teilnahme beeinflussen? − Welche anderen Möglichkeiten gibt es für die Einwohnerschaft, ihren kulturellen Interessen nachzugehen? − Was sind die Faktoren, die Nutzung solcher Möglichkeiten beeinflussen? Als Grundlage für die Ausarbeitung der Forschungsinstrumente entwarfen wir eine Liste der Daten, die in jedem Ort zu sammeln waren: sie betraf die Lage, den bauli-

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chen Zustand und die Ausstattung des Kulturhauses; seine Entwicklung, die derzeitige Organisation und den Stab der mitarbeitenden Personen; die im Kulturhaus stattfindenden Veranstaltungen und Aktivitäten sowie die Bewertung der Arbeit des Kulturhauses seitens der örtlichen Bevölkerung (Fieldwork Checklist, Anhang 2). Als Instrumente zur Erhebung dieser Daten entwickelten wir einen Fragebogen mit quantitativer Ausrichtung (Survey, Anhang 3.1); eine Liste von Interviewfragen mit qualitativer Ausrichtung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des jeweiligen Kulturhauses (in unserem Sprachgebrauch: Q1, siehe Anhang 4.1) und eine Liste von Interviewfragen mit qualitativer Ausrichtung für die Besucherinnen und Besucher des Kulturhauses (in unserem Sprachgebrauch: Q2, siehe Anhang 4.2). Die Auswahl von Personen, die mittels Q2 befragt wurden, richtete sich im Wesentlichen nach dem Survey, dazu im nächsten Punkt mehr. Von dem Survey, Q1 und Q2 abgesehen waren Interviews mit bestimmten Experten (beispielsweise mit der Leiterin oder dem Leiter des örtlichen Kulturamtes) und die Auswertung von Statistiken, Jahresberichten, Arbeitsplänen und anderen offiziellen Dokumenten – auch von Materialien in örtlichen Archiven – vorgesehen. Nicht zuletzt sollten auch die eigenen Beobachtungen und die Teilnahme der Forscherin bzw. des Forschers an den Geschehnissen im Kulturhaus zur Generierung von Daten beitragen. Eine der Vorgaben war, eine größere Veranstaltung anlässlich eines Feiertages von den ersten Stadien der Planung bis zum Moment der Durchführung und Nachbereitung zu verfolgen. Der Survey (und darauf aufbauend Q2) wurde als Instrument entwickelt, mit dem Einwohnerinnen und Einwohner hinsichtlich ihrer Einstellung zum Kulturhaus befragt werden sollten – sowohl solche, die dort hingehen, als auch solche, die dies nicht tun. Es wäre also sinnlos gewesen, das Kulturhaus selbst als Ausgangspunkt dieser Befragung zu wählen. Mit sehr großem Aufwand hätte sich eine repräsentative Umfrage auf Grundlage der Auswahl von Haushalten nach Zufallsprinzip organisieren lassen, aber dazu fehlten uns sowohl die nötige Zeit als auch die Ressourcen. Anstelle des mühseligen und potenziell gefährlichen Gangs von Haustür zu Haustür entschieden wir uns für eine andere Herangehensweise. Bei den örtlichen Schulämtern baten wir um eine Aufstellung der Schülerinnen und Schüler in allen neunten Klassen an den Schulen der jeweiligen Gemeinde (der Schulbesuch in Russland war 2006 bis zum Ende der neunten Klasse obligatorisch). Aus der kompilierten Liste wählten wir dann je mindestens 30 Schülerinnen und Schüler aus und kontaktierten sie über ihre Lehrerinnen. Wir ließen sie während einer Freistunde im Klassenzimmer den Survey ausfüllen, baten sie um ihre Adresse und Telefonnummer und schickten sie nach Hause mit dem Auftrag, die anderen Personen im Haushalt über unsere Absicht, dort eine Befragung durchzuführen, zu unterrichten. Mit anderen Worten, wir versuchten, die Schülerinnen und Schüler als gate openers für das Befragen ganzer Haushalte zu gewinnen. Diese Strategie funktionierte in den einzelnen Orten unterschiedlich gut: in Anadyr' öffneten sich die Wohnungstüren

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vergleichsweise selten, in anderen Orten waren mehr als drei Viertel der Haushaltsangehörigen bereit, an der Befragung teilzunehmen. In Kolyvan' befragten meine Feldassistentin Svetlana Ivanova (Madjukova) und ich 35 Schülerinnen und Schüler, die in Haushalten mit weiteren 79 Personen lebten: von diesen konnten wir 66 für eine Befragung gewinnen – die anderen 13 Personen waren entweder verreist oder nicht gewillt, uns Auskunft zu geben. Die Ausfallquote lag unter 12% (also 13 von 114 Personen, die zu befragen waren). Befragt wurden Haushaltsmitglieder im Alter ab elf Jahren, die mindestens ein Jahr am entsprechenden Ort gewohnt hatten. Die Arbeit mit der Liste Q2 erwies sich als nicht unproblematisch. Denn obgleich wir diese Liste konzipiert hatten mit dem Ziel, sowohl Besucher als auch völlig uninvolvierte Personen (non-goers) zu befragen, so waren die Fragen doch implizit eher an den Besuchern orientiert. Die non-goers waren insgesamt deutlich weniger bereit, sich für ein Interview zur Verfügung zu stellen, sie verloren auch eher die Geduld bei der Beantwortung der Fragen. Die Handhabung der Liste Q1und die dadurch generierten Daten entsprachen den Erwartungen des Teams. Was das Beobachten und die Teilnahme an den Veranstaltungen des jeweiligen Kulturhauses angeht, so übermittelten die Teammitglieder recht ambivalente Erfahrungen: in einigen Kulturhäusern war über Tage und Wochen „nichts los“, an anderen Orten gab es jeden Tag mehr als genug Möglichkeiten, neue Aspekte in der Arbeit des Kulturhauses zu entdecken. Darüber hinaus waren die Bestände von Archivmaterialien und anderen Dokumenten vom Umfang und Informationsgehalt von Ort zu Ort sehr unterschiedlich. „Generally it can be said that all researchers individually fine-tuned the balance between surveying, interviewing, archival work, and participant observation. If one instrument did not work out as well as hoped, they went on to spend more time with the others“ (Donahoe et al. 2011: 289). Soweit die Stichpunkte zum Design und zur Durchführung des vergleichenden Forschungsprojekts. Im weiteren Verlauf des Jahres 2006 und in den beiden folgenden Jahren war ich mit der Koordination der Datenaufbereitung betraut, zum einen ging es dabei um das Transkribieren der Interviews, zum anderen um das Einlesen der Survey-Daten in SPSS. Beide Aufgaben wurden von studentischen Hilfskräften ausgeführt. Die SPSS-Daten umfassen die Angaben von insgesamt 428 Befragten in fünf Ortschaften. Im Frühjahr 2008 war ich in der Lage, die SPSS-Daten einer ersten Analyse zu unterziehen, die sich zwar auf deskriptive Verfahren beschränkte, aber dennoch Antworten auf einige Forschungsfragen lieferte (u.a. die Relevanz des Alters der Befragten hinsichtlich der Regelmäßigkeit des Kulturhausbesuches). Siegfried Gruber, ein erfahrener SPSS-Anwender, führte dann im Sommer 2009 die Konsolidierung und eingehende Analyse der im Survey erhobenen Daten durch. Ich selbst befasste mich zur selben Zeit mit der Analyse der qualitativen Daten, speziell der transkribierten Interviews, wobei ich auf das Programm MaxQDA zurückgreifen konnte (QDA steht für qualitative Datenanalyse). Die resultierenden Ergebnisse

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sind in die Auswertung der vergleichenden Studie (Habeck/Donahoe/Gruber 2011: 139-152) eingegangen. Für das vergleichende Projekt war es unabdingbar, Orte von annähernd gleich großer Einwohnerzahl auszuwählen. Aufgrund meiner Forschung zur Musik- und Kulturszene in Novosibirsk war mir jedoch daran gelegen, neben dem Vergleich von fünf kleinstädtischen Untersuchungsorten auch einen Vergleich zwischen Klein- und Großstadt anzustellen. Nachdem ich also im Frühjahr 2006 als Teil der Team-Initiative meine Feldforschung in der Kleinstadt Kolyvan’ absolviert hatte, forschte ich im Juni 2007 in einem Wohnbezirk im Nordosten von Novosibirsk, um mit der gleichen Methodik die Studie in einem großstädtischen Umfeld zu versuchen. Die Arbeit mit Q1 war hier genauso erfolgreich wie im Vorjahr andernorts, aber die Durchführung des Survey viel mühsamer als erwartet. Von der Vielzahl der Gründe seien hier nur zwei genannt: eine Reihe Jugendlicher war aufgrund der beginnenden Sommerferien bereits abwesend bzw. meiner Feldassistentin und/oder mir gegenüber merklich misstrauischer, als dies in Kolyvan’ der Fall gewesen war.1 Trotz des Bemühens, die gleiche Methodik anzuwenden, kam es zu gewissen Abweichungen. So wurden die meisten Fragebögen von den Respondenten in Abwesenheit des Forschers bzw. der Forschungsassistentin ausgefüllt, was dazu führte, dass sie weniger akkurat ausgefüllt wurden. Auch konnten zum Kulturhaus Točmaševec keine Archivmaterialien gesammelt werden, da es bis Mitte der 1990er Jahre einem Betrieb zugeordnet war und mir die Direktorin signalisierte, die Suche nach den alten Unterlagen sei aussichtslos. Möglicherweise lassen sich Materialien in den Archiven der Gewerkschaften (profsojuz) finden, doch dies wäre die Aufgabe künftiger Forschungen. Die in Novosibirsk erhobenen Survey-Daten wurden ebenfalls in SPSS kompiliert, aber von den Daten der vergleichenden Untersuchung 2006 separat gehalten und nur deskriptiv ausgewertet. Die in Novosibirsk geführten Q1- und Q2-Interviews sind in den Korpus der MaxQDA-Texte einbezogen worden; bei der vergleichenden Analyse, deren Ergebnisse in Habeck, Donahoe und Gruber (2011) vorliegen, wurden sie jedoch nicht berücksichtigt.

1

Von 40 identifizierten Jugendlichen standen nur 28 für die Befragung zur Verfügung (aufgrund von Abwesenheit oder Ablehnung der Teilnahme). Die 28 befragten Jugendlichen lebten in Haushalten mit insgesamt 57 weiteren Angehörigen im Alter ab elf Jahren, davon nahmen 53 an der Befragung teil, 4 nahmen nicht teil (Abwesenheit oder Ablehnung).

