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German Pages 183 [184] Year 2005
Medienrecht und Meinungsfreiheit in Russland
Schriften zu Kommunikationsfragen Band 40
Medienrecht und Meinungsfreiheit in Russland
Herausgegeben von
Angelika Nußberger Carmen Schmidt
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Gedruckt mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung Die russische Ausgabe des Bandes erscheint im Verlag Human Rights Publishers Ltd, Moskau (ISBN 5-7712-0324-6) Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten c; (Deutsche Ausgabe) 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4239 ISBN 3-428-11789-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Im September 2003 fand in Moskau eine gemeinsame Tagung der KonradAdenauer-Stiftung, der INDEM-Stiftung „Information für Demokratie 1', des russischen Journalistenverbandes und des Instituts für Ostrecht der Universität zu Köln zum Thema „Medienrecht und Menschenrechte im internationalen Kontext" statt. Die politische Situation in jener Zeit war angespannt: Die Parlaments- und die Präsidentschaftswahlen standen unmittelbar bevor, das Geiseldrama in dem Moskauer Theater Nord-Ost hatte den Terrorismus in die Hauptstadt gebracht, der Tschetschenienkonflikt war wieder als besonders sensibles, im In- und Ausland unterschiedlich eingeschätztes Problem ins Zentrum des öffentlichen Bewusstseins gerückt. Dennoch war in Moskau ein offener Dialog möglich. Am runden Tisch saßen neben russischen Journalisten und russischen, weißrussischen, deutschen und österreichischen Wissenschaftlern auch Vertreter der Rechtsabteilung des Ministeriums der R.F. für Presse, Fernsehen und Radio und der russischen zentralen Wahlbehörde. Man stritt, man erkannte, dass man auch über Meinungsfreiheit - allen allgemeinen Konsens-Beteuerungen und nationalen und internationalen Grundrechtsverbürgungen zum Trotz - sehr unterschiedliche Meinungen haben kann. In dem vorliegenden Band werden die einzelnen Beiträge, die von rechtsvergleichenden Betrachtungen und allgemeinen Reflexionen bis zu Stellungnahmen zum tagespolitischen Geschehen reichen, zusammengestellt, um einen lebendigen Eindruck von den Diskussionen im Vorfeld der russischen Parlaments· und Präsidentschaftswahlen zu vermitteln. Manche der damals noch offenen Fragen lassen sich in der Zwischenzeit beantworten - beispielsweise liegen die Ergebnisse zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vor, wurde im Tschetschenien-Konflikt mit der Ermordung des Präsidenten Achmed Kadyrov und dem Geiseldrama von Beslan eine neue Spirale der Gewalt eingeleitet. Dennoch - darüber nachzudenken, wie viel man worüber und unter welchen Voraussetzungen in den Medien berichten darf, bedeutete damals wie heute, die Frage nach den Zukunftschancen der Demokratie in Russland zu stellen.
Köln, Moskau, Oktober 2004
Angelika Nußberger Carmen Schmidt
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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Teil Is Die völkerrechtlichen und europäischen Grundlagen Angelika Nußberger Aktuelle Probleme im Bereich des Medienrechts im Spiegel der Entscheidungen mittel- und osteuropäischer Verfassungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
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Bernd Grzeszick Aktuelle Probleme der Entwicklung des Medienrechts im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft
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Teil I I : Regelung und Selbstregelung in den Medien Otto Depenheuer Medien zwischen Recht und Ethik
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Michail Fedotov Auf dem Wege zur Pressefreiheit: die Erfahrung Russlands
