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German Pages 296 Year 2015
Luise Althanns McLenin
2009-11-02 13-02-05 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0323225064151646|(S.
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Luise Althanns (Dr. phil.) studierte und promovierte in Passau, Moskau und Leipzig. Sie arbeitet als Markenberaterin bei Brandmeyer Markenberatung in Hamburg.
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Luise Althanns
McLenin Die Konsumrevolution in Russland
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© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus Lektorat & Satz: Luise Althanns Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1254-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT
Geleitwort
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Danksagung
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EINLEITUNG
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Konsum und Konsumrevolution – Konsum in Sozialismus und Postsozialismus – Perspektiven auf Konsum
KONSUMREALITÄTEN
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Konsum am Ende der sowjetischen Zeit (1985-1988) Rahmenbedingungen des Konsums – Konsum und Ausstattung in der Sowjetunion im Jahr 1985 in Zahlen – Differenzierung der Konsumenten
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Konsumkrise (1989-1991) Ursachen der Konsumkrise – Extremes Defizit als Alltagsphänomen – Direkte und indirekte Preissteigerung – Kriseninterventionen
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Konsum im marktwirtschaftlichen Russland (1992-2000) Konsum vor dem Hintergrund neuer Rahmenbedingungen – Konsumkrise 1998 – Konsum und Ausstattung in Russland ab dem Jahr 1992 in Zahlen – Differenzierung der Konsumenten
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Zusammenfassung
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KONSUMDISKURSE
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Konsumdiskurse der Planwirtschaft Konsumkrise als Ergebnis von Glasnost – Versagen des Versorgungsstaates – Konsumprivilegien – Vergleich des Konsumniveaus mit dem der USA
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Konsumdiskurse der Marktwirtschaft Kommerzialisierung – Idealisierung des Konsumstandards der Vergangenheit
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Sowjetische Symbole und Konsum
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Normative Konsumdiskurse
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Zusammenfassung
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KONSUMINNOVATIONEN
187
Konsum zwischen Verwestlichung und Nationalisierung Herkunft als Unterscheidungskriterium – Verwestlichung der Warenwelt – Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau – Konsumnationalismus – Konsum und kulturelle Globalisierung
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Wandel von Waren zu Marken The World of Socialist Goods – Werbung als Phänomen des Alltags – Markenwahrnehmung und Markenbewusstsein nach 1992 – Marken als Ausdruck kultureller und politischer Selbstverortung
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Zusammenfassung
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ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
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Konsum im Übergang vom Plan zum Markt – Russische Konsumrevolution – Konsum in Russland 2000 bis 2008
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
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Geleitwort Nicht Politik und Wirtschaft brannten den Menschen während des Übergangs vom Plan zum Markt in Russland auf der Seele. Dieses Land erlebte eine Konsumrevolution. Die sozialistische Konsumkultur mit ihren mangelhaften und minderwertigen Produkten hatte sich am Ende der 1980er Jahre zu einer Konsumkrise gesteigert. Der sowjetische Konsumterror bestand in einem Zuwenig und nicht – wie an westlichen Gesellschaften kritisiert – in einem Zuviel. Der Wunsch der Menschen nach mehr, nach hochwertigen Waren, neuartigen Produkten, nach bedeutenden Marken war weitaus stärker als die Ablehnung der ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Prinzipien der Sowjetunion. „McLenin. Die Konsumrevolution in Russland“ nähert sich der Auflösung des Staatssozialismus und der Transformation von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft aus einer neuen und originären Perspektive. Die Autorin beschreibt, wie sich Ausprägungen und Bedeutungen des Konsums wandelten und die grundstürzenden Innovationen – die Etablierung von Marken und die Einbindung in die globale Konsumgesellschaft – sich durchgesetzt haben. Ihre Analyse lenkt den Blick auf jene Wirklichkeiten, die den Systemwandel für die Menschen tatsächlich ausgemacht haben. „McLenin“ ist das Synonym für eine der größten Konsumrevolutionen des 20. Jahrhunderts. Russland befindet sich auf halbem Wege zu einer prosperierenden Konsumgesellschaft, an der alle Bürger Anteil haben. Dieses Buch beschreibt sehr durchdacht und lesbar das Initialmoment dieser Entwicklung.
Hamburg, August 2009
Klaus Brandmeyer
Da n k s a g u n g Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im November 2008 an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig verteidigt habe. Am Gelingen dieses Projekts waren zahlreiche Menschen beteiligt, bei denen ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte. Ich danke zunächst dem Betreuer dieser Dissertation, Prof. Dr. Hannes Siegrist (Universität Leipzig), der mich durch wertvolle Nachfragen, Kommentare und Kritik bei der Konzeption und Durchführung dieser Arbeit unterstützt hat. Insbesondere im Hinblick auf theoretische Anbindung und systematische Einordnung dieser Fallstudie habe ich von seinen umfassenden Kenntnissen der sozial- und kulturwissenschaftlichen Konsumforschung sehr profitiert. Prof. Dr. Stefan Troebst (Universität Leipzig) bin ich für die Übernahme des Zweitgutachtens und wichtige Verbesserungsvorschläge sehr verbunden. Ich danke dem Drittgutachter, Prof. Dr. Alois Woldan (Universität Wien), der es mir wie all seinen Studenten in Passau ermöglichte, eigene Schwerpunkte zu finden und so auch eine berufliche Perspektive zu entwickeln. Während der Promotion hatte ich die Gelegenheit, mein Konzept an meiner „alten“ Universität Passau Prof. Dr. Thomas Wünsch vorzustellen, dem ich für hilfreiche Hinweise zur Operationalisierung und Umsetzung meines Vorhabens sehr dankbar bin. Während meiner Feldforschung in Moskau im Frühjahr 2006 erklärten sich Marktforscher und Vertreter von verschiedenen Konsumgüterherstellern zu Expertengesprächen mit mir bereit. Ihnen allen danke ich für Zeit und Bereitschaft zur Auskunft. Der Research Academy Leipzig, der ich von 2005 bis 2008 angehörte, danke ich für die zahlreichen Angebote der Graduiertenausbildung und die Förderung meines Forschungsaufenthaltes in Moskau. Die materielle Grundlage meiner Promotion stellte ein Stipendium des Sasakawa Young Leaders Fellowship Fund (SYLFF) dar, wofür ich mich bedanken möchte. Für die großzügige Unterstützung des Drucks dieses Buches danke ich der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung sowie SYLFF. Die Buchfassung stellte ich im Frühjahr 2009 fertig, als ich schon bei Brandmeyer Markenberatung in Hamburg arbeitete. Für die Einräumung zeitlicher Freiräume möchte ich mich bedanken. Ohne die Unterstützung vieler lieber Menschen hätte ich diese Dissertation nicht zustande gebracht. Für Mitdenken, Zuhören, Korrekturlesen, Gedankenteilen und vieles weitere danke ich: Frauke Hofmeister, Anne Friedrichs, Dorothea Trebesius, Johanna Haltern, Ines Keske, Jenny Alwart und Manuela Bauche in Leipzig, Rupert Hofmann in Ingol-
stadt, Clara Fexer in Nürnberg, Christina Tussing und Barbara Motschenbacher in München, Eunike Piwoni in Bamberg, Annette Kroll und Andor Poll in Berlin, Anna Lochner in Mailand, Ulrich Kirschner in Düsseldorf sowie Andreas Stock in Wien. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Vater und meinem Bruder Felix, die meine Unsicherheit während dieser Jahre ausgehalten haben und der Wissenschaft mit wunderbarer Ironie begegneten. Widmen möchte ich dieses Buch meiner Mutter – in Erinnerung.
Hamburg, September 2009
Luise Althanns
E I N L E I T U NG
Während des Übergangs vom Plan zum Markt ereignete sich in der Sowjetunion und dann in Russland eine Konsumrevolution, die zum prägenden Moment der komplexen Veränderungen in dieser Zeit wurde. Infolge der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Umgestaltung der 1980er und 1990er Jahre wandelten sich die Bedingungen des Konsums, seine Ausprägungen und seine Bedeutungen. Die marktwirtschaftliche Ordnung folgte einer neuen Logik, welche die Konsumrealität sowie die Bewertung dieses Phänomens zentral beeinflusste. Dieser Wandel führte zu neuen Methoden und Inhalten bei der Vermarktung von Produkten. Die wirtschaftliche und politische Öffnung gegenüber dem Westen zeigte ebenfalls deutliche Folgen für den Konsum. Von den Verbrauchern erforderte die marktwirtschaftliche Logik des Konsums neue und angemessene Praktiken und Strategien. In den folgenden einleitenden Ausführungen werden zunächst die zentralen Begriffe und die herangezogenen theoretischen Konzepte geklärt. Dann wird auf den Stand der Forschung eingegangen. Schließlich werden die verwendeten Quellen, das methodische Instrumentarium sowie der Aufbau des Buches präsentiert.
Ko n s u m u n d Ko n s u m r e v o l u t i o n Konsum ist zunächst ein zentrales Thema der Ökonomie. In der Mikroökonomie bezeichnet Konsum die Entscheidung eines Verbrauchers für
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ein bestimmtes Gut und dessen Marktentnahme.1 In einer solchen Sichtweise wird der Nutzen maximierende „homo oeconomicus“ bei seinen Konsumakten von ökonomischen und politischen Interessen geleitet.2 In einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive weitet sich indessen der Bedeutungsinhalt von „Konsum“. Unter „Konsumieren“ wird dann nämlich „das Kaufen, das Gebrauchen und Verbrauchen/Verzehren von Waren [… und] die damit im Zusammenhang stehenden Diskurse, Emotionen, Beziehungen, Rituale und Formen der Geselligkeit und Vergesellschaftung“3 verstanden. Folgt man theoretischen Ansätzen von Mary Douglas sowie Baron Isherwood, dienen Güter den Konsumenten nicht nur zu einem bestimmten funktionalen Verwendungszweck wie etwa dem Stillen von Hunger. Sie werden auch deswegen gekauft, weil sie mit Bedeutungen aufgeladen sind und somit zu Zeichen werden, die ein emotionales oder soziales Verlangen der Käufer erfüllen können. Die Gesamtheit der angebotenen Waren bildet ein System von Zeichen, innerhalb dessen die Konsumenten wählen und ihre sozialen und kulturellen Bedürfnisse befriedigen.4 Konsum stellt daher ein zentrales Moment der Produktion von sozialen Strukturen und Konstruktion von kultureller und sozialer Identität dar. Konsum wird somit als ein Phänomen betrachtet, das einerseits von den prinzipiell unbegrenzten Bedürfnissen, den Interessen sowie der Budgetbeschränkung jedes Individuums und andererseits von kulturellen Gegebenheiten und strukturellen Vorgaben wie dem Angebot sowie politischen und volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmt wird. Konsumieren wird oftmals als ein Paradigma der modernen Gesellschaft bezeichnet. Dies impliziert beispielsweise Jean Baudrillard mit dem Titel seines Buchs „Die Konsumgesellschaft“ („La société de consommation“): Konsumieren stellt danach das signifikante Charakteris-
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Zur mikroökonomischen Fundierung des Phänomens Konsum siehe: Pindyck, Robert/Rubinfeld, Daniel: Mikroökonomie, München et al. 2005, S. 101-151. Konsum aus Sicht der Makroökonomie hingegen stellt eine gesamtwirtschaftliche Aggregatvariable dar. Vgl. Carrier, James: The Limits of Culture. Political Economy and the Anthropology of Consumption, in: Trentmann, Frank (Hg.): The Making of the Consumer. Knowledge, Power and Identity in the Modern World, Oxford/New York 2006, S. 271-290. Siegrist, Hannes: Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 13-48, hier: S. 16. Vgl. Douglas, Mary/Isherwood, Baron: The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption, London/New York 21996 [1979], S. 36-47.
EINLEITUNG | 13
tikum der modernen Gesellschaft dar. 5 John Brewer leitete aus seiner Studie zu Konsum im England des 18. Jahrhunderts in prominenter Weise sechs Merkmale als konstituierend für eine Konsumgesellschaft ab, welche in der Forschung häufig zitiert werden: „Die Bereitstellung eines reichhaltigen Warensortiments für Verbraucher […]. Die Entwicklung hochkomplizierter, die Waren mit Bedeutung versehenden und das Bedürfnis nach ihnen weckenden Kommunikationssystemen. Die Bildung von Objektbereichen als Sphären des Geschmacks, der Mode und des Stils. Die Betonung der Freizeit gegenüber der Arbeit sowie die des Konsums gegenüber der Produktion. Die Entstehung der Kategorie Konsument. Eine tiefe Ambivalenz, manchmal sogar offene Feindschaft gegenüber dem Phänomen des Konsums.“6 Diese Definition, welche der Beschäftigung mit einem kapitalistischen Kontext entstammt, wird in zustimmender oder kritisierender Weise in einer Vielzahl von Arbeiten herangezogen. Gerade im Hinblick auf das Konsumieren in sozialistischen Staaten wird diese Definition allerdings als problematisch und zu beschränkt beanstandet. 7 Ein konkurrierender Begriff aus diesem Zusammenhang ist der einer Konsumkultur. Darunter lassen sich all jene symbolischen, wirtschaftlichen, ideologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomene, die das Konsumieren in einem bestimmten Kontext ausmachen und bedingen, verstehen.8 Eine Konsumkultur lässt sich somit in allen Kontexten ausmachen, in denen „konsumiert“ wird. In Forschungsüberblicken zum Thema Konsum werden die Begriffe Konsumkultur und Konsumgesellschaft allerdings synonym verwendet, da eine große Beliebigkeit bezüglich dieser Begrifflichkeit herrscht.9 Im
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Vgl. Baudrillard, Jean: The Consumer Society. Myths and Structures, London/Thousand Oaks/New Delhi 1998 [1970]. Siegrist, Hannes: Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 13-48, hier: S. 18. Vgl. auch: Brewer, John: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen?, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S.51-74, hier: S. 52-57. Vgl. Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 24-29. Vgl. Arnould, Eric/Thompson, Craig: Consumer Culture Theory (CCT). Twenty Years of Research, in: Journal of Consumer Research 31 4/2005, S. 868-882, hier: S. 868. Vgl. Siegrist, Hannes: Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des
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Folgenden wird dem Begriff Konsumkultur in genanntem Verständnis der Vorrang gegeben, da er weiter gefasst und weniger normativ ist als der Begriff der Konsumgesellschaft. Der historische Wandel der westlichen Welt in der Neuzeit wurde nicht nur durch technologische, politische, rechtliche und ökonomische Revolutionen induziert, sondern auch durch revolutionäre Veränderungen im Felde des Konsums. Verschiedene historische Brüche und Transformationen wie im Europa der Renaissance, im England des 18. Jahrhunderts, im Frankreich des 19. Jahrhunderts, im städtischen Europa im Zuge der Etablierung des Warenhauses um 1900, in den USA der Zwischenkriegszeit und in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich als Konsumrevolutionen begreifen.10 „Konsumrevolutionen“ stellen „tiefgreifende Umstellungen in der Herstellung, Gestaltung und Vermarktung sowie hinsichtlich der Vielfalt, Menge und Zugänglichkeit von Gütern“ dar, mit denen „stets auch eine revolutionäre Veränderung der Konsumenten einhergeht, da sich der Geschmack, die Emotionen, die Bedeutung und der soziale Gebrauch der Güter […] ebenso wie die Einstellung zum Kaufen und die materiellen und immateriellen Werte und Ziele“ verändern.11 Dieser Wandel des Konsums manifestiert sich in bestimmten Themen und Momenten. Dazu gehören die Einführung neuer Kategorien von Produkten, neue Zeiten, Orte und Muster des Kaufens, ein Wandel in den Bedeutungszuschreibungen zu Produkten, neue Techniken des Marketings, neue Vorstellungen über Besitz, ein Wandel von Referenzgruppen, Klassenmobilität sowie Diffusionsmustern, eine veränderte Bedeutung des Konsums für die Ausdifferenzierung von Lebensstilen und neue Muster des Entscheidens.12 Die langfristige EntKonsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 1348. 10 Vgl. McCracken, Grant: The Making of Modern Consumption, in: ders.: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities, Bloomington/Indianapolis 1988, S. 3-30; Siegrist, Hannes: Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 13-48, hier: S. 41-48. 11 Siegrist, Hannes: Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 13-48, hier: S. 41. 12 Vgl. McCracken, Grant: The Making of Modern Consumption, in: ders.: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities, Bloomington/Indianapolis 1988, S. 3-30, hier: S. 4.
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wicklung des Westens vom 16. Jahrhundert bis heute stellt in einer solchen Perspektive eine Abfolge von Konsumrevolutionen dar, auch China erlebte an der Schwelle zum 21. Jahrhundert eine Konsumrevolution.13 Das Konzept der Konsumrevolution erkennt Veränderungen des Konsums als wesentlichen Ausdruck des historischen Wandels an, welcher in der traditionellen Historiographie vorrangig an politischen, rechtlich-institutionellen und ökonomischen Faktoren festgemacht wird. In einer Pionierstudie zu diesem Forschungsfeld identifizierten Neil McKendrick, John Brewer und John Plumb im England des 18. Jahrhunderts eine Konsumrevolution anhand der folgenden Merkmale: Die Varietät, der Stil und die Zugänglichkeit der Güter erhöhten sich. Aus Luxusgütern wurden annehmliche Güter, aus annehmlichen Gütern wurden notwendige Güter. Materielle Objekte, deren Besitz früher Privileg der Reichen war, gelangten in die Reichweite eines großen Teils der Gesellschaft und wurden zu einem legitimen Konsumziel aller Menschen. Nicht mehr die Gebrauchsdauer eines Gutes bestimmte den Preis, sondern modische Faktoren. Generell verkürzten sich die Gebrauchsperioden wie auch die Zyklen der Mode. Mode wurde für alle Konsumenten zu einem wichtigen Kriterium. Das Werben für Waren wurde professioneller, Medien und nicht mehr dem Gerücht kam diese Aufgabe zu. Der Besitz von Gütern war nun weniger bedingt durch Erbschaft, sondern mehr durch eigenen Konsum. Diese Konsumrevolution war daher das Ergebnis einer Kombination von Umständen: in ideologischer Sicht, weil Konsum aufgewertet wurde, in sozialer Sicht, weil gesellschaftliche Mobilität möglich war und mittels Konsum angestrebt wurde, und in ökonomischer Sicht, weil Angebot und Handel sich entwickelten und der allgemeine Wohlstand stieg. Eine Grundvoraussetzung für diesen Wandel war eine Kommerzialisierung der Gesellschaft, die sich in der Einführung von Werbemedien, Kreditsystemen und Verkaufsstätten sowie in einer ins positive gewandelten Einstellung zu Mode zeigte.14 13 Vgl. McCracken, Grant: Die Geschichte des Konsums. Ein Literaturüberblick und Leseführer, in: Rosenberger, Günther (Hg.): Konsum 2000. Veränderungen im Verbraucheralltag, Frankfurt/M./New York 1992, S. 25-53, hier: S. 27-30; McCracken, Grant: The Making of Modern Consumption, in: ders.: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities, Bloomington/Indianapolis 1988, S. 3-30, hier: S. 3f; Davis, Deborah (Hg.): The Consumer Revolution in Urban China, Berkeley/Los Angeles/London 2000. 14 Vgl. McKendrick, Neil: Introduction. The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-century England, in: McKendrick, Neil/Brewer, John/Plumb, John: The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-century England, London 1982, S. 1-6; McKendrick, Neil: The Consumer Revolution in Eighteenth-century England, in: McKendrick, Neil/Brewer, John/Plumb, John: The Birth of a
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Colin Campbell wies darauf hin, dass die Strömung der Romantik, die den Wunsch nach Neuheit und das Konsumieren als einen Selbstzweck legitimierte, diese Konsumrevolution in kultureller und intellektueller Hinsicht erst ermöglichte.15 Konsumrevolutionen gingen teilweise einher mit großen politischen oder wirtschaftlichen Umwälzungen, teilweise ereigneten sie sich in ansonsten unspektakulären historischen Kontexten. Im 18. Jahrhundert begleiteten in England jene umfassenden Veränderungen des Konsums die industrielle Revolution und stellten ein treibendes Moment des allgemeinen Wandels in dieser Zeit dar. 16 Die Französische Revolution schlug sich in rechtlichen und institutionellen Veränderungen, neuen Praxisformen wie auch einer neuen Ästhetik des Konsums nieder. 17 Die liberal-bürgerlichen und nationalen Revolutionen im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurden ebenfalls von deutlichen Veränderungen des Konsums begleitet.18 Der Durchbruch zum Massenkonsum im westlichen Europa der 1950er und 1960er Jahre war dann im Wesentlichen das Ergebnis verschiedener ökonomischer, sozialer und ideologischer Einflussfaktoren.19 Konsumrevolutionen wurden daher einerseits politisch veranlasst und getragen, andererseits wurden sie dezentral über kulturelle und soziale Impulse sowie Impulse des Marktes – angebotsseitige und nachfrageseitige – hervorgerufen und gesteuert.
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Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-century England, London 1982, S. 9-33. Vgl. Campbell, Colin: Romanticism and The Consumer Ethic. Intimations of a Weber-style Thesis, in: Sociological Analysis 44 4/1983, S. 279-296. Vgl. McKendrick, Neil: Introduction. The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-century England, in: McKendrick, Neil/Brewer, John/Plumb, John: The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-century England, London 1982, S. 1-6. Vgl. Cleve, Ingeborg: Was können und sollen Konsumenten wollen? Die Formulierung moderner Leitbilder des Konsums als zentrales Problem des europäischen Ausstellungswesens im 19. Jahrhundert, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 549-562. Vgl. Siegrist, Hannes: Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 1348, hier: S. 41-48. Vgl. Kaelble, Hartmut: Europäische Besonderheiten des Massenkonsums 1950-1990, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 169-203.
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Das Konzept der Konsumrevolution entstammt ursprünglich der Beschäftigung mit der Entwicklung von Gesellschaften in West- und Mitteleuropa und den USA. Das Phänomen der Konsumrevolution erscheint in diesem Zusammenhang gleichsam als Ergebnis und Bedingung der kapitalistischen Moderne.20 Doch auch die russische Oktoberrevolution lässt sich in gewisser Hinsicht als eine Konsumrevolution des 20. Jahrhunderts begreifen, wenn man das Phänomen Konsum ins Zentrum der Betrachtung rückt. In der Sowjetunion wurde der Versuch unternommen, eine kommunistische Konsumutopie in die Realität umzusetzen. Das kommunistische Ideal des „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ zielte auf die Verwirklichung einer egalitären Überflussgesellschaft ab, in welcher die Menschen Selbstverwirklichung nicht mehr über distinktiven und symbolischen Konsum, sondern über die Ausbildung einer sozialistischen Persönlichkeit mittels sinnvoller und erfüllender Arbeit und ebensolcher Freizeit zu erreichen suchten.21 Die realen politischen Entscheidungen, ökonomischen Gegebenheiten und Verhaltensweisen der Verbraucher in den sozialistischen Gesellschaften schufen allerdings eine Konsumkultur fern dieser Utopie. In der Zentralverwaltungswirtschaft war der Konsum in erster Linie von politischen Entscheidungen abhängig. Ein Wandel der politischen Zielsetzung, der durch einen Wechsel der politischen Führung eingeleitet wurde, führte daher stets auch zu strukturellen Veränderungen des Angebotes von Waren und Dienstleistungen. So schlugen sich auch die umfassenden Veränderungen in der Sowjetunion sowie in den anderen Staaten Ost- und Mitteleuropas22 infolge des Todes von Stalin im Jahr 1953 in einer Konsumrevolution nieder, die sich innerhalb der weltan20 Vgl. Brewer, John/Porter, Ray: Introduction, in: dies. (Hg.): Consumption and the World of Goods, London/New York 21994 [1993], S. 1-15; Brewer, John/Trentmann, Frank: Introduction. Space, Time and Value in Consuming Cultures, in: dies. (Hg.): Consuming Cultures, Global Perspectives. Historical Trajectories, Transnational Exchanges, Oxford/New York 2006, S. 1-17, hier: S. 4-9. 21 Vgl. Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 9-34. 22 Hinter Begriffen wie „Osteuropa“, „Mitteleuropa“ und „Ostmitteleuropa“ stehen geschichtsregionale Konzeptionen, die historischen Konjunkturen unterliegen und der Wissenschaft als heuristische Methode dienen können. Diese Studie befasst sich mit dem Zeitraum des Übergang von der Planzur Marktwirtschaft, die Bezeichnung „Ost- und Mitteleuropa“ bezieht sich daher auf die ehemals sozialistischen Staaten in Europa, welche diesen Wandel vollzogen haben. Als Einführung in diese Thematik siehe: Troebst, Stefan: Region und Epoche statt Raum und Zeit – „Ostmitteleuropa“ als prototypische geschichtsregionale Konzeption, in: Themenportal Europäische Geschichte 2007 (http://www.europa.clio-online.de/2006/ Article=161 [8.6.2008]).
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schaulichen Grenzen des sozialistischen Systems bewegte. Ab diesem Zeitpunkt versuchten die sozialistischen Systeme nämlich, sich über eine weitgehende und egalitäre Befriedigung von Konsumentenwünschen zu legitimieren, ohne dass dies auch ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit entsprach. Insbesondere die 1960er Jahre erscheinen aus dieser Perspektive als Zeit der relativen Prosperität der sozialistischen Konsumkultur. Stephan Merl bezeichnet die in den 1950er Jahren eingeleitete Konsumorientierung und deren Loslösung von der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dann auch als wesentliche Gründe für den Zusammenbruch der sozialistischen Regime in Ost- und Mitteleuropa.23 Die Auflösung der Sowjetunion stellte einen evolutionären Prozess dar, der sich in politischen, rechtlich-institutionellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen wie auch in einem Wandel des Konsums manifestierte. Die Periode des Übergangs vom Plan zum Markt wird hier im Zeitraum der Jahre 1985 bis 2000 festgemacht: Im Jahr 1985 wurde Michail Gorbatschow24 Generalsekretär der KPdSU und zum Jahreswechsel 1999/2000 trat Boris Jelzin als Präsident der Russischen Föderation zurück. Dieser Zeitraum umfasst also die Reformen im Zuge der Gorbatschow’schen Perestrojka, die Einführung der Marktwirtschaft und Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1992 sowie die ersten Jahre im marktwirtschaftlich verfassten Russland unter der Präsidentschaft Boris Jelzins. Vor diesem Hintergrund fragt die vorliegende Studie nach den Brüchen und Kontinuitäten des Konsums in dieser Transformationsgesellschaft.
Ko n s u m i n S o z i a l i s m u s u n d P o s t s o z i a l i s m u s Diese Studie schließt an sozial- und kulturwissenschaftliche Untersuchungen zu Konsum unter sozialistischen und postsozialistischen Bedingungen an. Zur Erfassung des Forschungsstandes wird ein Überblick über zentrale Arbeiten, welche sich mit Konsum in sozialistischen und postsozialistischen Kontexten befassen, gegeben. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Forschungsarbeiten zum sowjetischen und russischen 23 Vgl. Merl, Stephan: Staat und Konsum in der Zentralverwaltungswirtschaft. Russland und die ostmitteleuropäischen Länder, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 205-241. 24 Die Eigennamen russischer Personen, Einrichtungen, Produkte und Orte werden im Text in der üblichen deutschen Transkription wiedergegeben („Gorbatschow“). Die Quellen- und Literaturangaben folgen hingegen der wissenschaftlichen Transliteration („Gorbaev“).
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Fall. Generell konnten nur jene Studien, die in deutscher, englischer oder russischer Sprache publiziert wurden, rezipiert und berücksichtigt werden. Die Forschung zu Konsum unter sozialistischen und postsozialistischen Bedingungen greift dabei verschiedene Schlüsselfragen der sozial- und kulturwissenschaftlichen Konsumforschung auf. Entwicklungen des Konsums werden in der Forschung oftmals durch politische und ökonomische Einflussfaktoren erklärt. So führt Stephan Merl in einem komparativ angelegten Überblicksartikel Veränderungen des Konsums in den sozialistischen Staaten Ost- und Mitteleuropas auf sich wandelnde politische und ökonomische Rahmenbedingungen zurück.25 Ina Merkel vertritt in ihrer Habilitationsschrift über die Konsumkultur der DDR die These, dass der Versuch, eine sozialistische Gegenmoderne zu etablieren, auf dem „Schlachtfeld des Konsums“26 verloren wurde.27 János Kornai untersucht in seinem viel beachteten Werk die politische Ökonomie der sozialistischen Staaten und sieht das Problem der Warenknappheit in grundlegenden systematischen Mängeln begründet.28 Während der 1980er und 1990er Jahre legten verschiedene volkswirtschaftliche Untersuchungen dar, welche Probleme sich aufgrund der krisenhaften Versorgung mit Konsumgütern in der Sowjetunion und der ökonomischen Transformation in Russland für die Verbraucher ergaben.29
25 Merl, Stephan: Staat und Konsum in der Zentralverwaltungswirtschaft. Russland und die ostmitteleuropäischen Länder, in: Siegrist, Hannes/ Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 205-241. 26 Merkel, Ina: Konsumkultur in der DDR. Über das Scheitern der Gegenmoderne auf dem Schlachtfeld des Konsums, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 19 37/1996, S. 314-330. 27 Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999. 28 Kornai, János: The Socialist System. The Political Economy of Communism, Princeton 1992. 29 Auzan, Alexander: Changes in the Behaviour of Russian Consumers Under Recent Reforms, in: Journal of Consumer Policy 18 1/1995, S. 7384; Götz-Coenenberg, Roland: Die Konsumgüterversorgung in der Sowjetunion: Lage und Aussichten, Köln 1989; Goldberg, Paul: Economic Reform and Product Quality Improvement Efforts in the Soviet Union, in: Soviet Studies 44 1/1992, S. 113-122; Steffen, Olaf: Die Einführung des Kapitalismus in Russland. Ursachen, Programme und Krise der Transformationspolitik, Hamburg 1997; Trapp, Manfred: Der dekretierte Markt. Die sozialistische Wirtschaftsordnung und ihre Transformation in der Sowjetunion und der Russischen Föderation 1985-1992, Baden-Baden 1994.
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Die Konsumforschung fragt weiterhin nach den sinnstiftenden Funktionen des Konsums. So wird gezeigt, dass die reale bzw. zugeschriebene räumliche Herkunft von Waren sowie die damit verbundenen Sinndeutungen einen Beitrag zur Ausbildung von lokaler, regionaler, nationaler, transnationaler und globaler Identität leisten. 30 Stephan Merl untersucht hierbei die Auswirkungen des politischen und kulturellen Imperialismus der Sowjetunion auf den Konsum in den anderen sozialistischen Staaten.31 Die Öffnung der Länder Ost- und Mitteleuropas gegenüber dem Westen und die nationalstaatlichen Veränderungen während des Übergangs zur Marktwirtschaft zeigten sich dann auch im Felde des Konsums. Eine Vielzahl an historischen und ethnologischen Studien rekonstruiert die über Konsum vollzogene räumliche Selbstverortung sozialistischer und postsozialistischer Gesellschaften.32 Melissa Caldwell stellt dabei die These auf, dass die Konsumenten in Moskau am Ende der 1990er Jahre durch die Wahl einheimischer Güter ihr Unbehagen mit den Folgen des Wandels ausdrückten und ein kollektives, singuläres Nationalgefühl pflegten.33 Die kulturwissenschaftliche Konsumforschung hat bereits mehrfach eine nostalgische Aufladung von Konsumgütern aus sozialistischer Zeit sowohl von Seiten der Konsumenten als auch der Hersteller nach der Einführung der Marktwirtschaft herausge-
30 Vgl. S. 187-189. 31 Merl, Stephan: Sowjetisierung in der Welt des Konsums, in: Jarausch, Konrad/Siegrist, Hannes (Hg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt/M./New York 1997, S. 167-194. 32 Fehérváry, Krisztina: American Kitchens, Luxury Bathrooms, and the Search for a „Normal“ Life in Postsocialist Hungary, in: Ethnos 67 3/2002, S. 369-400; Lankauskas, Gediminas: On „Modern“ Christians, Consumption, and the Value of National Identity in Post-Soviet Lithuania, in: Ethnos 67 3/2002, S. 320-344; Schramm, Manuel: Konsum und regionale Identität in Sachsen 1880-2000. Die Regionalisierung von Konsumgütern im Spannungsfeld von Nationalisierung und Globalisierung, Stuttgart 2002; Patico, Jennifer: Consuming the West but Becoming Third World. Food Imports and the Experience of Russianness, in: Anthropology of East Europe Review. Central Europe, Eastern Europe and Eurasia 21 1/2003, S. 31-36; vab, Alenka: Consuming Western Image of WellBeing – Shopping Tourism in Socialist Slovenia, in: Cultural Studies 16 1/2002, S. 63-79; Ten Dyke, Elizabeth: Tulips in December. Space, Time and Consumption before and after the End of German Socialism, in: German History 19 2/2001, S. 253-276; Vann, Elizabeth: Domesticating Consumer Goods in the Global Economy. Examples from Vietnam and Russia, in: Ethnos 70 4/2005, S. 465-488. 33 Caldwell, Melissa: Domesticating the French Fry. McDonald’s and consumerism in Moscow, in: Journal of Consumer Culture 4 1/2004, S. 5-26; Caldwell, Melissa: The Taste of Nationalism. Food Politics in Postsocialist Moscow, in: Ethnos 67 3/2002, S. 295-319.
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arbeitet.34 Russischen Marken, die einen Bezug zur Vergangenheit kommunizieren, wird so auch die Rolle eines Erinnerungsortes zugeschrieben.35 Die Frage nach dem Beitrag des Konsums zur sozialen Differenzierung stellt ein zentrales Thema der Soziologie dar.36 Mehrere Studien betonen die Bedeutung des Konsums für die Manifestierung gesellschaftlicher Distinktion in sozialistischen und postsozialistischen Gesellschaften.37 Auch die staatliche Konsumforschung in den sozialistischen Gesellschaften stellte seit den 1970er Jahren fest, dass Konsum für die symbolisch-kulturelle Differenzierung der Menschen eine wichtige Rolle spielte.38 Der finnische Soziologe Jukka Gronow geht in einer eindrucksvollen Studie der Erfindung von Luxusgütern wie Kaviar und 34 Betts, Paul: The Twilight of the Idols. East German Memory and Material Culture, in: The Journal of Modern History 72 3/2000, S. 731-765; Caldwell, Melissa: Pepsi, Pensioners, and Peter the Great. Performing Temporality in Russia, in: Anthropology of East Europe Review 16 2/1998, S. 19-25; Luthar, Breda: Remembering Socialism. On desire, consumption and surveillance, in: Journal of Consumer Culture 6 2/2006, S. 229-259; Merkel, Ina: From Stigma to Cult. Changing Meanings in East German Consumer Culture, in: Trentmann, Frank (Hg.): The Making of the Consumer. Knowledge, Power and Identity in the Modern World, Oxford/New York 2006, S. 249-270; Siegrist, Hannes: Konsum und Alltagskultur in den neuen Bundesländern, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V. (Hg.): Ungeschehene Geschichte. Bilanz nach 10 Jahren deutscher Einheit, Schkeuditz 2001, S. 91-109; Veenis, Milena: Consumption in East Germany. The Seduction and Betrayal of Things, in: Journal of Material Culture 4 1/1999, S. 79-112. 35 Sperling, Walter: „Erinnerungsorte“ in Werbung und Marketing. Ein Spiegelbild der Erinnerungskultur im gegenwärtigen Rußland?, in: Osteuropa 51 11,12/2001, S. 1321-1341. 36 Pierre Bourdieu hat am französischen Beispiel in prominenter Weise den Zusammenhang von sozioökonomischem Hintergrund und kulturell-symbolischen Vorlieben beim Konsum herausgestellt. Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1987 [1979]. 37 Eevskaja, Ol’ga: Prestinaja sobstvennost’ i real’nye dostienija kak priznaki social’noj uspenosti v sovremennom rossijskom obestve, in: Novosibirskij gosudarstvennyj universitet (Hg.): Ljudi i vei v sovetskoj i postsovetskoj kul’ture. Sbornik statej, Novosibirsk 2005, S. 67-76; Shevchenko, Olga: „Between the Holes“. Emerging Identities and Hybrid Patterns of Consumption in Post-socialist Russia, in: Europe-Asia Studies 54 6/2002, S. 841-866. 38 Ministerstvo torgovli SSSR, VNIIKS (Hg.): Formirovanie tovarnogo assortimenta v stranach-lenach SV. Sbornik naunych trudov, Moskau 1990; Ovsjannikov, Anatolij/Pettaj, Iris/Rimaevskaja, Natal’ja: Tipologija potrebitel’skogo povedenija, Moskau 1989; ilina, L./Frolova, N.: Problemy potreblenija i vospitanie linosti, Moskau 1969; Ajvazan, S./ Rimaevskaja, N.: Tipologija potreblenija, Moskau 1978.
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Champagner für den Massenkonsum in den Zeiten Stalins nach, was er als einen Versuch des Regimes, bei seinen Bürgern Legitimation zu finden, beurteilt.39 Untersuchungen zur Institution der Privilegien stellen die soziale Hierarchisierung der sowjetischen Gesellschaft, die sich sehr deutlich in privilegierten Konsummöglichkeiten der Oberschicht zeigte, heraus.40 Die Kulturanthropologin Jennifer Patico zeigt auf, wie sich die Vertreter der früheren sowjetischen Mittelklasse an die Bedingungen der Marktwirtschaft, die ihnen erhebliche Einbußen beim Lebensstandard sowie eine Verschlechterung ihrer sozialen Position bescherte, in ihrer Rolle als Konsumenten zu adaptieren versuchten.41 Mehrere Studien arbeiten heraus, dass die gesellschaftliche Klasse der „Neuen Russen“ im postsozialistischen Russland, die sich durch eine ausgeprägte Form des demonstrativen Konsums hervortat, als Ausdruck der neuen kommerzialisierten Verhältnisse wahrgenommen wurde und gleichsam die Erwartungen der Menschen an die Zukunft Russlands repräsentierte. 42 Auch kommerzielle Marktforschungsinstitute leisteten durch die Entwicklung von Konsumententypologien einen empirischen Beitrag zur Frage nach der sozialen und kulturellen Differenzierung der Konsumenten im Russland der 1990er Jahre.43 Mehrere historische Studien betonen weiterhin den Stellenwert geschlechtlicher Differenzen für den Konsum in sozialistischen Kontexten.44
39 Gronow, Jukka: Caviar with Champagne. Common Luxury and the Ideals of the Good Life in Stalin’s Russia, Oxford/New York 2003. 40 Matthews, Mervyn: Privilege in the Soviet Union. A Study of Elite LifeStyles under Communism, London/Boston/Sydney 1978; Ahlberg, René: Das sowjetische Privilegiensystem. Entstehung und Auflösung, in: Osteuropa 41 12/1991, S. 1135-1157. 41 Patico, Jennifer: Consumption and Social Change in a Post-Soviet Middle Class, Stanford 2008; Patico, Jennifer: Consumption and Logics of Social Difference in Post-Soviet Russia, Ph.D. Dissertation New York University 2001. 42 Humphrey, Caroline: The Villas of the „New Russians“. A Sketch of Consumption and Cultural Identity in Post-Soviet Landscapes, in: dies.: The Unmaking of Soviet Life. Everyday Economies after Socialism, Ithaca/London 2002, S. 175-201; Oushakine, Serguei: The Quantity of Style. Imaginary Consumption in the New Russia, in: Theory, Culture and Society 17 5/2000, S. 97-120. 43 GfK RUS: Russian Consumer 2001, Moskau 2001; Koptev, Sergej/Clark, Nigel/Tkaev, Vladimir/Arakelova, Julia/Semina, Natal’ja/Romanina, Ekaterina: elovenyj marketing, Moskau 2003; Schmid, Sigrid: Der russische Konsument. Lebenswelt – Konsumverhalten – Markenwahrnehmung, Münster/Berlin/Düsseldorf 2004. 44 Randall, Amy: Legitimizing Soviet Trade. Gender and the Feminization of the Retail Workforce in the Soviet 1930s, in: Journal of Social History 37 4/2004, S. 965-990; Reid, Susan: Cold War in the Kitchen. Gender and the
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Eine weitere Schlüsselfrage der Konsumforschung ist die nach Konsum als sozialer und kultureller Praxis des Alltags.45 Mehrere Arbeiten erkennen die Besonderheit sozialistischer Konsumkulturen gerade in den Praktiken und Strategien der Menschen, die auf die Bewältigung des Mangels abzielten.46 Die Historikerin Sheila Fitzpatrick analysiert das Alltagsleben im Stalinismus und stellt Konsum unter den Bedingungen des absoluten Mangels als Teil des schwierigen Lebens und Überlebens dar.47 Verschiedene Studien untersuchen die Bewältigung des Übergangs zur Marktwirtschaft durch die Konsumenten und charakterisieren diese Situation als geprägt von Ernüchterung, Verunsicherung und dem Suchen nach stabiler Identität.48 Außerdem findet sich mehrfach die These, dass die vergemeinschaftenden Funktionen des Konsums, die sich beispielsweise in Praktiken wie dem Schenken oder dem Bewirten von Gästen zeigen, in postsozialistischen Transformationsgesellschaften einem fundamentalen Wandel unterlagen. 49 Die Praxis des Shoppings wird als eine Neuheit des Konsumierens unter postsozialistischen Bedingungen bezeichnet.50
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De-Stalinization of Consumer Taste in the Soviet Union under Khrushchev, in: Slavic Review 61 2/2002, S. 211-252. Vgl. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin 1988 [1980]. Chelcea, Liviu: The Culture of Shortage during State-Socialism. Consumption Practices in a Romanian Village in the 1980s, in: Cultural Studies 16 1/2002, S. 16-43; Nikolaev, V.: Sovetskaja oered’ kak sreda obitanija. Sociologieskij analiz, Moskau 2001. Fitzpatrick, Sheila: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times. Soviet Russia in the 1930s, Oxford et al. 1999. Berdahl, Daphne: Where the World Ended. Re-Unification and Identity in the German Borderland, Berkeley/Los Angeles/London 1999; Humphrey, Caroline: Creating a culture of disillusionment. Consumption in Moscow, a chronicle of changing times, in: Miller, Daniel (Hg.): Consumption. Critical concepts in the social sciences. Volume II: The history and regional development of consumption, London/New York 2001, S. 223-248; evenko, Ol’ga: Konsumieren, lamentieren, adaptieren. Hybride Konsummuster und neue Identitäten in Russland, in: Osteuropa 53 4/2003, S. 515530; Shevchenko, Olga: „In Case of Fire Emergency“. Consumption, security and the meaning of durables in a transforming society, in: Journal of Consumer Culture 2 2/2002, S. 147-170. Caldwell, Melissa: Not By Bread Alone. Social Support in the New Russia, Berkeley/Los Angeles/London 2004; Patico, Jennifer: Chocolate and Cognac. Gifts and the Recognition of Social Worlds in Post-Soviet Russia, in: Ethnos 67 3/2002, S. 345-368; Ledeneva, Alena: Russia’s Economy of Favours. Blat, Networking and Informal Exchange, Cambridge 1998. Keller, Margit: Needs, Desires and the Experience of Scarcity. Representations of recreational shopping in post-Soviet Estonia, in: Journal of Consumer Culture 5 1/2005, S. 65-85.
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In der Haltung zu Konsum kommen normative Wertvorstellungen zum Ausdruck und in Produkten manifestieren sich ästhetische und kulturelle Wertvorstellungen eines historischen und räumlichen Kontextes. 51 Die kulturwissenschaftliche Forschung widmet sich dem Konsum unter sozialistischen und postsozialistischen Bedingungen auch im Hinblick auf diese Fragen. Hierbei wird die These vertreten, dass sich der politische und gesellschaftliche Wandel in der Sowjetunion sehr deutlich in veränderten normativen Vorstellungen bezüglich des Konsums niederschlug.52 Victor Buchli und andere Forscher weisen auf die große Bedeutung des sozialistischen Designs als Träger ästhetischer und normativer Vorstellungen hin.53 Die Forschung betont auch die Wichtigkeit von internationalen Messen in sozialistischen Konsumgesellschaften, da die Menschen dort verschiedensten Gütern und damit auch den Repräsentationen fremder und einheimischer Wertvorstellungen begegneten. 54 Mehrere Beiträge und auch Anthologien bieten einen Überblick über den Wandel der Warenästhetik, der sich in der russischen und sowjetischen Werbung sowie in der Vermarktung von Produkten niederschlug.55 Verschiedene Studien zur Entwicklung des russischen und sowjetischen Markenwesens arbeiten die geringe Bedeutung von Marken für die sowjetische Konsumkultur heraus und weisen auf die beson51 Vgl. Douglas, Mary/Isherwood, Baron: The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption, London/New York 21996 [1979]. 52 Gurova, Ol’ga: Ot bytovogo asketizma k kul’tu veej: ideologija potreblenija v sovetskom obestve, in: Novosibirskij gosudarstvennyj universitet (Hg.): Ljudi i vei v sovetskoj i postsovetskoj kul’ture. Sbornik statej, Novosibirsk 2005, S. 6-21; Boym, Svetlana: Common Places. Mythologies of Everyday Life in Russia, Cambridge/London 1994. 53 Buchli, Victor: An Archeology of Socialism, Oxford/New York 1999; Reid, Susan/ Crowley, David (Hg.): Style and Socialism. Modernity and Material Culture in Post-War Eastern Europe, Oxford/New York 2000. 54 Gecser, Ottó/Kitzinger, Dávid: Fairy Sales. The Budapest International Fairs as Virtual Shopping Tours, in: Cultural Studies 16 1/2002, S. 145164; Pence, Katherine: „A World in Miniature“. The Leipzig Trade Fairs in the 1950s and East German Consumer Citizenship, in: Crew, David (Hg.): Consuming Germany in the Cold War, Oxford/New York 2003, S. 21-50. 55 Aleksandrov, Filipp: Chroniki rossijskoj reklamy, Moskau 2003; Domnin, Vladimir: Brending. Novye technologii v Rossii, St. Petersburg 2002; Evstaf’ev, Vladimir/Pasjutina, Evgenija: Istorija rossijskoj reklamy. 19912000, Moskau 2002; Sal’nikova, Ekaterina: Entdeckung eines neuen Lebens. Fernsehwerbung in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in Russland, in: Forschungsstelle Osteuropa Bremen (Hg.): Kommerz, Kunst, Unterhaltung. Die neue Popularkultur in Zentral- und Osteuropa, Bremen 2002, S. 301-317; Savel’eva, Ol’ga: ivaja istorija rossijskoj reklamy, Moskau 2004; Uenova, Viktorija: Istorija oteestvennoj reklamy. 19171990, Moskau 2004.
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dere Situation des Markenwesens im postsowjetischen Russland hin.56 Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Untersuchungen zum Fall der DDR und der Neuen Bundesländer.57 Anhand all dieser Arbeiten lässt sich ein Eindruck über ästhetische und kulturelle Vorstellungen in sozialistischen und postsozialistischen Gesellschaften, die in der Produktgestaltung verwirklicht wurden, gewinnen. Einzelstudien aus dem Bereich der Cultural Studies streichen schließlich die kulturellen und moralischen Konsequenzen der Einführung der Marktwirtschaft im Russland der 1990er Jahre heraus.58 In Russland beheimatete Wissenschaftler haben erst seit kurzem und in geringem Ausmaß begonnen, sich mit dem Thema Konsum aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive in nicht-marxistischer Tradition zu befassen. Geschuldet ist dies meiner Ansicht nach einerseits der immer noch schlechten Ausstattung der Bibliotheken mit ausländischer Literatur und ausländischen Zeitschriften sowie der Tatsache, dass ein Großteil der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theoretiker zu Konsum westlicher Provenienz erst in den 1990er Jahren oder noch gar nicht ins Russische übersetzt worden ist. Forschungsarbeiten in russischer Sprache, wie sie in den Sammelbänden „Soziologie des Kon-
56 Althanns, Luise: Markenbewusstsein in Russland, Diplomarbeit Universität Passau 2003; Glinternik, Eleonora: Tovarnyj znak v Rossii. Istorija i sovremennost’, in: Deichsel, Alexander/Brandmeyer, Klaus/Glinternik, Eleonora (Hg.): Tovarnyj znak v Evrope i v Rossii. Voprosy, teorii i istorii, Sankt Petersburg 2002, S. 67-127; Glinternik, Eleonora: Russland entdeckt seine Marken, in: Brandmeyer, Klaus/Deichsel, Alexander/Prill, Christian (Hg.): Jahrbuch Markentechnik 2004/2005, Frankfurt/M. 2004, S. 477-499; Postler, Annika: Sobornost. Markenführung in Russland, in: Brandmeyer, Klaus/Deichsel, Alexander (Hg.): Jahrbuch Markentechnik 2000/2001, Frankfurt/M. 1999, S. 87-117; Schpakowa, Rimma: Kein Sterben im Frost. Markenphantasien in sozialistischer Not, in: Brandmeyer, Klaus/Deichsel, Alexander/Otte, Thomas (Hg.): Jahrbuch Markentechnik 1995, Frankfurt/M. 1995, S. 227-234. 57 Hennecke, Angelika: Im Osten nicht Neues? Eine pragmalinguistischsemiotische Analyse ausgewählter Werbeanzeigen für Ostprodukte im Zeitraum 1993 bis 1998, Frankfurt/M. et al. 1999; Zerjeski, Claudia: Die Marke als Exportschlager? Zur Rezeption der Markenidee in der ehemaligen DDR, in: Hellmann, Kai-Uwe/Pichler, Rüdiger (Hg.): Ausweitung der Markenzone. Interdisziplinäre Zugänge zur Erforschung des Markenwesens, Wiesbaden 2005, S. 169-188. 58 Barker, Adele (Hg.): Consuming Russia. Popular Culture, Sex, and Society since Gorbachev, Durham/London 1999; Condee, Nancy/Padunov, Vladimir: The ABC of Russian Consumer Culture. Readings, Ratings, and Real Estate, in: Condee, Nancy (Hg.): Soviet Hieroglyphics. Visual Culture in Late Twentieth-Century Russia, Bloomington/Indianapolis/London 1995, S. 130-172.
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sums“ aus dem Jahr 200159 und „Menschen und Dinge in der sowjetischen und postsowjetischen Kultur“ von 200560 veröffentlich wurden, gibt es bislang nur wenige.
Perspektiven auf Konsum Dieses Buch nähert sich dem Phänomen Konsum aus zwei Perspektiven. Auf der einen Seite soll ein objektivierender Überblick über „reale“ – also messbare und beobachtbare – Veränderungen des Konsumverhaltens und der Konsumbedingungen für die Verbraucher gegeben werden. Auf der anderen Seite interessieren Interpretationen, Bewertungen und Deutungen, die dem Konsum in dieser Zeit zukamen. Die wichtigsten Quellen sind journalistische Publikationen über die veränderten Rahmenbedingungen des Konsums, Publikationen zu Werbung, Marketing und bestimmten Konsumgütern, Experteninterviews mit Konsumforschern, Statistiken zu Konsum und Ausstattung, Studien der Konsum-, Meinungs- und Marktforschung sowie Karikaturen zum Thema Konsum. Systematisch ausgewertet wurden verschiedene russische und deutsche Zeitungen und Zeitschriften, die sich mit Konsum und Marketing befassen, wie „Sowjetischer Handel“61, „Unternehmen“62, „Marketing und Marktforschung in Russland“63, „Absatzwirtschaft“ und „Handelsblatt“. Daraus werden Informationen über Ereignisse und Prozesse, welche die Bedingungen und Ausprägungen des Konsums beeinflussten, entnommen. Anhand von Anthologien zur Werbung in sowjetischer und russischer Zeit und Veröffentlichungen von Konsumgüterherstellern wird die Entwicklung der Werbung an sich sowie die bestimmter Produkte nachvollzogen. Berichte von ausländischen Beobachtern über den sowjetischen und russischen Konsumalltag stellen eine ergänzende Quelle zur Erfassung des Wandels beim Konsum dar. Außerdem werden Ergebnisse von wissenschaftlichen Studien, die sich den politischen und volkswirtschaftlichen Veränderungen und daher auch dem Phänomen Konsum widmeten, herangezogen.
59 Volkova, L./Gronow, Jukka/Minina, Vera (Hg.): Sociologija potreblenija, Sankt Petersburg 2001. 60 Novosibirskij gosudarstvennyj universitet (Hg.): Ljudi i vei v sovetskoj i postsovetskoj kul’ture. Sbornik statej, Novosibirsk 2005. 61 Sovetskaja torgovlja. 62 Kompanija. 63 Marketing i marketingovye issledovanija v Rossii.
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Eine zweite Gruppe von Materialien stellen Studien der Konsum-, Markt- und Meinungsforschung sowie Konsumstatistiken aus der offiziellen Statistik dar. Diese statistischen Quellen ermöglichen Aussagen über die Bewertung der Konsumsituation durch die Verbraucher, über Ausstattung und Konsum in quantitativen Größen sowie über die Differenzierung der Konsumenten. Bereits in sowjetischer Zeit und noch mehr in den 1990er Jahren waren Konsum- und Marktforschungsinstitute ein wichtiger Akteur im Feld des Konsums. Diese registrieren nämlich nicht nur Meinungen, sondern stellen durch die Formulierung bestimmter Fragen und teilweise auch durch die Veröffentlichung der Ergebnisse einen modernen Reflexionsapparat über herrschende Normen dar. Für die sowjetische Zeit werden Studien des wichtigsten Konsumforschungsinstituts der Sowjetunion, WNIIKS, herangezogen. Das „Allunionsinstitut für die Erforschung der Nachfrage der Konsumenten nach Waren des Massenkonsums und der Konjunktur des Handels“ wurde im Jahr 1965 gegründet und verfügte neben einem Hauptsitz in Moskau über zahlreiche Filialen in den Unionsrepubliken.64 Für die 1990er Jahre stellen die Studien des im Jahr 1988 eingerichteten Meinungsforschungsinstituts WZIOM, des „Allunionszentrums zur Erforschung der öffentlichen Meinung“, eine sehr ergiebige Quelle dar. Die Aufgabe des von Juri Lewada geleiteten Instituts bestand in der Durchführung von repräsentativen Meinungsumfragen zu politischen und gesellschaftlichen Themen. Ab 1989 gehörten auch Markt- und Konsumforschung zum Aufgabenspektrum des Instituts. Das Buch „Die Sowjetmenschen 1989-1991. Soziogramm eines Zerfalls“ basierte auf repräsentativen Studien dieses Instituts und bietet eine soziographische Analyse der sowjetischen Gesellschaft am Ende der sowjetischen Zeit. In den 1990er Jahren setzte dieses Institut seine Arbeit in Russland fort. Im Jahr 2003 verließen die Mitarbeiter von WZIOM aufgrund politischer Einflussnahme das Institut und arbeiteten von da an im neu gegründeten Lewada-Zentrum weiter, welches Juri Lewada bis zu seinem Tod im November 2006 leitete. Von 1993 bis 2003 brachte WZIOM sechsmal im Jahr die Zeitschrift „Beobachtung der Öffentlichen Meinung: Ökonomische und Soziale Veränderungen“ heraus, in der die Ergebnisse von periodischen Befragungen zu den gleichen The-
64 Vgl. Vserossijskij Nauno-issledovatel’skij Institut Potrebitel’skogo Rynka i Marketinga (http://www.pocmapket.ru/history.htm [20.3.2007]). Dieses Institut besteht unter abgewandeltem Namen, WNIIPRiM, bis heute fort. Vgl. Vserossijskij nauno-issledovatel’skij institut potrebitel’skogo rynka i marketinga (VNIIPRiM) (http://www.vniiprim.ru/ [1.4.2008]).
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men in Tabellenform sowie Einzelstudien publiziert wurden.65 Herangezogen werden ebenso Daten aus diesem Erhebungskontext, die im Internet, in anderen Zeitschriften sowie in einer Studie für den deutschen Verband der Automobilindustrie veröffentlicht wurden. Die Tätigkeit dieses Instituts wird stets als höchst integer und strengsten wissenschaftlichen Güterkriterien unterliegend beschrieben, folglich sind die Ergebnisse der Befragungen als sehr valide zu beurteilen.66 Außerdem werden publizierte Studien weiterer renommierter Konsumforschungsinstitute wie GfK RUS, der im Jahr 1991 gegründeten russischen Tochter der deutschen Gesellschaft für Konsumforschung, und „Fond Öffentliche Meinung“ (FOM) herangezogen. 67 Schließlich stellen auch Konsumstatistiken aus den statistischen Jahrbüchern eine Informationsquelle dar.68 Im Mai und Juni 2006 führte ich in Moskau Interviews mit verschiedenen Vertretern der Konsumforschung. Mit einem früheren Mitarbeiter des wichtigsten sowjetischen Konsumforschungsinstituts WNIIKS, Jewgeni Mjasin, stand ich in intensivem Austausch per E-Mail und persönlich. Auskunft gaben mir außerdem Marktforscher, die in den 1990er Jahren in Russland tätig waren: Alexander Demidow (GfK RUS), Juri Poletajew (Lewada-Zentrum) sowie Mascha Wakatowa (Komkon-2). Zudem traf ich mich mit Vertretern von Konsumgüterherstellern, näm65 Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny. Die Befragung in dieser Trendstudie erfolgte persönlich. Die bezüglich demographischer, regionaler und sozioökonomischer Merkmale repräsentative Stichprobe umfasste zunächst 4000 Befragte und wurde dann schrittweise auf 2000 gesenkt. Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift auch differenziert nach Größe des Wohnorts, Einkommen, Alter und beruflichem Status angegeben. Genauere Angaben zur Erhebungsmethode stehen dem Tabellenteil jeder Ausgabe dieser Zeitschrift voran. 66 Vgl. Levada-Centr > O KOMPANII > ISTORIJA (http://www.levada.ru/ istoria.html [31.3.2008]); Lewada, Juri: Die Sowjetmenschen 1989-1991. Soziogramm eines Zerfalls, Berlin 1992 [1991]; Aron, Leon: The Man Who Knew Russia Too Much, in: Washington Post 24.12.2006, S. B4. 67 Diese Institute arbeiteten mit Stichproben, die bezüglich demographischer, regionaler und sozioökonomischer Merkmale repräsentativ waren und etwa 1500 Befragte umfassten. Vgl. GfK RUS: GfK. Growth from Knowledege. GfK RUS International Institute for Market Research, Moskau 2004; Fond Obestvennoe Mnenie (http://www.fom.ru/ [31.3.2008]). 68 All diese statistischen Materialien enthalten vornehmlich Daten zum Konsum von Lebensmitteln sowie zur Ausstattung mit Kleidung und technischen Geräten. Das Konsumsegment Erholung und Tourismus – also die Nutzung bzw. der Besitz von Sommerhäusern, die Möglichkeit zu Nahund Fernreisen sowie die Inanspruchnahme von Freizeitangeboten – bleibt dabei fast gänzlich außen vor. Dies ist bedauerlich, da gerade der organisierte massenhafte Binnentourismus zu spätsowjetischer Zeit ein wichtiger Loyalitätsfaktor war und auch in postsozialistischer Zeit die russischen Konsumenten dem Tourismus Bedeutung zusprachen.
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lich Swetlana Poljakowa (McDonald’s Russland) und Dmitri Binewski (Adidas Russland). In all diesen Gesprächen erhielt ich vertiefende Informationen und Hinweise zur Interpretation und Bewertung der Ergebnisse der Marktforschungsstudien. Weiterhin wird beispielhaft ein Roman als Quelle herangezogen, den man als den sowjetischen Konsumroman der 1980er Jahre schlechthin bezeichnen kann, nämlich „Die Schlange“ von Wladimir Sorokin. Dieser Roman wurde am Anfang der 1980er Jahre verfasst, konnte allerdings zunächst nur in Frankreich erscheinen. Der Text dieses Romans besteht nur aus Dialogen und Monologen von Menschen in Schlangen vor Geschäften und bildet damit einen kollektiven „Inneren Monolog“ bzw. „Bewusstseinsstrom“, innerhalb dessen die in einer Schlange wartenden Menschen über Konsum und vieles andere reflektieren und diskutieren.69 Dieser Roman lässt sich als eine fiktive Darstellung von Einstellungen und Assoziationen der Menschen zu Konsum begreifen, welche sonst nirgendwo festgehalten wurden.70 Ähnlich wie aus dem Roman „Das Paradies der Damen“ von Emile Zola, der Ende des 19. Jahrhunderts in realistischer Manier Beobachtungen in zwei Pariser Warenhäusern dokumentierte und damit später zu einer Quelle der Forschung über den damaligen Konsum wurde, lassen sich auch aus diesem Werk Eindrücke über Einstellungen der Menschen gegenüber der Konsumrealität in dieser Zeit gewinnen.71 Einen wichtigen Teil der Materialbasis stellen die mit dem Thema Konsum befassten Karikaturen aus dem bedeutendsten sowjetischen und dann russischen Satire-Magazin „Krokodil“ dar. Die systematische Auswertung der Jahrgänge 1985 bis 1999 dieser Zeitschrift ergab, dass sich von den insgesamt etwa 8000 Karikaturen ein Korpus von etwa 600 Karikaturen mit dem Thema Konsum befasste. Aufgrund der Kombination 69 Sorokin, Vladimir: Oered’, Moskau 2002 [1985]. 70 „Prinzip [des Inneren Monologs bzw. Bewusstseinsstroms] ist es, das Figurenbewusstsein selbst ,sprechen‘ zu lassen: Wahrnehmungen, Empfindungen, Assoziationen aller Art, Erinnerungen, Überlegungen, auch bloße Lautfolgen ohne ausdrückliche Ankündigung oder Eingriff einer Erzählinstanz ‚aufzuzeichnen‘.“ Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, Opladen/Wiesbaden 8 1998 [1972], S. 182f. „Ulysses“ von James Joyce, „Mrs. Dalloway“ von Virginia Woolf und „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin sind bekannte Beispiele für Romane, die in erzähltechnisch ähnlicher Manier verfasst sind. 71 Vgl. Haupt, Heinz-Gerhard: Konsum und Geschlechterverhältnisse. Einführende Bemerkungen, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 395-410, hier: S. 395-397.
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aus dem politischen Hintergrund der Ausdrucksform Karikatur und der politischen Aufladung des Konsums in der Sowjetunion ermöglicht eine Analyse dieser Zeitschrift Einsichten in die verbreiteten Vorstellungen über das Konsumieren in der Sowjetunion und in Russland. Karikaturen enthalten dabei Aussagen auf unterschiedlichen Reflexionsebenen. Sie präsentieren einerseits Einstellungen und Meinungen, die in der Gesellschaft vorhanden sind, andererseits bewerten sie eben diese. Oftmals geschieht dies in ein und derselben Karikatur. Da man Karikaturisten ein sehr feines Gespür für bestehende gesellschaftliche Deutungsmuster unterstellen kann, enthalten Karikaturen in besonderer Weise verdichtete Informationen über soziale und kulturelle Wirklichkeit. Karikaturen spielten in der Sowjetunion seit ihrer Gründung eine wichtige Rolle innerhalb der Publizistik. In der Zeit nach der Oktoberrevolution wurden mit Agitationsplakaten die Massen informiert und mobilisiert. Wladimir Majakowski perfektionierte diese Ausdrucksform in den so genannten ROSTA-Fenstern. Diese Bild-Text-Kollagen, die ursprünglich von der Russischen Telegraphen-Agentur (ROSTA) herausgebracht wurden, in hoher Auflage erschienen und an öffentlichen Orten präsentiert wurden, informierten die Massen von September 1919 bis Februar 1922 über den Fortgang im Bürgerkrieg mit den „Weißen“. Die karikaturistische Darstellung von Personen und Ereignissen erwies sich als hervorragend geeignet für Zwecke der Propaganda insbesondere bei den Analphabeten in der Bevölkerung.72 Die Tradition der Karikatur führten bekannte Künstler der Stalinzeit wie Jefimow, die Kukryniksy oder Abramow fort. Nach der Theorie der sowjetischen Publizistik hatte die Karikatur einen hohen Stellenwert für die Information und Agitation der Bevölkerung im Sinne der politischen Führung. Trotz der tendenziösen Natur der politischen Karikaturen wird in der Forschung generell die Meinung vertreten, dass die satirischen Zeitschriften insbesondere mit Karikaturen, die unpolitische Themen berührten, eine Ventilfunktion übernehmen konnten. Allerdings gab es in der Karikatur bis zum Einsetzen der Politik von Glasnost verbotene Themen wie staatliche Symbolik, Demonstrationen, Kirche, Menschenschlangen, Lebensmittel und insbesondere Wursterzeugnisse. Die Karikatur in der UdSSR wie auch in den anderen sozialistischen Staaten war somit ein Zwitter zwischen Propaganda der politischen Führung und Kritik an den Missständen des Alltags. Wie gefährlich und wahr die Ka-
72 Vgl. Zelinsky, Bodo: Von der Revolution der Kunst zur Kunst der Revolution, in: ders. (Hg.): Russische Avantgarde 1917-1934. Kunst und Literatur nach der Revolution, Bonn 1991, S. 5-41.
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rikatur von den Machthabern eingeschätzt wurde, belegen Beispiele von zurückgezogenen Ausgaben und Verfahren gegen Redakteure.73 Im Zuge der Politik der Gorbatschow’schen Perestrojka und dem Prozess von Glasnost wurde es ab dem Jahr 1987 möglich, Kritik an innenpolitischen Themen zu äußern und objektiver soziale und wirtschaftliche Missstände – und darunter fallen auch Aspekte des Themas Konsum – anzuprangern. Im Jahr 1990 wurde schließlich die Zensur gänzlich abgeschafft.74 Der vorliegende historische Kontext wurde wesentlich von einer Politik der forcierten Transparenz und meinungspolitischen Öffnung geprägt. Daher ist eine profunde Betrachtung der öffentlichen Auseinandersetzung um Konsum wichtig, um den Gegenstand angemessen zu behandeln. Unter den insgesamt 22 satirischen Zeitschriften, die in der Sowjetunion in unterschiedlichen Sprachen erschienen, galt die im Jahr 1922 gegründete Zeitschrift „Krokodil“ als das Leitmedium, was sich auch in der hohen Auflage von über fünf Millionen Exemplaren im Jahr 1990 zeigte. Jedes Exemplar wurde von mehreren Personen gelesen. Mit dem Übergang zur Marktwirtschaft entstand jedoch für das „Krokodil“ wie für alle anderen Medien das Problem, dass die staatliche Subventionierung wegfiel und nur wenige Menschen über genügend freie finanzielle Mittel verfügten, die Zeitschrift zu Marktpreisen zu erwerben. Die Folge war ein Auflagenrückgang auf etwa 100 000 Exemplare im Jahr 1995. Außerdem erschien die Zeitschrift ab 1992 nur noch monatlich und nicht mehr wöchentlich.75 Die Zeitschrift wurde im Jahr 2000 eingestellt, zwar kurzzeitig als „Neues Krokodil“76 wieder belebt, doch verschwand auch diese Neuauflage 2004 vom Zeitschriften-Markt. In der Zeitschrift „Krokodil“ publizierten vorrangig fest angestellte Karikaturisten. Mitunter wurden aber auch Zeichnungen von Karikaturisten veröffentlicht, die nicht der Redaktion angehörten. Dies wurde in 73 Vgl. Etscheit, Georg: Die sowjetische Karikatur im Zeichen von Glasnost. Dargestellt am Beispiel des „Krokodil“, in: Osteuropa 41 3/1991, S. 275298, hier: S. 275; Roth, Paul: Die Karikatur in Russland in spätsowjetischer und nachsowjetischer Zeit (1985-1995), Köln 1996, S. 6-22; Zlatvoskij, Michajl: „Jumor molodych“. Iz istorii karikatury v Rossii 19532000 gody, in: Rossijskij institut kul’turologii (Hg.): Fenomenologija smecha. Karikatura, parodija, grotesk v sovremennoj kul’ture, Moskau 2002, S. 28-82. 74 Vgl. Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, Regensburg 2000, S. 484-506. 75 Vgl. Roth, Paul: Die Karikatur in Russland in spätsowjetischer und nachsowjetischer Zeit (1985-1995), Köln 1996, S. 6, 24-26; o. V.: Samaja pravdivaja istorija „Krokodila“. Kratkij kurs, in: Krokodil 6/1997, S. 2-4, 6, 8, 10, 12, 14. 76 Novyj Krokodil.
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der Zeitschrift und auch in der Darstellung hier durch die Angabe des Herkunftsortes und teilweise auch der Zeitschrift, bei der die Karikaturisten arbeiteten, zusätzlich zum Namen gekennzeichnet. In den Jahren 1989 bis 1993 veranstaltete man Wettbewerbe, im Rahmen derer man zur Einsendung von Karikaturen aufrief, in den Jahren 1989 bis 1991 zum Thema „Mit den Augen von Glasnost“, in den Jahren 1991 bis 1993 dann zum Thema „Wir lachen noch“. Diese Zeitschrift wurde quer durch die gesamte Gesellschaft gelesen. Die Kritik aus den Karikaturen dieser Zeitschrift repräsentierte und erreichte daher einen großen Teil der Bevölkerung. Mit der Verwendung dieser Quelle werden verschiedene Erkenntnisinteressen verfolgt. Die Analyse bestand daher aus mehreren Stufen und erforderte verschiedene methodische Zugänge, wobei den Besonderheiten und Eigenheiten der Ausdrucksform Karikatur Rechnung getragen wurde. Die Ermittlung der Bildinhalte erfolgte mittels Methoden der Bildanalyse aus der Kunstgeschichte bzw. Kunstwissenschaft. 77 Die Analyse der Aussagen der Karikaturen orientierte sich an Vorschlägen Roland Barthes, der anhand einer Werbeanzeige untersuchte, wie der Sinn in das Bild gelangt.78 Mittels einer systematischen Inhaltsanalyse wurde dann anhand des vorliegenden Bestandes von Karikaturen untersucht, welche Aspekte und Probleme der Konsumsituation große Aufmerksamkeit und Beachtung in der Öffentlichkeit hervorriefen. 79 Schließlich wurde die Frage verfolgt, welche mit der Sphäre des Konsums verbundenen Diskurse sich in der Karikatur niederschlugen und in dieser Zeit Bedeutung hatten.80 Diese Diskursanalyse untersucht daher, welche Bewertungen und Deutungen dem Phänomen Konsum an sich und dessen wesentlichen Aspekten in der Öffentlichkeit zukamen und wie sich jene im Zuge der meinungspolitischen Öffnung und der umfassenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen in dieser Zeit wandelten. 77 Vgl. Bogen, Steffen: Kunstgeschichte/Kunstwissenschaft, in: Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt/M. 2005, S. 52-67. 78 Vgl. Barthes, Roland: Rhetorik des Bildes, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/M. 1990 [1964], S. 28-46. 79 Vgl. Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 41993 [1983]; Früh, Werner: Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis, Konstanz 52001 [1981]. 80 Unter Diskurs wird hier die Gesamtheit aller Aussagen, die in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext zu einem bestimmten Thema gemacht werden können, verstanden. Vgl. Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse, Tübingen 22004 [2001], S. 7.
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Da Karikaturen bildliche und textliche Elemente enthalten, lassen sie sich als eine kommunikative Form zwischen Bild und Text erachten. Diese Diskursanalyse beschäftigt sich also nicht nur – wie generell üblich – mit dem „Sagbaren“81, sondern mit dem Darstellbaren. Aus methodischer Sicht steht einer solchen Ausweitung der Art des herangezogenen Materials nichts entgegen. Bisher führten vor allem forschungspraktische Gründe zu einer Beschränkung auf textliche Quellen.82 Unter den Schlagworten „Iconic Turn“ (Gottfried Boehm) und „Pictorial Turn“ (William Mitchell) wurde in der wissenschaftlichen Diskussion der letzten Zeit eine stärkere Beachtung bildlicher Quellen sowie bildlicher Wahrnehmungsformen in den verschiedenen Disziplinen gefordert, was in den Sozial- und Kulturwissenschaften eine Vielzahl an einschlägiger Forschung provozierte.83 So stellten auch Karikaturen bereits mehrfach einen Gegenstand sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung dar. Anhand dieses Materials wurden Fragen wie die nach nationalen Selbst- und Fremdbildern oder die nach der geäußerten Kritik an politischen und gesellschaftlichen Missständen unter verschiedenen politischen Regimes untersucht.84 Studien, die bezüglich des methodischen Umgangs mit der Quellenart Karikatur als direkte Vorbilder dienen konnten, ließen sich indessen nicht finden. Die Darstellung in diesem Buch ist in mehrere Teile gegliedert, wobei jeweils eine Leitfrage der Konsumforschung im Zentrum steht. 85 Der erste Teil untersucht die ökonomische Dimension des Konsums, die ein Ergebnis politischer Gestaltung sowie volkswirtschaftlicher Gegeben81 Vgl. Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse, Tübingen 22004 [2001]. 82 Vgl. Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse, Tübingen 22004 [2001], S. 104f; Keller, Reiner: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Wiesbaden 2004, S. 82-84. 83 Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, S. 329-380. Empirische und theoretische Vorschläge zu möglichen diskursanalytischen und diskurstheoretischen Zugängen zum Bild enthält der Sammelband: Maasen, Sabine/ Mayerhauser, Torsten/Renggli, Cornelia (Hg.): Bilder als Diskurse – Bilddiskurse, Weilerwist 2006. 84 Vgl. Grünewald, Dietrich (Hg.): Politische Karikatur. Zwischen Journalismus und Kunst, Weimar 2002; Reiß, Matthias: Tagungsbericht Political Cartoons as Historical Sources. 7.-8. Mai 2004, London (H-Soz-u-Kult, 28.5.2004, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=434 [31.3.2008]). 85 Vgl. zu diesem Vorgehen: McCracken, Grant: Die Geschichte des Konsums. Ein Literaturüberblick und Leseführer, in: Rosenberger, Günther (Hg.): Konsum 2000. Veränderungen im Verbraucheralltag, Frankfurt/M./ New York 1992, S. 25-53.
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heiten ist und hier als „Konsumrealität“ bezeichnet wird. Darunter werden der Konsum von und die Ausstattung mit Gütern in quantitativen Größen, die Rahmenbedingungen des Konsumierens sowie die Bewertung der individuellen und kollektiven Konsumsituation durch die Verbraucher verstanden. Das erste Kapitel dieses Abschnitts befasst sich mit der „Konsumrealität“ unter den Bedingungen des sowjetischen Konsummodells in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, das zweite Kapitel mit der Konsumkrise während des Umbruchs und das dritte schließlich mit den Ausprägungen des Konsums während der ersten marktwirtschaftlichen Jahre. Der zweite Teil geht der Frage nach, welche Diskurse den Wandel des Konsums während des Übergangs vom Plan zum Markt begleiteten. Die politische Prägung des Konsums wurde zu einem zentralen Gegenstand diskursiver Auseinandersetzung. Daher befassen sich die ersten beiden Kapitel dieses Teils mit den politischen Konsumdiskursen der Plan- bzw. der Marktwirtschaft. Im dritten Kapitel wird die Gegenüberstellung von Konsum auf der einen Seite und den Symbolen der Sowjetunion auf der anderen Seite untersucht. Das vierte Kapitel geht den moralischen Haltungen gegenüber dem Konsum, die sich in normativen Konsumdiskursen niederschlugen, nach. Im dritten Teil werden die zentralen Neuerungen beim Konsum während des Übergangs vom Plan zum Markt, die hier als „Konsuminnovationen“ bezeichnet werden, untersucht. Wesentliche Veränderungen ergaben sich in dieser Zeit aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Öffnung gegenüber dem Westen und der gesteigerten Notwendigkeit, Waren zu vermarkten. Im ersten Kapitel dieses Teils wird das Phänomen Konsum im Spannungsfeld von ausländischen Einflüssen und nationalen Befindlichkeiten untersucht. Das zweite Kapitel widmet sich dem Wandel der Vermarktung von Produkten. Im Schlussteil werden die Ergebnisse dieser Studie zusammengefasst, systematisiert und mit einem Ausblick auf die Entwicklung des Konsums in den Folgejahren ergänzt.
K O N S U M R E A L I T ÄT E N
Im Jahr 1985 wurde Michail Gorbatschow Generalsekretär der kommunistischen Partei der Sowjetunion. Aus gemäßigten Versuchen der Erneuerung des Systems entwickelte sich in der Folgezeit eine Eigendynamik politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Veränderungen, die schließlich am Jahreswechsel 1991/1992 zur Abschaffung des politisch-administrativen Kommandosystems und der Zentralverwaltungswirtschaft sowie zum Zerfall der multinationalen Sowjetunion mit der Russischen Föderation als ihrem Rechtsnachfolger führte. Anfangs richtete die Politik Gorbatschows ihre Aufmerksamkeit auf die wirtschaftlichen Mängel des Systems, auf Auswüchse der Bürokratie und Korruption sowie den Alkoholismus in der Bevölkerung. In der Zeit nach dem GAU in Tschernobyl im Jahr 1986, welcher den desolaten Zustand des sowjetischen Gemeinwesens offenbar machte, nahm die Politik Gorbatschows dann allmählich die Gestalt an, der er selbst die Schlagworte „Umbau“ („Perestrojka“) und „Transparenz“ („Glasnost“) als Forderungen voranstellte. Infolge dieser Umgestaltung vergrößerte sich der Spielraum der Presse, den diese in immer stärkerem Maße nutzte, und es entstanden informelle Vereinigungen. Die ersten teilweise freien Wahlen zum „Kongress der Volksdeputierten“ im Jahr 1989 und die Streichung der führenden Rolle der kommunistischen Partei aus der Verfassung im Jahr 1990 waren weitere wesentliche Schritte einer Politik, die das System erneuern wollte, es jedoch immer mehr destabilisierte. Als Radikalreformer tat sich dabei Boris Jelzin hervor, der deswegen zunächst sämtliche Partei- und Regierungsämter verlor, durch Direktwahl zum „Kongress der Volksdeputierten“ dann von der Bevölkerung rehabilitiert und schließlich im Juni 1991 zum ersten russischen Staatspräsidenten gewählt wurde. Die dogmatischen Kräfte in Partei und
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Staatsapparat begegneten diesen Veränderungen mit Widerstand und Gegenaktionen, welche im August 1991 in einem Putsch kulminierten. Aufgrund mangelnder Unterstützung in der Bevölkerung scheiterte dieser jedoch. In dessen Folge wurde die kommunistische Partei verboten. Noch im März 1990 war Gorbatschow zum ersten Präsidenten der Sowjetunion gewählt worden, doch die Souveränitätserklärungen aller Sowjetrepubliken – auch der russischen – in den Jahren 1988 bis 1990 und ihre Unabhängigkeitserklärungen im Jahr 1991 beendeten die Existenz des sowjetischen Staates zum Jahreswechsel 1991/1992. Während der Folgejahre war Russland dann politisch geprägt von einer Verfassung, die dem Präsidenten weit reichende Vollmachten zusprach, und von Boris Jelzin, der diese Vollmachten auch ausübte und mitunter dezidiert gegen das Parlament regierte.86 Begleitet wurden diese das politische System betreffenden Veränderungen von einem fundamentalen Umbau der Wirtschaft. Aus einer Zentralverwaltungswirtschaft wurde eine Marktwirtschaft, die Logik des Marktes ersetzte die des Plans und der Verteilung. Auf Gorbatschow ging die Einführung erster marktwirtschaftlicher Mechanismen zurück. Wesentliche Neuerungen waren die vollständige wirtschaftliche Rechnungsführung im Betriebsgesetz und die Ermöglichung privatwirtschaftlicher Initiative in den Gesetzen über individuelle Arbeitstätigkeit sowie über Kooperativen. Jelzin und die Reformer um den Finanzminister Gajdar waren dann verantwortlich für die Schocktherapie, mit welcher die Marktwirtschaft in der Russischen Föderation in kürzester Zeit eingeführt wurde. Kernstücke dieses Programms bestanden in der Freigabe der Preise zum 1. Januar 1992, in der Privatisierung des Eigentums sowie in der Liberalisierung privatwirtschaftlicher Tätigkeit. Diese Umgestaltung führte zunächst zu einer massiven volkswirtschaftlichen Krise, da die alten planwirtschaftlichen Mechanismen und Institutionen nicht mehr und die neuen marktwirtschaftlichen noch nicht funktionierten. Die ersten marktwirtschaftlichen Jahre waren daher von Inflation, sinkender Industrieproduktion und Massenarmut geprägt. Zwar stabilisierte sich die volkswirtschaftliche Lage ab Mitte der 1990er Jahre, doch die Finanzkrise des Jahres 1998 erschütterte das Land erneut. Mit dem neuen Jahrtausend begann dann mit der Präsidentschaft Wladimir Putins eine neue Ära politischer Gestaltung im postsowjetischen Russland.87 Dieser umfassende ökonomische, politische und ge86 Vgl. Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, Regensburg 2000, S. 484-546; Moynahan, Brian: Das Jahrhundert Russlands 1894-1994, München 2001 [1994], S. 239-276. 87 Vgl. Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, Regensburg 2000, S. 484-546; Moynahan, Brian: Das Jahr-
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sellschaftliche Veränderungsprozess stellte eine grundlegende Systemtransformation dar, wie sie in dieser Zeit auch die anderen vormals sozialistischen Staaten Ost-, Ostmittel- sowie Südost-Europas vollzogen. Die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Umgestaltungsprozesse hatten wesentliche Folgen für den individuellen Konsum. Vor diesem Hintergrund untersucht dieser Teil nun die ökonomische Dimension des Konsums, die ein Ergebnis politischer Gestaltung sowie volkswirtschaftlicher Gegebenheiten ist und sich während des Übergangs vom Plan zum Markt grundlegend wandelte. Unter den so genannten „Konsumrealitäten“ werden die Rahmenbedingungen des Konsumierens, der Konsum von und die Ausstattung mit Gütern in quantitativen Größen sowie die Bewertung der individuellen und kollektiven Konsumsituation durch die Verbraucher verstanden. Dieser Teil gliedert sich in drei Kapitel, die sich aufgrund der Chronologie des Wandels ergeben. Das erste Kapitel widmet sich den Ausprägungen des Konsums während der ersten Jahre unter Gorbatschow. Im nächsten Kapitel wird die Konsumkrise in der Sowjetunion während der Jahre 1989 bis 1991 untersucht. Das dritte Kapitel beleuchtet die „Konsumrealität“ während der ersten Jahre im marktwirtschaftlichen Russland.88 In diesen Kapiteln wird jeweils zunächst der politische und volkswirtschaftliche Rahmen, welcher den Konsum wesentlich beeinflusste, in seinen zentralen Zügen präsentiert. Wie sich Konsum und Ausstattung quantitativ darstellten und wandelten und wie die Menschen die Versorgungssituation bewerteten, wird anhand von statistischen Erhebungen sowie Ergebnissen der Meinungs- und Marktforschung nachvollzogen. Auf Grundlage zweier Studien zur Heterogenität der Konsumenten in den 1980er und 1990er Jahren wird zudem der Aspekt der sozioökonomischen bzw. kulturellsymbolischen Differenzierung der Menschen beim Konsum schlaglichtartig beleuchtet.
hundert Russlands 1894-1994, München 2001 [1994], S. 239-276; Trapp, Manfred: Der dekretierte Markt. Die sozialistische Wirtschaftsordnung und ihre Transformation in der Sowjetunion und der Russischen Föderation 1985-1992, Baden-Baden 1994. 88 Diese chronologischen Abschnitte werden so auch von einem russischen Volkswirt gesetzt. Vgl. Auzan, Alexander: Changes in the Behaviour of Russian Consumers Under Recent Reforms, in: Journal of Consumer Policy 18 1/1995, S. 73-84.
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Ko n s u m a m E n d e d e r s o w j e t i s c h e n Z e i t (1985-1988) Dieses Kapitel verfolgt die Frage, welche Ausprägungen der Konsum während der ersten Jahre der Gorbatschow’schen Perestrojka annahm. Zunächst werden daher die wesentlichen Merkmale und Charakteristika des sowjetischen Konsummodells dargestellt. Dann wird untersucht, wie sich Konsum und Ausstattung der sowjetischen bzw. russischen Verbraucher im Jahr 1985 in statistischen Größen darstellten. Schließlich wird der Differenzierung der Konsumenten, wie sie sich in der sowjetischen Konsumforschung niederschlug, nachgegangen.