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ANHANG 2 F IELDWORK C HECKLIST Die Fieldwork Checklist des Vergleichenden Forschungsprojekt Social Significance of the House of Culture in Siberia wurde erstellt von Brian Donahoe, Joachim Otto Habeck, Agnieszka Halemba, Kirill Istomin, István Sántha und Virginie Vaté (Übersetzung aus dem Englischen: Joachim Otto Habeck). „DK“ steht für Dom kul’tury (Kulturhaus). Q1 bezieht sich auf die Liste der Interviewfragen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des jeweiligen Kulturhauses, Q2 bezieht sich auf die Liste der Interviewfragen für (Nicht-)Besucherinnen und Besucher des jeweiligen Kulturhauses. Informationen, die ermittelt werden sollen

Instrument/Quelle/ Respondent/in

Abschnitt A: Lage und Ausstattung Lage des DK innerhalb des Ortes Erreichbarkeit (Anbindung an den öffentlichen Personenverkehr) Äußere Erscheinung des Gebäudes, Umfeld (Park) Anzahl der (Neben-)Gebäude, ihre Funktion Baulicher Zustand des Gebäudes/der Gebäude Wann wurde das Hauptgebäude errichtet? Welche Organisation hat es errichtet? Seit wann existiert ein DK in dieser Gemeinde? Andere Organisationen/Firmen, die die Räume des DK mieten bzw. anderweitig nutzen Größe und Funktion der Räume − Grundfläche des DK-Hauptgebäudes − davon genutzt für die eigentlichen Aktivitäten des DK − Auditorium (mind. 100 Sitze) vorhanden? − Anzahl großer Räume (50 bis 100 Sitze) − Anzahl kleinerer Räume − Anordnung der Räume − Funktion und Zustand der Räume Nennenswerte (speziell technische) Ausstattung − Telekommunikation einschließlich Internet

Zeichnung anfertigen Busfahrplan, Tarife etc. Fotos Fotos/Direktor/in Fotos/Direktor/in DK-Akten/Direktor/in DK-Akten/Direktor/in DK-Akten/Direktor/in Direktor/in DK-Akten, eine Führung durchs DK mit einer oder einem Angestellten, Fotos

Zeichnung anfertigen Tätigkeitsberichte des DK, DK-Angestellte, Fotos

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− − − − − − −

Bibliothek Audiothek, Tonträgersammlungen Andere Medien zur Ausleihe Musikinstrumente Lautsprecher, anderes akustisches Zubehör Projektoren, Kameras, Videorecorder Bühne, Bühnentechnik (Beleuchtung etc.)

Abschnitt B: Organisation und Geschichte der Einrichtung, Personal Welcher Organisation untersteht das DK? (Forscher/in sollte Kontakt mit dieser Organisation aufnehmen) Hat das DK einen bestimmten Tätigkeitsfokus? Wenn ja, seit wann? Geschichte der Einrichtung − Welcher Organisation unterstellt? − Gab es jemals einen Standortwechsel? − Wie hat sich die Zahl der Angestellten über die Jahre entwickelt? − Wie haben sich andere messbare Kriteria über die Jahre entwickelt? − Gab es über die Jahre Änderungen in der Struktur der DK-Berichterstattung? Organisationsstruktur (möglichst detailliertes Organigramm anfertigen, dabei auch die technischen Angestellten berücksichtigen)

Personal (nur die für Kulturarbeit zuständigen Personen, nicht das techn. Personal) − Alter und Geschlecht der Angestellten − Berufliche Ausbildung und Praxis − Wieviele Jahre Arbeitserfahrung? − Seit wann hat er/sie in diesem DK gearbeitet? − Seit wann hat er/sie in diesem Ort gewohnt? − Alter und Geschlecht der Angehörigen (die im selben Haushalt wohnen) Wichtige nichtkommerzielle Partnerorganisationen in der Gemeinde

Q1, DK-Akten

Q1, DK-Akten Q1, DK-Akten, Archivmaterialien

Direktor/in, Unterlagen der Personalverwaltung soweit zugänglich, andere Akten. Zeichnung anfertigen Angestellte des DK, Unterlagen der Personalverwaltung soweit zugänglich

Direktor/in

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− Schulen − Musikschule − Vereine, Verbände, Organsiationen (obščestvennye organizacii) − andere Wichtige kommerzielle Partnerorganisationen in der Gemeinde − Örtliche Betriebe als Kunden des DK (z.B. als Auftraggeber für Betriebsfeiern im DK) − DK als Kunde örtlicher Betriebe (z.B. als Käufer von Geräten u. Verbrauchsmitteln) Abschnitt C: Aktivitäten, Veranstaltungen, Ereignisse Liste der Gruppen (Zirkel [kružki], künstlerische Kollektive, Hobby-Gruppen usw.) − Seit wann besteht die Gruppe? − Alter und Geschlecht der leitenden Person − Berufliche Qualifikation dieser Person − Ist sie/er vom DK angestellt oder auf vertraglicher Grundlage tätig? − Anzahl der Personen (weiblich/ männlich) − Altersspanne und durchschnittliches Alter − Wo, wann und wie lange treffen sie sich? − Was tun sie während der Treffen? Entwicklung der Gruppen − in den letzten drei bis fünf Jahren − (über längere Zeiträume, falls Daten vorhanden) Liste der Veranstaltungen und Feste (Proben u.a. interne Treffen der Gruppen fallen nicht darunter) − laut Plan − Abweichungen vom Plan? (Weshalb?) − Einschätzung der Hauptzielgruppe − Einschätzung der Beliebtheit des Events Organisation der Veranstaltungen und Feste − die Person, die hauptsächlich mit der Organisation betraut ist − andere beteiligte Personen − auswärtige Solisten/ Ensembles

Liste von Direktor/in erbitten, dann die Namen der Gruppen im Survey bei Frage 16 einsetzen. Angaben der Plakate usw. notieren. Direktor/in und Leiter/in selbst fragen. Prüfen, ob es Tätigkeitsberichte gibt. An einigen Treffen oder Proben teilnehmen Berichte (falls vorhanden) und andere DK-Akten. Gruppenleiter/in fragen. Archivmaterialien

DK-Arbeitspläne Q1 Q1 Q2 Ein oder zwei größere Veranstaltungen auswählen, detaillierte Interviews und teilnehmende Beobachtung durchführen

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− − − − − − − − − − −

Angaben zum Planungsablauf Szenario der Veranstaltung Werbung für das Event Durchführung: Proben Durchführung: Gestaltung der Bühne Geräte, Ausrüstung, Kleidung Ausgaben für die Veranstaltung Einkünfte aus Eintrittskarten usw. Saalordner, Sicherheitsmaßnahmen Tatsächliche Dauer der Veranstaltung Anzahl der Besucher

(dabei die Person, die hauptsächlich mit der Organisation betraut ist, so lange/häufig wie möglich begleiten)

Abschnitt D: der Blick von außen – Besucher/innen, darunter aktiv teilnehmende Personen Durchschnittliches Monatseinkommen in der Region Einzugsgebiet des DK (woher kommen die Besucher/innen?) Survey-Daten Q2-Daten

Möglicherweise aus dem Internet, in der örtlichen Verwaltung fragen Anhand der Wohnorte der im Survey befragten Personen ermitteln Survey (Instruktionen berücksichtigen) Q2 (Instruktionen berücksichtigen)

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ANHANG 3.1 S URVEY -F RAGEBOGEN Der Survey-Fragebogen des Vergleichenden Forschungsprojekts Social Significance of the House of Culture in Siberia wurde erstellt von Brian Donahoe, Joachim Otto Habeck, Agnieszka Halemba, Kirill Istomin, István Sántha und Virginie Vaté. Instructions for Researchers and Research Assistants The survey requires a random sample of all ninth-grade students in your town. 1. On arrival in the community, find out how many schools there are with a ninth grade. 2. Compile a list with the names of all ninth-grade students. Simply put class after class (it does not have to be in alphabetical order). 3. Use the random table to identify thirty students for surveying. 4. Contact the selected students via their teachers. 5. Ask the respective students for their help and co-operation. Ask him or her to fill in the survey form (with your own help or with the help of or your assistant). This should preferably be done in a quiet place at school. Tear off the first page of the survey form and give it to the student (it contains info on research ethics). 6. After that, ask the student for an appointment at his or her flat or house. 7. Either you or the fieldwork assistant or both of you go to the flat and fill in one survey form for each person who lives there. Conduct the survey with all individuals living there, except for: a. anybody younger than 11 years of age; b. anybody who has lived less than a year in the community (village or town); c. and anybody who is employed by the House of Culture (because the survey is about DK visitors only). 8. Be persistent, don’t give up! It is important to conduct the survey with all people living there. The higher the response rate, the better the results. However, it is also necessary to comply with research ethics and inform people about their right to refuse participation. Tear off the first page of one questionnaire and leave it with the household members (one info sheet per household should be enough). 9. It is necessary to get individual data. If people do not want to be interviewed individually then the only way is to work with more than one survey form simultaneously. This means that you ask several people one question and write down their replies on their individual survey forms.

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10. Write a number in the right-hand top corner of the survey form. Use 1-1 for the first student you selected, 1-2 for another person in that flat, 1-3 for another person in that flat, etc. Use 2-1 for the second student you selected, 2-2 for another person in that flat, 2-3 for another person in that flat, etc. 11. On a separate sheet of paper, write down the address, the number of the interviewee, his or her name and his or her relation to the student (whereas the student is “ego”); for example: Pushkin Street, house no. 34, flat no. 12 5-1 Ivanov Ivan Ivanovich (ego) 5-2 Ivanov Ivan Akimovich (father) 5-3 Ivanova Larisa Klement'evna (mother) 5-4 Ivanova Nina Ivanovna (older sister) 5-5 Terent'eva Oksana Petrovna (ego’s mother’s mother’s sister) 5-6 Stepanov Stepan Stepanovich (unrelated) Keep this sheet of paper separate and in a safe place (in order to maintain anonymity). All data is to be treated as confidential. 12. If there are any members of the household with whom you have not been able to complete a survey form, make a note of the circumstances (e.g., “elder brother, age 18, in army”). 13. Once you have completed eighty surveys, you are finished (even if the number of students/households is fewer than thirty). But make sure that you have interviewed all members in the last household. (For example, if you have already done seventy-eight survey forms and now visit a household with five members, you conduct the survey with all of them and get eighty-three surveys in total.) If you want, you may conduct the survey with additional people (living in the flats of ninth-grade students selected by using the random table). If you have conducted the survey with thirty students and their household members but not reached the necessary number of eighty surveys, continue to identify students with the random table and proceed as described above. Survey Information Sheet (English translation) What is this survey all about? This survey is a component of a research project carried out by the Siberian Studies Centre, Max Planck Institute for Social Anthropology. The purpose of the project is to conduct comparative scientific fieldwork on the significance and current situation of Houses of Culture in different parts of Siberia and the Far East [of the Russian Federation]. The project is supported by the Siberian Branch of the Russian Academy of Sciences [in Novosibirsk].