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Stanislav Severdjaev Verfassungs- und Rechtsnormen des Informationsaustausches in Russland
75
Michail Pastuchov Entwicklung des Medienrechts in Belarus
83
Carmen Schmidt Entwicklung des Medienrechts in Estland
95
Teil ΙΠ: Alte und neue Herausforderungen der Medienfreiheit Alte und neue gesetzgeberische Reaktionen Margareta Mommsen Das Verhältnis von Macht und Medien in der Russischen Föderation
109
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Inhaltsverzeichnis
Viktor Ν. Monachov Meinungsfreiheit und neue Informationstechnologien
127
Michael Geistiinger Die Bedrohung der offenen Gesellschaft: Medienrecht und Terrorismus
139
Veceslav Rjabkov Rechtliche Mechanismen der Gegenmaßnahmen gegen Extremismus in den Medien 151 Dmitrij Muratov Wahlkampf in Tschetschenien - Ein Beispiel aus der Praxis
159
Jurij Baturin Medienrecht als Indikator für die Entwicklung der Zivilgesellschaft, der Demokratie und des Rechtsstaats 161 Ekaterina Lysova Die Freiheit der Massenmedien und Wahlen in Russland: Interessenkonflikt
167
Sergej Bol'sakov Der Wahlkampf in Russland aus der Perspektive der Zentralen Wahlkommission
Autorenverzeichnis
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Einleitung Die moderne Mediengesellschaft macht vor Staatsgrenzen keinen Halt. Dies gilt seit jeher für den Hörfunk und das Fernsehen, bei denen Grenzüberschreitungen systemimmanent sind. Die Satellitentechnik und die neuen Informationstechnologien haben weitere Barrieren beseitigt, wenn nicht sogar gänzlich aufgelöst, und dazu geführt, dass Aktivitäten im Medienbereich einer über den einzelnen Staat hinausgehenden Lösung bedürfen. In den Vordergrund gerückt sind damit Völker- und vor allem europarechtliche Fragestellungen, denen der erste Themenkomplex gewidmet ist. Der Europäische Gerichtshof fur Menschenrechte in Straßburg hat eine Reihe wichtiger Aussagen zur europäischen Medienordnung getroffen. Angelika Nußberger zeigt anhand dieser Entscheidungen die komplizierte Grenzlinie zwischen „guten" und „bösen" Meinungen, d. h. zwischen Meinungen, die von der in Art. 10 EMRK garantierten Meinungsfreiheit geschützt werden, auf der einen Seite sowie Aussagen, die im Interesse von Staatssicherheit, öffentlicher Ordnung oder zum Schutz der Ehre der durch Medienprodukte Betroffenen nicht mehr zu tolerieren sind, auf. Auf ein rein passives Verhalten kann sich der Staat indes nicht zurückziehen. Der Staat ist vielmehr darüber hinaus verpflichtet, das zur Sicherung der Kommunikationsgrundrechte Notwendige zu unternehmen. Wie schwierig es dabei gerade ist, die Medien vor einseitiger politischer Einflussnahme freizuhalten, ist in den Entscheidungen des Menschenrechtsgerichtshofs anschaulich dokumentiert. Mit der Frage, wo die Grenzen der Medienkompetenzen des zweiten gewichtigen Akteurs auf der europäischen Bühne, der Europäischen Union, im Primärund Sekundärrecht verlaufen, beschäftigt sich der Beitrag von Bernd Grzeszick. Von entscheidender Bedeutung für die Beantwortung dieser Frage ist, ob die Medien als ein Kulturgut oder aber ein Wirtschaftgut verstanden werden. Ein aktuelles und kontrovers diskutiertes Problem stellt in diesem Zusammenhang die Gebührenfinanzierung bzw. die staatliche Finanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks dar, die von ihren Gegnern als wettbewerbsverzerrende und damit EG-rechtswidrige Beihilfe, von ihren Befürwortern hingegen als eine zur Sicherung einer ausgewogenen Grundversorgung notwendige und daher mit europäischem Recht vereinbare staatliche Unterstützungsleistung angesehen wird.