Rahmenbedingungen des Konsums Konsum in der Sowjetunion war vorrangig Ergebnis politischen Willens und nicht ökonomischer Leistungsfähigkeit. Wirtschaftswachstum und Steigerung des Lebensstandards waren folglich zwei relativ unabhängige Größen. Die ersten Jahre sowjetischer Herrschaft waren von extremen Versorgungsengpässen infolge von Bürgerkrieg und der Politik des Kriegskommunismus geprägt. Auf eine allgemeine Verbesserung der Konsumsituation im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik während der 1920er Jahre folgte dann die Phase des verordneten Konsumverzichts und des Terrors unter Stalin, die politisch von der forcierten Kollektivierung der Landwirtschaft sowie der Durchsetzung einer zentralistischen Planwirtschaft untermauert wurde. Der Tod Stalins leitete eine Zeit ein, in der sich das System durch Konsumorientierung zu legitimieren suchte und die Menschen die Leistungen eben jenes auch gemäß ihrer individuellen Konsummöglichkeiten und weiterer sozialer Errungenschaften bewerteten. In den 1950er Jahren ließ Chruschtschow Normen rationalen Konsums als Zielvorgaben ausarbeiten und formulierte gar das Ziel des „Einholens und Überholens“ der USA im Konsumstandard bis zum Jahr 1980. Er ging dabei mit den utopischen Idealen des Kommunismus konform. Allerdings beinhalteten diese Normen einen erzieherischen Anspruch, welcher teilweise von den Wünschen der Verbraucher abwich. So war zunächst eine gemeinschaftliche Nutzung bestimmter langlebiger Konsumgüter wie Waschmaschinen und Kühlschränke durch mehrere Familien vorgesehen, die davon abweichenden Konsumwünsche der Menschen erzwangen hierbei eine Revision der Vorgaben.89 89 Vgl. Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, Regensburg 2000; Merl, Stephan: Staat und Konsum in der Zentralverwaltungswirtschaft. Russland und die ostmitteleuropäischen
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Galt bis Anfang der 1950er Jahre noch die Parole aus der Zeit des Kriegskommunismus „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, so verfolgte man dann das Ziel einer von der Arbeitsleistung des Einzelnen unabhängigen Bedürfnisbefriedigung. Durch eine starke Subventionierung von bestimmten Waren und Dienstleistungen, insbesondere von Lebensmitteln des Grundbedarfs, versuchte man, diesen Anspruch zu verwirklichen. Waren des gehobenen Bedarfs hingegen wurden zu stark überhöhten Preisen verkauft. Eine solche Preispolitik bot folglich nur mäßige Anreize zu besonderem Engagement im Beruf und führte zu unerwünschten Praktiken wie dem Verfüttern von Brot an Tiere. Die Stabilität der Preise von Grundnahrungsmitteln im staatlichen Handel wurde als ein wesentliches Element sozialer Gerechtigkeit propagiert und von den Menschen auch so empfunden. Auch wenn das Ziel des „Einholens und Überholens“ ab den 1960er Jahren von den Nachfolgern Chruschtschows nicht mehr formuliert wurde, ließen sich in den folgenden Jahren die Ansprüche der Bevölkerung, die auf der in dieser Zeit eingeleiteten Konsumorientierung des Systems beruhten, nicht mehr zurückdrehen. Die Gefahr von Unruhen im Falle von Einschnitten bei Konsum- und Sozialleistungen schränkte von da an den konsumpolitischen Spielraum der Verantwortungsträger deutlich ein. Die geringe Produktivität der sowjetischen Volkswirtschaft generierte keine Überflussgesellschaft. Der Anreiz für Betriebe, die Quantität und vor allem die Qualität ihrer Produkte zu erhöhen bzw. die Herstellungskosten zu senken, war gering. Da in der Folgezeit Reformen der Wirtschaftspolitik, die auf eine stärkere Berücksichtigung ökonomischer Kriterien abzielten, nur angefangen, jedoch nicht weiter umgesetzt wurden, stiegen die Kosten der Produktion und die infolge der festen Preise notwendigen Subventionen unaufhörlich an.90 Die Fixierung von Preisen unterhalb des markträumenden Wertes provozierte eine Situation, bei welcher der Engpass für die Konsumen-
Länder, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 205241; Saslawskaja, Tatjana: Die Gorbatschow-Strategie. Wirtschafts- und Sozialpolitik in der UdSSR, Wien 1989 [1989], S.192-203. 90 Vgl. Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, Regensburg 2000; Merl, Stephan: Staat und Konsum in der Zentralverwaltungswirtschaft. Russland und die ostmitteleuropäischen Länder, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 205241; Saslawskaja, Tatjana: Die Gorbatschow-Strategie. Wirtschafts- und Sozialpolitik in der UdSSR, Wien 1989 [1989], S.192-203.
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ten generell nicht in einem Mangel an Geld, sondern oftmals in dem an Waren bestand. In einer Situation, in der Güter knapp waren und nicht Geld, kam der sozialen Unterstützung von bestimmten Personengruppen auf dem Wege einer bevorzugten Zuteilung von Waren eine wichtige Rolle zu. Die Distribution der knappen Waren an die Verbraucher folgte daher politischen Überlegungen. Das sowjetische Konsummodell kannte Ungleichheiten und Privilegien, die zu einer extremen Differenzierung des Konsumangebots und Hierarchisierung des Konsumstandards für verschiedene Personengruppen führten. Ungleichheiten ergaben sich aus der Distribution von Produkten über Bestellsysteme der Betriebe, aus regionalen Unterschieden des Konsumgüterangebotes und aus der Einrichtung bevorzugter Konsummöglichkeiten für bestimmte soziale Gruppen. Folglich war nicht nur das gesamtgesellschaftliche, sondern auch das individuelle Konsumniveau von politischem Gutdünken abhängig. Die Distribution von Konsumgütern erfolgte in der Sowjetunion nicht nur über Geschäfte oder Märkte. Manche Waren und Dienstleistungen wurden nicht gehandelt, sondern den Menschen durch die Einräumung der Nutzung „gesellschaftlicher Konsumfonds“ zugänglich gemacht. Dazu gehörten beispielsweise die kostenlose Gesundheitsversorgung und Ausbildung, Plätze in Sanatorien und Ferienhäuser, die Bereitstellung von Wohnungen oder Plätzen in Kinderkrippen, Kindergärten und Pionierlagern. Nach Angaben der staatlichen Statistik für 1985 erhöhte sich das durchschnittliche monatliche Einkommen eines Arbeiters oder Angestellten in der Sowjetunion von 190 auf 269 Rubel, wenn man die Vergünstigungen aus den öffentlichen Konsumfonds anteilsmäßig zum direkt verdienten Geldeinkommen hinzurechnete. 91 Zentral für die Zuteilung von Waren an die Konsumenten war auch ein System von Bestellung und Verteilung über die Betriebe und Arbeitsstätten. Die Angestellten eines Betriebes hatten teilweise die Möglichkeit, einmal in der Woche im Betrieb selbst oder in einem zum Betrieb gehörenden Laden ein bestimmtes Lebensmittelpaket zu erwerben. Dies bestand beispielsweise aus einem Kilo Schweineragout oder Kochwurst, ein bis zwei Büchsen Schmorfleisch, einer Dose Sprotten oder Makrelen, einem Stück Butter, einem Päckchen Tee und einer Dose Bohnen oder Sprotten in Tomatensauce. Bestellungen vor Feiertagen waren 91 Vgl. Gosudarstvennyj komitet SSSR po statistike. Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1990g. Statistieskij e egodnik: Srednemesjanaja dene naja zarabotnaja plata raboich i slu aich po otrasljam narodnogo chozjajstva, Moskau 1991, S. 36; Gosudarstvennyj komitet SSSR po statistike. Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1990g. Statistieskij e egodnik: Srednemesjanaja zarabotnaja plata raboich i slu aich v narodnom chozjajstve s dobavleniem vyplat i l’got iz obestvennych fondov potreblenija, Moskau 1991, S. 46.
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generell üppiger und feiner, sie beinhalteten beispielsweise rohen Schinken, eine Dose Kaviar oder Krabben, Leber oder Kabeljau in Öl, gefrorenen Stör oder Zander und jeweils ein Glas eingelegter Tomaten und Gurken. Über die Betriebe konnte man auch schwer erhältliche langlebige Konsumgüter wie Autos, Kühlschränke, Möbel und Gartengrundstücke erwerben oder sich zunächst dafür in Wartelisten eintragen. Gewöhnlich wickelten die Gewerkschaftskomitees der Betriebe diesen Vorgang ab. Generell verteilten die staatliche Planungsbehörde und die jeweiligen Handelsministerien in den Unionsrepubliken die Warenressourcen des Landes. In den Industriezweigen Verteidigung, Kohle, Öl, Bergbau und Eisenbahn gab es jedoch eigene Handelssysteme und die Betriebe erhielten ihre Ressourcen über sie. Auch Waren der Leichtindustrie wie Kleidung, Schuhe, kleine Haushaltstechnik und Kosmetik konnte man über betriebliche Verkaufskanäle erwerben. Der Vorteil gegenüber dem Erwerb in gewöhnlichen Geschäften lag in der Zeitersparnis, allerdings war auch hier das Angebot oft von Zufällen bestimmt.92 Eine Besonderheit dieses Systems der Verteilung bestand darin, dass manchmal verschiedene Waren nur im Paket verkauft wurden, so dass der Konsument zwar knappe Waren erhielt, aber zugleich Güter erwerben musste, die ansonsten niemand kaufen wollte.93 Besonders begehrte Ware wie Sportkleidung von Adidas aus sowjetischer Lizenzproduktion konnte man fast ausschließlich über betriebliche Bestellsysteme erwerben.94 Ungleichheiten im Zugang zu Konsum ergaben sich auch aus regionalen Disparitäten. Während der staatliche Handel in der Hauptstadt Moskau und in Abstufungen auch in den weiteren regionalen Zentren wie Leningrad oder Kiew verhältnismäßig gut mit Waren bedacht wurde, so war die Versorgung in den übrigen Städten deutlich schlechter. In ländlichen Regionen war das Angebot an Waren generell sehr schlecht. Dies führte zur verbreiteten Praxis des Einkaufstourismus aus der Provinz in die besser versorgten Städte. Eine Untersuchung im Moskauer Einzelhandel im Jahr 1985 ergab daher, dass der Anteil der Zugereisten am Warenumsatz bei industriellen Waren 55,3% und bei Lebensmitteln 24,5% betrug.95 Generell war die in der Provinz lebende 92 Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 25.6.2006. 93 Vgl. Lewada, Juri: Die Sowjetmenschen 1989-1991. Soziogramm eines Zerfalls, Berlin 1992 [1991], S. 305. 94 Dmitri Binewski, Adidas Russland, 22.6.2006. 95 Vgl. Central’nyj Municipal’nyj Archiv Goroda Moskvy (CMAM), Fond 346, Opis’ 1: Glavnoe Upravlenie Torgovli Mosgorispolkoma (19551988), Delo 4425: „Informacija o sostave pokupatelej v magazinach g. Moskvy za 1981-1985 gg.“, Autor: Planovo-konomieskij Otdel’ (T. Korobkova), Moskau März 1986, S. 4.
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und in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung gegenüber den in der Industrie beschäftigten Stadtbewohnern deutlich sozial und bezüglich des Zugangs zu Konsum benachteiligt.96 Zu einer regionalen Differenzierung führte auch das Phänomen, dass den Bewohnern bestimmter Städte oder Gebiete, denen besondere Bedeutung zugesprochen wurde, das Recht auf die Versorgung mit schwer erhältlichen Lebensmitteln zugestanden wurde, unabhängig von ihrer Beschäftigung. Ein Beispiel hierfür ist die Wissenschaftsstadt Akademgorodok in Sibirien, in der in den 1980er Jahren jeder Einwohner das Recht hatte, monatlich zu den staatlichen Preisen 2kg Fleisch, 1kg Wurst sowie 600 bis 700g Butter zu kaufen.97 Durch eine bevorzugte Zuteilung von Berechtigungsscheinen für bestimmte Konsumgüter oder durch die Ermöglichung von vorrangigen Bestellungen in Warenhäusern wurden bestimmte Personengruppen sozial unterstützt.98 Mitunter wurden Geschäfte für die Allgemeinheit geschlossen, um einer bestimmten Bevölkerungsgruppe exklusive Einkaufsbedingungen zu bieten. 99 Zum Kreis der Berechtigten für Spezialkontingente gehörten im Falle des Moskauer Kaufhauses „Leipzig“ im Jahr 1990 unter anderem folgende Personengruppen: Teilnehmer am Bürgerkrieg, Teilnehmer an der Oktoberrevolution, Veteranen der Partei, Invaliden und Teilnehmer des 2. Weltkriegs, Helden der Sowjetunion, Helden der sozialistischen Arbeit, Witwen und Mütter der Gefallenen im 2. Weltkrieg und im Krieg in Afghanistan, Träger verschiedener Orden und Medaillen, kinderreiche Familien, Familien mit behinderten Kindern, Sehbehinderte, Rentner und Diabetiker.100 96
Vgl. Merl, Stephan: Staat und Konsum in der Zentralverwaltungswirtschaft. Russland und die ostmitteleuropäischen Länder, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S.205-241, hier: S. 229. 97 Vgl. Saslawskaja, Tatjana: Die Gorbatschow-Strategie. Wirtschafts- und Sozialpolitik in der UdSSR, Wien 1989 [1989], S. 193-196. 98 Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 25.6.2006. 99 Vgl. Lewada, Juri: Die Sowjetmenschen 1989-1991. Soziogramm eines Zerfalls, Berlin 1992 [1991], S. 81. In der Konsum-Fiktion des Romans „Die Schlange“ von Wladimir Sorokin löst die bevorzugte Bedienung von Delegierten eines Kongresses von Bezirksstoßarbeitern größten Missmut unter den Anstehenden vor einem Geschäft aus. Vgl. Sorokin, Vladimir: Oered’, Moskau 2002 [1985], S. 25-28. 100 Vgl. Central’nyj Municipal’nyj Archiv Goroda Moskvy (CMAM), Fond 474, Opis’ 1: Gosudarstvennyj Universal’nyj Magazin (GUM) (19531990), Delo 883: Dokumenty po organizacii Gosudarstvennym Universal’nym Magazinom „GUM“ i filialam obslu ivanija prod. zakazami veteranov Velikoj Oteestvennoj Vojny, truda, l’gotnych kategorij (svedenija, spiski i dr.) za 1990 g, S. 2. Eine weitere Praxis aus diesem Kontext
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Eine vage und schlaglichtartige Vorstellung über die quantitative Bedeutung dieser verschiedenen Wege besonderen Zugangs zu Konsum lässt sich aus den Ergebnissen zweier Studien des Meinungsforschungsinstituts WZIOM vom Jahreswechsel 1989/1990 ableiten. In einer Studie über Konsumgüter des alltäglichen Bedarfs sollten die Befragten angeben, welche anderen Möglichkeiten zum Erwerb von Gebrauchsartikeln ihnen offen ständen abgesehen vom Einkauf in normalen Geschäften. Demnach nutzten 22% der Verbraucher in der Sowjetunion den Verkauf dieser Waren auf Bezugsscheine, 12% kauften solche Waren am Arbeitsplatz, 7% konnten diese in Spezialgeschäften beispielsweise für Kriegsveteranen und Helden der Arbeit erwerben, 5% nutzten die Möglichkeit von Vorbestellungen am Arbeitsplatz oder in den Geschäften. Die Mehrheit von 64% gab im Jahr 1990 jedoch an, keine dieser Möglichkeiten zu nutzen und nur in normale Läden zu gehen.101 Im Rahmen einer weiteren Studie zum Lebensmittelkonsum wurde die Frage gestellt, welche Formen der Verteilung von Lebensmitteln die Verbraucher nutzten. Zu diesem Zeitpunkt verwendeten demnach 18% der Menschen in der Sowjetunion Lebensmittelkarten an ihrem Wohnort, 16% erwarben Lebensmittel in Geschäften oder Kantinen am Arbeitsplatz, 9% konnten in Geschäften oder Abteilungen für Invaliden oder Veteranen einkaufen, 7% nutzten die Möglichkeit von Lebensmittelbestellungen im Betrieb, 6% erhielten am Arbeitsplatz Berechtigungsscheine für Lebensmittel. Andere Formen nutzten 11%, allerdings gab fast die Hälfte (41%) an, nicht in den Genuss einer der genannten Vorzugsbedingungen zu kommen.102 Aus diesen Zahlen lässt sich schließen, dass gegen Ende der 1980er Jahre das System von Zuweisungen zwar große Teile der Verbraucher begünstigte, jedoch weitaus nicht alle erreichte. Aus der Gleichzeitigkeit von Verteilungslogik und Mangel ergaben sich spezifische Praktiken des planwirtschaftlichen Konsummodells wie Horten, Rationieren, Wiederverwerten, Einkaufstourismus und Schmuggeln.103 Eine weitere Praxis war die Spekulation mit Waren. Insbesonist das Bedientwerden „außer der Reihe“, die bestimmten Personengruppen wie Kriegsveteranen Bedienung ohne Schlangestehen ermöglichte. Diese Praxis erhielt sich in manchen Einrichtungen wie beispielsweise der Garderobe der russischen Staatsbibliothek, in der Vergnügungsanlage des Gorki-Parks sowie in manchen Supermärkten bis ins Jahr 2000. 101 Vgl. VCIOM/SINUS: 3. Konsumgüter für den alltäglichen Bedarf, in: Öffentliche Meinung in der UdSSR in Zahlen 2/1990. 102 Vgl. VCIOM: Obeanijami syt ne bude’, in: Ogonek 5/1990, S. 0-1, hier: S. 1. 103 Vgl. Chelcea, Liviu: The Culture of Shortage during State-Socialism. Consumption Practices in a Romanian Village in the 1980s, in: Cultural Studies 16 1/2002, S. 16-43; Luthar, Breda: Remembering Socialism. On
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dere sehr begehrte und daher schwer erhältliche Waren stellten das Objekt dieser Praxis dar. Auch die staatliche Konsumplanung in der Sowjetunion interessierte sich für die Praxis der Spekulation mit knappen Gütern. Gemäß einer Befragung erwarben Arbeiter und Angestellte der Industrie im ersten Halbjahr 1986 in Moskau vor allem Deckel für Einmachgläser, Baumaterialien, Elektrogeräte für den Alltag wie Mixer oder Fleischwölfe, belletristische Literatur sowie Importwaren wie Lederschuhe, Büstenhalter, Jacken „Alaska“ und kosmetische Artikel bei „Spekulanten“. Die Jacke „Alaska“ kostete anstelle des staatlichen Preises von 190 Rubel 230 Rubel, Lederstiefel 130 Rubel anstatt 110 Rubel, kosmetische Artikel 25 Rubel anstelle von 15 Rubel, Baumaterialien 72 Rubel statt 55 Rubel und organische Düngemittel 45 Rubel anstatt 30 Rubel.104 Der kriminelle Hintergrund dieser Praxis reduziert allerdings die Aussagekraft dieser Studie, die Angaben waren sicherlich untertrieben. Beziehungen stellten in der Sowjetunion generell eine wesentliche Bedingung für Konsum dar. Beziehungen zum Personal in Geschäften ermöglichten Zugang zu knappen Waren im freien Verkauf. Beziehungen zu Entscheidungsträgern in Betrieben ermöglichten den Erwerb von begehrten Waren aus betrieblichen Verteilungssystemen. Rare langlebige Konsumgüter wie Autos und Importprodukte sowie schwer erhältliche Lebensmittel wie Wurst und andere Fleischprodukte stellten Waren dar, für deren Erwerb oftmals Beziehungen notwendig waren.105 Eine weitere Folge des Defizits waren Schlangen, die den sowjetischen Alltag und die sowjetische Konsumkultur prägten. Die Erfahrung des Schlangestehens wurde folglich als wesentliches Sozialisationsmoment für die Menschen in der Sowjetunion bezeichnet.106 Die Schlange war nicht nur eine soziale Realität, sondern auch ein Prinzip, das soziale Ansprüche zur rechten Zeit regulierte. In ihr manifestierte sich gleich-
desire, consumption and surveillance, in: Journal of Consumer Culture 6 2/2006, S. 229-259; vab, Alenka: Consuming Western Image of WellBeing – Shopping Tourism in Socialist Slovenia, in: Cultural Studies 16 1/2002, S. 63-79. 104 Vgl. Central’nyj Municipal’nyj Archiv Goroda Moskvy (CMAM), Fond 346, Opis’ 1: Glavnoe Upravlenie Torgovli Mosgorispolkoma (19551988), Delo 4484: „Svodnye dannye o stepeni udovletvorenija sprosa na tovary narodnogo potreblenija za 1985 g.“, Autor: Planovo-konomieskij Otdel’, Dokument 5: O pokupke sem’jami raboich i slu aich g. Moskvy neprodovol’stvennych promylennych tovarov u gra dan v janvare-ijune 1986 goda. 105 Vgl. Ledeneva, Alena: Russia’s Economy of Favours. Blat, Networking and Informal Exchange, Cambridge 1998, S. 27-33. 106 Vgl. Nikolaev, V.: Sovetskaja oered’ kak sreda obitanija. Sociologieskij analiz, Moskau 2001, S. 161-166.
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sam die Praxis des Konsums über staatliche Verteilung.107 In der Sowjetunion existierten nicht nur Schlangen vor Geschäften, sondern auch virtuelle Schlangen im Sinne von Bestelllisten für langlebige Konsumgüter.108 Der zu Beginn der 1980er Jahre verfasste Konsumroman „Die Schlange“ von Wladimir Sorokin wies dem Thema Schlange eine große Bedeutung für das Leben der Menschen in der Sowjetunion zu, da die Schlange als ein wichtiger Ort der Begegnung erschien, wo Konsumrelevantes und anderes reflektiert, diskutiert und kommentiert wurde. 109 Auf dem Verkäufermarkt der Sowjetunion war die Position der Konsumenten im Einzelhandel somit insgesamt schlecht. Angefangen beim System des dreimaligen Anstehens in Geschäften – zum Äußern seines Wunsches, zum Bezahlen und zum Erhalt der Ware –, über die fehlende Möglichkeit zur Selbstbedienung bis hin zu generellen Unfreundlichkeiten des Handelspersonals stellte der Warenerwerb in der Sowjetunion ein mit vielen Mühen und Unannehmlichkeiten verbundenes Unterfangen dar.110
Konsum und Ausstattung in der Sowjetunion im Jahr 1985 in Zahlen In der Sowjetunion befassten sich zahlreiche Institute mit der Erforschung von Nachfrage, Bedarfsdeckung und Konsumentenverhalten. Ab den 1960er Jahren wurden damit die Konsumentenwünsche in der sowjetischen Zentralverwaltungswirtschaft stärker berücksichtigt.111 Zentraler Akteur in diesem Bereich war das „Allunionsinstitut für die Erforschung der Nachfrage der Konsumenten nach Waren des Massenkon-
107 Vgl. Humphrey, Caroline: Creating a culture of disillusionment. Consumption in Moscow, a chronicle of changing times, in: Miller, Daniel (Hg.): Consumption. Critical concepts in the social sciences. Volume II: The history and regional development of consumption, London/New York 2001, S. 223-248, hier: S. 229. 108 Vgl. Auzan, Alexander: Changes in the Behaviour of Russian Consumers Under Recent Reforms, in: Journal of Consumer Policy 18 1/1995, S. 7384, hier: S. 74. 109 Vgl. Sorokin, Vladimir: Oered’, Moskau 2002 [1985]. 110 Vgl. Merl, Stephan: Staat und Konsum in der Zentralverwaltungswirtschaft. Russland und die ostmitteleuropäischen Länder, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S.205-241. 111 Vgl. Ahlberg, René: Theorie der öffentlichen Meinung und der empirischen Meinungsforschung in der UdSSR, in: Osteuropa 19 3/1969, S. 161-172, hier: S. 168.
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sums und der Konjunktur des Handels“ (WNIIKS).112 Ein Bericht dieses Instituts über die „Konjunktur des Marktes für Massenkonsumgüter im Jahr 1985“ in der Sowjetunion bietet einen anschaulichen Überblick über die Versorgungssituation und zeigt allgemeine Trends im Konsum zu diesem Zeitpunkt in der Sowjetunion auf.113 Erstellt am Ende des 11. Fünfjahresplanes zog dieser Bericht ein Fazit über den Versorgungsgrad bei Lebensmitteln, Textilien und technischen Gütern, sprach die wesentlichen Probleme der Absatzgestaltung an und nannte die als rational empfohlenen Normen des Konsums bzw. des Ausstattungsniveaus für 1990, also die offiziellen Zielvorgaben bis zum Ende des 12. Fünfjahresplanes. Die Informationen dieses Berichtes beruhten auf Daten der staatlichen Statistik, Erhebungen im Einzelhandel sowie auf Befragungen der Bevölkerung und von Experten. Die Zahlen und Informationen aus diesem Bericht bezogen sich stets auf die gesamte Sowjetunion. Soweit möglich werden in der Darstellung Daten zum russischen Teil der Sowjetunion aus den statistischen Jahrbüchern ergänzend angeführt. Die Angaben zu Konsum und Ausstattung entsprechen den offiziellen Statistiken, die auf Daten von Produktion und Außenhandel sowie Umsatzzahlen beruhen und nicht auf Haushaltserhebungen, was die Validität der Zahlen einschränkt.114 Generell ist große Skepsis bezüglich der Glaubwürdigkeit sowjetischer Wirtschaftsstatistiken angebracht. 115 Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen kann man die hier beschriebene Situation bei Ausstattung und Konsum als Ausgangspunkt des in dieser Arbeit untersuchten Veränderungsprozesses betrachten. Basierend auf diesem Bericht werden das Niveau von Konsum und Ausstattung der sowjetischen bzw. russischen Verbraucher sowie die wesentlichen Momente der Absatzpolitik bestehend aus Warenangebot, Preisgestaltung und Verkaufsförderung, welche in der Mitte der 1980er Jahre die Konsumsituation in der Sowjetunion prägten, aufgezeigt.
112 Vgl. Vserossijskij Nauno-issledovatel’skij Institut Potrebitel’skogo Rynka i Marketinga (http://www.pocmapket.ru/history.htm [20.3.2007]). 113 Vgl. Central’nyj Municipal’nyj Archiv Goroda Moskvy (CMAM), Fond 346, Opis’ 1: Glavnoe Upravlenie Torgovli Mosgorispolkoma (19551988), Delo 4424: Doklad „Kon’’junktura rynka tovarov narodnogo potreblenija v 1985 godu i prognoz ego razvitija v 1986 godu“, Autor: V. Nefedov, Moskau 1985. 114 Vgl. Gosudarstvennyj komitet Rossijskoj Federacii po statistike. Rossijskaja Federacija v 1992 godu. Statistieskij e egodnik, Moskau 1993, S. 601. 115 Vgl. Wein, Norbert: Illusionen und Realität. Über die Glaubwürdigkeit sowjetischer Wirtschaftsstatistiken, in: Osteuropa-Archiv 39 2,3/1989, S. A80-A86.
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Lebensmittel Fleisch (-produkte) Fisch (-produkte) Milch (-produkte) Brot Zucker Gemüse Obst Kartoffeln Pflanzliches Öl
Konsum 1985 in der UdSSR 62
Konsum 1985 in der RSFSR 62
Empfohlene Norm für 1990 70
18
22,5
18,2
325
344
360
133 42,2 102 41 104 9,7
119 45,1 98 40 109 9,8
110 35,3 165 80 110 13,2
Tabelle 1: Realer und empfohlener Konsum bei Lebensmitteln 1985/ 1990 in UdSSR und RSFSR (kg pro Kopf im Jahr)116 Tabelle 1 zeigt das Konsumniveau bei Lebensmitteln und stellt die bedeutende Rolle, die Brot und Kartoffeln in dieser Zeit für die Ernährung der Menschen in der Sowjetunion spielten, heraus. Das Konsumniveau bei diesen Waren im Jahr 1984 bzw. 1985 erfüllte bzw. überstieg sogar die Zielgröße für das Jahr 1990. Das Brotangebot entsprach allerdings nicht den qualitativen Wünschen der Konsumenten.117 Gemessen an den Zielvorgaben erschien vor allem das Versorgungsniveau bei Obst und Gemüse als problematisch. Obwohl die Versorgung mit Lebensmitteln aus tierischer Erzeugung, also Fleisch, Fisch und Milchprodukte, sowohl in der Gesamt-Sowjetunion sowie im russischen Teil stets über 80% der Zielvorgaben erreichte, stellte man permanent Angebotslücken fest. Die Befriedigung der Nachfrage nach jenen Produkten war daher das größte Problem beim Lebensmittelangebot.118 Die Präferenzen der Konsumenten entsprachen nicht den empfohlenen Normen, denn insbesondere bei Lebensmitteln tierischer Herkunft und nicht so sehr bei Obst und Gemüse kam es zu Versorgungsengpässen. Außerdem waren die Verbraucher unzufrieden mit dem Verarbeitungsgrad der Lebensmittel. Die Nachfrage nach komplexeren Erzeug116 Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 19; Gosudarstvennyj komitet SSSR po statistike. Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1990g. Statistieskij e egodnik: Potreblenie produktov pitanija na duu naselenija, Moskau 1991, S. 128; Gosudarstvennyj komitet Rossijskoj Federacii po statistike. Rossijskaja Federacija v 1992 godu. Statistieskij e egodnik: Potreblenie produktov pitanija, Moskau 1993, S. 210. 117 Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 7. 118 Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 6.
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nissen wie Diät-Produkten, Lebensmitteln mit Vitaminanreicherung, Kindernahrung, Obst-, Gemüse- und Fleischkonserven konnte vielfach nicht befriedigt werden.119 Sehr hoch erschien der Konsum von Zucker, was allerdings auch durch die Praxis der Schwarzbrennerei von Alkohol verursacht wurde. Verstärkte Schwarzbrennerei und ein erhöhter Umsatz der Parfümerien in dieser Zeit waren das Ergebnis der staatlichen Maßnahmen gegen Trunksucht und Alkoholismus.120 Kleidung und Schuhe Stoff (qm) Oberbekleidung (Stück) Wäsche (Stück) Strümpfe und Socken (Paar) Schuhe (Paar)
Konsum 1985 in der UdSSR 37,1 2,1 4,7 7,2 3,2
Empfohlene Norm für 1990 51 4,0 9,4 8,3 3,7
Tabelle 2: Realer und empfohlener Konsum bei Textilien 1985/1990 in UdSSR (Einheit pro Kopf im Jahr)121 Nach Tabelle 2, die das Konsumniveau bei Kleidung und Schuhen im Jahr 1985 darstellt, war der Konsumstandard bei Lederschuhen sowie Strümpfen und Socken recht hoch und erreichte annähernd die Zielvorgaben für das Jahr 1990. Sehr mangelhaft hingegen war das Konsumniveau bei Oberbekleidung und Wäsche, wobei die Zielvorgaben nur zur Hälfte oder weniger erreicht wurden. Wie bei Lebensmitteln waren die Verbraucher auch bei Textilien oftmals nicht mit dem Verarbeitungsgrad der angebotenen Produkte zufrieden. Aus Sicht der Konsumenten gab es zu viel Ware mit niedrigem Verarbeitungsgrad und zu wenig fertige Kleidung. Gerade im Zeitraum 1980 bis 1985 bildete sich ein Trend unter den Konsumenten hin zu fertig geschneiderter Kleidung heraus, dem das Angebot nicht nachkam. Die Zielvorgabe des Konsums von Stoff für das Jahr 1990 in Tabelle 2 erscheint daher höher, als es die Verbraucher tatsächlich wünschten. Ein weiterer Trend bestand im Wunsch der Konsumenten nach Kleidung aus 119 Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 7. 120 Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 13f. Im Rahmen des 1985 erlassenen Gesetzes gegen Alkoholismus wurde der Verkauf von Alkohol drastisch beschränkt. Die Maßnahme hatte nur bedingt Erfolg und wurde 1988 stillschweigend beendet. Vgl. Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, Regensburg 2000, S. 485. 121 Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 19; Gosudarstvennyj komitet SSSR po statistike. Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1990g. Statistieskij e egodnik: Potreblenie otdel’nych neprodovol’stvennych tovarov na duu naselenija, Moskau 1991, S. 140.
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Naturstoffen anstelle von Kunstfasern. Wenn auch formal etwa ein Viertel der Textilproduktion jedes Jahr erneuert wurde, so wurde der Umfang tatsächlich neuer Produkte als unbedeutend eingeschätzt. Dieses Fehlen an Neuheit bemängelten die Verbraucher. Erzwungene Käufe von Kleidung und Schuhen niedriger Qualität aus Mangel an Alternativen führten dazu, dass die Menschen bis zu 30% ihrer Garderobe praktisch nicht trugen.122 Ein weiteres Problem bestand aus Sicht der Konsumenten im Mangel an Kleidung und Schuhen für Jugendliche und Senioren, da die Herstellung sich vorrangig am durchschnittlichen Konsumenten orientierte. Weniger als zehn Prozent der in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in der Sowjetunion hergestellten Kleidung war eigens für die Jugend konzipiert, und höchstens die Hälfte dieser Waren entsprach nach Einschätzung der sowjetischen Konsumforschung den qualitativen und ästhetischen Ansprüchen der Jugendlichen. Da die Jugendlichen mit dem einheimischen Angebot an Kleidung unzufrieden waren, erwarben sie bevorzugt importierte teure Waren. Der Anteil importierter Kleidung an der Garderobe dieser Konsumenten wurde zu dieser Zeit auf 40% bis 60% geschätzt.123 Auch ältere Menschen hatten beim Kauf von Bekleidung größte Probleme. Gemäß einer stichprobenartigen Untersuchung verließen 60% der alten Menschen Bekleidungsgeschäfte ohne Kauf, da sie nicht die gewünschte Kleiderart (30%), die richtige Größe (35%) oder ein Bekleidungsstück, das ihren Vorstellungen von Preis, Modell, Farbe und Qualität entsprach (35%), fanden.124 Die Konsumenten erachteten das Angebot von Kinderkleidung und insbesondere von Kinderschuhen ebenfalls als höchst defizitär.125
122 Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 10. 123 Vgl. Litvinov, M./Zimin, S./Podlesnyj, A.: Social’nyj zakaz molode i, in: Sovetskaja torgovlja 10/1988, S. 37-39; Strukov, K./Rudavskij, A.: Tovary dlja molode i. Orientirujas’ na spros, in: Sovetskaja torgovlja 9/1987, S. 24-27. 124 Vgl. Central’nyj Municipal’nyj Archiv Goroda Moskvy (CMAM), Fond 346, Opis’ 1: Glavnoe Upravlenie Torgovli Mosgorispolkoma (19551988), Delo 4628: Spravka o kon’’junkture torgovli za 1988 god, Dokument: K voprosu obespeenosti lic starego vozrasta ode doj i obuv’ju, 11.4.1988, S. 14-19. 125 Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 8.
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Technische Geräte
Ausstattung 1985 in der UdSSR Fernseher 97 Kühlschränke 91 Waschmaschinen 70 Fotoapparate 34 Uhren 530 Radioempfänger 96 Elektrostaubsauger 39 Motorroller 14 Fahrräder und Mopeds 55 Nähmaschinen 65 Autos 15
Ausstattung 1985 in der RSFSR 103 95 76 36 547 101 43 15 51 67 15
Empfohlene Ausstattung für 1990 130 112 85 60 600 160 60 39 60 82 .
Tabelle 3: Reale und empfohlene Ausstattung mit technischen Geräten 1985/1990 in UdSSR und RSFSR (Stück auf 100 Familien am Ende des Jahres)126 Die Tabelle 3 bietet einen Überblick über die Ausstattung der sowjetischen bzw. russischen Haushalte mit technischen Geräten. Nahe an die Zielvorgaben für das Jahr 1990 kam man demnach jeweils bei Uhren sowie Fahrrädern und Mopeds heran. Auch bei Fernsehern, Kühlschränken und Waschmaschinen erreichte das Ausstattungsniveau im Jahr 1985 hohe Werte. Hingegen erschien der Versorgungsgrad bei Fotoapparaten und Motorrollern gemessen an der empfohlenen Ausstattung sehr gering. Qualitative Aspekte der verschiedenen Gegenstände zeigen sich in dieser quantitativen Sicht nicht. So geht aus diesen Zahlen nicht hervor, ob es sich beispielsweise bei Fernsehern um Schwarz-Weiß-Fernseher oder Farbfernseher und ob es sich bei Waschmaschinen um Vollautomaten oder um Geräte, die nur einen Teil des Waschvorgangs leisten können, handelte. Technische Eigenschaften wie diese spielten jedoch für die Konsumenten zum damaligen Zeitpunkt eine wesentliche Rolle. Die Konsumforschung ermittelte, dass die Konsumenten auf ein quantitativ besseres Angebot an technischen Geräten mit gestiegenen Ansprüchen 126 Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 20; Gosudarstvennyj komitet SSSR po statistike. Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1990g. Statistieskij e egodnik: Obespeennost’ naselenija predmetami kul’turno-bytovogo i chozjajstvennogo naznaenija dlitel’nogo pol’zovanija, Moskau 1991; Gosudarstvennyj komitet Rossijskoj Federacii po statistike. Rossijskaja Federacija v 1992 godu. Statistieskij e egodnik: Obespeennost’ naselenija predmetami kul’turno-bytovogo i chozjajstvennogo naznaenija dlitel’nogo pol’zovanija, Moskau 1993, S. 213.
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bezüglich der funktionalen und ästhetischen Eigenschaften dieser Produkte reagierten. Die Verbraucher sahen ihre Nachfrage nach weiter ausgereiften Modellen wie Farbfernsehern oder bei Waschmaschinen Vollautomaten und Platz sparende Maschinen jedoch nicht befriedigt. 127 Die Konsumenten bemängelten weiterhin, dass sie sich bei Fernsehern, Kühlschränken, Wasch- und Nähmaschinen zwar einer großen Menge an Marken und Modellen gegenüber sähen, dass sich diese jedoch in ihren Gebrauchseigenschaften kaum voneinander unterschieden.128 Erzwungene Käufe infolge des Nichtvorhandenseins gewünschter Modelle bedingten zu einem Teil das ermittelte Konsum- und Ausstattungsniveau. Außerdem wurden qualitative Aspekte der genannten Waren nur am Rande berücksichtigt, auch wenn sie für die Verbraucher wesentlich waren. Regionale und soziale Disparitäten tauchten in dieser Darstellung nicht auf. Der real wahrgenommene Konsum- und Ausstattungsstandard in dieser Zeit war also sicherlich weitaus schlechter, als er aus den hier dargestellten numerischen Daten abzulesen ist. Der generelle Mangel an Waren stellte für die Menschen in der Sowjetunion ein zentrales Problem im Alltag dar. Besonders defizitär waren in dieser Zeit vor allem Schuhe, bestimmte Arten von Kleidung für Kinder, Jugendliche und Senioren, nicht allzu teure Sportwaren, Farbfernseher, Kassettenrekorder, Kühlschränke, Waschmaschinen, Möbel und Baumaterialien.129 Der von den Konsumenten empfundene Warenmangel war allerdings nicht nur in einer absolut zu geringen Produktion begründet. Das empfundene Defizit war auch bedingt durch einen Mangel an Waren, die den Konsumenten gefielen, durch eine mangelhafte Distribution der Waren in regionaler sowie in saisonaler Hinsicht, durch eine nicht mit Waren zu befriedigende überschüssige Kaufkraft auf Seiten der Verbraucher sowie durch Praktiken wie Horten und Spekulation, die den Mangel noch verstärkten.130 Die sowjetische Konsumforschung ermittelte, dass ab einem realen Mangel an Waren von etwa 10% spekulative Käufe getätigt wurden, so dass diese Waren vollständig aus dem Handel verschwanden.131 Das Defizit war folglich auch ein von den Konsumenten teilweise selbst produziertes Phänomen. Die diversen Qualitätsmängel machten Waren unattraktiv für die Verbraucher und zum Teil unverkäuflich. Als fehlerhaft und qualitativ 127 Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 9. 128 Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 11. 129 Vgl. Orlov, A.: Izuenie sprosa. Problemy perestrojki, in: Sovetskaja torgovlja 6/1986, S. 14-18, hier: S. 15. 130 Vgl. Götz-Coenenberg, Roland: Die Konsumgüterversorgung in der Sowjetunion: Lage und Aussichten, Köln 1989, S.15. 131 Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 14.6.2006.
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minderwertig erwiesen sich im Zeitraum 1981 bis 1985 8-9% der Fischprodukte, 4-5% des Zuckers, 10% der Obst- und Gemüsekonserven, 1216% der Kleidung, 14-18% der Lederschuhe, 15-17% der Möbel, 2025% der Fernseher und 20% der Kühlschränke und Waschmaschinen. Diese Mängel bezogen sich rein auf funktionale Kriterien, nicht berücksichtigt wurden geschmackliche Vorlieben der Konsumenten und ästhetische Eigenschaften der Produkte. 132 Mangelhafte Qualität stellte für die sowjetische Volkswirtschaft seit der Einführung zentraler Planung ein großes Problem dar. Ab den 1950er Jahren wurde das Qualitätsproblem zum Gegenstand systematischer Aktionen der sowjetischen Wirtschaftspolitik. Auch die Wirtschaftsreformen von Gorbatschow beinhalteten Maßnahmen in diesem als dringlich betrachteten Bereich. Ein wichtiges Reformprojekt in diesem Bereich war das „Gesetz über die Qualität der Produktion und den Verbraucherschutz“ im Jahr 1989.133 Das Qualitätsproblem wurde in den 1980er Jahren auch in der sowjetischen Fachpresse als „Problem Nummer Eins“ erkannt. In dieser Zeit stellte insbesondere die schlechte Qualität von Fernsehern ein sehr großes Ärgernis dar. Das Zeitfenster bis zum Auftreten der ersten technischen Probleme betrug zu diesem Zeitpunkt nämlich durchschnittlich nur noch zwei bis drei Jahre im Vergleich zu sechs bis sieben Jahren bei den in der Anfangszeit hergestellten Fernsehern.134 Das Angebot an Konsumgütern war aus Sicht der Menschen Mitte der 1980er Jahre also sowohl quantitativ als auch qualitativ ungenügend. Mit verschiedenen Maßnahmen der Absatzpolitik versuchte die administrative Seite den Markt für Konsumgüter zu beeinflussen. Angesichts einer Einkommenssteigerung in der Bevölkerung um 23% und einer Ausweitung des Warenangebots im Einzelhandel um lediglich 20% zwischen 1980 und 1985, war eine Verschärfung des schon zuvor bestehenden Warenmangels nur eine logische Folge ökonomischer Gesetzmäßigkeiten.135 Diesem Mangel an Waren begegnete man vor allem mit Preiserhöhungen im Einzelhandel. Im Zeitraum von 1980 bis 1985 wurden die Preise im Einzelhandel um durchschnittlich 10,3% erhöht, wobei 4,5% auf reine Erhöhungen und 5,8% auf Veränderungen des Warensortiments hin zu höherwertigen bzw. als solchen ausgegebenen Waren zurückzuführen waren. Insbesondere bei Alkohol und Waren, die nicht 132 Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 10. 133 Vgl. Goldberg, Paul: Economic Reform and Product Quality Improvement Efforts in the Soviet Union, in: Soviet Studies 44 1/1992, S. 113122; Gorlin, Alice: Observations on Soviet Administrative Solutions. The Quality Problem in Soft Goods, in: Soviet Studies 23 2/1981, S. 163-181. 134 Vgl. Orlov, J.: Kaestvo – problema nomer odin, in: Sovetskaja torgovlja 5/1987, S. 34-38, hier: S. 35f. 135 Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 4.
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zum täglichen Bedarf gehörten, wie Teppichen, bestimmten Arten von Möbeln, Benzin, Juwelier-Erzeugnissen und Kristall-Produkten wurden die Preise erhöht.136 Trotz des Mangels an Waren bestand zugleich das Problem, dass Waren nicht absetzbar waren. Im Jahr 1985 galten 4,5% des Gesamtvorrates an Waren als unverkäuflich. Textilien machten darunter den Löwenanteil aus.137 Ein Instrument der Absatzpolitik bei schlecht verkäuflichen Warenbeständen waren daher Preissenkungen. Zu dieser Zeit wurden die Preise verschiedener Waren wie beispielsweise von Textilien aus Kunstfasern, Armbanduhren, Fruchtsäften, Kühlschränken und Autos der Marken Saporoschez und Niwa herabgesetzt.138 Im Jahr 1984 wurden saisonale Schlussverkäufe eingeführt. Diese waren aber nur mäßig erfolgreich: Am Ende der Wintersaison 1984/1985 wurden nur 45% der ermäßigten Waren verkauft, am Ende der Sommersaison 1985 nur 33%. Allerdings wurde vorrangig mit Mängeln behaftete Ware und nicht Saisonware reduziert, was den Misserfolg dieser Aktionen begründete.139 Auch Werbeaktionen sollten den Verkauf von Waren fördern. Dabei waren volkswirtschaftliche Ziele bestimmend und nicht das Bestreben, die Konsumenten zu einem Verbrauch entsprechend der Zielvorgaben des Konsums zu bewegen. Eine groß angelegte Werbekampagne im Jahr 1985 sollte die Nachfrage nach Fischkonserven erhöhen, obwohl der Konsum von Fischkonserven bereits deutlich die empfohlene Norm überschritt.140 Diese verschiedenen Maßnahmen stellten konsumpolitische Versuche dar, im Rahmen der politischen Vorgaben den Konsumgütermarkt zu regulieren. Sie waren jedoch nur mäßig erfolgreich. Auch die Ausgabenstruktur der Haushalte in der Sowjetunion wurde durch die Wirtschaftsform beeinflusst und nahm eine spezifische Ausprägung an. Die Ausgabenstruktur einer Arbeiter- bzw. Angestelltenfamilie sah im Jahr 1985 in der Sowjetunion (im russischen Teil) folgendermaßen aus: Für Ernährung wurden 34% (33%) des Einkommens ausgegeben. Der Anteil weiterer Konsumgüter lag bei 31% (31%). Davon wurden für Stoffe, Kleidung und Schuhe 18% (19%), für Möbel und Haushaltsgegenstände 7% (7%) und für Autos, Fahrräder und Motorräder 2% (2%) ausgegeben. Für Alkohol wurden 3% (3%) und für Dienstleistungen 10% (11%) des Einkommens verausgabt. Der Rest wurde für
136 137 138 139 140
Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 5. Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 11. Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 5. Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 11. Vgl. CMAM 346-1-4424, S. 12.
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Steuern und weitere Zahlungen aufgewandt. 141 Im Vergleich zu kapitalistischen Staaten war also der Anteil der Dienstleistungen, deren Preise weitgehend unabhängig von Kosten-Kriterien festgesetzt wurden, sehr gering. Sehr hoch erschienen die Ausgaben für Alkohol und Lebensmittel, was auf eine hohe Besteuerung bestimmter Genussmittel zurückzuführen war.142 Diese Daten zu Konsum und Ausstattung in der Sowjetunion im Jahr 1985 zeigten die charakteristischen Ausprägungen eines planwirtschaftlichen Konsummodells auf. Prägend waren demnach ein quantitativ und qualitativ unzureichendes sowie kaum differenziertes Angebot, eine politisch gestaltete Ausgabenstruktur der Haushalte sowie mäßig erfolgreiche konsumpolitische Versuche, den Konsumgütermarkt im Rahmen der politischen Vorgaben zu regulieren.
Differenzierung der Konsumenten Bereits seit den 1970er Jahren gab es in der staatlichen Konsumforschung der Sowjetunion Ansätze, die Differenzierung der Konsumenten mittels Typologien zu systematisieren. Eine solche Fragestellung geht von der Einsicht aus, dass Konsum nicht eindeutig durch die Höhe des Einkommens bestimmt wird, sondern auch von Faktoren wie Bildungsniveau, Alter, Wohnort und Vorlieben im Stil abhängt. Durch ein solches Vorgehen wurde daher eine Differenzierung der Konsumenten bezüglich sozialer, ökonomischer und kultureller Faktoren in gewisser Weise als legitim anerkannt. Eine erste größere Studie dieser Art wurde in der Sowjetunion im Jahr 1978 durchgeführt. Deren Leistung bestand vorrangig in der theoretischen Fundierung der Typologisierung von Konsumenten sowie in der Präsentation der Ergebnisse einer konkreten empirischen Untersuchung in zwei russischen Dörfern. In den nächsten
141 Vgl. Gosudarstvennyj komitet SSSR po statistike. Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1990g. Statistieskij e egodnik: Sostav sovokupnogo dochoda semej raboich i slu aich i ego ispol’zovanie, Moskau 1991, S. 113; Gosudarstvennyj komitet Rossijskoj Federacii po statistike: Rossijskaja Federacija v 1992 godu. Statistieskij e egodnik: Sostav sovokupnogo dochoda semej raboich i slu aich i ego ispol’zovanie, Moskau 1993, S. 162. 142 Vgl. Merl, Stephan: Staat und Konsum in der Zentralverwaltungswirtschaft. Russland und die ostmitteleuropäischen Länder, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 205-241, hier: S. 229.
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Jahren folgten weitere empirische Studien im sibirischen Tomsk sowie in der Estnischen Republik.143 Die Methode der Typologisierung der Konsumenten fand schließlich in einem breit angelegten internationalen Forschungsprojekt Niederschlag. In den Jahren 1985 bis 1990 arbeiteten die jeweils wichtigsten Institute der Konsumforschung aus der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, der DDR, Polen und Kuba an einer gemeinsamen Studie. Diese beinhaltete eine Typologie der Konsumenten dieser Länder für fünf verschiedene Bereiche des Konsums, nämlich Kleidung und Schuhe, Einrichtung, Lebensmittel, Haushaltsgeräte sowie Freizeitwaren. Jedes der teilnehmenden Länder war für einen Produktbereich zuständig: die UdSSR für Kleidung und Schuhe, die DDR für Einrichtung, Kuba für Lebensmittel, Polen für Haushaltsgeräte und die Tschechoslowakei für Freizeitwaren. Befragt wurde jeweils eine repräsentative Grundgesamtheit von 1000 bis 2000 Personen. Die Auswertung erfolgte mittels einer Cluster-Analyse. Die Ergebnisse dieser Studie wurden in einem Sammelband veröffentlicht, in dem auch das Untersuchungsdesign der Konsumententypologien theoretisch und methodisch beleuchtet wurde. 144 Theoretischer Ausgangspunkt der Studie waren Klassiker der US-amerikanischen Marketing-Lehre wie Philip Kotler und das Journal of Marketing.145 Dies zeugt davon, wie wenig orthodox und ideologisch gebunden die sozialistische Konsumforschung zu diesem Zeitpunkt in ihrer theoretischen Verortung war. Die Studie wurde im Jahr 1990 abgeschlossen, ein praktischer Nutzen war somit aufgrund der sich zu diesem Zeitpunkt rasch ändernden Umweltbedingungen kaum mehr gegeben. Doch ist allein die Tatsache, dass ein solches internationales Großprojekt durchgeführt wurde, bemerkenswert. Es zeugt von einer Akzeptanz der Heterogenität der Konsumenten in den sozialistischen Staaten durch gewisse staatliche Akteure zu diesem Zeitpunkt und von einer prinzipiellen Einsicht in die Notwendigkeit, das Warenangebot an den ausdifferenzierten Wünschen der Verbraucher zu orientieren. 143 Vgl. Ajvazan, S./Rimaevskaja, N.: Tipologija potreblenija, Moskau 1978; Ovsjannikov, Anatolij/Pettaj, Iris/Rimaevskaja, Natal’ja: Tipologija potrebitel’skogo povedenija, Moskau 1989; ilina, L./Frolova, N.: Problemy potreblenija i vospitanie linosti, Moskau 1969. 144 Vgl. Ministerstvo torgovli SSSR, VNIIKS: Vvedenie, in: ders. (Hg.): Formirovanie tovarnogo assortimenta v stranach-lenach SV. Sbornik naunych trudov, Moskau 1990, S. 1f. 145 Vgl. Kusin’skaja, A.: Opyt i perspektivy ispol’zovanija segmentacii rynka i tipologii potrebitelej, in: Ministerstvo torgovli SSSR, VNIIKS (Hg.): Formirovanie tovarnogo assortimenta v stranach-lenach SV. Sbornik naunych trudov, Moskau 1990, S. 14-26.
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Anlass für diese Studie war vor allem die beobachtete Asymmetrie zwischen Angebot und Nachfrage innerhalb einzelner Sortimente, welche die Konsumforschung auf sich immer stärker ausdifferenzierende Bedürfnisse der Verbraucher zurückführte. Als Ursachen für die Unterschiede in den Bedürfnissen der Verbraucher wurden soziale und psychologische Faktoren sowie ökonomische Bedingungen genannt. Im Rahmen dieser Studie wurde versucht, die Besonderheiten in der Bedürfnis- und Nachfragestruktur der Konsumenten, ihre spezifischen Anforderungen bei bestimmten Waren sowie die Determinanten der Unterschiede beim Konsumverhalten herauszufinden. Die Ergebnisse dieses Projektes sollten helfen, die Warensortimente effizienter zu gestalten. Als großer Fehler der Konsumplanung in der Vergangenheit wurde die einseitige Orientierung am statistischen Durchschnittskonsumenten herausgestellt.146 Die Studie lässt sich als Annäherung an beobachtbare Konsumstile in der Sowjetunion und den anderen teilnehmenden Ländern in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre begreifen. Im Folgenden werden die Ergebnisse dieser Studie für drei verschiedene Produktbereiche – Lebensmittel, Kleidung und Schuhe, Haushaltsgeräte – dargestellt. Das international vergleichende Design bietet für die Analyse der Ergebnisse Probleme, denn die Konsumententypen waren jeweils auch ein Ergebnis struktureller Einflussfaktoren jedes einzelnen Landes: So konnte ein verhältnismäßig geringer Konsum von Fertigprodukten in der DDR einen absolut höheren Konsum bedeuten als ein verhältnismäßig hoher Konsum in der Sowjetunion. Dies wurde vor allem durch ein unterschiedliches Angebot infolge von Unterschieden beim Entwicklungsstand der jeweiligen Konsumgüterindustrie, regionalen Disparitäten, Unterschieden bei der Handelsstruktur etc. bedingt. Folglich beschränkt sich die Interpretation der Daten in der Darstellung jeweils nur auf den sowjetischen Fall. Die Daten sind jedoch für jedes einzelne Land als äußerst valide und sorgfältig erhoben zu beurteilen. Der Zeitrahmen von fünf Jahren für dieses Projekt ist enorm; in der privatwirtschaftlichen Marktforschung werden Studien dieser Art innerhalb weniger Wochen abgewickelt.
146 Vgl. Mjasin, Evgenij: Tipologija potrebitelej kak naunaja osnova formirovanija struktury potreblenija i assortimenta predlagaemych na rynke tovarov, in: Ministerstvo torgovli SSSR, VNIIKS (Hg.): Formirovanie tovarnogo assortimenta v stranach-lenach SV. Sbornik naunych trudov, Moskau 1990, S. 4-13.
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Konsumstile bei Lebensmitteln Bezüglich des Lebensmittelkonsums wurden in den teilnehmenden Ländern folgende gemeinsame Konsumententypen ermittelt: der traditionelle Typ, der rationale Typ, der dynamische Typ und der durchschnittliche Typ. Im Folgenden werden die Merkmale dieser Typen komprimiert dargestellt. Für die Tschechoslowakei und die DDR ergab sich jeweils ein Sondertyp, dessen Charakteristika jedoch hier nicht aufgeführt werden.
Traditioneller Typ Rationaler Typ Dynamischer Typ Durchschnittlicher Typ Sondertypen: Indifferenter Typ Genussorientierter Typ
UdSSR 50,2 37 . 12,8
DDR 87 9 . .
SSR 37,8 12,1 22,3 13,7
Polen 16,2 34,2 18,5 31,1
Kuba 23 . 35 42
. .
. 4
14,1 .
. .
. .
Tabelle 4: Typen von Konsumenten bei Lebensmitteln 1985-1990147 Traditioneller Typ: Gewohnheit und Traditionsbewusstsein sind für ihn wesentliche Kriterien bei der Auswahl von Lebensmitteln. Er isst zumeist in der Familie, seltener außer Haus. Kochen macht ihm Freude. Er bevorzugt frische Lebensmittel. Er ist nur mäßig interessiert an Informationen über neue Produkte und über Ernährung an sich. Zu diesem Typ gehören vor allem ältere Menschen, Menschen mit geringerem Einkommen sowie Menschen mit Wohnsitz in ländlichen Regionen. Er besitzt meistens ein Gartengrundstück oder etwas Ähnliches. Rationaler Typ: Bei der Auswahl von Lebensmitteln ist ihm neben dem Geschmack auch der Anspruch, sich vernünftig zu ernähren, wichtig. Ihm macht Kochen mehr Spaß als allen anderen Typen. Er zieht es vor, daheim zu essen. Oft benötigt er spezielle Diät-Produkte. Unzufrieden ist er mit Lebensmitteln niedriger Qualität. Er ist bereit, sein Essen mit Nahrungsergänzungsmitteln zu verbessern. Er ist an neuen Lebensmitteln interessiert und besitzt eine hohe Kenntnis über den Nährwert von Lebensmitteln. Zu diesem Typ gehören vor allem junge Familien mit einem oder zwei Kindern in Großstädten. Er hat einen höheren Bil-
147 Vgl. Fernandez, U./Muos, E./Nabut, X.: Tipologija potrebitelej produktov pitanija, in: Ministerstvo torgovli SSSR, VNIIKS (Hg.): Formirovanie tovarnogo assortimenta v stranach-lenach SV. Sbornik naunych trudov, Moskau 1990, S. 50-53, hier: S. 51.
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dungsabschluss, ist in leitender oder qualifizierter Position und ist kulturell versierter als die anderen Typen. Dynamischer Typ: Zentral für ihn bei der Auswahl von Lebensmitteln ist die Zeit, die für Einkauf und Zubereitung des Essens notwendig ist. Charakteristisch ist ein hoher Konsum von Fertigprodukten. Er isst häufig außer Haus, interessiert sich für neue Produkte und besitzt überdurchschnittliche Kenntnis von Ernährungsregeln. Er ist anspruchsvoll bezüglich der Qualität der Nahrung und erwartet ein stabiles Angebot. Er verfügt zum Teil über ein Gartengrundstück. Zu diesem Typ gehören jüngere Familien, in denen häufig beide Erwachsene erwerbstätig sind. Sein Einkommen ist überdurchschnittlich. Er lebt in Großstädten und gut entwickelten Regionen. Durchschnittlicher Typ: Er ist ein Mischtyp aus den drei vorher genannten Typen. Für seinen Lebensmittelkonsum sind die Preise und – in einigen der Länder – die Notwendigkeit des Schlangestehens entscheidend. Er lebt in Kleinstädten oder Dörfern. Viele Rentner und Hausfrauen sowie Familien mit Kindern unter 18 Jahren gehören zu diesem Typ. Sein Einkommen ist verhältnismäßig gering.148 Gemäß dieser Studie dominierte Ende der 1980er Jahre in der Sowjetunion bei der Ernährung ein traditionelles Konsumverhalten. Dies war sicherlich vor allem darin begründet, dass ein großer Anteil der Bevölkerung in dörflichen Strukturen lebte. Das Fehlen des dynamischen Typs in der Sowjetunion lässt sich mit dem dort nur spärlich vorhandenen Angebot an Fertigprodukten und veredelten Lebensmitteln erklären. Die beiden vorherrschenden Typen, der traditionelle und der rationale Typ, erscheinen zudem als Ausdruck eines konservativen bzw. fortschrittlichen Konsum- und Lebensstils. Der jeweilige sozioökonomische Hintergrund dieser beiden Typen überrascht indessen wenig. Die Konsumstile bei Lebensmitteln in der Sowjetunion in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre waren somit Ausdruck struktureller Rahmenbedingungen sowie Ergebnis der sozioökonomischen Differenzierung und unterschiedlich ausgeprägter Neigungen zu einem eher konservativen bzw. eher fortschrittlichen Lebensstil.
148 Vgl. Fernandez, U./Muos, E./Nabut, X.: Tipologija potrebitelej produktov pitanija, in: Ministerstvo torgovli SSSR, VNIIKS (Hg.): Formirovanie tovarnogo assortimenta v stranach-lenach SV. Sbornik naunych trudov, Moskau 1990, S. 50-53.
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Konsumstile bei Kleidung und Schuhen Bezüglich Kleidung und Schuhen ergaben sich in dieser Studie fünf Typen: der avantgardistische Typ, der modeorientierte Typ, der konformistische Typ, der unabhängige Typ sowie der indifferente Typ. Da die Verantwortlichen in der Tschechoslowakei bei der Durchführung zu sehr von dem gemeinsamen Forschungsprojekt abwichen, waren die Ergebnisse in der Synopse nicht darstellbar. Außerdem ist zu beachten, dass in der DDR nur Frauen befragt wurden.
Avantgardistischer Typ Modeorientierter Typ Konformistischer Typ Unabhängiger Typ Indifferenter Typ
UdSSR 2,2 43,5 5,3 40,9 8,1
DDR 20 13 30 16 21
Polen 27,6 14,5 . 47,2 10,7
Kuba 6,9 23,8 12 22,6 34,7
Tabelle 5: Typen von Konsumenten bei Kleidung und Schuhen 19851990149 Avantgardistischer Typ: Die Vertreter dieses Typs sind oft weiblich und haben das geringste Durchschnittsalter. Dieser Typ lebt zumeist in Städten, verfügt über ein hohes Einkommen und einen hohen Ausbildungsgrad. Er gestaltet seine Freizeit aktiv. Trotz eines hohen Ausstattungsgrades an Kleidung und Schuhen ist er mit seiner Garderobe nicht zufrieden. Dieser Typ hat hohe Anforderungen an das Angebot von Kleidung und Schuhen. Es soll modisch, originell, hübsch und mit Marke sein. Dafür ist er auch bereit, einen hohen Preis zu bezahlen. Sobald ein Stück aus der Mode gekommen ist, wird es nicht mehr getragen. Modeorientierter Typ: Er ist zumeist jünger als 45 Jahre und lebt in der Stadt. Mit Ausnahme von Kuba verfügt er überdurchschnittlich über Ausbildung und Einkommen. Seine Freizeit gestaltet er abwechslungsreich. Kleidung spielt für diesen Typ bei seinen Bedürfnissen eine wichtige Rolle. In der UdSSR hat dieser Typ die umfangreichste Garderobe von allen Typen. Er kauft modische Kleidung, doch achtet er dabei auf seinen eigenen Stil und seine Geltungswirkung in der Gesellschaft. Neuanschaffungen werden vor allem durch moralischen Verschleiß alter Kleidung bedingt. Kleidung soll seiner Ansicht nach gut geschnitten, bequem zu tragen, modisch und kombinierbar sein. 149 Vgl. Mjasin, Evgenij/Cvetkova, L./Coj, T.: Tipologija potrebitelej ode dy i obuvi, in: Ministerstvo torgovli SSSR, VNIIKS (Hg.): Formirovanie tovarnogo assortimenta v stranach-lenach SV. Sbornik naunych trudov, Moskau 1990, S. 63-78, hier: S. 64f, 67, 68f, 72f, 77.
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Konformistischer Typ: Für diesen Typ spielt eine Mode dann eine Rolle, wenn sie zu einem Massenphänomen geworden ist. Er unterscheidet sich jedoch bezüglich sonstiger Merkmale zwischen den einzelnen Ländern sehr stark, so dass im Folgenden die Charakteristika dieses Typs in der Sowjetunion aufgeführt werden: Dieser Typ ist hier Arbeiter oder Angestellter und zwischen 24 und 50 Jahren alt. Er ist gut mit Kleidung und Schuhen ausgestattet, empfindet dies aber nicht so. Der Eindruck, den er auf andere machen möchte, ist ihm wichtiger als sein eigener Geschmack. Neuanschaffungen werden durch Modewandel und Abnutzung veranlasst. Unabhängiger Typ: Er kleidet sich unabhängig von der Mode, auch wenn er ihr nicht indifferent gegenüber steht. Modische Kleidung ist für ihn nicht mit Prestige verbunden. Er folgt vorrangig seinem persönlichen Stil. Er verfügt über mittleres oder niedriges Einkommen und ist eher alt. Er ist nicht üppig mit Kleidung und Schuhen ausgestattet. Verschleiß ist für ihn wesentlicher Grund für Neuanschaffungen. Wichtig ist ihm Bequemlichkeit und Qualität, wobei seine Ansprüche generell eher gering sind. Indifferenter Typ: Er ist der älteste aller Typen und verfügt über das niedrigste Einkommen und die geringste Bildung. Zu ihm gehören viele Arbeiter, Bauern, Rentner und Hausfrauen. Mode interessiert ihn nicht. Kleidung und Schuhe trägt er bis zum physischen Verschleiß. Er verfügt über die kleinste Garderobe aller Typen. Wichtig ist ihm, dass Kleidung billig, praktisch und einfach in der Pflege ist. Differenzierung durch Kleidung ist für ihn kein Motiv, es dominiert der Wunsch nicht aufzufallen.150 Demnach existierten am Ende der sowjetischen Zeit bei Kleidung und Schuhen vor allem zwei Stil-Typen, nämlich der modeorientierte Typ, der zwischen Mode und pragmatischen Kriterien bei der Bekleidungswahl abwog, und der unabhängige Typ, der unabhängig von der Mode seinem Bekleidungsstil treu blieb. Diese beiden Typen unterschieden sich aufgrund von sozioökonomischen Faktoren wie Einkommen und Ausbildung sowie soziokulturellen Prägungen wie dem unterschiedlich ausgebildeten Wunsch nach Distinktion und Geltungswirkung über Kleidung. Der Anteil des avantgardistischen Typs, welcher die höchsten Ansprüche an Bekleidung und Schuhe richtete und sich durch Jugend, Bildung und Urbanität auszeichnete, war unter den Konsumenten in der 150 Vgl. Mjasin, Evgenij/Cvetkova, L./Coj, T.: Tipologija potrebitelej ode dy i obuvi, in: Ministerstvo torgovli SSSR, VNIIKS (Hg.): Formirovanie tovarnogo assortimenta v stranach-lenach SV. Sbornik naunych trudov, Moskau 1990, S. 63-78.
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Sowjetunion gering. Dies lässt sich weniger auf eine Zurückhaltung der Konsumenten sondern vielmehr auf ein mangelndes Angebot zurückführen. Viele Konsumenten äußerten ihre Ansprüche an modische Kleidung infolge mangelnder Zugänglichkeit überhaupt nicht als reale Wünsche. Die hier ermittelten Konsumstile bei Kleidung und Schuhen in der Sowjetunion der 1980er Jahre erscheinen daher vorrangig von einer eingeschränkten Zugänglichkeit sowie Qualität der Waren und von sozioökonomischen Faktoren geprägt.
Konsumstile bei Haushaltsgeräten Bezüglich des Konsums von Haushaltsgeräten ließen sich in dieser Studie drei bzw. vier Typen von Verbrauchern ermitteln: der sparsame, passive Typ, der traditionelle Typ, der Leader-Typ sowie in Polen und der Tschechoslowakei zusätzlich noch der Nacheiferer-Typ. Da man bei der Befragung in der DDR zu sehr von dem gemeinsamen Untersuchungsdesign abwich, ließen sich die Ergebnisse dieses Landes nicht in die Gesamtschau integrieren.
Sparsamer, passiver Typ Traditioneller Typ Leader-Typ Nacheiferer-Typ Keinem Typ zuzuordnen
UdSSR 26,9 47,7 25,4 .
Kuba 23 47,5 29,5 .
Polen 20 35,5 23 19 2,5
SSR 23 31 25 21
Tabelle 6: Typen von Konsumenten bei Haushaltsgeräten 1985-1990151 Sparsamer, passiver Typ: Er ist schwach interessiert an elektrischen Haushaltsgeräten. In der Sowjetunion verfügt er über ein sehr geringes Einkommen und über eine sehr schlechte Ausstattung mit Haushaltstechnik. Traditioneller Typ: Er erachtet eine Grundausstattung an Geräten als unerlässlich, allerdings muss es nicht stets das Allerneueste sein. Er verfügt in jedem Land etwa über die durchschnittliche Ausstattung mit Haushaltsgeräten. Zu ihm gehören vorrangig Familien mit Kindern und mittlerem Einkommen.
151 Vgl. Kusin’skaja, A./Studzin’skaja, A.: Tipologija potrebitelej tovarov domanego obichoda, in: Ministerstvo torgovli SSSR, VNIIKS (Hg.): Formirovanie tovarnogo assortimenta v stranach-lenach SV. Sbornik naunych trudov, Moskau 1990, S. 79-87, hier: S. 83.
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Leader-Typ: Er ist mit Elektrogeräten gut ausgestattet und lebt in Großstädten. Er ist mittleren oder jüngeren Alters und verfügt über einen mittleren oder hohen Bildungsabschluss. Er strebt nach Modernisierung und Rationalisierung im Haushalt. In der Sowjetunion ist sein Einkommen hoch. Nacheiferer-Typ: Er ist jung und sehr an elektrischen Geräten interessiert. Der Besitz von hochwertigen Haushaltsgeräten bedeutet für ihn Prestige.152 Gemäß dieser Studie dominierten in der Sowjetunion zu dieser Zeit ein rationaler und ein indifferenter Konsumstil bei Haushaltsgeräten. Nur ein Viertel der Konsumenten, das sich durch Urbanität sowie einen hohen sozioökonomischen Status auszeichnete, zeigte diesbezüglich ein hohes Interesse. Diesen sehr geringen Anteil der ausgeprägt technikaffinen Verbraucher in der Sowjetunion muss man vor allem auf strukturelle Vorgaben, also auf eine schlechte Versorgung mit industriellen Konsumgütern insbesondere außerhalb der großen Städte zurückführen. Der sozioökonomische Hintergrund der einzelnen Typen erscheint wiederum wenig überraschend. Mit diesem Projekt wurde von staatlicher Seite aus erkannt und anerkannt, dass es unter den Konsumenten in den sozialistischen Staaten Heterogenitäten bezüglich sozioökonomischer sowie soziokultureller Merkmale gab. Diesen Konsumententypologien wäre in den Folgejahren bei der mittelfristigen Planung von Sortimenten der verschiedenen Konsumgüterarten große Bedeutung zugekommen, hätten nicht die umfassenden politischen und wirtschaftlichen Veränderungen die zentrale Planung von Produktion und Angebot beendet. Die vergleichende synoptische Schau dieser Studie verdeckte allerdings die deutlichen Unterschiede beim Angebot in den verschiedenen Ländern und die sich daraus ergebenden Implikationen für das Konsumverhalten der Menschen. Die Ergebnisse der einzelnen Teilstudien erscheinen nur wenig überraschend: Ein junges Alter, ein urbanes Umfeld, ein hohes Einkommen und ein hoher Bildungsabschluss führten demnach Ende der 1980er Jahre auch in sozialistischen Gesellschaften zu einem verstärkten Interesse an und Verbrauch von Konsumgütern, die qualitativ hochwertig waren und ihren Käufern gesellschaftliche Distinktion und Geltungswirkung versprachen. Konsum spielte daher zu diesem Zeitpunkt auch in
152 Vgl. Kusin’skaja, A./Studzin’skaja, A.: Tipologija potrebitelej tovarov domanego obichoda, in: Ministerstvo torgovli SSSR, VNIIKS (Hg.): Formirovanie tovarnogo assortimenta v stranach-lenach SV. Sbornik naunych trudov, Moskau 1990, S. 79-87.
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sozialistischen Gesellschaften eine wichtige Rolle für die symbolischkulturelle Differenzierung.
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Ko n s u m k r i s e ( 1 9 8 9 - 1 9 9 1 ) Die letzten drei Jahre der Sowjetunion erlebten die Menschen als Zeit des Umbruchs und der Krise. Die Folgen der von Gorbatschow eingeleiteten Reformen zeigten sich aus Sicht der Bevölkerung besonders in einer Zuspitzung des Versorgungsproblems hin zu einem absoluten Defizit an jeglichen Konsumgütern. Dem ist es geschuldet, dass zehn Jahre später die Erwähnung von Worten wie Perestrojka und Gorbatschow im Gespräch bei Russen stets zuallererst Assoziationen mit leeren Geschäften und Mangel auslöste. Erinnerungen an politische und wirtschaftliche Veränderungen in dieser Zeit standen hinter den persönlichen Erfahrungen im Felde des Konsums zurück.153 Dieses Kapitel verfolgt nun die Frage, welche Ausprägungen diese sich zur Krise zuspitzende Konsumsituation während der Jahre 1989 bis 1991 annahm. Zunächst wird anhand volkswirtschaftlicher Studien ein kurzer Überblick über die Ursachen der Konsumkrise gegeben. Wie sich diese Krise auf die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Konsumgütern auswirkte, wird dann anhand von staatlichen Konsumstatistiken sowie Studien der Meinungsforschung analysiert. Schließlich werden die von den Konsumenten als problematisch betrachteten Preissteigerungen sowie verschiedene Interventionen gegen die Konsumkrise untersucht. Die Statistiken beziehen sich teilweise auf die Sowjetunion und teilweise auf deren russischen Teil bzw. auf die Russische Föderation, was jeweils durch die Bezeichnung deutlich gemacht wird. Möchte man nämlich statistische Zeitreihen betrachten, die sowohl das Jahr 1990 als auch das Jahr 1991 beinhalten, so muss man auf Zahlen für den russischen Teil der Sowjetunion zurückgreifen, da das letzte statistische Jahrbuch der Sowjetunion im Jahr 1991 erschien und nur Zahlen bis einschließlich 1990 umfasste. Die vorliegenden Meinungsumfragen zur Konsumlage aus der Zeit bis einschließlich 1991 beinhalten allerdings nur Zahlen für die gesamte Sowjetunion.
Ursachen der Konsumkrise Verursacht wurde die krisenhafte Zuspitzung der Versorgungssituation in den Jahren 1989 bis 1991 durch die ökonomischen Reformen und Prozesse dieser Zeit. Das klassische, systemimmanente Problem der 153 Diese so nicht erwartete Beobachtung machte ich während meiner Aufenthalte in Russland in den Jahren 2000 bis 2003, was mein Interesse am Thema dieser Arbeit weckte. Vgl. auch: evenko, Ol’ga: Konsumieren, lamentieren, adaptieren. Hybride Konsummuster und neue Identitäten in Russland, in: Osteuropa 53 4/2003, S. 515-530, hier: S. 522-525.
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Konsumgüterversorgung in der Sowjetunion bestand in der Vorrangstellung der Schwerindustrie. Sowohl die Konsumgüterindustrie als auch die Landwirtschaft waren chronisch unterkapitalisiert, was zu einer qualitativ und quantitativ mangelhaften Produktion führte. Preise, die nach ökonomischen Maßstäben zwar zu niedrig festgesetzt, jedoch so politisch erwünscht waren, führten weiterhin zu einer Unausgeglichenheit von Angebot und Nachfrage. Der Warenmangel, dem sich die Menschen in der Sowjetunion am Ende der 1980er Jahre gegenübersahen, war das Ergebnis eines stärkeren Steigens der Geldmenge im Vergleich zum verfügbaren Güterangebot in der Sowjetunion seit den fünfziger Jahren. Ab Mitte der 1980er Jahre spitzte sich dieses Ungleichgewicht zu. Einer immer schneller wachsenden Geldmenge stand kein ausreichendes Warenangebot im Einzelhandel gegenüber. Diese Unausgewogenheit führte auch dazu, dass die Sparguthaben der Bevölkerung ab dem Jahr 1988 übermäßig stiegen und am Ende des Jahres 1991 etwa die Höhe eines Drittel des Bruttosozialproduktes der Sowjetunion erreichten. Hinzu kamen hohe Bargeldbestände in der Bevölkerung.154 Die Konsumgüterversorgung wurde am Ende der 1980er Jahre zum zentralen Thema der Wirtschaftspolitik. Mittels erhöhter binnenländischer Produktion sowie Importen sollte die Versorgung verbessert werden.155 Die Wirtschaftsreformen der Perestrojka verschlimmerten allerdings die strukturell bedingte Problematik der Konsumgüterversorgung und verursachten eine krisenhafte Zuspitzung der Versorgungssituation. Das Zugeständnis an die Betriebe, neben der Erfüllung staatlicher Aufträge gewinnorientiert zu arbeiten, führte zu einer Umgestaltung der produzierten Sortimente und zu Preisänderungen, die sich nicht mit den Vorstellungen der Staatsplanung deckten. Die Preise von einfachen Konsumgütern waren oftmals so niedrig angesetzt, dass die Betriebe deren Produktion verminderten und verstärkt elaboriertere und folglich teurere Artikel herstellten, auch wenn dies nicht der Struktur der Nachfrage entsprach. Da die Hersteller meist eine Monopolstellung innehatten, fehlte in den letzten Jahren der Sowjetunion das marktwirtschaftliche Element 154 Vgl. Holtbrügge, Dirk: Die UdSSR auf dem Weg zur Marktwirtschaft. Programme, Maßnahmen, Widerstände, in: Osteuropa 41 7/1991, S. 619634; Wädekin, Karl-Eugen: Sowjetische Nahrungswirtschaft – Erhöhung der Verbraucherpreise gegen inflationäre Nachfrage, in: Osteuropa 41 7/1991, S. 657-664; Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 14.6.2006; Steffen, Olaf: Die Einführung des Kapitalismus in Russland. Ursachen, Programme und Krise der Transformationspolitik, Hamburg 1997, S. 402f; Götz-Coenenberg, Roland: Die Konsumgüterversorgung in der Sowjetunion: Lage und Aussichten, Köln 1989, S.28-32. 155 Vgl. Götz-Coenenberg, Roland: Die Konsumgüterversorgung in der Sowjetunion: Lage und Aussichten, Köln 1989, S.1, 35-49.
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der Konkurrenz, um Produktion und Preissetzung an die Wünsche der Verbraucher anzupassen. Folglich sank die Produktion von Konsumgütern, während die Preise der hergestellten Waren stiegen.156 Die ökonomische Umgestaltung erzwang zudem einen quantitativen Rückgang der Importe und hierbei eine Beschränkung auf Produkte, die für das Überleben der Menschen wesentlich waren wie Nahrungsmittel und Medikamente, was negative Konsequenzen für die Produktion der auf Importe angewiesenen Industrien hatte. Auch die landwirtschaftliche Produktion verringerte sich schließlich infolge der Umgestaltung: Im Jahr 1991 sank die Produktion von pflanzlichen und tierischen Lebensmitteln deutlich.157 Die produzierten Mengen von Konsumgütern und Lebensmitteln gelangten nun auch nur noch zu einem geringeren Anteil in den staatlichen Handel. Die Einführung des freien Gewinnstrebens als neuer ökonomischen Kalkulationsgrundlage machte es für die verschiedenen Akteure des Handels, der Landwirtschaft, der Konsumgüterproduktion und des Transportwesens wirtschaftlich attraktiver, die privaten Handelseinrichtungen, Kooperativ-Geschäfte und Kolchos-Märkte, bei freier Preisbildung und nicht den staatlichen Handel zu beliefern bzw. die Waren für Barter-Geschäfte einzusetzen.158 Es wird von einem verstärkten Aufkommen halb- und illegaler Märkte in dieser Zeit berichtet, auf denen Konsumgüter zu hohen Preisen gehandelt wurden. Auch der ab dem Jahr 1986 staatlich angeordnete Abbau von Warenlagern in Industrie und Handel konnte die Situation nicht wesentlich entschärfen. Zwar wurde versucht, dieses duale System und den Bestand der staatlichen Distributionskanäle durch rechtliche Vorgaben politisch und durch Vertragsstrafen ökonomisch abzusichern, doch es gelang nicht, eine Konsumkrise zu vermeiden, die sich für die Konsumenten wesentlich in leeren Staatsläden und unerschwinglichen Preisen auf freien Märkten und in privaten Geschäften niederschlug. Insbesondere in Moskau und Sankt Petersburg und in einigen anderen Städten und Regionen kam es in dieser Zeit zu krisenartigen Zuständen beim Konsum. Waren dabei die staatlichen Verkaufseinrichtungen von der Güterknappheit stark betroffen, so traf dies nicht so sehr auf die Märkte und Kooperativ-Geschäfte zu. Doch 156 Vgl. Götz-Coenenberg, Roland: Die Konsumgüterversorgung in der Sowjetunion: Lage und Aussichten, Köln 1989, S. 32-35; Steffen, Olaf: Die Einführung des Kapitalismus in Russland. Ursachen, Programme und Krise der Transformationspolitik, Hamburg 1997, S. 406, 422f. 157 Vgl. Steffen, Olaf: Die Einführung des Kapitalismus in Russland. Ursachen, Programme und Krise der Transformationspolitik, Hamburg 1997, S. 407-411, 422. 158 Barter bezeichnet den direkten Tausch von Waren und Dienstleistungen ohne Verwendung von Geld.
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der große Teil der Konsumenten konnte mit seinem im staatlichen Sektor erwirtschafteten Einkommen die neuen Marktpreise nicht bezahlen. Massenstreiks waren die Folge der schlechten Versorgungslage.159 Die Verbraucher erlebten also in dieser Zeit eine Verschlechterung der Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Waren, lange Schlangen vor den staatlichen Geschäften und ständig steigende Preise.
Extremes Defizit als Alltagsphänomen Die sowjetische Konsumforschung stellte bereits im Verlauf des Jahres 1989 eine arge Zuspitzung der Versorgung der staatlichen Läden mit Lebensmitteln fest. Von einer Stichprobe aus insgesamt 211 Lebensmittelarten konnten im Jahr 1985 28 stets im staatlichen Handel erworben werden, im Jahr 1988 noch 24 und im Jahr 1989 12. Im Dezember 1989 waren lediglich vier Arten von Lebensmitteln, nämlich Brot, Nudeln, Fruchtsäfte und Salz, permanent im freien Verkauf erhältlich. Der Mangel bei Fleisch, Obst und Gemüse, Milchprodukten, Käse, Quark und Kaffee war kein neuer, doch spitzte er sich in dieser Zeit zu. Die Verbraucher verfügten ihrer Ansicht nach auch nicht über ausreichende Lebensmittelvorräte: 76% hätten gerne größere Vorräte bei Fisch und Kaffee angelegt, 74% bei Kindernahrung, 71% bei Käse, 54% bei Tee und 43% bei Fleisch. Außerdem verschlechterte sich die Qualität der angebotenen Lebensmittel. Vom ersten Halbjahr des Jahres 1988 zum Vergleichszeitraum ein Jahr später stieg der Anteil minderwertiger Waren im staatlichen Handel bei Fleisch von 6% auf 14%, bei Margarine von 11% auf 30% und bei Brot sowie Brotprodukten von 5% auf 11%.160 Das Jahr 1989 war der Wendepunkt hin zu einer deutlichen Verschlechterung der Lebensmittelversorgung in qualitativer und quantitativer Hinsicht. Wie sich die Konsumsituation bei Lebensmitteln in den letzten Jahren der Sowjetunion gemäß offizieller Statistiken verschlechterte, wird 159 Vgl. Götz-Coenenberg, Roland: Die Konsumgüterversorgung in der Sowjetunion: Lage und Aussichten, Köln 1989, S. 23f ; Steffen, Olaf: Schwieriger Übergang zur Marktwirtschaft – die Versorgungskrise in der Sowjetunion, in: Osteuropa 41 7/1991, S. 646-656; Steffen, Olaf: Die Einführung des Kapitalismus in Russland. Ursachen, Programme und Krise der Transformationspolitik, Hamburg 1997, S. 405; Wädekin, KarlEugen: Sowjetische Nahrungswirtschaft – Erhöhung der Verbraucherpreise gegen inflationäre Nachfrage, in: Osteuropa 41 7/1991, S. 657664; Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, Regensburg 2000, S. 494f. 160 Vgl. Mokina, A./Kuznecova, L./Bra evskaja, T./Medvedeva, T.: to na prilavke prodovol’stvennom, in: Sovetskaja torgovlja 6/1990, S. 30-32, hier: S. 30f.
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nun mit Zahlen für den russischen Teil der Sowjetunion dargestellt (Tabelle 7 und 8). Der Verbrauch von fast allen Lebensmitteln sank demnach in den Jahren 1991 und 1992 gegenüber dem Vorjahr. Nur der Konsum von Brot und Kartoffeln stieg in den Jahren 1991 und 1992 jeweils im Vergleich zum Vorjahr an. Der Konsum von Fleisch und Fleischprodukten war im Jahr 1990 zumindest nicht schlechter als im Jahr 1980. Erst in den Jahren 1991 und 1992 sank der Verbrauch von diesen Produkten deutlich. Die Versorgungssituation spitzte sich also ab dem Jahr 1990 zu, was dazu führte, dass die Menschen anstelle höherwertiger Konsumgüter verstärkt Brot und Kartoffeln aßen. Aus Sicht der offiziellen Statistik verschlechterte sich die Zusammensetzung der Ernährung hin zu mehr Kohlehydraten und weniger tierischen Produkten. In den Tabellen 7 und 8 sind die offiziellen Daten aus den statistischen Jahrbüchern von 1993 und 1996 zum Lebensmittelkonsum im russischen Teil der Sowjetunion und dann in der Russischen Föderation dargestellt. Dabei unterscheiden sich die Angaben für dieselben Jahre in den verschiedenen Jahrbüchern. Die Zahlen aus dem Jahrbuch 1993 sind aus Angaben von Produktion, Außenhandel und Umsatz abgeleitet, die Ermittlung der Zahlen aus dem Jahrbuch von 1996 ist nicht offen gelegt. Offensichtlich wurden die Statistiken im Nachhinein revidiert. Es ist davon auszugehen, dass innerhalb eines Jahrbuches dieselbe Berechnungsart für alle Jahre zugrunde gelegt wurde, so dass sich zumindest Tendenzen im jeweils angegebenen Zeitraum ablesen lassen. Lebensmittel Fleisch(-produkte) Milch(-produkte) Eier (Stück) Fisch(-produkte) Zucker Pflanzliches Öl Kartoffeln Gemüse Obst Brot
1980 59 328 279 22,5 46,7 9,1 118 94 30 126
1985 62 344 299 22,5 45,1 9,8 109 98 40 119
1990 69 386 297 20,3 47,2 10,2 106 89 35 119
1991 63 347 288 15,8 37,8 7,8 112 86 35 120
1992 55 281 263 13,3 33,6 6,5 118 77 33 125
Tabelle 7: Lebensmittelkonsum 1980/1985/1990-1992 in RSFSR und Russischer Föderation gemäß Daten von 1993 (kg pro Kopf im Jahr)161
161 Vgl. Gosudarstvennyj Komitet Rossijskoj Federacii po Statistike: Rossijskaja Federacija v 1992 godu. Statistieskij E egodnik: Potreblenie produktov pitanija, Moskau 1993, S. 210.
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Lebensmittel Fleisch(-produkte) Milch(-produkte) Eier (Stück) Fisch(-produkte) Zucker Kartoffeln Gemüse Obst Brot
1980 70 390 286 17 35 117 92 35 112
1990 70 378 231 15 32 94 85 37 97
1991 65 348 229 14 29 98 87 35 101
1992 58 294 243 12 26 107 78 29 104
1993 57 305 236 11 29 112 77 31 107
1994 58 305 210 9 28 113 71 30 101
1995 53 249 191 9 27 112 83 30 102
Tabelle 8: Lebensmittelkonsum 1980/1990-1995 in RSFSR und Russischer Föderation gemäß Daten von 1996 (kg pro Kopf im Jahr)162 Allein schon die Tatsache, dass statistische Jahrbücher im Nachhinein revidiert wurden, lässt an der Verlässlichkeit dieser Angaben zweifeln. Daher werden diese Zahlen nun mit der Bewertung der Versorgungssituation durch die Konsumenten verglichen. Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM vom Januar 1990, deren Ergebnisse in den Tabellen 9 bis 15 festgehalten sind, spiegelt die Meinung der sowjetischen Konsumenten bezüglich der Versorgungslage bei Lebensmitteln wider. Am meisten störte die Verbraucher (64%) zu diesem Zeitpunkt der große Zeitaufwand, der für den Erwerb von Lebensmitteln nötig war. Ebenfalls als sehr problematisch wurde von 34% die Tatsache erachtet, dass man auf die teuren Märkte für den Kauf von Lebensmitteln ausweichen musste (Tabelle 9). Außerdem gaben 73% der Befragten an, permanent oder ziemlich oft einen Mangel an eigentlich notwendigen Lebensmitteln zu verspüren (Tabelle 10). Bei der Ernährung störte fast die Hälfte der befragten Konsumenten jeweils der Mangel an billigen Lebensmitteln bzw. die niedrige Qualität der Lebensmittel. Etwa ein Viertel beklagte jeweils die Eintönigkeit des Essens bzw. das Vorhandensein schädlicher Stoffe in den Lebensmitteln (Tabelle 11). Differenziert nach den verschiedenen Lebensmittelarten lässt sich ein heterogenes Bild des Defizits zeichnen. Brot, Nudeln und Graupen wurden mehrheitlich (83%) als ausreichend vorhanden bezeichnet. Ein kleiner Teil (7%) meinte sogar, er würde zuviel davon konsumieren. Auch Fett und Öl wurde zumindest von zwei Dritteln als ausreichend vorhanden erachtet. Die Defizitgüter schlechthin waren aus Sicht der Befragten jedoch Fleisch, Fisch und Geflügel. Nur 19% meinten, dass sie genug davon konsumierten, die große Mehrheit (77%) war gegentei162 Vgl. Gosudarstvennyj komitet Rossijskoj Federacii po statistike. Rossijskij statistieskij e egodnik. Statistieskij sbornik: Potreblenie produktov pitanija, Moskau 1996, S. 145.