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For our research project, we intend to conduct a survey with at least 400 inhabitants living in five different places, located in different regions of Siberia and the Far East. Your family has been selected for interviewing through a process of random sampling among the families in the village or town with at least one child in ninth grade. Participation in this survey is completely at your discretion, and of course you retain the right to refuse. However, the success of this research project depends essentially on your willingness – and also the willingness of your family members and all those who live with you at your place – to participate in the survey. Therefore we would highly appreciate it if you could take part and help our researcher fill in the survey form. Filling in the survey requires some thirty to forty minutes per person only. We need to know your first name and surname for data analysis; however, your name will not be indicated on the survey form and thus your replies will remain entirely anonymous. We promise that your identity will not be disclosed in any publication of the research results. We also promise to send a summary of the generalized research results to the local Department of Culture in the administration of the district where you live. Should you have any questions about the project, do not hesitate to contact the researcher – either now or in the future. The contact details are below. Thank you very much in advance for your help. [Names of researcher and research assistant(s), address of the research institute] Survey Form (English translation) Some information about you: 1 Are you …

male

female

2 How old are you? 11-15 21-25 31-35 41-45 51-55 61-65 older than 70

16-20 26-30 36-40 46-50 56-60 65-70

3 Do you have … Husband or wife/a spouse (regardless of whether officially registered or not)

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Children (how many? _____) Grandchildren (how many? _____) Mother Father Grandmother Grandfather 4 How many people, including yourself, live in your flat or house? __________ 5 How long have you been living in this village/town? I have already been living here for __________ years I have been living here all my life 6 What is your educational background? Completed middle school Completed high school Middle school with additional vocational training Three-year postsecondary degree Completed university 7 What is your nationality? _______________________ 8 What is your native language? _______________________ 9 What language do you speak most commonly? _______________________ 10 Have you visited the local House of Culture at least once in the last three years (the House of Culture in [Anadyr'/Kolyvan'/Kosh-Agach/Kurumkan/ Shagonar])? Yes, more or less often continue with question 11 No, I have not been there once in the last three years turn directly to question 17

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If you answered “Yes” to question 10

11 When did you visit the local House of Culture the last time? In ___________ (month) ________ (year) 12 How often do you visit this House of Culture? (One answer only, please) Almost every day A few times a week A few times a month A few times a year Less than once a year Difficult to answer 13 What did/do you do in the House of Culture? (Check all that apply) I go there on public holidays I participate in hobby groups [circles, kruzhki] I go to concerts I go to the disco I watch movies I go to the gym [at the House of Culture] I go to gatherings and meetings I go to exhibitions I go to the library in the House of Culture I attend meetings of organizations [and associations] Other reply: ___________________________ Difficult to answer 14 Which public holidays are celebrated in the House of Culture? Which holidays do you take part in? Celebrated Participate New Year’s Eve 7 January 23 February 8 March 1 May 9 May 4 November Other: ____________ Other: ____________ Other: ____________

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15 Are there national [ethnically specific] holidays that are celebrated in the House of Culture? If so, which ones? Do you take part in them? Celebrated Participate Title: _____________ Title: _____________ Title: _____________ Title: _____________ Titlе: _____________ Titlе: _____________ National holidays are not celebrated in the House of Culture 16 What hobby groups [circles, kruzhki] or artistic groups do you take part in? [The person conducting the survey provides a list of groups registered in the local House of Culture] Title: _____________ Title: _____________ Titlе: _____________ Titlе: _____________ Titlе: _____________ Titlе: _____________ I do not participate in any such groups Continue

turn to question 18

If you answered “No” to question 10 17 Why did you never go to the House of Culture? (Check all that apply) I was not in our village/town I do not have spare time If I am free, the House of Culture is usually closed I do not know what is going on there I am not interested in what is going on there The House of Culture is located too far away from my house/place I do not like the physical conditions at the House of Culture (heating, facilities, lighting, etc.) I do not get along with some of the staff members of the House of Culture

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I do not go to this, but to another House of Culture ___________________ Other reason: ___________________ Difficult to answer Continuе

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Which one?

question 18

All respondents to answer the questions below 18 How often do you pursue the activities listed below in your free time? Tick one box in each row, please. Listening to music Reading Sitting at home in front of a computer Going to an internet café Going to a gaming parlor [slot machines] Watching TV at home Going to the cinema Going to a café Meeting friends (at their or my place) Sports and training Fishing, hunting, collecting berries/mushrooms Shopping 19 I would go to the House of Culture more often if … (Check all that apply) If I spent more time in our village/town If I had more spare time If the House of Culture was open more frequently If I knew more about what is going on there If people there organized more interesting activities and events If it was easier to get to the House of Culture If the physical conditions at the House of Culture (heating, facilities, lighting, etc.) were better If the House of Culture had a different collective of workers If the price of tickets (for events) was lower If it was easier to obtain tickets If there was disco with good music If the visitors behaved better

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If in the House of Culture rules and regulations were better observed and enforced If there were more interesting hobby groups [circles, kruzhki] I would not go to the House of Culture under any conditions Other reply: ___________________ Difficult to answer Tell us, please, to what extent you (dis-)agree with the following statements: I completely agree

I rather agree

I rather disagree

I completely disagree 20 The House of Culture is important for our community 21 The House of Culture hosts interesting events 22 The House of Culture needs more support 23 The House of Culture is a remnant of old times

24 Is there anybody among your relatives or friends who goes to the House of Culture more frequently than once in a month?

almost never

a few times a month

every day

Mother Father Spouse Son/daughter

a few times a week

If there is anybody, how often do you talk with him/her?

less than once in a month

No, there is nobody among my relatives and friends who goes to the House of Culture that frequently

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Brother/sister Grandfather/grandmother Grandson/granddaughter Friend Other(s) (who?) ______________ 25 Is there anybody among your relatives or friends who officially works the House of Culture?

Mother Father Spouse Son/daughter Brother/sister Grandfather/grandmother Grandson/granddaughter Friend Other(s) (who?) ______________ 26 What is your occupational status? (One answer only, please) Student at school Student, vocational Student at university Military Employee Entrepreneur/self-employed Unemployed Unemployed, on the official unemployment register Pensioner, but working Pensioner, not working

almost never

a few times a month

every day

a few times a week

If there is anybody, how often do you talk with him/her?

less than once in a month

No, there is nobody among my relatives and friends who officially works the House of Culture

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Pensioner from disability Other reply: _____________ Difficult to answer 27 In which sector do you work? If you currently do not work, indicate the sphere of activity in which you were engaged most recently. (One answer only, please) Agriculture Industry Transport and telecom Trade and business Culture and arts Education and science Medical services Security and law State official Armed forces I have never worked officially Other reply: _____________ Difficult to answer 28 What is the designation of your specific occupation? ________________________________________ 29 What are the main sources of your family’s income? (Check all that apply) Salary/wages Pension payments Own plot of land/farm Hunting and fishing Other reply: _____________ Difficult to answer 30 Who is/are the main breadwinner(s) of your family? (One answer only, please) I myself My spouse My spouse and I together Son/daughter Mother/father

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Grandfather/grandmother Other reply: _____________ Difficult to answer 31 Please indicate the approximate total income per month of your family. less than 2000 rub. 2000-4000 rub. 4000-6000 rub. 6000-8000 rub. 8000-10000 rub. more than 20000 rub.

10000-12000 rub. 12000-14000 rub. 14000-16000 rub. 16000-18000 rub. 18000-20000 rub.

Thank you very much for your help. Let us know, please, if you have any comments.

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ANHANG 3.2 S URVEY -E RGEBNISSE Einige der in Kapitel 2 erwähnten Ergebnisse des Surveys sollen hier graphisch präsentiert werden. Dazu dienen sechs Diagramme (Habeck/Donahoe/Gruber 2011). Sie enthalten die Ergebnisse für die Survey-Fragen 12 und 20 bis 23. Abbildung 25: Survey question 12 = „How often do you visit the House of Culture?“

„Frequency of visits to the House of Culture by locations. Black: visiting often (at least several times per month); checkered: visiting occasionally; grey: never visiting. Anadyr': n=64; Kolyvan': n=101; Kosh-Agach: n=73; Kurumkan: n=93; Shagonar: n=97; total n=428.“ (Habeck/Donahoe/Gruber 2011: 139)

Abbildung 26: Survey question 12 = „How often do you visit the House of Culture?“

„Frequency of visits to the House of Culture by occupational status. Black: visiting often (at least several times per month); checkered: visiting occasionally; grey: never visiting. ‚Still in education‘: n=191; ‚working‘: n=154; ‚not working‘: n=82; total n=427“ (Habeck/Donahoe/Gruber 2011: 140)

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Abbildung 27: Survey question 20 = „The House of Culture is important for our community“

„Agreement to the statement … by location. Black: strongly disagree; checkered: rather disagree; light grey: rather agree; dark grey: strongly agree. Anadyr': n=64; Kolyvan': n=101; Kosh-Agach: n=73; Kurumkan: n=93; Shagonar: n=97; total n=428.“ (Habeck/Donahoe/Gruber 2011: 148)

Abbildung 28: Survey question 21 = „The House of Culture hosts interesting events“

„Agreement to the statement … by location. Black: strongly disagree; checkered: rather disagree; light grey: rather agree; dark grey: strongly agree. Anadyr': n=64; Kolyvan': n=101; Kosh-Agach: n=73; Kurumkan: n=93; Shagonar: n=97; total n=428.“ (Habeck/Donahoe/Gruber 2011: 149)

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Abbildung 29: Survey question 22 = „The House of Culture needs more support“

„Agreement to the statement … by location. Black: strongly disagree; checkered: rather disagree; light grey: rather agree; dark grey: strongly agree. Anadyr': n=64; Kolyvan': n=101; Kosh-Agach: n=73; Kurumkan: n=93; Shagonar: n=97; total n=428.“ (Habeck/Donahoe/Gruber 2011: 150)

Abbildung 30: Survey question 23 = „The House of Culture is a remnant of old times“

„Agreement to the statement … by location. Black: strongly disagree; checkered: rather disagree; light grey: rather agree; dark grey: strongly agree. Anadyr': n=64; Kolyvan': n=101; Kosh-Agach: n=73; Kurumkan: n=93; Shagonar: n=97; total n=428.“ (Habeck/Donahoe/Gruber 2011: 151)

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ANHANG 4.1 L ISTE DER I NTERVIEWFRAGEN Q1 Die Liste der Fragen für die Q1-Interviews des Vergleichenden Forschungsprojekts Social Significance of the House of Culture in Siberia wurde erstellt von Brian Donahoe, Joachim Otto Habeck, Agnieszka Halemba, Kirill Istomin, István Sántha und Virginie Vaté. Instructions for Researchers and Research Assistants 1. Q1 is to be conducted with a. the Director of the House of Culture; b. one of the specialists (“methodologists,” metodisty); c. one of the heads/instructors of hobby groups/artistic collectives; d. plus one (or several) employees of the House of Culture under study, but not from among the technical staff. 2. Interviewees may want to see the interview questions before they agree to participate. Give them the printed version of the questionnaire (they may want to keep it). You do not have to fill in the questionnaire (nor do they). Ask them whether you may record the interview. If they do not agree, make sure that you write down their replies. 3. Before you start, write down the date and the time the interview started. When the interview is finished, write down the time the interview ended, whether there were major disturbances or people who interfered during the interview, and check whether the recording is OK. 4. As the interview is likely to be long, you may interrupt it and continue on another day. Questionnaire 1 (English translation) Purpose and activities of cultural institutions 1. 2. 3. 4.