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liger Meinung. Etwas weniger problematisch wurde das Defizit von Obst und Gemüse erachtet (Tabelle 12). Somit befanden 40% der Befragten ihre Ernährung zu diesem Zeitpunkt als quantitativ mangelhaft (Tabelle 13). Für das Suchen und Schlangestehen ist viel Zeit nötig Man muss Lebensmittel auf dem Kolchos-Markt zu höheren Preisen kaufen Man muss für Lebensmittel in eine andere Stadt, einen anderen Kreis fahren Man muss privat Lebensmittel anbauen Ich habe dabei keine Unannehmlichkeiten Anderes
61 34 16 15 5 2
Tabelle 9: „Was stört sie beim Erwerb von Lebensmitteln am meisten?“ (Januar 1990, UdSSR, Mehrfachnennung)163 Fühle ich nicht Ziemlich selten Ziemlich oft Ständig Ich weiß nicht
7 16 43 30 4
Tabelle 10: „Wie oft fühlen Sie einen Mangel an Lebensmitteln, die für Sie unabdingbar sind?“ (Januar 1990, UdSSR)164 Mangel an billigen Lebensmitteln Niedrige Qualität der Lebensmittel Eintönigkeit des Essens Schädliche Elemente in Lebensmitteln Es gibt keine Delikatessen für Feiertage Anderes Alles gefällt
43 42 26 24 21 3 5
Tabelle 11: „Was stört Sie bei Ihrer Ernährung am meisten?“ (Januar 1990, UdSSR, Mehrfachnennung)165
163 Vgl. VCIOM: Obeanijami syt ne bude’, in: Ogonek 5/1990, S. 0-1, hier: S. 0. 164 Vgl. VCIOM: Obeanijami syt ne bude’, in: Ogonek 5/1990, S. 0-1, hier: S. 0. 165 Vgl. VCIOM: Obeanijami syt ne bude’, in: Ogonek 5/1990, S. 0-1, hier: S. 0.
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Lebensmittelart Brot, Nudeln, Graupen Öl, Fett Fleisch, Fisch, Geflügel Gemüse, Obst
Nicht genug 6 23 77 64
Genug
Zu viel
83 67 19 31
7 2 0 1
Ich weiß nicht 4 8 4 5
Tabelle 12: „Haben Sie genug ...?“ (Januar 1990, UdSSR)166 Quantitativ ausreichend und qualitativ gut Quantitativ ausreichend, aber qualitativ schlecht Quantitativ mangelhaft, aber qualitativ gut Quantitativ mangelhaft und qualitativ schlecht Ich weiß nicht
18 27 9 31 16
Tabelle 13: „Wie schätzen Sie insgesamt Ihre Ernährung ein?“ (Januar 1990, UdSSR)167 Schlangen, dass man bedeutend mehr Zeit für den Einkauf von Lebensmitteln aufwenden muss Mangel an Lebensmitteln, kleine Rationen bei der Zuteilung durch Berechtigungsscheine Hohe Preise Es ist schwierig, selbst einfache und notwendige Lebensmittel zu kaufen Im Handel gibt es praktisch keine Delikatessen für Feiertage Es ist schwierig, Lebensmittel für Kinder und Senioren zu kaufen Es ist schwierig, Lebensmittel für Diät oder Krankheit zu kaufen Ich weiß nicht
63 52 46 43 24 22 8 3
Tabelle 14: „Welche Probleme bei der Ernährung Ihrer Familie bereiten Ihnen am meisten Sorgen?“ (März 1991, UdSSR, Mehrfachnennung)168
166 Vgl. VCIOM: Obeanijami syt ne bude’, in: Ogonek 5/1990, S. 0-1, hier: S. 1. 167 Vgl. VCIOM: Obeanijami syt ne bude’, in: Ogonek 5/1990, S. 0-1, hier: S. 1. 168 Vgl. Nikitina, Vera: VCIOM Chronicle. Year after Year 1991: Kakie problemy pitanija Vaej sem’i bespokojat Vas bol’e vsego?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 6/1997, S. 46-51, hier: S. 48.
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Milch und Milchprodukte Wurstprodukte Eier Fleisch Tafelbutter Fisch Pflanzenfett Mehl, Graupen Ich habe nichts im freien Verkauf gesehen Ich weiß nicht
23 18 17 12 8 7 6 6 48 9
Tabelle 15: „Welche Lebensmittel sehen Sie derzeit im freien Verkauf?“ (April 1991, UdSSR, Mehrfachnennung)169 Ein Jahr später zeigte sich aus Sicht der Verbraucher bei der Versorgung mit Lebensmitteln ein noch schlechteres Bild. Zentrale Probleme im Februar 1991 blieben der enorme Zeitaufwand für den Erwerb von Lebensmitteln (63%) und die hohen Preise (46%). Außerdem beklagte nun mehr als die Hälfte (52%), unter einem generellen Mangel an Lebensmitteln zu leiden. War es den Konsumenten im Jahr 1989 noch möglich gewesen, ihren Versorgungsstandard bei Lebensmitteln bei einem höheren finanziellen Einsatz weitgehend zu halten, so war dies im Jahr 1991 nicht mehr so (Tabelle 14). Der staatliche Handel erschien den Konsumenten im April 1991 wie leergefegt. Zu diesem Zeitpunkt hatten nur 23% der Befragten Milchprodukte, 18% Wurstprodukte, 17% Eier, 12% Fleisch, 8% Butter, 7% Fisch, 6% Pflanzenfett und 6% Mehl bzw. Graupen gesehen. Fast die Hälfte (48%) hatte hingegen keine dieser Waren erblickt (Tabelle 15). Die in den Befragungen der Verbraucher festgehaltenen Bewertungen der Konsumsituation erscheinen weitaus schlechter als es die offiziellen Statistiken Glauben machen. 170 Die Statistiken sehen nämlich weder eine sehr deutliche Verschlechterung des generellen Lebensmittelkonsums noch eine extreme Verringerung des Fleischkonsums in den 169 Vgl. Nikitina, Vera: VCIOM Chronicle. Year after Year 1991: Kakie produkty Vy vidite sejas v svobodnoj proda e?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 6/1997, S. 4651, hier: S. 48. 170 Hier werden statistische Angaben zu verschiedenen regionalen Referenzgebieten verglichen: Die Meinungsumfragen beziehen sich auf die Sowjetunion, die zitierten Zahlen aus den statistischen Jahrbüchern hingegen auf den russischen Teil der Sowjetunion bzw. Russland. Die Zahlen aus den statistischen Jahrbüchern bezüglich der gesamten Sowjetunion unterscheiden sich jedoch in ihrer Tendenz nicht von denen bezüglich des russischen Teils. Folglich wird dieser Vergleich hier angestellt.
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Jahren 1990 und 1991. Dies lässt sich sicherlich teilweise darauf zurückführen, dass die statistischen Angaben nur eingeschränkte Aussagekraft haben. Doch kann man die sehr stark ausgeprägte Unzufriedenheit über die Versorgungslage, die insbesondere an tierischen Produkten festgemacht wurde, auch als Ausdruck einer großen Unzufriedenheit mit den politischen Verantwortungsträgern deuten, die man nun, da dies möglich wurde, sehr deutlich äußerte. Auch in der Karikatur des „Krokodils“ manifestierte sich Kritik an der Versorgungssituation bei Lebensmitteln in dieser Zeit vorrangig und fast ausschließlich am Gut Wurst. 171 Hätte man den Verbrauchern im Jahr 1985 die Frage gestellt, ob sie genug Fleisch konsumierten, so hätten sie wahrscheinlich eine Einschätzung geäußert, die nicht sehr viel besser gewesen wäre als im Januar 1990. Mangel an Wurst erschien daher wie ein Synonym für die Nichterfüllung des Versorgungsauftrags der Politik. Die Konsumkrise zeigte sich für die Verbraucher sehr deutlich in einer Zuspitzung der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Die Versorgungssituation bei anderen industriellen Gütern sah in dieser Zeit nicht besser aus. Bereits im August 1989 wurde in einer stichprobenartigen Untersuchung in 140 Städten der Sowjetunion ermittelt, dass von den 1200 als wesentlich erachteten Konsumgütern nur 200 im freien Handel erhältlich waren.172 Aus der offiziellen Statistik bezüglich der Verkaufszahlen im Handel im russischen Teil der Sowjetunion geht hervor, dass sich in den nächsten Jahren der Absatz von langlebigen Konsumgütern weiter verringerte: Im Jahr 1991 sanken im Vergleich zu 1990 die verkauften Stückzahlen bei fast allen Konsumgütern, im Falle von Seife sogar drastisch (Tabelle 16). Diese Entwicklung lässt sich auf sinkende Produktionszahlen und Importe, ein Ergebnis der ökonomischen Umgestaltung dieser Zeit, zurückführen.
171 Krokodil 7/1991, S. 6 (R. Drukman); Krokodil 15/1991, S. 5 (V. Poluchin, T. Zelenenko [Thema]); Krokodil 21/1990, S. 11 (G. und V. Karabanev); Krokodil 17/1990, S. 5 (G. Ogorodnikov, V. Vladov [Thema]); Krokodil 30/1990, S. 7 (V. Lugovkin); Krokodil 12/1991, S. 5 (S. Rep’ev); Krokodil 2/1991, S. 5 (G. Ogorodnikov, V. Mochov [Thema]); Krokodil 21/1990, S. 11 (G. Ogorodnikov, J. Stepanov [Thema]). 172 Vgl. Götz-Coenenberg, Roland: Die Konsumgüterversorgung in der Sowjetunion: Lage und Aussichten, Köln 1989, S.24.
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Fernseher darunter Farbfernseher Radioempfänger Kühlschränke, Gefrierschränke Waschmaschinen Elektrostaubsauger Uhren Nähmaschinen PKW Motorräder, Motorroller Fahrräder, Mopeds Fotoapparate Seife (in Tausend Tonnen)
1985 4531 2191 3529 2334
1990 4785 3139 4677 2691
1991 3362 2074 4233 2157
1992 2102 1299 2500 1088
1993 2546 1514 2650 1315
2400 1929 26,2 658 743 661 2465 1163 278
3553 2726 36,2 842 971 798 2943 1247 802
3009 2520 32,7 892 720 605 2510 1109 396
1556 1228 22,2 707 433 363 1643 704 287
1663 1367 23,0 584 389 287 1525 631 295
Tabelle 16: Verkauf von langlebigen Konsumgütern 1985/1990-1993 in RSFSR und Russischer Föderation (in Tausend Stück)173 Die Verbraucher sahen sich daher einem extremen Defizit verschiedenster Waren des alltäglichen Bedarfs gegenüber. Am Jahreswechsel 1989/1990 mangelte es gemäß der Einschätzung der Menschen in der Sowjetunion neben Kleidung und Schuhen vor allem an Strumpfwaren (50%), Seife (41%), Kosmetikprodukten (35%) und Wäsche (34%) (Tabelle 17). Vor allem das Defizit an schwer substituierbaren Waren wie beispielsweise Seife stellte für die Verbraucher ein fundamentales Problem dar. Nur eine Minderheit (29%) hatte zu dieser Zeit noch die Hoffnung, all die dringend benötigten Dinge in der nächsten Zeit in staatlichen Geschäften kaufen zu können. Die Mehrheit (71%) hatte resigniert.174 Das Urteil der Konsumenten bezüglich der Versorgung mit Waren aus den staatlichen Geschäften war somit äußert negativ. Kritisiert wurden neben dem defizitären Angebot (69%) auch die schlechte Qualität (44%) und die hohen Preise (23%) (Tabelle 18). Alternativen zum staatlichen Handel beim Erwerb von Waren des alltäglichen Bedarfs sahen die Menschen aber nur bedingt: Second-Hand-Käufe (27%), eigene Herstellung (10%) oder teure Kooperativ-Geschäfte (9%) stellten nur für jeweils eine Minderheit eine Option dar (Tabelle 19).
173 Vgl. Gosudarstvennyj komitet Rossijskoj Federacii po statistike. Rossijskij statistieskij e egodnik. Statistieskij sbornik: Proda a tovarov kul’turno-bytovogo chozjajstvennogo naznaenija, Moskau 1994, S. 201. 174 Vgl. VCIOM/SINUS: 3. Konsumgüter für den alltäglichen Bedarf, in: Öffentliche Meinung in der UdSSR in Zahlen 2/1990.
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Socken, Strümpfe, Strumpfhosen Haushaltsseife, Waschpulver und andere Waschmittel Zahnpasta, Feinseife und andere Parfümeriewaren Unterwäsche, Bettwäsche, Tischwäsche usw. Tisch- und Küchengeschirr Taschen, Handschuhe, Gürtel und andere Lederwaren Anderes Kein dringender Bedarf vorhanden
50 41 35 34 15 13 13 15
Tabelle 17: „Welche anderen Dinge des alltäglichen Bedarfs bräuchten Sie und Ihre Familie dringend, außer Kleidung und Schuhe?“ (Jahreswechsel 1989/90, UdSSR, Mehrfachnennung)175 Dass es in diesen Läden nichts zu kaufen gibt Dass die Qualität schlecht ist Dass die Waren teuer sind Anderes Weiß nicht
69 44 23 2 2
Tabelle 18: „Was stört Sie an den staatlichen Geschäften für Kleidung, Schuhe, Wäsche und andere Waren des täglichen Bedarfs am meisten?“ (Jahreswechsel 1989/90, UdSSR, Mehrfachnennung)176 Ich hoffe darauf, alle Dinge, die ich brauche, in einem staatlichen Geschäft zu bekommen Ich versuche, die benötigten Waren auf dem Flohmarkt oder über privat zu kaufen Ich versuche, die benötigten Dinge selbst herzustellen (zu nähen u. a.) Ich gehe in Kooperativ-Läden Anderes Weiß ich noch nicht
37 27 10 9 3 22
Tabelle 19: „Wenn es Ihnen nicht gelingt, die dringend benötigten Waren im Staatshandel zu erwerben, was unternehmen Sie dann?“ (Jahreswechsel 1989/90, UdSSR, Mehrfachnennung)177
175 Vgl. VCIOM/SINUS: 3. Konsumgüter für den alltäglichen Bedarf, in: Öffentliche Meinung in der UdSSR in Zahlen 2/1990. 176 Vgl. VCIOM/SINUS: 3. Konsumgüter für den alltäglichen Bedarf, in: Öffentliche Meinung in der UdSSR in Zahlen 2/1990. 177 Vgl. VCIOM/SINUS: 3. Konsumgüter für den alltäglichen Bedarf, in: Öffentliche Meinung in der UdSSR in Zahlen 2/1990.
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Im Zuge des sich zuspitzenden Defizits erschien den Verbrauchern ein Jahr später der staatliche Handel bezüglich langlebiger Konsumgüter und Waren des alltäglichen Bedarfs wie leergefegt: Im April 1991 konnten sich nur 10% der Teilnehmer an einer erneuten Meinungsumfrage daran erinnern, Kleidung oder technische Geräte in letzter Zeit im staatlichen Handel gesehen zu haben (Tabelle 20).178 Auch die Versorgungssituation bei industriellen Gütern spitzte sich demnach während der letzten sowjetischen Jahre immer mehr zu. Kinderkleidung, Kinderschuhe Kleidung für Erwachsene Stoffe Schuhe für Erwachsene Fernseher Waschmaschinen Haushaltsgeräte Kühlschränke Ich habe nichts davon im April in Geschäften gesehen Ich war im April nicht in Geschäften Ich weiß nicht
4 3 3 2 2 2 2 1 66 15 9
Tabelle 20: „Welche industriellen Waren gab es in den Geschäften im April?“ (April 1991, UdSSR, Mehrfachnennung)179 Wenn auch das extreme Defizit an langlebigen Konsumgütern und Waren des alltäglichen Bedarfs nicht so existenzielle Folgen hatte wie der Mangel an Lebensmitteln, so wurde es von den Verbrauchern dennoch als ein Problem wahrgenommen, das zu einem ständigen Begleiter im Alltag wurde. Wie bereits im Falle der Lebensmittelproblematik erschien das Bild des Mangels an Waren des alltäglichen Bedarfs in der offiziellen Statistik positiver als in den Studien der Meinungsforschung. Die Unzufriedenheit mit der schlechten Versorgungssituation stellte wiederum auch einen Vorwurf gegenüber dem Versagen der Politik dar.
178 10% = 100% - [66% (Ich habe nichts davon in Geschäften gesehen) + 15% (Ich war im April nicht in Geschäften) + 9% (Ich weiß nicht)]. 179 Vgl. Nikitina, Vera: VCIOM Chronicle. Year after Year 1991: Kakie neprodovol’stvennye tovary pojavilis’ v magazine v aprele?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 6/1997, S. 46-51, hier: S. 48.
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Direkte und indirekte Preissteigerung Für die Verbraucher waren ab dem Ende der 1980er Jahre nicht nur die Defizite bei Konsumgütern, sondern auch die steigenden Preise für sie ein großes Problem. Dies galt für Lebensmittel wie auch für andere Konsumgüter. In den in diesem Kapitel herangezogenen Studien der Meinungsforschung wurde dieses Thema wiederholt angesprochen. Verantwortlich für die Wahrnehmung steigender Preise war zum einen die zunehmende Bedeutung der privaten und teuren Handelsformen, Kooperativ-Geschäfte und Kolchos-Märkte, sowie von halb- und illegalen Märkten für den Erwerb von Konsumgütern.180 Andererseits wurden auch die Preise für Konsumgüter im staatlichen Handel in den letzten Jahren der Sowjetunion mehr als einmal erhöht, um die Probleme des Warendefizits infolge des Kaufkraftüberhangs und der übermäßigen Subventionierungen einzudämmen. Eine indirekte Preissteigerung stellte die Bedeutungszunahme privater Handelsformen dar. Das System des sowjetischen Handels war klassisch dreigliedrig und bestand im Jahr 1985 aus staatlichen Läden vor allem in den Städten (70% des Gesamtumsatzes des Einzelhandels), genossenschaftlichen Läden vor allem in ländlichen Regionen (27%) und Kolchos-Märkten (3%), auf denen Bauern und private Grundstückpächter ihre privat erzeugten Produkte verkauften. Daneben konnten Verbraucher Waren auch im Gebrauchtwarenhandel, auf Flohmärkten sowie über genannte Zuteilungsmaßnahmen erwerben. Schließlich galt auch der spekulative Handel als Möglichkeit, insbesondere defizitäre Güter zu kaufen.181 Kolchos-Märkte, auf denen ab Mitte der 1980er Jahre weitgehend freier Handel möglich war, sollten in erster Linie die Versorgung der Bevölkerung mit Waren gewährleisten, die es sonst vor allem in den Städten gar nicht wie Honig und bestimmte Gewürze, unregelmäßig wie Obst und Gemüse oder nur in mangelhafter Qualität wie Fleisch gab.182 Die sowjetische Fachpresse konstatierte daher im Jahr 180 Vgl. o. V.: Versteckte und offene Preissteigerungen für Lebensmittel. Zur Versorgungslage in der Sowjetunion, in: Osteuropa-Archiv 40 5/1990, S. A263-A274. 181 Vgl. Gosudarstvennyj komitet SSSR po statistike. Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1990g. Statistieskij e egodnik: Udel’nyj ves gosudarstvennoj, kooperativnoj i kolchoznoj torgovli v obem ob’’eme tovarooborota, Moskau 1991, S. 119; Saslawskaja, Tatjana: Die Gorbatschow-Strategie. Wirtschafts- und Sozialpolitik in der UdSSR, Wien 1989, S. 193-196; Ruban, Maria: Binnenhandel und private Dienstleistungen, in: Bütow, Hellmuth (Hg.): Länderbericht Sowjetunion, Bonn 21988 [1986], S. 409414. 182 Vgl. Cheauré, Elisabeth/Böhn, Dieter: Kolchosmärkte. Eine Form privaten und genossenschaftlichen Handels zwischen Akzeptanz und Ableh-
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1990 für die Märkte: „In keinem einzigen Lebensmittelgeschäft [...] findet man eine solche Auswahl und eine solche Qualität bei Lebensmitteln!“183 Anhand einer Angebots- und Preiserhebung in Moskau im November 1988 lässt sich ermessen, wie sich Angebot und Preise auf den Kolchos-Märkten und in den staatlichen Geschäften zueinander verhielten. Das Angebot auf den Märkten umfasste demnach andere Gemüsesorten als im Staatshandel und auch bereits weiterverarbeitete Gemüse- und Obstprodukte wie Wahlnüsse ohne Schale oder Krautsalat. Der Preis für Rindfleisch war auf dem Markt mehr als doppelt so hoch wie im staatlichen Handel. Gurken kosteten mindestens viermal so viel wie offiziell vorgegeben, allerdings wurde dieses Gemüse im staatlichen Geschäft nicht angeboten (Tabellen 21 bis 24). Lebensmittel Grüne Zwiebeln (Bund) Karotten Kartoffeln Kohl
Preis (Rubel/kg) 0,50 0,25 0,10 0,10
Rote Beete
Preis (Rubel/kg) 0,20
Weißkohl Zwiebeln
0,06 0,50
Lebensmittel
Tabelle 21: Angebot und Preise in einem staatlichen Gemüse- und Obstladen in Moskau in der Nähe des Kiewer Bahnhofs 1988184 Lebensmittel Gurken Schweinefleisch Rindfleisch
Preis (Rubel/kg) 0,10-2,20 1,80 3,90
Lebensmittel Kraut Tomaten Weintrauben
Preis (Rubel/kg) 0,10 0,10-2,20 0,50-1,20
Tabelle 22: Staatliche Preise für verschiedene Lebensmittel 1988185 nung, in: dies. (Hg.): Sowjetunion – Ein Land im Umbau. Beobachtungen und Materialien (Herbst 1988), Würzburg 1989, S. 129-149, hier: S. 130. 183 Kochanenko, V.: Agonija ili vozro denie? Na to sposoben kolchoznyj rynok, in: Sovetskaja torgovlja 1/1990, S. 20-23, hier: S. 21. 184 Vgl. Cheauré, Elisabeth/Böhn, Dieter: Kolchosmärkte. Eine Form privaten und genossenschaftlichen Handels zwischen Akzeptanz und Ablehnung, in: dies. (Hg.): Sowjetunion – Ein Land im Umbau. Beobachtungen und Materialien (Herbst 1988), Würzburg 1989, S. 129-149, hier: S. 130. 185 Vgl. Cheauré, Elisabeth/Böhn, Dieter: Kolchosmärkte. Eine Form privaten und genossenschaftlichen Handels zwischen Akzeptanz und Ablehnung, in: dies. (Hg.): Sowjetunion – Ein Land im Umbau. Beobachtun-
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Lebensmittel
Preis (Rubel/kg) Äpfel 6-7 Granatäpfel 8 Gurken 7-8 Hagebutten 5 Knoblauch (Stück) 0,35-0,70
Lebensmittel
Kraut Wahlnüsse (mit Schale) Maroni
Moosbeeren Paprika (Stück) Peperoni Tomaten Petersilie, Dill (Bund) Krautsalat Wahlnüsse (ohne Schale) Weintrauben
1,50 6 5
Preis (Rubel/kg) 10 0,05-0,25 0,05-0,10 4 0,35 1,50 25 8
Tabelle 23: Angebot und Preise von Obst und Gemüse auf dem Moskauer Tscherjomuschki-Kolchos-Markt 1988186 Lebensmittel Hähnchen (Stück) Kalbszunge (Stück) Kaninchen (Stück) Rinderleber Rindfleisch
Preis (Rubel/kg) 6-7 5
Lebensmittel
15-25 5
Schweinerippchen Schweinezunge (Stück)
Rinderkeule Schweinekotelett
Preis (Rubel/kg) 10 10 7 3
9-10
Tabelle 24: Angebot und Preise von Fleisch auf dem Moskauer Tscherjomuschki-Kolchos-Markt 1988187 Das Angebot auf Kolchos-Märkten war demnach breiter als in staatlichen Geschäften und beinhaltete auch weiter verarbeitete Lebensmittel. Die Kehrseite dieser Handelsform bestand für die Menschen jedoch in den deutlich höheren Preisen dort. Da sich ab dem Jahr 1989 das Ange-
gen und Materialien (Herbst 1988), Würzburg 1989, S. 129-149, hier: S. 136f. 186 Vgl. Cheauré, Elisabeth/Böhn, Dieter: Kolchosmärkte. Eine Form privaten und genossenschaftlichen Handels zwischen Akzeptanz und Ablehnung, in: dies. (Hg.): Sowjetunion – Ein Land im Umbau. Beobachtungen und Materialien (Herbst 1988), Würzburg 1989, S. 129-149, hier: S. 136f. 187 Vgl. Cheauré, Elisabeth/Böhn, Dieter: Kolchosmärkte. Eine Form privaten und genossenschaftlichen Handels zwischen Akzeptanz und Ablehnung, in: dies. (Hg.): Sowjetunion – Ein Land im Umbau. Beobachtungen und Materialien (Herbst 1988), Würzburg 1989, S. 129-149, hier: S. 136f.
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bot in den staatlichen Geschäften immer mehr verschlechterte, gewann die Handelform der Märkte für die Versorgung der Menschen an Bedeutung. Im Resultat bedeutete dies für die Verbraucher, dass sie für den Erwerb von Lebensmitteln mehr Geld ausgeben mussten. Die als privatwirtschaftlich zu bezeichnende Handelsform des Kolchos-Marktes wurde durch die Wirtschaftsreformen ab Mitte der 1980er Jahre um eine weitere private Handelsform, das Kooperativ-Geschäft, ergänzt. Durch die Gesetze über individuelle Arbeitstätigkeit vom November 1986 und über Kooperativen vom Mai 1988 wurden neue Formen des Wirtschaftens zugelassen und der sozialistische Sektor um einen privaten Sektor, der bis dahin mit wenigen Ausnahmen als systemwidrig erachtet worden war, ergänzt. Durch das Gesetz von 1986 wurde ein zuvor in der Illegalität bereits existierendes privates Angebot von Waren und Dienstleistungen wie das Schneidern von Kleidung, Fahrdienste mit dem eigenen Auto, Renovierungen von Wohnungen, Musikunterricht etc. legalisiert. Dieses Gesetz stellte einen Versuch dar, einen Teil der in ihrem Ausmaß beträchtlichen Schattenwirtschaft zu entkriminalisieren. Das Gesetz von 1988 ermöglichte mit den Kooperativen, privaten Kleinunternehmen, eine neue Betriebsform außerhalb des staatlichen Sektors wie auch Privatbesitz an Produktionsmitteln. Es zielte darauf ab, die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern zu verbessern. Kooperativen konnten damit relativ frei Preise festlegen.188 Bereits im Mai 1988 konnten die Konsumenten in mehr als 90 Geschäften in Moskau Waren kaufen, die in Kooperativen und unter dem Regime individueller Arbeitstätigkeit hergestellt worden waren.189 Ein Bericht in der Fachpresse über einen Obst- und Gemüseladen im Zentrum von Moskau, der in Folge der Wirtschaftsreformen entstand, berichtete über Neuheiten, die den Konsumenten in dieser Zeit begegneten. Ein Aushang „Unser Familiengeschäft bietet ... an“ war eine solche Neuheit, ein Schild, dass sich die Preise im Verlauf des Tages ändern können, war eine andere.190 Die neue Handelsform der Kooperativ-Geschäfte stellte sich für die Verbraucher ähnlich wie die Kolchos-Märkte dar: Die positive Seite war ein besseres Angebot als man es in den staatlichen Geschäften vorfand, die negative war das generell höhere Preisniveau dort. 188 Vgl. Trapp, Manfred: Der dekretierte Markt. Die sozialistische Wirtschaftsordnung und ihre Transformation in der Sowjetunion und der Russischen Föderation 1985-1992, Baden-Baden 1994, S. 169-180. 189 Vgl. Karnauchov, V.: Podnjat’ presti stolinoj torgovli, in: Sovetskaja torgovlja 5/1988, S. 9-12, hier: S. 9. 190 Vgl. kind, M.: Semejnyj magazin predlagaet, in: Sovetskaja torgovlja 3/1988, S. 19-21, hier: S. 19.
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Die beiden privaten Handelsformen und insbesondere die hohen Preise dort waren am Ende der 1980er Jahre ein Politikum, das sich beispielsweise in einer gehäuften Thematisierung in der Karikatur der SatireZeitschrift „Krokodil“ niederschlug.191 Die Konsummöglichkeiten des Einzelnen standen dort in einem engen Zusammenhang mit seinem Geldeinkommen, die Preise wirkten für manche Konsumenten wie Prohibitivpreise. Diese beiden marktwirtschaftlichen Handelsformen funktionierten als ein Element sozialer Differenzierung basierend auf monetären Größen. Vor dem Hintergrund der Institution fester Preise als sozialer Errungenschaft und einer Verschlechterung des Angebots in den staatlichen Läden musste dieses Phänomen geradezu Unmut und Kritik auslösen. Auch die staatlichen Festpreise wurden in den letzten Jahren der Sowjetunion mehrfach erhöht. Gemäß offizieller Angaben stiegen die staatlichen Preise von verschiedenen industriellen Konsumgütern im Zeitraum 1985 bis 1990 deutlich an: Farbfernseher verteuerten sich von 644 auf 790 Rubel und Nähmaschinen von 142 auf 157 Rubel (Tabelle 25). Betrachtet man die Entwicklung der mittleren Preise für verschiedene Lebensmittel im Einzelhandel in Tabelle 26, so lassen sich in diesem Zeitraum insbesondere bei Wurstwaren, Kartoffeln, Obst und Gemüse Preissteigerungen beobachten. Der mittlere Preis von Brot und Brotprodukten hingegen blieb weitgehend stabil. Konsumgüter Farbfernseher Schwarz-Weiß-Fernseher Radioempfänger Fotoapparate Waschmaschinen Elektrostaubsauger Uhren Nähmaschinen
1985 644 229 111 72 95 42 24 142
1990 790 230 135 70 101 52 28 157
Tabelle 25: Mittlere Einzelhandelspreise für industrielle Konsumgüter 1985/1990 (Rubel pro Stück)192
191 Krokodil 24/1988, S. 1 (G. Ogorodnikov); Krokodil 35/1988, S. 2 (S. Vetkin); Krokodil 33/1988, S. 5 (V. Moalov); Krokodil 25/1987, S. 12 (V. Peskov); Krokodil 27/1987, S. 7 (A. Eliseev); Krokodil 9/1989, S. 7 (L. Filippova). 192 Vgl. Gosudarstvennyj komitet SSSR po statistike. Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1990g. Statistieskij e egodnik: Srednie rozninye ceny tovarov kul’turno-bytovogo naznaenija, Moskau 1991, S. 169.
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Lebensmittel Fleisch Wurstprodukte Fisch Zucker Tee Brot(-produkte) Nudeln Kartoffeln Gemüse Obst
1985 1,89 2,69 0,77 0,86 7,22 0,27 0,53 0,15 0,36 0,87
1990 2,05 3,41 0,90 0,85 8,07 0,34 0,54 0,29 0,61 1,41
Tabelle 26: Mittlere Einzelhandelspreise für Lebensmittel 1985/1990 (Rubel pro kg)193 Weiter als die Preiserhöhungen der Vorjahre ging dann eine umfassende Preisreform im April 1991. Mit dieser Maßnahme wurde ein weitgehender Versuch unternommen, den Konsumgütermarkt in Ausgleich zu bringen, die Tätigkeit der Hersteller zu stimulieren und den Staatshaushalt zu sanieren. Nach einer Schätzung des Vorsitzenden des Staatskomitees für Preise wurde bis dahin jeder Rubel des Verkaufspreises von Lebensmitteln mit 1,37 Rubeln von staatlicher Seite subventioniert. Die Preiserhöhungen betrafen Nahrungsmittel und andere industrielle Konsumgüter. Mit Kompensationsmaßnahmen wie einer Erhöhung der Löhne und der Ersparnisse sollten die sozialen Folgen dieser Maßnahmen für die Verbraucher begrenzt werden. Betrachtet man die Tabelle 27, so wird die Dimension dieser Preiserhöhung bei Lebensmitteln für die Konsumenten in der Sowjetunion sichtbar: Der Preis des Grundnahrungsmittels schlechthin, Roggenbrot, stieg auf das Vierfache des Ausgangswertes. Kaum ein Lebensmittel gab es, dessen Preis sich nicht zumindest verdoppelte. Nichtsdestotrotz beinhalteten diese Preise immer noch eine staatliche Subventionierung auf niedrigerem Niveau.194
193 Vgl. Gosudarstvennyj komitet SSSR po statistike. Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1990g. Statistieskij e egodnik: Srednie rozninye ceny pokupki prodovol’stvennych tovarov, Moskau 1991, S. 168. 194 Vgl. Trapp, Manfred: Der dekretierte Markt. Die sozialistische Wirtschaftsordnung und ihre Transformation in der Sowjetunion und der Russischen Föderation 1985-1992, Baden-Baden 1994, S. 272-278; Wädekin, Karl-Eugen: Sowjetische Nahrungswirtschaft – Erhöhung der Verbraucherpreise gegen inflationäre Nachfrage, in: Osteuropa 41 7/1991, S. 657664, hier: S. 657f.
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Produkt Rindfleisch Schweinefleisch Vollmilch Butter Hartkäse Schwarzer Tee Eier (Stück)
Alter Preis 2,00 1,90 0,28 3,50 3,20 9,60 1,30
Preis ab 4/1991 7,00 5,30 0,50 8,80 6,40 18,00 2,60
Produkt Mehl Buchweizen Reis Zucker Margarine Quark Roggenbrot
Alter Preis 0,46 0,56 0,88 0,85 1,50 1,00 0,12
Preis ab 4/1991 1,40 1,68 2,20 2,00 3,00 2,00 0,48
Tabelle 27: Preiserhöhung zum 2. April 1991 bei Lebensmitteln (Rubel pro kg)195 Die Verbraucher in der Sowjetunion reagierten höchst sensibel auf steigende Preise. Diskussionen um Preiserhöhungen im Jahr 1988 führten zu spekulativen Käufen und Horten von Salz, Mehl, Nudeln, Öl und insbesondere Zucker unter den Verbrauchern in einigen Regionen der Sowjetunion.196 Die Ankündigung von Preiserhöhungen im Fernsehen im Mai 1990 löste Hamsterkäufe in zahlreichen Großstädten aus.197 Solche fiebrigen Reaktionen gegenüber Änderungen der staatlichen Preise erschienen zum Teil auch als Ausdruck einer Verunsicherung der Verbraucher, die durch die diversen Neuerungen und Reformen dieser Zeit gespeist wurde. Das generelle Problem des Konsumgütermarktes in der Sowjetunion bestand in zu niedrigen Preisen im Verhältnis zu den steigenden Einkommen und auch in den Jahren bis 1990 stiegen Löhne und Ersparnisse stärker als die staatlichen Preise an.198 Doch stellten solche Preiserhöhungen im staatlichen Handel die Bedrohung einer jahrzehntelangen Garantie im Bereich des Konsums dar, was gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Bedeutung nicht-staatlicher und daher teurerer Distributionskanäle als beängstigend empfunden werden musste. Infolge dieser allgemeinen Preissteigerung änderte sich die Ausgabenstruktur der Haushalte. In der staatlichen Statistik schlugen sich die 195 Vgl. o. V.: to poem?, in: Argumenty i fakty 12/1991, S. 1. 196 Vgl. Mokina, A./Kuznecova, L./Bra evskaja, T./Medvedeva, T.: Preodolet’ deficit produktov pitanija, in: Sovetskaja torgovlja 12/1988, S. 24-26, hier: S. 24. 197 Vgl. Holtbrügge, Dirk: Die UdSSR auf dem Weg zur Marktwirtschaft. Programme, Maßnahmen, Widerstände, in: Osteuropa 41 7/1991, S. 619634, hier: S. 620; Huber, Mária: Statt Reformen eine teure Rechnung, in: Die Zeit 1.6.1990, S. 41f. 198 Vgl. Wädekin, Karl-Eugen: Sowjetische Nahrungswirtschaft – Erhöhung der Verbraucherpreise gegen inflationäre Nachfrage, in: Osteuropa 41 7/1991, S. 657-664; Evgenij Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 14.6.2006.
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Preiserhöhungen nur moderat nieder. Der Anteil des Einkommens, das beispielsweise von Arbeiter- bzw. Angestelltenfamilien im russischen Teil der Sowjetunion bzw. in der Russischen Föderation für Ernährung aufgewandt werden musste, war im Jahr 1990 geringer als im Jahr 1985 und stieg erst ab dem Jahr 1991 infolge der umfassenden Preisreform und später der Preisfreigabe deutlich an (Tabelle 28). Im Jahr 1990 lag auch in der gesamten Sowjetunion sowohl bei Arbeiter- und Angestelltenfamilien als auch bei Familien mit bäuerlichem Hintergrund der Anteil des Einkommens, das für die Ernährung aufgewandt wurde, gemäß offizieller Zahlen bei etwa 30%.199
Ernährung Andere Konsumgüter Darunter: Kleidung, Schuhe, Stoffe Möbel, Haushaltsgegenstände PKW, Motorräder, Fahrräder Alkohol Dienstleistungen Sonstiges
1985 32,8 31,3
1990 28,2 35,6
1991 33,0 37,8
1992 39,8 31,8
18,6 20,3 22,5 19,4 7,4 8,6 8,9 7,5 1,6 1,8 1,7 1,3 3,3 3,5 3,0 2,8 10,5 9,3 7,0 5,4 22,1 23,4 19,2 20,2
Tabelle 28: Ausgabenstruktur einer Arbeiter- bzw. Angestelltenfamilie 1985/1990-1992 in RSFSR und Russischer Föderation (Angaben in Prozent)200 Die sowjetischen Konsumenten schätzen dies allerdings in einer Befragung im Januar 1990 gänzlich anders ein: 22% meinten „fast alles“ und 63% „mehr als die Hälfte“ oder „etwa die Hälfte“ von ihrem Einkommen für Lebensmittel zu verwenden (Tabelle 29). Man erkennt also sehr deutlich, dass einerseits die staatliche Statistik die Ausgaben der Konsumenten für Lebensmittel durch nicht-staatliche Distributionskanäle unterschätzte und dass andererseits die subjektive Einschätzung des Konsumstandards durch die Verbraucher bereits vor den massiven Preiserhöhungen des Jahres 1991 sehr schlecht war. Zu diesem Zeitpunkt gab die Hälfte (52%) der Befragten in einer weiteren Umfrage an, mehr als 30% des Einkommens für Waren des alltäglichen Bedarfs wie Kleidung 199 Vgl. Gosudarstvennyj komitet SSSR po statistike. Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1990g. Statistieskij e egodnik: Sostav sovokupnogo dochoda semej raboich i slu aich i ego ispol’zovanie, Moskau 1991, S. 113f. 200 Vgl. Gosudarstvennyj komitet Rossijskoj Federacii po statistike. Rossijskaja Federacija v 1992 godu. Statistieskij e egodnik: Sostav sovokupnogo dochoda semej raboich i slu aich i ego ispol’zovanie, Moskau 1993, S. 162.
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oder Kosmetik auszugeben (Tabelle 30). Trotz der Institution fester Preise war das Konsumniveau in der Eigeneinschätzung der Menschen bereits im Jahr 1990 recht niedrig. Fast alles Mehr als die Hälfte Etwa die Hälfte Ich weiß nicht
22 38 25 6
Tabelle 29: „Wie viel von Ihrem Einkommen verwenden Sie für den Kauf von Lebensmitteln?“ (Januar 1990, UdSSR)201 Bis zu 5% des Einkommens 6 - 10% des Einkommens 11 - 20% des Einkommens 21 - 30% des Einkommens 31 - 50% des Einkommens Mehr als 50% des Einkommens
7 9 12 20 25 27
Tabelle 30: „Wie viel Prozent Ihres Einkommens geben Sie/Ihre Familie für den Kauf von Konsumgütern für den alltäglichen Bedarf aus, z. B. für Kleidung, Schuhe, Wäsche, Seife usw.?“ (Jahreswechsel 1989/90, UdSSR)202 Die Institution fester Preise hatte für die Konsumenten große Bedeutung. Die Preissteigerung – in expliziter Form durch Preiserhöhungen und in impliziter Form durch die Bedeutungszunahme teurerer privater Distributionskanäle – löste daher emotionale Reaktionen aus. In der Meinungsforschung schlug sich auch das Gefühl relativer Armut angesichts steigender Preise nieder. Die ökonomische Argumentation, dass die staatlichen Preise nach wirtschaftlichen Maßstäben weitaus zu niedrig waren, mochte berechtigt sein, doch traf sie die Lebenswirklichkeit der Menschen nicht. Bei den Menschen verstärkte sich vielmehr immer stärker die Einschätzung, dass Armut im Zuge der ökonomischen Umgestaltung zu einem Massenphänomen wurde.
201 Vgl. VCIOM: Obeanijami syt ne bude’, in: Ogonek 5/1990, S. 0-1, hier: S. 0. Die Zahlen sind der Quelle richtig entnommen, auch wenn sie sich nicht zu 100% addieren. 202 Vgl. VCIOM/SINUS: 3. Konsumgüter für den alltäglichen Bedarf, in: Öffentliche Meinung in der UdSSR in Zahlen 2/1990.
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Kriseninterventionen Die in der Meinungsforschung deutlich geäußerte Kritik an der Konsumsituation ließ sich als eine Aufforderung an die politisch Verantwortlichen sehen, ihrem Versorgungsauftrag besser nachzukommen. Und die Politik reagierte in der Tat mit verschiedenen Interventionen auf die Krise. Da das Volumen an Waren, das im staatlichen Handel an die Konsumenten vertrieben wurde, ab Ende der 1980er Jahre trotz entgegen gerichteter Bemühungen sank, versuchte man, die Distribution von Konsumgütern an die Verbraucher zu regulieren. Mit Rationierungsmaßnahmen und der Ausgabe von Berechtigungsscheinen begegnete man der Knappheit von Waren. So führte beispielsweise im Jahr 1988 die Knappheit von Zucker zu einer Begrenzung der jeweils ausgegebenen Verkaufsmenge.203 Für bestimmte, knappe Konsumgüter wie Seife musste man in den letzten sowjetischen Jahren oftmals Berechtigungsscheine vorweisen, allerdings garantierte der Besitz von Berechtigungsscheinen nicht, dass man dafür auch Waren erhielt.204 Für sehr unwillige Reaktionen der Konsumenten sorgte die Rationierung von Zigaretten im Jahr 1991. Nach richtiggehenden Unruhen in der Bevölkerung wurden zusätzliche Kontingente von Zigaretten importiert.205 Ein weiteres Instrument, mit welchem der Konsumkrise begegnet wurde, bestand in der Beschränkung des Konsums auf Einheimische. Bereits in den 1980er Jahren führten die baltischen Staaten diese Praxis ein. Im Jahr 1990 wurde auch in Moskau eine Verordnung erlassen, nach der sich die Bewohner der Hauptstadt beim Einkaufen ausweisen mussten. Damit versuchte man den Einkaufstourismus aus der Provinz einzudämmen und dem Warendefizit in dessen Folge beizukommen. Diese Politik, nur Einheimischen das Recht auf Konsum zuzugestehen, provozierte die Zeitschrift „Ogonjok“, im März 1990 auf einem Titelblatt die Frage zu stellen: „Pass + Geld = Ware?“206 In den Jahren 1990 und 1991 schließlich führte die Zuspitzung der Versorgungskrise zu
203 Vgl. Mokina, A./Kuznecova, L./Bra evskaja, T./Medvedeva, T.: Preodolet’ deficit produktov pitanija, in: Sovetskaja torgovlja 12/1988, S. 24-26, hier: S. 24. 204 Vgl. Juri Poletajew, Lewada-Zentrum, 16.5.2006; o. V.: Anstelle eines Esomar-Kongreß-Berichtes: Interview mit Frau Natalija Cherkasova, in: Planung und Analyse 8/1991, S. 299-302, hier: S. 302. 205 Vgl. Philip Morris Russland: Affilirovannye Kompanii „Filip Morris Internnl“ v Rossii, Moskau 2005, S. 5; Holtbrügge, Dirk: Die UdSSR auf dem Weg zur Marktwirtschaft. Programme, Maßnahmen, Widerstände, in: Osteuropa 41 7/1991, S. 619-634, hier: S. 628. 206 O. V.: PASPORT + DEN’GI = TOVAR?, in: Ogonek 11/1990, Titelblatt.
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internationalen Hilfslieferungen von Lebensmitteln, Medikamenten und anderem.207 Die Einstellung der Verbraucher zu diesen Kriseninterventionen war gespalten. Dies zeigten zwei Meinungsumfragen zu Rationierungsmaßnahmen: Etwa die Hälfte der Befragten äußerte jeweils eine positive Einstellung gegenüber Berechtigungsscheinen bei Lebensmitteln und bei Seife sowie Waschpulver, ein großer Teil jedoch hatte dazu eine negative Einstellung (Tabelle 31). Diese ambivalente Beurteilung ließ sich darauf zurückführen, dass generell eine Regulierung der Distribution von Waren und somit auch politische Eingriffe in dieser Krisenzeit zwar als gerechtfertig und notwendig erachtet wurden, jedoch die Umsetzung und der Erfolg dieser Maßnahme unvollkommen erschienen. Antworten Finde ich richtig Das ist mir egal Finde ich nicht richtig Ich weiß nicht
Lebensmittel 51 6 34 9
Seife, Waschpulver etc. 45 8 40 7
Tabelle 31: Einstellung gegenüber Berechtigungsscheinen für Lebensmittel und für Seife, Waschpulver etc. (Jahreswechsel 1989/90, UdSSR)208 Die verschiedenen Interventionen gegen die Konsumkrise stellten einen Versuch dar, die problematische Situation zu entschärfen. Sie waren jedoch nur bedingt erfolgreich. Die Einstellung der Menschen zu ihnen war daher nur mäßig positiv. Zwar oblag es aus Sicht der Bevölkerung dem Staat, politisch gegen die Versorgungskrise zu intervenieren, doch gelang ihm das mit den eingesetzten Maßnahmen nur teilweise. Die Kriseninterventionen und deren Auswirkungen auf den Konsumalltag wurden in den letzten Jahren der sowjetischen Zeit zu einem weiteren Element des problembehafteten, staatlich regulierten und politisch aufgeladenen Konsumalltags. Diese Ausführungen bestätigen die These, dass während des Systemwandels für die Menschen die Sphäre des Konsums zentrale Bedeutung hatte. Im Januar 1992 wurde in einer Meinungsumfrage ermittelt, welche Veränderungen des Vorjahres die Menschen in Russland im 207 Vgl. Huber, Mária: Statt Reformen eine teure Rechnung, in: Die Zeit 1.6.1990, S. 41f; Krone-Schmalz, Gabriele: ... an Russland muss man einfach glauben. Meine Moskauer Jahre, Düsseldorf et al. 1991, S. 42. 208 Vgl. VCIOM: Obeanijami syt ne bude’, in: Ogonek 5/1990, S. 0-1, hier: S. 1; VCIOM/SINUS: 3. Konsumgüter für den alltäglichen Bedarf, in: Öffentliche Meinung in der UdSSR in Zahlen 2/1990.
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Rückblick am ärgsten betrübt hatten. Eine große Mehrheit (67%) nannte dabei das Steigen der Preise als größtes Problem. Mehr als ein Drittel (39%) beklagte das Verschwinden wesentlicher Güter aus dem Verkauf. Die allgemeinen ökonomischen Probleme (29%) und der Zerfall der UdSSR (27%) wurden hingegen nur von weniger als einem Drittel als Probleme herausgestellt. Absolut unwichtig waren für die Menschen das Ende der Tätigkeit der KPdSU (2%) und der Verlust des Glaubens an die kommunistischen Ideale (2%) (Tabelle 32). Die politischen und volkswirtschaftlichen Veränderungen dieser Zeit waren für die Menschen gegenüber der Konsumproblematik von nachrangiger Bedeutung. Steigen der Preise, Minderung des Lebensstandards Verschwinden grundlegender Waren aus dem Verkauf Zusammenbruch der wirtschaftlichen Verbindungen, Produktionsrückgang Zerfall der UdSSR Aneignung der nationalen Reichtümer durch die neue Bourgeoisie Verlust des Status als Großmacht Verlust der sozialen Gleichheit, Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Arme und Reiche Verlust der Ordnung, Verlust der politischen Stabilität Zügellosigkeit in der Presse, im Fernsehen Indifferenz eines Großteils der Menschen gegenüber den aktuellen Veränderungen Anstieg der Emigration aus dem Land Anwachsen der ökonomischen Abhängigkeit vom Westen Ende der Tätigkeit der KPdSU Verlust des Glaubens an kommunistische Ideale Minderung der Geschwindigkeit der demokratischen Reformen Anderes Weiß nicht
67 39 29 27 20 18 16 10 7 6 4 4 2 2 2 1 4
Tabelle 32: „Was hat Sie im letzten Jahr am meisten betrübt?“ (Januar 1992, Russische Föderation, Mehrfachnennung)209
209 Vgl. Nikitina, Vera: VCIOM Chronicle. Year after Year 1991: to Vas bol’e vsego ogorilo v proedem godu?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 6/1997, S. 46-51, hier: S. 50.
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Ko n s u m i m m a r k t w i r t s c h a f t l i c h e n Ru s s l a n d (1992-2000) Mit dem Jahr 1992 begann in der Russischen Föderation eine neue Zeit, die sich in einer neuen Staatlichkeit und einer neuen politischen sowie wirtschaftlichen Ordnung manifestierte und die sich wesentlich auch auf die Rahmenbedingungen und Ausprägungen des individuellen Konsums auswirkte. Dieses Kapitel untersucht die „Konsumrealität“ in Russland während der ersten marktwirtschaftlichen Jahre also der Zeit von 1992 bis etwa 2000. Zunächst werden die Folgen der zentralen Neuerungen beim Konsum, nämlich Preisfreigabe und Liberalisierung des Handels, behandelt. Einen Einschnitt für die Menschen stellte die Finanzkrise des Jahres 1998 dar. Wie sich diese Krise auf den Konsum auswirkte, wird im Folgenden untersucht. Welche Implikationen die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen der 1990er Jahre für Konsum und Ausstattung in quantitativen Größen hatten, wird dann analysiert. Schließlich wird anhand zweier Studien aus den Jahren 1996 und 2001 der Frage nach der Heterogenität der Konsumenten infolge der Ausdifferenzierung der materiellen Möglichkeiten nachgegangen.
Konsum vor dem Hintergrund neuer Rahmenbedingungen Zum 2. Januar 1992 erfolgte in der Russischen Föderation die generelle Freigabe der Preise. Für bestimmte grundlegende Konsumgüter wie Brot und Milch sowie Medikamente, Mieten und Energiepreise wurden dabei Höchstpreise beibehalten, die in der Regel eine Verdreifachung zum früheren Festpreis beinhalteten. 210 Diese Preisgrenzen wurden aber kaum mehr respektiert: Eine Stichprobe in 55 Moskauer Geschäften im Februar 1992 ergab, dass 47 höhere Preise verlangten. Auch in anderen Regionen wurden die Preise überschritten: Ein halbes Pfund Butter kostete bis zu 40 Rubel und nicht 8,10 Rubel, ein Liter Milch 7 bis 10 Rubel anstelle von 1,80 Rubel und ein halber Liter Wodka teilweise mehr als 100 Rubel bei einem offiziellen Höchstpreis von 45 Rubel.211 Die offiziellen Preisvorgaben für bestimmte Güter wurden trotzdem noch einige Zeit beibehalten, beispielsweise bei Brot bis zum Herbst 1993.212
210 Vgl. Trapp, Manfred: Der dekretierte Markt. Die sozialistische Wirtschaftsordnung und ihre Transformation in der Sowjetunion und der Russischen Föderation 1985-1992, Baden-Baden 1994, S. 289-297. 211 Vgl. Lemenko, Irina: Ceny i pokupateli adaptirujutsja k liberalizacii, in: Izvestija 27.2.1992, S. 3. 212 Vgl. Bundesstelle für Außenhandelsinformationen: Nahrungsmittelindustrie. Aktuelle Trends in Russland, Köln/Berlin 1994, S. 26.
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Die unmittelbaren Folgen der Preisfreigabe für die Konsumenten in der Hauptstadt wurden von ausländischen Beobachtern so beschrieben: „Die Preise der staatlichen Läden stiegen seit der Freigabe am 2. Januar um das 10-20fache, lagen bei deutlich niedrigerer Qualität der Waren oft über denen der Kolchosmärkte und pendelten sich erst nach Wochen wieder auf etwas niedrigerem Niveau ein. Manche Geschäfte blieben am ersten Verkaufstag im Januar einfach geschlossen, [...] weil die Verkäufer nicht wussten, wie viel sie für die Waren verlangen sollten. [...] Die Käuferschlangen waren zunächst verschwunden, die Moskauer lebten von den Vorräten, die sie sich in den vergangenen Wochen und Monaten zugelegt hatten. Die Hoffnung, dass sich das Warenangebot spürbar verbessern würde, wurde allerdings nicht erfüllt. Die Läden waren kaum voller als vorher und vieles war zeitweise überhaupt nicht zu haben.“213 Die mit der Preisliberalisierung verbundenen Annahmen und Hoffnungen der Reformer erfüllten sich zumindest vorerst also nicht.214 In der ersten Hälfte des Jahres 1992 schränkten die Verbraucher in Russland aufgrund der Preissteigerungen den Konsum von Lebensmitteln deutlich ein: Nach Angaben der offiziellen Statistik war der Verbrauch von Fleisch, Wurst, Zucker, Fisch und tierischem Fett um 1,6 bis 1,9 Mal geringer als im Vergleichszeitraum im Vorjahr. Noch drastischer wurde in dieser Zeit der Konsum von Kleidung und Schuhen sowie langlebigen Konsumgütern eingeschränkt.215 Zumindest ein Teil der russischen Konsumenten – 35% im August 1992 bzw. 43% im März 1993 – konnte nach eigenen Angaben noch die Möglichkeit des Erwerbs von Konsumgütern zu vergünstigten Preisen am Arbeitsplatz nutzen.216 Die Titelkarikatur der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Krokodil“ im Jahr 1992, also der ersten Ausgabe in postsozialistischer Zeit, thematisierte die Preissteigerung und formulierte an die Politik die Forderung mäßigend einzuwirken (Abbildung 1). Diese Karikatur ist ein weiterer aussagekräftiger Hinweis darauf, was am historischen Datum des 1. Januar 1992 von den Menschen in Russland als wesentlich wahrge213 Von Welser-Ude, Edith/von Heiseler, Johannes: Moskauer Ansichten. Eine Stadt im Umbruch, München 1992, S. 81. 214 Vgl. Trapp, Manfred: Der dekretierte Markt. Die sozialistische Wirtschaftsordnung und ihre Transformation in der Sowjetunion und der Russischen Föderation 1985-1992, Baden-Baden 1994, S. 292-297. 215 Vgl. Gosudarstvennyj komitet Rossijskoj Federacii po statistike: Social’no-konomieskoe poloenie Rossijskoj Federacii v pervom polugodii 1992 goda, in: konomika i izn’ 30/1992, S. 5-7, hier: S. 6. 216 Vgl. Krasil’nikova, Marina: Potrebitel’skoe povedenie, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 1/1993, S. 34-36, hier: S. 35f.
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nommen wurde. Ausgehend von der Karikatur lässt sich folglich wiederum behaupten, dass im Übergang vom Plan zum Markt im Alltagsdiskurs die Dimension des Konsums und hierbei insbesondere die beobachteten und befürchteten Preiserhöhungen dominierten.
Abbildung 1: „Wessen Geist gewinnt?“217
Die Karikatur beinhaltet folgende Szene: Boris Jelzin, der Präsident der Russischen Föderation, sitzt auf einem Teppich und beschwört zwei Flaschengeister, die aus den Flaschen „Lohn“ und „Preise“ entweichen, wobei der Geist aus der Flasche „Preise“ übermächtig erscheint. Die Karikatur ist unterschrieben mit der Frage „Wessen Geist gewinnt?“. Im Publikum befinden sich die verschiedenen Typen der russischen Gesellschaft – vom Baby über den Handwerker im Blaumann und den Angehörigen des Militärs bis hin zur alten Frau. Ihnen allen scheint diese Frage ins Gesicht geschrieben zu stehen, während sie gebannt auf das Spiel der beiden Geister schauen. In dieser Karikatur spiegelten sich die Furcht der Menschen vor weiteren Preissteigerungen und ihre Erwartun217 Krokodil 1/1992, S. 1 (L. Nasyrov, V. Maksimov [Thema]).
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gen an die Politik, das Verhältnis von Preis- und Lohnsteigerung in den Griff zu bekommen. Die Deutung des Übergangs erfolgte somit hier noch in der alten Logik, nach der ein Versorgungsstaat der Verantwortung für seine Bürger nachkommen sollte. Wie begründet diese Angst vor Preissteigerungen und Inflation war, zeigte die Entwicklung der Verbraucherpreise und der Reallöhne während der nächsten Jahre. Für das Jahr 1992 wurde eine Inflationsrate von über 2000% ermittelt, was zu Einbußen der Bevölkerung beim Realeinkommen von etwa einem Drittel führte. Auch in den Folgejahren führte die Inflation zumeist zu einer Verringerung der Reallöhne und Realgehälter im Vergleich zum Vorjahr (Tabelle 33). Da sich die Verbraucher in den 1990er Jahren zudem noch mit sozialen Problematiken wie nicht gezahlten Löhnen, Arbeitslosigkeit und extremer Einkommensdifferenzierung konfrontiert sahen, führte das Steigen der Verbraucherpreise für viele Konsumenten zu existentiellen Nöten.218 90 91 92 93 94 Verbrau6 160 2510 840 215 cherpreise Reallöhne/ -3 -33 0,4 -8 -gehälter
95 131
96 22
97 11
98 84
99 36
-28
6,4 4,7 -13 -23
Tabelle 33: Veränderung der Verbraucherpreise und der Reallöhne/ Realgehälter im Vergleich zum Vorjahr 1990-1999 in UdSSR und Russischer Föderation (in Prozent)219 Während die Preise schnell anstiegen, verbesserte sich das Warenangebot im russischen Handel nur langsam. In einer Befragung vom Januar 1993 gaben nur 25% der Befragten aus ganz Russland an, dass es an ihrem Wohnort fast alle Lebensmittel im freien Verkauf gäbe. Die anderen empfanden das Angebot an Lebensmitteln noch immer mehr oder weniger ausgeprägt als defizitär (Tabelle 34). Bezüglich Kleidung und Schuhen sowie langlebigen Haushaltsgegenständen wurden ähnliche Angaben wie bei Lebensmitteln gemacht. Im Verlauf des Jahres 1993 218 Alexander Demidow, GfK RUS, 23.5.2006; Jewgeni Mjasin, WNIIKS/ WNIIPRiM, 14.6.2006. 219 Reallöhne/-gehälter ergeben sich aus den nominalen (also gezahlten) Löhnen/Gehältern und der Preissteigerung. In der Tabelle ist für das Jahr 1990 die Veränderung im Jahresdurchschnitt, für die Jahre ab 1991 jeweils die Veränderung von Dezember bis Dezember angegeben. Vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung/Institut für Weltwirtschaft: Russlands Aufschwung in Gefahr, in: Welfens, Paul/Wiegert, Ralf (Hg.): Transformationskrise und neue Wirtschaftsreformen in Russland, Heidelberg 2002, S. 29-69, hier: S. 30f.
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beobachteten die Verbraucher eine Verbesserung des Warenangebotes im Handel, so dass im Februar 1994 das Warendefizit aus mehrheitlicher Sicht überwunden schien. Bezüglich Lebensmittel gaben dann 66% der Befragten einer Studie an, dass es fast alles im Verkauf gäbe, bezüglich Kleidung und Schuhen meinten dies 61% und bezüglich langlebigen Haushaltsgegenständen 58% (Tabellen 35 und 36).
Ja, es gibt fast alles Einen großen Teil gibt es, aber einiges ist defizitär Manches gibt es, aber ein großer Teil ist defizitär Praktisch alles ist defizitär Weiß nicht
1/93 25 38
6/93 45 28
10/93 53 28
2/94 66 21
9/96 84 10
27
19
13
7
3
9 1
5 4
3 3
2 4
1 3
Tabelle 34: „Gibt es an Ihrem Wohnort die grundlegenden Lebensmittel im freien Verkauf?“ (1993-1996, Russland)220
Ja, es gibt fast alles Einen großen Teil gibt es, aber einiges ist defizitär Manches gibt es, aber ein großer Teil ist defizitär Praktisch alles ist defizitär Weiß nicht
1/93 23 27
6/93 39 22
10/93 47 26
2/94 61 20
28
25
17
11
17 5
8 6
6 4
3 5
Tabelle 35: „Gibt es an Ihrem Wohnort die grundlegenden Artikel von Bekleidung und Schuhen im freien Verkauf?“ (1993-1996, Russland)221
220 Vgl. Kovaleva, Natal’ja: Rynok potrebitel’skich tovarov. Problemy deficita i normirovannogo raspredelenija, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 30-32, hier: S. 30; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 60. Est’ li sejas v svobodnoj prodae tam, gde vy ivete, osnovnye prodovol’stvennye tovary?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 3/1994, S. 65; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: L1. Est’ li sejas v svobodnoj prodae tam, gde vy ivete, osnovnye prodovol’stvennye tovary?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 6/1996, S. 72. 221 Vgl. Kovaleva, Natal’ja: Rynok potrebitel’skich tovarov. Problemy deficita i normirovannogo raspredelenija, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 30-32, hier: S. 30; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 61. Est’ li sejas v svobodnoj prodae tam, gde vy ivete, osnovnye predmety odedy, obuv’?,
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Ja, es gibt fast alles Einen großen Teil gibt es, aber einiges ist defizitär Manches gibt es, aber ein großer Teil ist defizitär Praktisch alles ist defizitär Weiß nicht
1/93 27 23
6/93 41 22
10/93 47 26
2/94 58 20
21
21
14
10
23 6
10 7
7 6
4 8
Tabelle 36: „Gibt es an Ihrem Wohnort die grundlegenden Artikel von langlebigen Haushaltsgegenständen im freien Verkauf?“ (1993-1994, Russland)222 Im Januar 1992 wurde auch der Handel per Dekret liberalisiert, was in der Folgezeit insbesondere in den Städten einen spontanen Einzelhandel in verschiedensten Formen entstehen ließ.223 Prägend für die erste Zeit des Konsums unter marktwirtschaftlichen Bedingungen war in den Städten insbesondere der spontane und regellose Handel durch Einzelpersonen, die Waren aus den Händen verkauften. Bevorzugte Plätze für diesen Kleinsthandel waren Haltestellen des öffentlichen Personennahverkehrs, Unterführungen, vitale Knotenpunkte der Städte und Ränder belebter Straßen. Nach der Einschätzung westlicher Beobachter hatte dieser Kleinsthandel im Jahr 1992 anarchische Züge: „Die [...] Haupteinkaufsstraße [Moskaus] ist seit Anfang 1992 gesäumt von Menschen, die eng gedrängt nebeneinander auf den Bürgersteigen stehen und irgendeinen Gegenstand zum Verkauf in Händen halten: Schuhe, Löffel, einen selbst gestrickten Pullover, Waschmittel, Modeschmuck oder gebrauchte Haushaltsgegenstände. Rund um die Metrostation Kusnezki Most drängeln sich Tausende von Menschen so dicht an dicht, dass ein Durchkommen schier unmöglich ist. Jeder bietet etwas an, kaum einer kauft, ab und zu kommt ein Tausch zustande.“224 in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 3/1994, S. 65. 222 Vgl. Kovaleva, Natal’ja: Rynok potrebitel’skich tovarov. Problemy deficita i normirovannogo raspredelenija, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 30-32, hier: S. 30; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 62. Est’ li sejas v svobodnoj prodae tam, gde vy ivete, osnovnye tovary dlitel’nogo pol’zovanija, predmety domanego obichoda?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 3/1994, S. 66. 223 Vgl. Trapp, Manfred: Der dekretierte Markt. Die sozialistische Wirtschaftsordnung und ihre Transformation in der Sowjetunion und der Russischen Föderation 1985-1992, Baden-Baden 1994, S. 289-303. 224 Von Welser-Ude, Edith/von Heiseler, Johannes: Moskauer Ansichten. Eine Stadt im Umbruch, München 1992, S. 81.
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Dieser Kleinsthandel wurde bedingt durch die inflationsbedingte Not der Menschen, die auch ihren Besitz als Ware verkauften, um an Geld zu gelangen. Er war somit Ausdruck einer extremen Krisensituation und nicht eines kommerziellen Gewinnstrebens durch Erwerbstätigkeit. 225 Die bestehenden Einrichtungen des „professionellen“ Einzelhandels wurden in der Folgezeit sehr schnell und umfassend privatisiert. Da zahlreiche Handelsbetriebe zudem neu gegründet wurden, erzielten bereits im Jahr 1995 private Unternehmen 88% des (offiziell deklarierten) Umsatzes im Einzelhandel, im Jahr 2000 betrug ihr Anteil sogar 96%.226 Doch auch dieser Handel trug in den 1990er Jahren Züge der Improvisation und des Informellen. Auf Märkten an alten und neuen Orten, an Kioskansammlungen und improvisierten Verkaufsständen wurden verschiedenste Waren verkauft: unverpackte Lebensmittel wie Brot, Butter oder Käse, Industriegüter wie Kleidung, Schuhe und Kosmetik, verschiedenste Güter von (angeblich) ausländischer Herkunft sowie Bücher und andere Druckerzeugnisse. Hygienische Standards und gesetzliche bzw. fiskalische Anforderungen blieben dabei außen vor. Die wissenschaftliche Literatur spricht in diesem Zusammenhang von „Kioskisierung“ bzw. „Bazarisierung“ des Konsums. Diese Art improvisierten Handelns war charakteristisch für die Umbruchsituation der Transformation und hatte im postsowjetischen Russland wie auch den anderen ehemals sozialistischen Staaten eine hohe Bedeutung für die Versorgung der Menschen mit grundlegenden Konsumgütern.227 Im Zuge von gesetzlichen Regelungen, zunehmender Kapitalbildung auf Seiten der Händler, der Etablierung russischer und ausländischer Handelsketten ab Mitte der 1990er Jahre und gestiegenen finanziellen Möglichkeiten der Konsumenten ging der Handel in primitiver Form im Verlauf der 1990er Jahre zurück und aus den offenen Märkten und Kioskflächen wurden Handelsorte mit verbesserten hygienischen Standards und legaler Grundlage. Allerdings wurde am Ende der 1990er Jahre in Russland noch über 60% des Einzelhandels-Umsatzes auf Märkten getätigt, in oder an Kiosken knapp 10%. Der Anteil entwickelter Handelsarten stand dem weit hinterher: Geschäfte machten nur 20% und Einzelhandelsketten, die vorrangig in Moskau entstanden, unter
225 Vgl. hierzu auch: Krokodil 4/1993, S. 6 (V. Dubov); Krokodil 10/1995, S. 2 (V. Lugovkin). 226 Vgl. Gosudarstvennyj komitet Rossijskoj Federacii po statistikes Rossijskij statistieskij eegodnik. Statistieskij sbornik: Paspredelenie oborota rozinoj torgovli po formam sobstvennosti i mestu prodai, Moskau 2002, S. 484. 227 Vgl. Schlögel, Karl: Die Geburt des Basars aus dem Zerfall, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 14.10.2000, S. If.
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10% des gesamten Umsatzes.228 Konsumieren im Russland der 1990er Jahre war geprägt von rudimentär entwickelten Handelsstrukturen, unzureichenden rechtlichen Rahmenbedingungen, profitorientierten Anbietern und einem Mangel an Verbraucherschutz.229 Die Konsumenten sahen sich daher mit verschiedensten betrügerischen Machenschaften sowie mangelhaften Konsumangeboten konfrontiert: Einmal wurden Hühner mit nur einem Bein verkauft, dann wurden Marmeladengläser mit Apfelmus gefüllt. Vor allem gepanschte Spirituosen stellten immer wieder ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko dar. 230 Insbesondere Märkte und andere offene Verkaufsorte hatten am Ende der 1990er Jahre bei den Konsumenten den Ruf, über ein Angebot qualitativ zweifelhafter Produkte zu verfügen, zudem wurden der mangelhafte Einkaufskomfort und die schlechten hygienischen und rechtlichen Verhältnisse moniert. Die Entscheidung gegen den Einkauf in einem Geschäft war daher vorrangig begründet in den generell höheren Preisen dort.231 Wie sich die Bazarisierung des Konsums auf die Wahl des Einkaufsortes durch die Konsumenten in den 1990er Jahren auswirkte, lässt sich aus Daten der Marktforschung ablesen. Von 1993 bis 1996 blieben gewöhnliche Geschäfte zwar die primären Einkaufsorte für den Lebensmittelkauf durch die russischen Konsumenten, doch die Bedeutung von Märkten nahm in dieser Zeit deutlich zu: Im Jahr 1996 waren Märkte für 63% der Verbraucher ein wesentlicher Ort für den Erwerb von Lebensmitteln, Geschäfte nannten 76% der Befragten. Die Bewohner der beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg machten zu diesem Zeitpunkt ähnliche Angaben wie die Gesamtheit der russischen Verbraucher. Im Jahr 2003 gaben 44% der Menschen an, Lebensmittel am häufigsten
228 Vgl. Telicyna, Irina: Rozinye grezy, in: Kompanija 46/1999 (http://ww w.ko.ru/document.php?id=1128 [3.4.2008]); Vendina, Ol’ga: Der Straßenhandel, in: dies. (Hg.): Moskau. Eine Stadt verändert ihr Gesicht, Köln 1994, S. 15-18; Träger, Franziska: Einzelhandelsentwicklung in Moskau – von der Basar- und Kioskstadt zum großflächigen Einzelhandel, Diplomarbeit TU Berlin 2005, S. 112-124; Pleines, Heiko: Wirtschaftseliten und Politik im Russland der Jelzin-Ära (1994-99), Münster/ Hamburg/London 2003, S. 303-305; Standl, Harald: Der postsozialistische Transformationsprozess im großstädtischen Einzelhandel Ostmittelund Osteuropas, in: Europa Regional 6 3/1998, S.2-15. 229 Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 3.7.2006. 230 Vgl. Trojansky, Ewald: Einbeinige Hühner, vergifteter Schnaps – Skrupellose Händler kalkulieren den Tod mit ein, in: Saarbrücker Zeitung 28.1.1993, S. 7. 231 Diese Informationen erhielt ich in den Jahren 2001 und 2002.
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auf Märkten zu erwerben (Tabellen 37, 38 und 39).232 Kleidung und Schuhe wurden in der Mitte der 1990er Jahre vorrangig auf Kleidermärkten oder „aus der Hand“ bei Privatpersonen gekauft. In Geschäften erwarb zu diesem Zeitpunkt nur etwa ein Viertel der Konsumenten Textilien oder Schuhe, was sich auf fehlende Verkaufsstätten, höhere Preise in Geschäften sowie materielle Restriktionen der Verbraucher zurückführen lässt (Tabelle 40).
In gewöhnlichen Geschäften Auf dem Markt Am Arbeitsplatz, bei Bekannten in der Arbeit In kommerziellen Geschäften Bei Privatpersonen Woanders Weiß nicht
6/1993 90 35 19 15 12 2 2
5/1996 76 63 11 18 12 3 2
Tabelle 37: „Wo kaufen Sie meistens Lebensmittel für Ihre Familie?“ (1993/1996, Russland, Mehrfachnennung)233
In gewöhnlichen Geschäften Auf dem Markt Am Arbeitsplatz, bei Bekannten in der Arbeit In kommerziellen Geschäften Bei Privatpersonen Woanders Weiß nicht
6/1993 96 15 22 16 8 3 1
5/1996 79 59 11 21 4 3 2
Tabelle 38: „Wo kaufen Sie meistens Lebensmittel für Ihre Familie?“ (1993/1996, Moskau und St. Petersburg, Mehrfachnennung)234
232 Hingewiesen sei auf die Möglichkeit der Mehrfachnennung in den Jahren 1993 und 1996, welche im Jahr 2003 nicht geboten war, so dass die Angaben aus den Tabellen 37, 38 und 39 nur bedingt vergleichbar sind. 233 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 83. Gde vy ae vsego pokupaete produkty pitanija dlja svoej sem’i?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 52; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: L99. Gde vy ae vsego pokupaete produkty pitanija dlja svoej sem’i?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/1996, S. 78f. 234 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 83. Gde vy ae vsego pokupaete produkty pitanija dlja svoej sem’i?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 52; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: L99. Gde vy ae vsego po-
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In einem gewöhnlichen Lebensmittelgeschäft Auf einem Lebensmittelmarkt Auf einem Großhandelsmarkt Im Supermarkt oder Hypermarkt In Buden, Kiosken Woanders Weiß nicht
48 34 10 4 3 1 1
Tabelle 39: „Wo kaufen Sie meistens Lebensmittel für Ihre Familie?“ (September 2003, Russland)235 In den letzten Monaten haben wir solche Käufe nicht getätigt In gewöhnlichen Geschäften In kommerziellen Geschäften Bei Ausverkäufen in der Arbeit Auf Kleidermärkten, „aus den Händen“ (neue Dinge) In Devisengeschäften, im Ausland Im Komissionshandel, auf Kleidermärkten, „aus den Händen“ (getragene Dinge) Woanders Weiß nicht
40 26 13 4 41 1 3 1 3
Tabelle 40: „Wo haben Sie in den letzten Monaten meistens Kleidung und Schuhe gekauft?“ (Mai 1995, Russland, Mehrfachnennung)236 Märkte bzw. „Bazare“ stellten die 1990er Jahre hindurch ein Charakteristikum der russischen Konsumkultur dar. Die Bedeutungszunahme von Märkten für den Konsum ging zeitlich einher mit der Verbesserung des Warenangebots aus Sicht der Verbraucher, was die hohe Bedeutung der Märkte für die Versorgung in den 1990er Jahren herausstellt. In den 1990er Jahren war die Gestaltungskraft der Politik bezüglich des Konsumniveaus gering. In den sozialistischen Gesellschaften war Konsumpolitik im Grunde Sozialpolitik gewesen. Durch verschiedenste Maßnahmen der Lohn-, Preis- und Steuerpolitik war eine Egalisierung der Lebensverhältnisse der Bürger angestrebt worden.237 Infolge des kupaete produkty pitanija dlja svoej sem’i?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/1996, S. 78f. 235 Vgl. Levada-Centr: 27.10.2003. Press-vypusk #8: Vse o produktach pitanija (http://www.levada.ru/press/2003102701.html [3.4.2008]). 236 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: L100. Gde vy (leny vaej sem’i) v poslednie mesjacy ae vsego pokupali odedu, obuv’?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/1995, S. 73. 237 Vgl. Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 411f.
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Übergangs zur Marktwirtschaft zog sich der russische Staat durch eine weitgehende Privatisierung der Risiken aus der sozialen Fürsorge zurück. So bestand zwar ein staatliches Versorgungssystem für Alte, Kranke und Bedürftige weiterhin fort, doch hielten die staatlichen Leistungen bei Weitem nicht mit den Preisen des privaten Angebotes im kommerzialisierten Russland Schritt. Staatliche Angebote wie öffentlicher Transport oder Sozialwohnungen blieben allerdings weiterhin ausgesprochen preiswert. Auf regionaler Ebene wurden zudem immer wieder soziale Programme aufgelegt, mit denen arme Menschen durch monetäre Zuschüsse oder auch dem Zugang zu vergünstigten Konsumgütern unterstützt wurden.238 Die neuen Rahmenbedingungen des Konsums in den 1990er Jahren erforderten von den Verbrauchern eine Anpassung ihrer Praktiken beim Konsumieren. Die mit der neuen marktwirtschaftlichen Logik einhergehende Kommerzialisierung machte die Verfügungsgewalt über Geld zum zentralen Kriterium des Zugangs zu Konsum. Für einen Großteil der Menschen löste in dieser Zeit die Suche nach erschwinglichen Waren die Suche nach defizitären Waren ab. Die ersten Jahre in marktwirtschaftlicher Zeit waren generell geprägt von verschiedensten Überlebensstrategien in der Krise. Neben dem allgegenwärtigen Kleinsthandel stellten auch eine verstärkte Eigenproduktion von Lebensmitteln und die Beschränkung der Ausgaben auf Lebensmittel Modi der Anpassung dar. Bei einem großen Teil der Konsumenten erhielten sich solche Konsumpraktiken die 1990er Jahre hindurch. Diejenigen Verbraucher hingegen, denen eine erfolgreiche Anpassung an die neuen Bedingungen gelang, zeigten allmählich andere Züge des Konsumverhaltens. Für diese Verbraucher mit höherem Einkommen wurden Kriterien wie Qualität, Zuverlässigkeit und Prestige einer Ware sowie der Komfort beim Einkauf wichtiger. Außerdem nutzten sie neue Medien wie Werbeprospekte oder das Internet zur Information über das Angebot. Schließlich begannen diese Konsumenten auch, längerfristig größere Anschaffungen zu planen.239 Der Wandel der Konsumlogik zeigte sich sehr deutlich in den alltäglichen Konsumpraktiken der Menschen.
238 Vgl. Kempe, Iris: Russland am Wendepunkt. Analyse der Sozialpolitik von 1991 bis 1996, Wiesbaden 1997, S. 87-173. 239 Vgl. Auzan, Alexander: Changes in the Behaviour of Russian Consumers Under Recent Reforms, in: Journal of Consumer Policy 18 1/1995, S. 7384, hier: S. 79; Poreckina, Jewgenia: Izmenenija v potreblenii v konce 1990-ch gg.. Novye erty potrebitel’skich modelej peterburgskich semej, in: Volkova, L./Gronow, Jukka/Minina, Vera (Hg.): Sociologija potreblenija, Sankt Petersburg 2001, S. 40-60; Ermieva, Galina: Izmenenija tendencij potrebitel’skogo povedenija peterburcev za gody reform i
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Konsumkrise 1998 Stabilisierte sich die volkswirtschaftliche Lage in Russland in der Mitte der 1990er Jahre, was sich für die Menschen deutlich auch in einer Konsolidierung des Konsums zeigte, so stellte die russische Finanzkrise im August des Jahres 1998 einen erneuten Einschnitt für die Verbraucher dar. Im Herbst des Jahres 1998 kam es infolge der Krisensituation zu massiven Unregelmäßigkeiten bei der Belieferung der Geschäfte und Märkte mit Waren. Vielerorts konnten die Menschen in dieser Zeit in den Banken kein Bargeld erhalten. Insbesondere Moskau und andere Großstädte waren von den Folgen dieser Krise betroffen.240 Die massive Abwertung des russischen Rubels gegenüber dem US-Dollar führte zu Preissteigerungen, Kaufkraftverlusten der Konsumenten, einer relativen Verteuerung importierter Waren und zu einer erzwungenen Veränderung des Konsumverhaltens. Einerseits wurde nun quantitativ weniger konsumiert, andererseits lenkte sich die Nachfrage verstärkt auf die billigeren einheimischen Produkte. Da der russische Markt durch die Abwertung des Rubels an Attraktivität verlor, verließen ihn in der Folgezeit einige westliche Hersteller, andere versuchten, sich an die neuen Umstände anzupassen, indem sie verstärkt kostengünstigere Güter produzierten. Bereits Ende 1998 meldeten russische Hersteller daraufhin Produktionssteigerungen.241 Der Verkauf einheimischer Autos stieg so deutlich an.242
podchodov k ego izueniju, in: Volkova, L./Gronow, Jukka/Minina, Vera (Hg.): Sociologija potreblenija, Sankt Petersburg 2001, S. 61-77. 240 Vgl. o. V.: Erste Engpässe auf den Märkten, in: Handelsblatt 27.8.1998, S. 9; Ziener, Markus: Handys sind stumm geschaltet, Autos werden verkauft: Der neue Moskauer Mittelstand ist nur noch eine Erinnerung, in: Handelsblatt 21.10.1998, S. 12. 241 Vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung/Institut für Weltwirtschaft: Russlands Aufschwung in Gefahr, in: Welfens, Paul/Wiegert, Ralf (Hg.): Transformationskrise und neue Wirtschaftsreformen in Russland, Heidelberg 2002, S. 29-69, hier: S. 31; Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH Informationsdienste: Länderanalyse Russland. Nach dem Bankrott. Warten auf einen Neuanfang, Frankfurt/M. Oktober 1998, S. 610; Juri Poletajew, Lewada-Zentrum, 16.5.2006. 242 Vgl. Komarov, Igor’: Kak prodavat’?, in: Kompanija 41/2002 (http:// www.ko.ru/document.php?id=5514 [3.4.2008]); McKay, Betsy: Wenn es hart kommt, gehen die Russen einkaufen, in: Der Tagesspiegel 24.8. 1998, S. 16.
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Wir kommen kaum über die Runden. Das Geld reicht nicht einmal für Lebensmittel Für Lebensmittel reicht das Geld, aber der Kauf von Kleidung verursacht finanzielle Probleme Das Geld reicht für Lebensmittel und Kleidung. Aber der Kauf von langlebigen Konsumgütern (z. B. Fernseher) stellt für uns ein Problem dar Wir können uns problemlos langlebige Konsumgüter leisten. Aber für uns ist es schwierig, wirklich teure Dinge zu kaufen Wir können uns sehr teure Käufe erlauben, Wohnung, Datscha und vieles andere
7/98 9/98 7/00 29 42 27 40
40
39
24
15
26
7
3
7
0
0
0
Tabelle 41: Folgen der Konsumkrise 1998 – „Zu welcher der folgenden Gruppen würden Sie sich am ehesten rechnen?“ (Russland)243 Der Lebensstandard der Menschen sank in Folge der Krise allerdings immens. Beschrieben im Juli 1998 noch 29% der Menschen ihre aktuelle Situation mit „Wir kommen kaum über die Runden. Das Geld reicht nicht einmal für Lebensmittel“, so erachteten dies im September jenes Jahres bereits 42% als gültig. Im Juli 2000 war bei dieser Fragestellung dann das Niveau von vor der Krise erreicht (Tabelle 41). Wie sich das Konsumverhalten der Bewohner in den größeren Städten infolge der Krise veränderte, zeigte eine qualitative Studie vom März 1999 auf: Der Konsum von verarbeiteten Lebensmitteln sank im Vergleich zum Konsum von unverarbeiteten. Kategorien wie nützlich oder schädlich erhielten zentrale Bedeutung als Kaufmotive. Geplante Anschaffungen von langlebigen Konsumgütern wurden auf unbestimmte Zeit verschoben. Die Menschen hatten weniger Freizeit, weil sie mehr Zeit für das Suchen nach billigen Produkten und das Zubereiten von Essen aus Rohstoffen benötigten. Die Ausgaben für Freizeitvergnügungen wurden eingeschränkt. Die Verbraucher kauften seltener Markenprodukte oder stiegen auf Marken aus billigeren Preissegmenten um. Generell wurde der funktionale Wert der Waren wichtiger, Anmutungseigenschaften hingegen verloren an Bedeutung.244 Die Konsumkrise führte also zu Rationalisierungszwängen bei den Konsumenten. Erachtet 243 Vgl. Levada-Centr: 17.08.2000. Press-vypusk: 17 avgusta 2000 goda (http://www.levada.ru/press/2000081700.html [3.4.2008]). 244 Vgl. eldak, Andrej: Izmenenija obraza izni i povedenija rossijskich potrebitelej v krizisnoe vremja, in: Marketing i marketingovye issledovanija v Rossii 3/1999, S. 4-9. Zum Phänomen der Umstellung auf billigere Marken siehe auch: Rybak, Sergej: Down-trading priel v Rossiju, in: Kompanija 2/1999 (http://www.ko.ru/document.php?id= 119 [3.4.2008]).
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man die professionelle Bedeutungszuschreibung zu Waren sowie hedonistische Motive der Verbraucher beim Konsumieren in Anlehnung an die prominente Definition von John Brewer als konstituierende Elemente entwickelter Konsumgesellschaften, so entfernte sich Russland infolge der Krise wieder von diesem Idealtyp.245 Inwieweit wirkten die Erfahrungen der Menschen mit Versorgungsengpässen in sowjetischer Zeit in der Bewertung dieser erneuten Konsumkrise fort? In einer Umfrage vom September 1998 wurde den russischen Verbrauchern die Frage gestellt, ob sie es befürworteten, wenn alle Waren bei höheren Preisen im freien Verkauf blieben oder wenn Waren in begrenzten Quantitäten über Bezugsscheine zu niedrigen Preisen verkauft würden. Ein Drittel der Verbraucher bevorzugte demnach die Einführung von Bezugsscheinen anstelle von Preiserhöhungen bei Beibehaltung des freien Verkaufs. Eine Mehrheit von etwa 50% sprach sich hingegen gegen Bezugscheine und für den freien Verkauf bei Preiserhöhungen aus. Bei den Verbrauchern über 50 Jahren war eine Mehrheit für Bezugsscheine, bei den Konsumenten zwischen 18 und 35 eine überdurchschnittlich deutliche Mehrheit für den freien Verkauf bei Preiserhöhungen (Tabelle 42).
49
18 bis 35 Jahre 60
36 bis 50 Jahre 53
Über 50 Jahre 35
32
23
28
42
20
17
19
23
Alle Freier Verkauf und höhere Preise Regulierter Verkauf und fixierte Preise Weiß nicht
Tabelle 42: „Was wäre Ihnen lieber: Alle Waren bleiben zu höheren Preisen im freien Verkauf oder Waren werden bei Defizit zu fixierten Preisen in begrenzten Mengen und gegen Bezugsscheine verkauft?“ (9. September 1998, Russland)246
245 Vgl. Brewer, John: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen?, in: Siegrist, Hannes/ Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 51-74, hier: S. 52-57. 246 Vgl. FOM: Vy lino predpoili by, toby vse tovary ostavalis’ v svobodnoj prodae, no po bolee vysokoj cene, ili toby pri umerennych cenach i deficite tovarov ich prodaa proizvodilas’ v ograniennych koliestvach po talonam i kartokam?, 9.9.1998 (http://bd.fom.ru/report/cat/societas/ market_economy/trade/tsen/t8040107 [3.4.2008]).
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Somit ließ sich bei älteren Verbrauchern eine Präferenz für Kriseninterventionen der Politik wie in früheren Zeiten beobachten, die Gesamtheit der Befragten lehnte jedoch solche Interventionen ab. Vergleicht man die Haltung der Menschen zu dirigistischen Konsuminterventionen im Jahr 1998 und am Jahreswechsel 1989/1990, so zeigt sich eine recht deutliche Abnahme der Befürwortung.247 Diese Beobachtung lässt sich als Anpassung der Menschen an die neuen Bedingungen und Logiken des Konsums in den 1990er Jahren interpretieren.
Konsum und Ausstattung in Russland ab dem Jahr 1992 in Zahlen Wie wandelten sich Konsum und Ausstattung in Russland ab dem Jahr 1992 in quantitativen Größen? Auf den folgenden Seiten wird dieser Wandel von Konsum und Ausstattung untersucht. Dazu werden vorrangig die Ergebnisse von repräsentativen Befragungen des Meinungsforschungsinstituts WZIOM herangezogen. Aber auch veröffentlichte Studien anderer Meinungs- und Marktforscher sowie Angaben aus den statistischen Jahrbüchern werden für die Analyse verwandt. Falls möglich werden neben Daten zum gesamten Russland auch Daten zu den Metropolen Moskau und Sankt Petersburg präsentiert, um dieser regionalen Differenziertheit im Konsum und bei der Ausstattung etwas gerecht zu werden. Zunächst stellt sich die Frage, welche Konsumziele die russischen Verbraucher am Beginn der marktwirtschaftlichen Zeit hatten. In Frühjahr 1992 wurde in einer Studie über Autofahren in Russland einer repräsentativen Auswahl an Konsumenten diese Frage gestellt. Das primäre Konsumziel stellten demnach für fast die Hälfte der Menschen Lebensmittel dar, was auf die krisenhafte Versorgungslage in dieser Zeit zurückzuführen ist. An zweiter Stelle bei den Konsumwünschen wurden Kleidung und Schuhe genannt, erst dann folgten elaborierte technische Güter wie Auto, Kühlschrank, Fernseher, Waschmaschine oder Videorekorder (Tabelle 43). Die russische Konsumgesellschaft unter marktwirtschaftlichen Bedingungen begann demnach für die Verbraucher mit dem erstrangigen Wunsch nach einer besseren Versorgung mit Lebensmitteln.
247 Vgl. Tabelle 31, S. 87. Hingewiesen sei hier auf die unterschiedlichen räumlichen Bezugsgrößen der beiden Umfragen.
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Russland Lebensmittel Kleidung und Schuhe für Erwachsene Kleidung und Schuhe für Kinder Auto Kühlschrank Fernseher Waschmaschine Videorekorder Devisen Gold, Edelsteine Stereoanlage
47 46 34 28 27 20 18 14 12 9 4
Moskau, St. Petersburg 44 35 31 31 28 17 16 13 23 7 4
Tabelle 43: „Was würden Sie – wenn möglich – zuerst erwerben?“ (Frühjahr 1992, Russland, Mehrfachnennung)248 Gemäß der statistischen Jahrbücher der Russischen Föderation verbesserte sich das Niveau des Konsums von Lebensmitteln in den nächsten Jahren jedoch nicht, vielmehr verschlechterte es sich im Verlauf des Jahrzehnts. Lediglich der Konsum von Brot stieg demnach deutlich, der von Kartoffeln und Zucker ein wenig. Der Verbrauch des für die Konsumenten so wesentlichen Gutes Fleisch bzw. Wurst sank hingegen deutlich (Tabelle 44). Lebensmittel Fleisch(-produkte) Milch(-produkte) Eier (Stück) Fisch(-produkte) Zucker Kartoffeln Gemüse Obst Brot
1991 65 348 229 14 29 98 87 35 101
1992 58 294 243 12 26 107 78 29 104
1993 57 305 236 11 29 112 77 31 107
1994 58 305 210 9 28 113 71 30 101
1995 53 249 191 9 27 112 83 30 102
1999 41 215 222 9,9 35 117 83 28 119
Tabelle 44: Lebensmittelkonsum 1991-1995/1999 in RSFSR und Russischer Föderation (kg pro Kopf im Jahr)249
248 Vgl. SINUS/Verband der Automobilindustrie e. V.: Autofahren in Russland 1992. Eine Grundlagenuntersuchung des Sinus-Instituts im Auftrag des Verbandes der Automobilindustrie, Heidelberg/Moskau 1992, S. 24. 249 Vgl. Gosudarstvennyj komitet Rossijskoj Federacii po statistike. Rossijskij statistieskij eegodnik. Statistieskij sbornik: Potreblenie produktov pitanija, Moskau 1996, S. 145; Gosudarstvennyj komitet Rossijskoj
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Demzufolge verschlechterte sich das Konsumniveau bei Lebensmitteln im gesamtrussischen Durchschnitt in den 1990er Jahren, da die Verbraucher anstelle höherwertigerer Lebensmittel mehr Brot und Kartoffeln konsumierten. Dies wurde so auch von Seiten eines Konsumforschers bestätigt.250 Diese Zahlen beruhen nicht auf der Befragung von Verbrauchern, sondern auf Daten aus Produktion und Handel. Die Bedeutung von Märkten im Einzelhandel lässt daher an der Korrektheit der Angaben zweifeln. Bedenkt man, dass statistische Jahrbücher bezüglich des Lebensmittelkonsums die Angaben von zuvor erschienenen Ausgaben rückwirkend revidieren, sind diese Zahlen mit Vorsicht zu behandeln.251 Wie es um die Konsum-Möglichkeiten der russischen Verbraucher in der Mitte der 1990er Jahre aussah, lässt sich an Ergebnissen einer Umfrage von WZIOM aus dem Jahr 1996 ablesen. Etwa die Hälfte der Konsumenten musste demnach ständig oder zeitweise vom Erwerb von notwendigen Lebensmitteln Abstand nehmen. Bei Kleidung und Schuhen sowie bei Haushaltsgeräten lag der Anteil jener Konsumenten bei mehr als zwei Dritteln. In den Städten Moskau und Sankt Petersburg war das Konsumniveau jeweils etwas besser (Tabelle 45). Russland Lebensmittel Ständig 17 Zeitweise 35 Sehr selten 20 Nie 27 Kleidung und Schuhe Ständig 36 Zeitweise 36 Sehr selten 17 Nie 10 Haushaltsgeräte Ständig 40 Zeitweise 32 Sehr selten 14 Nie 13
Moskau, St. Petersburg 17 30 20 33 30 37 18 13 35 28 13 21
Tabelle 45: Nichtgetätigte Käufe aufgrund von Geldmangel im letzten Jahr (Mai 1996, Russland/Moskau und Sankt Petersburg)252 Federacii po statistike. Rossijskij statistieskij eegodnik. Statistieskij sbornik: Potreblenie produktov pitanija, Moskau 2000, S. 604. 250 Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 14.6.2006. 251 Zur Problematik der statistischen Jahrbücher siehe S. 69. 252 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: LL17a. Za poslednij god prichodilos’ li vam otkazyvat’sja ot pokupki neobchodimych produktov
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Der Zeitpunkt dieser Erhebung, Mai 1996, galt als eine Zeit, zu der die größte Versorgungskrise als überwunden galt und die Krise von 1998 noch nicht das Versorgungsniveau massiv verschlechtert hatte.253 Daraus wird ersichtlich, wie wenig selbstverständlich der Konsum von grundlegenden Gütern wie Lebensmitteln und Kleidung für die Mehrheit der russischen Verbraucher die 1990er Jahre hindurch war. Auch am Anfang des dritten Jahrtausends konnte man Russland nicht als eine stabile Konsumgesellschaft bezeichnen. Dies soll hier anhand einer repräsentativen Untersuchung des russischen Meinungsforschungsinstitutes „Fond Öffentliche Meinung“ (FOM) vom Februar 2002 bezüglich der Konsummöglichkeiten der russischen und Moskauer Verbraucher bei Lebensmitteln dargestellt werden. Die Verbraucher mussten demnach große Teile ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben, 32% der russischen und 27% der Moskauer Verbraucher sogar fast alles (Tabelle 46). Zu diesem Zeitpunkt war der Mehrheit der Konsumenten die Qualität der erworbenen Lebensmittel wichtiger als der Preis allein. Hierbei zeigte sich ein Unterschied zwischen der Hauptstadt und dem Rest des Landes: In Moskau war die Qualität für zwei Drittel der Konsumenten die wesentliche Größe, im restlichen Russland nur für die Hälfte der Konsumenten (Tabelle 47). Qualitätsbewusstsein anstelle reiner Preisorientierung lässt sich als Indikator für eine gewisse Konstituierung beim Konsum interpretieren, weil man erst dann von Konsum oberhalb des reinen Subsistenzniveaus sprechen kann. Allerdings gab mehr als die Hälfte der russischen Verbraucher an, Lebensmittel nicht in ausreichender Quantität erwerben zu können, in Moskau war dies zu diesem Zeitpunkt bereits einer Mehrheit möglich (Tabelle 48). Etwa die Hälfte der Verbraucher in Russland und Moskau beklagte einen Mangel an Obst. Weitere Waren, welche die Konsumenten gerne mehr kaufen wollten, waren Fleisch, Milch, Fisch, Gemüse und Süßigkeiten (Tabelle 49). Die eigene Ernährung wurde von 36% der Russen und von 22% der Moskauer als schlecht eingestuft (Tabelle 50). pitanija iz-za nedostatka deneg?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/1996, S. 77; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: LL17b. Za poslednij god prichodilos’ li vam otkazyvat’sja ot pokupki neobchodimoj vam (lenam vaej sem’i) odedy, obuvi iz-za nedostatka deneg?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/1996, S. 77; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: LL17c. Za poslednij god prichodilos’ li vam otkazyvat’sja ot pokupki dejstvitel’no neobchodimych vaej sem’e predmetov domanego obichoda iz-za nedostatka deneg?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/1996, S. 77. 253 Juri Poletajew, Lewada-Zentrum, 16.5.2006.
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Die Hälfte oder weniger 21 22
Russland Moskau
Die Hälfte bis drei Viertel 44 47
Fast alles 32 27
Weiß nicht 4 4
Tabelle 46: „Wie viel von Ihrem Familienbudget verwenden Sie für die Ernährung?“ (Februar 2002, Russland/Moskau)254 Qualität 52 69
Russland Moskau
Preis 44 24
Weiß nicht 4 7
Tabelle 47: „Für die einen ist beim Kauf von Lebensmitteln das wichtigste die Qualität, für andere der Preis. Was ist das wichtigste für Sie?“ (Februar 2002, Russland/Moskau)255
Russland Moskau
In ausreichender Menge Ja Nein Weiß nicht 43 55 3 60 38 2
In ausreichender Qualität Ja Nein Weiß nicht 38 59 3 52 47 2
Tabelle 48: „Ist es Ihrer Familie möglich, Lebensmittel in ausreichender Menge zu kaufen oder nicht? Ist es Ihrer Familie möglich, Lebensmittel in ausreichender Qualität zu kaufen oder nicht?“ (Februar 2002, Russland/Moskau)256 Obst Russland Moskau
50 45
Fleisch (-waren) 40 28
Milch (-produkte) 20 10
Fisch 18 26
Gemüse 11 21
Süßigkeiten 8 3
Tabelle 49: „Von welchen Lebensmitteln haben Sie nicht genug? Welche Lebensmittel würden Sie gerne öfter und mehr erwerben?“ (Februar 2002, Russland/Moskau)257
254 Vgl. FOM: Pitanie rossijan, 28.2.2002 (http://bd.fom.ru/report/cat/busine ss/ec_goods/dd020828 [3.4.2008]). 255 Vgl. FOM: Pitanie rossijan, 28.2.2002 (http://bd.fom.ru/report/cat/busine ss/ec_goods/dd020828 [3.4.2008]). 256 Vgl. FOM: Pitanie rossijan, 28.2.2002 (http://bd.fom.ru/report/cat/busine ss/ec_goods/dd020828 [3.4.2008]). 257 Vgl. FOM: Pitanie rossijan, 28.2.2002 (http://bd.fom.ru/report/cat/busine ss/ec_goods/dd020828 [3.4.2008]).
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Russland Moskau
Gut 56 69
Schlecht 36 22
Weiß nicht 8 9
Tabelle 50: „Schätzen Sie Ihre Ernährung insgesamt gut oder schlecht ein?“ (Februar 2002, Russland/Moskau)258 Diese Daten über den Lebensmittelkonsum belegen, welch niedriges Niveau der Massenkonsum in Russland zu diesem Zeitpunkt hatte: Selbst bei Lebensmittel konnten sich die Konsumenten nicht gemäß ihrer quantitativen und qualitativen Wünsche versorgen. Zwar war die mangelnde Erhältlichkeit nicht mehr das wesentliche Hindernis, sondern vielmehr die eingeschränkten materiellen Möglichkeiten. Doch im Ergebnis war das Konsumniveau des Durchschnittsverbrauchers noch am Ende der 1990er Jahre niedriger als in den 1980er Jahren.259 Wie wenig Konsum und Shopping in der Folge des Übergangs vom Plan zum Markt für die Menschen in Russland einen Selbstzweck darstellten, zeigten die Ergebnisse einer Umfrage unter Verbrauchern in Moskau aus dem Jahr 2004: Demnach empfanden 57% beim Kauf von Lebensmitteln Befriedigung. Öfters mehr als geplant kauften 60% der Befragten. Und 30% gaben an, dass sie manchmal zum reinen Amüsement in Geschäfte gingen.260 Selbst in der russischen Stadt, die bezüglich des Konsums der absolute Vorreiter war und ist, konnte es sich zu diesem Zeitpunkt nur eine Minderheit der Menschen erlauben, aus reinem Vergnügen heraus zu konsumieren. Ansätze der Konsumsoziologie unterscheiden zwischen Konsum zur Befriedigung primärer Bedürfnisse und Konsum zur Befriedigung von Bedürfnissen jenseits der Notwendigkeit sowie zwischen Shopping mit einem konkreten Ziel und Shopping als Selbstzweck und Amüsement.261 Die hier angeführten Zahlen verweisen darauf, dass die Mehrheit der russischen Verbraucher auch am Beginn des dritten Jahrtausends auf Konsum zur Befriedigung primärer Bedürfnisse und Shopping mit einem konkreten Ziel beschränkt war. Nach dem Übergang vom Plan zum Markt stellte Konsum in Russland generell mehr Notwendigkeit als Vergnügen dar. Wie sich die Ausstattung der Menschen mit langlebigen Konsumgütern in Russland während der 1990er Jahre wandelte, soll im Folgen258 Vgl. FOM: Pitanie rossijan, 28.2.2002 (http://bd.fom.ru/report/cat/busine ss/ec_goods/dd020828 [3.4.2008]). 259 Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 25.6.2006. 260 Vgl. Archiv des Moskauer Marktforschungsinstituts Komkon-2, Präsentation: Optimism – Lifestyle – Moscow. 261 Vgl. Falk, Pasi/Campbell, Colin: Introduction, in: dies. (Hg.): The Shopping Experience, London/Thousand Oaks/New Delhi 1997, S. 1-14.
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den untersucht werden. Eine Umfrage vom Juni 1993 gibt Auskunft darüber, wie sich die Ausstattung der Menschen mit bestimmten langlebigen Konsumgütern, nämlich Farbfernsehern, Waschmaschinen, Fotoapparaten, Videorekordern und Autos, zu Beginn der marktwirtschaftlichen Zeit in Russland darstellte. Eine sehr hohe Ausstattung (86%) war bei Waschmaschinen festzustellen, allerdings waren jene zumeist mindestens fünf Jahre zuvor gekauft worden. Zwei Drittel der Haushalte (69%) gaben an, über einen Farbfernseher zu verfügen. Ein seltener Besitz stellte ein Auto dar, nur 20% der Familien besaßen ein solches und dies war zumeist sehr alt. Eine Innovation stellte zu dieser Zeit der Videorekorder dar. Nur 9% der Familien besaßen ein solches Gerät und dies war mehrheitlich während der letzten drei Jahre angeschafft worden (Tabelle 51). Farbfernseher Nein 30 Ja 69 Bis vor einem 4 Jahr Vor 1 bis 3 13 Jahren Vor 3 bis 5 16 Jahren Vor 5 bis 10 23 Jahren Vor 10 Jahren 11 Ich weiß nicht 2 wann Keine Antwort 1
Waschmaschine 13 86 5
Fotoapparat 64 35 2
9
3
3
2
14
5
1
3
24
8
1
5
24 10
11 7
0 1
7 2
1
1
VideoAuto rekorder 89 79 9 20 3 1
3
1
Tabelle 51: „Haben Sie in Ihrer Familie folgende langlebige Konsumgüter und wenn ja, wann haben Sie diese erworben?“ (Juni 1993, Russland)262 262 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 94. Est’ li v vaei sem’e cvetnoj televizor, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 53; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 95. Est’ li v vaei sem’e stiral’naja maina, i esli est’, to kak davno vy ee priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 53; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 96. Est’ li v vaei sem’e fotapparat, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 54; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 100. Est’ li v vaei sem’e videomagnitofon, i esli est’, to kak davno vy ego priob-
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In den Metropolen Moskau und Sankt Petersburg war die Ausstattung mit langlebigen Konsumgütern zu diesem Zeitpunkt besser als im Landesdurchschnitt. Lediglich bei Waschmaschinen war der Besitz mit 74% geringer und bei Autos mit 20% identisch im Vergleich zum gesamten Russland. Im Bereich der prestigeträchtigen Güter der Unterhaltungselektronik war der Besitz von Farbfernsehern mit 81% und von Videorekordern mit 19% deutlich höher als im gesamten Russland. Eine bedeutsame Feststellung ist, dass nach dieser Studie zwischen Juni 1992 und Juni 1993 immerhin 9% der Familien in diesen Metropolen einen Videorekorder erwarben (Tabelle 52). Farbfernseher Nein 19 Ja 81 Bis vor einem 7 Jahr Vor 1 bis 3 18 Jahren Vor 3 bis 5 14 Jahren Vor 5 bis 10 21 Jahren Vor 10 Jahren 18 Ich weiß nicht 3 wann Keine Antwort 0
Waschmaschine 26 74 6
Fotoapparat 55 42 3
5
3
7
4
10
6
3
3
18
5
0
4
25 10
16 9
1 1
4 3
0
3
VideoAuto rekorder 77 79 19 20 9 2
4
2
Tabelle 52: „Haben Sie in Ihrer Familie folgende langlebige Konsumgüter und wenn ja, wann haben Sie diese erworben?“ (Juni 1993, Moskau und Sankt Petersburg)263 reli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 55; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 102. Est’ li v vaei sem’e avtomobil’, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 55. 263 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 94. Est’ li v vaei sem’e cvetnoj televizor, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 53; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 95. Est’ li v vaei sem’e stiral’naja maina, i esli est’, to kak davno vy ee priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 53; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 96. Est’ li v vaei sem’e fotapparat, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 54; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 100. Est’
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Ließ sich während der 1990er Jahre in Russland bei der Ausstattung mit langlebigen Konsumgütern eine Konsumrevolution nach quantitativen Maßstäben beobachten? Die parallele Aufstellung von Befragungen zur Ausstattung russischer Familien mit Konsumgütern an verschiedenen Zeitpunkten in den 1990er Jahren in Tabelle 53 zeigt, dass ein solcher Wandel bei der Ausstattung nicht stattfand.
Farbfernseher Fotoapparat Mixer Elektrobohrer Gefrierschrank Mikrowelle Videorekorder Videokamera Staubsauger PC Auto Neuwagen Gebrauchtwagen CD-Player
6/93 69 35 . . . . 9 . . . 20 . . .
7/94 69 31 34 27 8 3 11 1 . 5 17 . . .
5/96 73 28 27 28 11 3 21 2 65 3 21 8 13 4
1/97 79 27 27 26 10 4 24 2 68 3 22 9 13 4
3/98 80 32 32 28 10 4 32 4 67 3 23 8 15 6
9/99 79 31 26 22 6 5 31 3 61 3 . . . .
9/00 78 30 23 21 7 3 27 2 56 3 . . . .
9/01 83 38 28 26 9 7 36 3 61 5 . . . .
9/02 83 37 26 23 9 7 34 4 57 7 22 . . 10
Tabelle 53: Ausstattung der Familien mit langlebigen Konsumgütern 1993-2002 (Russland)264 li v vaei sem’e videomagnitofon, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 55; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 102. Est’ li v vaei sem’e avtomobil’, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 55. 264 Vgl. Boarova, Oksana: Vei i stili izni, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 1/1995, S. 44-46, hier: S. 44f; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 94. Est’ li v vaei sem’e cvetnoj televizor, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 53; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 96. Est’ li v vaei sem’e fotapparat, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 54; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 100. Est’ li v vaei sem’e videomagnitofon, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 55; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 102. Est’ li v vaei sem’e avtomobil’, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 55; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: O26a. Otmet’te, poalujsta, v privedennom nie spiske vei, kotorye est’ v vaej sem’e, in: Monitoring obestvennogo mnenija: kono-
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Lediglich bei Farbfernsehern und Videorekordern ließen sich in dieser Zeit starke Steigerungen beobachten. Die 1990er Jahre waren demzufolge von Erstanschaffungen insbesondere bei Unterhaltungselektronik geprägt. Unbedeutend blieb die Ausstattung mit PCs, Videokameras und Mikrowellen. Bei Haushaltsgeräten wie Mixern, Elektrobohrern und Staubsaugern ergab sich ein stagnierendes bzw. sogar ein rückläufiges Ausstattungsniveau. Auch der Anteil von Familien mit Auto stieg in den 1990er Jahren nicht an.265
Farbfernseher Fotoapparat Mixer Elektrobohrer Gefrierschrank Mikrowelle Videorekorder Videokamera Staubsauger PC Auto Neuwagen Gebrauchtwagen CD-Player
6/1993 81 42 . . 10 . 19 . . . 20
.
5/1996 79 46 46 33 15 12 40 4 76 8 21 . 11 . 10 9
1/1997 87 47 44 32 9 9 35 5 81 6 24
3/1998 94 54 52 40 10 11 44 7 81 9 19
8 16 7
9/2002 92 58 51 34 9 15 57 10 71 25 25
8 11 13
. . 25
Tabelle 54: Ausstattung der Familien mit langlebigen Konsumgütern 1993-2002 (Moskau und Sankt Petersburg)266 mieskie i social’nye peremeny 4/1996, S. 80; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: O26a. to iz pereislennogo est’ v vaej sem’e?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 2/1997, S. 69f; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: O26. to iz pereislennogo est’ v vaej sem’e?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 3/1998, S. 80; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: O26. Otmet’te v privedennom nie spiske vei, kotorye est’ v vaej sem’e, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/2001, S. 43; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: O26. Otmet’te, poalujsta, v privedennom nie spiske vei, kotorye est’ v vaej sem’e, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 6/2002, S. 78. Die Punkte in der Tabelle weisen auf fehlende Werte hin. 265 Der Ausstattungsgrad bei Autos stieg in der Zeit ab dem Jahr 2000 stark an. Außerdem wurden dann vermehrt Autos ausländischer Hersteller, die qualitativ hochwertiger und teurer waren, erworben. Vgl. Grünweg, Tom: Der Bär erwacht (http://www.spiegel.de/auto/aktuell/0,1518,536755,00. html [2.4.2008]); Juri Poletajew, Lewada-Zentrum, 16.5.2006. 266 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 94. Est’ li v vaei sem’e cvetnoj televizor, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monito-
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Bei der Analyse des Ausstattungsniveaus mit langlebigen Konsumgütern in Moskau und Sankt Petersburg in den 1990er Jahren sticht wiederum die besondere Bedeutung von Unterhaltungselektronik ins Auge. Bereits im Mai 1996 besaßen hier 40% der Familien einen Videorekorder. Die Ausstattung damit wie auch mit Farbfernsehern, CD-Playern und Videokameras steigerte sich in den Folgejahren weiter. Wie auf gesamtrussischer Ebene lässt sich im Bereich der Haushaltsgeräte keine vergleichbare Entwicklung bei der Erstanschaffung beobachten. Auch der Besitz von Autos stagnierte in dieser Zeit (Tabelle 54). Tabelle 55 zeigt den Unterschied im Ausstattungsniveau mit verschiedenen langlebigen Konsumgütern in den Jahren 1996 und 2002 in Russland gesamt sowie in Moskau und Sankt Petersburg. Eklatant ist jeweils der Unterschied beim Besitz von Videorekordern, Mikrowellen und Computern. Aber auch bei fast allen anderen langlebigen Konsumgütern lag die Ausstattung der Bewohner der beiden größten Städte deutlich über dem russischen Durchschnitt. Erachtet man einen Videorekorder als das langlebige Konsumgut, das eine zentrale Stellung in den Anschaffungsplänen der Konsumenten in den 1990er Jahren einnahm, so lässt sich dabei für die beiden Großstädte im Jahr 1996 ein Ausstattungsgrad feststellen, der im gesamten Russland im Jahr 2002 noch nicht erreicht war. Die beiden Metropolen waren während der 1990er Jahre
ring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 53; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 96. Est’ li v vaei sem’e fotapparat, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 54; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 100. Est’ li v vaei sem’e videomagnitofon, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 55; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 102. Est’ li v vaei sem’e avtomobil’, i esli est’, to kak davno vy ego priobreli?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 5/1993, S. 55; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: O26a. Otmet’te, poalujsta, v privedennom nie spiske vei, kotorye est’ v vaej sem’e, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/1996, S. 80; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: O26a. to iz pereislennogo est’ v vaej sem’e?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 2/1997, S. 69f; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: O26. to iz pereislennogo est’ v vaej sem’e?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 3/1998, S. 80; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: O26. Otmet’te, poalujsta, v privedennom nie spiske vei, kotorye est’ v vaej sem’e, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 6/2002, S. 78. Die Punkte in der Tabelle weisen auf fehlende Werte hin.
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bei der Ausstattung mit wesentlichen langlebigen Konsumgütern dem Landesdurchschnitt weit voraus. 1996 Russland Moskau, St. Petersburg Farbfernseher 73 79 Fotoapparat 28 46 Mixer 27 46 Elektrobohrer 28 33 Gefriertruhe 11 15 Mikrowelle 3 12 Videorekorder 21 40 Videokamera 2 4 Staubsauger 65 76 Computer 3 8 Auto 21 21 CD-Player 4 9
Russland 83 37 26 23 9 7 34 4 57 7 22 10
2002 Moskau, St. Petersburg 92 58 51 34 9 15 57 10 71 25 25 25
Tabelle 55: Ausstattung der Familien mit langlebigen Konsumgütern 1996/2002 (Russland/Moskau und Sankt Petersburg)267 Aus den Angaben in den Tabellen 53, 54 und 55 ist nicht ersichtlich, inwieweit Ersatzkäufe und Austausch von älteren Modellen durch qualitativ höherwertige Güter erfolgt sind. Gemäß repräsentativer Daten des russischen Marktforschungsinstituts Komkon-2 wurden während der 1990er Jahre von 80% der russischen Haushalte mindestens ein neuer Fernseher, von 62% ein neuer Kühlschrank und von 37% ein neuer Videorekorder gekauft. In Moskau und Sankt Petersburg waren die Werte jeweils höher.268 Demnach wurden gewisse langlebige Konsumgüter, welche die Haushalte in sowjetischer Zeit erworben hatten, von neuen Exemplaren, die technisch moderner, qualitativ besser und elaborierter im Design waren, ersetzt.269 Nichtsdestotrotz erscheint es unzu267 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: O26a. Otmet’te, poalujsta, v privedennom nie spiske vei, kotorye est’ v vaej sem’e, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/1996, S. 80; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: O26. Otmet’te, poalujsta, v privedennom nie spiske vei, kotorye est’ v vaej sem’e, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 6/2002, S. 78. 268 Zitiert nach: Shevchenko, Olga: „In Case of Fire Emergency“. Consumption, security and the meaning of durables in a transforming society, in: Journal of Consumer Culture 2 2/2002, S. 147-170, hier: S. 151. 269 Eine russische Soziologin machte am Ende der 1990er Jahre bei Feldforschungen in Moskau die Beobachtung, dass der Kauf neuer langlebiger
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lässig, von einem generellen Anschaffungsboom bei langlebigen Konsumgütern während der 1990er Jahre in Russland zu sprechen. Nach Einschätzung eines Konsumforschers besaßen während der 1990er Jahre insbesondere technische Geräte die Anmutung von gesellschaftlichem Prestige und Status.270 Ein Indiz für die hohe Bedeutung von Audio-, Video- und Haushaltstechnik für die Verbraucher stellte die überaus hohe Aufmerksamkeit gegenüber Marken aus dieser Produktkategorie dar.271 Seit den 1970er Jahren galten ein Farbfernseher, ein eigenes Auto sowie eine Datscha den Menschen in der Sowjetunion als Zeichen von Wohlstand. Der gleichzeitige Besitz all dieser drei symbolischen Dinge wies auf einen hohen sozialen Status noch außerhalb der Nomenklatura hin.272 Im Jahr 1998 verfügten in Russland 80% der Haushalte über einen Farbfernseher, 23% über ein Auto und 22% über eine Datscha, in Moskau und Sankt Petersburg 94%, 19% und 22% respektive.273 Während also der Farbfernseher am Ende der 1990er Jahre seinen Rang als sozial distinguierendes Gut verloren hatte, so blieb der Besitz eines Autos und einer Datscha eine Besonderheit und bot folglich weiterhin die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Distinktion. Gewissermaßen ersetzten in den 1990er Jahren zunächst der Videorekorder und dann auch der CD-Player sowie der Computer den Farbfernseher als Konsumziel und Ausweis gesellschaftlichen Prestiges. Während der 1990er Jahre in Russland stellte also Unterhaltungselektronik – Farbfernseher und Videorekorder – das wesentliche Ziel bei Neuanschaffungen von langlebigen Konsumgütern dar. Bestimmte langlebige Konsumgüter wurden demnach in dieser Zeit auch von Haushalten, die sich dafür an anderer Stelle extrem einschränken mussten,
270 271
272
273
Konsumgüter oftmals von einem Aufbewahren des alten Vorgängermodells begleitet wurde, was sie zum einen auf eine emotional aufgeladene Verbindung der Güter mit der Vergangenheit und zum anderen auf die unsichere und instabile Lage im Allgemeinen zurückführte. Vgl. Shevchenko, Olga: „In Case of Fire Emergency“. Consumption, security and the meaning of durables in a transforming society, in: Journal of Consumer Culture 2 2/2002, S. 147-170. Juri Poletajew, Lewada-Zentrum, 16.5.2006. Vgl. Poletaev, Jurij/mitov, Dmitrij: Magieskie brendy (skai o kakich firmennych markach ty dumae’, i ja skau v kakom obestve ty ive’), in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 6/1998, S. 36-40, hier: S. 38. Vgl. Boarova, Oksana: Novaja izn’ so starymi simbolami, in: Ogonek 19/1995, S. 58; Boarova, Oksana: Vei i stili izni, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 1/1995, S. 44-46, hier: S. 44. Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: O26. to iz pereislennogo est’ v vaej sem’e?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 3/1998, S. 80.
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erworben. Begründen lässt sich dies mit der hohen Bedeutung dieser Güter für den Ausweis von Erfolg und sozialem Status. Vor dem Hintergrund einer instabilen Volkswirtschaft konnte die Anschaffung langlebiger Konsumgüter allerdings auch eine rationale Investition und Schutz vor Geldentwertung sein. Ein genereller Neuanschaffungsboom bei langlebigen Konsumgütern ließ sich hingegen nicht beobachten. Bei der Analyse der Ausstattung der Familien mit verschiedenen Gütern wird deutlich, dass die Metropolen Moskau und Sankt Petersburg dem Rest des Landes um mehrere Jahre voraus waren.
Differenzierung der Konsumenten Die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen der frühen 1990er Jahre in der Sowjetunion und in Russland machten aus einer relativ egalitären Gesellschaft eine sehr ungleiche. Nach Angaben der Weltbank lag der Gini-Koeffizient, ein Maßstab für ökonomische Ungleichheit mit dem Wert 0 für absolute Gleichheit und dem Wert 1 für absolute Ungleichheit, vor den Reformen noch bei 0,26. Am Ende der 1990er Jahre war er auf 0,47 angestiegen, womit die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit in Russland etwa der in den lateinamerikanischen Staaten entsprach.274 Dies schlug sich in einer Ausdifferenzierung der Konsummöglichkeiten und des Konsum- sowie Anschaffungsverhaltens nieder. Anhand zweier russlandweiter, repräsentativer Studien des Meinungsforschungsinstitutes WZIOM aus den Jahren 1996 und 2001 soll nun exemplarisch die Ausprägung dieses Phänomens in Zahlen dargestellt werden. Mit einer Cluster-Analyse ermittelte diese Studie Gruppen, die sich hinsichtlich ihrer Einschätzungen zu Konsumgewohnheiten und Ausstattung mit zehn wesentlichen langlebigen Konsumgütern wie Farbfernseher, Mikrowelle oder Gefriertruhe in ihrem Haushalt unterschieden. Bei der Cluster-Analyse ergaben sich hierbei im Jahr 1996 sechs Gruppen und im Jahr 2001 sieben Gruppen von Konsumenten (Tabelle 56).275
274 Vgl. Genov, Nikolai: Tendenzen der sozialen Entwicklung Russlands. Individualisierung einer vermeintlich kollektivistischen Gesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B16-17/2003, S. 3-10, hier: S. 4f. 275 Vgl. zur Erhebung und Analyse genauer: Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 1/2002, S. 34-44; Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii. Stat’ja vtoraja, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/2002, S. 40-49.
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Konsumenten-Cluster 1 2
3 4 5 6
7
Arme Verarmte, die in ihrem aktuellen Konsum eingeschränkt sind Gruppe mit mittlerem Einkommen Gruppe, die ausreichend konsumieren kann Wohlhabende Gruppe mit der Strategie zu sparen Wohlhabende Gruppe mit der Strategie zu konsumieren Reiche
1996 (2399 Befragte) 38 23
2001 (2407 Befragte) 44 12
15
15
.
10
9
6
10
10
4
4
Tabelle 56: Konsumenten-Cluster 1996/2001 (Russland)276 In den Tabellen 57 bis 61 werden anhand drei dieser Gruppen von 1996 und 2001, nämlich der „Armen“ (1. Gruppe), der „Gruppe mit mittlerem Einkommen“ (3. Gruppe) und der „Reichen“ (7. Gruppe) die Heterogenität der Konsumenten bezüglich Konsum und Ausstattung im Russland der 1990er Jahre dargestellt. Die drei aufgeführten Gruppen repräsentieren zwischen der Hälfte und zwei Dritteln der Befragten.277 Ein zentrales Ergebnis der Analyse ist, dass die Gruppe der „armen Verbraucher“ die mit Abstand größte ist: Im Jahr 1996 gehören zu ihr 38% der Befragten, im Jahr 2001 sogar 44%. Die Menschen in dieser Gruppe sind alt, mehr als ein Drittel ist über 60 Jahre. Überdurchschnittlich hoch ist der Anteil derer, die auf dem Land oder in Provinzstädten leben. Ihr Einkommen und ihr Qualifikationsgrad sind unterdurchschnittlich. Im Jahr 1996 betrug das monatliche Einkommen pro Kopf 238 Rubel bei 356 Rubel im Durchschnitt, im Jahr 2001 933 Rubel 276 Vgl. Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 1/2002, S. 34-44, hier: S. 38; Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii. Stat’ja vtoraja, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/2002, S. 40-49, hier: S. 41. Hingewiesen sei darauf, dass diese beiden Studien auf jeweils personell unterschiedlichen Stichproben beruhen. 277 Die Untersuchung bietet Angriffspunkte für Kritik, beispielsweise bezüglich der Auswahl der gefragten langlebigen Konsumgüter. Da WZIOM für sehr valide Forschung steht und die Publikationen zu dieser Studie auch sehr transparent die Vorgehensweise beschreiben, werden die Ergebnisse hier dennoch präsentiert.
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bei durchschnittlich 1313 Rubel.278 Die Gruppe der „Armen“ verfügt kaum über die gefragten langlebigen Konsumgüter, lediglich Farbfernseher und Staubsauger gibt es in einigen Haushalten. Die Ausstattung mit Farbfernsehern erhöht sich im Zeitablauf deutlich von 48% auf 68%, was sich auf den hohen Prestigewert dieses Guts in dieser Zeit zurückführen lässt: Zumindest einen Farbfernseher versuchte jeder Haushalt in dieser Zeit zu erwerben (Tabelle 57). Diese Gruppe muss an allem sparen: an Kleidung, medizinischer Versorgung und sozialen Bedürfnissen. Bei der Nahrung schränken sich im Jahr 1996 86% und im Jahr 2001 76% dieser Gruppe ein (Tabelle 58). Ein Fünftel der „Armen“ gibt sowohl 1996 als auch 2001 an zu hungern, ein überwiegender Teil meint, sich bescheiden zu ernähren und dabei möglichst billige Lebensmittel zu kaufen (Tabelle 59). Etwa 90% geben zu beiden Zeitpunkten an, sich bescheiden oder schlecht zu kleiden (Tabelle 60). Ebenso hoch ist der Anteil derer, die ihre Haushaltsausstattung mit langlebigen Konsumgütern wie einem Fernseher oder Möbeln als alt, unzureichend und in einem schlechten Zustand beurteilen (Tabelle 61). Diese Verbraucher, fast die Hälfte der Grundgesamtheit, waren aus Sicht der Hersteller von Markenprodukten aufgrund ihres beschränkten ökonomischen Vermögens als Zielgruppe nicht interessant. In dieser Gruppe muss der Preis alleiniges Kriterium bei der Produktwahl sein, einfach weil für den Konsum teurerer Waren kein finanzieller Spielraum vorhanden ist. Von der Anschaffung langlebiger Konsumgüter wird mit Ausnahme von Farbfernsehern fast völlig Abstand genommen. Die Gruppe derer, die über ein mittleres Einkommen verfügen, macht sowohl im Jahr 1996 als auch im Jahr 2001 15% der Befragten aus. Diese Gruppe ist eine von vier (1996) bzw. fünf (2001) weiteren Gruppen, die in Konsum und Ausstattung zwischen den Polen reich und arm verortet sind. Diese Verbraucher verfügen über ein mittleres Einkommen – im Jahr 1996 343 Rubel bei durchschnittlich 356 Rubel und im Jahr 2001 1194 Rubel bei durchschnittlich 1313 Rubel. In ihren sozialen Charakteristika ist diese Gruppe jedoch nicht so deutlich auszumachen wie die beiden extremen Gruppen der „Armen“ bzw. der „Reichen“.279 Die Angehörigen dieser Gruppe legen bezüglich ihrer Ausstat278 Vgl. Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 1/2002, S. 34-44, hier: S. 38, 44; Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii. Stat’ja vtoraja, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/2002, S. 40-49, hier: S. 41, 44. 279 Vgl. Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 1/2002, S. 34-44, hier: S. 38, 42; Bondarenko, Natal’ja:
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tung mit langlebigen Konsumgütern in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre deutlich zu: Bei Farbfernsehern steigt die Ausstattung von 74% auf 97%, bei Videorekordern von 7% auf 34% und bei Staubsaugern von 48% auf 66% (Tabelle 57). Dies lässt sich auf eine gewisse Konsolidierung des Anschaffungsverhaltens bei dieser in der Mitte angesiedelten Konsumenten-Gruppe zurückführen. Das Sparverhalten dieser Konsumenten spiegelt Präferenzen wider: Während der Jahre 1996 bis 2001 nehmen diese Verbraucher in einigen Produktbereichen Abstand vom Sparen, in anderen hingegen nicht. Dies lässt sich zum einen auf unterschiedliche Preisentwicklungen in den verschiedenen Produktbereichen, zum anderen auf eine unterschiedlich hohe gesellschaftliche Bedeutung bestimmter Güter zurückführen (Tabelle 58). Die große Mehrheit in dieser Gruppe schätzt die eigene Ernährung als gut oder zumindest bescheiden ein. Auch bei Kleidung und langlebigen Konsumgütern werden zu einem großen Teil die beiden mittleren der vier Bewertungskategorien genannt. Die besessene Kleidung wird als ausreichend bzw. bescheiden eingeschätzt, der Besitz an Haushaltsgegenständen als gut bzw. alt (Tabellen 59, 60 und 61). Im Zeitraum 1996 bis 2001 ändern sich diese Einschätzungen kaum. Die kleine, exklusive Gruppe der „Reichen“ macht in den Jahren 1996 und 2001 jeweils nur 4% der Befragten aus. Diese Gruppe hat das geringste Durchschnittsalter: 51% (1996) bzw. 67% (2001) sind unter 30 Jahre. Viele leben in der Hauptstadt oder in anderen Großstädten. Ihr Einkommen ist weit überdurchschnittlich: Im Jahr 1996 betrug es pro Kopf im Monat 1270 Rubel bei durchschnittlich 356 Rubel, 2001 betrug es 5120 Rubel bei durchschnittlich 1313 Rubel. Auch ihr Qualifikationsniveau ist relativ hoch. Unter den „Reichen“ gibt es sehr viele Unternehmer.280 Bereits im Jahr 1996 verfügen die Angehörigen dieser Gruppe durchwegs über Farbfernseher und Staubsauger, im Jahr 2001 finden sich dann auch Fotoapparate, Mixer und Elektrobohrer in fast jedem Haushalt (Tabelle 57). Selbst diese Gruppe muss manchmal sparen, was aufgrund der prinzipiell unbegrenzten Konsumwünsche der Menschen auch gar nicht anders sein dürfte. Insbesondere bei Urlaub und Dienstleistungen müssen etwa 40% dieser Gruppe sparen. Bei den Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii. Stat’ja vtoraja, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/2002, S. 40-49, hier: S. 42. 280 Vgl. Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 1/2002, S. 34-44, hier: S. 41-43; Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii. Stat’ja vtoraja, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/2002, S. 40-49, hier: S. 42f, 46.
120 | MCLENIN
anderen Produktarten müssen sie sich jedoch kaum einschränken (Tabelle 58). Die Ernährung wird als hervorragend bzw. lediglich beim Genuss von besonderen Delikatessen als beschränkt erachtet (Tabelle 59). Man kann sich jede Kleidung kaufen, die einem gefällt, bzw. alles nötige außer hochmodischen Teilen. Auffällig ist, dass zu beiden Zeitpunkten nur jeweils ein Drittel angibt, sich jede Kleidung kaufen zu können, die gefällt (Tabelle 60). Der Besitz von langlebigen Konsumgütern wird ähnlich beurteilt: Etwa ein Drittel verfügt über alles und das in neuer, moderner Version und etwa zwei Drittel zumindest über alles Notwendige und das in einem guten Zustand (Tabelle 61). Diese Zahlen und Angaben zeigen sehr eindrücklich die Ausdifferenzierung der Konsummöglichkeiten und des Konsum- und Anschaffungsverhaltens in den 1990er Jahren in Russland. Im Russland der 1990er Jahre erschien nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung gemessen an Ausstattung und aktuellem Konsum als wohlhabend, die absolute Mehrheit der Konsumenten hingegen war vom Konsum regelrecht ausgeschlossen. Nur einige wenige Menschen nutzten die Umbruchsituation zur persönlichen Bereicherung und stellten in der Folgezeit ihre enormen Konsummöglichkeiten in Form von großen Autos, Villen, teurer Kleidung sowie Schmuck demonstrativ zur Schau.281 Man muss bei der Beschäftigung mit den allgemeinen Veränderungen beim Konsum in dieser Zeit stets im Auge behalten, dass die größte Gruppe von Konsumenten, die diese Zeit prägte, die der armen Konsumenten war. Für einen sehr großen Teil der russischen Verbraucher bedeutete „Konsum im Übergang vom Plan zum Markt“ Konsumverzicht aufgrund ökonomischer Beschränkung.
281 Vgl. Brössler, Daniel: Luxus pflastert ihren Weg, in: Süddeutsche Zeitung 17.9.2007, S. 3; Krasil’nikova, Marina: Bogatye: 1% naselenija, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 3/1996, S. 29-33.
KONSUMREALITÄTEN | 121
Videokamera
Videorekorder
Mikrowelle
Gefrierschrank
Elektrobohrer
Mixer
Fotoapparat
Farbfernseher
64
1
20
3
9
31
28
28
75
Alle (100%)
0
38
0
2
0
1
5
4
4
48
Arme (38%)
2
48
0
7
0
3
17
9
6
74
Mittlere (15%)
30
99
25
93
41
49
93
92
92
100
Reiche (4%)
8
61
3
33
5
8
27
29
34
83
Alle (100%)
1
39
0
6
0
2
9
5
10
68
Arme (44%)
1
66
0
34
1
6
20
25
30
97
Mittlere (15%)
70
100
49
100
56
55
93
95
99
100
Reiche (4%)
2001
Staubsauger
4
1996
CD-Player
Tabelle 57: „Gibt es in Ihrer Familie folgende langlebige Konsumgüter?“ (1996/2001)282
282 Vgl. Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 1/2002, S. 34-44, hier: S. 41; Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii. Stat’ja vtoraja, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/2002, S. 40-49, hier: S. 42.
122 | MCLENIN
Einladung, Besuch von Gästen
Besuch von Kino, Theater
Nutzung von Dienstleistungen
Haushaltsgegenständen
Kleidung, Schuhen
Lebensmitteln
13
40
20
20
27
24
37
13
0
11
3
4
3
2
14
54
72
27
75
40
42
55
48
59
85
96
60
97
71
61
84
87
90
Reiche (4%)
31
35
15
43
23
21
30
29
53
5
8
2
15
2
4
6
4
24
Alle Arme (100%) (44%)
39
48
10
62
19
26
39
38
81
93
88
59
97
87
62
92
90
100
Reiche (4%)
Urlaub
39
5
2001 Mittlere (15%)
Medizinischer Behandlung
28
1996 Alle Arme Mittlere (100%) (38%) (15%)
Fahrten zu Freunden, Verwandten
Tabelle 58: „Sie sparen nicht an ...?“ (1996/2001) 283
283 Vgl. Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 1/2002, S. 34-44, hier: S. 42; Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii. Stat’ja vtoraja, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/2002, S. 40-49, hier: S. 42.
KONSUMREALITÄTEN | 123
Wir ernähren uns, wie wir möchten 25
5
Alle (100%)
20
72
8
0
Arme (38%)
2
4
49
36
9
Mittlere (15%)
2
0
8
51
39
Reiche (4%)
1
9
57
27
6
Alle (100%)
1
19
71
9
0
0
2
57
37
3
Mittlere (15%)
0
0
2
59
39
Reiche (4%)
2001
59 Wir ernähren uns bescheiden, versuchen möglichst billige Lebensmittel zu kaufen
Wie ernähren uns gut, können uns aber keine Delikatessen erlauben
10
1
1996
Wir ernähren uns karg, hungern
1
Arme (44%)
Weiß nicht
Tabelle 59: „Wie schätzen Sie die Ernährung Ihrer Familie ein?“ (1996/2001)284
284 Vgl. Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 1/2002, S. 34-44, hier: S. 42; Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii. Stat’ja vtoraja, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/2002, S. 40-49, hier: S. 42.
124 | MCLENIN
Wir kleiden uns bescheiden, kaufen möglichst günstige Sachen
Wir können es uns erlauben, jede Kleidung zu kaufen, die uns gefällt
36
30
4
Alle (100%)
37
9
0
Arme (38%)
14
41
39
2
Mittlere (15%)
0
9
50
35
Reiche (4%)
3
24
42
26
5
Alle (100%)
2
45
45
9
0
Arme (44%)
5
6
52
35
2
Mittlere (15%)
9
0
3
60
29
Reiche (4%)
2001
Alle Sachen sind alt, wir müssen sie bald erneuern
52
5
1996
Wir kleiden uns schlecht, 27 wir müssen Sachen sehr lange tragen, sie reparieren, sie umarbeiten
5
4
2
Weiß nicht
Tabelle 60: „Wie schätzen Sie die Bekleidung Ihrer Familie ein?“ (1996/2001)285
285 Vgl. Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 1/2002, S. 34-44, hier: S. 42; Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii. Stat’ja vtoraja, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/2002, S. 40-49, hier: S. 42.
KONSUMREALITÄTEN | 125
34
4
Alle (100%)
59
13
0
Arme (38%)
7
41
47
2
Mittlere (15%)
1
0
6
61
32
Reiche (4%)
2
12
50
32
4
Alle (100%)
1
23
65
9
1
Arme (44%)
3
3
49
43
2
0
0
3
71
26
Mittlere Reiche (15%) (4%)
2001
Wir haben praktisch alles, was wir wollen, alle Sachen sind neu und modern
47
25
4
1996
Wir haben alles notwendige, alle Sachen sind in einem guten Zustand
12
3
Alle Sachen sind alt, wir müssen sie bald erneuern Wir haben wenig Sachen und die sind in einem schlechtem Zustand 3
Weiß nicht
Tabelle 61: „Wie schätzen Sie die Ausstattung Ihres Haushalts ein: Möbel, Kühlschrank, Fernseher etc.?“ (1996/2001)286
286 Vgl. Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 1/2002, S. 34-44, hier: S. 42; Bondarenko, Natal’ja: Tipologija linogo potreblenija naselenija Rossii. Stat’ja vtoraja, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/2002, S. 40-49, hier: S. 42.
126 | MCLENIN
Zusammenfassung Dieser Teil befasste sich mit den realen Ausprägungen des Konsums, die sich als Ergebnis politischer Gestaltung und volkswirtschaftlicher Gegebenheiten im Zuge des Übergangs vom Plan zum Markt ergaben. Das erste Kapitel beleuchtete die Konsumrealität in der Sowjetunion während der ersten Jahre der Gorbatschow’schen Perestrojka. Charakteristisch für das sowjetische Konsummodell war, dass sowohl das gesellschaftliche als auch das individuelle Konsumniveau von politischem Gutdünken und nicht von der ökonomischen Leistungsfähigkeit abhing. Neben dem normalen Handel hatten daher verschiedene Kanäle der Konsumgüterzuteilung große Bedeutung für die Verbraucher. Die Versorgung mit Konsumgütern in der Sowjetunion in den Jahren 1985 bis 1988 war allerdings qualitativ und quantitativ unzureichend. Einem steigenden Ausstattungs- und Konsumstandard begegneten die Verbraucher mit steigenden Ansprüchen an Varianz, Neuheit, Qualität und Verarbeitungsgrad. Diesen Ansprüchen kam das Angebot nicht nach. Die sozialistische Konsumforschung unternahm in dieser Zeit den Versuch, mittels Typologien die Heterogenität der Konsumenten abzubilden, da die stete Konzentration der Konsumgüterindustrie auf den durchschnittlichen Konsumenten als wesentliches Problem erkannt wurde. Konsum spielte demnach zu diesem Zeitpunkt auch in sozialistischen Gesellschaften eine wichtige Rolle für die symbolisch-kulturelle Differenzierung der Menschen. Das zweite Kapitel beschäftigte sich mit der Konsumsituation in der Sowjetunion während der Jahre 1989 bis 1991, als sich die Versorgungslage infolge der ökonomischen Umgestaltung zur Krise zuspitzte. Die Konsumkrise zeigte sich für die Verbraucher einerseits in einem beständig schlechter werdenden Angebot im staatlichen Handel und andererseits in hohen Preisen zunächst vor allem in den privaten Handelsformen, also den alten Kolchos-Märkten und den neuen KooperativGeschäften, und nach mehreren Preiserhöhungen auch im staatlichen Handel. Diese doppelte Problematik für die Konsumenten lässt sich auf die hybride Wirtschaftsform in dieser Zeit zurückführen: Das mangelhafte Angebot wurde bedingt durch eine nicht mehr konsistente planwirtschaftliche Versorgungswirtschaft und die hohen Preise ergaben sich im Gefolge einer nun neu aufkommenden marktwirtschaftlichen Logik. Für die Verbraucher bedeutete diese Konsumkrise also eine Verringerung ihres Lebensstandards. Für die Ernährung musste nun ein größerer Teil des Einkommens verwendet werden, zugleich wurde die Ernährung als sich qualitativ, quantitativ und in ihrer Zusammensetzung verschlechternd wahrgenommen. Bei der Lebensmittelkrise ab dem Jahr
KONSUMREALITÄTEN | 127
1989 handelte es sich aus Sicht der Konsumenten wesentlich um eine Krise der Versorgung mit Fleisch und Wurst, der Mangel an Wurst erschien wie ein Synonym für die Nichterfüllung des Versorgungsauftrags der Politik. Die direkte und indirekte Preissteigerung in dieser Zeit verunsicherte die Konsumenten sehr, da die jahrzehntelang währende Institution fester Preise erodierte und sich zudem die Versorgung mit Waren dadurch nicht verbesserte. Die angespannte Versorgungssituation führte schließlich zu internationalen Hilfslieferungen von Lebensmitteln und zu Interventionen der Politik wie der Beschränkung des Konsums auf Ortsansässige sowie der Distribution von Waren über Berechtigungsscheine, was jedoch die Konsumkrise nicht verhindern konnte. Das dritte Kapitel untersuchte die Konsumrealität in Russland während der Jahre 1992 bis 2000 und somit der ersten marktwirtschaftlichen Jahre. Im Zuge des Übergangs zur Marktwirtschaft hatten die Freigabe der Preise und die Liberalisierung des Handels wesentliche Folgen für die Verbraucher. Insbesondere die Preisfreigabe war von Seiten der Konsumenten mit den größten Befürchtungen verbunden. Zu Recht, denn die Preissteigerungen in der Folgezeit waren für eine massive Verschlechterung des allgemeinen Lebensstandards in Russland verantwortlich. Durch die Preisfreigabe wurde das Warendefizit im Handel nicht unmittelbar überwunden, sondern dauerte noch die erste marktwirtschaftliche Zeit fort. Charakteristisch für diese Jahre war das Phänomen der „Bazarisierung“ des Konsums. Infolge der Liberalisierung des Handels entwickelten sich vor allem in den Städten ein improvisierter Kleinsthandel sowie Märkte verschiedenster Gestalt. Einkaufen in den 1990er Jahre war für die Konsumenten mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden. Die Finanzkrise des Jahres 1998 führte dann zu einer erneuten Konsumkrise. Insgesamt verschlechterten sich die Konsummöglichkeiten der russischen Verbraucher in den Jahren ab 1992. Ein Großteil musste sich sogar zeitweilig beim Konsum von Lebensmittel aufgrund finanzieller Restriktionen stark einschränken. Wesentliches Konsumziel bei Neuanschaffungen in dieser Zeit stellten Güter aus dem Bereich der Unterhaltungselektronik, also Farbfernseher und dann auch Videorekorder, dar. Von einem generellen Boom bei Neuanschaffungen kann allerdings in diesen Jahren nicht die Rede sein. Der gesellschaftliche Wandel hatte eine sehr ausgeprägte sozioökonomische Ausdifferenzierung der Menschen zu Folge, welche sich deutlich beim Konsum zeigte. Während eine sehr kleine Gruppe über beachtliche Konsummöglichkeiten verfügte, so musste sich der weitaus größte Teil der Verbraucher auf Subsistenzkonsum beschränken. Waren also das individuelle wie auch das gesellschaftliche Konsumniveau bis zum Ende der 1980er Jahre vorrangig das Ergebnis politi-
128 | MCLENIN
schen Gutdünkens und somit einer Verteilungslogik, so bestimmten in den 1990er Jahren ökonomische Kriterien und hierbei vorrangig die Verfügungsgewalt über Geld das individuelle Konsumniveau. Anstelle von Waren war nun das Geld knapp. Aus Sicht der Konsumenten machte sich dieser Wandel vorrangig an der Erosion der Institution fester Preise fest. Das historische Datum des 1. Januar 1992 führte bei den Menschen daher vor allem zu Angst vor unabsehbaren Preissteigerungen. Der Übergang vom Plan zum Markt bedeutete für die meisten Menschen eine Minderung der Möglichkeiten zu Konsum und des Lebensstandards. Folglich war das durchschnittliche Konsumniveau in Russland im Jahr 2000 schlechter als in der Mitte der 1980er Jahre.
KONSUMDISKURSE
Welche Deutungen dem Konsum in der Öffentlichkeit zukamen und wie sich jene im Zuge der umfassenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen im Übergang vom Plan zum Markt wandelten, wird in diesem Teil untersucht. Die hier behandelten „Konsumdiskurse“ lassen sich als eine in der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ordnung fundierte Manifestation von Deutungen, Haltungen und Bewertungen bezüglich des Phänomens Konsum an sich sowie bezüglich bestimmter Teilaspekte davon erachten. Diese Untersuchung basiert auf einer Analyse der Karikaturen aus der Satire-Zeitschrift „Krokodil“ und bildet folglich einen spezifischen Ausschnitt der „Konsumdiskurse“ ab. In der Karikatur finden sich sowohl Beobachtungen von Meinungen und Haltungen als auch Bewertungen dieser Beobachtungen, wobei beide Ebenen Teile der „Konsumdiskurse“ sind. Diese Eigenheit der Quellenart Karikatur wird in der Darstellung soweit wie möglich herausgearbeitet und transparent gemacht. Repräsentative Studien der Konsum- und Meinungsforschung geben als ergänzende Quelle einerseits Auskunft über das Verhältnis der sich in der Karikatur niederschlagenden „Konsumdiskurse“ und der öffentlichen Meinung. Andererseits sind die dabei gestellten Fragen ein Indiz für eine hohe Relevanz bestimmter Aspekte, denn die mit Meinungsforschung befassten Institute wurden durch die Formulierung bestimmter Fragen und die Veröffentlichung der Ergebnisse selbst zu Teilnehmern an der Etablierung und Lenkung der „Konsumdiskurse“. Von dieser Quellenbasis ausgehend lassen sich vier wesentliche Themen der „Konsumdiskurse“ ausmachen, welche in jeweils einem Kapitel dieses Teils behandelt werden: Die politisch begründeten Ausprägungen des Konsums wurden während des Übergangs vom Plan zum
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Markt zu einem zentralen Gegenstand diskursiver Auseinandersetzung. Zum Teil waren diese „politischen Konsumdiskurse“ im planwirtschaftlichen Kontext verortet, andere standen in einem Zusammenhang mit der Einführung der Marktwirtschaft. Während des Übergangs vom Plan zum Markt wurden die Symbole der Sowjetunion in eine spannungsreiche Beziehung zum Phänomen Konsum gebracht, was im dritten Kapitel untersucht wird. Schließlich schlugen sich moralische Haltungen gegenüber dem Konsum schlechthin sowie gegenüber damit einhergehenden Praktiken und Verhaltensweisen in der Karikatur als „normative Konsumdiskurse“ nieder.
Ko n s u m d i s k u r s e d e r P l a n w i r t s c h a f t Dem Phänomen Konsum sind in allen konkreten historischen Ausprägungen gewisse Wesenszüge des Politischen eigen. Jeder Staat schafft durch die Entscheidung für eine spezifische Wirtschaftsform sowie verschiedenste Maßnahmen der Konsumpolitik und des Verbraucherschutzes einen Rahmen, innerhalb dessen Konsum stattfinden muss. Außerdem ist es jedem Verbraucher möglich, als „citizen consumer“ (Lizabeth Cohen) durch Konsum oder Nicht-Konsum von bestimmten Waren politische Äußerungen zu treffen. Schließlich werden das Handeln staatlicher Akteure bezüglich der Sphäre des Konsums sowie gesellschaftliche Ausprägungen derselben zum Ausgangspunkt politischer Konsumdiskurse. Konsum lässt sich stets auch als ein politisches Problem bezeichnen.287 Für das sowjetische Konsummodell galt dies umso mehr, war doch hier das Konsumniveau wesentlich Ergebnis politischen Willens und nicht der ökonomischen Leistungsfähigkeit, und dies sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Den politischen Akteuren kam aus Sicht der Menschen die Verantwortung für die Konsumsituation und auch deren Mängel und Defizite zu. Waren die Rahmenbedingungen des Konsums sowie das konkrete Verhalten der Konsumenten bereits Gegenstand der Darstellung, so ge287 Vgl. Cohen, Lizabeth: Citizens and Consumers in the United States in the Century of Mass Consumption, in: Daunton, Martin/Hilton, Matthew (Hg.): The Politics of Consumption. Material Culture and Citizenship in Europe and America, Oxford/New York 2001, S. 203-221; Lamla, Jörn: Politisierter Konsum – konsumierte Politik. Kritikmuster und Engagementformen im kulturellen Kapitalismus, in: Lamla, Jörn/Neckel, Sighard (Hg.): Politisierter Konsum – konsumierte Politik, Wiesbaden 2006, S. 9-37; Hilton, Matthew/Daunton, Martin: Material Politics. An Introduction, in: dies. (Hg.): The Politics of Consumption. Material Culture and Citizenship in Europe and America, Oxford/New York 2001, S. 1-32.
KONSUMDISKURSE | 131
hen die folgenden zwei Kapitel der Frage nach, welche politisch begründeten Ausprägungen des Konsums während des Übergangs vom Plan zum Markt zu einem Gegenstand diskursiver Auseinandersetzung wurden und in der Karikatur ihren Niederschlag fanden. Die Definition des Politischen ist hier eine enge, da es als ein auf Handlungen staatspolitischer Akteure bezogenes Phänomen verstanden wird. Darüber hinausgehende moralische Vorstellungen bezüglich des Konsums, die in der sozialwissenschaftlichen Forschung generell ebenfalls dem Konsum als einem politischen Phänomen zugerechnet werden, werden im letzten Kapitel dieses Teils behandelt. Dieses Kapitel untersucht jene politischen Konsumdiskurse, die im planwirtschaftlichen Kontext zu verorten sind. Zunächst wird auf den Zusammenhang von meinungspolitischer Öffnung und politischer Kritik an den Ausprägungen des Konsums eingegangen. Politische Kritik ließ sich in diesem Zusammenhang vor allem an drei Momenten ausmachen: Das offensichtliche Versagen des Versorgungsstaates provozierte in dieser Zeit fundamentale Kritik am sowjetischen Konsummodell und Staat. Auch die sich in den Konsumprivilegien einiger weniger Personen manifestierende Ungleichheit der Konsummöglichkeiten, gleichsam Ausdruck des Verteilungscharakters des sowjetischen Konsummodells, löste harsche Kritik aus. Die Schlechterstellung der sowjetischen Konsumenten im Vergleich zu den Konsumenten in den USA, die im Zuge der medialen Öffnung offensichtlicher und darstellbarer wurde, diente als weiterer Anlass für politische Kritik in der Karikatur.
Konsumkrise als Ergebnis von Glasnost Während der Jahre 1988 bis 1991 wurde in der Karikatur generelle Kritik am Versagen des Versorgungsstaates und der dafür Verantwortlichen geübt. Diese Kritik wurde bedingt durch eine sich verschärfende Konsumkrise sowie die Möglichkeit, nun freier seine Meinung zu äußern. Eine jahrzehntelang aufgestaute Unzufriedenheit mit den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen des Lebens entlud sich in der Karikatur dieser Zeit in einer Kritik an den Mängeln des Konsumalltags, die mit dem Versagen eines Staates, dem ein Versorgungsauftrag zukam, gleichgesetzt wurden. Das Problem des Warendefizits wurde bereits Mitte der 1980er Jahre in der Karikatur thematisiert. Jedoch wurde das Thema zunächst nur in verharmlosender Art und Weise dargestellt, was auf die meinungspolitische Einflussnahme auf das Medium zurückzuführen ist. In einer Karikatur von 1985 freut sich ein Mann, in einem Schild mit der Aufschrift „Keine Blumen“ einen „objektiven Grund“ gefunden zu haben, seiner
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Freundin keine Blumen mitbringen zu müssen.288 In Anspielung auf das Märchen vom Aschenputtel enttäuscht in einer anderen Karikatur eine Verkäuferin eine lange Schlange von Prinzessinnen mit dem Hinweis darauf, dass es Kristallschuhe nur noch in Größe 45 gäbe.289 Und eine Großmutter amüsiert sich beim Vorlesen eines Märchens über einen kleinen Jungen in zu großer Kleidung, dass es wohl auch früher Probleme mit Kinderkleidung gegeben hätte. Ihr Enkel ist nämlich mit Kleidungsstücken für Erwachsene, die ihm viel zu groß sind, bekleidet.290 In Karikaturen wie diesen wurde der Mangel in verharmlosender Form angesprochen. Der Bezug zur aktuellen Situation in der Sowjetunion wurde in diesen Karikaturen noch nicht durch Text oder eindeutige Zeichen explizit gemacht, teilweise wurde der Topos der Karikatur in die Welt des Märchens übertragen. Der Bezug auf die aktuelle Situation war für den damaligen Leser aber offensichtlich, insbesondere da die Waren, die in den Karikaturen als defizitär dargestellt wurden, auch in der Realität kaum zu beschaffen waren. Das in der Kariktur dargestellte Defizit bezog sich in dieser Zeit lediglich auf langlebige industrielle Konsumgüter, nicht jedoch auf schnelldrehende Konsumgüter wie Lebensmittel. Dies änderte sich im Verlauf des Jahres 1988. Ab diesem Zeitpunkt wurde das Defizit als ein Phänomen dargestellt, das bizarre, ja sogar Existenz bedrohende Züge annahm und gerade auf die Versorgung mit Lebensmitteln bezogen war. Im September 1988 erschien eine Karikatur, in der Menschen dicht gedrängt stehen und auf die Mitte zustreben. Dort ruft eine Person, die nicht zu sehen ist: „Ich verkaufe nichts, das sind meine Sachen.“291 Eine Karikatur vom Oktober 1988 zeigt eine Konsumentin in einem Lebensmittelgeschäft, in dem die Regale absolut leer und von Spinnweben verhangen sind.292 In einer Karikatur vom Dezember 1988 steht eine sechsköpfige Familie um einen Tisch herum. Mit verbundenen Augen soll die Mutter entscheiden, wer den letzten Rest Zahnpasta auf seine Zahnbürste bekommen soll, was auf ein ausgeprägtes Defizit bei dieser Produktart zu jener Zeit hinwies.293 Auf eine Verschlechterung der Versorgung mit Lebensmitteln in diesem Jahr ließ sich dieses gewandelte Rezeptionsmuster in der Karikatur nur teilweise zurückführen. Das Angebot an Lebensmitteln war nämlich im Jahr 1985 nicht wesentlich besser als im Jahr 1988. Gemäß sta288 289 290 291 292 293
Krokodil 7/1985, S. 2 (M. Vajsbord). Krokodil 15/1985, S. 2 (T. Grudinina). Krokodil 27/1987, S. 4 (O. Tesler). Krokodil 27/1988, S. 6 (B. Zenin). Krokodil 29/1988, S. 3 (O. Tesler). Krokodil 35/1988, S. 9 (N. Belevcev, Belgorod).
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tistischer Daten erfolgte eine signifikante Verschlechterung des Angebots an Nahrungsmitteln im staatlichen Handel erst im Verlauf des Jahres 1989.294 Auch eine ausländische Beobachterin beschrieb die allgemeine Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zumindest in Moskau, das in der Zuweisung von Konsumgütern extrem privilegiert war, in der Zeit bis einschließlich 1988 als unproblematisch, was sich in den Folgejahren entscheidend änderte. 295 Insgesamt ließ sich für die Jahre 1985 bis 1989 in der Sowjetunion gemäß der inflationsbereinigten Konsumausgaben der Bevölkerung eine unwesentliche Verbesserung und keine Verschlechterung der Versorgungslage bei Konsumgütern und Dienstleistungen feststellen.296 Wesentlichen Einfluss auf die Rezeption der Versorgungssituation als Defizit hatte indessen die Möglichkeit, infolge der Politik von Glasnost etwa ab dem Jahr 1987 freier seine Meinung zu äußern und zu publizieren. Da das Defizit in hohem Maße ein individuell und kollektiv konstruiertes Phänomen ist, führte diese neue Freiheit zu einer gewandelten Deutung der Konsumsituation. Gerade im Medium der Karikatur wurde der neue Spielraum genutzt, um Kritik an Alltagsproblemen zu üben. Das Defizit an grundlegenden Lebensmitteln,297 und hierbei insbesondere an Wurst, 298 das Defizit an industriellen Konsumgütern wie Kleidung, Seife oder auch Medizin,299 Schlangen vor Geschäften,300 Preiserhöhungen,301 die Bedeutungszunahme privatwirt294 Vgl. S. 67-76. 295 Vgl. Krone-Schmalz, Gabriele: ... an Russland muss man einfach glauben. Meine Moskauer Jahre, Düsseldorf et al. 1991, S. 49. 296 Vgl. Götz-Coenenberg, Roland: Die Konsumgüterversorgung in der Sowjetunion: Lage und Aussichten, Köln 1989, S.16-20. 297 Krokodil 23/1990, S. 5 (V. Lugovkin); Krokodil 5/1991, S. 5 (V. Vladov); Krokodil 15/1991, S. 5 (O. Pan’kov); Krokodil 15/1991, S. 5 (O. Tesler, R. Drukman); Krokodil 6/1991, S. 8f (V. Lugovkin); Krokodil 7/1991, S. 1 (V. Lugovkin); Krokodil 21/1991, S. 15 (A. Zanin); Krokodil 13/1991, S. 11 (V. Uborevi-Borovskij, J. Stepanov [Thema]). 298 Krokodil 7/1991, S. 6 (R. Drukman); Krokodil 15/1991, S. 5 (V. Poluchin, T. Zelenenko [Thema]); Krokodil 21/1990, S. 11 (G. und V. Karabanev); Krokodil 17/1990, S. 5 (G. Ogorodnikov, V. Vladov [Thema]); Krokodil 30/1990, S. 7 (V. Lugovkin); Krokodil 12/1991, S. 5 (S. Rep’ev); Krokodil 2/1991, S. 5 (G. Ogorodnikov, V. Mochov [Thema]); Krokodil 21/1990, S. 11 (G. Ogorodnikov, J. Stepanov [Thema]). 299 Krokodil 32/1989, S. 2 (V. Uborevi-Borovskij, V. Vladov [Thema]); Krokodil 11/1990, S. 5 (S. Rep’ev); Krokodil 9/1990, S. 5 (R. Samojlov, V. Til’man [Thema]); Krokodil 5/1991, S. 1 (V. Poluchin); Krokodil 24/1991, S. 5 (V. Vladov); Krokodil 10/1991, S. 3 (V. Lugovkin); Krokodil 17/1989, S. 16 (V. Poluchin); Krokodil 9/1991, S. 5 (R. Drukman); Krokodil 19/1989, S. 11 (V. Lugovkin); Krokodil 7/1989, S. 11 (V. Moalov). 300 Krokodil 11/1988, S. 1 (V. karban); Krokodil 33/1988, S. 2f (V. karban); Krokodil 26/1988, S. 11 (O. Tesler); Krokodil 17/1989, S. 5 (R.
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schaftlicher und folglich teurer Handelsformen302 sowie die erfolglosen Maßnahmen der Politik, der realen Konsumkrise zu begegnen,303 wurden daher in den Jahren 1989 bis 1991 in der Karikatur permanent und aufs schärfste angeprangert. Auch in den Zeitungen wurde ab 1987 im redaktionellen Bereich sowie in abgedruckten Leserbriefen sehr scharfe Kritik an der Versorgungslage geübt. 304 Dadurch verstärkte sich wiederum das Defizit in der allgemeinen Wahrnehmung, und in der Folge nahmen auch Praktiken des Hortens und der Spekulation in dieser Zeit zu.305 Dass der Konsumdiskurs des Mangels immer mehr Öffentlichkeit gewann, war begründet in der Gleichzeitigkeit der Veränderungsprozesse in den verschiedenen Sphären der Gesellschaft, was der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel als „Dilemma der Gleichzeitigkeit“306 bezeichnet hat: Die beginnende Meinungsfreiheit im Zuge der politischen Veränderungsprozesse – „Glasnost“ – ging einher mit einer Zuspitzung der Konsumkrise infolge des Umbaus der Wirtschaft – „Perestrojka“. Dies führte dazu, dass ab Mitte des Jahres 1988 das Defizit als Alltagsphänomen zum zentralen Thema der Auseinandersetzung um Konsum in der Karikatur wurde.
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Samojlov, J. Stepanov [Thema]); Krokodil 24/1990, S. 1 (G. und V. Karavanev). Krokodil 33/1988, S. 9 (O. stis); Krokodil 28/1990, S. 11 (V. Dmitrjuk, R. Drukman [Thema]); Krokodil 16/1988, S. 2 (V. Poluchin); Krokodil 18/1989, S. 2 (V. Dmitruk, V. Til’man [Thema]); Krokodil 21/1990, S. 1 (J. erpanov); Krokodil 1/1991, S. 5 (R. Samojlov); Krokodil 26/1989, S. 5 (V. Lugovkin); Krokodil 16/1991, S. 1 (I. Novikov, T. Zelenenko [Thema]); Krokodil 11/1991, S. 11 (L. Filippova); Krokodil 30/1991, S. 8 (V. Dubov); Krokodil 35/1991, S. 2 (R. Samojlov). Krokodil 35/1988, S. 2 (S. Vetkin); Krokodil 33/1988, S. 5 (V. Moalov); Krokodil 25/1987, S. 12 (V. Peskov); Krokodil 27/1987, S. 7 (A. Eliseev). Krokodil 21/1989, S. 9 (V. Poluchin, E. erdev [Thema]); Krokodil 11/1991, S. 11 (S. Spasskij, J. Stepanov [Thema]); Krokodil 18/1990, S. 5 (I. Novikov, V. Vladov [Thema]); Krokodil 23/1988, S. 7 (V. Dobrovol’skij); Krokodil 24/1989, S. 3 (V. Ivanov, V. Vladov [Thema]); Krokodil 20/1990, S. 5 (T. Zelenenko); Krokodil 1/1990, S. 5 (T. Zelenenko); Krokodil 6/1991, S. 16 (S. Rep’ev); Krokodil 3/1991, S. 5 (V. Vladov); Krokodil 3/1991, S. 5 (S. Spasskij); Krokodil 5/1991, S. 5 (V. Mochov). Vgl. Tolstov, V.: Opjat’ net pasty, in: Izvestija 5.9.1987, S. 2; KroneSchmalz, Gabriele: ... an Russland muss man einfach glauben. Meine Moskauer Jahre, Düsseldorf et al. 1991, S. 49. Vgl. Mokina, A./Kuznecova, L./Bra evskaja, T./Medvedeva, T.: Preodolet’ deficit produktov pitanija, in: Sovetskaja torgovlja 12/1988, S. 2426. Merkel, Wolfgang: Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Opladen 1999, S. 377.
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Abbildung 2: „Freiheit, Pluralismus – all das gibt es jetzt ...“307 Dieser Zusammenhang von meinungspolitischer Öffnung und Konsummisere wurde in einer Karikatur vom August 1988 auch explizit angesprochen: In einer langen Schlange vor der Theke eines Lebensmittelgeschäftes, die sich gleichsam auf freiem Feld befindet, stehen Menschen, die über die Möglichkeit freier Meinungsäußerung diskutieren: „Ja, es gibt mehr Glasnost ...“, „Jetzt kann jeder seinen Standpunkt aussprechen ...“, „Demokratisierung gibt es ...“, „Diskussionen, Polemik sind inzwischen möglich ...“ und „Freiheit, Pluralismus – all das gibt es 307 Krokodil 23/1988, S. 8 (G. Ogorodnikov).
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jetzt ...“. Der erste in der Schlange lächelt dabei gezwungen freundlich die Verkäuferin hinter der Theke an, die übel gelaunt für ihn ein Stück Wurst abwiegt (Abbildung 2). Die Darstellung in dieser Karikatur erscheint sehr abstrakt und ihre Aussage folglich allgemein. Die Situation an der Theke charakterisiert die Rolle des Konsumenten an sich und die Diskussionen in der Schlange stehen für die allgemeine Öffentlichkeit. Die politischen Veränderungen dieser Zeit hatten gemäß der hier abgebildeten Auffassung nicht auf den Bereich des Konsums übergegriffen. Der Prozess der politischen Demokratisierung war nicht mit einer Stärkung der Rolle der Konsumenten einhergegangen. Die Macht im Felde des Konsums lag nach wie vor auf Seiten der Verkäuferin bzw. des Handels. Meinungsfreiheit und Demokratisierung waren auf den Bereich der Politik beschränkt, der Handel war ein diktatorisches System geblieben. Dennoch wurde implizit allein schon durch die Existenz der Karikatur deutlich gemacht, dass eine Kritik an der Konsumrealität nur durch eben jene politischen Veränderungsprozesse möglich geworden war.308
Versagen des Versorgungsstaates Die politische Führung der Sowjetunion hatte aus Sicht der Verbraucher einen Versorgungsauftrag, dem sie am Ende der 1980er Jahre nicht annähernd zur Zufriedenheit der Menschen nachkam. Infolge der Möglichkeit zu freier Meinungsäußerung bezeichnete die Karikatur die politische Führung als verantwortlich für die Probleme der Versorgungssituation. Eine Karikatur von Juni 1989 zitiert eine Verordnung des Ministerrates der UdSSR vom 6. April 1989 bezüglich der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern: „Die Nachfrage der Bevölkerung ... nach Milch und Milchprodukten soll in den Jahren 1991 und 1992, ... nach Fleisch und Fleischprodukten in den Jahren 1994 und 1995, nach Obst und Beeren im Jahr 1995 befriedigt werden.“ Im Bildteil dieser Karikatur sehen sich zwei grimmig blickende Verbraucher in der „Stadt der Zukunft“ Geschäften mit einladender Außenfassade gegenüber, an denen jedoch stets Schilder wie „Wird es im Jahr 1995 geben“ und „Wird es im Jahr 1992 geben“ angebracht sind.309 Die Konsumversprechungen der politischen Führung wurden somit am Ende der 1980er Jahre als Zumutungen und unglaubwürdige Vertröstungen für die Verbraucher in der Gegenwart erachtet. Die politischen Akteure erschienen
308 Auch: Krokodil 31/1989, S. 5 (V. Poluchin, V. Til’man [Thema]). 309 Krokodil 16/1989, S. 5 (V. Poluchin, L. Florent’ev [Thema]).
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verantwortlich für eine Konsummisere, die politische Akte und Verordnungen nicht beenden konnten.310 Die geäußerte Unzufriedenheit über die Konsumversprechungen stand in einem Zusammenhang mit der aufkommenden Kritik an geschönten Statistiken und Berichten, die einen extremen Kontrast zur real beobachtbaren Situation darstellten. 311 In einer Karikatur werden die sowjetischen Erfolgsrekorde, dargestellt als „Hurrah!-Bücher“, von 1980 bis 1989 immer dünner.312 Die „Neuigkeiten der sowjetischen Volkswirtschaft“ werden in einem weiteren Beispiel aus dem Jahr 1991 als „Horrorfilm“ bezeichnet. 313 Schließlich gesteht ein Weihnachtsmann am Rednerpult: „Ich habe euch nicht mit Lebensmitteln versorgt, ich habe euch nicht mit Schuhen versorgt, ich habe euch nicht mit Kleidung versorgt ...“314 Der jahrzehntelange beschönigende Umgang mit Berichten und Statistiken in der Sowjetunion provozierte diese Karikaturen, die einen extrem selbstkritischen Umgang der politischen Führung bezüglich der eigenen Leistungen bzw. richtiggehende Selbstbezichtigungen forderten. Die politische Aufladung des Konsums im sowjetischen Konsummodell erhielt am Ende der 1980er Jahre angesichts der Zuspitzung der Versorgungssituation besondere gesellschaftliche Sprengkraft. Die Karikatur in Abbildung 3 wurde im Rahmen des Wettbewerbes „Mit den Augen von Glasnost“ an die Redaktion der Zeitschrift „Krokodil“ gesandt. Sie zeigt eine Demonstration von Menschen, die Plakate mit Losungen tragen, die entlang eines Wortspiels mit der doppelten Bedeutung des russischen Wortes „Net“ organisiert sind: „Net –“ mit Dativ bedeutet „Nein zu ...“, „Net“ mit Genitiv hingegen „Es gibt kein ...“. Die ersten beiden Transparente beinhalten als typisch sowjetische Losungen „Nein zu Extremismus!“ und „Nein zur Konfrontation“. Gewissermaßen im Schutz dieser ersten beiden politisch korrekten Transparente folgen vier Spruchbänder, welche harsche Kritik an der Versorgungssituation üben: „Es gibt keine Wurst!“, „Es gibt keinen Wohnraum!“, „Es gibt keine Seife!“ und „Es gibt kein Glück im Leben!“ Die letzten zwei sichtbaren Spruchbänder – „Nein zu Krieg“ und „Nein zu Gewalt“ – enthalten wiederum politisch korrekte Inhalte.
310 Auch: Krokodil 17/1989, S. 5 (O. stis, M. Vajsbord [Thema]). 311 In der sowjetischen Fachpresse wurde in dieser Zeit massive Kritik an gefälschten bzw. geschönten Statistiken geübt. Vgl. Wein, Norbert: Illusionen und Realität. Über die Glaubwürdigkeit sowjetischer Wirtschaftsstatistiken, in: Osteuropa-Archiv 39 2,3/1989, S. A80-A86. 312 Krokodil 20/1989, S. 5 (A. Molanov). 313 Krokodil 15/1991, S. 9 (V. Lugovkin). 314 Krokodil 1/1992, S. 10 (K. Mal’cev, eljabinsk).
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Abbildung 3: „Nein zu Extremismus“ und „Es gibt keine Wurst“315 Die eigentliche Forderung der Menschen war demnach also die nach besseren Konsummöglichkeiten. Wurst, Wohnraum und Seife stellten in dieser Zeit knappe Güter dar, die wie Synonyme für das alltägliche Defizit und den permanenten Mangel standen. Der Mangel an diesen Konsumgütern wird hier auch dafür verantwortlich gemacht, dass die Menschen kein Glück an ihrem Leben empfinden. Diese konkreten Missstände werden in dieser Karikatur mit Losungen kontrastiert, die in ihrer Abstraktheit wie Worthülsen erscheinen und auf die inszenierte Mobilisierung der Bürger der Sowjetunion an wichtigen Anlässen anspielen. Im Jahr 1990 wurde dem Mangel an Konsumgütern daher mobilisierende Kraft zugeschrieben. Er diente als Anlass zu Kritik an einem Staat, der sich zwar große Ideale auf die Fahnen schrieb, jedoch die primären Bedürfnisse seiner Bürger wie die nach Nahrung, Sauberkeit und Wohnen nicht erfüllen konnte.316 Die auf der mangelhaften Versorgungssituation beruhende Systemkritik wurde in einer weiteren Karikatur aus dem Jahr 1988 ausdrücklich auf den ideologischen Überbau des sowjetischen Gemeinwesens bezogen. Dargestellt wird zweimal eine identische Szene, in der eine Verkäuferin hinter einer Käsetheke steht. Einmal ist die Käsevitrine mit verschiedensten Käsesorten reich gefüllt, das andere Mal ist die Vitrine 315 Krokodil 2/1990, S. 5 (O. Gucov). 316 Auch: Krokodil 31/1991, S. 5 (T. Zelenenko, Char’kov); Krokodil 3/1989, S. 2f (V. Kudin, Kiev).
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zwar reich gefüllt, allerdings nur mit Käseecken „Freundschaft“. Der Untertitel „,Freundschaft‘ hat gesiegt“ stellt diese beiden Szenen in eine chronologische Reihenfolge und zwar von der Angebotsvielfalt hin zum alleinigen Angebot der Käseecken „Freundschaft“ (Abbildung 4).
Abbildung 4: „Freundschaft“ hat gesiegt317 Bei der Käsesorte „Freundschaft“ handelte es sich um eine sowjetische Sorte von Schmelzkäse, die durch ihre Bezeichnung mit einem zentralen Wert der sozialistischen Ideologie, nämlich dem der Gemeinschaft, als ein typisch sowjetisches Produkt positioniert worden war.318 Es fällt schwer, sich in einem marktwirtschaftlich-individualistischen Kontext eine solche Bezeichnung für ein Produkt vorzustellen. Der Kontrast in der Karikatur zu den anderen Käsesorten, die vorrangig auf regionaler oder nationaler Herkunft beruhen, macht diese Bezeichnung, die eine rein arbiträre Zuweisung zu diesem Produkt ist, zu einem vom Karikaturisten bewusst gewählten Beispiel der sowjetischen, ideologisch aufgeladenen Produktkultur.
317 Krokodil 22/1988, S. 12 (V. Poluchin). 318 Diese Interpretation, „Freundschaft“ als typisch sowjetische bzw. Sozialistische, da auf das Kollektive Bezug nehmende Bezeichnung für ein Produkt zu betrachten, lässt sich durch die zentrale These einer Arbeit über Werbung für Ostprodukte in den Neuen Bundesländern nach der Wende stützen. In dieser Arbeit wird eine stärkere Betonung kollektiver Werte für die Werbeansprache der Konsumenten aus den Neuen Bundesländern aufgrund deren Erziehung und Erfahrungen in einem sozialistischen System als adäquat und kultursensibel bezeichnet. Vgl. Hennecke, Angelika: Im Osten nicht Neues? Eine pragmalinguistisch-semiotische Analyse ausgewählter Werbeanzeigen für Ostprodukte im Zeitraum 1993 bis 1998, Frankfurt/M. et al. 1999.