How would you describe what a House of Culture is? What is the main purpose of the Houses of Culture? How does the House of Culture where you work realize this purpose? What are, in your opinion, the most important events that happen in the course of the week? 5. What are, in your opinion, the most important events that happen in the course of the year? 6. How do you define success of the House of Culture where you work?

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7. What are the official criteria whereby the success of cultural institutions is determined? Visitors 8. What do visitors expect from the work of the local House of Culture? 9. Are there any mechanisms to find out their expectations and preferences? If so, what are they? 10. What are the House of Culture’s main groups of visitors? 11. How would you characterize those who do not visit the House of Culture? 12. What are the reasons for them not visiting the House of Culture? What do you think do they do instead? 13. How do you try to attract people to the House of Culture? Are there any specific methods or strategies for that? 14. How, in your opinion, do the inhabitants of [Anadyr'/Kolyvan'/Kosh-Agach/ Kurumkan/Shagonar] assess the work of the local House of Culture? 15. Do you think that the location of the House of Culture’s building within the village/town is appropriate? Regional particularities and social conditions 16. What nationalities live in [Anadyr'/Kolyvan'/Kosh-Agach/Kurumkan/Shagonar] and how is their presence reflected in the work of the local House of Culture? 17. How do you assess the influence of social and economic changes in your village/town over the last fifteen years (the last five years) on the performance of the local House of Culture? 18. How can you and your colleagues respond to these changes? Everyday work 19. What are the problems that you have to grapple with in your everyday work? 20. Give a short description of a typical day at work, please. 21. Which aspects of your work do you like best? 22. Which aspects of your work do you find most unpleasant? 23. Who are the people that you work with most intensively in your work? What positions do they have? Strategies and future prospects for Houses of Culture 24. What role should governmental (municipal) support play in the work of cultural institutions?

A NHÄNGE

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25. Should commercial organizations play any role in the work of cultural institutions? If yes, what role should they have? 26. What should the state policy vis-à-vis cultural institutions be? 27. Some people think that the House of Culture is a remnant of old times (that is, a remnant of the cultural-enlightenment approach that existed in the Soviet period). What do you think about this? 28. What are the main tasks in the future work of the House of Culture where you work? 29. If you had enough money at your disposal, how would you improve the situation and work of the House of Culture where you work? 30. How would you imagine the ideal House of Culture in your village/town? Questions related to terminology 31. How do you understand the word “culture” (kul'tura)? (If you want, you may give examples.) 32. How do you understand the word “cultured behavior” (kul'turnoe povedenie)? (If you want, you may give examples.) Finally, some words about you: 33. Since when have you been working in this House of Culture? What positions have you had thus far? 34. Where did you work before you came here? 35. How and where did you obtain the training/skills that are needed for working in the sphere of culture? 36. What attracted you to work in the sphere of culture? 37. Where were you born? If you were not born here, when did you move here? 38. What is your year of birth? 39. What is your nationality? 40. What is your native language? 41. What language do you speak most commonly? Thank you very much for your help.

290 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND

ANHANG 4.2 L ISTE DER I NTERVIEWFRAGEN Q2 Die Liste der Fragen für die Q2-Interviews des Vergleichenden Forschungsprojekts Social Significance of the House of Culture in Siberia wurde erstellt von Brian Donahoe, Joachim Otto Habeck, Agnieszka Halemba, Kirill Istomin, István Sántha und Virginie Vaté. Instructions for Researchers and Research Assistants Once you are approximately halfway through with surveying, start interviewing people with Q2. 1. From among your survey respondents, select at least five people who have been to the House of Culture and five people who do not go there. 2. In addition, select at least five individuals that you find suitable as interviewees, for whatever reason (it is completely your choice). For example, you might ask individuals who take part in hobby groups, or your best friends, or your neighbor. It does not matter whether or not they go to the House of Culture. Try to find people who you think will give thoughtful and detailed responses to the questions. a. Before you conduct Q2 with any individual of this group, conduct the survey with him or her (but not with the other household members). Since these five or more individuals do not belong to the random-based sample of people, their survey forms must be clearly marked. Give them numbers starting with zero: 0-1, 0-2, 0-3, 0-4, 0-5. Write down their names and addresses on a separate sheet. b. Make sure you know which recorded interview goes with which of the survey forms. 3. Do not select a. anybody less than 11 years of age; b. anybody who has lived less than a year in the community (village or town); c. or anybody who is employed by the House of Culture (because the survey is about DK visitors only). 4. Interviewees may want to see the interview questions before they agree to participate. Give them the printed version of the questionnaire [...] [henceforward, the instructions are the same as for Questionnaire 1].

A NHÄNGE

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Questionnaire 2 (English translation) 1. 2. 3. 4. 5. 6.

In which year were you born? Where were you born? If you have children, how old are they? When you hear „House of Culture“, what comes to your mind in the first place? Does the House of Culture play an important role in your life? Why (why not)? Does the House of Culture play an important role in the life of your village/ town? Why (why not)? 7. Are there interesting events at the local House of Culture? If yes, which ones? 8. How would you describe the atmosphere in the House of Culture? 9. How would you describe the collective of workers in the House of Culture? 10. Who goes to the House of Culture? How would you describe these people – do they have anything in common? 11. Does everybody in your village/town like to visit the House of Culture? If not, who likes to go there and who does not? For what reasons? 12. If you have children, how do they spend their free time? 13. To what extent do you think the House of Culture plays an important role as a venue for relaxation? Why do you think so? 14. Does the House of Culture play an important role as a place for education (enlightenment, prosveshchenie) of the local population? Why (why not)? 15. Does the House of Culture play an important role as a place for public life? Why (why not)? 16. Does the House of Culture play an important role in the social welfare and support of your village/town? Why (why not)? 17. Does the House of Culture play an important role as a place where people can get to know each other? Why (why not)? 18. Does it happen that you meet your friends there? 19. What events and activities would you organize in the House of Culture in addition to those already taking place? 20. Can people who are not members of staff of the House of Culture organize any events on its premises? 21. Can one use the premises of the House of Culture for family functions (marriages, commemorations, etc.)? 22. Did you previously go to the House of Culture more frequently than now? Or on the contrary, do you now go there more frequently? 23. Has the House of Culture changed over the last five to ten years? If yes, how? 24. Do you remember what the House of Culture was like twenty years ago? 25. What, in your opinion, is the best thing about the House of Culture? 26. What is the worst?

292 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND

27. What could the collective of workers in the House of Culture do in order to make more people go there? 28. Does the House of Culture need more financial support? 29. Do you think that the House of Culture is a remnant of the past? Why (why not)? 30. How do you imagine the ideal House of Culture? What would it look like? What would happen there? What would be its tasks? Thank you very much for your help.

A NHÄNGE

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ANHANG 5 O RGANIGRAMM DES STAATLICH GEFÖRDERTEN K ULTURBETRIEBS IM K REIS K OLYVAN ' Abbildung 31: Organigramm des staatlich geförderten Kulturbetriebs im Kreis Kolyvan' Entwurf: Družinina 2006: 2, Übersetzung: Joachim Otto Habeck (die Namen der zuständigen Personen wurden weggelassen)

KREISVERWALTUNG KOLYVAN'

KOMMUNEN

ABTEILUNG FÜR KULTUR

Kreiseinrich-

Städtische

Kreiseinrich-

Kreiseinrichtung „Heimat-

tung „Zentra-

Bildungsein-

tung „Junost'

lisiertes Städ-

richtung für

– Kulturhaus

kundliches

12

14

tisches Biblio-

zusätzliche

von Kolyvan'“

Museum von

Kulturhäuser

Dorfklubs

thekssystem

Kinderbildung

Kolyvan'“

(SDK)

(SK)

von Kolyvan'

„Kinder-

mit Biblio-

kunstschule

thekssammel-

von Kolyvan'“

stelle

294 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND

ANHANG 6 L ISTE DER IM K ULTURHAUS K OLYVAN ’ K OLLEKTIVE

REGISTRIERTEN

Die Reihenfolge der Auflistung entspricht dem Basisdokument: Spisok kružkov, klubov, ob''edinenij na 2005-2006 god. Ergänzungen, speziell die Zitate, stammen aus einem Interview mit einer Mitarbeiterin des Kulturhauses, Ol'ga Jur'evna Bykova, am 3. Mai 2006 sowie aus weiteren Interviews (Zusammenstellung der Daten und Übersetzung: Joachim Otto Habeck). Die Namen der Leiterinnen und Leiter wurden ersetzt durch ihre Berufsbezeichnung und Funktion im Kulturhaus. Alle Leiterinnen und Leiter waren 20052006 Angestellte des Kulturhauses. Vgl. auch den Stellenplan dieses Kulturhauses in Anhang 8.1. 1. Club „Junger Tontechniker“ (klub „Junyj operator“) Leiter: Kino- und Videomechaniker; Leiter des Freizeitobjekts. Eine Kurzbeschreibung (Selbstdarstellung/Infoblatt) für Interessierte liegt vor. Existiert seit 2004, „derzeit kaum aktiv, es gibt nur eine interessierte Teilnehmerin“. 2. Kinderzirkel „Einträchtige Kinder“ (detskij kružok „Družnye rebjata“) Leiterin: Buchhalterin; Leiterin der Abteilung für die Arbeit mit Kindern und Heranwachsenden. Eine Kurzbeschreibung liegt nicht vor. „Dies sind Kinder, die nicht so gut singen oder tanzen können, aber im Kulturhaus aktiv sein und es unterstützen wollen.“ 6 Personen nehmen teil, alle weiblich, alle 15 bis 17 Jahre alt. Treffen finden zweimal pro Monat statt, außerdem Treffen zu besonderen Anlässen. 3. Vokalistenstudio „Die Glöckchen“ (vokal'naja studija „Kolokol'čiki“) Zertifiziertes „vorbildliches Kollektiv“ (obrazcovyj kollektiv) Leiterin: Chorleiterin/Gesangslehrerin; Künstlerische Leiterin dieses Kollektivs, Künstlerische Leiterin des Kulturhauses. Eine Kurzbeschreibung liegt vor. Existiert seit 2001. Etwa 25 Personen im Alter von 8 bis 13 Jahren nehmen teil, davon sind mehr als 75% weiblich. Proben finden zweimal pro Woche statt, außerdem Individualproben.

A NHÄNGE

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4. Vokalistenstudio „Die Träumer“ (vokal’naja studija „Fantazëry“) Leiterin: Chorleiterin/Gesangslehrerin; Künstlerische Leiterin des Kulturhauses. Eine Kurzbeschreibung liegt vor. Existiert seit 2003. Etwa 15 Personen im Alter von 10 bis 15 Jahren nehmen teil, davon sind mehr als 75% weiblich. Proben finden zweimal pro Woche statt, außerdem Individualproben. 5. Kinderclub der Kinofans „Cinema“ (detskij klub ljubitelej kino „sinema“) Leiterin: Buchhalterin; Administrator. Eine Kurzbeschreibung liegt nicht vor. „Das Aktiv besteht aus etwa 5 Personen, sie treffen sich nach Bedarf.“ 6. Kindertanzzirkel „Freude“ (detskij tanceval'nyj kružok „Radost'“) Leiter: Künstlerischer Leiter eines als „Volkskollektiv“ zertifizierten Tanzensembles; künstlerischer Leiter eines Kindertanzzirkels. Eine Kurzbeschreibung liegt vor. [Der Leiter erhält sein Gehalt vom Pionierhaus (Dom detskogo tvorčestva)]. „Dies ist eigentlich ein Kollektiv des Pionierhauses. Sie proben hier im Kulturhaus. Dem Leiter ist anzumerken, mit wieviel Freude er seine Kollektive betreut.“ Etwa 16 Personen im Alter von 10 bis 12 Jahren nehmen teil, davon sind 50% weiblich. Proben finden zweimal pro Woche statt. 7. Kindertanzzirkel „Hoffnung“ (detskij tanceval'nyj kružok „Nadežda“) Leiter: Künstlerischer Leiter eines als „Volkskollektiv“ zertifizierten Tanzensembles; künstlerischer Leiter eines Kindertanzzirkels. Eine Kurzbeschreibung liegt vor. „Das Kollektiv zeichnet sich aus durch sein neues Repertoire. Dem Leiter ist anzumerken, mit wieviel Freude er seine Kollektive betreut.“ Existiert seit etwa drei Jahren. Etwa 17 Personen im Alter von 9 bis 10 Jahren nehmen teil, davon sind etwas mehr als 50% weiblich. Proben finden zweimal pro Woche statt. 8. Tanzensemble „Kolyvan'sche Weiten“ (ansambl tanca „Kolyvanskie prostory“) Zertifiziertes „Volkskollektiv“ (narodnyj kollektiv) Leiter: Künstlerischer Leiter des als „Volkskollektiv“ zertifizierten Tanzensembles Eine Kurzbeschreibung liegt vor. „Existierte seit den 1950er Jahren bis zum Beginn der 1990er Jahre als Chor und Tanzgruppe, danach wurde es still um das Kollektiv, der Chor ging ausein-

296 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND

ander, aber die Tanzgruppe blieb erhalten. Etwa 1994 wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Fast alle Mitglieder sind Erwachsene.“ Etwa 16 Personen im Alter von 16 bis 30 Jahren nehmen regelmäßig teil, davon sind 50% weiblich. Proben finden zweimal pro Woche statt. 9. Schachclub (klub „Šašečnyj“) Leiter: Chormeister; Chormeister. Eine Kurzbeschreibung liegt nicht vor. Etwa 16 Personen im Alter von 14 bis 50 Jahren nehmen regelmäßig teil, 6 sind weiblich. Schachspiele finden bis zu dreimal pro Woche statt. 10. Schachclub „Intellektual“ (šachmatnyj klub „Intellektual“) Leiter: Chormeister; Chormeister. Eine Kurzbeschreibung liegt vor. Etwa 11 Personen im Alter von 40 bis 75 Jahren nehmen regelmäßig teil, davon sind weniger als 25% weiblich. Schachspiele finden sonntags zwischen 10 und 15 h statt. 11. Chor der Veteranen „Kolyvan'“ (chor veteranov „Kolyvan'“) Leiter: Chormeister; Chormeister. Zertifiziertes „Volkskollektiv“ (narodnyj kollektiv) Eine Kurzbeschreibung liegt vor. „Sehr stabiles und zuverlässiges Kollektiv, selten gibt es Absagen. Der Chor reist häufig durch den Landkreis.“ Existiert seit mindestens 1993. Etwa 30 Personen im Alter von 55 bis 75 Jahren nehmen regelmäßig teil, davon sind etwas mehr als 50% weiblich. Proben finden zweimal pro Woche von 10 bis 13 h statt, während der ausgedehnten Pause gibt es Tee und Kuchen. 12. „Geschäftsfrau“ – Club für Frauen mittleren Alters (klub „Delovaja ženščina“ dlja srednego vozrasta) Leiterin: Buchhalterin; Leiterin der Abteilung für die Arbeit mit Kindern und Heranwachsenden. Eine Kurzbeschreibung liegt nicht vor. Existierte von September 2004 bis Juni 2005. Bis zu 30 Personen im Alter von 30 bis 45 Jahren nahmen teil, überwiegend Frauen. „Das waren Abendveranstaltungen zu verschiedenen Themen, daran nahmen Frauen ganz verschiedener Berufe teil. Männer wurden als Gäste eingeladen.“ Abendliche Diskussionsrunden einmal pro Monat.

A NHÄNGE

| 297

13. Kindertanzkollektiv „Bächlein“ („Ručejki“, detskij tanceval'nyj kollektiv) Leiter: Künstlerischer Leiter eines „Volkskollektivs“ [s.o.: Kollektiv 8]. Eine Beschreibung liegt nicht vor. Das Kollektiv wurde weder in diesem noch in anderen Interviews erwähnt. 14. Vokalistenstudio „Inspiration“ für die ältere Kinder (vokal'naja studija „Vdochnovenie“ dlja detej staršego vozrasta) Leiterin: Dekorateurin; Kulturorganisatorin. Eine Kurzbeschreibung liegt vor. „Diese Gruppe besteht aus Jugendlichen. Das Problem: in Kürze werden alle ihre eigenen Wege gehen. Daher hat die Leiterin eine neue Gruppe rekrutiert, die nun wachsen kann.“ (s.u.) Existiert seit 2002. 7 Personen im Alter von 14 bis 19 Jahren nehmen teil, davon sind 2 männlich. Proben finden meist als Einzelunterricht statt. 15. Vokalistenstudio „Inspiration“ für die jüngere Kinder (vokal'naja studija „Vdochnovenie“ dlja detej mladšego vozrasta) Leiterin: Dekorateurin; Kulturorganisatorin. Eine Kurzbeschreibung liegt vor. „Das ist die Nachwuchsgruppe. Anfänglich war es eine ganze Klasse von Schulkindern der 1. Klasse, davon sind diejenigen, die Talent zeigten, übriggeblieben.“ Existiert seit 2004. 7 Personen im Alter von 7 bis 8 Jahren nehmen teil, davon sind 2 männlich. Proben finden meist als Einzelunterricht statt. 16. Folklore- und ethnographisches Ensemble für Kinder „Die Gute Stube“ (detskij fol'klorno-etnografičeskij ansambl' „Svetlica“) Leiter: Pädagoge für Folklore- und ethnographische Kollektive; Chormeister. Eine Kurzbeschreibung liegt vor. „Derzeit gibt es nur geringen Enthusiasmus. Die Gruppe hatte auf neue Kostüme gehofft, aber bisher nicht erhalten. Es ist eine Tanz- und Gesanggruppe, die zu den traditionellen Feiertagen wie Fastnacht oder auch in der Weihnachtszeit auftritt, außerdem spielen sie Puppentheater und stellen Behälter aus Birkenrinde her.“ Existiert etwa seit 2002. Etwa 10 Personen im Alter von 11 bis 12 Jahren nehmen teil, davon sind 3 oder 4 männlich. Proben/Treffen finden zweimal pro Woche statt.

298 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND

17. Folklore-Studio für Erwachsene „Weite Felder“ („Razdol'e“, fol'klornaja studija dlja vrozlych) Leiterin: Chorleiterin/Gesangslehrerin; Künstlerische Leiterin des Kulturhauses. Eine Kurzbeschreibung liegt vor. „Diese Gruppe besteht aus fünf Mitarbeiterinnen des Kulturhauses, die ihre gemeinsamen Auftritte zu verschiedenen Anlässen zum Anlass nahmen, ihre Proben zu intensivieren und ein Kollektiv zu etablieren.“ Das Repertoire besteht aus russischen Volksliedern und eigenen Kompositionen. Existiert seit 2004. 5 Frauen im Alter von 35 bis 40 Jahren. „Es gibt Männer, die sich der Gruppe anschließen wollen“. Proben finden nach Vereinbarung statt, das heißt, wenn alle dafür Zeit finden. 18. Kindertanzkollektiv „Altersgenosse“ („Rovesnik“), [ehem.] zertifiziertes „vorbildliches Kollektiv“ (obrazcovyj kollektiv) Leiterin: Leiterin dieses Kollektivs. Sie hat seit 2003 die Leitung übernommen, als die damalige Leiterin den Posten der Direktorin des Kulturhauses erhielt. Das Kollektiv hatte schon mehrere Jahrzehnte existiert und den Status eines „vorbildlichen Kollektivs“ erhalten, der aber [nach 2003] aberkannt wurde. Die alte Gruppe zerstreute sich, unter der neuen Leiterin nehmen nun 6 bis 8 Mädchen teil, alle etwa um die 14 Jahre alt. Internationales Repertoire. „Als sie [zum Lied „Hit the Road, Jack“] um die Stühle herumgetanzt sind, haben wir hinter den Vorhängen gestanden und auch zugeschaut – für uns war das auch das erste Mal … Auf uns Ältere wirkt das alles schon ein bisschen wild (nemnožečko dikovato vsë ėto).“ Proben finden dreimal pro Woche statt. 19. Studio für Gesellschaftstanz „Flamingo“ („Flamingo“, studio bal'nogo tanca) Leiterin: Leiterin eines Zirkels bzw. einer Hobbygruppe. Eine Kurzbeschreibung liegt vor. „Wir sind begeistert von der Leiterin, es ist nicht einfach, eine Spezialistin für Gesellschaftstanz zu bekommen, zumal hier auf dem Lande. Es kommen ständig neue Kinder zu dieser Gruppe hinzu. Hauptsächlich lernen sie sportliche Gesellschaftstänze“, u.a. lateinamerikanische. Existiert seit 2004. Etwa 40 Personen im Alter von 4 bis 17 Jahren nehmen teil, davon sind etwa 30% männlich. Proben finden „regelmäßig“ statt, darüber hinaus auch Einzelunterricht. 20. Tanzensemble „Davty“ („Davty“, ansambl' tanca) Leiterin: Ballettmeisterin. Spezialisiert auf orientalische Tänze.