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Der Untertitel zur Karikatur, „,Freundschaft‘ hat gesiegt“, ist zweideutig und systemkritisch. Die frühere Vielfalt an Käsesorten aus „Brynsa“, „Milchkäse“, „Litauer Käse“, „Holländischer Käse“, „Russischer Käse“ und anderen gibt es nun nicht mehr. Der Sieg der „Freundschaft“ steht für den Sieg der Werte der sozialistischen Ideologie, aber auch für den des sowjetischen Konsummodells, das als eintönig empfunden wird. Hier spiegelte sich nur vordergründig Kritik an der Verarmung der Produktvielfalt, die den Konsumenten die Möglichkeit der Auswahl nahm und sie zur Wahl bestimmter Produkte zwang. Vor dem Hintergrund der Vielzahl anderer Karikaturen aus derselben Zeit, in denen absoluter Mangel thematisiert wird, muss man der in dieser Karikatur dargestellten Szene des Überflusses an einem Konsumgut ein höheres Abstraktionsniveau zuweisen. Hier manifestierte sich also fundamentale Kritik an einem Gesellschaftsentwurf, der zum einen verantwortlich für ein mit großen Mängeln behaftetes Konsummodell gemacht wurde und zum anderen für Eintönigkeit und Gleichmacherei stand. Die Defizite der damaligen Versorgungssituation, die stellvertretend für die Defizite des sowjetischen Gemeinwesens schlechthin standen, wurden hier auf die ideologische Fundierung des Staates zurückgeführt. Das Versagen bei der Versorgung der Menschen wurde als ein Synonym für das generelle Scheitern des sozialistischen Gesellschaftsmodells bezeichnet. Der hier aufgezeigte Mangel an Auswahl im Konsum stand dabei auch für einen Mangel an Wahl zwischen politischen Alternativen. Hier wie an anderer Stelle319 fand sich die Kritik, dass der sozialistische Staat ein monistisches Gesellschaftssystem darstellte, das den Menschen denkbar schlechte Bedingungen beim Konsum und für das Leben generell bot.
Konsumprivilegien Das sowjetische Konsummodell beruhte auf der Zuteilung von Gütern als Ergebnis politischen Willens. Im Rahmen dieses Zuteilungssystems kannte das sowjetische Konsummodell ein ausgeprägtes Privilegiensystem, das für extreme Unterschiede im Konsumstandard zwischen den Angehörigen der parteinahen Oberschicht, der so genannten Nomenklatura, und der Masse der Konsumenten sorgte. Neben exklusiver Bezahlung, besonderer medizinischer Versorgung und Altersversorgung bestanden die Privilegien dieser Personengruppe insbesondere in einer bevorzugten Zuteilung von Konsumgütern und Dienstleistungen. Die genaue Zahl dieser Personengruppe ist nicht bekannt. Es lassen sich
319 Krokodil 22/1991, S. 6 (V. Poluchin).
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Schätzungen von zwei bis zehn Millionen Personen finden.320 Die Idee einer vorrangigen Verteilung von Konsumgütern an privilegierte Personenkreise lässt sich als Reaktion der Verwaltung auf Mangel in Geschäften deuten. Dadurch ließ sich sicherstellen, dass Personen, denen die staatliche Seite größte Wichtigkeit zusprach, angemessen versorgt wurden. Die bewusste Geheimhaltung jedoch zeugte von einem gewissen Bewusstsein für Ungerechtigkeit und Angst vor Neid. Den Angehörigen der Nomenklatura standen eigene Geschäfte, „geschlossene Verteilungssysteme“, zur Verfügung. Nach außen hin sahen diese Orte nicht wie Geschäfte aus, Einlass in sie erhielt man nur mit einem besonderen Berechtigungsausweis.321 Berichtet wird in diesem Zusammenhang von einer speziellen Abteilung im 3. Stock des Moskauer Warenhauses GUM, die offiziell als „Sektion Nr. 100“ bezeichnet wurde und in der ausgezeichnete Importwaren zu sehr billigen Preisen erhältlich waren. Bei der Versorgung mit Lebensmitteln bestand ein weiteres Privileg für die Nomenklatura in der so genannten „Kremljowka“, einem Bezugsschein für ein Kontingent hochwertiger Lebensmittel, die in der Kantine des Kremls zu vergünstigten Preisen ausgegeben wurden.322 Schließlich existierte mit dem System der staatlichen Devisengeschäfte, die als „Birke“ bezeichnet wurden, ein weiteres Instrument der Privilegierung bestimmter Personen. In diesen exzellent ausgestatteten Geschäften konnte man nur mit speziellen Schecks einkaufen, die gegen ausländische Währung erhältlich waren. Folglich waren diese Devisengeschäfte nur einem sehr kleinen Teil der Bevölkerung vorbehalten.323 Das Privilegiensystem wie auch die verschiedenen Zuwendungssysteme für bestimmte Bevölkerungsgruppen wurden im Zuge von Glasnost ab dem Jahr 1988 zu einem in den Massenmedien viel diskutierten Politikum. Daraufhin wurden in den Jahren 1990 und 1991 Kommissionen eingerichtet, welche die Privilegien von Funktionären in Staat und Partei hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit gesetzlichen und moralischen Kriterien überprüfen sollten. Insbesondere die Frage nach der Vereinbarkeit von Privilegien und beobachteter sozialer Ungleichheit 320 Vgl. Ahlberg, René: Das sowjetische Privilegiensystem. Entstehung und Auflösung, in: Osteuropa 41 12/1991, S. 1135-1157, hier: S. 1138-1145; Götz-Coenenberg, Roland: Die Konsumgüterversorgung in der Sowjetunion: Lage und Aussichten, Köln 1989, S. 22. 321 Vgl. Matthews, Mervyn: Privilege in the Soviet Union. A Study of Elite Life-Styles under Communism, London/Boston/Sydney 1978, S. 38f. 322 Vgl. Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 25.6.2006; Voslensky, Michael: Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion, Rastatt 1982 [1980], S. 315-383. 323 Vgl. Saslawskaja, Tatjana: Die Gorbatschow-Strategie. Wirtschafts- und Sozialpolitik in der UdSSR, Wien 1989 [1989], S.196-198.
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mit dem sozialistischen Ideal von sozialer Gerechtigkeit kam dabei immer wieder auf.324 In diesem Zusammenhang wurde auch das System der Devisengeschäfte im Juli 1988 generell abgeschafft. Lediglich ein Teil der Geschäfte wurde die nächsten Jahre noch für die ausschließliche Versorgung von Touristen und Ausländern fortgeführt.325 Die Karikatur griff das Thema der Konsumprivilegien am Ende der 1980er Jahre auf und spitzte es zur Formulierung politischer Kritik an der Ungleichheit der Konsummöglichkeiten und dem Zusammenhang von Macht und Konsum zu.
Abbildung 5326 Im Jahr 1989 stellte eine Karikatur, die im Rahmen des Wettbewerbs „Mit den Augen von Glasnost“ an die Redaktion der Zeitschrift „Krokodil“ gesandt wurde, die Verbindung von Macht und Konsum aufs 324 Vgl. Ahlberg, René: Das sowjetische Privilegiensystem. Entstehung und Auflösung, in: Osteuropa 41 12/1991, S. 1135-1157, hier: S. 1135-1137. 325 Vgl. Tolstov, V.: O merach po ustraneniju negativnych javlenij v torgovle na eki Vneposyltorga, in: Izvestija 29.1.1988, S. 3. 326 Krokodil 12/1989, S. 5 (E. abel’nik).
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schärfste an den Pranger: Ein Mann ist mit einer Kette aus Würsten an seinen Schreibtisch gefesselt (Abbildung 5). Der Mann mag als Verkörperung eines Bürokraten aus dem sowjetischen Staats- und Verwaltungsapparat gelten. Er wird von hinten gezeigt, er ist gesichtslos, ohne individuelle Züge und ohne Farbe gezeichnet, sein Werkzeug sind Telefon, Stift und Notizblock. In dieser Zeichnung ist nur die Wurstkette farbig. Der Mann erscheint daher über ein besonderes Konsum- und Versorgungsniveau mit seinem Arbeitsplatz verbunden. Die enge Verquickung von Konsumchancen und Nähe zur politischen Macht lösten demnach in dieser Zeit größte Missbilligung aus. Gerade das Konsumgut Wurst und dessen Mangel hatten nämlich höchste Bedeutung für die Verbraucher. Das Gut Wurst stand gemäß dieser Karikatur somit nicht nur für das generelle Versagen des sowjetischen Konsummodells bei der Versorgung der Bevölkerung, sondern auch für die als ungerecht empfundenen Ungleichheiten beim Zugang zu Konsum. Den Nutznießern des Privilegiensystems wurde Maßlosigkeit und der Verlust jeglichen Realitätsbezuges unterstellt. In einer Karikatur klagt ein Mann mit Anzug und Aktenkoffer gegenüber seiner Frau: „Zina, sie haben uns die Privilegien genommen! Na ja, Auto, Datscha, Kantine und Poliklinik haben sie uns gelassen ...“327 Die den politischen Machthabern unterstellten Konsumprivilegien besaßen demnach immense Ausmaße, schließlich wurden die gebliebenen Vorteile – Auto, Datscha, bessere Kantine und bessere medizinische Versorgung – von der normalen Bevölkerung bereits als weitgehende Bevorzugung empfunden. Der unterstellte absolute Verlust des Gefühls für die Realität und somit Ferne von den normalen Menschen führte zu politischer Kritik an den Konsumprivilegien und deren Nutznießern. Im Kampf gegen die Privilegien der politischen Führung tat sich der Radikalreformer Boris Jelzin besonders hervor.328 Dieses Agieren Jelzins gegen Funktionärsprivilegien wurde in einer Karikatur des Jahres 1989 gewürdigt: Ein Mann in einem dunklen Anzug mit den Gesichtszügen Jelzins steht am Ende einer langen Menschenschlange vor einem Geschäft. Ein Mann in einem großen schwarzen Auto einer Marke, die als Attribut der Nomenklatura galt, nämlich Wolga bzw. SIL, hält neben ihm an und fragt: „Sagen Sie, Boris Nikolajewitsch, was gibt es hier?“329 Der Mann mit den Zügen Jelzins unterscheidet sich aufgrund seines dunklen Anzuges und seiner individuellen Physiognomie von den gesichtslosen Konsumenten in der Schlange vor ihm, die große Taschen 327 Krokodil 23/1990, S. 5 (E. Gurov). 328 Vgl. Ahlberg, René: Das sowjetische Privilegiensystem. Entstehung und Auflösung, in: Osteuropa 41 12/1991, S. 1135-1157, hier: S. 1135. 329 Krokodil 26/1989, S. 5 (I. Lososinov, R. Samojlov).
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und Rucksäcke für ihren Einkauf tragen. Im Gegensatz zu dem Funktionär im Auto steht er jedoch in der Schlange an und setzt sich den Defiziten, die das sowjetische Konsummodell den Verbrauchern bescherte, aus. An ihn wird sogar die Frage „Was gibt es hier?“ gerichtet. Gebräuchliche Fragen wie „Was gibt es hier?“ oder „Was werfen sie uns hin?“330 machten die schwache Position der Verbraucher im Verkäufermarkt der Sowjetunion und deren Abhängigkeit vom Willen anderer Personen, Politikern wie auch Händlern, deutlich.331 Der Person Boris Jelzins wurde somit große Sympathie und Hochachtung entgegengebracht, da er sich im Gegensatz zu anderen Politikern von den als ungerecht empfundenen Konsumprivilegien distanzierte und sich gleichsam dadurch mit den gewöhnlichen Menschen solidarisierte. Die in diesen Beispielen vertretene Kritik an den Konsumprivilegien ist ein Abbild der öffentlichen Meinung, wie sie sich in repräsentativen Studien der Meinungsforschung aus dieser Zeit darstellte. Gemäß einer Studie aus dem Jahr 1988 fanden nämlich die besonderen Konsummöglichkeiten der führenden Funktionäre in Staat und Partei bei einer überwältigenden Mehrheit der Menschen in der Sowjetunion deutliche Ablehnung. Als ungerecht wurden insbesondere die Möglichkeit zum Warenerwerb in besonderen Geschäften (84%) und die Möglichkeit zum Erwerb von Kulturerzeugnissen zu ermäßigten Preisen (80%) empfunden (Tabelle 62). In einer weiteren Studie im Jahr 1990 äußerten mehr als zwei Drittel (68%), dass es für niemanden Privilegien geben sollte und nur bedürftige Personen wie beispielsweise Invaliden und kinderreiche Familien Vergünstigungen erhalten sollten. Nur eine Minderheit (24%) gestand Personen, die sich außerordentliche Verdienste erworben hatten, Privilegien zu (Tabelle 63).
330 Diese Ausdrücke werden auch an diversen Stellen im Roman „Die Schlange“ verwandt. Vgl. Sorokin, Vladimir: Oered’, Moskau 2002 [1985]. 331 Vgl. Humphrey, Caroline: Creating a culture of disillusionment. Consumption in Moscow, a chronicle of changing times, in: Miller, Daniel (Hg.): Consumption. Critical concepts in the social sciences. Volume II: The history and regional development of consumption, London/New York 2001, S. 223-248, hier: S. 227f.
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Private Nutzung von Dienstwagen Beschaffung von Zugfahrkarten und Flugtickets durch besondere Dienste Besondere Krankenhäuser, Polikliniken und Sanatorien Miete staatlicher Datschen Komfortwohnungen in bevorzugten Stadtteilen Erwerb von Büchern, Theater- und Kinokarten zu ermäßigten Preisen Einkauf von Waren in Geschäften und Buffets, die für das normale Publikum nicht zugänglich sind
Gerecht Ungerecht Keine Antwort 42 44 14 36 52 12
29
60
11
24 21
65 67
11 12
11
80
9
9
84
7
Tabelle 62: Bewertung der Privilegien führender Funktionäre (Sommer 1988, UdSSR)332 Die einzelnen Privilegien sowie die Personen, die das Recht auf Privilegien haben, sollten durch ein Gesetz genau definiert werden Privilegien sollten diejenigen erhalten, die sich außerordentliche Verdienste erworben haben (in der Arbeit, beim Militär usw.) Es sollte keinerlei Privilegien geben; statt dessen könnte man Geldprämien zahlen Es sollte für niemanden Privilegien geben; nur bedürftige Personen sollten Vergünstigungen erhalten (Invaliden, kinderreiche Familien usw.) Ich bin mit keiner dieser Aussagen einverstanden; ich habe eine andere Meinung
12
24
29 68
2
Tabelle 63: Einstellung der Bevölkerung zu Privilegien – „Welche der hier aufgeführten Aussagen kommt Ihrer Meinung am nächsten?“ (April 1990, UdSSR, Mehrfachnennung)333 Diese Studien belegen, dass die Kritik an den Konsumprivilegien in der Karikatur wie auch in anderen Medien in dieser Zeit Ausdruck einer generell negativen Stimmung war. Die öffentliche Kritik an den Konsum332 Vgl. Tret’jakov, V.: Social’naja spravedlivost’ i privilegii, in: Moskovskie novosti 27/1988, S. 10. 333 Vgl. VCIOM/SINUS: 3. Einstellung der Bevölkerung zu Privilegien, in: Öffentliche Meinung in der UdSSR in Zahlen 1/1991.
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privilegien am Ende der 1980er Jahre, die hier anhand der Thematisierung in der Karikatur sowie Studien der Meinungsforschung dargestellt wurde, lässt sich als Ausdruck einer generellen Unzufriedenheit bezüglich der Ungleichheiten im Zugang zu Konsumgütern sowie der Abhängigkeit des individuellen Konsumniveaus vom politischen Willen deuten. Die Privilegien der politischen Funktionäre stellten gewissermaßen die Spitze des sowjetischen Konsummodells und seiner politisch gewollten Hierarchisierung der Konsumenten dar. Die meinungspolitische Öffnung sowie die sich zuspitzende Versorgungssituation provozierten am Ende der 1980er Jahre die Auseinandersetzung mit den Konsumprivilegien, welche auch von einer großen Unzufriedenheit mit den Macht- und Funktionsträgern des sowjetischen Gemeinwesens zeugte: Nicht genug, dass die Versorgungssituation schlecht war, die Politiker bedienten sich an den spärlich vorhandenen Konsumgütern zudem vorrangig selbst.
Vergleich des Konsumniveaus mit dem der USA Ein weiteres Motiv des politischen Diskurses über Konsum in der Karikatur am Ende der planwirtschaftlichen Zeit bestand im Vergleich des Konsumniveaus in der Sowjetunion mit dem in den Vereinigten Staaten. Diese Thematik stand in einer Tradition von drei Jahrzehnten. Sowohl die Möglichkeit zu einer gewissen Wahrnehmung der amerikanischen Konsumwelt als auch der Vergleich des eigenen Konsumniveaus mit dem der USA setzten in der Sowjetunion bereits am Ende der 1950er Jahre in Folge des innenpolitischen „Tauwetters“ ein. Ein wichtiges Ereignis in diesem Zusammenhang stellte die amerikanische Nationalausstellung in Moskau im Sommer 1959 dar. Diese Ausstellung sowie die Präsentation der UdSSR in New York im selben Jahr waren faktisch der erste bedeutendere kulturelle Austausch zwischen den USA und der UdSSR seit der Oktoberrevolution. Die Präsentation von amerikanischen Konsumgütern und eine mehrmals täglich gezeigte Videoinstallation auf sieben Leinwänden von Ray und Charles Eames, „Glimpses of the USA“, vermittelten den Besuchern Eindrücke über das Alltagsleben in den USA. Dort kam es auch zur „Küchendebatte“ zwischen Nikita Chruschtschow und Richard Nixon, bei der die beiden Staatschefs den Lebensstandard in den beiden Supermächten diskutierten.334 Nikita 334 Vgl. Eames, Charles/Eames, Ray: Glimpses of the USA, Videoinstallation USA 1959 (Rekonstruktion im Rahmen der Ausstellung „The Work of Charles & Ray Eames. A Legacy of Invention“, 24.9.2002-5.1.2003, La Triennale di Milano); CNN Cold War – Historical Documents: Khrushchev-Nixon debate (http://www.cnn.com/SPECIALS/cold.war/epi sodes/14/documents/debate/ [3.4.2008]).
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Chruschtschow hinterließ nachhaltigen Eindruck, indem er das Ziel des „Einholens und Überholens“ der USA beim Lebensstandard bis zum Jahr 1980 propagierte und damit Konsum zu einem (Neben-)Kriegsschauplatz im Rahmen der Auseinandersetzung des Kalten Krieges machte.335 Im Grunde rief Chruschtschow lediglich den utopischen Anspruch des kommunistischen Gesellschaftsentwurfs, der sich über materiellen Überfluss definierte, ins Gedächtnis zurück. Konsum stellte in den sozialistischen Gesellschaften daher gleichsam ein Recht dar. Ab den 1970er Jahren verfestigte sich allerdings bei den Bürgern der Sowjetunion mehr und mehr das Gefühl, in einen gigantischen Betrug verwickelt zu sein: Ihnen wurde zwar permanent gepredigt, die Welt anzuführen, flüchtig erhaschte Blicke von Ausländern und dem im Fernsehen gezeigten westlichen Alltag widerlegten jedoch diese Vorstellung. Anders als in den Staaten Ost- und Mitteleuropas konnten die Bürger der Sowjetunion das sozialistische System allerdings nicht als Ausdruck von nationaler Fremdbestimmung ablehnen.336 Der Vergleich des Konsumniveaus der Sowjetunion mit dem der USA, der am Ende der 1980er Jahre innerhalb des politischen Diskurses über Konsum in der Karikatur laut wurde, fand daher vor dem Hintergrund des politischen wie ideologischen Hegemoniestrebens der beiden Supermächte statt. In der Mitte der 1980er Jahre bezog die Karikatur den Vergleich mit den USA in propagandistischer Weise noch auf sozialpolitische Leistungen, wobei die Sowjetunion als den USA überlegen bezeichnet wurde. Am Ende der 1980er Jahre rückte dann die Schlechterstellung der sowjetischen Konsumenten im Vergleich zu den Konsumenten in den USA, die im Zuge der medialen Öffnung in dieser Zeit offensichtlicher und darstellbarer wurde, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Während der Jahre 1989 bis 1992 stellte dieser Vergleich mit dem Konsumniveau der Vereinigten Staaten, das sich vor dem Hintergrund
335 Vgl. Merl, Stephan: Staat und Konsum in der Zentralverwaltungswirtschaft. Russland und die ostmitteleuropäischen Länder, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 205-241, hier: S. 210213. 336 Vgl Humphrey, Caroline: Creating a culture of disillusionment. Consumption in Moscow, a chronicle of changing times, in: Miller, Daniel (Hg.): Consumption. Critical concepts in the social sciences. Volume II: The history and regional development of consumption, London/New York 2001, S. 223-248, hier: S. 235-239; Verdery, Katherine: What Was Socialism, and Why Did It Fall?, in: dies.: What Was Socialism, and What Comes Next?, Princeton 1996, S. 19-38, hier: S. 26-29.
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der sowjetischen Versorgungskrise wie ein Paradies ausnahm, einen Anlass für politische und ideologische Kritik dar. Eine Karikatur zu dieser Thematik stellt mit einer Anspielung auf die Erzählung „Alice hinter den Spiegeln“, der Fortsetzung von „Alice im Wunderland“, von Lewis Carroll die Verkaufskulturen in den USA und in der Sowjetunion gegenüber. „Alice daheim“ sieht sich in einem amerikanischen Lebensmittelgeschäft gut gefüllten Regalen, einer lächelnden Verkäuferin und einem elektronischen Kassensystem gegenüber. „Alice hinter den Spiegeln“ befindet sich in einem leeren sowjetischen Lebensmittelgeschäft, in dessen Regalen nur ein Laib Brot liegt und in dem eine missgelaunte Verkäuferin hinter einer manuellen Waage steht.337 Durch die Bezeichnung der Geschäfte mit „Foods“ und „Produkty“ („Lebensmittel“) wird klar, dass hier Situationen in den USA und der Sowjetunion dargestellt werden. Der grammatikalisch falsche Plural „Foods“ in dieser Karikatur beruht auf einer analogen Bildung nach dem russischen Vorbild, was offenbar ein Versehen des Karikaturisten darstellt. Deutlich wird dabei, dass die Informiertheit über die westliche Welt in der Sowjetunion zu dieser Zeit gering war und das Bild über diese Region in Differenz zur Lebenswelt daheim konstruiert wurde. Gemäß der hier abgebildeten Haltung standen am Beginn der 1990er Jahre die USA für Überfluss im Angebot, freundliche Bedienung und moderne Verkaufstechnik, die Sowjetunion hingegen jeweils für das Gegenteil. Das Bild über die Konsumwelt der USA zu dieser Zeit wirkte allerdings mehr wie ein Ergebnis von Phantasie und Vorstellungen als wie ein Resultat von realen Beobachtungen. Nichtsdestotrotz stellte die Formulierung einer solchen Gegenüberstellung politische Kritik an der gegenwärtigen Versorgungssituation in der Sowjetunion dar. Dass dieser Vergleich des eigenen Konsumniveaus mit dem der USA in dieser Zeit an Aktualität gewann, ließ sich auf die mediale Öffnung in dieser Zeit zurückführen, welche den sowjetischen Verbrauchern den Konsumstandard im Westen mehr vor Augen führte. Dies impliziert eine Titelkarikatur vom November 1989: Mittels einer „Telebrücke UdSSR – USA“ wird eine direkte Verbindung zwischen einem amerikanischen Moderatorenteam, das Würste präsentiert, und einem sowjetischen Publikum hergestellt. Der sowjetische Moderator gibt die Frage einer Frau aus dem Publikum nach Amerika weiter: „Wenn es bei Ihnen 60 Sorten Würste gibt, wieviel geben Sie dann an jeden einzelnen ab?“ (Abbildung 6)
337 Krokodil 4/1991, S. 11 (V. Uborevi-Borovskij, J. Stepanov [Thema]).
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Abbildung 6: „Telebrücke UdSSR – USA“338 Die sowjetische Konsumentin reagiert mit ihrer Frage auf dieses Angebot gemäß ihrer Sozialisation beim Konsum, was aber der amerikanischen Konsumwelt nicht angemessen ist. Sowohl ihr offener Mund als auch die heruntergezogenen Mundwinkel des amerikanischen Moderators zeigen Befremdlichkeit gegenüber der Konsumrealität des jeweils anderen Landes. Die Frau aus dem Publikum ist schwer bepackt mit Einkaufstaschen und Rucksack. Ihr Kopftuch weist darauf hin, dass sie sich für ihre Einkaufstour nicht extra schön gemacht hat. Sie erscheint damit als typische sowjetische Konsumentin, für die Einkaufen Arbeit und Notwendigkeit ist. Dem in ihrer Person aufgezeigten Einkaufen aus Notwendigkeit wird die amerikanische Überflusswelt beim Konsum gegenübergestellt. Wurst, das Mangelgut schlechthin in dieser Zeit, gibt es dort im Überfluss. Die mediale Öffnung in dieser Zeit ermöglichte also allen Verbrauchern den Vergleich des eigenen Versorgungsniveaus mit dem im Ausland. Dies schürte und verstärkte allerdings auch die Unzufriedenheit mit der alltäglich erlebten Situation daheim. In der hier abgebildeten Konfrontation der Konsumwelt in den USA und der in der Sowjetunion manifestierte sich wiederum eine harsche Kritik an den
338 Krokodil 33/1989, S. 1 (O. Tesler, A. Degtjarev [Thema]).
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Versorgungsmängeln dieser Zeit und dem Versagen der politisch Verantwortlichen. Das Konsumniveau wurde schließlich in einer Karikatur vom Dezember 1991 als zentraler Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen dem kapitalistischen und dem kommunistischen Gesellschaftsmodell im Kalten Krieg herausgestellt. Zwei Männer sitzen sich vor einem Schachspielbrett, dessen Seiten die Bezeichnungen „Kapitalismus“ und „Kommunismus“ tragen, gegenüber. Auf der mit „Kapitalismus“ bezeichneten Seite befindet sich ein gepflegter Mann in Anzug und mit Krawatte, auf der Seite des „Kommunismus“ ein zerzauster Mann in geflickter Kleidung, dessen Gesichtszüge denen von Karl Marx nachempfunden sind. Der Mann im Anzug kommentiert den Ausgang des Spiels: „Sie haben verloren, Herr Marx!“ Auf dem Spielfeld stehen Miniaturen der Dinge, die den Sieg des Kapitalismus begründet haben, nämlich eine Wurst, ein Computer, eine Limousine und ein Säckchen, dessen Inhalt vermutlich Geld enthält. All diesen Dingen steht von kommunistischer Seite nur ein kleiner Mann gegenüber, der seinen Hut einem Bettler gleich hinhält (Abbildung 7).
Abbildung 7: „Sie haben verloren, Herr Marx!“339 Das Ende der Sowjetunion wurde in dieser Karikatur als Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus bezeichnet, wobei sich die Auseinandersetzung primär im Bereich des Konsums ausgetragen hat. Wurst war 339 Krokodil 33/1991, S. 15 (V. Moalov).
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das Konsumgut, an dessen Vorhandensein die Verbraucher die Konsumsituation maßen. Autos galten als ein Luxusgut, da zu diesem Zeitpunkt nur 21% der sowjetischen Privathaushalte über einen PKW verfügten.340 Bei den Waffen, die von Seiten des Kapitalismus ins Spiel gebracht werden, handelt es sich um Waren, denen die sowjetischen Verbraucher besondere Bedeutung zumaßen und die stellvertretend für die wahrgenommenen Defizite der sowjetischen Konsumkultur standen. Das kommunistische Experiment scheiterte demnach vor allem deswegen, weil es die konsumtiven Wünsche der Menschen nur mangelhaft zufrieden stellen konnte, was insbesondere im Vergleich mit den prosperierenden Konsumgesellschaften des Westens offenbar wurde.341 Der Vergleich des Konsumniveaus mit dem der USA führte somit nicht nur zur Kritik an den politisch Verantwortlichen, sondern im Angesicht der Auflösung der Sowjetunion und des Übergangs zur Marktwirtschaft zu einer fundamentalen Systemkritik. In postsowjetischer Zeit gibt es so gut wie keine Karikaturen mehr, die Russland und die USA bezüglich des Konsumniveaus vergleichen. Nur noch eine Karikatur vom August 1992 griff dieses Motiv auf und stellte es in den Kontext der Marketingtechnik, die in Ausmaß und Intention in dieser Zeit eine Neuheit darstellte: Zwei Männer schütteln sich die Hand, wobei der eine als ein Päckchen der Zigarettenmarke Winston mit Zylinder und der andere als ein Päckchen der Zigarettenmarke Belomorkanal mit zerrissenen Hosen und einer Pelzmütze dargestellt werden.342 Winston war zu dieser Zeit eine eher teure, amerikanische Filterzigarettenmarke, Belomorkanal hingegen eine sehr billige Marke filterloser Zigaretten, die es schon zu sozialistischer Zeit gegeben hatte und die nach einem Prestigeprojekt aus den 1930er Jahren, dem Weißmeer-Ostsee-Kanal, benannt war. Die beiden Männer lassen sich als Personifikationen der Nationen USA und Russland begreifen. Als Sinnbild für die Nationen werden hier Marken gewählt, womit die Nationen auf jene Konnotationen reduziert werden, die diesen Marken von Herstellern und Konsumenten zugeschrieben werden. Auch in postsow340 Vgl. SINUS/Verband der Automobilindustrie e. V.: Autofahren in Russland 1992. Eine Grundlagenuntersuchung des Sinus-Instituts im Auftrag des Verbandes der Automobilindustrie, Heidelberg/Moskau 1992, S. 10. 341 In dieser These besteht auch die zentrale Aussage des Standardwerkes zur Konsumkultur der DDR von Ina Merkel. Vgl. Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln/ Weimar/Wien 1999, S. 411-416; Merkel, Ina: Konsumkultur in der DDR. Über das Scheitern der Gegenmoderne auf dem Schlachtfeld des Konsums, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 19 37/1996, S. 314-330. 342 Krokodil 8/1992, S. 15 (V. Dubov).
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jetischer Zeit erschien Russland im Vergleich zu den USA als arm und heruntergekommen. Der Vergleich musste nun über die Marke, einem Medium der Kommunikation in Marktwirtschaften, erfolgen. Der Vergleich der Systeme – zumindest in kompetitiver Art und Weise – war obsolet geworden, der Rückstand im Konsumniveau gegenüber den USA war allerdings nicht überwunden. Das Ende des Systemvergleichs auf politischer Ebene und die Ablösung eines Regimes mit einer Ideologie, die einen Versorgungsanspruch gegenüber den Bürgern vorsah, machten jedoch das Aufgreifen dieses Themas in der Karikatur und eine daraus abgeleitete politische Kritik von nun an überflüssig. Die verschiedenen Missstände des sowjetischen Konsummodells lösten also während der Jahre 1988 bis 1991 Kritik am sowjetischen Gesellschaftsmodell sowie an den Amtsträgern, welche dieses repräsentierten, aus. Sowohl absolute Mängel beim Angebot als auch die Schlechterstellung der gewöhnlichen Konsumenten gegenüber privilegierten Personen im eigenen Land sowie gegenüber den Verbrauchern in kapitalistischen Ländern führten zu Unzufriedenheit und dienten als Ansatzpunkte für politische Kritik in der Karikatur. Diese politischen Konsumdiskurse lassen sich somit als Abrechnung mit der sowjetischen Plan- und Verteilungswirtschaft während der letzten Zeit ihres Existierens deuten. Diese fiel umso schärfer aus, da zuvor Kritik nur in sehr geringem Maße möglich gewesen war. Die Kritik an den Ausprägungen des Konsumalltags am Ende der 1980er Jahre war allerdings auch das Ergebnis einer allgemeinen, großen Enttäuschung über die nicht erfüllten Versprechungen des Kommunismus, der grundsätzlich ja als egalitäre Überflussgesellschaft konzipiert worden war.
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Ko n s u m d i s k u r s e d e r M a r k t w i r t s c h a f t Verfolgte das letzte Kapitel die politischen Konsumdiskurse, die noch im planwirtschaftlichen Kontext verortet waren, so geht dieses Kapitel nun jenen nach, die sich auf die Einführung der Marktwirtschaft zurückführen lassen. Die ausgeprägte Kommerzialisierung des Lebens in dieser Zeit stellte ein wesentliches Moment der Kritik dar. Ein weiteres Motiv stellte die Idealisierung des Konsumstandards der Vergangenheit dar, womit Kritik an der Verschlechterung des allgemeinen Konsumniveaus während des Übergangs vom Plan zum Markt geübt wurde.
Kommerzialisierung Die Bedeutung der Verfügungsgewalt über Geld für den Konsum machte für die Verbraucher einen wesentlichen, wenn nicht gar den wesentlichsten Unterschied zwischen dem sozialistischen und dem marktwirtschaftlichen Konsummodell aus. Der Konsumstandard zu sowjetischer Zeit hing wesentlich vom Grad an politisch gewollter Begünstigung sowie von persönlichen Beziehungen ab. Im Übergang zur Marktwirtschaft gewann die Verfügungsgewalt über Geld für den Konsum an Bedeutung. Aus dem altrussischen Sprichwort „Hab’ keine 100 Rubel, hab’ 100 Freunde“ wurde in postsowjetischer Zeit nun „Hab’ keine 100 Freunde, hab’ 100 Dollar“.343 Die Karikatur beobachtete und problematisierte während des Übergangs vom Plan zum Markt und der 1990er Jahre die allgemeine Kommerzialisierung in ihren verschiedenen Ausprägungen und Folgen für die Menschen. Bereits im Jahr 1990 kam in der Karikatur im Zuge der Einführung privatwirtschaftlicher und kommerzieller Elemente der Topos des „alles ist käuflich“ auf. Eine Karikatur zeigt ein Geschäft, in dem eine sehr gut gekleidete Frau weint, weil eine importierte Pelzjacke zum Preis von 25 000 Rubel laut Aushang nur bei Vorlage einer Einkommenserklärung verkauft wird. Ihr Begleiter kommentiert dies mit einem zugekniffenen Auge: „Weine nicht! Ich werde dir eine Einkommenserklärung kaufen.“344 Die hier angesprochene Käuflichkeit ist eine doppelte. Der Preis des Pelzes von 25 000 Rubel übersteigt die finanziellen Möglichkeiten der allermeisten Bewohner der Sowjetunion zu dieser Zeit enorm, was die Möglichkeit zu seinem Erwerb auf wenige Begüterte einschränkt. Außerdem wird die Käuflichkeit von Verwaltungsdokumenten wie das einer Einkommenserklärung festgestellt. Die dargestellten Personen 343 Vgl. Ledeneva, Alena: Russia’s Economy of Favours. Blat, Networking and Informal Exchange, Cambridge 1998, S. 104, 175. 344 Krokodil 8/1990, S. 5 (S. Rep’ev).
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werden durch ihre gute Kleidung, goldene Schneidezähne und der demonstrativen Zurschaustellung ihres Schmucks einem reichen sowie durch den laxen Umgang mit rechtlichen Vorschriften und offensichtlich ungeklärter Herkunft ihrer Einkünfte einem kriminellen Milieu zugerechnet. Hier spiegelte sich die Wahrnehmung, dass es in der Sowjetunion infolge der gesellschaftlichen Umgestaltung Menschen gab, die sich nicht nur jede beliebige Ware zu jedem beliebigen Preis kaufen konnten, sondern ihr Einkommen auch aus nichtlegalen Quellen bezogen. Kritisiert wurde daher, dass die neue, politisch gebilligte, kommerzielle Logik diejenigen, die über Geld – egal welcher Herkunft – verfügten, beim Konsum privilegierte. Dies musste als Ausdruck größter Ungerechtigkeit empfunden werden, da dies den Idealen von Leistungsgerechtigkeit sowie materieller Gleichheit diametral gegenüber stand.345 Die Kritik an der Kommerzialisierung der russischen Gesellschaft bestand bis zum Ende der 1990er Jahre fort. In einem Beispiel vom März 1998 ist ein Lebensmittelgeschäft abgebildet, in dem das Spruchband „Wer nicht zahlt, soll auch nicht essen!“ hängt.346 Hier findet sich eine Anspielung auf den Satz „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“, der ursprünglich einem Paulus-Brief des Neuen Testaments entstammt, von August Bebel in die Sozialdemokratie eingeführt und in der Stalin’schen Verfassung von 1936 wörtlich zitiert wurde und damit einen Gegensatz zu den utopischen Zielsetzungen des Kommunismus darstellte.347 Während der zitierte Satz im Original Konsum als abhängig von der Arbeitsleistung normiert, so sieht die Karikatur im Jahr 1998 die Verfügungsgewalt über Geld als geltendes Zugangskriterium zu Konsum. Neu in den 1990er Jahren war demnach nicht der Stellenwert materieller Güter. Doch die in sowjetischer Zeit postulierte Forderung nach Leistungsgerechtigkeit wurde ersetzt durch die zentrale Stellung von monetären Ressourcen, gleichwohl welcher Herkunft. Die Gesellschaft blieb demnach eine materialistische, nur früher angestrebte Vorstellungen von Gerechtigkeit wurden als nicht mehr gültig erachtet. Hier manifestierte sich also deutliche Kritik an der kommerzialisierten russischen Gesellschaft der 1990er Jahre, welcher ähnlich menschenverachtende Züge wie dem Kriegskommunismus der Jahre 1918 bis 1921 sowie der
345 Auch: Krokodil 9/1990, S. 11 (N. Belevcev, Belgorod); Krokodil 9/1992, S. 6 (V. Lugovkin). 346 Krokodil 3/1998, S. 12 (A. Vasilenko). 347 Vgl. Merl, Stephan: Staat und Konsum in der Zentralverwaltungswirtschaft. Russland und die ostmitteleuropäischen Länder, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S.205-241, hier: S. 210.
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Phase des erzwungenen Konsumverzichts unter Stalin während der Jahre 1928 bis 1953 zugeschrieben wurde. Die Kommerzialisierung des Lebens in den 1990er Jahren führte auch zu einer extremen Ausdifferenzierung der Konsummöglichkeiten unter den Menschen in Russland.348 Die Karikatur bezeichnete daher die russische Gesellschaft als eine nach materiellen Kriterien zweigeteilte.349 Ein Beispiel aus dem Jahr 1994 zeigt ein Restaurant, das in einen heruntergekommenen und einen bestens ausgestatteten Teil aufgeteilt ist. Auf der einen Seite serviert ein gepflegter Kellner einem Paar in Anzug und Kleid Sekt und Früchte auf einem Tisch mit Tischdecke unter einem Kronleuchter. Auf der anderen Seite bringt ein schäbig gekleideter Kellner einem Paar in Lumpen zwei ungleiche Tassen, wobei Tisch und Stuhl Provisorien sind und über ihnen eine bloße Glühbirne hängt. Der Mann in zerschlissener Kleidung beobachtet den Überfluss auf der anderen Seite (Abbildung 8).
Abbildung 8350 Die beiden Seiten des Restaurants stehen also für die gespaltene russische Konsumgesellschaft. Beide Teile konsumieren demnach, jedoch auf unterschiedliche Art und Weise. Das Konsumangebot unterscheidet sich in Qualität und Präsentation, die Konsumenten unterscheiden sich gemäß ihrer materiellen Ressourcen, was sich an ihrer äußeren Erscheinungsform ablesen lässt. Diese und weitere Karikaturen kritisierten also die Ausdifferenzierung der Konsummöglichkeiten, die zu einer Zwei348 Vgl. S. 116-125. 349 Krokodil 3/1992, S. 11 (I. Novikov, J. Stepanov [Thema]); Krokodil 1/1992, S. 8 (V. Lugovkin); Krokodil 5/1994, S. 11 (V. Lugovkin). 350 Krokodil 6/1994, S. 6. (V. Lugovkin).
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teilung der Gesellschaft führte und der soziale Sprengkraft zugeschrieben wurde. Die Konsumforschung zeigte auf, dass im Russland der 1990er Jahre ein höheres Alter mit arg begrenzten Konsummöglichkeiten verbunden war. Alte Menschen waren nämlich oftmals auf sehr geringe staatliche Transfereinkommen angewiesen und hatten größere Schwierigkeiten, sich beruflich an die neue Situation anzupassen.351 Die Karikatur verlieh dem Eindruck, dass die neue Konsumwelt eine Welt nur für die Jungen sei, explizit Ausdruck. In einem Beispiel verkaufen die Schüler einer dritten Klasse ihren Lehrerinnen italienische Strumpfhosen.352 Selbst kleinste Kinder werden als Geschäftsleute dargestellt, die Anzug tragen, im Mercedes von ihrem Chauffeur gefahren werden und für die Schule eine Lächerlichkeit neben ihren geschäftlichen Verpflichtungen ist. 353 Insbesondere junge Menschen bzw. Kinder fanden sich demnach sehr schnell unter den neuen Bedingungen zurecht. Die Konsumwelt der 1990er Jahre erschien gleichsam der Jugend vorbehalten. Die Karikatur sah dabei einen deutlichen Gegensatz zwischen Jung und Alt bezüglich ihrer Konsumchancen. Eine Karikatur zeigt Jugendliche in einem Straßenlokal, bekleidet mit modernen Sachen und mit Getränken in der Hand. Zwei ältere Personen in zerlumpter Kleidung sammeln Altglas um des Pfandes willen vom Boden. Ein Jugendlicher wendet sich an einen der Erwachsenen: „Iwan Petrowitsch, überlassen Sie doch die Flasche der stellvertretenden Direktorin für Unterricht!“354 Dieser Satz impliziert, dass es sich bei den dargestellten Personen um Lehrer und Schüler handelt, was den Gegensatz zwischen der intensiven Partizipation an der Konsumgesellschaft auf Seiten der Jugendlichen und der Verwertung der Abfälle der Konsumgesellschaft auf Seiten der Erwachsenen noch weiter zuspitzt. Während die Jungen an der neuen Konsumwelt als Konsumenten teilnehmen konnten, blieb den Alten nur das Recycling vorbehalten. Hier spiegelte sich Kritik an einer Gesellschaft, in der alles käuflich war und nur Jugendlichkeit für eine erfolgreiche Partizipation qualifizierte, wider.355 Der Übergang zur Marktwirtschaft ging einher mit dem Aufkommen von Produkten der Pornoindustrie, die es zu sowjetischer Zeit kaum gegeben hatte. Die Abschaffung der Zensur und die Möglichkeiten eines 351 Vgl. S. 116-125. 352 Krokodil 11/1994, S. 3 (V. Lugovkin). 353 Krokodil 11/1997, S. 11 (V. Uborevi -Borovskij); Krokodil 6/1995, S. 15 (V. Lugovkin). 354 Krokodil 9/1995, S. 9 (M. Dombrovskaja, V. Lugovkin). 355 Auch: Krokodil 9/1994, S. 11 (V. Lugovkin); Krokodil 12/1995, S. 7 (V.
ilov).
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freien Marktes beförderten das Aufkommen dieses Wirtschaftszweiges.356 Die Kommerzialisierung von Sexualität und Liebe wird in einigen Karikaturen aus den Jahren 1992 und 1993 kritisiert, was die hohe Bedeutung dieses Phänomens in der Wahrnehmung und Auseinandersetzung der Öffentlichkeit herausstellte.357 Die Karikatur bezeichnete das Verkaufen des eigenen Körpers als einen Versuch, sich an die neuen Erfordernisse des kommerzialisierten Russlands anzupassen. Eine Karikatur zeigt das Schaufenster eines Autohauses, in dem sich ein Nacktmodell auf einem ausgestellten Wagen räkelt. Die Frau auf dem Auto berichtet am Telefon strahlend von ihrer Tätigkeit: „Ich habe begonnen in einer Werbeagentur zu arbeiten!“ (Abbildung 9)
Abbildung 9: „Ich habe begonnen in einer Werbeagentur zu arbeiten!“358
356 Vgl. Goldschmidt, Paul: Pornography in Russia, in: Barker, Adele (Hg.): Consuming Russia. Popular Culture, Sex, and Society since Gorbachev, Durham/London 1999, S. 318-336; Condee, Nancy/Padunov, Vladimir: The ABC of Russian Consumer Culture. Readings, Ratings, and Real Estate, in: Condee, Nancy (Hg.): Soviet Hieroglyphics. Visual Culture in Late Twentieth-Century Russia, Bloomington/Indianapolis/London 1995, S. 130-172, hier: S. 151-155. 357 Krokodil 6/1992, S. 12 (L. Nasyrov, V. Vladov [Thema]); Krokodil 14/1992, S. 6 (J. erepanov). 358 Krokodil 14/1992, S. 6 (I. Kolgarev).
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Werbung war am Anfang der 1990er Jahre ein neues und aussichtsreiches Arbeitsfeld. Das Nacktmodell kann mit diesem Berufsfeld zufrieden sein, allerdings verletzt sie mit ihrer Nacktheit überzeitliche soziale Normen der Anständigkeit. Den Gegenpart zum Nacktmodell stellt eine ältere Frau, die das Schaufenster passiert, dar. Sie ist als typische sowjetische Konsumentin dargestellt: Kopftuch, gebeugter Gang und schwere Einkaufstaschen in der Hand. Weder ist sie Adressat der Schaufensterwerbung, noch kann sie sich als Akteur in anderer Form in die neue Konsumwelt einbringen. Eine erfolgreiche Integration in die neue kommerzialisierte Konsumwelt ist folglich keiner der beiden Frauen gelungen. Die eine verkauft ihren Körper und übertritt somit Anstandsregeln, die andere bleibt völlig außen vor. Hier wurde also massive Kritik an der kommerziellen Konsumwelt geübt, die massiv ausschließend wirkte, indem sie manche Menschen generell außen vor ließ und andere nur mittels des Verkaufs des eigenen Körpers partizipieren ließ.
Idealisierung des Konsumstandards der Vergangenheit Während der Jahre 1989 bis 1995 findet sich in der Karikatur mehrfach das Motiv der Idealisierung des Konsumstandards der Vergangenheit. Das Aufkommen dieses Topos ging eng mit der Zuspitzung der Versorgungslage im Verlauf des Jahres 1989 einher. Eine erste Karikatur, die dieses Motiv aufgreift, zeigt ein Museum, in dem Konsumgüter wie Kleidung, Lebensmittel, Seife und Medikamente in Vitrinen ausgestellt werden. Die Museumsführerin erklärt den Besuchern: „All das haben unsere Vorfahren irgendwann einmal im Alltag genutzt.“ In improvisierter Kleidung aus Lumpen und Säcken, ohne Schuhe oder mit Schwimmflossen an den Füßen und mit einer Katze als Ersatz für einen Hut erscheinen die Menschen der Gegenwart unzivilisiert und wild. 359 Vor dem Hintergrund der problematischen Versorgungslage zu dieser Zeit wird hier ein zivilisiertes Niveau des Konsums, auf welches die Exponate hinweisen, als fern in der Vergangenheit liegend bezeichnet. Die Menschen der Gegenwart werden als verwahrlost und zur Improvisation gezwungen dargestellt. Mittels des Motivs der Idealisierung des Konsumstandards der Vergangenheit wurde in den letzten sowjetischen Jahren Kritik an den politisch Verantwortlichen und deren Versagen bei der Versorgung der Menschen mit grundlegenden Konsumgütern geübt.360 Auch in den ersten Jahren in marktwirtschaftlicher Zeit fand sich in der Karikatur das Motiv der Idealisierung des Konsumniveaus der Ver-
359 Krokodil 30/1989, S. 11 (V. karban, V. Vladov [Thema]). 360 Auch: Krokodil 24/1990, S. 5 (V. Lugovkin).
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gangenheit. Infolge von Preisfreigabe und Preissteigerung wurde das Regime fester Preise, wie es charakteristisch für die sowjetische Zeit war, als Ausdruck einer besseren Zeit beurteilt. Eine Karikatur vom November 1991 zeigt einen entschlossen und grimmig dreinblickenden Mann mit einer Fahne, auf der eine Wodka-Flasche und das Preisschild „3,62“ abgebildet sind. Eine Gruppe von Männern folgt dem Fahnenträger.361 Nach mehreren Preiserhöhungen und kurz vor der allgemeinen Preisfreigabe wird hier diese Preisangabe – 3,62 Rubel kostete in der Sowjetunion eine Flasche Wodka in Standardgröße – als Synonym für eine erstrebenswerte Vergangenheit bezeichnet. Das Zitat der Preisangabe in der Karikatur steht für die politische Forderung nach einer Rückkehr zu früheren Verhältnissen, die von Preisstabilität und der Zugänglichkeit von Gütern wie Alkohol für alle Menschen geprägt waren. Die Idealisierung der Vergangenheit erfolgt auch in einem Beispiel aus dem Jahr 1995 mittels des Verweises auf das System fester Preise. Dargestellt sind zwei Flaschen in einem Geschäft, wobei die eine mit der Preisauszeichnung „3,62$“ und die andere mit „4,12$“ versehen ist. Ein Mann kommentiert dies: „Es scheint, die alten Zeiten sind zurückgekommen ... !“362 Die ausgezeichneten Preise sind die gleichen wie früher, jedoch sind die Preise nun in Dollar und nicht in Rubel angegeben, was im Russland der 1990er Jahre in der Realität durchaus vorkam. Die Preisangaben entpuppen sich als trügerische Illusion einer Konsumrealität aus sozialistischer Zeit. Das vergangene Konsummodell wurde demnach während der 1990er Jahre in Bezug auf Preise und auch Zugänglichkeit von Konsumgütern als besser beurteilt. War der Topos der Idealisierung der Vergangenheit in den letzten sowjetischen Jahren vorrangig in einem Kontext der Kritik an den politischen Verantwortungsträgern zu sehen, so erschien dieses Motiv in der Karikatur in der Zeit ab dem Jahr 1992 mehr als Beobachtung einer gesellschaftlichen Stimmung, die als unangemessen bezeichnet wurde. Eine Titel-Karikatur vom Januar 1992 beobachtet eine übersteigerte Idealisierung der Konsum-Vergangenheit. Abgebildet ist ein sehr gut gefülltes Lebensmittelgeschäft. An der Wand hängen Würste, die Vitrinen sind voll mit diversen Milchprodukten, einheimischen und exotischen Früchten sowie mit verschiedenen Tee- und Kaffeesorten. Auf dem Tresen befinden sich Süßwaren wie Torten und Konfekt sowie Fisch und Kaviar. Ein breites Sortiment an Alkoholika rundet das Angebot ab. Die beiden Verkäufer scheinen ihrer Arbeit sehr gelassen gegenüber zu stehen. Er raucht eine Zigarette, sitzt bequem auf einem Fass und hält eine
361 Krokodil 31/1991, S. 5 (T. Zelen enko, Char’kov). 362 Krokodil 9/1995, S. 10 (A. D’jakov, Saratov).
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rundliche Verkäuferin im Arm. Dieses Geschäft wird trotz des Schildes „geschlossen“ von einer Menschenmasse gestürmt, so dass die Glasscheibe in der Tür zerspringt. Der Regisseur im Innenraum kommentiert dies mit den Worten: „Wohin drängen Sie – hier wird ein Film über die Stagnationsperiode gedreht!“ Aus dem am Boden liegenden Drehbuch wird der Titel dieses Films ersichtlich: „Goldene Jahre“ (Abbildung 10).
Abbildung 10: „Wohin drängen Sie – hier wird ein Film über die Stagnationsperiode gedreht!“363 Als Attribute der „Goldenen Jahre“ werden im gedrehten Film Konsumgüter wie Wurst, Kaviar und alkoholische Getränke angeführt. Die altrussische Form des Wortes „goldene“ auf dem Drehbuch verortet das filmische Sujet in weit entfernter Vergangenheit. Die in dieser Karikatur dargestellte Szene zeigt eine rückblickende Inszenierung der Konsumrealität der Stagnationsperiode, also der Zeit bis zum Jahr 1985, aus Sicht eines Filmemachers im Jahr 1992. Diese Karikatur beinhaltet eine doppelte Inszenierung der Konsumwelt: Zum einen wird in der Reaktion der
363 Krokodil 3/1992, S. 1 (L. Nasyrov, V. Lugovkin [Thema]).
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Menschen auf die Filmkulisse die gegenwärtige Konsumsituation gezeigt, zum anderen wird eine idealisierende Inszenierung der Konsumrealität der Stagnationsperiode als Kulisse dargestellt. Denn auch in der Zeit vor dem Jahr 1985 waren diese Güter in den Geschäften für die Allgemeinheit nicht in der dargestellten Quantität und Varianz vorhanden. In der Konfrontation mit der Konsumrealität am Anfang des Jahres 1992 wurde also die Zeit vor dem Beginn der Reformen als ein in weiter Ferne liegendes Konsumparadies bezeichnet, dessen Attraktivität durch die drängende Masse vor dem geschlossenen Geschäft herausgestellt wurde. Diese Karikatur ironisierte die überzeichnete Idealisierung einer vergangenen Konsumrealität, die damals aufkam.364 Das Jahr 1985 wurde im Zeitraum 1992 bis 1995 in der Karikatur mehrfach als Wendepunkt des Konsum- und Wohlstandsniveaus hin zum Schlechteren bezeichnet, sei es durch das Zitat der Jahreszahl „1985“365 oder mittels der Phrasen „vor dem Beginn der Reformen“366 bzw. „Stagnationsperiode“367. Das Jahr des Amtsantritts von Gorbatschow und des Beginns der Reformen wurde während der 1990er Jahre demnach vor allem als Einsetzen einer massiven Verschlechterung des Niveaus bei der Konsumgüterversorgung bewertet. Lediglich in einem Beispiel, einer Fortsetzungskarikatur aus 19 Einzelbildern vom Februar 1993, wird der Zusammenhang von Konsumniveau und politischer Freiheit in der Stagnationszeit und in der Gegenwart diskutiert: Mit einer Zeitmaschine reist ein Paar in die Vergangenheit und landet in Moskau zu einem Zeitpunkt vor dem Jahr 1985. Dort kauft es in den Prestigekaufhäusern GUM und ZUM Zucker und Mehl in Säcken sowie industrielle Konsumgüter wie Stiefel. Auch eine Datscha kauft das Paar zu einem Spottpreis. Ein Nachbar belauscht dort ein Gespräch der beiden über die Stagnationszeit: „Breschnew hat natürlich die Macht usurpiert …“ Einer Personenkontrolle, das Ergebnis einer Anzeige beim KGB, entzieht sich das Paar mittels der Zeitmaschine: „Schade, dass wir alles dort zurücklassen mussten, aber die Freiheit ist wertvoller!!!“368 Diese Karikatur kontrastiert zwei zeitliche Ebenen, nämlich Gegenwart und Stagnationsperiode, und zwei Werte, nämliche individuelle Konsummöglichkeit sowie persönliche Freiheit. In der Gegenwart ist danach die Freiheit groß, die Konsummöglichkeiten sind hingegen beschränkt In der Stagnationsperiode hingegen war die Freiheit begrenzt, die Kon364 365 366 367
Auch: Krokodil 8/1994, S. 3 (J. Samarin, Penzenskaja Oblast’). Krokodil 5-6/1993, S. 7 (V. Milejko, Sankt Petersburg). Krokodil 6/1995, S. 5 (V. Milejko, Sankt Petersburg). Krokodil 3/1992, S. 1 (L. Nasyrov, V. Lugovkin [Thema]); Krokodil 2/1993, S. 2-7 (V. Lugovkin). 368 Krokodil 2/1993, S. 2-7 (V. Lugovkin).
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summöglichkeiten waren jedoch – zumindest im Rückblick – gut. Auch diese Karikatur beschrieb eine Idealisierung der Konsummöglichkeiten der Stagnationsperiode vom Blickwinkel der beginnenden 1990er Jahre aus. Jedoch wurde hier diese Idealisierung nicht ironisiert, sondern in einen Gegensatz zu einem alternativen immateriellen Wert, nämlich der politischen Freiheit, gesetzt. Die Karikatur relativierte die Konsumproblematik dieser Zeit und kritisierte deren Überbewertung im Vergleich zu den positiven Neuerungen des gesellschaftlichen Wandels. Diese Karikatur enthielt somit einen moralischen Appell, sie war mit ihrem Ergebnis der Abwägung materieller und immaterieller Werte jedoch kein Abbild der öffentlichen Meinung. Zwei repräsentative Umfragen von WZIOM aus den Jahren 1994 und 1999 zeigen, dass eine Mehrheit der Russen zu diesen Zeitpunkten die Zeit vor Gorbatschow für besser als die Gegenwart erachtete. Eine Ausnahme stellten lediglich die Bezieher hoher Einkommen dar (Tabellen 64 und 65). Alle
Ja Nein Weiß nicht
54 30 17
Einkommen GeMit- Hoch ring tel 66 55 39 19 26 48 15 19 13
Mos., SPb 43 41 16
Wohnort Groß- Kleinstädte städte 50 53 35 30 16 17
Dörfer 63 19 19
Tabelle 64: „Stimmen Sie damit überein, dass alles besser wäre, wenn alles im Land so geblieben wäre, wie es bis zum Jahr 1985 war?“ (April 1994)369 Alle
Ja Nein Weiß nicht
58 27 15
Einkommen GeMit- Hoch ring tel 68 65 33 15 22 55 17 13 13
Mos., SPb 44 41 15
Wohnort Groß- Kleinstädte städte 52 57 31 27 17 15
Dörfer 68 19 14
Tabelle 65: „Viele sagen, dass alles besser wäre, wenn alles im Land so geblieben wäre, wie es bis zum Jahr 1985 war. Stimmen Sie damit überein?“ (März 1999)370
369 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: R34. Soglasny li vy s tem, to bylo by lu e, esli by vse v strane ostavalos’ tak, kak bylo do 1985 goda?, in: Monitoring ob
estvennogo mnenija: konomi eskie i social’nye peremeny 4/1994, S. 48.
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Die Nostalgie mit dem Leben in der Vergangenheit nahm also während der 1990er Jahre sogar zu. Allerdings muss man beachten, dass der Erhebung des Jahres 1999 die Krise des Jahres 1998 vorausging. Welch bedeutende Rolle materieller Wohlstand und die Möglichkeit zu Konsum für die Bewertung von Gegenwart und Vergangenheit für die Menschen in Russland in dieser Zeit spielten, dokumentieren nicht nur genannte Karikaturen, auch die Meinungsforschung belegt diesen Fakt. Die Zeit vor dem Jahr 1985 wurde im Jahr 1994 vor allem deshalb als attraktiv wahrgenommen, weil das Vertrauen der Menschen in die Zukunft größer war und weil die Preise nicht so hoch und instabil waren wie in der Gegenwart (Tabelle 66). Und auch im Jahr 1999 nannte eine Mehrheit von über zwei Dritteln der Befragten mit weitem Abstand „materiellen Wohlstand“ als das, woran es den Russen aktuell am meisten mangelte (Tabelle 67). Am Ende der 1990er Jahre bezeichnete mehr als die Hälfte der Menschen in Russland die materielle Lage der eigenen Familie sowie die der Stadt bzw. Region, in der man lebte, als schlecht oder als sehr schlecht (Tabelle 68). Zwar wurde die individuelle Lebenssituation im Ganzen ein wenig besser beurteilt als die allgemeine ökonomische Lage in der Region, doch zufrieden mit den materiellen Ergebnissen der Transformation war kaum jemand. Die Menschen hatten Vertrauen in den morgigen Tag Die Preise waren nicht hoch und stabil Wir waren ein stabiles, einiges Land Es herrschte Ordnung Es war interessanter, lustiger zu leben Ich war jünger Wir schenkten der Kultur mehr Beachtung Anderes, weiß nicht, keine Antwort
53 43 37 36 13 3 3 1
Tabelle 66: „Was macht die Zeit bis zum Jahr 1985 für Sie vor allem attraktiv?“ (Antworten derer, die Zeit attraktiv finden, April 1994, Russland, Mehrfachnennung)371
370 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 34. Mnogie govorjat, to bylo by lu e, esli by vse v strane ostavalos’ tak, kak bylo do 1985 goda. Vy s tim soglasny ili net?, in: Monitoring ob
estvennogo mnenija: konomi eskie i social’nye peremeny 4/1999, S. 95. 371 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: R35. em dlja vas, prede vsego privlekatel’no vremja do 1985 goda? (v % k islu tech, dlja kogo privlekatel’no to vremja), in: Monitoring ob
estvennogo mnenija: konomi eskie i social’nye peremeny 4/1994, S. 48.
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Materieller Wohlstand Selbstvertrauen Kultur, Bildung Moralische Prinzipien Fleiß, Sparsamkeit Respekt vor der Vergangenheit Möglichkeit auszuruhen Politische Rechte Weiß nicht
68 20 12 12 9 6 5 2 4
Tabelle 67: „Was geht Ihrer Ansicht nach heute den Menschen in Russland am meisten ab?“ (März 1999, Russland, Mehrfachnennung)372
Sehr gut, gut Mittel Schlecht Sehr schlecht Weiß nicht
Materielle Lage der Familie 3 38 39 17 3
Ökonomische Lage in Stadt/Region 2 22 52 16 10
Tabelle 68: „Wie würden Sie derzeit die materielle Lage Ihrer Familie beurteilen? Wie würden Sie die ökonomische Lage in Ihrer Stadt bzw. Ihrer Region beurteilen?“ (Mai 1999, Russland, Mehrfachnennung)373 Die den Übergang zur Marktwirtschaft begleitende Konsumkrise erschwerte eine positive Bewertung des Wandels und führte zu Reminiszenzen an eine Vergangenheit, welche sich im Rückblick insbesondere durch bessere Konsummöglichkeiten ausgezeichnet hatte. Die Verschlechterung des Konsumniveaus wurde dabei in einem engen Zusammenhang mit den Reformen Gorbatschows ab dem Jahr 1985 gesehen. Dieses Phänomen lässt sich als logische Folge der politischen Aufladung des Konsums in sowjetischer Zeit erachten: Eine Verschlechterung des persönlichen Konsumniveaus, welche für die meisten Verbraucher ab 372 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 20. Kak vam kaetsja,
ego v pervuju o ered’ ne chvataet segodnja eloveku v Rossii?, in: Monitoring ob
estvennogo mnenija: konomi eskie i social’nye peremeny 4/1999, S. 93. 373 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 10. Kak by vy ocenili v nastoja
ee vremja material’noe poloenie va ej sem’i?, in: Monitoring ob
estvennogo mnenija: konomi eskie i social’nye peremeny 4/1999, S. 67; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: 11. Kak by vy ocenili konomi eskoe poloenie v va em gorode, sel’skom rajone?, in: Monitoring ob
estvennogo mnenija: konomi eskie i social’nye peremeny 4/1999, S. 67.
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Ende der 1980er Jahre zu einer Realität wurde, musste zu einer negativen Beurteilung der Akteure und Prozesse, die man dafür verantwortlich machte, führen. Positive Ergebnisse der Reformen wie die Ausweitung persönlicher Rechte fanden angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage keine besondere Würdigung. Das Motiv der besseren Konsumwelt in der Vergangenheit wurde ab Mitte der 1990er Jahre in der Karikatur nicht mehr aufgegriffen, auch wenn die Menschen die Verhältnisse der Zeit vor dem Jahr 1985 weiterhin für besser als die Gegenwart erachteten. Die Idealisierung des Konsumstandards der Vergangenheit stellte einen Diskurs der Krise dar, der an Bedeutung verlor, als Konsum aufhörte, ein politisches Thema zu sein. Nichtsdestotrotz erhielt sich dieses Motiv während der nächsten Jahre in den Köpfen eines großen Teils der Menschen. Kritik an der allgemeinen Kommerzialisierung sowie die Idealisierung des Konsumstandards der Vergangenheit stellten die zentralen Themen der marktwirtschaftlich fundierten politischen Konsumdiskurse dar. Diese setzten bereits am Ende der sowjetischen Zeit im Zuge der allmählichen Einführung der Marktwirtschaft ein und klangen im Verlauf der 1990er Jahre ab. Das planwirtschaftliche Deutungsmuster, dass Konsum vorrangig ein Element der politischen Sphäre sei, wirkte während der ersten marktwirtschaftlichen Jahre fort und bewirkte, dass Konsum zunächst ein Gegenstand politischer Kritik in der Karikatur blieb. Das Abklingen dieser politischen Konsumdiskurse der Marktwirtschaft im Verlauf der 1990er Jahre lässt sich dann als Ausdruck einer allgemeinen Adaption an die neue Logik des Konsums sowie des Systems an sich begreifen, da eine solche politische Kritik unter den neuen Bedingungen nicht mehr angemessen war.
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Sowjetische Symbole und Konsum Bis Mitte der 1980er Jahre war die ironisierende Verwendung von Symbolen des sowjetischen Gemeinwesens in der Karikatur tabuisiert.374 Die Politik von Glasnost hob diese Regel auf und provozierte eine Vielzahl von Karikaturen, welche die Mängel des sowjetischen Gemeinwesens durch das Aufgreifen sowjetischer Symbole ironisierten und folglich die Schuld an den verschiedenen Problemen des Alltags dem Staat und dessen ideologischen Fundamenten zuschrieben. Die politische Aufladung des Konsums in der Sowjetunion und die große Bedeutung dieses Themas für die Menschen führten ab dem Jahr 1988 dazu, dass insbesondere die Defizite der Versorgungssituation in der Karikatur mit dem sowjetischen Gemeinwesen in symbolischer Form kontrastiert wurden. Dieses Kapitel geht der Frage nach, in welches Verhältnis Konsum und sowjetische Symbole während des Übergangs vom Plan zum Markt in der Karikatur gestellt wurden und welche generelle Haltung zum sowjetischen Gemeinwesen sich daraus ableiten lässt. Ein wichtiges Denkmal der Sowjetunion war die in den 1930er Jahren gefertigte Stahlskulptur der Künstlerin Vera Muchina, „Arbeiter und Kolchos-Bäuerin“, die zunächst auf der Pariser Weltausstellung im Jahr 1937 den sowjetischen Pavillon krönte, dann in Moskau aufgestellt wurde und zudem als Emblem der sowjetischen Filmgesellschaft diente. Das Denkmal steht für die Revolution der Arbeiter und Bauern und versinnbildlicht die Verfassung von 1936, gemäß welcher die Sowjetunion ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern war. Die beiden Figuren tragen mit Hammer und Sichel die wesentlichen Elemente der sowjetischen Flagge in der Hand und erscheinen so als Träger des sowjetischen Staates.375 Dieses Denkmal wird in zwei Karikaturen der Zeitschrift „Krokodil“ zitiert, jedoch halten dabei der Arbeiter und die Kolchos-Bäuerin Wurst in der Hand, einmal in Form von Hammer und Sichel aus Würsten,376 ein anderes Mal in Form einer einzelnen überdimensionierten Wurst.377 In letzterer Karikatur blickt eine Frau, die schwer an einer Tasche und zwei Warenbündeln über ihrer Schulter trägt, mit offenem Mund auf das verfremdete Denkmal. Das sowjetische 374 Vgl. Zlatvoskij, Michajl: „Jumor molodych“. Iz istorii karikatury v Rossii 1953-2000 gody, in: Rossijskij institut kul’turologii (Hg.): Fenomenologija smecha. Karikatura, parodija, grotesk v sovremennoj kul’ture, Moskau 2002, S. 28-82, hier: S. 45. 375 Vgl. Jungen, Bettina: Kunstpolitik versus Kunst. Leben und Werk der Bildhauerin Vera Muchina (1889-1953), Bielefeld 2005, S. 144-178. 376 Krokodil 27/1990, S. 5 (V. Uborevi-Borovskij, Thema: V. Vladov, R. Drukman, V. Lugovkin). 377 Krokodil 7/1988, S. 6 (V. Vital’ev).
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Gemeinwesen, versinnbildlicht durch Hammer und Sichel, hatte sich also überlebt, weil es den Wünschen der Menschen beim Konsum, versinnbildlicht im höchst politischen Gut Wurst, nicht ausreichend nachkam. In diesen Beispielen findet sich der Vorwurf an den sowjetischen Staat, dass er sich für die Menschen nur als Arbeiter und Bauern also als Produktionsfaktoren interessierte und ihre Wünsche und Bedürfnisse beim Konsum ignorierte. Hier wird zwar eine materialistische Haltung vertreten, jedoch wendet sich der Blick von der Produktion zum Konsum, wobei der sowjetische Staat in dieser Deutung versagte. Hammer und Sichel als Zeichen für den sowjetischen Staat werden in dieser Zeit noch häufiger aufgegriffen und in einen Kontext des Mangels gestellt. Eine Karikatur zeigt zwei Kisten, die jeweils mehrere Hämmer und Sicheln enthalten, wovor ein Schild „Keine Löffel“ steht.378 Die Zeichen des sowjetischen Staates sind also im Überfluss vorhanden, an Gebrauchsgegenständen wie Löffeln herrscht hingegen Mangel. Die Karikatur konstatiert für die Gegenwart einen Überfluss an Ideologie, den man loszuwerden versucht, und einen Mangel an Gebrauchsgegenständen, der stellvertretend für die Defizite bei der Versorgung mit Konsumgütern in dieser Zeit steht. In einer weiteren Karikatur wird ein Geschäft abgebildet, in dem nur Hämmer und Sicheln verkauft werden. Allerdings sind diese Gegenstände nicht einzeln erhältlich, sondern laut der Verkäuferin „nur im Set“.379 Die Kombination aus diesen beiden Werkzeugen macht daher auch daraus ein Synonym für den sowjetischen Staat. Diese Karikaturen bilden ein allgemeines Bestreben ab, das alte System in symbolischer Form loszuwerden. Die Gegenüberstellung von Hammer und Sichel, Zeichen des sowjetischen Staates, und den Mängeln beim Konsum in all diesen Karikaturen lässt sich als härteste Form der Schuldzuweisung an den sowjetischen Staat und seine ideologischen Grundfesten angesichts der problematischen Versorgungssituation begreifen.380 Die Symbole und Parolen der Sowjetunion werden in der Karikatur auch nach deren Auflösung zitiert. Ab dem Jahr 1992 dienen sie als Gegensatz zur Kommerzialisierung des Lebens. Eine Karikatur vom Mai 1992 zeigt folgende Szene: Ein Straßenhändler verkauft Glühbirnen, die in der Innenseite seines Mantels stecken. Durch Mütze und Gesichtszüge ist er als Lenin zu identifizieren (Abbildung 11).
378 Krokodil 18/1990, S. 5 (T. Zelenenko, Charkov). 379 Krokodil 21/1991, S. 15 (V. Zinovik, Bachisaraj). 380 Auch: Krokodil 11/1989, S. 5 (V. Lugovkin); Krokodil 32/1989, S. 11 (A. Ale iev); Krokodil 6/1991, S. 5 (V. Lugovkin); Krokodil 24/1990, S. 5 (V. Moalov, J. Stepanov [Thema]).
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Abbildung 11381 Hier wird einerseits auf den populären Spruch Lenins „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrizität“ angespielt, wobei die Lampen für Elektrizität stehen. Andererseits ist diese Karikatur vor dem Hintergrund der Bazarisierung des Konsums in dieser Zeit zu sehen. Die Ironie liegt nun darin, dass der Begründer des sozialistischen Staates in einer Pose, die typisch für das marktwirtschaftliche Russland der 1990er Jahre ist, gezeigt wird. Auch Lenin, der Begründer der Sowjetunion, müsste im Jahr 1992 seine Ideen verkaufen und als Straßenhändler seinen Unterhalt verdienen. Von Lenins Utopie von „Sowjetmacht plus Elektrizität“ ließ sich demnach zu diesem Zeitpunkt nur noch eine Hälfte, nämlich Elektrizität, und diese nur in vulgärer, materialisierter Form, nämlich in der von Glühlampen, unter die Leute bringen. Diese Karikatur beobachtete und kritisierte also für das Jahr 1992 die absolute Wertlosigkeit sozialistischer Ideale und den Zwang zu kommerziellem Handeln für wirklich jeden. Die 1990er Jahre hindurch wurden Zeichen sowjetischer Kultur noch mehrfach zitiert und mit den Realitäten der neuen Konsumgesellschaft 381 Krokodil 7/1992, S. 1 (A. Gurskij, Minsk).
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kontrastiert.382 Anhand des Nebeneinanders von Relikten sowjetischer Kultur und neuer Konsumkultur wird für das Russland der 1990er Jahre eine Gleichzeitigkeit von Elementen zweier sich widersprechender Zeitepochen festgestellt.383 In einer Karikatur aus dem Jahr 1997 blickt ein älteres Paar auf eine Gruppe bunt gekleideter, ausgelassener Kinder, die ein Lied der sowjetischen Jugendorganisation in abgewandelter Form singen: „Uns hilft ,Snickers‘ beim Bauen und Leben ...“ Gleichsam zur Unterstreichung des Gesagten hält einer aus der Gruppe einen SnickersRiegel in die Höhe.384 Der in dieser Abwandlung zitierte Refrain des Liedes „Leicht ums Herz von einem lustigen Lied“ lautet im Original folgendermaßen: „Uns hilft das Lied beim Bauen und Leben, es rät und führt wie ein Freund. Und wer mit dem Lied durch das Leben geht, wird niemals und nirgends untergehen.“385 Konsum in Form von Snickers hat in dieser Deutung in postsowjetischer Zeit das Lied als emotionale Stimulanz ersetzt und leistet einen wesentlichen Beitrag für das Entstehen von Gemeinschaft. Die dargestellte Konsumorientierung der Jugendlichen steht in einem Gegensatz zu früher propagierten Idealen. Elemente sowjetischen Ursprungs zeigten demnach während der 1990er Jahre noch Spuren, doch wirkten sie wie anachronistische Relikte der Vergangenheit und passten nicht zu einer Gesellschaft, in der Konsum und Käuflichkeit primäre Paradigmata waren. Dieses Aufgreifen der Zeichen einer vergangenen Zeit in der Karikatur ließ sich dabei auch als Beobachtung einer ironisierenden Umdeutung dieses Materials zu Kitsch begreifen.386 Während in den letzten Jahren des Bestehens der Sowjetunion deren Symbole in der Karikatur als Kontrapunkt zum Konsum bezeichnet wurden, so wurde in den 1990er Jahren damit vor allem die Wertlosigkeit und Überkommenheit alter Wertvorstellungen und Logiken im Zuge der allgemeinen Kommerzialisierung zum Ausdruck gebracht. Das Urteil über die Sowjetunion und deren ideologischen Grundlagen wurde somit milder: Während am Ende der sowjetischen Zeit die Konsum382 Krokodil 7/1992, S. 9 (V. Lugovkin); Krokodil 3/1998, S. 12 (A. Vasilenko). 383 Das Aufgreifen sowjetischer Zeichen in der Werbung der 1990er Jahre wird auf S. 247f behandelt. 384 Krokodil 3/1997, S. 8 (V. Poluchin). 385 Utesov Leonid „Legko na serdce ot pesni veseloj“ – tekst i slova pesni v karaoke na karaoke ru (http://www.karaoke.ru/song/2110.htm [9.4. 2008]). 386 Vgl. Sabonis-Chafee, Theresa: Communism as Kitsch. Soviet Symbols in Post-Soviet Society, in: Barker, Adele (Hg.): Consuming Russia. Popular Culture, Sex, and Society since Gorbachev, Durham/London 1999, S. 362-382.
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feindlichkeit der Sowjetunion herausgestellt wurde, kontrastierte man während der 1990er Jahre die Zeichen und Symbole der Sowjetunion mit der allgemeinen Kommerzialisierung und deren negativen Folgen für einen Großteil der Menschen. Eine gewisse Relevanz sowjetischer Zeichen und auch Wertvorstellungen als Folie der Bewertung der Gegenwart blieb daher während der 1990er Jahre erhalten.
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No r m a t i v e K o n s u m d i s k u r s e Betrachtet man Konsum in historischer Perspektive, so erscheint dieses Phänomen untrennbar mit kritischen Stimmen gegenüber eben demselben verbunden. John Brewer erachtet daher „[e]ine tiefe Ambivalenz, manchmal sogar offene Feindschaft gegenüber dem Phänomen des Konsums“387 als ein konstituierendes Element von Konsumgesellschaften. Hinter den verschiedenen Arten und Gegenständen von Konsumkritik stand und steht stets eine aus einer weltanschaulichen Position abgeleitete normative Vorstellung davon, wie, in welchen Formen und in welchem Maße konsumiert werden soll oder eben auch nicht. Verschiedene Aspekte des Konsums gaben in der modernen Konsumgesellschaft in der westlichen Welt des 19. und 20. Jahrhunderts wie auch zu früheren Zeiten und in anderen Regionen der Welt Anlass zu religiös, konservativ, humanistisch und sozialistisch motiviertem Anstoß.388 Seit jeher löste Luxuskonsum – also Konsum, der über das Notwendige hinausgeht – durch bestimmte privilegierte Schichten und Gruppen der Gesellschaft Unmut, Kritik und sogar Luxusverbote aus.389 Um die Wende zum 20. Jahrhundert charakterisierte Thorstein Veblen das Leben der Oberschicht in den USA als von Müßiggang und Zurschaustellung von Reichtum geprägt und brachte das Wort des „demonstrativen Konsums“ auf.390 Die Handels- und Konsuminnovation des Warenhauses löste am Beginn des 20. Jahrhunderts neben Beachtung auch dezidiert Ablehnung aus.391 Als Reaktion auf die Entwicklung des Massenkonsums in West387 Brewer, John: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen?, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 51-74, hier: S. 56. 388 Einen Überblick über Einstellungen zu Konsum im historischen Wandel bietet: Wyrwa, Ulrich: Consumption, Konsum, Konsumgesellschaft. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/ Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschaftsund Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/ M./New York 1997, S. 747-762. 389 Vgl. Jäckel, Michael: Einführung in die Konsumsoziologie. Fragestellungen – Kontroversen – Beispieltexte, Wiesbaden 2004, S. 28-32; Miller, Daniel: Introduction, in: Miller, Daniel (Hg.): Consumption. Critical concepts in the social sciences. Volume I: Theory and issues in the study of consumption, London/New York 2001, S. 1-14. 390 Vgl. Veblen, Thorstein: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Köln/Berlin 1958 [1899]. 391 Vgl. Briesen, Detlef: Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral. Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M./New York 2001, S. 12-23.
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europa und den USA entstanden in der Mitte des 20. Jahrhunderts konsum- und kapitalismuskritische Texte, die Konsum in den Kontext von Verführung, Überfluss und einer nicht mit dem objektiven Wert korrelierten Warenästhetik stellten und insbesondere die zweifelhaften Praktiken des Marketings und der Werbung monierten.392 Unter dem Schlagwort „Konsumismus“ wurde schließlich in der intellektuellen und akademischen Diskussion der letzten Jahrzehnte der Stellenwert des Konsums als zu hoch bezeichnet.393 Das sowjetische Konsummodell basierte auf spezifischen weltanschaulichen Fundamenten. Die offizielle Rhetorik nahm daher eine deutliche Position gegenüber dem Konsum, einem Teilaspekt des Gesamtphänomens Alltag, ein. Grundlegend für die offizielle Haltung gegenüber dem Konsum waren die Theorie des Fetischismus von Karl Marx und dessen These, dass der im Kapitalismus existierende Warenkult aus den Beziehungen von Menschen Beziehungen von Waren machte und somit der Mensch selbst zur Ware würde. Im Sozialismus hingegen würde zwar ebenfalls ein Überfluss an Waren angestrebt, doch zugleich auch die Befreiung des Menschen vom Joch der Waren und der Erniedrigung, nur mittels Waren etwas wert zu sein und nicht aufgrund persönlicher Qualitäten.394 Eine Vorstellung des dominanten normativen Verständnisses von Konsum in der Sowjetunion versuchte eine russische Soziologin aus offiziellen sowjetischen Publikationen der 1960er Jahre abzuleiten. Konsum war demnach im Sinne des Verbrauchens von etwas negativ konnotiert, was auch durch den Gegensatz von Konsum und Produktion bekräftigt wurde.395 Zudem war Konsum eng mit dem Be392 Vgl. Packard, Vance: Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewussten in Jedermann, Düsseldorf 1958 [1957]; Galbraith, John: Gesellschaft im Überfluss, München/Zürich 1959 [1958]; Haug, Wolfgang: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/M. 1971. 393 Vgl. z. B. de Graaf, John/Wann, David/Naylor, Thomas: Affluenza. Zeitkrankheit Konsum, München 2002 [2001]; Pasolini, Pier: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin 1998 [1975]. 394 Vgl. Gurova, Ol’ga: Ot bytovogo asketizma k kul’tu ve ej: ideologija potreblenija v sovetskom ob estve, in: Novosibirskij gosudarstvennyj universitet (Hg.): Ljudi i ve i v sovetskoj i postsovetskoj kul’ture. Sbornik statej, Novosibirsk 2005, S. 6-21, hier: S. 8; Heller, Agnes: Leitidee zur Transformation osteuropäischer Gesellschaftsformationen, in: Fehér, Ferenc/Heller, Agnes: Diktatur über die Bedürfnisse. Sozialistische Kritik osteuropäischer Gesellschaftsformationen, Hamburg 1979, S. 7-23. 395 Aus eben diesem Grund wurde in jüngerer und älterer Vergangenheit auch in kapitalistischen sowie vormodernen Gesellschaften intellektuelle Kritik am Konsum geübt. Vgl. Miller, Daniel: Introduction, in: Miller, Daniel (Hg.): Consumption. Critical concepts in the social sciences. Vol-
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griff der Bedürfnisse verbunden. Das offizielle normative Modell des Verhältnisses der Menschen zu Dingen im sowjetischen Konsummodell ließ sich durch folgende Postulate charakterisieren: Der Mensch sollte keinen Kult um Dinge machen, sondern davon unabhängig sein. Er sollte nicht nach der Anhäufung von Besitz streben. Konsum sollte im Rahmen der vernünftigen Bedürfnisse stattfinden. Die Einschätzung anderer Menschen sollte nicht auf Basis von Dingen geschehen. Schließlich sollte der Mensch nicht nur von der Quantität, sondern auch von der äußeren Form der Dinge unabhängig sein.396 Das marxistische Ideal der Gleichheit aller Menschen führte zu einem egalitären Anspruch des sowjetischen Konsummodells. Eine solche Vorstellung implizierte eine Gegenüberstellung richtiger und falscher Bedürfnisse, welche sich im autoritären Charakter der Formulierung rationaler Normen des Konsums niederschlug.397 Überschritt das Verhältnis zu Waren die als vernünftig anerkannten Bedürfnisse, so wurde dies als „Kult der Dinge“, „künstlicher Konsum“, „Raffgier“ und insbesondere als Ausdruck von „Kleinbürgertum“ bzw. „Spießertum“ bezeichnet. Die Kategorie des „Kleinbürgertums“ unterlag im Zeitablauf Konjunkturen, doch erfuhr sie in sowjetischer Zeit durchwegs hohe Beachtung. Verstanden wurde darunter eine große Neigung zu Dingen, die sich im Streben nach Anhäufung von Materiellem und Sorge darum äußerte. Damit einher ging der Generalverdacht nach Indifferenz gegenüber der Umwelt, Streben nach Bereicherung, Habsucht, Egoismus und Karrierismus.398 Die offizielle Rhetorik bezüglich des Konsums und die dominante Haltung gegenüber Konsum und verschiedenen Ausprägungen dieses Phänomens unterlagen in sowjetischer Zeit allerdings Konjunkturen. Die sozial- und kulturgeschichtliche Forschung macht für die sowjetische Zeit zwischen 1917 bis 1985 vier Perioden aus, die sich bezüglich nor-
ume I: Theory and issues in the study of consumption, London/New York 2001, S. 1-14, hier: S. 3f. 396 Vgl. Gurova, Ol’ga: Otno enie k ve am v sovetskom ob estve. Byl li Homo consumens v SSSR?, in: Novosibirskij gosudarstvennyj universitet (Hg.): Ljudi i ve i v sovetskoj i postsovetskoj kul’ture. Sbornik statej, Novosibirsk 2005, S. 22-34, hier: S. 22-27. 397 Vgl. Fehér, Ferenc/Heller, Agnes: Formen der Gleichheit. Über die Aufhebung der Entfremdung, in: dies.: Diktatur über die Bedürfnisse. Sozialistische Kritik osteuropäischer Gesellschaftsformationen, Hamburg 1979, S. 43-91. 398 Vgl. Gurova, Ol’ga: Otno enie k ve am v sovetskom ob estve. Byl li Homo consumens v SSSR?, in: Novosibirskij gosudarstvennyj universitet (Hg.): Ljudi i ve i v sovetskoj i postsovetskoj kul’ture. Sbornik statej, Novosibirsk 2005, S. 22-34, hier: S. 22-27.
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mativer Akzentsetzungen beim Konsum unterscheiden lassen:399 Während der 1920er Jahre wurde in Abgrenzung zu vorrevolutionären Lebensformen, innerhalb derer Dinge Status symbolisierten, ein auf Asketismus und Funktionalität basierender Stil im Alltag gefordert. In der Zeit Stalins während der 1930er bis 1950er Jahre wurden im Zuge der Etablierung des Ideals der „Kultiviertheit“ bestimmte Aspekte des Konsums, die zuvor als „kleinbürgerlich“ oder als mit einem vorrevolutionären Lebensstil verbunden abgelehnt wurden, wieder rehabilitiert. In dieser Zeit begann man so aus propagandistischer Motivation heraus, frühere Luxusgüter wie Kaviar und Sekt für den Massenkonsum herzustellen, auch wenn zugleich die Versorgungssituation mit Grundnahrungsmitteln immer wieder katastrophale Züge bis hin zu Hungersnöten annahm. Adressat dieses „democratic luxury“ (Jukka Gronow) war vorrangig die neue, auf Professionalität beruhende Mittelklasse, die zum Träger des auf Konformität beruhenden Konsum- und Kulturmodells der „Kultiviertheit“ wurde.400 Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Zeit Stalins während der 1950er und 1960er Jahre setzte auch eine deutliche Kritik an Konsumelementen der vorherigen Jahrzehnte ein, die nun als kleinbürgerlich abgelehnt wurden. Die Konzeption des „sowjetischen Geschmacks“ wurde in dieser Zeit einer sich verstärkenden Orientierung der Menschen an westlichen Konsumformen und Lebensstilen entgegengestellt – auch wenn diese Orientierung gleichsam ein Ergebnis von Handlungen und Rhetorik der politischen Führung in dieser Zeit war – und zielte auf eine Rationalisierung von solchen als irrational bezeichneten Konsumpraktiken ab. Die normative Haltung gegenüber Konsum in der Zeit Chruschtschow zeigte somit einerseits Züge des Utopischen und andererseits des Autoritären.401 Während der Stagnationsperiode bis 399 Als Überblicksdarstellung siehe: Gurova, Ol’ga: Ot bytovogo asketizma k kul’tu ve ej: ideologija potreblenija v sovetskom ob estve, in: Novosibirskij gosudarstvennyj universitet (Hg.): Ljudi i ve i v sovetskoj i postsovetskoj kul’ture. Sbornik statej, Novosibirsk 2005, S. 6-21. 400 Vgl. Dunham, Vera: In Stalin’s Time. Middle Class Values in Soviet Fiction, Durham/London 21990 [1979]; Gronow, Jukka: The Sociology of Taste, London/New York 1997, S. 49-70; Gronow, Jukka: Caviar with Champagne. Common Luxury and the Ideals of the Good Life in Stalin’s Russia, Oxford/New York 2003. 401 Vgl. Buchli, Victor: An Archeology of Socialism, Oxford/New York 1999; Buchli, Victor: Khrushchev, Modernism and the Fight against Petit-bourgeois Consciousness in the Soviet Home, in: ders. (Hg.): The Material Culture Reader, Oxford/New York 2002, S. 215-236; Crowley, David/Reid, Susan: Style and Socialism. Modernity and Material Culture in Post-War Eastern Europe, in: dies. (Hg.): Style and Socialism. Modernity and Material Culture in Post-War Eastern Europe, Oxford/New York 2000, S. 1-24, hier: S. 9-14.