A NHÄNGE

| 299

Existiert seit etwa 2003. Zwei Gruppen mit je 8 bis 10 Personen im Alter von 10 bis 15 Jahren nehmen teil. Bis vor kurzem nur Mädchen, mittlerweile auch einige Jungen. Proben finden mehrmals wöchentlich statt. 21. Club für Jugendliche „Vorstoß“ („Prodviženie“, molodežnyj klub) Leiterin: Administratorin des Kulturhauses (in betreuender Funktion, nimmt nicht selbst teil) Eine Kurzbeschreibung liegt vor, dort nennt sich der Club „Sibirskij ekspress“. Spezialisiert auf KVN [Klub veselych i nachodšivych, vgl. Kapitel 7, Anm. 32]. Existiert seit etwa 2003. 10 bis 14 Jugendliche nehmen regelmäßig teil, davon sind 50% weiblich. Einige Teilnehmende wohnen in anderen Orten des Landkreises (viele Teilnehmenden sind eng miteinander befreundet). Treffen nach Bedarf. Zu den Kollektiven, die auf der eingangs genannten Liste verzeichnet sind, ist ein weiteres hinzugekommen: „Konfetti“, ein Tanzzirkel für Kinder im Alter von 7 bis 15 Jahren. Proben finden zweimal wöchentlich in Kleingruppen statt, an bestimmten Wochenenden proben alle gemeinsam.

300 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND

ANHANG 7.1 S TELLENPLAN DES K ULTURHAUSES K OLYVAN ’ (2005) [Übersetzung: Joachim Otto Habeck. Wiedergegeben sind hier nur die ersten drei Spalten; die weiteren Spalten, aus denen die Vergütung in Rubeln hervorgeht, wurden weggelassen.] Ich bestätige: (Utverždaju:) Personalbestand 44 Einheiten (Štat v količestve 44 edinic) Leiter der Abteilung für Kultur (Načal'nik otdela kul'tury) [Unterschrift] N.S. Družinina STELLENPLAN (ŠTATNOE RASPISANIE) des Kreiskulturhauses „Junost'“, Kolyvan', zum 1. Januar 2005 (Rajonnogo Doma Kul’tury „Junost'“ r.p. Kolyvan' na 1 janvarja 2005 goda) VergütungsStelle kategorie (kol-vo (razrjad opl.) edinic) 111. Vergütungsgruppe gemäß der Tarifverordnung (111 gruppa oplaty truda po ETS) 1. Direktor (direktor) 1 13 2 2. Künstlerischer Leiter (chud. rukovoditel') 1 12 3. Programmist (programmist) 1 10 Abteilung für Kultur- und Freizeitarbeit (Otdel kul'turno-dosugovoj raboty) 1. Leiter des Freizeitobjekts (zavedujuščij dosu1 11 govym ob''ektom) 2. Leiter der Abteilung für die Arbeit mit Kinder 1 11 und Heranwachsenden (zav. otdelom po rabote s det'mi i podrostkami) 3. Regisseur (režisser) 1 11 4. Fachkraft für Methodik (metodist) 1 10 5. Kulturorganisator (kul'torganizator) 1 8 6. Administrator (administrator) 1 8 Künstlerisch-kreative Arbeit (chudožestvenno-tvorčeskaja rabota) 1. Leiter der Abteilung (zav. otdelom) 1 11

Bezeichnung der Funktion (naimenovanie dolžnosti)

2

Das Direktorengehalt wird monatlich um 100% aufgestockt.

A NHÄNGE

| 301

2. Ballettmeister (baletmejster) 1 9 3. Tonregisseur (zvukorežisser) 1 8 4. Designer (chudožnik-oformitel') 1 10 5. Chormeister (chormejster) 1 10 Als „Volkskollektiv“ zertifiziertes Tanzensemble „Kolyvanskie prostory“ (Narodnyj kollektiv Ansambl tanca „Kolyvanskie prostory“) 1. Künstlerischer Leiter (chud. rukovoditel') 1 12 2. Musikalischer Begleiter (akkompaniator) 1 8 Als „vorbildlich“ zertifiziertes Kinderkollektiv Vokalistengruppe „Kolokol'čiki“ (Obrazcovyj detskij kollektiv vokal'naja gruppa „Kolokol'čiki“) 1. Künstlerischer Leiter (chud. rukovoditel') 1 12 2. Chormeister (chormejster) 1 8 3. Leiter eines Zirkels, Hobbygruppe 2 8 (rukovoditel' kružka kluba po interesam) Abteilung für künstlerische Erziehung durch Filme (otdel chudožestvennogo vospitanija sredstvami kino) 1. Leiter der Abteilung (zav. otdelom) 1 11 2. Fachkraft für Methodik (metodist) 1 8 3. Operator (operator) 1 8 4. Kinomechaniker (kinomechanik) 1 5 Als „Volkskollektiv“ zertifizierter „Veteranenchor“ (Narodnyj kollektiv „Chor veteranov“) 1. Chormeister (chormejster) 1 13 2. Musikalischer Begleiter (akkompaniator) 1 8 Technischer Dienst (služba obsluživanija) 1. Arbeiter zur umfassenden Wartung d. Gebäude 4 4 (rabočij po kompleksnomu obsluživaniju zdanij) 2. Kostümbildner (kostjumer) 1 6 3. Schlosser-Elektriker (slesar'-ėlektrik) 1 6 4. Kontrolleur (kontroler) 2 1 5. Kassierer (kassir) 1 3 6. Hausmeister (dvornik) 1 1 7. Inspektor für Brandschutz (inspektor po pro4 5 tivopožarnoj bezopasnosti) 8. Garderobier (garderobščik) 2 1 9. Sekretär (deloproizvoditel’) 1 3 1 1 10. Arbeiter (rabočij) GESAMTZAHL: 44 Hauptbuchhalter [Unterschrift, Name]; Direktor des RDK „Junost'“ [Name]

302 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND

ANHANG 7.2 S TELLENPLAN DES D ORFKULTURHAUSES P ONOMAREVKA (2005) [Übersetzung: Joachim Otto Habeck. Wiedergegeben sind hier nur die ersten drei Spalten; die weiteren Spalten, aus denen die Vergütung in Rubeln hervorgeht, wurden weggelassen.] Ich bestätige: (Utverždaju:) Personalbestand 8 Einheiten (Štat v količestve 8 edinic) Leiter der Abteilung für Kultur (Načal'nik otdela kul'tury) [Unterschrift] N.S. Družinina STELLENPLAN (ŠTATNOE RASPISANIE) des zentralisierten Klubsystems von Ponomarevka, Landkreis Kolyvan', zum 1. Januar 2005 (Ponomarevskoj centralizovannoj klubnoj sistemy Kolyvanskogo rajona na 1 janvarja 2005 goda) Bezeichnung der Funktion (naimenovanie dolžnosti)

Stelle (kol-vo edinic) Dorfkulturhaus Ponomarevka (Ponomarevskij SDK) 1. Direktor (direktor) 1 2. Fachkraft für Methodik (metodist) 1 3. Musikalischer Begleiter (akkompaniator) 1 1. Reinigungskraft (uborščica) 1,5 2. Heizer (kočegar') 2 GESAMTZAHL: 6,5 Dorfklub Chochlovka (Chochlovskij SK) 1 1. Leiter des Dorfklubs (zav. klubom) 2. Reinigungskraft (uborščica) 0,5 GESAMTZAHL: 1,5 GESAMTZAHL FÜR DAS SYSTEM: 8 Hauptbuchhalter [Unterschrift, Name]

Vergütungskategorie (razrjad opl.)

11 7 7 1 2

11 1

A NHÄNGE

ANHANG 8.1 ARBEITSPLAN DES K ULTURHAUSES K OYLVAN ' 2006

FÜR

| 303

M AI

[Übersetzung: Alexander Seidel. In der Spalte „Verantwortlicher“ wurde anstelle des Namens die Bezeichnung der Position der entsprechenden Person eingesetzt; falls sie mehrere Positionen innehat, so wird nur die Position mit der höchsten Vergütung genannt.] ARBEITSPLAN DES KULTURHAUSES „JUNOST’“ FÜR MAI 2006 Bezeichnung der Veranstaltung

Datum

Uhrzeit

Veranstaltungsort

Verantwortlich

Konzert der künstler. Kollektive des Kulturhauses „Wohin führen Kinderwünsche“ Trickfilm für Kinder

01.05.

11.00 h

Auditorium

[Künstlerische Leiterin]

04.05.

12.00 h

Auditorium

[Administrator]

Vorführung Kunstfilm

04.05.

19.00 h

Auditorium

[Administrator]

Festtagskonzert anlässlich des 61. Jahrestages des Sieges „[Alles Gute] zum Fest!“ Kundgebung (miting) anlässlich des [61.] Jahrestages des Sieges „Salut auf den Sieg!“ Festtagskonzert anlässlich des 61. Jahrestages des Sieges „Dieser Tag des Sieges“ Schach-Dame-Tunier anlässlich des 61. Jahrestages des Sieges Volksfest anlässlich des 61. Jahrestages des Sieges „Das lebendige Band der Zeiten“ Vorführung Trickfilm

05.05.

11.00 h

Auditorium

[Regisseurin]

09.05.

11.00 h

Gedenkstätte

[Künstlerische Leiterin]

09.05.

12.00 h

Auditorium

[Chormeister]

09.05.

13.00 h

Auditorium

[Chormeister]

09.05.

20.00 h

Platz vor dem Kulturhaus

[Fachkraft für Methodik]

11.05.

12.00 h

Auditorium

[Administrator]

304 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND

Vorführung Kunstfilm

11.05.

19.00 h

Auditorium

[Administrator]

„Waldabenteuer“, Puppentheater Vorführung Trickfilm

12.05.

12.00 h

Auditorium

[Administrator]

14.05.

12.00 h

Auditorium

[Administrator]

Tanz- und Singgruppe „Čaldony“ der Stadt Nowosibirsk Vorführung Kunstfilm

14.05.

17.00 h

Auditorium

[Administrator]

14.05.

19.00 h

[Administrator]

Vorführung Trickfilm

18.05.

12.00 h

Foyer im Obergeschoss Auditorium

[Administrator]

Vorführung Kunstfilm

18.05.

19.00 h

Auditorium

[Administrator]

Tag der slawischen Schrift und Kultur „Ehre Euch Brüdern“ Vorführung Trickfilm

24.05.

11.00 h

[Künstlerische Leiterin]

25.05.

12.00 h

Auditorium, Platz vor dem Kulturhaus Auditorium

[Administrator]

Vorführung Kunstfilm

25.05.

19.00 h

Auditorium

[Administrator]

Abschlussfeier für die Grundschüler „Die letzte Klingel“

27.05.

11.00 h

Schule

Abschlussfeier für die Grundschüler „Die letzte Klingel“

28.05.

11.00 h

Schule

[Leiterin der Abt. f. künstler. Erziehung durch Filme] [Leiterin der Abt. f. künstler. Erziehung durch Filme]

Jeden Sonnabend und an Feiertagen gibt es eine Jugenddiskothek.

A NHÄNGE

| 305

ANHANG 8.2 ARBEITSPLAN DES D ORFKULTURHAUSES P ONOMAREVKA FÜR 2006 [Handschriftlich verfasst. Übersetzung: Alexander Seidel, Joachim Otto Habeck] Bezeichnung der Veranstaltung Historisch-patriotische Erziehung „Wir dürfen diese Wege nie vergessen“ – Konzert zum Tag des Sieges

Woche des Kampfesruhms – „Um des Lebens willen auf der Welt“ „Ehrenkodex eines echten Oberst“ – Programm zum Tag der Verteidigers des Vaterlandes Moralische Erziehung „Sag mir, wer dein Freund ist“ – Diskussion mit Kindern über Freundschaft und Treue Arbeitserziehung Diskussion „Ein Beruf für die Seele oder fürs Geldverdienen“ Tag der Beschäftigten im Gesundheitswesen – „Wir wünschen den Medizin[ern] …“ „Heimatland“ – Konzert für die Beschäftigten in der Landwirtschaft Ausstellung von Kinderbildern – „Für die liebe Mutti“ Themendisko „Stars [auf der] Konzertbühne“ Arbeit mit sozial benachteiligten Gruppen „Die Sonne in den Händchen“ – Programm zum [Internationalen Kindertag] „Silbersträhne“ – Konzert anlässlich des Tages der älteren Generation Bewahrung der Traditionen „Die Rauhnacht“ – im russischen Dorf ist Weihnacht

Datum der Veranstaltung

Anmerkung

Mai

DK [Kulturhaus] Schule; MO [Gemeindeverwaltung] DK Schule DK

April Februar

März

Bibliothek DK

März

Schule DK DK

Juni November März August

Juni Oktober

Januar

DK Bibliothek DK Schule DK

DK Schule DK Schule DK

306 | DAS KULTURHAUS IN R USSLAND

3

„Christus ist auferstanden“ – Diskussion mit Kindern über das Osterfest „Einläuten der Butterwoche“

April Februar

Bibliothek DK DK

„Wir haben heute Sonnabend“ – familärer Abend nach russischer Tradition. Pfingsten Volksfest „Die Johannisnacht“ („Kupalenka nočka malen'ka“) Ökologische Erziehung „Möge die Erde geschmückt sein“ – Blumenausstellung, Wettbewerb um den schönsten Hof im Dorf Bilderausstellung – „Ökologische Attacke“ (Ėkologičeskij abordaž) Diskussion am runden Tisch: „Was wir den Nachfahren hinterlassen“ – ökologische Gesundung des Dorfes Arbeit mit Kindern und Jugendlichen „Sind Ehre und Würde noch zeitgemäß?“ – Disput Quiz für Schulkinder „Der Weg zu den Sternen“ Disput „Über Geschmack kann man nicht streiten“ Freizeit Diskotheken an Feiertagen − „Gesundes Neues Jahr!“ − „[Neues Jahr,] neues Glück!“ − Tat'jana-Tag3 − „Das ewig lebendige Gefühl“ Show-Programm zum Valentinstag

Juni

DK

Juli

DK

August

DK MO

August

DK

November

DK MO

März

DK

April

DK Bibliothek DK Bibliothek

Juni

Januar

DK

Januar

DK

Februar

DK

Konzert „Die Mädchen haben heute Feiertag“ zum [Internationalen] Frauentag „Abschied vom Winter“

März

DK

März

DK

„Die lustigen Strolche“ – Tag des Humors

April

DK

Die Heilige Tat'jana gilt in Russland als Schutzheilige der Studierenden.

A NHÄNGE

Ein Abend der Erholung „Frühling bedeutet Liebe“ „Der ewige Tango der Sternzeichen“ – Tag der Familie „Sternchen vom Lande“ – Tag des Kulturarbeiters Tag der Jugend. Sport- und Vergnügungsprogramm „Es geschehen Wunder auf der Welt“ – Themenabend zu Puschkin Studentenabend – „Wir wissen wie man lernt und wie man sich erholt“ Herbstball „Der Herbst dreht sich im Walzertakt“ Konzert zum Tag des Lehrers

Mai

DK

Mai

DK

Mai

DK Bibliothek DK

Kapustnik – Abend der Erholung für Leute mittleren Alters „Das Jahrhundert des Automobils“ – KVN4 zum Tag des Fahrers Scrabble-Turnier – Spielprogramm

Juni Juni August

DK Bibliothek DK

August

DK

Oktober Oktober

DK Schule DK

Oktober

DK

November

DK

Tag des Jubilars

Dezember

DK

„Wer möchte der Beste sein?“ – Quiz für Erwachsene und Kinder „Neujahrs-Eulenspiegelei“

Dezember

DK

Dezember

DK

Soziale Entwicklung Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Anpflanzen von Blumen, Bäumen usw. 15 / XII – 2005

4

Direktor des DK Ponomarevka

Klub veselych i nachodšivych, vgl. Kapitel 7, Anm. 32.

| 307

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ANHANG 9.1 T ÄTIGKEITSBERICHT DES K ULTURHAUSES K OLYVAN ' J ANUAR UND F EBRUAR 2006

FÜR

[Übersetzung: Joachim Otto Habeck] SCHRIFTLICHER BERICHT ÜBER DIE ARBEIT DES KULTURHAUSES „JUNOST'“, KOLYVAN', FÜR JANUAR-FEBRUAR 2006 Am 24. Januar fand für die Jugend des Ortes eine thematische Diskothek statt, die dem Tag des Studenten gewidmet war [unter dem Motto] „Der Studenten ausgelassener Festtag“ (Studentov prazdnik ozornoi). Studenten nahmen aktiv teil an den unterhaltsamen Wettbewerben. Der Abend verlief in einer warmen, einträchtigen Atmosphäre. Am 10. Februar fand auf der Bühne des Kulturhauses „Junost'“ die feierliche Auszeichnung der Teilnehmer des Wettbewerbes „Lehrer des Jahres 2006“ statt. Dieser Wettbewerb nahm in diesem Jahr fünf Tage in Anspruch. Die Pädagogen – ihrer nahmen am Wettbewerb fünf Personen teil – demonstrierten der strengen Jury ihr professionelles Können. Den Siegern wurden Urkunden und wertvolle Geschenke überreicht. Zum Abschluss des Programms boten Schüler, die sich in der Laienkunst engagieren (učeniki-učastniki chudožestvennoj samodejatel'nosti) ein feierliches Konzert dar. Im Saal waren etwa 200 Personen anwesend. Es war eine gelungene feierliche Zeremonie. Ein rührender Moment ergab sich daraus, dass die Kinder ihre Emotionen nicht zurückhalten konnten und auf die Bühne zu ihrem siegreichen Lehrer stürmten (brosilis' na scenu k svoemu pedagogu-pobeditelju). Am 12. Februar fand auf der Bühne des Kulturhauses „Junost'“ das regionale Festival der Folklore und ethnographischen Kunst [mit dem Titel] „Tief in Sibirien“ („Sibirskaja glubinka“) statt. Eröffnet wurde es von den Angestellten des Kulturhauses, vom künstlerischen Ensemble „Weite Felder“ („Razdol'je“). Fortgesetzt wurde dann das Festival mit Auftritten [verschiedener] Kollektive aus dem Landkreis und dem Gebiet [Novosibirsk]. Das Festival dauerte fünf Stunden. Im Saal waren viele Zuschauer zugegen, es gab sehr positive Kritiken. Die Zuschauer nahmen die Gäste aus anderen Städten mit großem Vergnügen auf. Am 14. Februar wurde für die Kinder ein Spieleprogramm [unter dem Motto] „Lasst uns in Eintracht leben“ durchgeführt, es war dem Tag der Liebe und der Eintracht gewidmet. Die Protagonistin dieser Feier, „Valentinchen“, erzählte den Kindern über Freundschaft und Hilfsbereitschaft, wurde dabei aber ständig von zwei unerzogenen Mäusekindern gestört, die einen Kater namens Leopold suchten, um ihm „eins auszuwischen“. Diverse Spiele (konkursy) verbündeten die Kinder gegen

A NHÄNGE

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die unerzogenen Mäuse. Die Kinder selbst nahmen teil an der Umerziehung der Störenfriede (v perevospitanii chuliganov). Allen Kindern wurden Luftballons und Süßigkeiten ausgehändigt. Die Feier hat den Kindern sehr gefallen. Wir wiederum hoffen, dass die Kinder sich vergegenwärtigt haben, was wahre Freundschaft ist. Im Saal waren 160 Personen anwesend, der Preis einer Eintrittskarte betrug 10 Rubel. Am Abend desselben Tages wurde für die Jugend eine Abendveranstaltung zum Valentinstag abgehalten. Es ging sehr fröhlich und interessant zu. Spiele und Wettbewerbe wurden durchgeführt. Von den Teilnehmern wurde einer als Valentin und eine als Valentina ausgewählt. Die aktiven Teilnehmer wurden mit Andenken beschenkt. Ein gelungener Abend: Die Jugendlichen waren zufrieden (Večer udalsja. Molodež' dovol'na). Am 21. Februar fand auf der Bühne des Kulturhauses „Junost'“ eine große Feier statt, die dem Tag der Verteidiger des Vaterlands gewidmet war, [sie trug den Titel] „Soldaten des erhabenen Russlands“ („Soldaty deržavnoj Rossii“). Das Szenario war derart gestaltet, dass alle Krieger unserer Geschichte erwähnt wurden: [die des] Großen Vaterländischen Kriegs, diejenigen, die in der Nachkriegszeit ihren Dienst leisteten, [die in] Afghanistan, Tschetschenien sowie die künftigen Verteidiger des Vaterlandes. Die Auftritte der geladenen Redner, der Krieger, wurden von thematischen Musikstücken und Dokumentarfilm- Videomaterialien begleitet. Das Finale der Feier bestand aus dem bemerkenswerten Lied „Wenn die Männer der ganzen Erde [einmal zusammenfänden]“ („Esli by parni vsej zemli“). Die künftigen Verteidiger der Heimat trugen mit Stolz Flaggen durch den Saal. Der Saal applaudierte im Stehen und sang das Lied mit. Im Saal waren Schüler, Veteranen aus verschiedenen Kriegen und Gäste aus der Region anwesend (insgesamt waren etwa 300 Personen zugegen). Die Veranstaltung hat die Note „sehr gut“ verdient (Meroprijatie prošlo na „otlično“). Diese Begegnung darf als eine „Lektion der Mannhaftigkeit“ („urok mužestva“) bezeichnet werden, da die Schüler tatsächlich viel Neues erfahren und sich eingeprägt haben. [Das Kollektiv der Angestellten,] ein kreatives Team, organisiert jeden Monat Feiern, Jubiläen und Hochzeiten für die Einwohner des Ortes. Die Kritiken sind positiv. Gemäß Stundenplan arbeiten [die einzelnen] Clubs/Gruppen (klubnye formirovanija). Jeden Samstag finden für die Jugend Diskotheken statt. Dienstags und donnerstags [gibt es] Spielfilm- bzw. Zeichentrickfilmvorführungen für die Einwohner des Ortes. Trotz der unter den Kinobesuchern durchgeführten Umfrage und der ihren Wünschen entsprechenden Filmauswahl ist die Besucherzahl der Filmvorführungen gering.