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Mitte der 1980er Jahre wurde die offizielle Haltung gegenüber Konsum wieder gemäßigter und pragmatischer. Der staatstragenden Mittelschicht wurden daher materielle Zugeständnisse gemacht. In der offiziellen Rhetorik wurde der Konstatierung einer verbesserten Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern die Forderung nach Lösung der Menschen von der Bedeutung materiellen Besitzes und Konsums für soziale Beziehungen anbei gestellt.402 Vor diesem Hintergrund analysiert dieses Kapitel, welche normativen Haltungen gegenüber dem Konsum an sich sowie gegenüber damit einhergehenden Praktiken und Verhaltensweisen während des Übergangs vom Plan zum Markt vorherrschten und wie sich jene veränderten. Die Untersuchung erfolgt anhand der Karikaturen des „Krokodils“ und trägt der sich ändernden Stoßrichtung dieses Mediums im Zuge der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Wandel Rechnung. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre lässt sich die abgebildete Haltung gegenüber dem Konsum noch weitgehend auf offizielle normative Vorgaben zurückführen, während der 1990er Jahre hingegen auf den Ausdruck einer kritischen, intellektuellen Öffentlichkeit. Während der zweiten Hälfte der 1980er Jahre findet sich in der Karikatur eine starke Polemik gegenüber demonstrativem Konsum bzw. „Kleinbürgertum“. Reichtum und Wohlstand werden in dieser Zeit vor allem an einem riesigen Haus, einer großen Limousine, aufwendigen Möbeln, Antiquitäten, einer stattlichen Ausstattung mit modernster Unterhaltungselektronik, Schmuck und Waren aus dem Ausland festgemacht.403 Diese Konsumgüter hatten damals aufgrund ihrer Seltenheit und ihres hohen Preises die Aura von prestigeträchtigen Besitztümern. Betont wird allerdings, dass ein solcher Wohlstand und der Besitz vieler statusträchtiger Güter nicht mit ehrlicher Arbeit verdient worden sind: Eine Karikatur zeigt eine Szene, in der eine Frau einen Hocker wegwerfen möchte, der in seiner Schlichtheit nicht zum protzigen Ambiente der Wohnung passt. Sie wird von ihrem Mann jedoch daran gehindert: „Wasenka, mir tut es Leid, diesen Hocker wegzuwerfen ... Soweit ich mich erinnern kann, habe ich ihn mit ehrlicher Arbeit verdient.“404 Dieser Zusammenhang von Besitz und Kriminalität führt aus Sicht der Karikatur zu befremdlichen Befindlichkeiten der Reichen. In einer Karikatur tröpfelt eine Frau ihrem Mann ein Beruhigungsmittel in den Tee, während 402 Vgl. Millar, James: The Little Deal. Brezhnev’s Contribution To Acquisitive Socialism, in: Slavic Review 44 4/1985, S. 694-706. 403 Krokodil 22/1986, S. 1 (A. Semenov); Krokodil 21/1986, S. 8 (V. Poluchin); Krokodil 29/1986, S. 12 (E. abel’nik); Krokodil 35/1988, S. 7 (V. Mo alov). 404 Krokodil 21/1986, S. 8 (V. Poluchin).
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im Hintergrund Einbrecher eine luxuriöse Wohnung ausräumen: „Immer meinst du die Polizei zu sehen! Da sind nur Einbrecher.“405 Die übermäßige Neigung zu Konsum wird in eine Verbindung mit bestimmten negativen Charakterzügen gebracht. Eine Karikatur zeigt eine Feier in privatem Kreise. Auf dem Tisch stehen importierte Alkoholika wie Schnapsflaschen von Metaxa und Jim Beam sowie Bierflaschen von Budweiser. Frauen wie Männer tragen dicke Ringe, Ketten und Uhren. Die Frauen sind vulgär gekleidet und geschminkt. Im Hintergrund steht eine Vielzahl von technischen Geräten, unter anderem ein Fernseher der Marke Panasonic, in dem ein Pornofilm gezeigt wird. Ein kleiner Junge mit Brille und Heft unter dem Arm provoziert allgemeines Gelächter mit der Frage: „Papa, was sind Intellektuelle?“ – „Mein Sohn, das sind besitzlose Menschen. Außer ihrem Gewissen haben sie nichts.“406 Unterstellt werden den dargestellten Personen eine übermäßige Neigung zum Anhäufen von materiellen Dingen und der Hang, ihren Besitz demonstrativ zur Schau zu stellen. Zudem werden sie aufgrund des Genusses von Alkohol, ihrer vulgären Kleidung und ihrer abwertenden Äußerungen gegenüber Intellektuellen als ungebildet und unkultiviert bezeichnet. Demnach ließ sich am Ende der 1980er Jahre das Fortwirken des Konzepts der „Kultiviertheit“ aus Stalin’schen Zeiten beobachten. Diese Vorstellung forderte von den Individuen ein korrektes Verhalten gegenüber materiellem Besitz, das sich in angemessenem Benehmen, Hygiene, Kenntnis der Hochkultur sowie einer Ablehnung von habgierigem Verhalten zeigte. 407 Eine übermäßige Hinwendung zu Konsum und Besitz wies gemäß der hier festgehaltenen offiziellen normativen Haltung nicht nur auf eine moralische Verwerflichkeit hin, sondern auch auf eine Beschränktheit in Bezug auf Bildung und Intellektualität. Auch die starke Neigung der Jugend zu Konsum, welche die sowjetische Konsumforschung immer wieder feststellte408 und welche auch in 405 Krokodil 23/1986, S. 4 (S. Boga ev). 406 Krokodil 35/1988, S. 7 (V. Mo alov). 407 Vgl. Dunham, Vera: In Stalin’s Time. Middle Class Values in Soviet Fiction, Durham/London 21990 [1979], S. 22f; Volkov, Vadim: The Concept of Kul’turnost’. Notes on the Stalinist civilizing process, in: Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Stalinism. New Directions, London/New York 2000, S. 210-230. Eine ethnographische Studie unter Lehrerinnen in den 1990er Jahren in Sankt Petersburg ergab, dass in postsowjetischer Zeit und in diesen Kreisen die Kategorie der „Kultiviertheit“ im Alltagsdiskurs weiterhin hohe Bedeutung bezüglich der Bewertung des Konsumstandards und Umgangs mit Konsumgütern und Besitz genoss. Vgl. Patico, Jennifer: Consumption and Logics of Social Difference in Post-Soviet Russia, Ph.D. Dissertation New York University 2001, S. 117-134. 408 Vgl. Litvinov, M./Zimin, S./Podlesnyj, A.: Social’nyj zakaz molodei, in: Sovetskaja torgovlja 10/1988, S. 37-39; Strukov, K./Rudavskij, A.: Tova-
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der zeitgenössischen russischsprachigen Belletristik mehrfach thematisiert wurde409, widersprach den offiziellen normativen Vorstellungen bezüglich des Konsums. Gemäß der Karikatur machte sich das Konsumund Markenbewusstsein der Jugendlichen an bestimmten Konsumgütern und Marken fest: tragbare Musikgeräte, 410 oftmals explizit der Marke Sony,411 Jeans mit sehr großen Markenschildern von Wrangler, Levi’s oder Lee,412 übergroße Stiefel,413 Kleidung und Schuhe der Marke Adidas414 sowie Sportkleidung im Allgemeinen415. Die Karikatur polemisierte gegen die Konsumorientierung der Jugendlichen: Eine junge Frau raucht eine Zigarette der Marke Marlboro und wird gefragt, was sie von „Blok“ hält. Sie missversteht die Frage, da ihr der russische Poet „Alexander Blok“ nicht geläufig ist, und antwortet: „Von welchem Block [Zigarettenschachtel]: Camel, Philip Morris, Marlboro?“416 Einer guten Kenntnis von Marken bei Zigaretten wird in dieser Frau eine Unkenntnis der russischen Literaturgeschichte gegenübergestellt. Auch das Markenbewusstsein und die Konsumorientierung der Jugendlichen wurden im offiziellen Diskurs in dieser Zeit auf einen Mangel an „Kultiviertheit“ zurückgeführt. Das Streben nach Anhäufung von Gütern und Praktiken demonstrativen Konsums wurden am Ende der 1980er Jahre gemäß der in der Karikatur abgebildeten normativen Haltung zum einen mit einem gesellschaftlich anrüchigen, wenn nicht gar kriminellen Hintergrund und zum anderen mit einem Mangel an „Kultiviertheit“ verbunden. Die Menschen, welche diese Praktiken pflegten, wurden daher als gesellschaftliche Außenseiter bezeichnet. Dies wie auch die dabei zum Ausdruck kommende Kategorie des „kleinbürgerlichen“ Konsums lassen sich als eine spezifisch sowjetisch gefärbte Kritik am Phänomen des demonstrativen Konsums beurteilen. Im Rahmen einer umfassenden Studie über die soziale Prägung der Menschen in der Sowjetunion in dieser Zeit stellte der Soziologe Juri Lewada in der Bevölkerung eine breite Ableh-
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410 411 412 413 414 415 416
ry dlja molodei. Orientirujas’ na spros, in: Sovetskaja torgovlja 9/1987, S. 24-27; Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 14.6.2006. Vgl. z. B. Jewtuschenko, Jewgeni: Ardabiola, Berlin 1983 [1981], S. 41; Jewtuschenko, Jewgeni: Wo die Beeren reifen, München 2000 [1981], S. 179f. Krokodil 4/1985, S. 1 (E. Gurov). Krokodil 2/1985, S. 4 (E. Milutok); Krokodil 28/1985, S. 13 (A. Borisov). Krokodil 28/1985, S. 13 (A. Borisov). Krokodil 2/1985, S. 4 (E. Milutok); Krokodil 28/1985, S. 13 (A. Borisov); Krokodil 4/1985, S. 1 (E. Gurov). Krokodil 4/1985, S. 1 (E. Gurov); Krokodil 11/1986, S. 5 (L. Filippova). Krokodil 16/1986, S. 13 (M. Vajsbord); Krokodil 22/1986, S. 13 (R. Drukman). Krokodil 5/1985, S. 11 (E. ukaev).
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nung gegenüber als unverdient wahrgenommenen Einkünften und Privilegien fest. Ein Konsumniveau, welches das Lebensnotwendige überschritt, galt den Menschen in der Sowjetunion sehr schnell als Luxus oder Übermäßigkeit.417 Die negative Einstellung zu einer großen Präferenz für Güter und zu Praktiken des demonstrativen Konsums, die sich in der Karikatur niederschlug, wurde demnach von einem Großteil der Menschen in der Sowjetunion geteilt und lässt sich als ein gesellschaftlich dominantes Deutungsmuster dieser Zeit bewerten. Die Auseinandersetzung um die Privilegien der Nomenklatura am Ende der 1980er Jahre lässt sich ebenfalls als Ausdruck dieser allgemeinen Ablehnung privilegierten Konsums erachten. Eine negative Haltung gegenüber dem Streben nach Anhäufung von Gütern und Praktiken des demonstrativen Konsums findet sich in der Karikatur auch nach dem Einsetzen der Reformen ab Mitte der 1980er Jahre und richtet sich nun gegen den Typ des neuen Unternehmers, der sich aufgrund der Möglichkeit zu privatwirtschaftlicher Initiative herausbildete. Eine Karikatur aus dem Jahr 1988 zeigt einen dieser Unternehmer, der im Smoking mit Zigarre, Ring, Zylinder und Cocktail mit einem Audi bei seinen ehemaligen Kollegen, einer Gruppe von Bauarbeitern in Arbeitskleidung, vorbeifährt: „Seitdem Ihr mich aus dem Team heraus geworfen habt, quäle ich mich mit Kooperativen herum! ...“ (Abbildung 12) Der Habitus des demonstrativen Konsums wird hier sowohl mit einer früheren Verfehlung in einem Arbeitskollektiv als auch mit der privatwirtschaftlichen Initiative der neuen Kooperativen in Verbindung gebracht. Der Mann im Smoking differenziert sich von seinen ehemaligen Kollegen mittels der Demonstration von Reichtum und Status durch teure Konsumgüter, doch hat er so auch keinen Zugang zu deren Gemeinschaft mehr. Vielleicht war seine Neigung zu Distinktion sogar der Grund für seinen Ausschluss aus dem Team. Dem Müßiggang des Mannes – „demonstrativer Müßiggang“ geht auch bei Thorstein Veblen mit demonstrativem Konsum Hand in Hand – steht die körperliche Betätigung der Bauarbeiter gegenüber, der Zigarre in seiner Hand das Werkzeug in ihren Händen, seinem Cocktail ihr Mittagessen aus Brot und Milch, seinem weißen Anzug ihre Arbeitskleidung, seinem blasierten Gesichtsausdruck ihr Lächeln. Die Praxis der Distinktion über demonstrativen Konsum soll hier also fast Bedauern hervorrufen, da sie wie der Ausdruck von Einsamkeit und Ausschluss aus der Gemeinschaft interpretiert wird. Die neuen Unternehmer provozierten demnach aufgrund der bei ihnen beobachteten bzw. ihnen unterstellten Neigung zu
417 Vgl. Lewada, Juri: Die Sowjetmenschen 1989-1991. Soziogramm eines Zerfalls, Berlin 1992 [1991], S. 21f, 27f.
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demonstrativem Konsum Kritik. Die sich hierbei niederschlagende negative Haltung gegenüber übermäßigem Streben nach Besitz und demonstrativem Konsum erscheint als eine Reaktion auf die neuen ökonomischen und gesellschaftlichen Wirklichkeiten, die ihre ideologische Basis in der offiziellen normativen Vorstellung über das Wesen und vor allem die als gegeben erachteten Grenzen des Konsums aus sowjetischer Zeit hatte.
Abbildung 12: „Seitdem Ihr mich aus dem Team heraus geworfen habt, quäle ich mich mit Kooperativen herum! ...“418 Auch in postsowjetischer Zeit finden sich in der Karikatur normative Aussagen über Konsum und damit verbundene Praktiken. Dabei reflektiert die Karikatur die sich verändernde Zugangslogik zu Konsum vom Privileg hin zu Geld sowie die extreme ökonomische Ausdifferenzierung der Gesellschaft in dieser Zeit. Die Titelkarikatur des „Krokodils“ vom August 1992 zeigt eine Szene am Weißrussischen Bahnhof in Moskau, der wie alle Verkehrsknotenpunkte zu diesem Zeitpunkt ein Zentrum des blühenden Kleinhandels darstellte. Ein Mann in einem feinen Anzug lehnt an einem Mercedes-Benz und spricht einen schäbig gekleideten Mann an, der wie viele andere Kleinhändler dort Flaschen ver418 Krokodil 22/1988, S. 10 (V. Dmitrjuk).
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kauft: „Erinnern Sie sich, Iwan Iwanitsch, wie Sie mich wegen individueller Arbeitstätigkeit aus der Partei ausgeschlossen haben?“ (Abbildung 13)
Abbildung 13: „Erinnern Sie sich, Iwan Iwanitsch, wie Sie mich wegen individueller Arbeitstätigkeit aus der Partei ausgeschlossen haben?“ 419 Es handelt sich hier um die Begegnung zweier ehemaliger Parteimitglieder. Während der eine seinen materiellen Erfolg demonstrativ über Konsum zur Schau stellt, muss der andere als Straßenhändler seinen Lebensunterhalt bestreiten. Früher wurde „individuelle Arbeitstätigkeit“ mit Parteiausschluss sanktioniert, doch dieses als falsch gebrandmarkte Verhalten führt in der Gegenwart zu Wohlstand, wie das Beispiel des Besitzers der Limousine zeigt. Eine untadelige Biographie in sowjetischer Zeit hingegen führt im Falle des Straßenhändlers zu größter Armut. Die Karikatur kontrastiert also zum einen Gegenwart und Vergangenheit, zum anderen Reichtum und Armut und schließlich ideologisches Richtig- und Fehlverhalten. Eine zusätzliche Spitze erhält die Karikatur dadurch, dass auch der Parteifunktionär, der für den Parteiausschluss des wohlhabenden Mannes verantwortlich war, in der Gegenwart Kleinhandel betreibt und somit nun selbst zu „individueller Arbeitstätigkeit“ gezwungen ist. Das Handeln mit Waren zum persönlichen Vorteil, Speku419 Krokodil 10/1992, S. 1 (V. Mo alov).
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lation, galt in sowjetischer Zeit als eine anrüchige bzw. gar kriminelle Praxis.420 Der Mercedes-Benz und der feine Anzug sind Attribute großen Reichtums, der damit demonstrativ zur Schau und der Armut des Straßenhändlers entgegen gestellt wird. Die Karikatur bildet die aus sowjetischer Zeit übernommene dominante Haltung ab, dass das Streben nach Besitz und demonstrativer Konsum anrüchig sind, doch reflektiert sie zugleich, dass im Jahr 1992 eine neue Logik herrscht und privates Streben nach Wohlstand nicht mehr ein gesellschaftlich defektives Verhalten ist, sondern in der prinzipiellen Logik des neuen Systems liegt. Hier werden daher das Streben nach Besitz und demonstrativer Konsum kritisiert und auf ein gesellschaftlich – zumindest früher – als falsch bezeichnetes Verhalten zurückgeführt. Zugleich wird ein Vertreter eines solchen Verhaltens gleichsam als Vorreiter von Verhaltensweisen dargestellt, die nun von allen übernommen werden müssen. Gemäß dieser Karikatur stimmte am Beginn der marktwirtschaftlichen Zeit die tatsächliche Logik des Konsums nicht mit den gängigen normativen Vorstellungen darüber, in welchem Maße und in welchen Formen Konsum stattzufinden habe, überein. Demonstrativer Konsum in den 1990er Jahren manifestierte sich gemäß der Darstellung der Karikatur vorrangig in Limousinen, vor allem der Marke Mercedes-Benz mit übergroßem Mercedes-Stern, in feiner Kleidung wie glänzenden Anzügen, schwarzem Smoking, Fliege und Zylinder sowie in Zigarren. Das Verhalten der Personen, die sehr stark auf Konsum aus sind, wurde in einem Zusammenhang mit demonstrativem Müßiggang gesehen. Im Gegensatz zur arbeitenden Bevölkerung, die Werkzeug in den Händen hält, haben die Reichen ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt.421 Die allgemeine Haltung Vertretern exaltierter Konsumpraktiken gegenüber blieb negativ. Eine Karikatur zeigt einen bettelnden Hund, der ein dickes Schwein in feiner Kleidung und mit Brieftasche unter dem Arm fragt, warum er selbst denn kein neuer Russe sei. Das Schwein begründet dies damit, dass dem Hund kein Rüssel gewachsen sei.422 Die Wesenszüge eines Schweins werden hier als charakterliche Basis für Reichtum und demonstrativen Konsum, 420 Vgl. Humphrey, Caroline: Creating a culture of disillusionment. Consumption in Moscow, a chronicle of changing times, in: Miller, Daniel (Hg.): Consumption. Critical concepts in the social sciences. Volume II: The history and regional development of consumption, London/New York 2001, S. 223-248, hier: S. 226. 421 Krokodil 33/1991, S. 2 (V. Lugovkin); Krokodil 10/1992, S. 1 (V. Mo alov); Krokodil 8/1993, S. 7 (V. Alekseev); Krokodil 5/1995, S. 10 (V. Lugovkin); Krokodil 1/1998, S. 3 (I. Levitin, Samara); Krokodil 7/1998, S. 6 (V. Poluchin). 422 Krokodil 7/1998, S. 6 (V. Poluchin).
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wofür im Russland der 1990er Jahre die so genannten „Neuen Russen“ standen, bezeichnet. Die starke ökonomische und soziale Ausdifferenzierung der russischen Gesellschaft am Beginn der 1990er Jahre nährte große Zweifel an der Rechtmäßigkeit des schnellen, neuen Reichtums der „Neuen Russen“, die zu Vertretern einer extremen Form des demonstrativen Konsums wurden. Diese Menschen bezeichnete man als „neu“, weil sie von früher gültigen Werten – Wertschätzung ehrlicher Arbeit, Loyalität zum Kollektiv, schlichtem Lebensstil und Wertschätzung der Produktion von Gütern für das Wohl der gesamten Gesellschaft – losgelöst schienen und damit gleichsam die Erwartungen an die Zukunft Russlands repräsentierten.423 Die negativen Zuschreibungen zu den „Neuen Russen“ in den 1990er Jahren, die sich in genannter Karikatur wie auch in zahlreichen Witzen424 niederschlugen und auch in verschiedenen Studien untersucht wurden,425 lassen sich allerdings auch als Tradierung einer generellen Skepsis gegenüber bestimmten Formen des Konsums sehen, die ihren Ursprung in der offiziellen normativen Haltung gegenüber Konsum in sowjetischer Zeit hatte. Die Gewinner der sozioökonomischen Ausdifferenzierung der russischen Gesellschaft während der 1990er Jahre stellten insbesondere jüngere Menschen dar, die folglich über überdurchschnittliche Ressourcen zu Konsum verfügten.426 Ein ausgeprägtes Konsumbewusstsein der Jugend blieb folglich ein Thema der Karikatur. Eine Karikatur aus dem Jahr 1997 spielt auf das Märchen vom Fischer und seiner Frau an, in dem ein Fischer auf Verlangen seiner Frau von einem Wünsche erfüllenden Fisch immer größere Dinge fordert. In der Karikatur wendet sich der Fischer nun an den Fisch: „Meine Frau fordert nichts, aber meine Enkelin fordert einen BMW!“ Seine Enkelin steht rauchend neben ihm, während seine Frau im Hintergrund Wäsche wäscht.427 Der Bescheiden423 Vgl. Humphrey, Caroline: The Villas of the „New Russians“. A Sketch of Consumption and Cultural Identity in Post-Soviet Landscapes, in: dies.: The Unmaking of Soviet Life. Everyday Economies after Socialism, Ithaca/London 2002, S. 175-201, hier: S. 177. 424 Mascha Wakatowa, Komkon-2, 20.6.2006. 425 Vgl. Oushakine, Serguei: The Quantity of Style. Imaginary Consumption in the New Russia, in: Theory, Culture and Society 17 5/2000, S. 97-120; Humphrey, Caroline: The Villas of the „New Russians“. A Sketch of Consumption and Cultural Identity in Post-Soviet Landscapes, in: dies.: The Unmaking of Soviet Life. Everyday Economies after Socialism, Ithaca/London 2002, S. 175-201; Patico, Jennifer: Consumption and Logics of Social Difference in Post-Soviet Russia, Ph.D. Dissertation New York University 2001, S. 134-155. 426 Vgl. S. 116-125. 427 Krokodil 3/1997, S. 7 (V. Uborevi -Borovskij, V. Lugovkin [Thema]).
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heit und Betriebsamkeit der Ehefrau des Fischers werden hier der Müßiggang und der Wunsch nach statusträchtigen Konsumgütern auf Seiten seiner Enkelin gegenübergestellt. Die allgemeine negative Haltung gegenüber der großen Bedeutung, die Konsumgüter für junge Menschen haben, erhielt sich demnach in den 1990er Jahren, lediglich die Güter, in denen sich die Konsumwünsche der jungen Menschen materialisieren, wandelten sich. Sowohl in den 1980er als auch in den 1990er Jahren boten also eine große Neigung zu Reichtum und materiellen Besitztümern sowie demonstrativer Konsum Anlass zur Skepsis. Auch ein unterstellter Zusammenhang von Statusdemonstration über Konsum und die Nähe zu Kriminalität, illegaler bzw. zumindest illegitimer Arbeit und moralischem Fehlverhalten erhielt sich während des gesamten Zeitraums. Neu waren allerdings die Typen, denen die Neigung zu demonstrativen Konsumpraktiken zugeschrieben wurde, nämlich am Ende der 1980er Jahre die neuen Unternehmer und in den 1990er Jahren dann die „Neuen Russen“. Neu war auch die kommerzielle Logik des Konsums, aufgrund derer einerseits ein für die meisten Konsumenten unzugängliches Angebot offen präsentiert und beworben wurde und andererseits demonstrativer Konsum vor den Augen der im Großteil verarmten Bevölkerung praktiziert wurde. Privilegierte Konsumenten hatte es mit der Nomenklatura nämlich auch in der Sowjetunion gegeben. Die negative Haltung gegenüber „kleinbürgerlichen“ Konsumpraktiken in den 1980er Jahren war vorrangig Ausdruck normativer Vorstellungen des sowjetischen Konsummodells; diese Haltung wurde auf Seiten der gewöhnlichen Menschen nicht so sehr durch reale Beobachtungen gestützt. Die Kritik am demonstrativen Konsum in den 1990er Jahren hingegen stellte ein Ergebnis der Kommerzialisierung und Ausdifferenzierung beim Konsum sowie der Tradierung alter Deutungsmuster und Wertvorstellungen dar.
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Zusammenfassung Dieser Teil befasste sich mit den „Konsumdiskursen“, denen im Übergang vom Plan zum Markt Bedeutung zukam und die sich in der Karikatur der Satire-Zeitschrift „Krokodil“ niederschlugen. Die beiden ersten Kapitel gingen der Frage nach, welche politischen Konsumdiskurse diesen umfassenden Veränderungsprozess begleiteten. Das erste Kapitel untersuchte die intensive Auseinandersetzung mit den Ausprägungen und Missständen des in der Sowjetunion realisierten, planwirtschaftlichen Konsummodells, welche während der Jahre 1988 bis 1991 in der Karikatur stattfand. Die Kritik an der Konsumsituation stand in einer engen Verbindung mit dem erweiterten Spielraum, infolge der Politik von Glasnost seine Meinung zu äußern und auch Kritik zu üben. Die bis dahin verharmlosende Thematisierung der Probleme für die Verbraucher wurde in dieser Zeit ersetzt durch eine permanente und scharfe Kritik am Defizit von Lebensmitteln und hierbei insbesondere Wurst, am Defizit von industriellen Konsumgütern, an Schlangen, an Preiserhöhungen sowie an den misslingenden Anstrengungen der Politik, diesen Problemen zu begegnen. Der Mangel an Wurst erschien dabei wie ein Synonym für die Nichterfüllung des Versorgungsauftrages der Politik. Darüber hinaus wurde politische Kritik vor allem an der Privilegierung bestimmter Personen beim Konsum sowie an der Schlechterstellung der sowjetischen Konsumenten gegenüber den Verbrauchern in kapitalistischen Ländern geübt. Diese Kritik erschien gleichsam als eine Abrechnung mit dem sowjetischen Gemeinwesen und dessen ideologischen Grundlagen. Diese Abrechnung fiel umso ungehaltener aus, da erst in dieser Zeit im Zuge von Glasnost Kritik an Missständen überhaupt möglich wurde. Diese Kritik am Konsumalltag wirkte wie das Ergebnis einer generellen Enttäuschung über ein kommunistisches Experiment, welches die Vision einer egalitären Überflussgesellschaft nicht erfüllen konnte. Das zweite Kapitel widmete sich den politischen Konsumdiskursen, die in einem Zusammenhang mit der Einführung des marktwirtschaftlichen Systems standen. Bereits im Jahr 1990 setzte die Kritik an der allgemeinen Kommerzialisierung ein, welche in alle Lebensbereiche einzudringen und unmenschliche Züge zu tragen schien. Als problematische Folgen dieses Prozess wurden die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, der Ausschluss älterer Konsumenten von der Partizipation an der neuen Konsumwelt sowie das Aufkommen der Pornoindustrie angeführt. Die den Übergang zur Marktwirtschaft begleitende Konsumkrise bedingte auch die Idealisierung des Konsumstandards der Vergangenheit als Topos in der Karikatur. Auch wenn dieser Diskurs der Krise ab Mitte
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der 1990er Jahre in der Karikatur nicht mehr auftauchte, so erhielt sich diese Bewertung des Wandels bei einer Mehrheit der Menschen in Russland weiterhin. Die konsumtive Sphäre spielte daher eine wesentliche Rolle bei der Bewertung des allgemeinen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Umgestaltungsprozesses. Konsum blieb in den 1990er Jahren ein politisches Problem, allerdings war nun nicht mehr klar, gegen wen genau eine solche Kritik an den beobachteten Missständen gerichtet werden konnte. Das Abklingen der politischen Konsumdiskurse der Marktwirtschaft im Verlauf der 1990er Jahre lässt sich daher als Ausdruck einer allgemeinen Adaption an die neue Logik des Konsums sowie des Systems an sich begreifen. Im dritten Kapitel wurde untersucht, in welches Verhältnis sowjetische Symbole und Konsum während des Übergangs vom Plan zum Markt gestellt wurden. Die Symbole des sowjetischen Gemeinwesens dienten nämlich gleichsam als Projektionsfläche für die Veränderungen des Konsums. Während allerdings in den letzten Jahren der Sowjetunion diese Elemente als ein Gegensatz zum Konsum bezeichnet wurden, so brachte man während der 1990er Jahre damit die Überkommenheit alter Wertvorstellungen im Zuge der allgemeinen Kommerzialisierung zum Ausdruck. Das vierte Kapitel untersuchte schließlich, welche normativen Haltungen gegenüber dem Konsum an sich sowie gegenüber damit einhergehenden Praktiken und Verhaltensweisen während des Übergangs vom Plan zum Markt vorherrschten und wie sich jene veränderten. Sowohl während der 1980er als auch während der 1990er Jahre boten eine große Neigung bestimmter Personen zu Reichtum und materiellen Besitztümern sowie demonstrativer Konsum Anlass zur Skepsis, die in der Karikatur geäußert wurde. Es erhielt sich in dieser Zeit die Unterstellung, dass Statusdemonstration über Konsum und Kriminalität in einem Zusammenhang stehen. Neu waren die Vertreter des demonstrativen Konsums, nämlich die neuen Unternehmer am Ende der 1980er Jahre und die „Neuen Russen“ während der 1990er Jahre. Die Kritik an „kleinbürgerlichen“ Konsumpraktiken in den 1980er Jahren erschien vorrangig als ein Ergebnis normativer Vorstellungen, die dem sowjetischen Konsummodell inhärent waren; die Kritik am demonstrativen Konsum während der 1990er Jahre lässt sich als Ergebnis der Tradierung alter Deutungsmuster und Wertvorstellungen sowie der Kommerzialisierung und Ausdifferenzierung beim Konsum deuten. In den in diesem Abschnitt untersuchten „Konsumdiskursen“ wurde der Wandel beim Konsum, der durch die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Veränderungsprozesse induziert wurde, nachvollzogen. Verschiedene Prägungen und Vorstellungen aus sowjetischer Zeit
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bestanden dabei fort. Die diskursive Auseinandersetzung über Anspruch und Wirklichkeit des planwirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen Modells kulminierte gleichsam in der Beschäftigung mit den realen Ausprägungen in der Sphäre des Konsums.
K O N S U M I N N O V AT I O N E N
Dieser Teil befasst sich mit wesentlichen Neuerungen des Konsums im Untersuchungszeitraum, die hier als „Konsuminnovationen“ bezeichnet werden. Die Darstellung beschränkt sich auf jene zwei Aspekte des Konsums, in denen es im Zuge des Übergangs vom Plan zum Markt zu zentralen Veränderungen kam: Die politische und wirtschaftliche Öffnung erweiterte das Angebot an ausländischen Waren. Im ersten Kapitel dieses Teils wird daher untersucht, wie sich die Herkunft des Warenangebots, die Präferenzen der Verbraucher für und die Diskurse über die Herkunft von Gütern wandelten. Die Einführung eines marktwirtschaftlichen Systems machte die Vermarktung von Produkten für die Anbieter zu einer unerlässlichen Notwendigkeit. Das zweite Kapitel dieses Teils widmet sich folglich den Veränderungen des Marketings. Wenn sich diese beiden Phänomene konzeptionell sehr gut unterscheiden lassen, so traten die „Konsuminnovationen“ in der Praxis oft in Kombination auf. Waren es in den 1990er Jahren insbesondere ausländische Firmen, die ihre Produkte elaboriert vermarkteten.
Ko n s u m z w i s c h e n V e r w e s t l i c h u n g u n d Na t i o n a l i s i e r u n g Güter dienen den Konsumenten nicht nur zu einem bestimmten funktionalen Verwendungszweck wie etwa dem Stillen von Hunger. Sie werden auch deswegen gekauft, weil sie mit Bedeutungen aufgeladen sind und somit zu Zeichen werden, die ein emotionales oder soziales Verlangen
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der Käufer erfüllen können.428 Die Zuschreibungen zur nationalen oder regionalen Herkunft eines Produktes sowie dessen Rezeption als globale oder lokale Ware machen ein Produkt wesentlich aus.429 Die MarketingLehre spricht bezüglich der Bedeutung der Herkunftsländer für die Konsumenten von „Country-of-Origin-Effekten“. 430 Die Herkunft und die darauf rekurrierenden Sinndeutungen lassen sich als ein spezifischer Teil der Quellen bezeichnen, aus denen Produzenten wie Konsumenten bei der Kreation von Gütern mit Bedeutungen schöpfen. Während der letzten Jahrzehnte ließen sich weltweit eine zunehmende internationale Verflechtung in politischer und ökonomischer Hinsicht und, damit einhergehend, ein steigender Austausch von Menschen, Geld, Gütern, Informationen und Ideen über nationale und lokale Grenzen hinweg feststellen.431 Unter den Bedingungen dieser „Globalisierung“ vergrößert und verändert sich der Vorrat, aus dem sich die Bedeutungen, die Produkten zugeschrieben werden, speisen. Für die Menschen ergibt sich die Notwendigkeit, in ihrer Rolle als Konsumenten neue Interpretations- und Aneignungsaufgaben zu bewältigen.432 Der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft im östlichen Europa und der Sowjetunion ging mit massiven Veränderungsprozessen einher, infolge derer diese Länder zu Teilnehmern am globalen Austausch von Gütern, Geld, Informationen, Menschen und Ideen wurden, was deren bis dahin institutionell verankerte transnationale Zusammenarbeit ersetzte und die Rolle der Sowjetunion als zweites Zentrum in der Welt neben den USA beendete.433 Dies zeigte sich auch beim Konsum. 428 Vgl. Douglas, Mary/Isherwood, Baron: The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption, London/New York 21996 [1979], S. 3647. 429 Vgl. Miller, Daniel: Coca-Cola. A black sweet drink from Trinidad, in: ders. (Hg.): Material cultures. Why some things matter, Chicago 1998, S. 169-187, hier: S. 169-172, 184-186. 430 Vgl. Country-of-Origin-Effekte, in: Bruhn, Manfred/Homburg, Christian (Hg.): Gabler Lexikon Marketing, Wiesbaden 22004 [2001], S. 136. 431 Vgl. Appadurai, Arjun: Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy, in: Featherstone, Mike (Hg.): Global Culture. Nationalism, globalization and modernity, London/Thousand Oaks/New Delhi 81996 [1990], S. 295-310, hier: S. 296-301; Featherstone, Mike/Lash, Scott: Globalization, Modernity and the Spatialization of Social Theory. An Introduction, in: Featherstone, Mike/Lash, Scott/Robertson, Roland (Hg.): Global Modernities, London/Thousand Oaks/New Delhi 1995, S. 1-24, hier: S. 1. 432 Vgl. Howes, David: Introduction. Commodities and cultural borders, in: ders. (Hg.): Cross-cultural consumption. Global markets, local realities, London/New York 1996, S. 1-16, hier: S. 1-8. 433 Vgl. zum parallelen Phänomen von Amerikanisierung und Sowjetisierung auch: Jarausch, Konrad/Siegrist, Hannes: Amerikanisierung und
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Vor diesem Hintergrund geht dieses Kapitel nun der Frage nach, wie sich während des Übergangs vom Plan zum Markt die Herkunft des Warenangebots und die Präferenzen der Verbraucher für sowie die Diskurse über die Herkunft von Waren veränderten. Zunächst wird ein Blick auf die Bedeutung der Herkunft eines Produktes für die sowjetischen Konsumenten geworfen. Dann wird untersucht, wie sich die Warenwelt im Zuge der politischen Öffnung gegenüber dem Westen in den 1990er Jahren veränderte. Dabei wird auf das wichtige Ereignis der Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau eingegangen. Im Folgenden wird analysiert, wie sich die Bewertung ausländischer und einheimischer Produkte während der ersten Jahre der Marktwirtschaft wandelte. Schließlich werden die empirischen Ergebnisse vor dem Hintergrund theoretischer Ansätze zur kulturellen Globalisierung diskutiert.434
Herkunft als Unterscheidungskriterium Das Herkunftsland eines Produktes ist stets ein Kriterium für die Konsumenten. Da sich die sowjetischen Konsumenten ansonsten einer an Unterscheidungsmerkmalen armen Produktwelt gegenüber sahen, war dieses Kriterium für sie ein umso wichtigeres. Außerdem beförderte die ideologische Fundierung des sowjetischen Gemeinwesen, gemäß welcher die Produktion Vorrang vor dem Konsum hatte, einen solchen Blick auf die Herkunft der Waren: Da Konsumgüter fast ausschließlich in staatlichen Betrieben hergestellt wurden, kam eine Identifikation mit dem sowjetischen Gemeinwesen der Identifikation mit den Produkten der sowjetischen Volkswirtschaft gleich.435 Die tatsächliche Einstellung der sowjetischen Konsumenten bezüglich des Herkunftslands von Produkten entsprach in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre allerdings nicht einer solchen Vorstellung. In mehreren Passagen des Konsumromans „Die Schlange“ von Wladimir Sorokin lässt sich ein großes Interesse der Verbraucher am HerSowjetisierung. Eine vergleichende Fragestellung zur deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte, in: dies. (Hg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt/M./ New York 1997, S. 1146. 434 Vgl. Althanns, Luise: Verwestlichung, Nationalisierung, Globalisierung – Konsum im Übergang vom Plan zum Markt in Russland, in: Europa Regional 16 2/2008, S. 63-73. 435 Vgl. Humphrey, Caroline: Creating a culture of disillusionment. Consumption in Moscow, a chronicle of changing times, in: Miller, Daniel (Hg.): Consumption. Critical concepts in the social sciences. Volume II: The history and regional development of consumption, London/New York 2001, S. 223-248, hier: S. 223.
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kunftsland einer Ware feststellen. Vom Herkunftsland werden Zuschreibungen zu Waren abgeleitet: „Lena, es sind schwedische, hörst du?“ – […] – „Aber welche Marke [wörtlich: Firma] wissen Sie nicht?“ – „Damit kenne ich mich nicht aus.“ – „Schade ...“ – „Und welche Farbe?“ – „Dunkelblau, gewöhnlich.“ […] – „Im GUM hat es vor einer Woche amerikanische gegeben.“ – „Na, davon kommen nur wenige auf den Markt.“ – „Schwedische sind sowieso besser. Sie sind so weich, angenehm.“ – „Marke [Firma] bleibt Marke [Firma].“436 Bezeichnungen wie „finnische Anzüge“, „deutsche Schuhe“ oder „französische Schuhe“ waren für die sowjetischen Konsumenten gebräuchliche Attribute von Waren. Aus der Darstellung einiger Karikaturen aus den Jahren 1985 bis 1991 ist zu entnehmen, dass „importiert“ ein gebräuchliches, positives Attribut für Produkte darstellte und damit eine binäre Opposition zu „einheimisch“ bildete. Diese Karikaturen konstatieren eine allgemeine Präferenz der Verbraucher für ausländische Waren und kritisieren sie ironisierend, was zumindest bei den Beispielen von Mitte der 1980er Jahre einen politisch-agitatorischen Hintergrund hat: Ein Vogel fragt eine Vogelfrau, ob sie denn nicht einen importierten Kaugummi möchte, wobei er ihr einen Wurm anbietet.437 Ein Handwerker hält einer Frau eine überdimensionierte Muschel an der Tür hin mit den Worten „Sie haben ein importiertes Waschbecken bestellt? ...“438 Hier wie auch in anderen Beispielen439 wird eine Ware zu etwas Besonderem aufgrund ihres „importierten“ Charakters. Der Gebrauchswert importierter Waren wird hierbei nicht als besser dargestellt, sondern die positive Bedeutungsgabe beruht allein auf ihrer exotischen Anmutung. Die Anmutung importierter Waren für die sowjetischen Verbraucher bestand demnach teilweise in realen Merkmalen dieser Waren und teilweise in rein arbiträren Zuschreibungen. Die Menschen in der Sowjetunion brachten Waren gemäß der Wertschätzung, die sie deren Herkunftsland zusprachen, in eine Rangordnung. An erster Stelle dieser Hierarchie standen Waren aus den kapitalistischen Ländern: „Waren aus dem Westen waren ein Traum für die Mehrheit der Menschen in der Sowjetunion, vor allem jugendlichen oder mittleren Alters.“440 Erhältlich waren westliche Konsumgüter vorrangig 436 437 438 439
Sorokin, Vladimir: Oered’, Moskau 2002 [1985], S. 27f. Krokodil 17/1985, S. 15 (R. Drukman). Krokodil 31/1986, S. 9 (A. Pomazkov). Krokodil 7/1987, S. 3 (A. Pomazkov); Krokodil 8/1987, S. 12 (A. Pomazkov); Krokodil 21/1991, S. 7 (R. Drukman); Krokodil 1/1991, S. 16 (S. Bogaev, J. Stepanov [Thema]). 440 Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 14.6.2006.
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über das System der staatlichen Devisenläden, über die Verteilung an die Konsumenten an ihren Arbeitsstätten, durch Mitbringsel aus dem Ausland oder bei Spekulanten. In so genannten „Jubiläums-Jahren“ wie beispielsweise anlässlich des 50. Jahrestags der Oktoberrevolution oder der Olympiade im Jahr 1980 in Moskau wurden mit staatlichen Währungsreserven westliche Güter eingekauft, die dann zumindest teilweise in den staatlichen Handel gelangten. Der Konsum dieser Waren war vorrangig auf privilegierte Kreise beschränkt. Unter den durchschnittlichen Verbrauchern stellten Konsumerfahrungen mit westlichen Waren eine Seltenheit dar. Die Verbraucher in der Sowjetunion waren über westliche Konsumgüter schlecht unterrichtet. Informationen erhielten sie aus ausländischen Katalogen, Zeitschriften oder Filmen.441 Westliche Konsumgüter hatten in der Sowjetunion den Rang von Luxusgütern, da sie vornehmlich gesellschaftlichen Eliten vorbehalten waren, ihr Erwerb eine komplexe Angelegenheit darstellte und ihnen eine hohe Symbolkraft bei der Übermittlung sozialer Botschaften zukam.442 Nicht annähernd so stark, aber dennoch überdurchschnittlich begehrt waren Produkte aus den sozialistischen Ländern, vor allem aus Jugoslawien, aber auch aus der DDR und Polen. Hohes Ansehen genossen unter den Verbrauchern zum Beispiel Frucht- und Obstkonserven aus Bulgarien und Ungarn, Kosmetik aus Polen, Fleischkonserven, Spielzeug und elektrische Kleintechnik aus der DDR, Kleidung und Schuhe aus der Tschechoslowakei, der DDR, Ungarn und Polen. Auch diese Waren gelangten nur selten in den freien Handel, sondern wurden zumeist über betriebliche Bestellsysteme verteilt. Waren aus der Sowjetunion kamen bei den sowjetischen Verbrauchern in der Hierarchie der Herkunft erst nach den Waren aus den anderen sozialistischen Staaten. Der multinationale Charakter der Sowjetunion zeigte sich auch beim Konsum: Die Verbraucher unterschieden nämlich innerhalb dieses Vielvölkerstaates bezüglich der Herkunft. So genossen Waren aus den baltischen Republi441 Vgl. Althanns, Luise: Markenbewusstsein in Russland, Diplomarbeit Universität Passau 2003, S. 20-23; Evstaf’ev, Vladimir/Pasjutina, Evgenija: Istorija rossijskoj reklamy. 1991-2000, Moskau 2002, S. 148; Juri Poletajew, Lewada-Centr, 16.5.2006; Alexander Demidow, GfK RUS, 23.5.2006; Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 14.6.2006. 442 Vgl. Appadurai, Arjun: Introduction. Commodities and the politics of value, in: ders. (Hg.): The social life of things. Commodities in cultural perspective, Cambridge et al. 1986, S. 1-63, hier: S. 38. Die hohe Symbolkraft westlicher Güter führte im sozialistischen Rumänien zur Praxis, deren leere Verpackungen oder Behältnisse zu anderen Zwecken zu nutzen bzw. sie als ästhetische Objekte zur Schau zu stellen. Vgl. Chelcea, Liviu: The Culture of Shortage during State-Socialism. Consumption Practices in a Romanian Village in the 1980s, in: Cultural Studies 16 1/2002, S. 16-43, hier: S. 37.
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ken besonderes Ansehen. Schließlich ergänzten Importe aus Ländern der Dritten Welt wie Kaffee oder Orangen die sowjetische Warenwelt.443 Ein weiteres Element der sowjetischen Warenwelt stellten westliche Markenprodukte dar, die in Lizenz in der Sowjetunion oder in anderen sozialistischen Ländern hergestellt wurden. Ein Beispiel für ein in Lizenz produziertes Markenprodukt aus dem Westen war Pepsi-Cola, ein Erfrischungsgetränk aus den USA. Erstmals wurde Pepsi-Cola den sowjetischen Konsumenten auf der Nationalausstellung der USA in Moskau im Jahr 1959 präsentiert, wobei sich Chruschtschow selbst beim Konsum dieses Getränks ablichten ließ. Ab dem Jahr 1972 wurde PepsiCola in der Sowjetunion verkauft, zunächst als Importware, die gegen Wodka Stolitschnaja im Rahmen eines Barter-Abkommens getauscht wurde. Zwei Jahre später wurde dann in Noworossijsk ein Pepsi-ColaWerk in der Sowjetunion eröffnet und von da an wurde Pepsi-Cola unter Lizenz produziert.444 Mit einem Preis von 45 Kopeken für 0,33 Liter war das Getränk allerdings teurer als einheimische Limonaden.445 Dieses Erfrischungsgetränk, das in der Sowjetunion mit einem kyrillischen Etikett verkauft wurde, lässt sich als ein Element der amerikanischen Konsumkultur erachten, das unter Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten für den sowjetischen Massenkonsum hergestellt wurde.446 Wie Coca-Cola und McDonald’s stellt diese Marke zudem ein Symbol für eine globale Ausbreitung des Angebots von Konsumgütern, die
443 Vgl. Althanns, Luise: Markenbewusstsein in Russland, Diplomarbeit Universität Passau 2003, S. 16-18; Evstaf’ev, Vladimir/Pasjutina, Evgenija: Istorija rossijskoj reklamy. 1991-2000, Moskau 2002, S. 148; Juri Poletajew, Lewada-Zentrum, 16.5.2006; Alexander Demidow, GfK RUS, 23.5.2006; Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 14.6.2006. 444 Vgl. PepsiCola v Rossii (http://www.pepsico.ru/ [1.5.2007]); Stippel, Peter: Der Fall Stolichnaya, in: Absatzwirtschaft 11/2002, S. 16-19, hier: S. 17. 445 Vgl. Evstaf’ev, Vladimir/Pasjutina, Evgenija: Istorija rossijskoj reklamy. 1991-2000, Moskau 2002, S. 148. 446 Das Phänomen Pepsi in der Sowjetunion wurde in einem populären russischen Roman der 1990er Jahre folgendermaßen bewertet: „Es gab eine Zeit, da lebte in Russland tatsächlich eine unbekümmerte junge Generation, die dem Sommer, der Sonne und dem Meer zulächelte – und Pepsi wählte. [...] Der entscheidende Grund dürfte gewesen sein, dass die Ideologen der UdSSR damals immer noch der Meinung waren, es könne nur eine einzige Wahrheit geben. Darum hatte die Generation P eigentlich keine Wahl, und die Kinder der sowjetischen 70er Jahre wählten Pepsi auf die gleiche Art, wie ihre Eltern Breshnew wählten.“ Pelewin, Viktor: Generation P, Berlin 1999 [1999], S. 9.
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westlichen, kapitalistischen Industriegesellschaften entstammen, dar. 447 Mit Pepsi-Cola wurde den Menschen in der Sowjetunion bereits ab den 1970er Jahren eine gewisse Teilhabe an diesem westlich fundierten globalen Konsum ermöglicht. Eine äußerst populäre Westmarke, die in Lizenz in der Sowjetunion hergestellt wurde, war Adidas. Seit den 1960er Jahren war Adidas Sponsor sowjetischer Sportmannschaften. Dieses Sport-Sponsoring zielte allerdings nicht auf die sowjetischen Konsumenten ab, sondern vielmehr auf das Fernsehpublikum im Westen. Mit den olympischen Spielen 1980 in Moskau begann dann die Herstellung von Produkten der Firma Adidas unter Lizenz in der Sowjetunion.448 Die Marke Adidas war in den 1980er Jahren in der Sowjetunion also relativ verbreitet, was aber nicht bedeutete, dass die Produkte dieser Marke für jeden Verbraucher zugänglich waren.449 Im Jahr 1990 gehörte Adidas neben Sony, Ford, Toyota und Mercedes-Benz zu den westlichen Marken, die den sowjetischen Verbrauchern gemäß einer Umfrage eines westlichen Beratungsunternehmens am bekanntesten waren.450 Ausgehend von der Häufigkeit des Zitiertwerdens in der Karikatur der Satire-Zeitschrift „Krokodil“, stellte Adidas mit Abstand die bekannteste Westmarke in der Sowjetunion dar.451 In einer Vielzahl von Karikaturen aus der zweiten Hälfte der 1980er Jahre erscheint der Schriftzug der Marke oder sie wird durch drei Streifen angedeutet. Anhand dieser Karikaturen lässt sich auch erschließen, welche Bedeutungen der Besitz dieser Marke für die Menschen haben konnte. In einer Karikatur werfen drei mit Taschen und Schuhen von Adidas bekleidete Frauen einem schlecht gekleideten Mädchen Schuhe zu: „Und du, Aschenputtel, wirst zum Ball in gläsernen Schuhen gehen …“452 Gläserne Schuhe, im zitierten Märchen Insignie der zukünftigen Königin und Zeichen von Exklusivität, werden hier als nachrangig gegenüber Produkten von Adidas bezeichnet. Schuhe und Accessoires von Adidas besaßen in der Mitte der
447 Vgl. Miller, Daniel: Coca-Cola. a black sweet drink from Trinidad, in: ders. (Hg.): Material cultures. Why some things matter, Chicago 1998, S. 169-187. 448 Dmitri Binewski, Adidas Russland, 22.6.2006. 449 Alexander Demidow, GfK RUS, 23.5.2006. 450 Vgl. o. V.: Der Stern strahlt auch im Osten, in: Absatzwirtschaft 8/1990, S. 12. 451 Die hohe Bedeutung dieser Marke für die Konsumenten bestätigte sich auch in einer qualitativ-empirischen Studie zu Markenwahrnehmung und Markenbewusstsein in sowjetischer und russischer Zeit. Vgl. Althanns, Luise: Markenbewusstsein in Russland, Diplomarbeit Universität Passau 2003. 452 Krokodil 22/1986, S. 11 (E. abel’nik).
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1980er Jahre also einen sehr hohen Statuswert.453 Außerdem wird hier ein beachtliches Markenbewusstsein bei Sportkleidung zumindest bei bestimmten Teilen der Gesellschaft festgestellt. Der hohe Statuswert der Turnschuhe von Adidas in der Sowjetunion führte dazu, dass man sie nicht zum Sport, sondern im Alltag trug.454 In einer Karikatur begründet ein Sportler, der barfüßig läuft und Schuhe von Adidas über den Schultern trägt, dieses Verhalten gegenüber einem anderen: „Ich habe für sie 700 Rubel bezahlt!“455 Der genannte hohe Preis verweist darauf, dass der hohe soziale Wert der Marke Adidas die Praxis des Kaufens und Verkaufens zu spekulativen Preisen beförderte. Produkte der Marke Adidas stellten demnach unter sowjetischen Jugendlichen ein Statussymbol dar, das seinem Besitzer Prestige und Differenzierung aus der Masse der Konsumenten ermöglichte. Die Marke Adidas genoss in den 1980er Jahren in der Sowjetunion einen großen Grad an Aufmerksamkeit und hatte die Aura des Besonderen und Exklusiven, was durch ihren westlichen Hintergrund und die damit verbundenen Konnotationen, Sehnsüchte und Wünsche der Verbraucher bedingt wurde. Generell kamen Lizenzprodukte aus Sicht der Konsumenten nicht an die Qualität importierter Waren heran.456 Bezüglich der Qualität westlicher Markenjeans aus Lizenzproduktion war das Urteil der Menschen in der Konsumfiktion von Wladimir Sorokin daher negativ: „Bei uns hat man das inzwischen auch gelernt.“ – „Na ja, die sind aber schlecht.“ – „Sie werden mit irgendeiner Lizenz gemacht ...“ – „Nein, ich habe geschaut – sie sind in Ordnung.“ – „Das Material von den unseren ist einfach schlecht ...“457 Gegenüber Gütern, die in der Sowjetunion („bei uns“) hergestellt wurden, waren die Verbraucher somit generell skeptisch, selbst wenn diese Waren in Lizenz produziert worden waren. Das Land, in dem die Produktion einer Ware von statten ging, stellte folglich für die Verbraucher ein wesentliches Kriterium dar, um Auskunft über die Qualität eines Produktes zu erhalten. Während in marktwirtschaftlichen Kontexten die Herkunft von Produkten oftmals das bloße Ergebnis arbiträrer Bedeutungszuweisung über Marke und Marketing ist, so stellte die Herkunft im sowjetischen Fall ein Kriterium dar, dem die Konsumenten Bedeutung auch bezüglich objektiver Qualitätsunterschiede zusprachen.
453 454 455 456
Auch: Krokodil 34/1987, S. 16 (S. Vetkin). Dmitri Binewski, Adidas Russland, 22.6.2006. Krokodil 22/1991, S. 11 (V. Lugovkin, M. Vajsbord [Thema]). Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 14.6.2006; Alexander Demidow, GfK RUS, 23.5.2006. 457 Sorokin, Vladimir: Oered’, Moskau 2002 [1985], S. 45.
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Eine Karikatur von 1987 zeigt noch eine Begründung auf, warum Waren aus dem Ausland so interessant für die sowjetischen Verbraucher waren: Ein Mann guckt in eine Kiste mit der Aufschrift „made in“ – ein visuelles Zeichen für ausländische Waren in der Karikatur –,458 was einen anderen zu der Frage verleitet: „Nun, wie ist es dort bei ihnen?“459 Das Interesse der Konsumenten an Waren mit nicht-sowjetischer Herkunft war demnach begründet in deren Aura des Unbekannten und Fremden. Die hier aufgeführten Beispiele von Waren mit einem solchen Hintergrund sollen daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass ausländische und insbesondere westliche Waren kein verbreitetes Element des sowjetischen Massenkonsums waren. Die ihnen entgegen gebrachte Aufmerksamkeit war wesentlich in der Seltenheit der Begegnung begründet. Außerdem stellte die Herkunft von Produkten generell ein wesentliches Bewertungskriterium für die sowjetischen Konsumenten dar.
Verwestlichung der Warenwelt Der Beginn der 1990er Jahre ging in der Sowjetunion und dann in der Russischen Föderation einher mit einem sich verstärkenden Aufkommen westlicher Produkte und Werbung für sie, was eine Folge der politischen und wirtschaftlichen Öffnung gegenüber dem Westen war.460 Von Moskau ausgehend erreichten dieses neue Konsumangebot und das neue Vermarktungswesen zunächst die Millionenstädte, dann andere Zentren und schließlich, wenn überhaupt, die Provinz. Der Einzug der verschiedenen Elemente westlicher Konsumkultur setzte nicht plötzlich, sondern vielmehr schleichend ein. Anders als beispielsweise in der DDR gab es in der Sowjetunion keinen einmaligen Tag, an dem sich der Markt „öff458 Vgl. Krokodil 34/1987, S. 11 (J. erepanov). 459 Krokodil 32/1987, S. 4 (N. Malov). 460 Das vermehrte Aufkommen westlicher Waren am Beginn der 1990er Jahre zeigte auch in den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion deutliche Spuren im Alltag. Die Ausgangslage dieser Nationen unterschied sich allerdings von der im ehedem russischen Teil der Sowjetunion. So war beispielsweise im Baltikum die russische Dominanz unter sowjetischer Fahne vehement als Fremdherrschaft abgelehnt worden. Das Angebot westlicher Waren bot dort die Möglichkeit zu einer nationalen Abgrenzung von einer russisch dominierten Sowjetunion und zum Ausdruck einer Zugehörigkeit zu einem westlichen Europa. Vgl. Rausing, Sigrid: Signs of the new nation. Gift exchange, consumption and aid on a former collective farm in north-west Estonia, in: Miller, Daniel (Hg.): Material cultures. Why some things matter, Chicago 1998, S. 189-213; Keller, Margit: Freedom Calling. Telephony, mobility and consumption in postsocialist Estonia, in: European Journal of Cultural Studies 8 2/2005, S. 217-238, hier: S. 218-220.
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nete“, sondern langsam kamen mehr und mehr westliche Produkte auf den russischen Markt, tauchte Werbung für sie in den Medien und auf den Straßen auf.461 Das Aufkommen westlicher Waren in der Sowjetunion wurde dadurch befördert, dass es ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre für westliche Firmen möglich wurde, sich über Joint Ventures auf dem sowjetischen „Markt“ zu engagieren.462 So kam im Jahr 1987 unter größter Beachtung der Öffentlichkeit die erste sowjetische Ausgabe der „Burda-Moden“ heraus, in der westliche Firmen wie Wella, Otto-Versand und Cartier für ihre Produkte warben.463 Die neuen Visualisierungen des westlichen Konsums veränderten in den 1990er Jahren das Aussehen der Städte. Ab November 1989 befand sich eine sechs Mal zwölf Meter große, bewegte Leuchtreklame für Coca-Cola auf einem Gebäude am Puschkin-Platz im Zentrum von Moskau.464 Am Ende der 1980er Jahre wurden in Moskau Filialen westlicher Kosmetikfirmen wie Estée Lauder eröffnet. Die Verbraucher konnten zu dieser Zeit im staatlichen Handel vereinzelt Zigaretten westlicher Hersteller wie Bond Street, Camel und Chesterfield kaufen.465 Gerade das Prestige-Kaufhaus GUM in Moskau war ein primäres Ziel ausländischer Interessenten. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 1990 wurden dort mehr als 40 ausländische Delegationen bezüglich verschiedenster Fragen zu möglichen Kooperationsformen empfangen.466 Dies alles ereignete sich noch während des Bestehens der Sowjetunion. Im Mai 1992 waren in den Zentren von Moskau und Sankt Petersburg Verkaufsstellen der italienischen Textilfirma Benetton, des Kosmetikherstellers Yves Rocher aus Frankreich, der japanischen Elektromarke JVC, der koreanischen Elektromarke Samsung, der deutschen Kaufhaus-Kette Karstadt
461 Alexander Demidow, GfK RUS, 23.5.2006. 462 Vgl. o. V.: Moskau öffnet sich für westliche Unternehmensbeteiligungen, in: Handelsblatt 8.8.1986, S. 1; von Amerongen, Otto: Deutsch-sowjetische Gemeinschaftsunternehmen. Chance oder Fiktion?, in: Handelsblatt 24.11.1986, S. 11. 463 Vgl. Deckert, Hans-Joachim: Ein Triumph für den Staatsbesuch aus Burda-Land, in: Handelsblatt 5.3.1987, S. 21. 464 Vgl. o. V.: Coca-Cola setzt Leucht-Zeichen im russischen Markt, in: Absatzwirtschaft 1/1990, S. 6. 465 Vgl. Rudskij, L.: Prem’era na ulice Gor’kogo v Moskve, in: Sovetskaja Torgovlja 3/1990, S. 29; Evstaf’ev, Vladimir/Pasjutina, Evgenija: Istorija rossijskoj reklamy. 1991-2000, Moskau 2002, S. 148. 466 Vgl. Central’nyj Municipal’nyj Archiv Goroda Moskvy (CMAM), Fond 474, Opis’ 1: Gosudarstvennyj Universal’nyj Magazin (GUM) (19531990), Delo 884: „Informacija o rabote po obestvleniju nauno-technieskogo sotrudniestva s zarube nymi stranami za pervoe polugodie 1990 g.“.
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sowie des finnischen Warenhauses Stockmann vertreten.467 Dieses Phänomen, dass westliche Marken und Werbung für sie in immer größerem Maßstab auftauchten, wurde im Russland der 1990er Jahre pointiert als „Snickerisierung“ bezeichnet. 468 Snickers und andere Schokoladenriegel wurden nämlich aufgrund ihrer hohen Konsumfrequenz zu einem Symbol für die Auswirkungen der räumlich-territorialen Veränderungen auf den Konsum. Mit dem Satz „Hast du zuviel Snickers gegessen?“ unterstellte man in den 1990er Jahren, dass jemand zu sehr auf westliche Produkte aus war.469 Doch die sowjetischen bzw. russischen Verbraucher erwarben nicht nur Schokolade aus dem Westen. In das Gedächtnis der Menschen prägten sich auch Konsumerlebnisse mit weiteren westlichen Produkten aus dieser Zeit ein. Manche dieser Produkte wie löslichen Kaffee, Joghurt oder Tampons hatte es zuvor nicht oder kaum gegeben. Diese Waren stellten echte Produktinnovationen dar. Die Markennamen einiger neuer Produkte wie Pampers und Tampax fanden daher als Produktbezeichnungen Eingang in die russische Umgangssprache. Die Neuheit anderer westlicher Waren lag in einer als besser erachteten Qualität sowie einer elaborierten Verpackung und einer ansprechenden Anmutung.470 Im Jahr 1994 fragte ein Marktforschungsinstitut in einer russlandweiten, repräsentativen Umfrage, von welchen Produktkategorien die Verbraucher schon westliche Waren gekauft hatten. Die Mehrheit der russischen Konsumenten hatte danach bereits Kleidung und Schuhe (82%), Süßwaren und Kaugummi (76%), Lebensmittel (76%), alkoholische Getränke (68%), Erfrischungsgetränke (65%), Medikamente (55%) und Kosmetika (50%) westlicher Herkunft gekauft. Eine Minderheit hatte Tabak oder Zigaretten (41%), Haushaltsgeräte (37%) oder Unterhaltungselektronik (33%) von westlichen Firmen erworben. Lediglich jeder Fünfzigste konnte sich an keinen Kauf eines westlichen Produktes erinnern.471 Die russischen Verbraucher erwarben also am Beginn der 1990er Jahre am
467 Vgl. Ziesemer, Bernd: Valuta-Läden auf dem Vormarsch, in: Wirtschaftswoche 15.5.1992, S. 144. 468 Vgl. Gorham, Michael: Natsia ili snikerizatsiia? Identity and Perversion in the Language Debates of Late- and Post-Soviet Russia, in: The Russian Review 59 4/2000, S. 614-629. 469 Alexander Demidow, GfK RUS, 23.5.2006. 470 Vgl. Patico, Jennifer: Consumption and Logics of Social Difference in Post-Soviet Russia, Ph.D. Dissertation New York University 2001, S. 223; Althanns, Luise: Markenbewusstsein in Russland, Diplomarbeit Universität Passau 2003, S. 25-28. 471 Vgl. Schulus, Alexej/Demidow, Alexander: Es mangelt vor allem an Geld und Orientierung, in: Absatzwirtschaft 2/1995, S. 110-112, hier: S. 111.
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häufigsten Kleidung und Schuhe sowie Lebensmittel, Schokoladenriegel und Kaugummi westlicher Herkunft. Ein weiteres Charakteristikum dieser Konsumkultur im Wandel war die Praxis vieler westlicher Geschäfte und Restaurants, die am Anfang der 1990er Jahre in den sowjetischen und dann russischen Markt eintraten, für ihre Ware eine Bezahlung in Dollar zu verlangen. Im noch zu sowjetischen Zeiten eröffneten Pizza Hut auf der Gorki-Straße in Moskau mussten die Konsumenten zunächst mit Devisen bezahlen. Zwar war der Besitz von ausländischem Geld in sowjetischer Zeit verboten, doch wurde damit in der letzten Zeit recht frei gehandelt, was eine weitere Widersprüchlichkeit dieser Umbruchsituation darstellte.472 Das Phänomen des Bezahlens in Dollar, das sich auf die Hauptstadt und die größeren Städte beschränkte, endete am 1. Januar 1994, als ein Gesetz nur noch Rubel im Bargeldverkehr erlaubte.473 Nichtsdestotrotz wurden auch in den nächsten Jahren insbesondere bei hochpreisigen Waren, Löhnen oder Mieten Dollar- und später auch Euro-Beträge ausgehandelt bzw. ausgezeichnet, welche dann allerdings in entsprechenden Rubelbeträgen nach aktuellem Kurs bezahlt wurden.474 Wissen über die Konsumenten in der ehemaligen Sowjetunion war auf Seiten der westlichen Anbieter kaum vorhanden. Dies ermittelten die in dieser Zeit neu gegründeten Marktforschungsinstitute westlicher Herkunft. Der erste Auftrag der im Jahr 1991 eröffneten Tochter der deutschen Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in Moskau bestand in der Durchführung einer internationalen Studie für ein Medikament gegen erhöhten Cholesterin-Spiegel für den sowjetisch-russischen Markt. Die Konsumenten wurden nach ihren Konsumgewohnheiten bei Lebensmitteln befragt, die zu einem hohen Cholesterin-Spiegel führen, wie Wurst, Fleisch und Butter. Dies löste große Verwunderung bei den Befragten aus, da eben jene Waren zu diesem Zeitpunkt kaum erhältlich waren. Die zweite Studie dieses Instituts entstand im Auftrag von Sony und widmete sich dem Markt von Videorekordern in Russland. Für die Repräsentanten von Sony erschien es unglaublich, dass es in Moskau, 472 Vgl. Koptev, Sergej/Clark, Nigel/Tkaev, Vladimir/Arakelova, Julia/Semina, Natal’ja/Romanina, Ekaterina: elovenyj marketing, Moskau 2003, S. 23; Humphrey, Caroline: Creating a culture of disillusionment. Consumption in Moscow, a chronicle of changing times, in: Miller, Daniel (Hg.): Consumption. Critical concepts in the social sciences. Volume II: The history and regional development of consumption, London/New York 2001, S. 223-248, hier: S. 228; Alexander Demidow, GfK RUS, 23.5.2006. 473 Vgl. Burckhardt, Christian: Moskau versucht, dem Rubel neuen Glanz zu verleihen, in: Der Tagesspiegel 3.1.1994, S. 4. 474 Dies stellte eine Beobachtung der Jahre 2000 bis 2003 sowie 2006 dar.
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einer Stadt mit zehn Millionen Einwohnern, nur einen Laden gab, der Videorekorder verkaufte.475 Die Verwestlichung der Warenwelt wurde also begleitet von einer mangelhaften Informiertheit westlicher Anbieter und der allgemeinen Konsumkrise.
Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau Die Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau am 31. Januar 1990 war in diesem Zusammenhang ein geschichtsträchtiges Ereignis.476 Bei vielen Menschen prägte sich die Eröffnung dieses Fast-Food-Restaurants als ein Synonym für den allgemeinen Wandel in dieser Zeit schlechthin ein. In der Öffentlichkeit setzte man sich anhand dieses Ereignisses intensiv mit dem Auftauchen westlicher Waren in der Sowjetunion auseinander. Der Gründung dieses Restaurants waren jahrelange Verhandlungen vorausgegangen. Bereits bei den olympischen Spielen in Montreal im Jahr 1976 hatten Repräsentanten von McDonald’s Kanada eine Initiative gegenüber Vertretern der russischen Delegation gestartet. Im April 1988 wurde schließlich ein Vertrag über die Bildung eines Joint Ventures zwischen McDonald’s Kanada und der Moskauer Stadtverwaltung unterzeichnet. Eine neu errichtete Lebensmittelfabrik bei Moskau belieferte das Restaurant. Der Erfolg dieses Restaurants war immens. Am Tag der Eröffnung besuchten 30 000 Personen das Restaurant und warteten bis zu fünf Stunden auf die Bedienung mit Fast Food. Eine so große Anzahl an Besuchern hatte man bis dahin noch bei keiner Eröffnung einer Filiale dieser Gastronomie-Kette in irgendeinem Land gezählt. 477 Diese Konsuminnovation rief unmittelbare Nachahmer hervor. In der Folgezeit imitierten immer wieder verschiedenste Kleinstanbieter in Moskau das Angebot dieser Fast Food-Kette.478 Der Erfolg von McDonald’s wiederholte sich auch in anderen planwirtschaftlichen Kontexten: Am Tag der Eröffnung des ersten McDonald’s in Peking im Jahr 1992 besuchten
475 Alexander Demidow, GfK RUS, 23.5.2006. 476 Vgl. Althanns, Luise: Die Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau, in: Themenportal Europäische Geschichte 2007 (http://www.europa.clioonline.de/2007/Article=227 [26.3.2008]). 477 Vgl. McDonald’s Russland: McDonald’s v Rossii 15 let. McDonald’s in Russia 15th Anniversary, Moskau 2005, S. 4-11; „MAKDONALDS“ V ROSSII (http://www.McDonald’s.ru/index.html?he_id=335 [31.3.2008]). 478 Vgl. Voswinkel, Johannes: Westliche Wunderwaffe. 15 Jahre McDonalds in Moskau brachten Freundlichkeit und Fleisch für alle, in: Zeit.de 2.2.2005 (http://www.zeit.de/2005/06/mcdonalds [31.3.2008]).
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40 000 Menschen dieses Schnellrestaurant, das sich in der Nähe des Platzes des himmlischen Friedens befand.479 Bei der Begeisterung der Konsumenten über McDonald’s muss man sich bewusst machen, dass die westlichen Produkte in einen Markt des Mangels trafen: Die Versorgung der staatlichen Geschäfte mit Lebensmitteln hatte sich in dieser Zeit extrem verschlechtert. Im Mai 1990 wurde in Moskau ein Gesetz erlassen, nach dem sich Kunden beim Einkaufen als Moskauer ausweisen mussten. In dieser Zeit waren Rationierungsscheine für den Erwerb bestimmter Konsumgüter in Moskau wie in der ganzen Sowjetunion notwendig. Wurst und Fleisch stellten die Mangelgüter schlechthin dar. Die Teilhabe an diesem neuen Angebot westlichen Konsums erforderte langes Schlangestehen, was das sowjetische Konsummodell den Menschen zur Genüge abverlangt hatte. Doch diesem Fast-Food-Lokal kam der Reiz des Langersehnten, Begehrten und kaum Erreichbaren, das nun allgemein erhältlich war, zu. McDonald’s kann generell für zwei verschiedene Innovationen stehen. Zum einen lässt sich diese Marke – wie beispielsweise auch Marlboro, Coca-Cola und Pepsi-Cola – als ein Synonym und Symbol für das Phänomen der Globalisierung bezeichnen, das mit einer globalen Ausbreitung des Angebots von originär in westlichen, kapitalistischen Industriegesellschaften verorteten Konsumgütern und deren Bildern einhergeht.480 Die Innovation von McDonald’s stellt in dieser Sicht eine kulturelle dar und beinhaltet eine Vergrößerung des territorialen Raumes, aus dem das Angebot der Konsumgüter entstammt, wie auch eine Erweiterung des Angebots von Sinndeutungen, die in einem Zusammenhang mit der Herkunft stehen. Eine solche Perspektive richtet die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis zwischen der Welt und einem Teil davon bzw. auf das Verhältnis zwischen verschiedenen Teilen der Welt, wobei dieses Verhältnis jeweils in Gütern und deren Konsum manifest wird. George Ritzer vertritt in prominenter Weise eine alternative Deutung dieses Phänomens. McDonald’s steigert danach das Prinzip der Rationalisierung bis hin zur Perfektion und steht damit für eine zunehmende 479 Vgl. Yan, Yunxiang: McDonald’s in Beijing. The localization of Americana, in: Miller, Daniel (Hg.): Consumption. Critical concepts in the social sciences. Volume II: The history and regional development of consumption, London/New York 2001, S. 335-353, hier: S. 335. 480 Vgl. Howes, David: Introduction. Commodities and cultural borders, in: ders. (Hg.): Cross-cultural consumption. Global markets, local realities, London/New York 1996, S. 1-16, hier: S. 3-5; Miller, Daniel: Coca-Cola. A black sweet drink from Trinidad, in: ders. (Hg.): Material cultures. Why some things matter, Chicago 1998, S. 169-187, hier: S. 170, 184186.
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Standardisierung, Effizienz, Vorhersagbarkeit und Kontrolle des Konsums wie auch des gesellschaftlichen Lebens generell.481 Aufgrund des weltweit standardisierten Angebots von McDonald’s entwickelte ein britisches Wirtschaftsblatt in den 1980er Jahren den Big-Mac-Index als alternatives Messinstrument für die Kaufkraft-Parität der verschiedenen Währungen. Die „Entzauberung der Welt“, wie sie Max Weber als kennzeichnend für okzidentale Gesellschaften unter dem Einfluss einer zunehmenden Rationalisierung und Intellektualisierung erachtet hat, 482 erreicht durch McDonald’s eine neue Stufe. Die Innovation von McDonald’s ist dabei eine soziale und beinhaltet ein neues – kritisch bewertetes – Niveau der Rationalisierung in einer Gesellschaft, welche sich in der Produktion und dem Konsum von Speisen zeigt. In einer solchen Perspektive richtet sich der Blick auf die Struktur- und Organisationsprinzipien einer Gesellschaft und deren Folgen für das Individuum. Die Neuheit von McDonald’s in Moskau bestand nun darin, dass ein dezidiert westliches Produkt den Konsumenten als Massenkonsumgut und nicht als Luxusgut präsentiert wurde. Im Moskauer McDonald’s konnten die Kunden nämlich von Anfang an nur mit Rubeln zahlen. Ein Schild in diesem Restaurant wies darauf explizit hin. Die Hamburger von McDonald’s wurden daher als westliches Konsumgut positioniert, das dem gewöhnlichen Konsumenten zugänglich sein sollte. Alt bekannt und vertraut waren hingegen eine rationalisierte Produktion und ein ebensolcher Konsum von Speisen. Die Sowjetunion hatte sich durch eine forcierte Versorgung der Bevölkerung mit Mahlzeiten in öffentlichen Einrichtungen gleichsam ausgezeichnet.483 Neu an diesem ersten McDonald’s in Moskau war also die westliche Herkunft und nicht das Prinzip eines rationellen Konsumangebots. Die Innovation dieses Fast-Food-Lokals war daher vor allem eine kulturelle. McDonald’s stand nämlich stellvertretend für das Aufkommen verschiedenster westlicher Konsumelemente in dieser Zeit. Die Innovation war allerdings auch eine soziale, da hier ein westliches Konsumgut dem gewöhnlichen Verbraucher frei zugänglich gemacht wurde. Westliche Konsumgüter hatten in der Sowjetunion bis zu diesem Zeitpunkt den Rang von Luxusgütern gehabt, McDonald’s hingegen stand für Massen481 Vgl. Ritzer, George: Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt/ M. 1995 [1993], hier: S. 15-39. 482 Vgl. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, Berlin 1984 [1919], S. 16-18. 483 Vgl. Borrero, Mauricio: Communal Dining and State Cafeterias in Moscow and Petrograd, 1917-1921, in: Glants, Musya/Toomre, Joyce (Hg.): Food in Russian History and Culture, Bloomington/Indianapolis 1997, S. 162-176; Rothstein, Halina/Rothstein, Robert: The Beginnings of Soviet Culinary Arts, in: Glants, Musya/Toomre, Joyce (Hg.): Food in Russian History and Culture, Bloomington/Indianapolis 1997, S. 177-194.
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konsum. Als der erste McDonald’s in Moskau eröffnet wurde, hatten bereits die massiven Preiserhöhungen im Zuge der allgemeinen Kommerzialisierung während des Übergangs vom Plan zum Markt eingesetzt. Der Ausschluss breiter Konsumentenschichten vom Konsum, ein weiteres Charakteristikum dieser Zeit, begrenzte daher die demokratisierenden und egalisierenden Effekte von McDonald’s. Die Eröffnung des ersten McDonald’s fand auch in der Öffentlichkeit große Beachtung. Im März 1990 erschien in der Zeitschrift „Krokodil“ eine Titel-Karikatur, welche dieses Ereignis als Ausdruck eines bedenklichen westlichen Einflusses auf Konsum und Kultur bewertete (Abbildung 14). Das in dieser Karikatur gezeichnete Stadtbild entspricht mit der Coca-Cola-Leuchtreklame, den Häusern, den McDonald’s-Emblemen und der Kontur der Statue weitgehend den realen Gegebenheiten des Ortes. Vor dem neuen Schnellimbiss drängen sich Menschenmassen, von den Seiten laufen weitere Menschen hinzu. Auch dies entspricht den damaligen Zuständen.
Abbildung 14: „Moskau ... wie viel kommt in diesem Klang für das russische Herz zusammen!“ 484
484 Krokodil 9/1990, S. 1 (V. Uborevi-Borovskij).
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Die Szene wird in dieser Karikatur aus dem Blickwinkel der PuschkinStatue dargestellt und mit einem Zitat des Dichters gedeutet: „Moskau ... wie viel kommt in diesem Klang für das russische Herz zusammen!“ Diese Verse entstammen Alexander Puschkins Poem „Eugen Onegin“, das jener während der Jahre 1823 bis 1831 verfasste. Dieses Versepos gilt als sein Hauptwerk und beschreibt einen Ausschnitt aus dem Leben eines jungen Mannes aus Sankt Petersburg, der einen Freund im Duell tötet und sich schließlich chancenlos in eine Frau verliebt, deren Liebe er zuvor abgewiesen hat. Der Textausschnitt entstammt dem siebten Kapitel, in dem Eugen Onegin nach Moskau reist. Moskau wird dabei als prächtig, imposant und geschichtsreich beschrieben. Im Angesicht der Stadt wird der Betrachter sich seines Russentums bewusst. In der Folge wird auf den Brand der Stadt während des Angriffs von Napoleons Heer hingewiesen, was als heroische Abwehr des machtgierigen Feindes bezeichnet wird.485 Die Perspektive der Puschkin-Statue auf das Restaurant entspricht zwar den örtlichen Gegebenheiten, ist aber vom Karikaturisten bewusst gewählt. Durch den Blickwinkel der Statue und das Zitat erhält der dargestellte Erfolg des amerikanischen Schnellimbisses McDonald’s in Moskau in der Karikatur eine weitere Bedeutung. Als Bildunterschrift wird der emotionale Ausruf des in Moskau ankommenden Eugen Onegin zitiert, für den Moskau wie ein Synonym für russische Großartigkeit steht. Moskau wird durch die Bezugnahme auf Puschkin vorrangig zu einem Kulminationspunkt russischer Kultur, Tradition und Geschichte. Die Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau wurde folglich in dieser Karikatur in ironischer Weise als Ereignis der russischen Kulturgeschichte bezeichnet. Konsum nach westlichem Vorbild wurde der russischen Kultur gegenübergestellt. Vor dem Hintergrund der textlichen Umgebung des Puschkin-Zitates lässt sich die Eröffnung dieses westlichen Schnellimbisses in Moskau als ein Eroberungsversuch nach Art von Napoleon deuten. Dieser Angriff scheiterte jedoch. Der jahrhundertealte Gegensatz zwischen Westen und Russland, der politisch und geistesgeschichtlich begründet war, wurde in dieser Karikatur für das massive Auftauchen westlicher Konsumgüter im Zuge des Übergangs zur Marktwirtschaft, das im Beispiel von McDonald’s auf den Punkt gebracht wird, bemüht. Die Funktion Moskaus als sowjetische Hauptstadt tritt hingegen in den Hintergrund. Auf der Karikatur ist ein wichtiges Detail des großen McDonald’s-Emblems auf der Hauswand ausgespart. Bis Anfang 1992
485 Vgl. Pukin, Aleksandr: Sobranie soinenij, Tom IV: Evgenij Onegin. Dramatieskie proizvedenija, Moskau 1997 [1823-1831], S. 132f.
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befand sich unter dem mittleren Bogen des „M“ eine sowjetische Flagge mit Hammer-und-Sichel-Symbol, was den rechtlichen Charakter des Restaurants als kanadisch-sowjetisches Joint Venture widerspiegelte.486 Die Karikatur enthält weder diese noch eine andere Anspielung auf den sowjetischen Hintergrund der Szene. Die Ankunft von McDonald’s in Moskau wurde in dieser Karikatur nicht als Ankunft in der Sowjetunion, sondern in Russland gedeutet. Diese Karikatur stellt das Phänomen McDonald’s also dem russischen kulturellen Erbe und nicht dem sowjetischen Konsummodell gegenüber. Hier zeigte sich folglich auch eine kritische Haltung bezüglich der Konsumorientierung und zugleich Kulturlosigkeit der Menschen angesichts des Aufkommens westlicher Konsumgüter. Führt man sich die Situation des allgemeinen Defizits in dieser Zeit vor Augen, so erscheint diese Kritik sehr scharf. Die Vision eines Kulturverfalls als Folge ausländischer Konsumgüter ist keine Eigenheit dieses Kontextes. Im Frankreich der 1950er Jahre wurde das Aufkommen amerikanischer Elemente im Konsum als Ausdruck eines Kulturverfalls durch die „amerikanische Versuchung“ bezeichnet.487 Auch in Westdeutschland sowie anderen europäischen Staaten riefen Konsumgüter amerikanischen Ursprungs wie Coca-Cola Ablehnung von intellektueller Seite hervor.488 Die hier dargestellte Konsumkritik war jedoch nicht explizit gegen Amerika gerichtet, sondern gegen den Westen an sich, was sich auf eine eigene, geschichtlich geprägte Selbstpositionierung Russlands zurückführen lässt. Seit dem 19. Jahrhundert wurde die Abgrenzung Russlands von Europa in prominenter Weise von den so genannten Slawophilen gefordert, was Auseinandersetzungen mit den Westlern, die sich für eine Zugehörigkeit Russlands zu Europa aussprachen, provozierte.489 In einer weiten Interpretation lässt sich in dieser Karikatur somit die Fortschreibung dieses alten slawophilen Standpunktes anlässlich der Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau beobachten. Allerdings erfolgte nun die Abgrenzung nicht mehr von Europa, sondern von einem Westen, der auch Amerika einschloss. 486 Vgl. von Welser-Ude, Edith/von Heiseler, Johannes: Moskauer Ansichten. Eine Stadt im Umbruch, München 1992, S. 64-66. 487 Vgl. Kuisel, Richard: Seducing the French. The Dilemma of Americanization, Berkeley 31997 [1993], S. 103-130. 488 Vgl. Schutts, Jeff: Born Again in the Gospel of Refreshment? CocaColonization and the Re-Making of Postwar German Identity, in: Crew, David (Hg.): Consuming Germany in the Cold War, Oxford/New York 2003, S. 121-150. 489 Vgl. von Schelting, Alexander: Russland und der Westen im russischen Geschichtsdenken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1989, S. 1-78.
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Mit dem Phänomen McDonald’s befassten sich noch weitere Karikaturen aus dieser Zeit. In einer Titelkarikatur vom März 1991 wurde der Gegensatz zwischen russischer Tradition und Kultur auf der einen und amerikanischem Fast Food auf der anderen Seite ebenfalls herausgestellt, doch konkreter auf das Essen bezogen. In einem traditionellen russischen Restaurant bietet ein Kellner einem Mann vor einem reichlich gedeckten Tisch mit traditionellen russischen Gerichten einen Big Mac und eine Pepsi an.490 Hier wird der Gegensatz zwischen aufwendig zubereiteten traditionellen Gerichten und massenhaft produziertem Fast Food in lieblos-pragmatischer Verpackung dargestellt. Essen hatte in Russland traditionell große Bedeutung für das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben und für nationale Befindlichkeiten. 491 Hier fand sich die Meinung, dass amerikanisches Fast Food gegenüber der traditionellen russischen Küche einen Verlust an Esskultur darstellt. Da dieses Beispiel zu einem Zeitpunkt erschien, als es kaum Lebensmittel in den Geschäften gab, und die altertümliche Kleidung der Personen auf eine frühere Zeit hinweist, wurde kein Anspruch auf einen konkreten Realitäts- oder Gegenwartsbezug erhoben. Vielmehr manifestierte sich hier eine generelle Opposition gegenüber den westlichen Einflüssen auf den Konsum und auf die Kultur, für welche die Produkte von McDonald’s als Synonyme gesehen wurden. McDonald’s erschien an anderer Stelle aber auch als ein Kontrapunkt zur Situation des allgemeinen Mangels und Defizits. In einer Karikatur füllt ein Mann große Einmachgläser mit Hamburgern: „Unserer Wirtschaft kann man nicht trauen, man muss sich mit belegten Broten von McDonald’s eindecken!“492 Der Praxis des Hortens von Lebensmitteln infolge des allgemeinen Mangels und des Misstrauens der Verbraucher gegenüber der sowjetischen Volkswirtschaft wurde die in McDonald’s manifestierte Konsumwelt des Westens gegenübergestellt. In einer anderen Karikatur ist eine „McDonald’s Filiale“ zu sehen, die aus einer älteren Verkäuferin und einem Tisch mit kleinen Snacks, einem Abakus sowie Kleingeld besteht.493 Hier wurden die westliche Konsumwelt des echten McDonald’s mit seiner modernen Ausrüstung und seinem jungen Team und die sowjetische Konsumwelt des Mangels, die sich in altertümlicher Rechentechnik, traditionellem Angebot und ältlicher Bedienung zeigt, in eine spannungsreiche Verbindung gebracht. 490 Krokodil 8/1991, S. 1 (V. Poluchin). 491 Vgl. Glants, Musya/Toomre, Joyce: Introduction, in: dies. (Hg.): Food in Russian History and Culture, Bloomington/Indianapolis 1997, S. XIXXVII. 492 Krokodil 13/1990, S. 11 (V. Lugovkin). 493 Krokodil 12/1990, S. 5 (R. Drukman).