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ANHANG 9.2 T ÄTIGKEITSBERICHT DES D ORFKULTURHAUSES P ONOMAREVKA FÜR J ANUAR 2006 [Handschriftlich verfasst. Übersetzung: Alexander Seidel] BERICHT ÜBER DIE ARBEIT DES SDK PONOMAREVKA FÜR DEN MONAT JANUAR 2006 Am 1. und 2. Januar haben Neujahrsdiskotheken stattgefunden: „Gesundes Neues Jahr!“ [und] „[Neues Jahr,] neues Glück!“ Am 3. Januar wurde für die Kinder im Vorschul- und Schulalter eine Matinée (utrennik) durchgeführt, die Mitglieder des Kreises „Kolobok“ führten das Märchen „der gute, brave Barbos“ auf. Am 6. Januar, [also] am Weihnachtsvorabend, wurde zusammen mit dem „Club der Nicht-Stillsitzer“ (klub obščenija „Neposedy“) für die älteren Leute eine Weihnachtsfeier [unter dem Motto] „der Heilige Abend in einem russischen Dorf“ durchgeführt. Es wurden Rätsel gelöst und Weihnachtslieder gesungen. Danach gab es eine Teestunde. Am 10. Januar haben Märchenfiguren und Väterchen Frost samt Schneeflöckchen (sneguročka) für die Kinder das Unterhaltungsprogramm „Väterchen Frosts Späße“ durchgeführt. Verschiedene Wettbewerbe, Spiele. Am 18. Januar, [also] am Abend vor der Taufe [Jesu], wurde im Kulturhaus das Konzert „Einmal zum Abend der Taufe“ für Leute mittleren Alters gegeben. Das Programm leiteten zwei Moderatoren, es gab eigene künstlerische Aufführungen, Wettbewerbe, Spiele, lustige Rätsel. Danach war Disco. 25. Januar: „Tat'jana-Tag“. Studentendisco. Angeboten wurden Rätsel, Redensarten, Sprichwörter, Lieder zum Namen Tat'jana. Verschiedene Wettbewerbe. Das Programm wurde mit einer Diskothek abgeschlossen.

Danksagung

Dieses Buch begann mit einer Betrachtung über Anerkennung und Dankesbekundungen (in Kapitel 1), und ich möchte zum Abschluss des Manuskripts, anlässlich der Drucklegung, mit einer Danksagung schließen. Zahlreiche Personen haben mir Hilfe und Unterstützung gewährt, sei es durch mehrjährige Mitarbeit, durch Rat und Beistand oder auch durch ihre Bereitwilligkeit, über ihren Alltag Auskunft zu geben. Die Möglichkeit, ein solches Projekt zu entwerfen und durchzuführen, ist ein großes Privileg, welches sich aus meiner Tätigkeit am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung ergab. An erster Steller gebührt mein tief empfundener Dank den Kolleginnen und Kollegen, die an der Konzeption, Durchführung und Auswertung des gemeinsamen Forschungsprojekts beteiligt waren: Brian Donahoe, Agnieszka Halemba, István Sántha und Virginie Vaté. Nelli Damdyn, Galina D'iačkova, Svetlana Ivanova (Madjukova), Tamara Korav'e, Dinara Paraeva, Tat’jana Safonova, Aleksei Šonchorov sowie Zoja Tagrina-Vejnštejn haben während der Feldforschungen assistiert. Jurij Popkov, Leiter des Sektors für ethnosoziale Forschungen am Institut für Philosophie und Recht der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften, hat das vergleichende Forschungsprojekt mit freundschaftlichem, sehr engagiertem Beistand betreut. Kirill Istomin hat – wenngleich mit keiner eigenen Feldforschung beteiligt – zur Formulierung der Forschungsfragen und zur Ausarbeitung der Instrumente einen wichtigen Beitrag geleistet. Vielen weiteren Personen gebührt Dank für ihre tatkäftige Hilfe in den verschiedenen Phasen, speziell Nadežda Baženova, Tuba Bircan, Christian Buchner, Georgi Dietzsch, Friedemann Ebelt, Katharina Gernet, Siegfried Gruber, Patrick Heady, Ildiko Hufendiek, Julia Ismailova, Tat'jana Istomina, Čaizu Kyrgys, Katja Mahler, Stella Penkova, Mariya Petrova, Alia Šajbekova, Ricarda Scheffer, Alexander Seidel, Jutta Turner, Claudia Ulbrich, Mari Valdur und Andreas Zimmermann.

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Danken möchte ich auch den Teilnehmern des Workshops „Reconstructing the House of Culture“ in Halle im September 2007, speziell John Eidson, Bruce Grant, Birgit Huber, Ali İğmen, Deema Kaneff, Alexander King, Aivita Putniņa, Nadezhda Savova, und insbesondere Chris Hann, der nicht nur den Auftakt des Workshops gestaltet hat, sondern auch über den gesamten Zeitraum des Projekts mit zahlreichen inhaltichen Anregungen, Wohlwollen, konstruktiver Kritik und dem Blick für das Wesentliche begleitet hat. Die hier vorliegende Publikation wurde durch einen Druckkostenzuschuss gefördert. Danken möchte ich den Direktoren des Sibirienzentrums am Max-PlanckInstitut für ethnologische Forschung, Chris Hann und Günther Schlee, sowie den Angestellten der Verwaltung des Instituts unter der Leitung von Kathrin Niehuus für diese konkrete finanzielle Unterstützung sowie darüber hinaus für die langjährige einvernehmliche und produktive Zusammenarbeit. Bettina Mann und das Team der Forschungskoordination an diesem Institut haben das Projekt in vielfacher Weise inhaltlich bereichert und es überdies möglich gemacht, das Vorhaben und seine Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Nach dem Abschluss des vergleichenden Projekts habe ich mich in die historischen, rituellen, ideologischen, ästhetischen und praktischen Aspekte der Arbeit an sich selbst, der Transzendenz und Transgression als Begleiterscheinungen des öffentlichen Kulturbetriebs und den Auslegungen des Kulturbegriffs in der russischen Gesellschaft befasst. Daraus erwuchs die vorliegende Arbeit, die ich als Habilitationsschrift an der Philosophischen Fakultät I der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg eingereicht habe. Chris Hann hat mich ermutigt, die Habilitation in Angriff zu nehmen und zu einem guten Abschluss zu führen. An dem Habilitationsverfahren haben außerdem Gabriela Lehman-Carli, Burkhard Schnepel, Suzanne Schüttemeyer und Peter Schweitzer mitgewirkt, denen ich hiermit meine Verbundenheit aussprechen möchte. Zu den einzelnen Kapiteln, zum Aufbau des Buchs, aber auch zu einer Vielzahl von Sach- und Verfahrensfragen erhielt ich wertvolle Anregungen von Kolleginnen und Kollegen, Freunden und Verwandten. Insbesondere sei Nadežda Baženova, Judith Beyer, Luděk Brož, Jonas Büchel, Stephan Dudeck, Mischa Gabowitsch, Katharina Gernet, Felix Girke, Christian Habeck, Patrick Heady, Ana Hofman, Jan Holthues, Tat'jana Istomina, Chaizu Kyrgys, Elena Liarskaya, Joseph Long, Bettina Mann, Daniel Münster, Maria Nakhshina, Sayana Namsaraeva, Anett Oelschlägel, Jaroslava Panáková, Eleanor Peers, Artem Rabogoshvili, Rüdiger Reitemeier, Ina Schröder, Vladislava Vladimirova, Christian Weller und Denis Zuev an dieser Stelle herzlich für ihre Unterstützung gedankt. Christina Kunze erklärte sich freundlicherweise bereit, das Lektorat zu übernehmen. Der transcript Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis hat das Manuskript zur Veröffentlichung angenommen. Roswitha Gost, Birgit Klöpfer,

D ANKSAGUNG

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Kathrin Popp sowie Kai Reinhardt haben mit Geduld und Umsicht die Vorbereitung zur Drucklegung betreut. Jurij Vladimirovič Popkov hat nicht nur seitens der Russischen Akademie der Wissenschaften das vergleichende Forschungsprojekt betreut, sondern auch für mich den Kontakt zu den örtlichen Institutionen in der Region Novosibirsk hergestellt. Viele weitere Personen haben mir den Zugang zu den örtlichen Archiven, Behörden, Schulen, Jugendzentren und Kultureinrichtungen ermöglicht bzw. erleichtert, darunter Sergej Timofeevič Agafonov, Tat'jana Vladimirovna Barčunova, Natal'ja Beletskaja, Familie Deržavec, Tat'jana Viktorovna Jarošauskas, Andrej Vasil'evič Lukan, Vladimir Grigor'evič Miller, Galina Ivanovna Mironenko, Michail Fajvovič Pevzner, Valentina Petrovna Poleva, Tamara Valentinovna Popkova, Tat'jana Jur'evna Tret'jakova und Vadim Gennad'evič Zacepin. Mein aufrichtiger und besonderer Dank gilt den zahlreichen Kulturarbeiterinnen und anderen Angestellten der Kultureinrichtungen und Kulturämter von Novosibirsk, Kolyvan' und den umliegenden Gemeinden, namentlich Ol'ga Jur'evna Bykova, Valerij Filimonovič Denisov, Natal'ja Stepanovna Družinina, Svetlana Sergeevna Evtugina, Jana Michajlovna Kir'janova, Elena Viktorovna Kovalenko, Marija Ivanovna Korčagina, Ljudmila Ivanovna Kosinceva, Gul'mira Iglanbekovna Kupreeva, Ljudmila Andreevna Lysjakova, Artem Robertovič Mirzojan, Irina Valer'evna Nikonova, Aleksandr Nikolaevič Motrenko, Oksana Jur'evna Rupp, Elena Valer'evna Stojlik und Aleksandr Jakovlevič Šul'c. Sie sind die Gewährsleute, die sich freundlicherweise bereit erklärten, ihre beruflichen Erfahrungen, Ideale und Ansichten zu äußern und verständlich zu machen. Gewidmet ist dieses Buch eben ihnen, die durch ihre Arbeit, ihr Engagement und ihre Kreativität dazu beitragen, dem Leben ihrer Mitmenschen mehr Freude und Glanz zu verleihen.

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