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Zudem deutete dieses Beispiel an, dass McDonald’s für Berechenbarkeit, Standardisierung, Effizienz und somit Rationalisierung steht. Die Deutung in diesem Beispiel ähnelte also der prominenten McDonald’sKritik von George Ritzer. All diese Karikaturen enthielten also zwei unterschiedliche Deutungen bezüglich des Phänomens McDonald’s: Einerseits erschien diese Gastronomie-Kette als Verkörperung einer fremden Kultur und eines fremden Lebensstils, welche sich von der russischen Tradition unterscheiden. Andererseits war sie Ausdruck einer Konsumkultur der Stabilität und Prosperität, die dem Mangel des sowjetischen Konsummodells gegenüberstand. Die diskursive Auseinandersetzung um das Phänomen McDonald’s in der Karikatur beobachtete also die Gleichzeitigkeit von Defizit auf der einen und dem Aufkommen westlicher Konsumgüter auf der anderen Seite am Anfang der 1990er Jahre und bezeichnete sie als ein Charakteristikum des Konsums in dieser Zeit. Die Eröffnung des ersten McDonald’s erzeugte demnach zwar ähnliche Beachtung wie in anderen Kontexten, doch die vorherrschenden historischen Umstände prägten die Deutung dieses Phänomens. Das große Interesse der Konsumenten an diesem ersten McDonald’s in Moskau, die Beachtung dieses Phänomens in der Öffentlichkeit wie auch die Kritik daran lassen dieses Ereignis als typisches Initialmoment der Globalisierung im Felde des Konsums mit umfassenden kulturellen Konsequenzen erscheinen. Die Eröffnung dieses ersten McDonald’s in Moskau erfolgte zwei Jahre vor Auflösung der Sowjetunion und der allgemeinen Freigabe der Preise.
Konsumnationalismus Die Herkunft eines Produktes blieb in den 1990ern für die Konsumenten eine wichtige Kategorie bei der Bewertung von Konsumgütern. Diese Disposition der Verbraucher ging einher mit einer Warenpräsentation, welche das Herkunftsland besonders hervorhob: Die Herkunft von Lebensmitteln und industriellen Konsumgütern – gleichwohl russischer oder ausländischer Provenienz – wurde oftmals wie der Preis als eine notwendige Angabe zur Ware behandelt und bei der Präsentation der Ware deutlich angegeben.494 Die Formulierungen in den im Folgenden herangezogenen Studien der Konsumforschung zu diesem Thema und 494 Diese Beobachtung machte ich auf Märkten und in Geschäften in den Jahren 2001 und 2002 in Moskau und kleineren Ortschaften. Vgl. auch: Patico, Jennifer: Consumption and Logics of Social Difference in PostSoviet Russia, Ph.D. Dissertation New York University 2001, S. 230232.
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auch andere Quellen weisen darauf hin, dass die binäre Opposition aus sowjetischer Zeit zwischen einheimischen und importierten Konsumgütern während der 1990er Jahre in der russischen Sprache fortbestand. Auch das Phänomen der Hierarchisierung von Produkten aus unterschiedlichen Herkunftsländern blieb weiterhin erhalten. Während der 1990er Jahre gelangten nämlich nicht nur vermehrt westliche Waren auf den sowjetischen bzw. russischen Markt, sondern auch Produkte aus Ländern wie China, Korea oder der Türkei, die zwar billig waren, aber von den Verbrauchern als qualitativ minderwertig beurteilt wurden. Dass diese Ware dennoch anfangs großen Absatz fand, wird begründet mit dem allgemeinen Mangel, der Neuartigkeit des Angebots und der Präsentation sowie mit dem noch nicht an das neue Angebot adaptierten Konsumwissen der Verbraucher. In der Bewertung der Verbraucher rangierten Produkte aus diesen Ländern folglich hinter denen aus Europa oder Amerika.495 Ein Allgemeinplatz in diesem Zusammenhang ist jener der grenzenlosen Akzeptanz westlicher Konsumgüter durch die Konsumenten am Beginn der 1990er Jahre. Dieses Bild vernachlässigt jedoch die ökonomischen Rahmenbedingungen und verdeckt Unterschiede zwischen den verschiedenen Produktbereichen. Vielleicht entspricht ein solches Bild vorrangig der Erwartungshaltung westlicher Kommentatoren, dass nämlich die Menschen aus den grauen Ostblockstaaten die in Werbung und Produkten manifestierten bunten Bilder des Westens begehren mussten. Die extreme Versorgungskrise der Jahre 1989 bis etwa 1993 bildete den Hintergrund für das Aufkommen westlicher Waren für den Massenkonsum. Die Konsumgüter aus dem Westen trafen somit auf „hungrige“ Verbraucher und waren zunächst kaum einheimischer Konkurrenz ausgesetzt. Die sowjetischen Konsumgüter waren außerdem zumeist keine Markenprodukte. Bezeichnung und Hersteller standen in keinem eindeutigen Zusammenhang. Sowjetische Produkte konnten daher die Wünsche der Konsumenten nach sozialer Differenzierung und Sicherheit der Orientierung nicht adäquat befriedigen. Dies stellte einen klaren Wettbewerbsnachteil gegenüber westlichen Markenprodukten dar.496 Generell begrenzten in dieser Zeit die finanziellen Restriktionen der Menschen den Konsum des westlichen wie einheimischen Angebots. Angebracht erscheint in diesem Zusammenhang eine differenzierte Betrachtung nach Produktbereichen. Ob es bei Lebensmitteln je eine eindeutige Präferenz für importierte Produkte gab, ist fraglich. Eine große Neugier gegenüber Marken wie Snickers und McDonald’s be495 Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 14.6.2006; Juri Poletajew, Lewada-Zentrum, 16.5.2006. 496 Vgl. S. 223-229.
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stand sicherlich am Beginn der 1990er Jahre. In diesem Zusammenhang von Präferenzen zu sprechen, macht jedoch keinen Sinn, da Präferenzen ja ein stabiles Angebot und auch fundierte Konsumerfahrungen mit den aktuell angebotenen Produkten voraussetzen. Weder das eine noch das andere war in diesem Kontext vorhanden. Außerdem unterscheiden sich Schokoladeriegel wie Snickers und Fast Food von McDonald’s fundamental von Grundnahrungsmitteln in ihrer sozialen und kulturellen Bedeutung für die Konsumenten. Bereits im Jahr 1994 ergab eine Umfrage von WZIOM, dass die Russen mehrheitlich (71%) einheimische Lebensmittel bevorzugten, wenn sie Preis und Qualität der Waren berücksichtigten.497 Ausländische Produkte hatten also ihren generellen Nimbus schnell verloren. Im Verlauf der 1990er Jahre verbesserte sich dann die Einstellung der Verbraucher in Bezug auf russische Lebensmittel noch weiter. Gemäß einer weiteren Untersuchung vom Mai 1996 gaben im gesamten Russland drei Viertel (75%) und in Moskau sowie St. Petersburg zwei Drittel (64%) einheimischen Lebensmitteln gegenüber importierten den Vorzug. Im Jahr 2000 äußerte dann bei einer russlandweiten Befragung eine überwiegende Mehrheit (88%), dass einheimische Lebensmittel besser als importierte wären (Tabellen 69, 70 und 71). Die Hinwendung der russischen Konsumenten zu einheimischen Lebensmitteln wurde befördert durch eine verbesserte Qualität und Vermarktung dieser Produkte. Außerdem herrschte die Meinung vor, dass einheimische Lebensmittel gesünder und natürlicher wären, weil sie weniger Konservierungsstoffe und chemische Zusätze enthielten.498 Nahrungs- und Lebensmittel sind besondere Konsumgüter. Nationalen bzw. regionalen Speisen kann eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung kultureller Identität in Abgrenzung von anderen, fremden Gesellschaften und Gruppen zukommen, insbesondere wenn kulturelle
497 Vgl. Kovaleva, Natal’ja: Potrebitel’skij rynok, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 2/1995, S. 3033, hier: S. 32. 498 Vgl. GfK RUS: Russian Consumer Attitude towards Local vs. International brands and advertising, Moskau 2000 (http://mr.gfk.ru/public/PRE SENTATIONS/PPT/Russian%20Consumer%20Attitudes%20towards%2 0Local%20vs.%20International%20Brands.ppt [1.4.2008]); Humphrey, Caroline: Creating a culture of disillusionment. Consumption in Moscow, a chronicle of changing times, in: Miller, Daniel (Hg.): Consumption. Critical concepts in the social sciences. Volume II: The history and regional development of consumption, London/New York 2001, S. 223248, hier: S. 234f; ukovskaja, Julia: Priel, uvidel… i kupil!, in: Komsomol’skaja Pravda 25.4.2006 (http://www.kp.ru/daily/23696/52401/ [1.4. 2008]).
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Umbrüche das Selbstverständnis der Menschen herausfordern.499 Allerdings stellt das Konzept lokaler Speisen eine gesellschaftliche Konstruktion dar, da Speisen, die als national oder regional erachtet werden, oftmals das Ergebnis kultureller und wirtschaftlicher Austauschbeziehungen in der Vergangenheit sind.500 So auch in Russland, wo Essen traditionell eine große Bedeutung für das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben hatte501 und wo ein Erbe der Sowjetunion in einem bunten, europäisch und asiatisch gedeckten Esstisch bestand. Ab Mitte der 1990er Jahre hatten die russischen Konsumenten die freie Wahl zwischen einheimischen und importierten Lebensmitteln, außerdem spielte das Motiv Neugier keine Rolle mehr. Dass einheimische Lebensmittel bevorzugt wurden, lässt sich als ein Versuch deuten, die kulturelle Umbruchserfahrung dieser Zeit zu bewältigen. Ein solches Verhalten erscheint auch als Ausdruck eines universellen kulturellen Musters. Vielerorts lässt sich eine besondere Verbundenheit der Menschen mit Essen, das als einheimisch empfunden wird, beobachten. Einheimische Medikamente wurden im Jahr 2000 von den Menschen in Russland ebenfalls sehr geschätzt. Fast zwei Drittel der Konsumenten gaben zu diesem Zeitpunkt außerdem russischen Filmen (63%), russischer Literatur (65%) und Musik (60%) den Vorzug vor importierten Kulturerzeugnissen. Die Menschen fanden also ihre Wünsche nach Ästhetik, Unterhaltung und Reflektion vorrangig in den kulturellen Erzeugnissen russischer Produzenten befriedigt (Tabelle 71). Bei Kleidung und Schuhen und bei langlebigen Konsumgütern wie technischen Geräten fand eine vergleichbare Entwicklung indessen nicht statt. Die Verbraucher bevorzugten hierbei die 1990er Jahre hindurch importierte Produkte. Die Konsumenten aus den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg favorisierten dabei ausländische Erzeugnisse jeweils überdurchschnittlich. Im Jahr 2000 hielten zwei Drittel (63%) importierte technische Geräte für besser, ein Fünftel (20%) sprach sich für einheimische Produkte aus. Auch bei Kleidung votierten
499 Vgl. Zingerle, Arnold: Identitätsbildung bei Tische. Theoretische Vorüberlegungen aus kultursoziologischer Sicht, in: Teuteberg, Hans/Neumann, Gerhard/Wierlacher, Alois (Hg.): Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, Berlin 1997, S. 69-86, hier: S. 83-86. 500 Vgl. James, Allison: Cooking the books. Global or local identities in contemporary British food cultures?, in: Howes, David (Hg.): Cross-cultural consumption. Global markets, local realities, London/New York 1996, S. 77-92, hier: S. 78-80. 501 Vgl. Glants, Musya/Toomre, Joyce: Introduction, in: dies. (Hg.): Food in Russian History and Culture, Bloomington/Indianapolis 1997, S. XIXXVII.
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zu diesem Zeitpunkt mehr Menschen für importierte Produkte (42%) als für einheimische (33%) (Tabellen 69, 70 und 71). Eine solche Haltung ist auf schlechte Erfahrungen mit sowjetischen Konsumgütern in der Vergangenheit sowie auf einen qualitativen Vorsprung vieler importierter Produkte zurückzuführen. Während der 1990er Jahre wurden langlebige Konsumgüter und Kleidung jedoch nur von einer Minderheit regelmäßig gekauft. Folglich war eine solche Einstellung zu einheimischen und importierten langlebigen Konsumgütern wie auch Kleidungsstücken mehr eine latente Haltung als Ausdruck realer Kaufhandlungen. Vorlieben bezüglich der Herkunft konnten daher bei Kleidung und langlebigen Konsumgütern von den meisten Verbrauchern nicht gelebt – und so auch nicht bestätigt oder revidiert – werden. Einheimische Importierte Ware Ware Lebensmittel Russland gesamt 75 Moskau, 64 St. Petersburg Kleidung und Schuhe Russland gesamt 31 Moskau, 20 St. Petersburg Langlebige Konsumgüter Russland gesamt 27 Moskau, 17 St. Petersburg
Weiß nicht
11 17
14 19
51 59
18 21
50 58
24 25
Tabelle 69: „Wenn man Preis und Qualität der Waren berücksichtigt, welche Ware sollte man dann besser erwerben, eine einheimische oder eine importierte?“ (Mai 1996, Russland/Moskau und Sankt Petersburg)502 502 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: L37. Prinimaja vo vnimanie cenu i kaestvo tovarov, kakie tovary, na va vzgljad, sejas lue priobretat’: oteestvennye ili importnye, esli re’ idet ob osnovnych prodovol’stvennych tovarach?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/1996, S. 78; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: L38. Prinimaja vo vnimanie cenu i kaestvo tovarov, kakie tovary, na va vzgljad, sejas lue priobretat’: oteestvennye ili importnye, esli re’ idet ob osnovnych predmetach ode dy i obuvi?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/1996, S. 78; VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: L39. Prinimaja vo vnimanie cenu i kaestvo tovarov, kakie tovary, na va vzgljad, sejas lue priobretat’: oteestvennye ili importnye, esli re’ idet ob osnovnych tovarach dlitel’nogo pol’zovanija, predmetach doma-
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Nein, die gesamte einheimische Produktion ist schlechter Lebensmittel Medizin Kleidung Schuhe Haushaltswaren Parfümerie Haushaltstechnik Haushaltselektronik Anderes Weiß nicht
Russland gesamt 7
Moskau, St. Petersburg 3
82 30 19 17 15 12 8 3 1 5
92 51 13 9 23 19 3 0 3 1
Tabelle 70: „Stimmen Sie mit der Meinung überein, dass unsere Waren in einigen Produktbereichen generell besser sind als die aus dem Ausland? Falls ja, dann nennen Sie diese Produktbereiche!“ (Mai 1998, Russland/Moskau und Sankt Petersburg, Mehrfachnennung)503
88 44 33
2 26 42
Teils – teils 8 22 20
20
63
9
8
31 12 63 65 60
44 61 14 6 9
10 7 19 21 25
15 20 4 8 6
Einheimische Importierte Lebensmittel Medizin Kleidung, Schuhe Technische Geräte Autos Computer Filme Literatur Musik
Ich weiß nicht 2 8 5
Tabelle 71: „Welche Waren – einheimische oder importierte – sind besser?“ (April 2000, Russland, Mehrfachnennung)504 nego obichoda?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 4/1996, S. 78. 503 Vgl. FOM: Soglasny li vy s mneniem, to po nekotorym vidam tovarov naa produkcija v celom lue inostrannoj? Esli da, to nazovite ti vidy tovarov. (ljuboe islo otvetov), 6.5.1998 (http://bd.fom.ru/report/cat/ societas/market_economy/trade/produce_custom/otechestvennaya_i_imp ortnaya_produktsiya/t8035720 [3.4.2008]). 504 Vgl. Kim, N./Orlova, J.: 04.05.2000. Putin; strachi; reklama: Kak vy sitaete, kakie tovary – oteestvennye ili importnye – v celom lue, esli imet’ vvidu… (http://www.levada.ru/press/2000050401.html [3.4.2008]).
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In der Einstellung zu ausländischen und einheimischen Produkten schlugen sich auch patriotische Befindlichkeiten nieder. Im Herbst 1996 führte die Eröffnung des ersten McDonald’s in Sankt Petersburg zu einer Demonstration jugendlicher Patrioten, die sich gegen diesen Konzern als Symbol des US-amerikanischen Imperialismus aussprachen.505 Vergleicht man diese Reaktion mit der Begeisterung der Verbraucher über die Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau sechs Jahre zuvor, so wird ein grundlegender Einstellungswandel bezüglich der Herkunft von Gütern offenbar. Zudem differenzierte sich die Haltung der Menschen gegenüber Produkten aus dem Westen während der 1990er Jahre aus: Während Güter aus Europa für Zivilisation standen, wurden amerikanische Produkte als Ausdruck eines politischen und kulturellen Imperialismus abgelehnt.506 Konsum stellte im Russland der 1990er Jahre auch ein Politikum dar. Da die einheimische Konsumgüterindustrie wenig konkurrenzfähig war, konnten ausländische Hersteller in der ersten Hälfte der 1990er Jahre rasch Marktanteile gewinnen. Marktstudien schätzten im Jahr 1994 den Anteil ausländischer Konsumgüter am Umsatz auf 40%, in Moskau und Sankt Petersburg sogar auf zwei Drittel.507 Politische Akteure versuchten ab Mitte der 1990er Jahre, der sinkenden Industrieproduktion zu begegnen und die einheimische Industrie durch protektionistische Maßnahmen zu schützen. Diverse Konsumgüter von Lebensmitteln bis hin zu Autos wurden mit zum Teil drastischen Importzöllen belegt. Zudem wurden die Einfuhrmengen bestimmter Güter kontigentiert.508 Diese Politik fand bei den Verbrauchern Unterstützung: Im Februar 1995 verliehen bei einer russlandweiten Studie mehr als die Hälfte der Befragten (57%) ihrer Befürchtung Ausdruck, dass importierte Waren endgültig die Waren aus einheimischer Produktion verdrängen werden. 505 Vgl. Deeg, Lothar: Der Burger im Kampf gegen Kohlsuppe und Buchweizenbrei, in: Der Tagesspiegel 26.1.1998, S. 32. 506 Vgl. Butrin, Dmitrij: Mir Serbii, vojna okorokam!, in: Kompanija 11/1999 (http://www.ko.ru/document.php?id=325 [1.4.2008]); Krokodil 6/1999, S. 2 (V. Nenaev, Vyborg); Patico, Jennifer: Consumption and Logics of Social Difference in Post-Soviet Russia, Ph.D. Dissertation New York University 2001, S. 236-241. 507 Vgl. o. V.: Deutsche Nikoläuse auf dem Schleichweg nach Moskau, in: Der Tagesspiegel 15.12.1994, S. 7. 508 Vgl. o. V.: Russland verdoppelt seine Importzölle, in: Der Tagesspiegel 16.3.1994 S. 12; o. V.: Handelsstreit mit EU und USA, in: Handelsblatt 6.3.1996, S. 8; Ziener, Markus: Protektionismus gewinnt in Russlands Wirtschaft Anhänger, in: Handelsblatt 14.2.1997, S. 8; o. V.: Russland will die heimische Wirtschaft stärker schützen, in: Handelsblatt 10.2.1998, S. 10.
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Die Angst vor einer politischen Begrenzung der Einfuhr und somit Verteuerung importierter Waren war weitaus geringer (29%) ausgeprägt.509 Drei Jahre später war man mehrheitlich (55%) der Meinung, dass es zur Unterstützung der einheimischen Hersteller nötig wäre, die Einfuhr importierter Waren zu begrenzen. 510 Die Konsumenten sahen sich zu dieser Zeit einer Dominanz importierter Produkte in allen Produktbereichen gegenüber. Selbst bei Lebensmitteln, bei denen eine starke Präferenz für russische Produkte bestand, überwog aus Konsumentensicht das Angebot ausländischer Waren. Insbesondere in Moskau und Sankt Petersburg meinten die Verbraucher, in den Geschäften vorrangig Produkte aus dem Ausland zu erblicken (Tabelle 72). Mehr einheimische Lebensmittel Russland 9 Moskau, St. 6 Petersburg Kleidung und Schuhe Russland 3 Moskau, St. 1 Petersburg Langlebige Konsumgüter Russland 4 Moskau, St. 1 Petersburg
Gleich viel von beiden
Mehr importierte
Weiß nicht
21 13
66 79
4 2
9 2
83 94
6 3
9 3
76 91
11 5
Tabelle 72: „Welche Waren gibt es heute mehr im Verkauf – einheimische oder importierte?“ (Mai 1998, Russland/Moskau und Sankt Petersburg)511 509 Vgl. Migdisova, Svetlana/Petrenko, Elena/Zacharova, Tat’jana/Voroncova, Anna/ubukov, Dmitrij: em vye dochody respondentov, tem ae ich trevo it vozmo noe ogranienie vooza importnych tovarov, 24.2.1995 (http://bd.fom.ru/report/cat/societas/market_economy/of19950 705 [3.4.2008]). 510 Vgl. FOM: Inogda vyskazyvaetsja mnenie, to dlja podder ku oteestvennogo proizvoditelja nado ograniit’ vvoz v Rossiju importnych tovarov. Vy soglasny ili ne soglasny s takim mneniem? 6.5.1998 (http://bd. fom.ru/report/cat/societas/market_economy/trade/produce_custom/otech estvennaya_i_importnaya_produktsiya/t8035724 [3.4.2008]). 511 Vgl. FOM: Kak vam ka etsja, tam, gde vy ivete, kakich produktov pitanija v proda e sejas bol’e – oteestvennych ili importnych? 6.5.1998 (http://bd.fom.ru/report/cat/societas/market_economy/trade/pro duce_custom/otechestvennaya_i_importnaya_produktsiya/t8035721 [3.4. 2008]); FOM: A esli govorit’ ob ode de i obuvi, to kakich tovarov v proda e sejas bol’e – oteestvennych ili importnych? 6.5.1998 (http://bd.
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Dieser Protektionismus wurde auf diskursiver Ebene durch Kampagnen, in denen die Konsumenten zum Kauf einheimischer Produkte angehalten wurden, flankiert. Im April 1997 forderte der Präsident Boris Jelzin die russischen Verbraucher durch eine Radioansprache auf, fortan die einheimischen Hersteller verstärkt durch den Kauf einheimischer Waren zu unterstützen und damit der wachsenden Arbeitslosigkeit zu begegnen. Bereits zuvor hatte er angeordnet, dass Staatsbeamte nur noch in russischen Dienstwagen fahren sollten.512 Diese Aufforderung zum Konsumpatriotismus wurde gemäß einer russlandweiten Studie von einem Viertel der Menschen wahrgenommen und ihr Inhalt fand bei über 80% Befürwortung.513 Die Auseinandersetzung um Konsumpatriotismus wurde auch in der Karikatur mehrmals aufgegriffen, was eine hohe Relevanz dieses Themas im Alltagsdiskurs ausweist.514 Der Konsumnationalismus erhielt eine neue Qualität in Folge der Abwertung des Rubels im August 1998, wobei die Menschen zum wiederholten Mal innerhalb weniger Jahre Vermögensverluste und enorme Preissteigerungen hinnehmen mussten. Die Krise führte zu massiven Kaufkraftverlusten der Konsumenten und einer relativen Verbilligung der einheimischen Produkte. Zudem verließ eine Vielzahl der ausländischen Hersteller in der Folgezeit den russischen Markt. Für einen großen Teil der Verbraucher war der Verzicht auf importierte Produkte dann eine Notwendigkeit.515 Insbesondere bei Lebensmitteln, Kleidung und Schuhen sowie auch bei technischen Geräten verzichtete man infolge der Krise auf importierte Waren (Tabelle 73). Die zitierten Studien der Konsumforschung belegen allerdings, dass die Verbraucher einheimische Konsumgüter zumindest in bestimmten Produktbereichen bereits bevorzugten, bevor die ökonomischen Verhältnisse ein solches Verhalten auch erzwangen bzw. ermöglichten. So bekundete die Jahre 1997 bis 2000 hindurch ein beachtlicher Teil der Konsumenten, einheimische
512 513
514 515
fom.ru/report/cat/societas/market_economy/trade/produce_custom/oteces tvennaya_i_importnaya_produktsiya/t8035722 [3.4.2008]); FOM: A esli govorit’ o tovarach dlitel’nogo pol’zovanija, predmetach domanego obichoda, to kakich v proda e sejas bol’e – oteestvennych ili importnych? 6.5.1998 (http://bd.fom.ru/report/cat/societas/market_economy/tra de/produce_custom/otechestvennaya_i_importnaya_produktsiya/t803572 3 [3.4.2008]). Vgl. o. V.: Jelzin ruft zum Kauf russischer Produkte auf, in: Der Tagesspiegel 16.4.1997, S. 5. Vgl. Petrova, Anna/Klimova, Svetlana: Rossijskomu tovaroproizvoditelju – zelenyj svet, 1.5.1997 (http://bd.fom.ru/report/cat/societas/market_ economy/trade/produce_custom/of19971704 [3.4.2008]). Krokodil 12/1997, S. 3 (A. Vasilenko); Krokodil 9/1998, S. 5 (P. Kozi, Vitebsk). Vgl. S. 100-103.
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Waren bevorzugt zu kaufen, und dies dezidiert auch mit der Zielsetzung, die einheimische Industrie zu unterstützen (Tabelle 74).
Lebensmittel Medizin Haushaltswaren Kleidung Schuhe Parfümerie Technik Elektronik Anderes Ich weiß nicht
April 1997 Einheimisch Importiert 93 45 24 19 25 14
April 1999 Einheimisch Importiert 95 30 36 17 35 14
9 6 5 2 1 1 3
10 9 7 2 1 1 1
22 19 12 5 3 5 18
12 11 9 2 1 9 26
Tabelle 73: „Sagen Sie bitte, welche Waren aus einheimischer Herstellung haben Sie im letzten Monat gekauft? Und welche Waren aus importierter Herstellung haben Sie im letzten Monat gekauft?“ (1997/ 1999, Russland, Mehrfachnennung)516
Ich ziehe es vor, einheimische Waren zu kaufen Ich billige den Aufruf des Präsidenten und bin bereit, ihm zu folgen Ich werde die Waren kaufen, deren Qualität und Preis mich zufrieden stellen, unabhängig von ihrer Herkunft Ich bevorzuge Waren, die im Ausland produziert wurden Ich weiß nicht
97 29 12
99 44 12
00 35 12
52
40
47
5
2
2
2
3
4
Tabelle 74: „Der russische Präsident, Boris Jelzin, hat sich seiner Zeit mit dem Aufruf, Waren einheimischer Herkunft zu kaufen, an die Russen gewandt. Mit welchem der folgenden Standpunkte stimmen Sie am ehesten überein?“ (1997/1999/2000, Russland)517 516 Vgl. FOM: Ska ite, po alujsta, kakie tovary oteestvennogo proizvodstva vy pokupali za poslednij mesjac? (ljuboe islo otvetov), 14.4.1999 (http://bd.fom.ru/report/cat/societas/market_economy/trade/otechestvenn ya_i_importnaya_produktsiya/t904301 [3.4.2008]); FOM: A kakie tovary importnogo proizvodstva vy pokupali za poslednij mesjac?, 14.4.1999 (http://bd.fom.ru/report/cat/societas/market_economy/trade/otechestvenn aya_i_importnaya_produktsiya/t904302 [3.4.2008]). 517 Vgl. Kim, N./Orlova, J.: 04.05.2000. Putin; strachi; reklama: Prezident Rossii Boris El’cin v svoe vremja obratilsja k Rossijanam s prizyvom
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Der Konsumnationalismus im Russland der 1990er Jahre lässt sich folglich als ein Krisenphänomen beurteilen. In einem auch von politischen Verantwortungsträgern geförderten Bewusstsein, dass Konsum und Produktion in einem symbiotischen Zusammenhang stehen, versuchten die Verbraucher, mit ihrem Konsumverhalten die Volkswirtschaft und ihr persönliches Einkommen zu unterstützen. Diese betonte Abhängigkeit des Konsums von der Produktion stellte dabei die Tradierung eines sozialistischen Deutungsmusters dar. Ein solcher Konsumpatriotismus erscheint nicht als eine Besonderheit dieses russischen Kontextes, sondern als ein typisches Merkmal des Konsums im Übergang vom Plan zum Markt, der sich vor dem Hintergrund der Globalisierung mit ihren umfassenden Folgen für die Menschen ereignete. Auch in den neuen Bundesländern und in Ungarn ließ sich eine solche Reaktion auf die Gleichzeitigkeit eines massiven Aufkommens von Importen und einer prekären ökonomischen Situation auf individueller und gesamtgesellschaftlicher Ebene beobachten.518 Zieht man hier zudem die Ergebnisse weiterer Studien heran, so lässt sich Konsumpatriotismus auf nationaler wie regionaler Ebene als eine natürliche Reaktion auf Krisen- und Umbruchsituationen deuten. Ein solcher Konsumpatriotismus wurde und wird oftmals von politischen und ökonomischen Akteuren und gesellschaftlichen Eliten bewusst forciert.519 Der Konsumnationalismus in dieser Zeit in Russland war also ein Phänomen, das kulturell sowie politisch und ökonomisch bedingt und gleichsam logische Folge der Umbruchsituation war.
Konsum und kulturelle Globalisierung Im Folgenden werden die empirischen Befunde dieses Kapitels vor dem Hintergrund theoretischer Ansätze zur kulturellen Globalisierung diskutiert. Dabei orientiere ich mich an den Ausführungen zum Verhältnis pokupat’ tovary oteestvennogo proizvodstva. S kakoj iz sledujuich toek zrenija po tomu povodu vy by skoree soglasilis’? (http://www. levada.ru/press/2000050401.html [3.4.2008]). 518 Vgl. Siegrist, Hannes: Konsum und Alltagskultur in den neuen Bundesländern, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V. (Hg.): Ungeschehene Geschichte. Bilanz nach 10 Jahren deutscher Einheit, Schkeuditz 2001, S. 91-109; Müller, Fruzsina: Retro Fashion, Nostalgia and National Consciousness. Success of a Revived Shoe Brand from Socialist Hungary (http://www.nosztalgia.net/cms/index.php?option=com_content&task=vi ew&id=38&Itemid=83 [1.4.2008]). 519 Vgl. Göbel, Eva: Bayern in der modernen Konsumgesellschaft. Regionalisierung der Konsumkultur im 20. Jahrhundert, Berlin 2005, S. 118-122; Gries, Rainer: Produkte & Politik. Zur Kultur- und Politikgeschichte der Produktkommunikation, Wien 2006, S. 51-62, 68-97.
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von Globalisierung und Kultur von John Tomlinson. Dieses Verhältnis weist danach zwei Seiten auf: Einerseits stellt Kultur eine Dimension von Globalisierung dar, andererseits wird Globalisierung in den realen Ausprägungen von Kultur manifest. Sinn und Bedeutung stiftendes Handeln von Menschen hat inzwischen globale Konsequenzen und die Beziehung von Kultur und territorialer Verortung löst sich unter den Einflüssen der Globalisierung, was als Deterritorialisierung der kulturellen Erfahrung bezeichnet wird.520 Konsum ist generell eine Sphäre, in der sich die Folgen der Globalisierung sehr deutlich zeigen. Konsum stellt ein ökonomisches wie kulturelles Phänomen dar und rezipiert daher sowohl die steigende ökonomische Verflechtung, die sich in einem verstärkten Handel mit Waren über lokale und nationale Grenzen hinweg zeigt, als auch die damit einhergehende globale Bedingtheit der Herstellung und Aneignung von Bedeutungen. Die Veränderungen des Konsums in Russland während des Übergangs vom Plan zum Markt lassen sich daher als Neuordnung des Konsums vor dem Hintergrund des weltpolitischen Wandels charakterisieren. Hierbei sind einige Phänomene und Konstellationen, die als charakteristisch für Konsum unter den Bedingungen kultureller Globalisierung bezeichnet werden, auszumachen. Die weltweite Ausbreitung der Kultur des Kapitalismus und die fortschreitende Kommodifizierung kultureller Praktiken werden als Charakteristikum einer bedenklich erachteten Globalisierung, die mit der Entwicklung einer globalen, von westlichen Industriegesellschaften dominierten Kultur einhergeht, bezeichnet. 521 Der Übergang vom Plan zum Markt bestand nun eben in der Einführung einer kapitalistischen Ökonomie in einem vormals planwirtschaftlich organisierten System. Dieser Wandel ging einher mit einer allgemeinen Kommerzialisierung des Lebens und einer Kommodifizierung jeglicher Objekte und Handlungen. In der Sphäre des Konsums zeigte sich diese Kommerzialisierung vor allem in einer neuen Logik des Zugangs zu Konsumgütern und Dienstleistungen nämlich vom Privileg hin zum Geld. Der faktische Ausschluss breiter Schichten vom Konsum und die Etablierung von ausweichenden Praktiken wie Barter und Subsistenzwirtschaft waren Folgen dieser Entwicklung. Die Analyse der Karikaturen des Krokodils ergab, 520 Vgl. Tomlinson, John: Globalization and Culture, Cambridge 1999, S. 131. 521 Vgl. Appadurai, Arjun: Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy, in: Featherstone, Mike (Hg.): Global Culture. Nationalism, globalization and modernity, London/Thousand Oaks/New Delhi 81996 [1990], S. 295-310, hier: S. 295; Tomlinson, John: Globalization and Culture, Cambridge 1999, S. 81-88.
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dass das Motiv der generellen Kommerzialisierung des Lebens einen zentralen Topos der Auseinandersetzung mit dem Wandel in diesen Jahren darstellte.522 Die Untersuchung dieses Mediums lässt also den Schluss zu, dass die Ausbreitung einer westlich begründeten Kultur des Kapitalismus auch in Russland nach dem Übergang zur Marktwirtschaft beobachtet und in ihren Folgen als problematisch für die Menschen kritisiert wurde. Medien und Kommunikationstechnologien mit globaler Reichweite wird große Bedeutung für die Loslösung kultureller Erfahrung von lokaler und territorialer Bedingtheit zugesprochen. Technische Kommunikations-Geräte wie insbesondere der Fernseher vermögen zwischen den Zuschauern und entfernt lebenden Menschen bzw. entfernt stattfindenden Ereignissen eine Verbindung herzustellen.523 Fernseher waren bereits in sowjetischer Zeit ein wichtiges Statussymbol gewesen. In den Anschaffungsplänen der russischen Verbraucher in den 1990er Jahren stand dann der Farbfernseher mit weitem Abstand an erster Stelle.524 Selbst die Ärmsten schränkten sich an anderer Stelle stark ein, um ein solches Gerät zu erwerben. Der Besitz eines Fernsehers ermöglichte den Konsum von Werbung und damit die mediale Teilhabe an der neuen Konsumwelt, von der breite Schichten aufgrund materieller Restriktionen ausgeschlossen waren. Andererseits lässt sich hinter dem allgemeinen Wunsch nach dem Besitz eines Farbfernsehers auch das Bestreben erkennen, sich dem weltweiten Publikum global kommunizierter Medieninhalte anzuschließen. Als zentrales Kennzeichen der Globalisierung wird die vielgestaltige Übertragung westlicher kultureller Elemente – Werte, Institutionen, Lebensstile, Konsumgüter, Erzeugnisse der Hochkultur – auf andere Gesellschaften herausgestellt.525 Im Russland der 1990er Jahre stellte das Aufkommen westlicher Waren für den Massenkonsum eine wesentliche Neuerung der neuen, marktwirtschaftlich fundierten Konsumkultur dar. Gemäß des Konzepts der Homogenisierung gleichen sich die Kulturen der Welt infolge eines sich vereinheitlichenden Angebots an Bildern, Waren und Informationen zunehmend an.526 Ein alternatives Konzept in 522 Vgl. S. 153-158. 523 Vgl. Tomlinson, John: Globalization and Culture, Cambridge 1999, S. 150-180. 524 Vgl. S. 108-116. 525 Vgl. Latouche, Serge: Die Verwestlichung der Welt. Essay über die Bedeutung, den Fortgang und die Grenzen der Zivilisation, Frankfurt/M. 1994. 526 Vgl. Ritzer, George: Globalization, McDonaldization and Americanization, in: ders.: The McDonaldization Thesis. Explorations and Extensions, London/Thousand Oaks/New Delhi 1998, S. 81-94.
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diesem Zusammenhang stellt das der Hybridisierung dar, wonach unter den Bedingungen der Globalisierung neue kulturelle Zusammenhänge infolge einer neuen Kombination von bestehenden kulturellen Formen und Praktiken entstehen.527 Vormals vorhandene kulturelle Heterogenität reproduziert sich demnach fortwährend. Nach dem Übergang zur Marktwirtschaft entstanden in Russland im Felde des Konsums hybride kulturelle Formen und Praktiken, die als typische Reaktionen auf die kulturelle Globalisierung erachtet werden können. Auf einige wesentliche Ausprägungen dieser hybriden kulturellen Formen, die in der Forschung als Glokalisierung, „Jihad vs. McWorld“ und Kreolisierung bezeichnen werden, gehe ich im Folgenden ein. Dass Globalisierung mit einer Aufwertung des Lokalen einhergeht und dass das Lokale gleichsam ein Aspekt des Globalen ist, wird mit dem Konzept der Glokalisierung betont. Kulturelle Globalisierung besteht so gleichzeitig aus homogenisierenden und heterogenisierenden Effekten.528 Im Russland entstanden nach dem Übergang zum Markt verschiedenste Konsumangebote, die eine solche Gleichzeitigkeit globaler und lokaler Einflüsse widerspiegelten. Die Firma Mars entwickelte für den russischen Markt eine Version des Schokoladenriegels Twix mit dunkler Schokolade, da die Nachfrage nach Bitterschokolade hier überdurchschnittlich hoch war.529 McDonald’s ersetzte im Verlauf der 1990er Jahre in seinem Emblem die lateinischen Buchstaben durch kyrillische. Außerdem stellte das Marketing die Produkte dieses Restaurants am Ende der 1990er Jahre als einen Teil des lokalen Konsumangebots dar, was die Verbraucher so auch wahrnahmen.530 In diesen Beispielen wird die Gleichzeitigkeit globaler und lokaler Einflüsse auf die kulturelle Praxis in Form einer synchronen Nutzung beider Elemente für die Produktvermarktung evident. Eine spezifische Reaktion auf die westlich und insbesondere amerikanisch dominierte Globalisierung stellen aggressive politische und kul-
527 Vgl. Nederveen Pieterse, Jan: Globalization as Hybridization, in: Featherstone, Mike/Lash, Scott/Robertson, Roland (Hg.): Global Modernities, London/Thousand Oaks/New Delhi 1995, S. 45-68. 528 Vgl. Robertson, Roland: Glocalization. Time-Space and HomogeneityHeterogeneity, in: Featherstone, Mike/Lash, Scott/Robertson, Roland (Hg.): Global Modernities, London/Thousand Oaks/New Delhi 1995, S. 25-44. 529 Vgl. Kozickaja, Nade da: „A nu-ka otnimi!“, in: Industrija reklamy 1,2/2004, S. 32-38. 530 Vgl. Caldwell, Melissa: Domesticating the French Fry. McDonald’s and consumerism in Moscow, in: Journal of Consumer Culture 4 1/2004, S. 5-26.
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turelle Abgrenzungsbestrebungen dar.531 Globalisierung und „Libanonisierung“ werden von Benjamin Barber daher als die beiden Achsenprinzipien der Gegenwart bezeichnet.532 Das Prinzip des „Jihad vs. McWorld“ zeigte sich in Russland nach dem Ende des Kalten Krieges sehr deutlich beim Konsum. Der emotional und ökonomisch motivierte Nationalismus der Konsumenten wie auch die Lancierung von Werbekampagnen, in denen Russland mit Blick auf die Vergangenheit wie auch die Gegenwart dem Westen entgegengesetzt und überlegen bezeichnet wurde,533 waren Ausdruck einer nationalen Abgrenzung gegen einen politischen, ökonomischen wie kulturellen Imperialismus des Westens und insbesondere der USA.534 Ulf Hannerz bezeichnete die Ausbreitung westlicher kultureller Elemente und deren Integration in indigene kulturelle Bestände als Kreolisierung. Eine Vermischung einheimischer und fremder kultureller Elemente stellt das Ergebnis dieses Prozess dar. Anhand des Beispiels von Nigeria stellte Hannerz heraus, dass sich der globale Zusammenhang von Zentrum und Peripherie sowie dessen kulturelle Konsequenzen innerhalb der Gesellschaften der Dritten Welt wiederholen. Die urbanen Zentren sind so in einem weitaus stärkeren Maße fremden kulturellen Einflüssen ausgesetzt als kleine Orte in abgelegenen Regionen.535 Der Wandel der räumlichen Dimension des Konsums in Russland nach der Marktöffnung folgte der Logik und Dynamik einer solchen Kreolisierung. Der erste McDonald’s wurde selbstverständlich in Moskau eröffnet. Die Diffusion von westlicher Außenwerbung und eines westlichen Angebots von Konsumgütern erfolgte von den Metropolen in die Provinz. Ob die sibirische Provinz jemals eine „Snickerisierung“ erlebt hat, sei dahingestellt. Bezüglich des Konsum- und Ausstattungsniveaus hinkte – und hinkt – die Provinz den Metropolen deutlich hinterher. Die genannten hybriden kulturellen Formen des Konsums – Glokalisierung, „Jihad vs. McWorld“, Kreolisierung –, die allgemeine Kommerzialisierung wie auch die hohe Bedeutung medialer Technik für die Verbraucher lassen sich als prägnanter Ausdruck der Globalisierung im Felde des Konsums und damit der Kultur generell in Russland nach dem Übergang zur Marktwirtschaft deuten. Bezüglich der Partizipation am 531 Vgl. Huntington, Samuel: The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs 72/1993, S. 22-49. 532 Vgl. Barber, Benjamin: Jihad vs. McWorld, in: The Atlantic 269 3/1992, S. 53-63, hier: S. 53. 533 Vgl. S. 245-251. 534 Vgl. Caldwell, Melissa: The Taste of Nationalism. Food Politics in Postsocialist Moscow, in: Ethnos 67 3/2002, S. 295-319, hier: S. 297f. 535 Vgl. Hannerz, Ulf: The world in creolisation, in: Africa 57 4/1987, S. 546-559.
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westlich fundierten Massenkonsum wies Russland in dieser Zeit ähnliche Muster wie die Länder der früheren Dritten Welt auf, da die Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau im Jahr 1990 gleichsam erst den Eintritt in die globale Konsumgesellschaft markiert hatte.
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Wandel von Waren zu Marken Auch der Stellenwert des Marketings für den Konsum wandelte sich im Übergang vom Plan zum Markt prinzipiell und stellte damit eine „Konsuminnovation“ dar.536 Die Marketing-Lehre bestimmt Produkte im Kontext marktwirtschaftlicher Konsumgesellschaften in folgender Art und Weise: „Ein Produkt ist alles, was auf einem Markt zwecks Erlangung von Aufmerksamkeit, zum Erwerb, zum Gebrauch oder Verbrauch angeboten werden kann und geeignet ist, Wünsche oder Bedürfnisse zu befriedigen. Es umfasst konkrete Objekte, Dienstleistungen, Personen, Orte, Organisationen und Ideen.“537 Produkte werden von den Konsumenten gekauft, weil sie daraus einen doppelt gearteten Nutzen ziehen: Zum einen erfüllen Produkte für den Käufer einen funktionalen Grundnutzen, zum anderen einen emotionalen und sozialen Zusatznutzen. In diesem Wissen schreiben Hersteller ihren Produkten mittels Werbung und weiteren Vermarktungstechniken in professioneller Art und Weise Bedeutungen zu, die von den Konsumenten rezipiert und in abgewandelter Form angeeignet werden.538 Produkte werden so zu arbiträren Zeichen eines Informationssystems, das auf kulturellen Übereinkünften und sozialen Unterscheidungswünschen basiert: „Goods [are …] markers, the visible bit of the iceberg which is the whole social process.“539 Produkte erfüllen für die Verbraucher daher bestimmte Funktionen. Sie bedienen als Träger kulturell geteilter, kommunikativer Bedeutungsinhalte soziale Wünsche nach Differenzierung, Individualität und Zugehörigkeit sowie das psychologische Streben nach Sicherheit der Orientierung, Vertrauen und Unterscheidungsmöglichkeiten innerhalb eines unübersichtlichen Angebotes.540 Aufgrund ihres semantischen Gehalts 536 Vgl. Althanns, Luise: Zarenzigaretten und Verbrecherautos. Konsumenten und ihre Produkte im Übergang vom Plan zum Markt in Moskau, in: Forschungsstelle Osteuropa Bremen (Hg.): Osteuropaforschung – 15 Jahre „danach“. Beiträge für die 14. Tagung junger Osteuropa-Experten, Bremen 2006, S. 166-170; Althanns, Luise: Markenbewusstsein in Russland, Diplomarbeit Universität Passau 2003. 537 Kotler, Philip/Armstrong, Gary: Marketing – Eine Einführung, Wien 1988 [1987], S. 336. 538 Vgl. Gries, Rainer: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003, S. 53-134; McCracken, Grant: Culture and Consumption. A Theoretical Account of the Structure and Movement of the Cultural Meaning of Consumer Goods, in: Journal of Consumer Research 13 1/1986, S. 71-84. 539 Douglas, Mary/Isherwood, Baron: The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption, London/New York 21996 [1979], S. 50. 540 Vgl. Karmasin, Helene: Produkte als Botschaften, Frankfurt/M./Wien 3 2004 [1993], S. 234-269.
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gehen Konsumenten zu ihnen vielgestaltige Beziehungen ein.541 Zeichnet sich ein Produkt durch stabile Qualität, einen geschützten Namen, eine auf Dauer angelegte und glaubwürdige Kommunikationsstrategie sowie die Möglichkeit zur Wiedererkennung aus, so lässt es sich als Marke bzw. Markenprodukt bezeichnen.542 Die Notwendigkeit, Produkte mit Bedeutungen und damit Marken zu schaffen, ist Ergebnis einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung. Die Anbieter müssen hier versuchen, ihr Angebot zu veredeln und in der Masse der Konkurrenzprodukte unverwechselbar zu machen. Für die Hersteller auf dem Verkäufermarkt der planwirtschaftlichen Sowjetunion bestand eine solche Notwendigkeit nicht. Dies änderte sich jedoch mit der Einführung einer marktwirtschaftlichen Logik. Dieses Kapitel geht der Frage nach, wie sich die Vermarktung von Produkten im Übergang vom Plan zum Markt änderte. Zunächst wird ein Überblick über die sowjetische Warenwelt und die Unterscheidungskriterien der Konsumenten darin gegeben. Im Anschluss werden das Aufkommen von Werbung am Anfang der 1990er Jahre sowie die Auseinandersetzung mit diesem Faktum in der Öffentlichkeit analysiert. Es folgt eine Untersuchung der Markenwahrnehmung und des Markenbewusstseins der russischen Konsumenten in dieser Zeit. Schließlich wird die sich entwickelnde russische Markenwelt der 1990er Jahre beleuchtet. Dabei wird die Frage verfolgt, inwieweit die neu geschaffene Markenwelt die kulturelle und politische Selbstverortung der Gesellschaft widerspiegelte.
The World of Socialist Goods Unter den Bedingungen eines planwirtschaftlichen Verkäufermarktes war in der Sowjetunion die Notwendigkeit der Veredelung von Produkten durch Anmutungen, die vom Marketing geschaffen werden, nicht oder nur mäßig gegeben. Die sowjetische Produktkultur wird daher im Rückblick als frei von positiven Bedeutungsattributen, unattraktiv und kaum Differenzierung ermöglichend dargestellt: „Die Produkte waren zahlreicher vorhanden, aber es gab keine Marken mehr. Sicherlich hatten die Waren noch Bezeichnungen. Aber es waren Produktbezeichnungen, die nur auf wenig hinwiesen. Sie waren Materialnachweise, aber keine Versprechen. Sie gaben dem, der sie trug oder aß, keine Chance, 541 Vgl. Fournier, Susan: Consumers and Their Brands. Developing Relationship Theory in Consumer Research, in: Journal of Consumer Research 24 4/1998, S. 343-373. 542 Vgl. Karmasin, Helene: Produkte als Botschaften, Frankfurt/M./Wien 3 2004 [1993], S. 467-486.
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an etwas teilzuhaben, was blieb, wenn das Produkt verbraucht war. Sogar die besten sowjetischen Waren, Kleider aus feiner Seide, Mäntel aus reiner Wolle, waren lieblos gearbeitet. Nichts Feines und Zierliches, nichts Markenhaftes zeichnete sie aus, nichts Individuelles machte sie begehrenswert. Die Marke wurde so zum ersten Opfer des sozialistischen Versorgungskonzeptes. Die ach so vernünftige Idee der sozialistischen Gleichheit erstickte auch das Recht auf Ungleichheit, die durch besondere Ware gestaltbar wird.“543 Es passte nicht zu einer auf Gleichheit aller angelegten Gesellschaft, dass Markenprodukte den Konsumenten soziale Wünsche nach Individualisierung und Differenzierung ermöglichen. Konsum sollte vernünftig sein und der Bedarfsdeckung dienen, doch dieser rationale Umgang mit dem Konsum und der Mangel an Marken wurde nach zitierter Aussage von den Verbrauchern als schmerzhaft empfunden. Erschwerend kam hinzu, dass selbst der objektive Bedarf in den Jahren der Planwirtschaft nicht ausreichend befriedigt werden konnte. Es gab auch in der Sowjetunion Werbung für Konsumgüter, doch hatte sie einen anderen Stellenwert und eine andere Funktion als in marktwirtschaftlichen Kontexten. Geworben wurde vorrangig für neue, den Verbrauchern noch nicht geläufige Waren, für Waren, die nicht absetzbar und folglich auf Halde produziert worden waren, sowie für Exportwaren. Sowjetische Werbung galt generell nicht einzelnen Marken, sondern Warengruppen. Neben Zeitungsanzeigen gab es vor allem in den 1960er Jahren auch Fernsehwerbung.544 Eine Umfrage eines neu gegründeten Marktforschungsinstituts vom Jahreswechsel 1989/1990 ergab daher, dass mehr als 90% der sowjetischen Verbraucher meinten, nur schlechte Ware benötige Werbung.545 Die sowjetischen Produktbezeichnungen waren zumeist reine Sortenbezeichnungen für Waren aus verschiedenen Fabriken, zwar in standardisierter Verpackung, aber von unterschiedlicher Qualität, so dass die Sicherheit der Orientierung im Warenangebot für die Verbraucher nicht gegeben war. Beliebte Wurstsorten wie Doktorskaja, Konfektsorten wie Mischka Krummpfote und Eichhörnchen oder Zigaretten wie Kosmos,
543 Schpakowa, Rimma: Kein Sterben im Frost. Markenphantasien in sozialistischer Not, in: Brandmeyer, Klaus/Deichsel, Alexander/Otte, Thomas (Hg.): Jahrbuch Markentechnik 1995, Frankfurt/M. 1995, S. 227-234, hier: S. 229. 544 Vgl. Savel’eva, Ol’ga: ivaja istorija rossijskoj reklamy, Moskau 2004, S. 194-204, 230-235. 545 Vgl. erkasova, Natal’ja: Rossijskij telezritel’. Razvitie vosprijatija reklamy, in: Marketing i marketingovye issledovanija v Rossii 1/1997, S. 38-41, hier: S. 38.
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Prima und Jawa wurden so von verschiedenen Herstellern produziert.546 Man konnte also bei der Mehrheit der sowjetischen Produkte nur von markierten Waren, nicht jedoch von Markenprodukten sprechen. 547 Die Konsumenten richteten daher besondere Aufmerksamkeit auf den Hersteller, der zusätzlich auf dem Produkt vermerkt war. In Abhängigkeit von ihren Erfahrungen beim Konsum bildeten sich die Konsumenten eine Meinung über die Hersteller. So hatten beispielsweise die Zigaretten mit der Bezeichnung Jawa aus der alten Moskauer Fabrik einen sehr guten Ruf und wurden als „Jawa-Zigaretten aus der Fabrik Jawa“ bezeichnet. Mit diesem Ausspruch wurde für die Marke in den 1990er Jahren geworben, was dessen weite Verbreitung unter den Konsumenten zu sowjetischer Zeit belegt. 548 Aus demselben Bedürfnis der Verbraucher heraus entstanden auch die umgangssprachlichen Bezeichnungen „Kristall-Wodka aus der Fabrik Stolitschnaja“ oder „Krebsschwänze von Krasni Oktjabr“.549 Im Konsumroman „Die Schlange“ von Wladimir Sorokin wird den in Schlangen wartenden Menschen mehrfach ein hohes Interesse am Hersteller des verkauften Produktes – an der „Firma“ – in den Mund gelegt: „Sie wissen nicht zufällig, welche Firma?“ – „Super Rifle, angeblich.“ – „Toll. Schade nur, dass wir keine abkriegen.“ – „Vielleicht ja doch.“ [...] – „Sie sind in so Firmenkartons. – „Und von welcher Firma?“ – „Lee, scheint es.“ – „Lee?“ – „Lee.“ – „Gut.“ – „Herrgott, wenn wir nur welche kriegen würden!“550 In diesen Dialogen wie auch an anderen Stellen des Romans wird die Aufmerksamkeit der Menschen für die „Firma“ eines Produktes, die als Kriterium für Qualität empfunden wird, herausgestellt. Auch aus anderen Quellen geht hervor, dass die
546 Vgl. Kondyreva, Svetlana: Osobennosti formirovanija nacional’nogo brnda v Rossii, in: Marketing i marketingovye issledovanija v Rossii 3/2000, S. 47-49; Ievlev, Vitalij: Tovarnyj znak i prodvienie tovara na rossijskom rynke, in: Marketing i marketingovye issledovanija v Rossii 3/1997, S. 32-40, hier: S. 34; Prosvetov, Ivan/Gidaspov, Ivan: Brndy, kotorye my terjaem, in: Kompanija 31/2000 (http://www.ko.ru/document .php?id=2025 [1.4.2008]). 547 Vgl. Postler, Annika: Sobornost. Markenführung in Russland, in: Brandmeyer, Klaus/Deichsel, Alexander (Hg.): Jahrbuch Markentechnik 2000/ 2001, Frankfurt/M. 1999, S. 87-117, hier: S. 89. 548 Vgl. Evstaf’ev, Vladimir/Pasjutina, Evgenija: Istorija rossijskoj reklamy. 1991-2000, Moskau 2002, Anhang. 549 Vgl. Ievlev, Vitalij: Tovarnyj znak i prodvienie tovara na rossijskom rynke, in: Marketing i marketingovye issledovanija v Rossii 3/1997, S. 32-40, hier: S. 34; Vanifatova, Marija: Fenomen torgovoj marki v sovremennom marketinge. Problemy ocenki stoimosti marki, in: Marketing i marketingovye issledovanija v Rossii 6/2001, S. 37-48, hier: S. 41. 550 Sorokin, Vladimir: Oered’, Moskau 2002 [1985], S. 38-44.
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Konsumenten zu sowjetischer Zeit mit dem Ausdruck „Firma“ den Hersteller eines Produktes bezeichneten. Insbesondere Produkte westlicher Herkunft wurden mit dem Ausdruck „Firma“ attributiert.551 Dies lässt sich einerseits auf den hohen Statuswert, den westliche Marken für die sowjetischen Verbraucher hatten, zurückführen, andererseits auf die Praxis westlicher Hersteller, ihre Waren stets zu markieren, womit sie sich von den sowjetischen Herstellern unterschieden. Das Interesse der sowjetischen Verbraucher an der Herkunft der Waren stellte keine Besonderheit dieses Konsum-Kontextes dar. Jenes Bedürfnis nach Sicherheit der Orientierung innerhalb eines unübersichtlichen Angebots war der historische Ausgangspunkt für das Kennzeichnen von Waren mit Marken. Mit einer Markierung versuchten Hersteller, die Herkunft einer Ware für den Käufer eindeutig nachvollziehbar zu machen.552 Mit der Orientierung an der „Firma“ versuchten die sowjetischen Konsumenten, sich ein Äquivalent zur Marke zu schaffen. In einer Karikatur aus dem Jahr 1985 wurde die Beachtung der „Firma“ durch die sowjetischen Konsumenten ironisiert. In den ersten drei Szenen wird hier „Firma“ von einem Mann als Attribut für moderne Schuhe, eine moderne Sonnenbrille und einen Walkman von Sony verwendet. Seine Bewunderung für die „Firma“ lässt ihn diese Waren jeweils auch erwerben. Dieses „Firmen-“ bzw. Markenbewusstsein wird im letzten Bild ironisiert, wenn er vor dem Werksgelände der „Firma ,Woschod‘“, die nach Mitarbeitern sucht, steht und spricht: „Ich will auch eine Firma! …“ (Abbildung 15) Diese Karikatur konstatierte also in ironisierender Weise ein Markenbewusstsein bei jüngeren Menschen, das sich in Kleidung und technischen Geräten auszudrücken suchte. Der Walkman von Sony und die lateinischen Buchstaben in der Überschrift verweisen auf die große Rolle, die gerade westliche „Firmen“ bzw. Marken für das Markenbewusstsein in dieser Zeit spielten. Die Kritik an Konsum- und Markenorientierung in dieser Karikatur ist auch als ideologisch geprägte Meinungsmache zu bewerten.
551 Vgl. o. V.: to takoe brnd? „Choper“ i MMM – ue ut’ bol’e, em tovarnyj znak, in: Ogonek 10/1995, S. 39; Ievlev, Vitalij: Tovarnyj znak i prodvienie tovara na rossijskom rynke, in: Marketing i marketingovye issledovanija v Rossii 3/1997, S. 32-40, hier: S. 35; Althanns, Luise: Markenbewusstsein in Russland, Diplomarbeit Universität Passau 2003, S. 16-18, 32-34. 552 Vgl. Wadle, Elmar: Markenschutz für Konsumartikel. Entwicklungsstufen des modernen Markenrechts in Deutschland, in: Siegrist, Hannes/ Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 649-670, hier: S. 653.
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Abbildung 15: „Firmatsch Firmatch“ 553 Da in der sowjetischen Warenwelt die Institution Marke bzw. „Firma“ den Konsumenten nur bedingt eine Sicherheit der Orientierung bot, entwickelten die Konsumenten weitere Kriterien, nach denen sie Produkte beurteilten und unterschieden. In einem Wirtschaftssystem mit Festpreisen für Konsumgüter konnte der Preis als eindeutige Produktbezeichnung fungieren. So konnte der Ausdruck „ein halbes Kilo von der für 2,20“ in sowjetischer Zeit als eindeutige Bezeichnung für eine bestimmte Wurst dienen.554 In zwei Karikaturen des Krokodils aus der ersten Hälfte der 1990er Jahre wird die Preisangabe „3,62 Rubel“ für eine Flasche Standard-Wodka aufgegriffen.555 Die starke Präsenz von solchen Preismarken für bestimmte Produkte in den Köpfen der Verbraucher stellte auch die Marktforschung in den 1990er Jahren fest: Als beliebteste Eissorte ermittelte sie in einer Studie die Bezeichnung „Eis für 48 Kopeken“, das in sowjetischer Zeit namenlos in 200-Gramm-Packungen verkauft wurde. Nestlé etablierte im Jahr 1997 eine Marke mit dieser
553 Krokodil 2/1985, S. 4 (E. Milutok). 554 Vgl. o. V.: to takoe brnd? „Choper“ i MMM – ue ut’ bol’e, em tovarnyj znak, in: Ogonek 10/1995, S. 39. 555 Krokodil 31/1991, S. 5 (T. Zelenenko, Charkov); Krokodil 9/1995, S. 10 (A. D’jakov, Saratov).
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Preisbezeichnung, die allerdings weitaus mehr kostete.556 Preisangaben ersetzten für die sowjetischen Verbraucher also teilweise die Orientierungsfunktion von Marken.557 Mittels der Vergabe von Gütesiegeln wurde auch von offizieller Seite versucht, die Warenwelt gemäß ihrer Qualität zu strukturieren und zu hierarchisieren. Solche Kennzeichnungen auf Produkten waren zum Beispiel „N“ für „Neuheit“ oder „OM“ für ein „besonders modisches“ Produkt. Diese Hervorhebung von Waren sollte auch ihren überdurchschnittlich hohen Preis rechtfertigen.558 Ein Bericht über eine Textilmesse im Jahr 1987 mag den Misserfolg dieses Markierungssystems aufzeigen: „Auf der Messe ‚Textil-87‘ waren massenweise Waren mit dem Buchstaben ,N‘ ausgestellt. Jedoch bestellten die Käufer des Großhandels lustlos die Stoffe jener Unternehmen, die ihren guten Ruf eingebüßt hatten. Anstoß erregten sogar Muster-Ausstellungsstücke. Ware für 2,5 Milliarden Rubel wurde nicht verkauft: Konfektionsmitarbeiter und Handel wiesen sie zurück, ungeachtet des Indexes ,N‘.“559 Anlässlich des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution wurde im Jahr 1967 das sogenannte „Gütesiegel“ als Auszeichnung für qualitativ hochwertige Waren eingeführt. Durch die Anspielung an einen Stern und der Verwendung der Bezeichnung „UdSSR“ als Ersatz für einen Strahl des Sterns kommunizierte dieses Zeichen die enge Verbindung von Politik und Konsum.560 Nach Ansicht eines heutigen Konsumforschers hatte dieses Qualitätszeichen für die Konsumenten und deren Entscheidungen jedoch keine Bedeutung, sondern wurde als künstliches Attribut und Teil des undurchsichtigen Prämiensystems für Betriebe empfunden. Der generelle Mangel machte eine bewusste Entscheidung für ausgezeichnete Wa-
556 Vgl. Prosvetov, Ivan/Gidaspov, Ivan: Brndy, kotorye my terjaem, in: Kompanija 31/2000 (http://www.ko.ru/document.php?id=2025 [1.4. 2008]). 557 Nicht nur in der Sowjetunion übernahmen Preise die Funktion von Marken. Auch in der DDR wurde eine Flasche Nordhäuser Doppelkorn umgangssprachlich mit ihrem Preis als „17,60er“ bezeichnet. Vgl. Gries, Rainer: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003, S. 436. 558 Vgl. Strukov, K./Rudavskij, A.: Tovary dlja molodei. Orientirujas’ na spros, in: Sovetskaja torgovlja 9/1987, S. 24-27, hier: S. 25. 559 Orlov, J.: Kaestvo – problema nomer odin, in: Sovetskaja torgovlja 5/1987, S. 34-38, hier: S. 35. 560 Vgl. Lebina, Natal’ja: nciklopedija banal’nostej. Sovetskaja povsednevnost. Kontury, simboly, znaki, Sankt Petersburg 2006, S. 164; (PM)pictomanija // Znaki // Znaki sootvetstvija // Gosudarstvennyj Znak Kaestva SSSR (http://picto.mania.ru/marks/qual-01.htm [1.4.2008]).
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ren obsolet.561 Eine kleinformatige Karikatur aus dem Jahr 1987 greift das Thema der Warenmarkierung auf: Ein Mann versucht ein „Gütesiegel“, einem Sisyphus gleich, den Berg hoch zu bewegen. Der Untertext zu dieser Zeichnung zitiert Daten der zuständigen staatlichen Behörde, wonach im Jahr 1986 zahlreiche Produkte der verschiedenen Industriezweige eben jenes Gütezeichen verloren haben.562 Aus Sicht des Karikaturisten war also dieses Gütezeichen kaum geeignet, das beabsichtigte besondere Qualitätsversprechen zu garantieren, da damit gekennzeichnete Produkte nicht über dauerhaft gute Qualität verfügten. Dass dieses Gütesiegel in seiner visuellen Gestalt dennoch einen Platz im Bewusstsein der Menschen hatte, beweisen Versuche von Produktgestaltern in der Zeit nach dem Jahr 2000, mit dem sowjetischen Gütezeichen auf Produkten wie den Zigaretten UdSSR oder dem Stiel-Eis Plombir Assoziationen an die sowjetische Vergangenheit hervorzurufen. 563 Dieses Zeichen wurde demnach zwar wahrgenommen, diente jedoch nicht als ein Kriterium für zuverlässige Qualität. Die hier vorgenommene Darstellung der Unterscheidungskriterien bei der Produktwahl soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass der sowjetische Verkäufermarkt den Konsumenten insbesondere gegen Ende der 1980er Jahre oftmals gar keine Wahl ließ: „Wenn die Schlange für einfache Wurst zwei Kilometer lang war, so war sie für Wurst mit einem Gütezeichen vier Kilometer lang.“564 Doch ist das Besondere auch im Falle des Konsums zumeist weitaus einprägsamer als der Alltag, was sich durch das hier und im Folgenden aufgezeigte Überdauern einiger Relikte sowjetischer Produktkultur in Realität und Diskurs belegen lässt. Generell war aber die Eigenleistung der sowjetischen Konsumenten bei der Schaffung von Unterscheidungs- und Bewertungskriterien bei Produkten um ein Vielfaches größer als in marktwirtschaftlichen Kontexten. Ihnen wurden keine von Marketingexperten geschaffenen MarkenErlebniswelten präsentiert, sondern die Bewertungen und Konnotationen von Produkten beruhten auf Erfahrung und Gerücht. Die wachsende Bedeutung von Werbung und Marketing war in den 1990er Jahren eine der fundamentalsten Veränderungen beim Konsum.
561 Juri Poletajew, Lewada-Zentrum, 16.5.2006. 562 Krokodil 15/1987, S. 2 (V. Poluchin). 563 Diese Produkte waren im Frühjahr 2006 im Einzelhandel in Moskau erhältlich. 564 Alexander Demidow, GfK RUS, 23.5.2006.
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Werbung als Phänomen des Alltags Ein Charakteristikum für das Phänomen des Konsums im Übergang vom Plan zum Markt im sowjetisch-russischen Fall war die Gleichzeitigkeit planwirtschaftlicher und marktwirtschaftlicher Konsumelemente über mehrere Jahre hinweg. Ab 1989 begannen westliche Firmen für ihre Produkte in der Sowjetunion zu werben, auch wenn diese teilweise noch gar nicht dort verkauft wurden.565 Zu eben jener Zeit verschärfte sich die Versorgungssituation bei allen Produktarten zu einer Konsumkrise, was das Phänomen des Anpreisens von Ware durch Werbung eigentlich ad absurdum führte. Werbung war zwar keine Neuheit, doch war ihre enorme Präsenz im Alltag, der sich die Menschen nun gegenübersahen, ungewohnt. Am Jahreswechsel 1988/1989 erschien in der Iswestija, einer großen staatlichen Tageszeitung, zum ersten Mal eine Werbebeilage, die vom deutschen Burda Verlag mitproduziert wurde und in der auch bekannte westliche Firmen, die in den sowjetischen Markt drängten, warben. Die erste westliche Fernsehwerbung wurde im Jahr 1990 im ersten Privatsender der Sowjetunion gezeigt.566 Das Aufkommen von Außenwerbung vor allem in Moskau veranlasste eine deutsche Journalistin im Jahr 1993 zu folgendem Schluss: „Wenn ich daran denke, wie exotisch Werbung noch vor gar nicht allzu langer Zeit dort war. Im Fernsehen und im Straßenbild vereinzelt erst Ende der achtziger Jahre zu entdecken, [...] ist Werbung heute zu einem festen Bestandteil des Alltags geworden. Als wir im Mai 1988 einen Film mit dem Titel ,Rock und Pop, Mode und Werbung‘ für die ARD produzierten, fühlten wir uns [...] wie die Pfadfinder auf der Suche nach Werbetafeln auf Moskauer Straßen. Leuchtreklame machte allenfalls Aeroflot [...]. Dann gab es noch ein paar zaghafte Versuche einzelner Restaurants, und das war’s. Heute kann sich einem das Herz verkrampfen, wenn die Postkartenansichten der typischen Kirchlein vor lauter Reklametafeln von keinem Standort aus mehr einzufangen sind. Als wir Moskau im Frühjahr 1993 wieder besuchten, beherrschten McDonald’s, Shell und HB die allgegenwärtigen Werbeflächen. Auf den nichtverkauften Plakatwänden warb die Moskauer
565 Alexander Demidow, GfK RUS, 23.5.2006. 566 Vgl. Made, Manfred: Burda akquiriert Annoncen für die Moskauer Regierungszeitung „Iswestija“, in: Handelsblatt 20.10.1988, S. 14; Savel’eva, Ol’ga: ivaja istorija rossijskoj reklamy, Moskau 2004, S. 235; Evstaf’ev, Vladimir/Pasjutina, Evgenija: Istorija rossijskoj reklamy. 1991-2000, Moskau 2002, S. 129.
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Stadtverwaltung in dicken Lettern: ‚Ihre Reklame wird unsere Stadt schmücken.‘“567 Während der letzten drei sowjetischen Jahre blieb der Werbeumfang noch begrenzt. Für das Jahr 1991 werden die Ausgaben für Werbung in der Sowjetunion mit weniger als drei Millionen US-Dollar angegeben. Der Werbeumfang in der Presse begann dann mit dem Jahr 1992 und der Liberalisierung der Preise stark zu steigen. Fernsehwerbung erlangte ab der zweiten Hälfte des Jahres 1992 zunehmende Bedeutung und übertraf bereits im Folgejahr gemessen am monetären Aufwand Werbung in der Presse. Die Ausgaben für Werbung stiegen nach Schätzungen von Experten von etwa fünf Millionen US-Dollar im Jahr 1992 auf fast eine Milliarde US-Dollar im Jahr 1994 und über 1,8 Milliarden US-Dollar im Jahr 1997. Infolge der Finanzkrise im Jahr 1998 sank dann das Aufkommen auf etwa 0,76 Milliarden US-Dollar im Jahr 1999.568 Gemessen am Werbeaufkommen dominierten am Beginn der 1990er Jahre nicht etwa Werbung für Konsumgüter Fernsehen und Presse, sondern vielmehr Werbung für Banken und Finanzdienstleistungen. Die Anteile der verschiedenen Branchen an der Werbung spiegelten folglich die Privatisierung und die Bedeutung liquider Mittel in dieser Zeit wider. Im Jahr 1994 wurden fast 40% der Ausgaben für Fernsehwerbung auf Finanzdienstleistungen verwandt, hingegen für Lebensmittel nur 17% und für Kosmetik nur 6%. Mit Procter & Gamble und Masterfoods waren in diesem Jahr auch nur zwei ausländische Firmen unter den zehn wichtigsten Käufern von Werbung. Größte Bekanntheit erfuhr die Kampagne der Finanzpyramide MMM, deren Werbeetat im Jahr 1994 der größte unter allen Firmen war.569 Der Zusammenbruch dieser Pyramide 567 Krone-Schmalz, Gabriele: Russland wird nicht untergehen..., Düsseldorf et al. 1993, S. 33. 568 Vgl. Evstaf’ev, Vladimir/Pasjutina, Evgenija: Istorija rossijskoj reklamy. 1991-2000, Moskau 2002, S. 129-133; Tretyak, Olga: Advertising in Russia, in: Kloss, Ingomar (Hg.): Advertising Worldwide. Advertising Conditions in Selected Countries, Berlin et al. 2001, S. 185-222, hier: S. 186. 569 Das Geschäftsmodell der Finanzpyramiden bestand in der Ausgabe von Aktien ohne sonstige Geschäftstätigkeit, jedoch mit massiver Werbung dafür. Die ersten Käufer konnten aufgrund steigender Kurse beim Verkauf dieser Aktien immense Gewinne verzeichnen, spätere Anleger verloren ihr investiertes Geld. Vgl. zum Phänomen MMM: Borenstein, Eliot: Public Offerings. MMM and the Marketing of Melodrama, in: Barker, Adele (Hg.): Consuming Russia. Popular Culture, Sex, and Society since Gorbachev, Durham/London 1999, S. 49-75; Sal’nikova, Ekaterina: Entdeckung eines neuen Lebens. Fernsehwerbung in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in Russland, in: Forschungsstelle Osteuropa Bremen (Hg.): Kommerz, Kunst, Unterhaltung. Die neue Popularkultur in Zentral- und Osteuropa, Bremen 2002, S. 301-317, hier: S. 310-313.
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war eine wesentliche Ursache für ein Gesetz im Jahr 1995, das sich mit Werbung befasste und dabei die Werbetätigkeit der Finanzstrukturen beschränkte. Die russische Werbeszene wandelte sich in der Folge. Im Jahr 1995 war nur noch eine russische Firma unter den zehn wichtigsten Käufern von Werbung und anstelle von Finanzdienstleistungen wurden vor allem schnelldrehende Konsumgüter beworben. In den nächsten Jahren dominierten westliche Konsumgüterhersteller die Werbeszene, erst nach der Finanzkrise 1998 begann sich der Anteil wieder etwas zu Gunsten russischer Produzenten zu verschieben.570 In einer repräsentativen russlandweiten Umfrage von WZIOM im September 1993 äußerten 83% der russischen Verbraucher, dass es zu viel Werbung im Fernsehen gäbe.571 Eine Umfrage eines konkurrierenden Instituts vom März 1994 ergab, dass 60% der russischen Konsumenten bezüglich Werbung in Fernsehen, Radio und Zeitungen folgende Einstellung hatten: „Mich nervt Werbung, sie stört mich.“572 Die russischen Verbraucher kritisierten im März 1995 an Werbung, dass sie Kinder zum Kauf schädlicher oder nicht nützlicher Produkte verleitete (79%), dass sie keine vollständigen und glaubwürdigen Informationen über das Produkt bieten würde (76%), dass sie irreführte oder den Nutzen des Produktes für die Gesundheit zu positiv darstellte (73%) und dass sie den Eindruck eines größeren Inhalts als tatsächlich in der Verpackung vorhanden vorgaukelte (65%). 573 Diese negative Einstellung der Verbraucher zu Werbung und insbesondere zu Werbung im Fernsehen änderte sich im Verlauf des nächsten Jahrzehnts nicht. Auch im Jahr 2004 gaben 81% der russischen Verbraucher an, dass es zuviel Werbung im Fernsehen gäbe. Werbung erreichte zu diesem Zeitpunkt in einer Umfrage niedrige Vertrauenswerte: Nur 4% der Befragten vertrauten ihr völlig, 21% vertrauten ihr eher, 40% vertrauten ihr eher nicht und 33% 570 Vgl. Evstaf’ev, Vladimir/Pasjutina, Evgenija: Istorija rossijskoj reklamy. 1991-2000, Moskau 2002, S. 131-135; Tretyak, Olga: Advertising in Russia, in: Kloss, Ingomar (Hg.): Advertising Worldwide. Advertising Conditions in Selected Countries, Berlin et al. 2001, S. 185-222, hier: S. 190-193. 571 Vgl. VCIOM: Informacija. Rezul’taty oprosov: A21. Kak vy sitaete, reklamy na televidenii: nedostatono, dostatono, slikom mnogo, zatrudnjajus’ otvetit’?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 8/1993, S. 41. 572 Vgl. Migdisova, Svetlana/Petrenko, Elena: „Menja reklama razdraaet, ona mne meaet“ – zajavljajut bolee poloviny uastnikov oprosa, 13.5.1994 (http://bd.fom.ru/report/cat/societas/market_economy/trade/pr oduce_custom/of19940707 [3.4.2008]). 573 Vgl. Zurabivili, Tamara: Potrebitel’skaja reklama i ee potrebiteli, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 3/1997, S. 50-52, hier: S. 50f.
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vertrauten ihr überhaupt nicht.574 Es ist somit ein Mythos, dass die russischen Verbraucher sich in den 1990er Jahren über Werbung als bunte Bilder im grauen Alltag freuten.575 Vielmehr wurde Werbung insbesondere im Fernsehen von Anfang an als Störfaktor empfunden. Das Phänomen Fernsehwerbung erhält einen besonderen Stellenwert, wenn man sich die Anschaffungspläne der russischen Konsumenten in den 1990er Jahren ansieht. War es doch gerade der Farbfernseher, der für die Menschen in dieser Zeit erste Priorität hatte. Dahinter lässt sich auch der Wunsch nach vollständiger Teilhabe an dieser medial vermittelten Welt erkennen. Fernsehwerbung spielte aus Verbrauchersicht zudem eine wichtige Rolle als Informationsquelle. Im Jahr 1994 nannten bei einer Umfrage die Verbraucher folgende Informationsquellen über Waren und Dienstleistungen in abfallender Reihenfolge als nützlich: Fernsehen, Gespräche mit Bekannten, lokale Zeitungen, Radio, spezielle Werbezeitungen und Werbebeilagen, überregionale Zeitungen, Meinungsaustausch mit Verkäufern und zufälligen Gesprächspartnern, Beratungen mit Experten, Anzeigen in Straßen und auf Verkehrsmitteln, Werbeprospekte mit der Post.576 Empfanden die Verbraucher also am Anfang der 1990er Jahre Fernsehwerbung als sehr störend, so wurde sie doch als wichtigste Informationsquelle für die eigenen Konsumentscheidungen beurteilt. Im Phänomen Werbung zeigte sich auch die Ausdifferenzierung der Konsummöglichkeiten der Menschen. In den 1990er Jahren warb der Konsumgüterhersteller Procter & Gamble für sein Waschmittel Ariel mit einem Fernsehspot, in dem er das Markenprodukt einem „gewöhnlichen“ Waschmittel gegenüberstellte, das in seiner Waschleistung dem angepriesenen Produkt unterlegen war. Im Jahr 1999 brachte der russische Hersteller Newskaja Kosmetika ein Waschmittel mit dem Namen „Das Gewöhnliche“ auf den Markt, dessen Verpackung mit der Verpackung des Waschmittels in der Werbung identisch war und das kostenlos durch die fremde Werbung bekannt gemacht wurde.577 Dieses Bei574 Vgl. Savel’eva, Ol’ga: Reklama v Rossii: Social’nyj konfliktogen ili social’no-znaimaja informacija?, in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 3/2005, S. 83-92, hier: S. 84. 575 Auf diese Behauptung bin ich in populärwissenschaftlichen Werken immer wieder gestoßen. 576 Vgl. Migdisova, Svetlana/Petrenko, Elena: Reklamnye ob’’javlenija v transporte i prislannye po pote rossijane sitajut menee poleznymi istonikami informacii, em obmen mnenijami so sluajnymi sobesednikami, 13.5.1994 (http://bd.fom.ru/report/cat/societas/market_economy/ of19940708 [3.4.2008]). 577 Vgl. Evstaf’ev, Vladimir/Pasjutina, Evgenija: Istorija rossijskoj reklamy. 1991-2000, Moskau 2002, S. 155; Hartmann, Jens: Russische Mittel-
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spiel lässt sich als Synonym für zwei gleichzeitig ablaufende Tendenzen der russischen Gesellschaft der 1990er Jahre verstehen, die sich einerseits materiell ausdifferenzierte und andererseits von einer enormen Bedeutungszunahme der Werbung geprägt wurde. Während Werbung für teure Markenprodukte die reichen Konsumenten ansprach, wurden die armen Konsumenten durch eine solche Art von Trittbrettfahrer-Werbung zum Kauf eines Produktes animiert, das zu billig war, als dass sich aus dem Umsatz ein bemerkenswertes Werbebudget finanzieren ließ.578 Werbung wurde in dieser Zeit zwar zu einem allgegenwärtigen Phänomen des Alltags, aber ein großer Teil des Werbepublikums war nicht Adressat der Werbung ob seiner zu geringen finanziellen Möglichkeiten.579 Die Marktforschung ermittelte folglich, dass manch ein Konsument gereizt auf Werbung reagierte, weil er sich die angepriesenen Waren nicht leisten konnte.580 Vor dem Hintergrund der Pauperisierung breiter Verbraucherschichten ließ sich also der Konsum von Werbung für viele Menschen als einzige Möglichkeit zur Teilnahme an einer Konsumwelt, von der sie sonst ausgeschlossen waren, deuten. Ab dem Jahr 1994 griff die Karikatur das Thema Werbung stark auf. In den Folgejahren gab es keine Ausgabe der Zeitschrift „Krokodil“, in der nicht eine oder mehrere Karikaturen das Phänomen Werbung an sich bzw. Werbung für bestimmte Marken thematisierten. Ab dem Jahr 1996 widmete sich eine eigene Rubrik „Werbeagentur Lugowkin i K°“ dem Phänomen. Verglichen mit anderen Themen aus Politik und Wirtschaft fällt die quantitative Bedeutung des Phänomens Werbung in der Karikatur in den 1990er Jahren auf. Dies spiegelte die enorme Präsenz der schicht entdeckt die Marken, in: Welt am Sonntag 20.3.2005 (http://www .wams.de/data/2005/03/20/613598.html?prx=1 [1.4.2008]). 578 Ärmere Konsumentengruppen wurden nicht nur wie hier bei der Kommunikationspolitik, sondern auch bei der Distributionspolitik berücksichtigt. Ein Beispiel hierfür stellte der Verkauf von Packungen mit kleinerer Inhaltsmenge dar. So wurden in den 1990er Jahren Zigaretten einzeln und die Limonade Coca-Cola an manchen Orten in 0,2-Liter-Flaschen verkauft. Vgl. Butrin, Dmitrij: Gorod malen’kich konfet i butylok, in: Kompanija 23/1999 (http://www.ko.ru/document. php?id=548 [1.4. 2008]). 579 Vgl. Sal’nikova, Ekaterina: Entdeckung eines neuen Lebens. Fernsehwerbung in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in Russland, in: Forschungsstelle Osteuropa Bremen (Hg.): Kommerz, Kunst, Unterhaltung. Die neue Popularkultur in Zentral- und Osteuropa, Bremen 2002, S. 301317, hier: S. 303-305; Levinson, Aleksej: Zametki po sociologii i antropologii reklamy, in: Novoe literaturnoe obozrenie 22/1996, S. 101-128, hier: S. 104-106. 580 Vgl. Schulus, Alexej/Demidow, Alexander: Es mangelt vor allem an Geld und Orientierung, in: Absatzwirtschaft 2/1995, S. 110-112, hier: S. 112.
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Werbung im Alltag und in der Wahrnehmung der Menschen in dieser Zeit wider.581 Die im Folgenden herangezogenen Beispiele sind daher nur eine Auswahl der Karikaturen, die in den 1990er Jahren Werbung thematisieren. Fast jede der folgenden Beobachtungen ließe sich auch durch andere Karikaturen belegen. Besondere Beachtung in der Karikatur fand Werbung für Wodka, Tiernahrung, Kaugummi, Schokoladenriegel und Produkte der Damenhygiene. Dies zeugt einerseits von einer großen Präsenz dieser Produktgruppen und Marken in der Werbung und andererseits von einer hohen Einprägsamkeit der Werbebotschaften. Außerdem waren einige dieser Produkte wie beispielsweise Tampons oder Tiernahrung auf dem russischen Markt Produktinnovationen, was eine besondere Aufmerksamkeit bei den Verbrauchern begründete. Die Karikatur sah in den 1990er Jahren Werbung als Störfaktor. Mit dem Satz „Stopp! Werbepause!“ werden dabei Szenen genau dann unterbrochen, wenn sie am spannendsten sind oder wenn es am wenigsten passt. In einer Karikatur wird der Henker mit erhobenem Beil bei der Hinrichtung gestoppt, weil der Herrscher Werbung für „Zaren-Wodka“ machen möchte.582 In einem anderen Beispiel wird eine Beerdigung beim Herablassen des Sarges für eine Werbepause unterbrochen. 583 Die Aussage ging also dahin, dass Werbung und hierbei vor allem Fernsehwerbung in den ersten Jahren ihres massiven Auftretens in Russland ungewohnt, irritierend, unpassend und störend wirkte. In einer Karikatur aus dem Jahr 1998 wird ein Mann zu einem Tier, weil ihm die Werbung allzu sehr auf die Nerven geht. 584 Aus Sicht der Karikatur erschien Werbung Mitte der 1990er Jahre nicht nur zu unpassenden Zeiten, sondern auch an unpassenden Orten. „Hier könnte Ihre Werbung sein“: auf dem nackten Bauch eines Mannes oder in einer geöffneten Sprotten-Dose.585 Selbst ein 500-Rubel-Schein bot aus Sicht eines Karikaturisten „Platz für Werbung“.586 Ein weiterer Topos bezüglich Werbung in der Karikatur war die Gegenüberstellung von Werbeaussagen und Realität. Eine Vielzahl von 581 Bezeichnenderweise setzte sich auch einer der populärsten russischen Romane der 1990er Jahre, „Generation P“ von Viktor Pelewin, mit dem Phänomen Werbung in dieser Zeit auseinander. Zur Würdigung dieses Romans für das Phänomen Werbung in Russland: Butrin, Dmitrij: Pervyj mif o reklame, in: Kompanija 14/1999 (http://www.ko.ru/document.php? id=399 [1.4.2008]). 582 Krokodil 1/1993, S. 11 (V. Mochov). 583 Krokodil 8/1994, S. 14 (V. Sumarokov). 584 Krokodil 8/1998, S. 3 (O. stis, V. Lugovkin [Thema]). 585 Krokodil 6/1994, S. 4 (A. Solodov, Saratov); Krokodil 9/1996, S. 10 (V. Fedorov). 586 Krokodil 10/1995, S. 5 (A. Solodov, Saratov).
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Karikaturen befasste sich mit diesem Thema. Die in der Werbung versprochenen Wirkungsweisen eines Produktes waren in der Realität danach nicht immer erstrebenswert: Nach dem Genuss von Kaffee Pele beginnt ein Mann, durch das Schlafzimmer mit einem Fußball zu laufen, was seine im Bett liegende Partnerin mit den Worten „Noch einmal bekommst du keinen Kaffee ,Pele‘ mehr zum Abendessen!“ kommentiert.587 Und auch der Versuch, eine Handlung aus der Werbung in der Realität zu praktizieren, führt aus Sicht der Karikatur zu komisch-absurden Situationen: Ein Mann sitzt inmitten Dutzender auf dem Boden liegender Butterbrote vor dem Werbefernsehen und sagt zu seiner in der Tür stehenden Frau: „Fünf Butterbrote sind immerhin mit der Butter nach oben aufgekommen!“588 Die Karikatur griff auch einzelne Werbeslogans auf und setzte sie in einen anderen Kontext, was zu komischen Situationen führte. Eine offensichtlich beim Fremdgehen von ihrem Partner erwischte Frau hält schützend ihre Arme vor einen Kleiderschrank und zitiert einen Slogan aus der Werbung für Produkte der Damenhygiene: „Frauen haben ihre Geheimnisse!“589 Ein andermal hält eine Frau ihrem Alkohol trinkenden Mann einen Schokoladenriegel hin: „Mach eine Pause, nimm ein ,TWIX‘!“590 Die Ironie lag wiederum in der hier provozierten Differenz zwischen dem Werbekontext, dem diese Slogans entnommen sind, und der in der Karikatur dargestellten Realität. Die in der Karikatur imaginierte Übertragung von Slogans sowie Handlungs- und Wirkungsweisen der Werbung auf die Realität führte also zu absurden Situationen, was die Wahrnehmung abbildete, dass die in der Werbung dargestellte Welt realitätsfern und künstlich empfunden wurde. Zugleich stellten diese Karikaturen jedoch eine beachtliche Präsenz bestimmter Slogans und Werbekontexte in der Wahrnehmung der Menschen heraus. Die Werbewelt entsprach aus Sicht der Karikatur nicht der Lebenswelt der russischen Verbraucher. In einer Karikatur aus dem Jahr 1993, die im Rahmen des Wettbewerbes „Wir lachen noch“ an die Redaktion gesandt wurde, wird im Fernsehen mit dem Slogan „Wodka ,Smirnof-f‘ ist der reinste Wodka der Welt!!!“ geworben. Dies beantwortet ein Mann in Unterwäsche: „Selbstgebrannter ,Sidorof-f‘ ist der stärkste Selbstgebrannte in der Welt!“591 Die Praxis, Wodka selbst zu brennen, wurde der Schaffung von Wodkamarken und Werbung für sie gegenübergestellt. Das Versprechen des reinen Wodkas in der Werbung ist 587 588 589 590 591
Krokodil 9/1998, S. 9 (V. Lugovkin). Krokodil 10/1998, S. 7 (V. Lugovkin). Krokodil 12/1997, S. 13 (V. Milejko, Sankt Petersburg). Krokodil 8/1996, S. 8 (V. Milejko). Krokodil 8/1993, S. 16 (V. Zinovik, Bachisaraj).
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jenseits der Lebensrealität des dargestellten Wodka-Konsumenten, der im Alkohol möglichst günstige Berauschung sucht, womit er keine Minderheit in Russland am Anfang der 1990er Jahre repräsentierte. Werbung wurde folglich als ein nur an die kaufkräftigen Teile der Gesellschaft adressierter medialer Inhalt interpretiert. Auch die Versprechungen der Werbung wurden in der Karikatur als übertrieben und unglaubwürdig dargestellt. In einer Karikatur klingt aus dem Fernseher „Wir nehmen uns Ihrer Probleme an“, worauf eine Frau mit Besen zu einem Mann mit Beil in der Hand meint: „Wanja! Können die auch Holz hacken?“592 Kritisiert wurde also einerseits, dass Werbung den Konsumenten Großes verspricht, ohne sich jedoch wirklich um deren Belange, Sorgen und Probleme zu kümmern. Außerdem wurde der Gegensatz zwischen der Welt der durchschnittlichen russischen Verbraucher und der Welt der Werbung herausgestellt. Werbung im Russland der 1990er Jahre schuf auch ein Problembewusstsein für Themen, die vorher nicht als Problem wahrgenommen worden waren: Ein Mann erscheint mit Gasmaske und Blumenstrauß zu einer Verabredung: „Entschuldige, meine Liebe, aber ich bin mir nicht sicher, ob Dein Atem frisch ist!“593 An anderer Stelle wird ein Bus abgebildet, in dessen vorderen Abteil sich die Menschen drängen, in dessen hinteren Abteil jedoch nur ein Mann steht: „Er wäscht sich die Haare nicht mit ,Head and Shoulders‘!“594 Probleme wie Mundgeruch oder Schuppen hatte es zuvor nicht in dem Maße gegeben bzw. sie waren nicht öffentlich thematisiert worden. Diese Karikaturen enthielten also die Kritik, dass Werbung die Angst vor sozialer Stigmatisierung zu ihren Zwecken instrumentalisierte. Die Karikatur griff Werbung für Produkte der Damenhygiene mehrfach auf. In einer Karikatur wird ein sinkendes Schiff gezeigt, das den Notruf „SOS!! Leck unter Deck!!“ aussendet, was ein anderes Schiff kommentiert mit „Haben Sie ,Tampax‘ ausprobiert?“.595 In einer anderen Karikatur wird die Banalität der Werbeversprechen anhand dieses Produktes thematisiert, indem eine Frau einer anderen verkündet: „Ein neuer ,Tampax‘ ist herausgekommen – und ist um ganze zehn Prozent größer als ein gewöhnlicher!“596 Einerseits wurde hier die Wichtigkeit, die in der Werbung einem Produkt wie Tampons gegeben wird, überzeichnet und ironisiert. Andererseits wurde eine gerade durch diese Werbung empfundene Übertretung des Schamgefühls abgebildet, da 592 593 594 595 596
Krokodil 1/1996, S. 15 (V. Lugovkin). Krokodil 10/1998, S. 7 (A. Evtuenko, Rostov na Donu). Krokodil 9/1998, S. 9 (P. Kozi). Krokodil 8/1997, S. 7 (A. Evtuenko, Rostov na Donu). Krokodil 9/1996, S. 10 (V. Kaprel’janc).
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Werbung für diese Produkte stark in den Intimbereich des Einzelnen hineinreicht. All diese Deutungen und Bewertungen der Werbung erscheinen überhaupt nicht ungewöhnlich oder überraschend. Bemerkenswert ist vielmehr, dass dieses Phänomen und die Kritik an dessen negativen Seiten einen so großen Raum in der Öffentlichkeit einnahmen und nicht als Selbstverständlichkeit ignoriert wurden. Diese Kritik an der Werbung ähnelt in Inhalt und Aussage den konsumkritischen Texten von Vance Packard und Wolfgang Haug aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, die auf die Entwicklung des Massenkonsums in den USA und Deutschland reagierten und ebenfalls vor allem die Auswüchse der Werbung anprangerten.597 In dieser Zeit kritisierte auch die Frankfurter Schule „Kulturindustrie“ und Reklame, die sie für die Ökonomisierung und die Banalisierung der Kultur und folglich für einen generellen Kulturverlust verantwortlich machte. 598 Im Russland der 1990er Jahre wurde daher eine fehlende Sozialisation mit dieser Kommunikationsform nachgeholt, was große Beachtung und intensive Auseinandersetzung provozierte. Der Durchbruch der kommerziellen Kultur des Massenkonsums sowie die Etablierung von Fernsehwerbung stellten den historischen Hintergrund sowohl für die westliche als auch die russische Konsum- und Werbekritik dar. Werbung wurde in dieser Zeit zu einem fast allen Menschen zugänglichen Angebot von Bildern, Slogans, Szenen und Geschichten und daher zu einer bedeutenden Ressource kultureller Produktion. Die Karikatur stellte dieses kulturelle Angebot der Werbung alternativen Angeboten aus sowjetischer Zeit und aus der Volkskultur gegenüber. In einer Karikatur wird die bekannte sowjetische Zeichentrickserie „Jetzt warte aber!“ („Nu pogodi!“), in der ein Wolf einen Hasen jagt und dabei stets die Drohung aus dem Titel ausspricht, in eine Verbindung mit der Werbung für Batterien der Firma Duracell gebracht, in der ein batteriegetriebener Stoffhase mit Trommel durch seine lange Laufzeit überrascht. In der Karikatur droht der Wolf dem davoneilenden Duracell-Hasen mit der Trommel: „Jetzt warte aber, Energizer!“599 Anhand dieser Verbindung von sowjetischem Zeichentrick mit postsowjetischer Werbung wird hier eine Gleichzeitigkeit kultureller Ressourcen aus verschiedenen historischen Kontexten konstatiert, die in einem Spannungsverhältnis 597 Vgl. Haug, Wolfgang: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/M. 1971; Packard, Vance: Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewussten in Jedermann, Düsseldorf 1958 [1957]. 598 Vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 101984 [1947], S. 108-150. 599 Krokodil 4/1996, S. 10 (S. Spasskij).
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zueinander stehen. Eine ähnliche Aussage wurde auch in einer weiteren Karikatur getroffen, jedoch wurde hierbei Werbung der alten Volkskultur gegenübergestellt. In einer Anspielung an das Märchen vom Rotkäppchen fragt ein Mädchen einen Wolf im Bett „Warum hast du so große Zähne?“, was der Wolf beantwortet mit „Ich kaue ,Orbit ohne Zucker‘!“600 Der Karikaturist ging hier von der Geläufigkeit des Märchens Rotkäppchen wie auch der Werbung für den Kaugummi Orbit aus und erklärte damit die Gültigkeit dieser beiden kulturellen Ressourcen in den 1990er Jahren. Werbung wurde demnach als eine wesentliche, wenn nicht gar die wesentlichste neue Ressource kultureller Produktion, die in einem Spannungsverhältnis zu anderen Angeboten aus sowjetischer und vorsowjetischer Zeit stand, empfunden.
Markenwahrnehmung und Markenbewusstsein nach 1992 Der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft in der Sowjetunion führte bezüglich des Markenbewusstseins der Verbraucher zu einer außergewöhnlichen Situation. Bis dahin hatte es keine bzw. kaum systematische Markenführung oder Markentechnik für einzelne sowjetische Produkte mittels verschiedener kommunikativer Maßnahmen wie Werbung oder Verkaufsförderung gegeben. Auch waren die Konsumenten nicht so gut mittels ausländischen Werbefernsehens über westliche Marken informiert, wie dies in der DDR der Fall war. Lediglich an den territorialen Rändern wie beispielsweise in der Estnischen Republik, wo man finnisches Fernsehen empfing und aufgrund sprachlicher Verwandtschaft auch etwas verstand, waren die Verbraucher über westliche Marken ein wenig besser unterrichtet.601 Die Informationen und Urteile, die bei den Verbrauchern in der Sowjetunion über westliche Marken bestanden, waren nicht Ergebnis systematischer Beeinflussung durch das Marketing, sondern vorrangig Ergebnis der Vorstellungskraft der Verbraucher. Die Sowjetunion beim Übergang zur Marktwirtschaft war also aus markentechnischer Sicht beinahe eine Tabula rasa. Studien der Marktforschung bieten einen Eindruck, wie schnell oder langsam sich ein Markenbewusstsein unter den russischen Verbrauchern in den 1990er Jahren entwickelte. Ein gewisses Bewusstsein für die „Firma“ hatte es ja bereits unter den sowjetischen Verbrauchern gegeben. Welche Rolle der Nachweis der Marke für die russischen Konsumenten beim Einkauf spielte, lässt sich aus den Ergebnissen einer Befra600 Krokodil 12/1995, S. 6 (S. Spasskij). 601 Vgl. Keller, Margit: Freedom Calling. Telephony, mobility and consumption in post-socialist Estonia, in: European Journal of Cultural Studies 8 2/2005, S. 217-238, hier: S. 218.
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gung vom März 1994 ablesen. Demnach spielte „die Reputation einer Ware, die Marke“ eine nachrangige Rolle im Vergleich zu den Gebrauchseigenschaften einer Ware (Tabelle 75). Diese Ergebnisse sind vor dem Hintergrund von Inflation, der Zufälligkeit des Angebots infolge eines nicht konstituierten Handelssystems und der Verarmung breiter Konsumentenschichten zu sehen. Zum einen fehlte den Verbrauchern der finanzielle Spielraum, Konsumentscheidungen primär anhand von Marken zu treffen, außerdem macht zumindest bei schnelldrehenden Konsumgütern erst ein konstantes Angebot Markenbewusstsein im Sinne von Markentreue möglich.602 Männer 1 Wesentliche Bedeutung haben Qualität, Haltbarkeit und Zuverlässigkeit 2 Mich leiten Überlegungen bezüglich Nutzen und Notwendigkeit einer Ware 3 Für mich ist die Reputation einer Ware, die Marke, sehr wichtig 4 Ich nehme das billigste 5 Ich denke vor allem an Sicherheit und Unschädlichkeit
Frauen Wesentliche Bedeutung haben Qualität, Haltbarkeit und Zuverlässigkeit Mich leiten Überlegungen bezüglich Nutzen und Notwendigkeit einer Ware Ich nehme das billigste
Ich denke vor allem an Sicherheit und Unschädlichkeit Für mich ist die Reputation einer Ware, die Marke, sehr wichtig
Tabelle 75: „Wenn Sie beim Einkauf etwas auswählen, wovon gehen Sie hauptsächlich aus?“ (März 1994, Russland, Mehrfachnennung)603 Im Jahr 1995 diskutierte ein Artikel der Zeitschrift Ogonjok die Markenfrage unter der Überschrift „Was ist eine Marke?“, wobei für Russland ein Übergangsstadium von einem „Markt von Waren“ zu einem „Markt
602 Diese Zufälligkeit des Angebots und die Unmöglichkeit zu habituellem Markenkonsum fielen mir noch in den Jahren 2001 und 2002 bei einem einjährigen Aufenthalt in Russland auf. Auch wenn ich nach einigen Monaten „meine“ Marken, die mich vor Fehlkäufen aufgrund sprachlicher Missverständnisse schützen sollten, gefunden hatte, so musste ich dennoch häufig andere Marken kaufen, weil es in den vorherrschenden kleinen Verkaufsstätten und Kiosken „meine“ Marken nicht gab. 603 Vgl. Migdisova, Svetlana/Petrenko, Elena: Vybiraja tovar, muiny, ae enin obraajut vnimanie na torgovuju marku. eniny e ae vybirajut to, to podeevle, 20.5.1994 (http://bd.fom.ru/report/cat/socie tas/market_economy/trade/produce_custom/of19940807 [3.4.2008]).
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von Marken“ konstatiert wurde. 604 Auch in den nächsten Jahren blieb die Bedeutung der Marke für die Konsumenten gering. Die Kriterien „äußere Erscheinung“, „Gewohnheit, eine bestimmte Ware zu kaufen“ und „Herstellerfirma“, die Faktoren von Markenbewusstsein sind, wurden in den Jahren 1997 und 1999, also im Jahr vor und im Jahr nach der Krise 1998, nur von einer Minderheit der Verbraucher als wesentliches Kriterium beim Konsum genannt. Zentrale Bedeutung wies man dem Preis und der Qualität eines Produktes zu (Tabelle 76). Nicht ersichtlich wird allerdings, inwieweit sich das oft genannte Kriterium „Qualität“ bei der Produktwahl in einer Präferenz für bestimmte Marken niederschlug. Deutlich wird hingegen, dass wie schon zu sowjetischen Zeiten auch in den 1990er Jahren für manche Konsumenten das Herkunftsland eines Produktes eine wichtige Rolle spielte.
Preis Qualität Äußere Erscheinung, Verpackung Herkunftsland Gewohnheit, eine bestimmte Ware zu kaufen Herstellerfirma Empfehlungen von Bekannten Mode, Prestige Zeitersparnis beim Einkauf, Möglichkeit ohne Schlange einzukaufen Neuheit Überzeugende Werbung Anderes Weiß nicht
April 97 77 77 18 10 6 7 7 4 5
April 99 83 74 13 11 8 7 5 4 3
2 2 1 2
2 1 1 1
Tabelle 76: „Wodurch werden Sie geleitet, wenn Sie eine Ware auswählen? Was ist Ihnen am wichtigsten bei der Wahl einer Ware?“ (1997/ 1999, Russland, maximal drei Nennungen)605 Auch auf die Frage, welche Marken sich als erste im Bewusstsein der Verbraucher festsetzen konnten, bietet die Marktforschung Antworten. Bei einer russlandweiten Befragung im Jahr 1994 wurden auf die Frage, welche drei westlichen Marken den Konsumenten spontan in den Sinn 604 Vgl. o. V.: to takoe brnd? „Choper“ i MMM – ue ut’ bol’e, em tovarnyj znak, in: Ogonek 10/1995, S. 39. 605 Vgl. FOM: em vy obyno rukovodstvuetes’, vybiraja tovar? to dlja vas naibolee vano pri vybore tovara? (ne bolee 3-ch otvetov), 14.4.1999 (http://bd.fom.ru/report/cat/societas/market_economy/trade/otechestvenn aya_i_importnaya_produktsiya/t904303 [3.4.2008]).
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kommen, vor allem Marken der Unterhaltungselektronik (Sony 18,8%, Panasonic 6,4%, Philips 5,7%, Sharp 3,5%), Marken von Kleidung und Schuhen (Adidas 10,2%, Salamander 8,3%) und Marken von Schokoladeriegeln (Snickers 15,5%, Mars 7,9%) genannt.606 Die bekannteste westliche Marke in Russland war zu diesem Zeitpunkt mit Sony eine Marke aus dem Bereich der langlebigen Konsumgüter. Wie die Analyse des Anschaffungsverhaltens der russischen Verbraucher gezeigt hat, waren die 1990er Jahre insbesondere geprägt von Neuanschaffungen im Bereich der Unterhaltungselektronik. Die hohe Bedeutung dieser Produkte für die Konsumenten, die sich auch in einer hohen Markenbekanntheit ausdrückte, war vor allem darin begründet, dass insbesondere technische Geräte ihren Besitzern zu dieser Zeit die Anmutung von Prestige und Status boten.607 Die Marke Sony konnte an eine relativ hohe Bekanntheit unter den Verbrauchern bereits am Ende der Sowjetunion anschließen.608 Für die Bekanntheit all dieser Marken spielte Werbung keine wesentliche Rolle. Bis einschließlich 1994 wurde in Russland hauptsächlich für Finanzdienstleistungen und Banken geworben und nur nachrangig für Konsumgüter. Im Zuge weiterer Anschaffungen von technischen Geräten steigerte sich die Dominanz von Marken aus diesem Bereich in der Wahrnehmung der Konsumenten. Bei einer russlandweiten Befragung vom April 1998 nannten die meisten Verbraucher auf die Aufforderung „Nennen Sie bitte drei Marken beliebiger Waren oder Dienstleistungen, die Ihnen als erstes in den Sinn kommen“ Marken aus dem Bereich der Audio-, Video- und Haushaltstechnik. Mit weitem Abstand folgten Marken aus den Kategorien Körper- und Haushaltspflege, Lebensmittel, Autos, Bier und alkoholische Getränke, Erfrischungsgetränke, Sportausrüstung sowie Kaugummi (Tabelle 77). Die Befragten konnten sich im Durchschnitt nur an 1,6 Marken und nicht an die gefragten drei erinnern, was auf eine insgesamt geringe Aufmerksamkeit der Konsumenten gegenüber Marken hinweist. Auch am Ende der 1990er Jahre hatte also Werbung nur einen nachrangigen Einfluss auf die Nennung der Marke durch die Verbraucher. Die am häufigsten genannte Marke, Gold Star, war im Jahr zuvor nämlich nicht unter den hundert meist beworbenen Marken.609 606 Vgl. Schulus, Alexej/Demidow, Alexander: Es mangelt vor allem an Geld und Orientierung, in: Absatzwirtschaft 2/1995, S. 110-112, hier: S. 111. 607 Juri Poletajew, Lewada-Zentrum, 16.5.2006. 608 Vgl. o. V.: Der Stern strahlt auch im Osten, in: Absatzwirtschaft 8/1990, S. 12. 609 Vgl. Poletaev, Jurij/mitov, Dmitrij: Magieskie brendy (skai o kakich firmennych markach ty dumae’, i ja skau v kakom obestve ty ive’),
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Audio-, Video- und Haushaltstechnik Körper- und Haushaltspflege Lebensmittel Autos Bier, alkoholische Getränke Erfrischungsgetränke Sportausrüstung Kaugummi Tabak
Warenkategorien der genannten Marken 62
Werbeaufwand im Vorjahr
12 7 6 5 4 2 1 1
48 25 0 0 3 0 8 1
7
Tabelle 77: Werbeaufwand für einzelne Produktkategorien im Jahr 1997 und Warenkategorien der durch Konsumenten genannten Marken im Jahr 1998 (Russland)610 Ein wesentliches Problem für die Konsumenten wie auch die Hersteller von Markenprodukten stellten im Russland der 1990er Jahre Plagiate dar.611 Plagiiert wurden in dieser Zeit sämtliche Konsumgüter, von Lebensmitteln über Kleidung bis hin zu technischen Geräten und Medien. Teilweise wurden Plagiate minimal gegenüber dem Original verändert wie die Kassettenrekorder „Pavasonic“ (statt Panasonic) oder die Turnschuhe „Reebuk“ (statt Reebok), teilweise wurden die Fälschungen den Originalen zur Gänze nachempfunden. Auch wenn sich die Markenpiraterie im Verlauf der 1990er Jahre erheblich minderte, so wurde der Schaden, der allein ausländischen Firmen noch im Jahr 2000 dadurch entstand, auf eine Milliarde US-Dollar oder mehr geschätzt.612 Die Existenz von Plagiaten machte im Russland der 1990er Jahre fast schon eine Marke aus. Ein erster Fall der Plagiierung russischer Marken wurde in der russischen Fachpresse folglich mit der Überschrift „Hurrah! Einheiin: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 6/1998, S. 36-40, hier: S. 37f. 610 Vgl. Poletaev, Jurij/mitov, Dmitrij: Magieskie brendy (skai o kakich firmennych markach ty dumae’, i ja skau v kakom obestve ty ive’), in: Monitoring obestvennogo mnenija: konomieskie i social’nye peremeny 6/1998, S. 36-40, hier: S. 38. 611 Jewgeni Mjasin, WNIIKS/WNIIPRiM, 3.7.2006. 612 Vgl. Kaulinskij, Maksim/Kovalenko, Vlad: Pokuenie na brnd, in: Kompanija 20/2002 (http://www.ko.ru/document.php?id=4307 [1.4. 2008]); Telicyna, Irina/Filimonov, Sergej: „Palenye“ milliardy, in: Kompanija 8/2000 (http://www.ko.ru/document.php?id=1419 [1.4.2008]); Telicyna, Irina: Ochota na „levych“ olenej, in: Kompanija 40/2002 (http://www.ko.ru/document.php?id=5476 [1.4.2008]).
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mische Marken werden inzwischen gefälscht“ kommentiert. 613 Unter den Bedingungen des Umbruchs und der Krise konnten Marken den Konsumenten die Gewissheit von Qualität und das Wissen über die Herkunft einer Ware nur mäßig bieten. Konsumenten wirken immer bei der Kreation von Marken mit, da sie die durch Werbung vermittelten Bedeutungen teilweise auf nicht absolut vorhersehbare Art und Weise rezipieren oder Produkten eigene Bedeutungen zuschreiben.614 Für das Russland der frühen 1990er Jahre galt dies in besonders hohem Maße, da es kaum eine Tradition bei den Markenbildern gab und erst in den 1990er Jahren von Seiten der Hersteller begonnen wurde, Marken mit Bedeutung zu schaffen. Denn auch wenn die sowjetischen Konsumenten westliche Marken teilweise kannten und bestimmte sowjetische Hersteller besonders schätzten, so wurden sie bis Anfang der 1990er Jahre nicht systematisch durch Marketing und Werbung beeinflusst. Bis 1994 gab es zudem nur wenig Werbung für Konsumgüter, so dass man erst ab dem Jahr 1995 von einer stringenten Markentechnik in diesem Bereich sprechen kann. Konsumenten schrieben also am Anfang der 1990er Jahre auf anarchistische Manier westlichen Markenprodukten, für die nicht oder nur wenig geworben wurde, Bedeutungen zu. Als Beispiel für eine solche anarchistische, kollektiv geteilte Bedeutungszuweisung durch die Konsumenten lässt sich die Konnotation „Verbrecherauto“ für Autos der Marken BMW und Mercedes anführen. Von den Automobil-Produzenten sicherlich nicht intendiert, entstand dieses Markenbild auf Basis der vorherrschenden Meinung, dass Reichtum und Kriminalität in einem engen Zusammenhang stehen und somit die Besitzer teurer Autos ihr Geld nicht auf rechtmäßige Art und Weise erworben haben.615 Dass Waren Namen in arbiträrer Weise zugewiesen werden, war keine neue Erscheinung in postsowjetischer Zeit, auch die sowjetischen Waren hatten zumindest zum Teil sprechende Namen. Neu war aber die Ausweitung des Phänomens auf fast alle Waren und die über eine Bezeichnung hinausgehende Bedeutungsgabe durch Werbung und weitere Marketingmaßnahmen. Die Karikatur griff dieses Phänomen auf und ironisierte das Verhältnis zwischen Bedeutungsinhalt der Produktbezeichnung und dem Produkt selbst: Eine Balletttänzerin, die Zigaretten 613 Starostin, Sergej: Vinokury. Ura! Oteestvennye brndy ue poddelyvajut, in: Kompanija 38/2000 (http://www.ko.ru/document.php?id=2212 [1.4. 2008]). 614 Vgl. Karmasin, Helene: Produkte als Botschaften, Frankfurt/M./Wien 3 2004 [1993], S. 203-205. 615 Vgl. o. V.: to takoe brnd? „Choper“ i MMM – ue ut’ bol’e, em tovarnyj znak, in: Ogonek 10/1995, S. 39; Althanns, Luise: Markenbewusstsein in Russland, Diplomarbeit Universität Passau 2003, S. 59.
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der Marke Prima raucht, wird in einer Karikatur vorgestellt mit: „Das ist unsere Prima-Ballerina ...“616 In einem anderen Beispiel verkaufen auf einem Markt ein Arzt „Doktorwurst“ und ein Wissenschaftler „Kandidatenwürstchen“.617 In einer weiteren Karikatur ist eine sehr runde Tänzerin abgebildet, die Pralinen der Marke Raffaello in Schachteln genießt.618 Mit ihren runden Formen soll sie dem Frauenideal des Künstlers Raffael entsprechen, doch ist sie so als Tänzerin nicht geeignet und wirkt wie das Gegenteil einer Werbung für diese Marke. Diese Karikaturen deckten also die Willkür bei der Kreation von Produktbezeichnungen und Marken auf und stellten die Komik heraus, die deren Wörtlichnehmen bergen würde. Auch dies dokumentierte die Neuartigkeit der Führung von Marken mit arbiträrer Bedeutung in jener Zeit für die Menschen.
Marken als Ausdruck kultureller und politischer Selbstverortung Die Bedeutungen, die Produkten und Marken von Herstellerseite zugeschrieben werden, lassen sich als Versuche der Selbstverortung einer Gesellschaft verstehen. Diese Zuweisungen speisen sich aus dem kollektiv geteilten historischen und kulturellen Wissen, sie bieten Deutungen der Gegenwart an und kommunizieren Wertvorstellungen. Marken und Produkte sind einerseits Bedeutungsangebote, andererseits Reaktionen auf aufgespürte Trends. Die neu entstehende russische Markenwelt und deren Wandel während der 1990er Jahre lassen sich folglich als Ausdruck und Spiegel einer Selbstverortung der russischen Gesellschaft in dieser Zeit begreifen. Die ersten neu geschaffenen Marken russischer Hersteller in den 1990er Jahren trugen oft ausländisch klingende und mit lateinischen Buchstaben geschriebene Bezeichnungen. Bekanntes Beispiel ist der russische Lebensmittelhersteller Wimm-Bill-Dann, der im Jahr 1995 Saft in sieben verschiedenen Sorten unter der Marke J7 (Seven Juices) auf den Markt brachte.619 Russische Hersteller versuchten vom generell größeren Vertrauen der Konsumenten zu importierten Produkten und 616 617 618 619
Krokodil 10/1993, S. 13 (V. Dubov). Krokodil 1/1998, S. 11 (V. Lugovkin). Krokodil 7/1996, S. 8f (V. Lugovkin). Vgl. Kostjuchin, Pavel/Loginov, Aleksej: Izmenenie struktury distrib’jucii v uslovijach bystrogo rosta (na primere razvitija ZAO „Torgovaja Kompanija Vimm-Bill’-Dann“), in: Marketing i marketingovye issledovanija v Rossii 5/2000, S. 35-37; VIMM-BILL’-DANN PRODUKTY PITANIJA (http://www.wbd.ru/page_pid_466.aspx, http://www.wbd.ru/ page_pid_26 4.aspx [1.4.2008]).
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auch von deren Neugier zu profitieren, indem sie ihren Marken die Aura des Ausländischen gaben. Allein schon durch die Verwendung lateinischer Buchstaben für den Markennamen konnte ein Produkt in Russland die Konnotation „ausländisch“ erhalten. Im Verlauf dieses Jahrzehnts wurden neuen Produkten dann vorrangig in denjenigen Bereichen ausländische Namen zugewiesen, in denen ein bestimmtes Herkunftsland traditionell für hohe Qualität stand wie Deutschland oder Italien für Schuhe. Als Antwort auf die emotional und ökonomisch begründete Hinwendung der Verbraucher zu einheimischen Waren tauchten ab Ende der 1990er Jahre vor allem bei Nahrungs- und Genussmitteln Marken einheimischer und ausländischer Hersteller auf, die dezidiert als russisch positioniert wurden. Der Hersteller Wimm-Bill-Dann nannte so im Jahr 1997 eine neue Marke von Milchprodukten Häuschen auf dem Land und im Jahr 1999 einen neuen Saft Lieblingsgarten.620 Als sehr weitgehendes Beispiel für eine pseudorussische Marke eines ausländischen Herstellers kann man hier Russland Großherzige Seele, eine Dachmarke für Schokolade von Nestlé, anführen. Seit 1994 besitzt diese Firma aus der Schweiz ein Aktienkontrollpaket an der alten Schokoladenfabrik Russland. Mit der Markenpositionierung schmückte man die Süßwaren nicht nur mit dem Attribut Russland, sondern verwies zudem auf die sprichwörtliche große Seele der Bewohner. 621 Generell wurden in dieser Zeit primär Marken aus günstigen Preissegmenten als russisch positioniert, Premium-Produkte erhielten weiterhin ausländisch klingende und mit lateinischen Buchstaben geschriebene Bezeichnungen wie die im Jahre 1998 von Wimm-Bill-Dann eingeführte Saftmarke Rio Grande.622 Die arbiträre Zuweisung einer ausländischen oder russischen
620 Vgl. Kostjuchin, Pavel/Loginov, Aleksej: Izmenenie struktury distrib’jucii v uslovijach bystrogo rosta (na primere razvitija ZAO „Torgovaja Kompanija Vimm-Bill’-Dann“), in: Marketing i marketingovye issledovanija v Rossii 5/2000, S. 35-37; VIMM-BILL’-DANN PRODUKTY PITANIJA (http://www.wbd.ru/page_pid_466.aspx, http://www.wbd.ru/ page_pid_26 4.aspx [1.4.2008]). 621 Vgl. Güldenberg, Hans: „Russland Großherzige Seele“, in: Marketingjournal 11/2004, S. 18-22; Pravdivaja istorija / Fabrika v samom serdce Rossii (http://www.rossiashokolad.ru/history/factory/ [1.4.2008]). 622 Vgl. Kostjuchin, Pavel/Loginov, Aleksej: Izmenenie struktury distrib’jucii v uslovijach bystrogo rosta (na primere razvitija ZAO „Torgovaja Kompanija Vimm-Bill’-Dann“), in: Marketing i marketingovye issledovanija v Rossii 5/2000, S. 35-37; VIMM-BILL’-DANN PRODUKTY PITANIJA (http://www.wbd.ru/page_pid_466.aspx, http://www.wbd.ru/ page_pid_26 4.aspx [1.4.2008]).
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Herkunft zu Marken folgte im Russland der 1990er Jahre also kulturell sowie ökonomisch bedingten Konjunkturen des Raumbezuges.623 Produkte und Marken können nicht nur raumbezogene, sondern auch zeitbezogene bzw. historische Konnotationen besitzen. Das sowjetische Konsummodell hinterließ seine Produktbezeichnungen, so dass am Ende der 1990er Jahre etwa jede fünfte Marke in Russland sowjetischen Ursprungs war. Vor allem bei Wodka, Tabak und Süßwaren wurden alte sowjetische Bezeichnungen fortgeführt. Auch Bezeichnungen von manchen Marken, die es vor 1917 in Russland gegeben hatte, wie das Mineralwasser Borschomi oder die Schuhe Skorochod waren Teil des sowjetischen Produkt-Erbes. Einige dieser alten Markenprodukte mit Ursprung in vorrevolutionärer oder sowjetischer Zeit wurden am Ende der 1990er Jahre mit neuer Verpackung, verbesserter Rezeptur und einer gesteigerten Sortenvielfalt aufgewertet und gezielt vermarktet. Die sowjetische Praxis, dass die Bezeichnungen von Waren vorrangig Sortenbezeichnungen und nicht Marken mit Bezug zu einem bestimmten Hersteller waren, führte zu rechtlichen Problemen bezüglich des geistigen Eigentums an diesen Bezeichnungen. Einzelne Hersteller versuchten, sich die Rechte für bestimmte Bezeichnungen zu sichern, insbesondere wenn es sich um sehr beliebte oder bekannte Produkte wie beispielsweise bestimmte Wodkamarken handelte. Teilweise überließen die neuen Eigentümer der Marke die Nutzungsrechte auch anderen Herstellern gegen Lizenz wie beim Bier Schiguljowskoje oder im wechselseitigen Tausch wie bei Süßwaren. Manche dieser Bezeichnungen, die einen schlechten Ruf bei den Verbrauchern genossen, wie die Zigaretten Astra oder Belomorkanal versuchte niemand zu seinem Eigentum zu machen und sie wurden folglich weiterhin von verschiedenen Herstellern genutzt. Die unklaren Rechtsverhältnisse führten jedoch zu Rechtsstreitigkeiten bezüglich der Markenrechte und der Praxis der Lizenzvergabe.624 623 Vgl. Vdovin, Vlad: Nai b’jut, in: Kompanija 44/1999 (http://www.ko.ru/ document.php?id=1078 [1.4.2008]); Ievlev, Vitalij: Tovarnyj znak i prodvienie tovara na rossijskom rynke, in: Marketing i marketingovye issledovanija v Rossii 3/1997, S. 32-40; Eigendorf, Jörg: Vaterländisch produzieren, in: Die Zeit 26.9.1997, S. 32. 624 Vgl. Aleksandrov, Filipp: Chroniki rossijskoj reklamy, Moskau 2003, S. 311; Deichsel, Alexander: Marken als wichtige Wirtschaftskraft, in: Marketingjournal 11/2004, S. 12-16; Gidaspov, Ivan: Monye konfliktogeny, in: Kompanija 31/2000 (http://www.ko.ru/document.php? id=2027 [1.4.2008]); o. V.: Stoit li modernizirovat’ legendarnye marki?, in: Kompanija 7/2005 (http://www.ko.ru/document.php?id=11325 [1.4.2008]); Prosvetov, Ivan/Gidaspov, Ivan: Brndy, kotorye my terjaem, in: Kompanija 31/2000 (http://www.ko.ru/document.php?id=2025 [1.4.2008]); Prosvetov, Ivan: Tabaok ue vroz’, a syr ee ne raspilili, in: Kompanija 31/2000 (http://www.ko.ru/document.php?id=2026 [1.4.2008]); Prosve-
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Gegen Ende der 1990er Jahre verstärkte sich nicht nur das Interesse russischer und auch ausländischer Unternehmen an den Rechten an alten sowjetischen Bezeichnungen. Am Beginn des dritten Jahrtausends wurden vereinzelt auch neue Marken geschaffen, die in arbiträrer Weise als „sowjetisch“ positioniert wurden. Beispiele dafür sind die Zigaretten UdSSR und Prima Nostalgija oder das Eis UdSSR nach der Art des sowjetischen Plombirs.625 Symbole aus der sowjetischen Vergangenheit werden für die Produktgestaltung verwandt: Die Verpackung des Eises UdSSR zieren Elemente der sowjetischen Raumfahrt und das sowjetische Gütesiegel. Auf der Schachtel der Zigaretten Prima Nostalgija ist schemenhaft der Kopf Lenins abgebildet. Diese erfundenen neuen – wie auch die aufgewerteten alten – Marken gehörten zumeist einem niedrigen Preissegment an und sollten mit nostalgischen Anspielungen an sozialistische Produkte und Symbole bei einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen und somit den Verlierern des Umgestaltungsprozesses positive Marketingeffekte erzielen. Auf eine positive Einstellung zur eigenen Vergangenheit weist auch die Erfindung neuer Marken, die historische Personen aus vorrevolutionärer Zeit instrumentalisieren, am Ende der 1990er Jahre hin. Als Beispiele lassen sich Peter I-Zigaretten, Stepan Rasin- und Newskoje-Bier nennen, die von russischen wie auch ausländischen Herstellern erdacht wurden. Die historischen Namensgeber dieser Marken, die mittleren Preissegmenten angehören, stehen für glorreiche Ereignisse der russischen Geschichte. Auch Mars warb in dieser Zeit für den Schokoladenriegel Twix mit einem Fernsehspot, der auf den Dichter Alexander Puschkin verwies.626 All dies zeugt von einer Aufwertung oder auch nostalgischen Neubewertung des Erbes der sowjetischen Produktkultur sowie der Vergangenheit schlechthin. Eine Mehrheit der Russen empfand während der 1990er Jahre nämlich nostalgische Gefühle mit der Zeit vor dem Einsetzen der Reformen im Jahr 1985, welche sich insbesondere am Konsum-
tov, Ivan/Kovalenko, Vladislav: Choroo li zabyto staroe?, in: Kompanija 4/2003 (http://www.ko.ru/document.php?id=6189 [1.4.2008]); Rühl, Paul: Handelsmarken aus Sowjetzeiten. Eine Goldgrube oder: auf den Kehrichthaufen der Warengeschichte?, in: Osteuropa-Archiv 51 7/2001, S. A179-A187; Vanifatova, Marija: Fenomen torgovoj marki v sovremennom marketinge. Problemy ocenki stoimosti marki, in: Marketing i marketingovye issledovanija v Rossii 6/2001, S. 37-48, hier: S. 41f. 625 Diese Produkte wurden im Frühjahr 2006 im Einzelhandel in Moskau verkauft. 626 Vgl. Patico, Jennifer: Consuming the West but Becoming Third World. Food Imports and the Experience of Russianness, in: Anthropology of East Europe Review. Central Europe, Eastern Europe and Eurasia 21 1/2003, S. 31-36, hier: S. 35, Fußnote 1.
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niveau festmachten. 627 In ethnologischen Studien wurde mehrfach herausgestellt, dass der Übergang vom Plan zum Markt von Praktiken der kommerziellen Aneignung des Vergangenen und Traditionellen begleitet wurde.628 Konsumgüter, für deren Markenpositionierung die Vergangenheit instrumentalisiert wird, bieten den Verbrauchern die Möglichkeit, Erinnerung zu teilen und sich erlebte Geschichten und Erfahrungen ins Gedächtnis zu rufen. 629 Walter Sperling argumentiert für Russland, dass Marken mit historischen Symbolen in der Orientierungslosigkeit der Menschen bezüglich der Rolle Russlands nach dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Verlust der Großmachtstellung als ein Identität stiftendes Moment dienen konnten.630 Mit Pierre Nora lassen sich diese historisierenden Marken als „Erinnerungsorte“ bezeichnen,631 die in dieser Zeit des Umbruchs im Rahmen eines umfassenden gesellschaftlichen Nationsbildungsprozesses geschaffen wurden.632 Die Praxis, Personen und Symbole aus sowjetischer und vorrevolutionärer Zeit zu zitieren, etablierte sich in einer Zeit, in der sich im Zuge des Amtsantritts des neuen Präsidenten Putin auch auf staatlicher Ebene ein als unverkrampft oder relativierend zu bezeichnender Umgang mit der eigenen Vergangenheit beobachten ließ. Die Wiedereinführung der sowjetischen Hymne mit neuem Text im Jahr 2000 lässt sich als deutlichstes Kennzeichen dafür heranziehen.633 Die historischen Konnotationen von Produkten folgten in dieser Zeit somit auch Konjunkturen des Geschichtsverständnisses.634 627 Vgl. S. 158-165. 628 Vgl. Berdahl, Daphne: „(N)Ostalgie“ for the Present. Memory, Longing, and East German Things, in: Ethnos 64 2/1999, S. 192-211; Lankauskas, Gediminas: On „Modern“ Christians, Consumption, and the Value of National Identity in Post-Soviet Lithuania, in: Ethnos 67 3/2002, S. 320-344. 629 Vgl. Caldwell, Melissa: The Taste of Nationalism. Food Politics in Postsocialist Moscow, in: Ethnos 67 3/2002, S. 295-319, hier: S. 307f. 630 Vgl. Sperling, Walter: „Erinnerungsorte“ in Werbung und Marketing. Ein Spiegelbild der Erinnerungskultur im gegenwärtigen Rußland?, in: Osteuropa 51 11,12/2001, S. 1321-1341. 631 Vgl. Nora, Pierre (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005. 632 Zur Schaffung von Erinnerungsorten in Monumenten in der russischen Hauptstadt während der 1990er Jahre siehe: Forest, Benjamin/Johnson, Juliet: Unraveling the Threads of History. Soviet-Era Monuments and Post-Soviet National Identity in Moscow, in: Annals of the Association of American Geographers 92 3/2002, S. 524-547. 633 Vgl. Reitschuster, Boris: Putins Demokratur. Wie der Kreml den Westen das Fürchten lehrt, Berlin 2007. 634 Während der Präsidentschaft Putins wurde dann er selbst aufgrund seiner großen Popularität für die Schaffung von Marken wie dem Wodka Putinka oder der Eiscreme Putin instrumentalisiert. Vgl. Kremen’, Tat’jana: Putinskie mesta, in: Korrespondent 6.10.2007, S. 54-56.
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In diesem Kontext und vor dem Hintergrund eines angespannten Verhältnisses gegenüber den USA in Folge des Konfliktes im ehemaligen Jugoslawien sind auch Werbekampagnen am Ende der 1990er Jahre zu sehen, in denen Russland als dem Westen entgegengesetzt und überlegen dargestellt wird: Die Zigarettenmarke 1812 instrumentalisierte den als glorreich empfundenen Sieg Russlands über Napoleon in eben diesem Jahr, der auf den Werbeplakaten durch einen Napoleon mit blauem Auge veranschaulicht wurde. Die Kampagne „Der Gegenschlag“ für die Zigaretten Jawa an der Jahrtausendwende zeigte Russland in verschiedenen Sieges- und Überlegenheitsposen gegenüber den USA.635 Marken wie diese lassen sich als Fortführung der politischen Aufladung des Konsums aus sowjetischer Zeit unter marktwirtschaftlichen Bedingungen verstehen. War früher das reale Konsumniveau ein Ergebnis politischen Gutdünkens, so erfolgte nun die arbiträre Zuschreibung politischer Aussagen zu Konsumgütern. Von Seiten der Hersteller geschah dies über das Medium, das in einem marktwirtschaftlichen Konsumkontext Raum für Konnotationen bietet: der Marke. Da die Bedeutungszuschreibung zu Produkten stets den Verkauf fördern soll, transportierten diese Marken politische Aussagen, die von den Konsumenten als positiv empfunden wurden – zumindest in der Unterstellung der Produktgestalter. Vor dem Hintergrund der prekären wirtschaftlichen Lage großer Teile der Bevölkerung waren innenpolitische Themen für das Marketing nicht geeignet, außenpolitische aber offensichtlich schon. Diese Tendenzen im Marketing gingen somit Hand in Hand mit dem Aufkommen konsumpatriotischer Stimmungen in dieser Zeit. Der Vergleich des russischen Falls mit dem anderer postsozialistischer Gesellschaften bezüglich der Markenwelt bei Konsumgütern deckt deutliche Ähnlichkeiten auf. In den neuen Bundesländern löste eine Präferenz der Konsumenten für alte Produkte aus der DDR, nun „Ostprodukte“, recht schnell die bedingungslose Akzeptanz westlicher bzw. westdeutscher Marken ab. In einer dritten Phase postsozialistischen Konsums ließ sich dann die Etablierung regionaler Produkte beobachten. Auch hier erfolgte in einigen Werbekampagnen der 1990er Jahre eine dezidierte Abgrenzung vom westlichen Deutschland.636 In Ungarn zeig635 Vgl. Aleksandrov, Filipp: Chroniki rossijskoj reklamy, Moskau 2003, S. 286f; Kreisel, Anja: Russland und der Pausensnack. Die Werbung als Agent des Westens, in: Henn, Bettina/Kreisel, Anja/Steinweg, Dagmar (Hg.): Das Eigene und das Fremde in der russischen Kultur. Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Selbstdefinition in Zeiten des Umbruchs, Bochum 2000, S. 244-271, hier: S. 244f. 636 Vgl. Gries, Rainer: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003, S. 11-51; Siegrist, Hannes: Konsum und Alltagskultur in den neuen Bun-
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ten sich räumliche und historische Selbstverortungsprozesse während der 1990er Jahre ebenfalls in einer sich wandelnden Positionierung von Konsumgütern und sich verändernden Präferenzen der Verbraucher.637 Eine durch den Umbruch ausgelöste Verunsicherung der Menschen in postsozialistischen Kontexten bezüglich ihrer kulturellen Selbstverortung und der Bewertung ihrer Vergangenheit wurde also jeweils bei der Konzeption neuer Marken und der Wiederbelebung alter Produktbezeichnungen berücksichtigt und gleichsam abgebildet. Marketing und Werbung wurden im Übergang vom Plan zum Markt zum sichtbarsten Ausdruck des allgemeinen Wandels. Die Sowjetunion hinterließ eine bedeutungsarme Produktwelt, die einheimischen und ausländischen Herstellern in den 1990er Jahren Raum für verschiedenste neuartige Sinnangebote bei der Vermarktung ihrer Konsumgüter bot. Im postsowjetischen Russland etablierte sich innerhalb weniger Jahre insbesondere bei Nahrungs- und Genussmitteln ein differenziertes Angebot von internationalen und explizit für diesen Markt erdachten Marken. Anhand der raumbezogenen, historischen und politischen Bedeutungszuschreibungen zu Produkten lassen sich die durch den Wandel induzierten Selbstverortungs- und Nationsbildungsprozesse der russischen Gesellschaft in dieser Zeit ausmachen.
desländern, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V. (Hg.): Ungeschehene Geschichte. Bilanz nach 10 Jahren deutscher Einheit, Schkeuditz 2001, S. 91-109; Bach, Jonathan: „The Taste Remains“. Consumption, (N)ostalgia, and the Production of East Germany, in: Public Culture 14 3/2002, S. 545-556. 637 Vgl. Müller, Fruzsina: Retro Fashion, Nostalgia and National Consciousness. Success of a Revived Shoe Brand from Socialist Hungary (http://www.nosztalgia.net/cms/index.php?option=com_content&task= view&id=38&Itemid=83 [1.4.2008]).
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Zusammenfassung Dieser Teil befasste sich mit den zwei wesentlichen Konsuminnovationen dieser Zeit. Das erste Kapitel ging der Frage nach, wie sich die politische und ökonomische Öffnung während des Übergangs vom Plan zum Markt auf den Konsum auswirkte. Die Herkunft von Produkten stellte für die sowjetischen Verbraucher ein wichtiges Unterscheidungskriterium dar. Die sowjetischen Konsumenten brachten generell Waren gemäß der Wertschätzung, die sie deren Herkunftsland zusprachen, in eine Rangordnung. Besonders Waren aus dem Westen standen für Qualität und Prestige. Auch wenn die Konsumenten immer wieder Möglichkeiten hatten, westliche Produkte zu erwerben, so waren diese kein generelles Element des sowjetischen Massenkonsums. Das große Interesse der Verbraucher gegenüber Produkten mit dieser Herkunft war wesentlich in der Seltenheit der Begegnung begründet. Die politische und wirtschaftliche Öffnung ab Ende der 1980er Jahre zeigte sich dann auch im Konsumangebot. Noch zu sowjetischer Zeit begannen westliche Konsumgüterhersteller, Werbung für ihre Produkte zu machen und ihre Waren in der Sowjetunion zu verkaufen. Das massive Aufkommen westlicher Waren und Vermarktungsweisen sowie die sehr positive Haltung der Verbraucher ihnen gegenüber wurden in Russland in den 1990er Jahren pointiert als „Snickerisierung“ bezeichnet. Ein wichtiges historisches Ereignis war in diesem Zusammenhang die Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau im Januar 1990 und damit noch in sowjetischer Zeit, was großen Zuspruch unter den Verbrauchern fand. In der Öffentlichkeit wurde dieses Restaurant als Synonym für einen bedenklichen westlichen Einfluss auf den Konsum und die russische Kultur gedeutet und in den Kontext des damaligen Defizits gebracht. Während der 1990er Jahre unterschied sich die Präferenz der Konsumenten für ausländische oder einheimische Waren in den verschiedenen Produktbereichen. So ist es fraglich, ob es bei Lebensmitteln je eine eindeutige Präferenz für importierte Produkte gab. Bei Kleidung und technischen Geräten bevorzugten die Verbraucher hingegen die 1990er Jahre hindurch ausländische Waren. Die Einstellung der Konsumenten zu einheimischen und ausländischen Konsumgütern in den 1990er Jahren war jedoch nicht nur kulturell und historisch bedingt, sondern hatte auch einen politischen und ökonomischen Hintergrund. Mit dem Konsum einheimischer Waren beabsichtigten die Verbraucher, die einheimische Volkswirtschaft zu unterstützen, was auch von politischer Seite gefördert wurde. Die wirtschaftliche Krise des Jahres 1998 machte dann eine Hinwendung zu einheimischen Gütern bei den Verbrauchern zu
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einer ökonomischen Notwendigkeit. Der sich in Einstellungen, realen Kaufhandlungen und Diskurs niederschlagende Konsumnationalismus dieser Zeit erschien folglich als ein Krisenphänomen. Nach dem Übergang zur Marktwirtschaft zeigte sich in Russland die Globalisierung sehr deutlich im Felde des Konsums. Das zweite Kapitel untersuchte, wie sich der Stellenwert des Marketings für den Konsum im Übergang vom Plan zum Markt wandelte. Die Produktkultur der Sowjetunion war aus markentechnischer Sicht fast eine Tabula rasa. Den Konsumenten kam daher zu sowjetischer Zeit eine wesentliche Rolle bei der Schaffung von Waren mit Bedeutung und der Entwicklung von Unterscheidungskriterien bei der Produktwahl zu. Anstelle von Marken ermöglichten feste Preise für bestimmte Produkte sowie die Beachtung des Herstellers bzw. der „Firma“ den Verbrauchern eine gewisse Sicherheit der Orientierung bei der Wahl von Waren. Der Übergang zur Marktwirtschaft ging dann mit einer Professionalisierung der Markentechnik und einer enormen Präsenz von Werbung im Alltag einher. Die Konsumenten fühlten sich durch das Ausmaß an Werbung gestört, wenn sie ihr auch als Informationsquelle durchaus Wichtigkeit zusprachen. Kritisierte die Karikatur des „Krokodils“ in den letzten sowjetischen Jahren vorrangig den Mangel, so stand in den 1990er Jahren das Phänomen Werbung im Kreuzfeuer der Kritik. Dies spiegelte den Wandel von einem politisierten hin zu einem kommerziellen bzw. marktwirtschaftlichen Konsummodell wider. Der Entwicklung eines habituellen Markenkonsums ab 1992 standen vor allem die mangelnden finanziellen Ressourcen der Verbraucher sowie die Nichtkonstituiertheiten des Angebots entgegen. Der Konsum von Werbung stellte für breite Verbraucherschichten die einzige Möglichkeit dar, an der neuen Konsumwelt teilzuhaben. Ungewohnt und neu für die Konsumenten war die Praxis des Marketings, Produkten in absolut arbiträrer Art und Weise Namen und Erlebniswelten zuzuweisen. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich in Russland gerade bei Nahrungs- und Genussmitteln ein differenziertes Angebot von internationalen und explizit für diesen Markt erdachten Marken. Viele dieser neu geschaffenen Marken spiegelten gesellschaftliche Selbstverortungsprozesse dieser Zeit wider, die zu sich wandelnden raumbezogenen, historischen und politischen Bedeutungszuschreibungen zu Produkten führten. Die in diesem Teil untersuchten „Konsuminnovationen“ stehen für die zentralen Veränderungen des Konsums in dieser Zeit, die sowohl Aufmerksamkeit erzeugten, als auch Kritik hervorriefen. Beide „Konsuminnovationen“, also das Aufkommen ausländischer und insbesondere westlicher Waren für den Massenkonsum wie auch die Vermark-
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tung von Produkten nach marktwirtschaftlichen Maßstäben, setzten bereits in den letzten sowjetischen Jahren ein. Während sich in den 1990er Jahren für die Präferenzen der Konsumenten bezüglich der Provenienz von Waren Konjunkturen ausmachen ließen, die sich auch in der Positionierung von neuen Produkten niederschlugen, so war und blieb die Einstellung der Verbraucher zu Werbung und Marketing schlechthin skeptisch.
Z U S A M M E N F A S S U NG U N D A U S BL I C K
Wie veränderte sich die Sphäre des Konsums in der Sowjetunion und dann in Russland im Übergang vom Plan zum Markt? Dieser abschließende Teil fasst die Ergebnisse der Studie zusammen und bietet einen Ausblick auf die Entwicklung des Konsums in den Folgejahren.
Ko n s u m i m Ü b e r g a n g v o m P l a n z u m M a r k t Es lassen sich für die Jahre 1985 bis 2000 in der Sowjetunion und dann in Russland drei Phasen ausmachen, die sich bezüglich der Konsumbedingungen für die Verbraucher sowie der Bewertung des Konsumalltags durch diese unterschieden. Auf eine erste Phase, die noch vorrangig von den Bedingungen des sowjetischen Konsummodells geprägt war (19851988), folgte als zweites eine Phase krisenhafter Zustände beim Konsum (1989-1991). Schließlich lässt sich als drittes eine Phase des Konsums unter marktwirtschaftlichen Vorzeichen ausmachen (1992-2000). Bis Ende der 1980er Jahre wirkte das sowjetische Konsummodell fort, in dem das Konsumniveau sowohl auf individueller wie auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ein Ergebnis politischer Entscheidungen war. Für die Konsumenten stellten in dieser Zeit der Mangel und die mangelhafte Qualität von Konsumgütern die zentralen Probleme dar. Die letzten zwei bzw. drei Jahre der sowjetischen Zeit sind als Phase einer Konsumkrise zu bezeichnen. Diese Krise war ein Ergebnis verschiedener Faktoren: So verschlechterte sich die reale Versorgung der Menschen in quantitativer und qualitativer Hinsicht und es mussten höhere Preise gezahlt werden. Zudem ermöglichte die Ausweitung des Spielraums, die eigene Meinung frei zu äußern, Mängel des Konsumalltags, die es zuvor
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auch schon gegeben hatte, anzuprangern. Diese Konsumkrise war folglich auch Produkt und Ausdruck der neuen Meinungsfreiheit. Die anschließende Phase des Konsums unter marktwirtschaftlichen Bedingungen begann für die Menschen als eine Erfahrung des Chaos und starker Widersprüchlichkeiten. Prägend für diese Zeit war die so genannte „Bazarisierung“ des Konsums. Infolge der Ausdifferenzierung der Konsummöglichkeiten in den 1990er Jahren musste sich ein sehr großer Teil der Verbraucher auf den bloßen Subsistenz-Konsum beschränken. Nur wenige konnten an den Angeboten dieser neuen kommerzialisierten Konsumgesellschaft vollständig partizipieren. Der Übergang vom Plan zum Markt setzte beim Konsum schleichend ein. Bereits ab dem Ende der 1980er Jahre ließ sich eine Erosion des Regimes fester Preise beobachten. Die Wirtschaftsreformen dieser Zeit ermöglichten private Unternehmertätigkeit. Die Verbraucher sahen sich daraufhin einem Angebot von besseren und zugleich teureren Waren privater Herkunft gegenüber. Auch Werbung für Konsumgüter aus dem Westen gab es bereits während der letzten sowjetischen Jahre, obwohl diese Güter teilweise noch gar nicht frei verkauft wurden. Es lässt sich daher etwa für die Jahre 1990 bis 1992 eine Gleichzeitigkeit des marktwirtschaftlichen und des planwirtschaftlichen Konsummodells mit Fast Food von McDonald’s auf der einen Seite und mit Mangel an Grundnahrungsmitteln sowie Rationierungsscheinen für bestimmte Konsumgüter auf der anderen Seite feststellen. Die Verbraucher sahen sich gleichzeitig mit den negativen Seiten beider Konsummodelle, nämlich den planwirtschaftlichen Defiziten und den hohen Preisen der Marktwirtschaft, konfrontiert. Während der ersten Zeit nach der generellen Freigabe der Preise und der Liberalisierung des Handels bestanden die chaotischen Zustände beim Konsum erst einmal fort, und es dauerte einige Zeit, bis die Situation leerer Geschäfte und fragwürdiger Handelsbedingungen im Wesentlichen überwunden war. In dieser Zeit ergaben sich bezüglich zweier Aspekte des Konsums wesentliche Veränderungen. Zum einen internationalisierte sich das Warenangebot, zum anderen stieg die Bedeutung des Marketings. Diese beiden Innovationen riefen große Aufmerksamkeit hervor und lösten ambivalente Emotionen aus. Die politische und wirtschaftliche Öffnung führte zu einer Internationalisierung des Angebots, wobei Waren aus dem Westen von Seiten der Verbraucher und auch in der intellektuellen Auseinandersetzung vorrangige Beachtung zukam. Bereits in sowjetischer Zeit hatten die Konsumenten westlichen Waren großes Interesse entgegengebracht, gerade weil sie so selten die Gelegenheit zur Begegnung hatten. Die Begeisterung der Menschen über Konsumerlebnisse mit Waren aus dem Westen wurde daher bedingt durch eine Neugier, die
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bis dahin nicht durch Konsumerlebnisse gestillt werden konnte, und durch die reale Zuspitzung der Versorgung mit einheimischen Gütern. Bereits in der Mitte der 1990er Jahre zogen die russischen Konsumenten jedoch westliche Waren nicht mehr generell einheimischen Produkten vor. Der aufkommende Konsumnationalismus war zunächst emotional, dann auch ökonomisch begründet und lässt sich als ein Krisenphänomen charakterisieren. Im Felde des Marketings ereignete sich die zweite Konsuminnovation dieser Zeit. Die Neuigkeit bestand darin, dass arbiträre Bedeutungen in systematischer und professioneller Weise Produkten zugewiesen wurden. Werbung wurde in den 1990er Jahren zu einem Phänomen des Alltags, das in seiner Omnipräsenz bei den Menschen Irritationen auslöste. Davon nur mäßig beeinflusst entwickelte sich die Markenkenntnis der Verbraucher, die sich zunächst vor allem Markennamen von Unterhaltungselektronik einprägten. An diesem Produktbereich hatten die Menschen ein besonderes Interesse, da hier große Wünsche und Ziele nach Neuanschaffungen bestanden. Die Konnotationsfläche von Produkten aus dem Bereich der schnelllebigen Konsumgüter wurde in diesen Jahren oftmals für Zuschreibungen zur raumbezogenen, historischen und politischen Selbstverortung genutzt, was sich als Reaktion auf ähnlich gelagerte gesellschaftliche Prozesse deuten lässt. So gewannen am Ende der 1990er Jahre Produktbezeichnungen aus sowjetischer Zeit wieder an Wert und es wurden neue Produkte, welche die russische Vergangenheit oder Elemente der russischen Volkskultur thematisierten, geschaffen. Die zentralen Konsumgüter dieser Zeit und dieses Wandels waren Wurst, Fast Food von McDonald’s und Unterhaltungselektronik. Wurst war am Ende der 1980er Jahre ein hoch politisiertes Gut innerhalb des sowjetischen Konsummodells, dessen Mangel mit einem generellen Versagen des Versorgungsstaates gleichgesetzt wurde. Die sich in den Jahren 1990 und 1991 zuspitzende Kritik am Mangel eben dieses Gutes lässt sich folglich nur teilweise auf eine reale Verschlechterung des Versorgungsniveaus zurückführen. Das Phänomen McDonald’s hingegen ist eng verbunden mit der Internationalisierung bzw. Verwestlichung des Konsumangebots im Zuge des politischen und wirtschaftlichen Wandels in dieser Zeit. Die Eröffnung des ersten McDonald’s hatte einen hohen symbolischen Stellenwert und löste in der Öffentlichkeit eine intensive Auseinandersetzung bezüglich der Selbstverortung zwischen den Angeboten westlichen Konsums und daher auch der westlichen Kultur sowie der eigenen russischen Tradition aus. Konsumgüter aus dem Bereich Unterhaltungselektronik – vor allem Farbfernseher, aber auch Videorekorder – schließlich waren das primäre Anschaffungsziel der russischen
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Konsumenten in den 1990er Jahren. Bereits während der 1980er Jahre wünschten sich die Menschen mehrheitlich diese Geräte. In marktwirtschaftlicher Zeit konnten viele Menschen nicht an den neuen Angeboten des Konsums partizipieren, doch der „Konsum“ von Werbung im Fernsehen ermöglichte ihnen zumindest eine mediale Teilhabe an der Konsumgesellschaft unter neuen Voraussetzungen. Der Übergang vom Plan zum Markt war geprägt von einer extremen sozioökonomischen Ausdifferenzierung, die sich auch im Konsum niederschlug. Bereits in den 1980er Jahren bedingten die Verteilungsregeln des sowjetischen Konsummodells Ungleichheiten beim Zugang zu Konsum. Gemäß Studien der staatlichen Konsumforschung spielte Konsum zu diesem Zeitpunkt auch in sozialistischen Gesellschaften eine zunehmende Rolle für die symbolisch-kulturelle Differenzierung der Menschen. Im Zuge der Kommerzialisierung differenzierte sich in den 1990er Jahren die Gesellschaft stark aus, was zu einer Polarisierung der Konsumenten hinsichtlich des Zugangs zu Konsum führte. Sowohl während der 1980er als auch während der 1990er Jahre bot demonstrativer Konsum Anlass zur Skepsis und wurde in einen Zusammenhang mit Kriminalität gebracht. Neu waren die Vertreter des demonstrativen Konsums, nämlich die neuen Unternehmer am Ende der 1980er Jahre und die „Neuen Russen“ während der 1990er Jahre. Die Kritik an „kleinbürgerlichen“ Konsumpraktiken in den 1980er Jahren war vorrangig ein Ergebnis normativer Vorstellungen, die dem sowjetischen Konsummodell inhärent waren. Die Kritik am demonstrativen Konsum während der 1990er Jahre hingegen stellte das Ergebnis der Tradierung alter Deutungsmuster und Wertvorstellungen sowie der Kommerzialisierung und sozialen Diskriminierung beim Konsum dar. Konsum war während des Übergangs vom Plan zum Markt ein ausgeprägtes Politikum. Aus der meinungspolitischen Öffnung in dieser Zeit resultierte vielgestaltige Kritik sowohl an den Missständen des planwirtschaftlichen wie auch des marktwirtschaftlichen Konsummodells: Zunächst standen das Versagen des Versorgungsstaates und Ungleichheiten im Zugang zu Konsum und hierbei vor allem die Privilegien der politischen Oberschicht im Vordergrund, dann die Kommerzialisierung der Gesellschaft mit ihren negativen Folgen für die Menschen. Die Kritik am Konsumalltag während des Übergangs vom Plan zum Markt erschien als Ausdruck einer generellen Enttäuschung über ein kommunistisches Experiment, welches die Utopie einer egalitären Überflussgesellschaft nicht erfüllen konnte. Die von Nikita Chruschtschow formulierte Vision des „Einholens und Überholens“ der USA bezüglich des Konsumniveaus offenbarte sich in dieser Zeit endgültig als Illusion. Während in den letzten Jahren des Bestehens der Sowjetunion die
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Symbole und Zeichen dieses Staates in einen Gegensatz zu Konsum gebracht wurden, so drückte man während der 1990er Jahre damit die Überkommenheit alter Wertvorstellungen im Zuge der allgemeinen Kommerzialisierung, die sich aus dem weitgehenden Rückzug des Staates von der sozialpolitischen Gestaltung der Lebensbedingungen ergab, aus. Vor dem Hintergrund der sozialen Probleme der 1990er Jahre erschien das Leben in der Sowjetunion in einem besseren Licht, was zu einer Idealisierung des Konsumstandards der Vergangenheit führte. Während des Übergangs vom Plan zum Markt änderten sich die verschiedenen Aspekte des Konsums in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Betrachtet man beispielsweise die durchschnittliche Ausstattung der Verbraucher mit langlebigen Konsumgütern, so lässt sich in quantitativer Hinsicht in den 1990er Jahren eine Stagnation im Vergleich zum Niveau der 1980er Jahre beobachten. Lediglich Güter aus dem Bereich der Unterhaltungselektronik stellten eine Ausnahme dar. Die Übernahme von Marketing und Werbung hingegen erfolgte in kürzester Zeit. Am Ende der 1990er Jahre stand Russland bezüglich der Präsenz des Marketings im Alltag westlichen Konsumgesellschaften in nichts hinterher. Außerdem nahm der Wandel des Konsums in mancherlei Hinsicht mehrdeutige Ausprägungen an. So bevorzugten die Verbraucher lediglich am Beginn der 1990er Jahre Waren aus dem Westen. Bald besann man sich jedoch wieder auf russische Produkte und hierbei insbesondere auf russische Lebensmittel. Die ökonomischen Folgen der Krise des Jahres 1998 verstärkten diese zunächst geschmacklich und emotional motivierte Hinwendung zu einheimischen Gütern. Auch Produktbezeichnungen aus sowjetischer Zeit, die am Beginn der 1990er Jahre ein absolutes Tabu für die Markenkommunikation waren, gewannen gegen Ende des Jahrzehnts wieder an Wert. Die Wirklichkeiten, die im Übergang vom Plan zum Markt mit der Konsumsphäre in einem Zusammenhang standen, waren das Ergebnis individueller und kollektiver Konstruktionsleistungen. Die statistischen Daten ergeben ein anderes Bild über die Versorgungssituation, als es sich in der Problematisierung in der Öffentlichkeit darstellte. Das am Ende der sowjetischen Zeit beobachtete und bemängelte Defizit erschien demnach weniger als eine rein absolute Größe, sondern auch als ein Ergebnis von Unzufriedenheit mit dem Konsumniveau und der neuen Möglichkeit, daran Kritik zu üben. Auch die Innovation des Marketings zeigte, wie Konsum von den Zuschreibungen der diversen Akteure beeinflusst wurde. Die Menschen waren befremdet über die marktwirtschaftliche Praxis, Produkten und Marken mittels Werbung und weiteren Kommunikationsmaßnahmen arbiträre Bedeutungen zuzuschreiben. Zwar hatte es auch in sowjetischer Zeit Produkte mit Bezeichnungen
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sowie Werbung gegeben, doch die Erfindung von Markenerlebniswelten war eine Neuheit der 1990er Jahre. Die professionelle Schaffung von arbiträren Produktbedeutungen ersetzte die Notwendigkeit für die Verbraucher, selbst Unterscheidungskriterien für relativ homogene Produkte zu suchen und zu etablieren. Im Übergang vom Plan zum Markt professionalisierte sich die Bedeutungszuschreibung zu Produkten und wandelte sich die Sphäre, aus der sich die Bedeutungszuschreibungen speisten. War Konsum bis dahin vorrangig ein politisch aufgeladenes Phänomen, so fand dann die Zuschreibung von Bedeutungen zu einzelnen Produkten bzw. Marken über das Marketing statt. Ein Vergleich des Konsums in den 1980er und 1990er Jahren offenbart wesentliche Unterschiede zwischen dem plan- und dem marktwirtschaftlichen Konsummodell. Eine zentrale Veränderung fand bezüglich des Prinzips des Zugangs zu Konsum, nämlich vom Privileg hin zum Geld, statt. Ein planwirtschaftliches Moment, dessen Abschaffung für die Verbraucher stark verunsichernd wirkte, war das Regime der festen Preise. Die schleichende Freigabe der Preise führte den Menschen bereits ab Ende der 1980er Jahre das marktwirtschaftliche Prinzip freier Preisbildung vor Augen. In der Sphäre des Konsums ließ sich daher in dieser Zeit eine Versachlichung beobachten, wie sie Georg Simmel als charakteristisch für die Etablierung von Geldwirtschaften bezeichnet hat.638 Die kommerzielle Logik in Marktwirtschaften veränderte auch die Bedingungen für demonstrativen Konsum. Ein für die Mehrheit unerschwingliches Angebot an Konsumgütern wurde in den 1990er Jahren vor aller Augen präsentiert, gekauft und gebraucht. Der Unterschied zwischen den beiden Konsummodellen bestand also weder in der Existenz von privilegierten Konsumentengruppen noch in der Neigung der Menschen zu demonstrativen Konsum, sondern vielmehr in dem Maß, in dem demonstrativer Konsum in der Öffentlichkeit praktiziert wurde. Schließlich stellen auch die Art und Vehemenz, Produkte zu vermarkten, 638 Georg Simmel machte in der großen Bedeutung des Geldes das prägende Charakteristikum der modernen, urbanen Industriegesellschaft aus. Gemäß seiner Analyse nivelliert Geld die Eigenarten von Menschen sowie Dingen und versachlicht die Beziehungen zwischen den Menschen. Vgl. Simmel, Georg: Das Geld in der modernen Kultur, in: ders.: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, Frankfurt/M. 41992 [1896], S. 78-94; Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders.: Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1984 [1903], S. 192-204. Geld ersetzte im Übergang vom Plan zum Markt Privilegien, Verteilungsregeln und persönliche Beziehungen. Da sich allerdings der russische Staat von einer sozialpolitischen Unterstützung der Bedürftigen weitgehend zurückzog und viele Menschen gezwungen waren, sich durch den Eigenanbau von Lebensmitteln zu versorgen, blieben persönliche Beziehungen weiterhin wichtig.
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einen bedeutenden Unterschied zwischen den beiden Konsummodellen dar. Insgesamt kam der konsumtiven Sphäre beim totalen Umbau von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft im Übergang vom Plan zum Markt im sowjetisch-russischen Fall eine sehr hohe Bedeutung zu. Die Menschen schlossen nämlich von ihrer Bewertung der allgemeinen Konsumsituation sowie ihrer persönlichen materiellen Lage auf eine Bewertung der allgemeinen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lage und des Veränderungsprozesses an sich. Die Verschlechterung der Konsumsituation ab dem Ende der 1980er Jahre für die meisten Menschen und die große Unzufriedenheit darüber führten so zu einer negativen Einstellung zum gesamten Umgestaltungsprozess und belasteten die Entwicklung einer positiven Haltung zu den neuen Bedingungen des gesellschaftlichen Gemeinwesens.
Ru s s i s c h e K o n s u m r e v o l u t i o n Vergleicht man den hier untersuchten Wandel des Konsums mit Veränderungen des Konsums in anderen regionalen und historischen Kontexten, so lassen sich die spezifischen Merkmale des Konsums im Übergang vom Plan zum Markt im sowjetisch-russischen Fall ausmachen. Generell kann ein Wandel des Konsums durch politische, ökonomische, soziale, kulturelle und ideologische Faktoren sowie technologische Innovationen hervorgerufen werden. Die hier untersuchte Konsumrevolution war vorrangig ein durch politische und ökonomische Umwälzungen induzierter Wandel. Wesentliche Faktoren dieser politischen und ökonomischen Umgestaltung des Konsums waren Preisfreigabe, Liberalisierung des Handels, freie Unternehmertätigkeit, meinungspolitische Öffnung sowie ein weitgehender Rückzug des russischen Staates von einer sozial- und daher auch konsumpolitischen Gestaltung der Lebensbedingungen seiner Bürger. Die Veränderungen des Konsums im sowjetischrussischen Fall waren daher das Ergebnis eines totalen Systemwandels von einer staatsmonopolistischen Planwirtschaft zu einer – zumindest formal – demokratischen Marktwirtschaft. Das Beispiel Chinas während der Jahre 1985 bis 1995 zeigt hingegen, dass eine auf Kommerzialisierung beruhende Konsumrevolution auch innerhalb des staatsmonopolistischen Systems möglich war: In dieser Zeit verbesserte sich in den Städten Chinas die Ausstattung mit und der Konsum von schnell- und langlebigen Konsumgütern in qualitativer und quantitativer Hinsicht enorm. Die neuen Konsummöglichkeiten schufen größere soziale Freiräume für die Menschen im Alltag, erhöhten die Bedeutung von Luxus
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und wurden von einer sozioökonomischen Ausdifferenzierung begleitet.639 Im Falle der Sowjetunion wie auch der anderen Länder Ost- und Mitteleuropas sowie Chinas waren die umfassenden Veränderungen des Konsums in den 1980er und 1990er Jahren vor allem ein Ergebnis komplexer ökonomischer und politischer Prozesse, allerdings mit unterschiedlichen Ausprägungen. Auch in sozialer Hinsicht wandelte sich der Konsum: Eine wachsende sozioökonomische Ausdifferenzierung zeigte sich deutlich in den Konsumchancen. Die sozialen Veränderungen des Konsums waren daher Folge der neuen Rahmenbedingungen. Stellte eine soziale Öffnung des Konsums ein konstituierendes Element früherer Konsumrevolutionen wie in England im 18. Jahrhundert oder im westlichen Europa der 1950er Jahre dar,640 so erlebte Russland während der 1990er Jahre eine soziale Schließung des Konsums. Die generelle soziale Öffnung des Konsums im 20. Jahrhundert war ein Resultat sinkender Preise im Zuge von Rationalisierungserfolgen durch die internationalisierte Massenproduktion,641 die soziale Schließung des Konsums im Russland der 1990er Jahre hingegen war das Ergebnis enormer Preissteigerungen infolge einer Kommerzialisierung des Angebots, ohne dass diese sozialpolitisch abgefedert wurde. Sind es in der Massenkonsumgesellschaft die feinen Unterschiede und nicht mehr die groben, welche die soziale Position der Menschen kennzeichnen, 642 so galt dies im Russland der 1990er Jahre nicht. Führt man sich vor Augen, dass in Folge des Wandels breite Ver-
639 Vgl. Davis, Deborah: Introduction. A revolution in consumption, in: Miller, Daniel (Hg.): Consumption. Critical concepts in the social sciences. Volume II: The history and regional development of consumption, London/New York 2001, S. 283-307. 640 Vgl. McKendrick, Neil: Introduction. The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-century England, in: McKendrick, Neil/Brewer, John/Plumb, John: The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-century England, London 1982, S. 1-6; Kaelble, Hartmut: Europäische Besonderheiten des Massenkonsums 1950-1990, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 169-203. 641 Vgl. Haupt, Heinz-Gerhard: Der Konsument, in: Frevert, Ute/Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M./ New York 1999, S. 301-323, hier: S. 304. 642 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1987 [1979]; Haupt, Heinz-Gerhard: Der Konsument, in: Frevert, Ute/Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M./New York 1999, S. 301-323, hier: S. 306-311.
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brauchergruppen vom Konsum ausgeschlossen wurden, mutet es fast zynisch an, dieses Phänomen als Konsumrevolution zu bezeichnen. In kultureller und ideologischer Hinsicht nahm der Wandel des Konsums im untersuchten Kontext diffuse Ausprägungen an. Die egalitäre und auf Rationalisierung des Verbrauchs ausgerichtete Konsumutopie des Kommunismus wurde in den letzten Jahren der Sowjetunion in der Öffentlichkeit als Farce bezeichnet. Die Ablehnung eines übermäßigen und demonstrativen Konsums erhielt sich allerdings, auch wenn eine solche normative Haltung nicht der neuen marktwirtschaftlichen Logik entsprach. Nichtsdestotrotz stellte die starke Neigung der Reichen, der so genannten „Neuen Russen“, zu demonstrativem Konsum ein kennzeichnendes Moment des Wandels dar. Auch in anderen historischen und regionalen Kontexten heizte der Wunsch nach Statusdemonstration den Konsum insbesondere der wohlhabenden und aufstiegsorientierten Schichten an,643 was mit kritischen Stimmen gegenüber einem solchen Verhalten verbunden war. 644 Das große Verlangen der russischen Verbraucher nach Neuheit, das sich beispielsweise in einer enormen Begeisterung für den im Jahr 1990 in Moskau neu eröffneten McDonald’s zeigte, lässt sich als universelles kulturelles Phänomen erachten. 645 Als wesentlicher Faktor für die Konsumrevolution im England des 18. Jahrhunderts wurde von Colin Campbell die kulturelle und intellektuelle Strömung der Romantik ausgemacht,646 während des Übergangs vom Plan zum Markt fand indessen keine solche kulturell begründete Aufwertung des Konsums statt. Die Menschen in Russland begegneten dem Übergang vom Plan zum Markt vorrangig in ihrer Rolle als Konsumenten. Der „Konsument“ ist eine soziale und politische Figur des 19. und vor allem des 20. Jahr643 Vgl. McKendrick, Neil: The Consumer Revolution in Eighteenth-century England, in: McKendrick, Neil/Brewer, John/Plumb, John: The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-century England, London 1982, S. 9-33, hier: S. 10f; McCracken, Grant: The Making of Modern Consumption, in: ders.: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities, Bloomington/Indianapolis 1988, S. 3-30. 644 Vgl. Veblen, Thorstein: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Köln/Berlin 1958 [1899]. 645 Vgl. Campbell, Colin: The desire for the new. Its nature and social location as presented in theories of fashion and modern consumerism, in: Miller, Daniel (Hg.): Consumption. Critical concepts in the social sciences. Volume I: Theory and issues in the study of consumption, London/ New York 2001, S. 246-261. 646 Vgl. Campbell, Colin: Romanticism and The Consumer Ethic. Intimations of a Weber-style Thesis, in: Sociological Analysis 44 4/1983, S. 279-296.
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hunderts. Diese Kategorie stellt eine Identität des Menschen dar, die aus einer Beziehung zu der ihn umgebenden materiellen Kultur resultiert, die auf einem bestimmten Bewusstsein und entsprechenden Handlungen beruht und die daher über die bloße Rolle als Käufer von Waren hinausgeht. In Abhängigkeit von den Ausprägungen von Staat und Nation und den Traditionen sozialer Identität boten sich den Menschen in unterschiedlichen politischen und kulturellen Kontexten spezifische Bedingungen, sich als Konsumenten zu fühlen und zu verhalten. Die Figur des Konsumenten lässt sich als Ausdruck von Bürgerschaft in der modernen Gesellschaft erachten. 647 Die enge Verbindung, die Konsum und Politik in der Moderne eingehen, wird mit dem Begriff des „citizen consumer“ auf den Punkt gebracht.648 Dass auch in den sozialistischen Gesellschaften Konsum und Bürgerschaft direkt aufeinander bezogen waren, stellte Ivaylo Ditchev mit Blick auf Bulgarien heraus: „Der Mangel an Waren, die die Modernisierung verheißen hatte, wurde als eine Verletzung der Würde des modernen Menschen empfunden. [...] Der Homo sovieticus war insoweit ein Bürger der Moderne, als er ein Konsument war.“649 Umso ernüchternder war daher die massenhafte Erfahrung des Ausschlusses vom Konsum während der 1990er Jahre, was das marktwirtschaftliche Russland aus Sicht seiner „citizen consumers“ von vornherein delegitimierte. Dieser Wandel schuf die paradoxe Figur des Konsumenten, der am Konsum nicht teilhaben konnte. Konzepte der „Phasen des Konsums“ oder der „Konsumwellen“ propagieren die These, dass das Kaufverhalten der Menschen in allen Ländern gleichen historischen Mustern folgt und Länder, ausgehend von der dort erreichten Stufe des Konsums, einer Phase zugeordnet werden kön-
647 Vgl. Haupt, Heinz-Gerhard: Der Konsument, in: Frevert, Ute/Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M./ New York 1999, S. 301-323; Trentmann, Frank: Knowing Consumers – Histories, Identities, Practices. An Introduction, in: Trentmann, Frank (Hg.): The Making of the Consumer. Knowledge, Power and Identity in the Modern World, Oxford/New York 2006, S. 1-27; Trentmann, Frank: The Modern Genealogy of the Consumer. Meanings, Identities and Political Synapses, in: Brewer, John/Trentmann, Frank (Hg.): Consuming Cultures, Global Perspectives. Historical Trajectories, Transnational Exchanges, Oxford/New York 2006, S. 19-69. 648 Vgl. Cohen, Lizabeth: Citizens and Consumers in the United States in the Century of Mass Consumption, in: Daunton, Martin/Hilton, Matthew (Hg.): The Politics of Consumption. Material Culture and Citizenship in Europe and America, Oxford/New York 2001, S. 203-221. 649 Ditchev, Ivaylo: Die Konsumentenschmiede. Versuch über das kommunistische Begehren, in: Groys, Boris/von der Heiden, Anne/Weibel, Peter (Hg.): Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus, Frankfurt/M. 2005, S. 278-338, hier: S. 296.
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nen: Auf die Phase des puren Kampfes ums Überleben folgt demnach eine Konsumphase, die von gestiegenen materiellen Möglichkeiten und gestiegenen Erwartungen an Qualität bestimmt wird. Danach wird der Wunsch nach Bequemlichkeit und damit auch nach mehr freier Zeit bei Konsumentscheidungen wichtig. In entwickelten Wohlstandsgesellschaften bestimmt schließlich das Bedürfnis nach sozialer Distinktion und Individualisierung den Konsum.650 Für die Bundesrepublik werden in den Jahren 1945 bis 1980 so mehrere „Konsumwellen“ ausgemacht: Nach der „Fresswelle“ standen zunächst Bekleidung und Schuhe, dann die Ausstattung des Haushalts mit Möbeln und elektrischen Geräten und schließlich Wünsche nach Mobilität und Reisen sowie nach schönem Wohnen im Zentrum des Konsumenteninteresses.651 Das Beispiel Russlands zeigt indessen, dass solche Vorstellungen regionale und soziale Disparitäten innerhalb einzelner Länder in unzulässiger Art und Weise übergehen. Dieses Modell lässt sich nur auf nivellierte Mittelstandsgesellschaften nach bundesrepublikanischem Vorbild anwenden. Wenn auch Abraham Maslows Unterstellung einer universell gültigen Hierarchie der Bedürfnisse plausibel erscheint, so begründet diese keine national einheitlichen und gleichzeitigen Phasen oder Wellen des Konsums, sondern vielmehr sozial, ökonomisch und kulturell bestimmte Konsummuster, die in einer Gesellschaft parallel nebeneinander existieren. Bei der systematischen Einordnung dieser Konsumrevolution muss man den kurzen Zeithorizont der vorliegenden Untersuchung berücksichtigen. Auch frühere Konsumrevolutionen waren für einen großen Teil der Bevölkerung kurz- und mittelfristig mit materiellen Verlusten, sozialen Verwerfungen und chaotischen Verhältnissen verbunden. Mitnichten entwickelten sich die modernen westlichen Massenkonsumgesellschaften auf einem steten Fortschrittspfad, der den Konsumenten keine harten Zeiten zumutete.652
650 Vgl. Bernau, Patrick: Was die Welt bald kauft, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 16.9.2007, S. 58. Dieser Artikel referiert die Ergebnisse einer Studie der Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton. 651 Vgl. Andersen, Arne: Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt/M./New York 1997, S. 21-32. 652 Vgl. Trentmann, Frank: „Kurze Unterbrechung – Bitte entschuldigen Sie die Störung“: Zusammenbruch, Zäsur und Zeitlichkeit als Perspektiven einer europäischen Konsumgeschichte, in: Benninghaus, Christina/Müller, Sven/Requate, Jörg/Tacke, Charlotte (Hg.): Unterwegs in Europa. Beiträge zu einer vergleichenden Kulturgeschichte. Festschrift für HeinzGerhard Haupt, Frankfurt/M./New York 2008, S. 219-245.
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Ko n s u m i n Ru s s l a n d 2 0 0 0 b i s 2 0 0 8 Während der Jahre 2000 bis 2008 erlebten die russischen Konsumenten dann mehrheitlich eine merkbare Erhöhung ihres Konsum- und Lebensstandards. Hintergrund dieser Entwicklung waren konstant hohe Raten beim Wirtschaftswachstum in dieser Zeit. Das ressourcenreiche Russland profitierte von der großen Nachfrage alter und neuer Industriestaaten wie China nach Rohstoffen und Energie und von einem jahrelang steigenden Ölpreis. Infolge der positiven gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stieg der Lebensstandard an. Während große Teile der russischen Gesellschaft in den 1990er Jahren auf Subsistenzkonsum beschränkt waren, so änderte sich dies im Verlauf des nächsten Jahrzehnts. Mehr Verbraucher konnten sich Kleidung nach ihren Wünschen kaufen, teilweise auch von Markenherstellern. Ab Mitte des Jahrzehnts entwickelte sich Russland dann zu dem am schnellsten wachsenden Automarkt der Welt. Es wurden insgesamt immer mehr Autos verkauft, insbesondere der Anteil importierter Automarken, die qualitativ höherwertiger und teurer waren, stieg. Die Etablierung von Konsumentenkrediten ermöglichte diesen Anschaffungsboom. Die wohlhabenden Vertreter der neuen russischen Mittelschicht entdeckten Urlaubsreisen ins Ausland – nach Zypern, in die Türkei oder auch nach Westeuropa – für sich. In dieser Zeit stellten Autos und teure Kleidung zentrale Statussymbole dar. Im Verlauf der Jahre 2000 bis 2008 schätzten die Menschen in Russland ihren Konsumstandard immer besser ein. Während im Jahr 2000 27% der Menschen nicht einmal ausreichend Geld für Lebensmittel hatten, so verringerte sich die Zahl dieser absolut Armen auf 12% im Jahr 2007. Mehr als die Hälfte der Konsumenten konnten sich dann Lebensmittel und Kleidung und 16% sogar langlebige Konsumgüter problemlos leisten (Tabelle 78). Die Polarisierung der russischen Konsumgesellschaft in arme und reiche Konsumenten bestand jedoch fort. Auch die regionalen Disparitäten des Konsums mit Moskau als Konsummetropole und einem deutlichen Rückstand der ärmeren Regionen erhielten sich im zweiten postsozialistischen Jahrzehnt.
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Wir kommen kaum über die Runden. Das Geld reicht nicht einmal für Lebensmittel Für Lebensmittel reicht das Geld, aber der Kauf von Kleidung verursacht finanzielle Probleme Das Geld reicht für Lebensmittel und Kleidung. Aber der Kauf von langlebigen Konsumgütern (Fernseher, Kühlschrank) stellt für uns ein Problem dar Wir können uns problemlos langlebige Konsumgüter leisten. Aber für uns ist es schwierig, wirklich teure Dinge zu kaufen Wir können uns sehr teure Käufe erlauben, Wohnung, Datscha und vieles andere
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