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Einleitung
Gegenstand des nächsten Themenkomplexes ist die in der heutigen Informationsgesellschaft notwendige Steuerung. Medienprodukte, die bei einem Teil des Publikums als Fehlleistungen empfunden werden, lösen immer wieder Kontroversen um einen Ethikkodex der Medien aus. Der Frage, welche Bedeutung der Ethik neben der Rechtssetzung des Staates im Bereich der Medien überhaupt zukommen kann, geht der Beitrag von Otto Depenheuer nach. Nach der Klarstellung, dass Raum für Überlegungen zur Medienethik allerdings erst dann bleibt, wenn die Kommunikationsfreiheiten in der Praxis gewährleistet sind, sich vorher aber jede Erörterung erübrigt, werden die ethischen Ansprüche Freiheit von Politik und Kommerz, Sachlichkeit und Wahrheit der Berichterstattung - hinterfragt. Nach diesen rechtstheoretisch - vergleichenden Beiträgen zeigen die Ausführungen von Michail Fedotov und Stanislav Severdjaev die Entwicklung und Probleme im russischen Medienrecht auf. Fedotov, der selbst an der Ausarbeitung des ersten Mediengesetzes in Russland beteiligt war, berichtet über die kleinen Schritte und die zu überwindenden Hindernisse auf dem Weg zur Lösung der russischen Medien aus der umfassenden staatlichen Kontrolle. Bereits 1993 sei aber - zunächst durch Monopolbildung, dann durch Zerschlagung der oppositionellen Medienimperien - eine Kehrtwende vollzogen und der erneute Ausbau der staatlichen Regulierung begonnen worden. Mit dem nach Ansicht des Referenten bereits auf Verfassungsebene ungenügend abgesicherten und auch auf einfachgesetzlicher Ebene nur lückenhaft geregelten Informationsanspruch beschäftigt sich Severdjaev. Als besonders problematisch wird indes die übermäßige Regulierung durch Sanktionen gegenüber Medienunternehmen angesehen. Ob primär auf eine staatliche Steuerung durch Rechtssetzung oder aber auf andere Steuerungsmechanismen wie die Selbstregulierung durch die Akteure selbst oder Mischsysteme gesetzt wird, hängt in erster Linie von dem Stellenwert ab, den die Informations- und Pressefreiheit selbst genießen. Zwei der extremen Gegenpole werden mit den Lageberichten über die beiden ehemaligen sowjetischen Unionsrepubliken Belarus {Michail Pastuchov) und Estland {Carmen Schmidt) vorgestellt. In Belarus ist seit dem Verfassungsreferendum des diktatorisch regierenden Staatspräsidenten LukaSenko im Jahr 1996 eine stete Abkehr und Rücknahme sämtlicher kurzzeitig errungener Liberalisierungen im Medienbereich zu beobachten. Eine Besserung ist nicht in Sicht; eher lässt das geplante neue Mediengesetz eine weitere Anpassung des Rechts an die grundrechtswidrige Praxis erwarten. Dagegen ist in Estland in weniger als einem Jahrzehnt eine pluralistische Medienlandschaft, in der sich Medienrecht und Medienrealität im Einklang befinden, entstanden. Im Gegensatz zu den anderen Staaten auf dem Territorium der früheren Sowjetunion - die beiden ande-
Einleitung
ren baltischen Staaten ausgenommen - beschränkt der estnische Gesetzgeber die staatliche Regulierung auf ein Minimum und belässt auf diese Weise Raum fur eine Selbstregulierung durch die Akteure. Der dritte Themenkomplex behandelt sodann die ganz aktuellen Probleme, mit denen besonders Russland, aber auch andere Staaten in der Gegenwart konfrontiert werden. Das Spektrum der einzelnen Beiträge ist weit; es reicht von vorrangig politologischen und juristischen Fragestellungen und Analysen bis hin zu Momentaufnahmen aus der journalistischen Praxis. Margareta Mommsen zeichnet in ihrem Beitrag die ganz unterschiedlichen Entwicklungsphasen des Verhältnisses zwischen Massenmedien und staatlicher Autorität seit Bestehen des unabhängigen Russlands auf. Im Ergebnis kommt sie zu dem Schluss, dass die Präsidialexekutive unter Putin den politischen Prozess inzwischen wieder erfolgreich unter ihre Kontrolle gebracht hat. Dies gelte vor allem fur die in der „gelenkten Demokratie" Putins instrumentalisierten nationalen Fensehkanäle. Die Gewährleistung der Meinungsfreiheit in den neuen Informationstechnologien beleuchtet anschließend Viktor Monachov. Auch in Russland hinken offenbar Rechtordnung und Juristen mit der Ausformung der notwendigen rechtlichen Vorgaben hinterher, wie insbesondere anhand der Fragestellung der Verantwortlichkeit für im Internet verbreitete Inhalte dargelegt wird. Terroristische Gewalttaten haben nicht nur in Russland in der Vergangenheit zu einer Verschärfung des Medienrechts geführt. Mit den als Reaktion auf die Kampfhandlungen in Tschetschenien vorgenommen rechtsstaatlich bedenklichen Restriktionen vor allem des russischen Terrorismusgesetzes, die durch die Schranken des Art. 10 EMRK wohl nicht gerechtfertigt seien, setzt sich Michael Geistiinger kritisch auseinander. Größeres Verständnis für eine Beschränkung der Verbreitung von Informationen im Interesse der Sicherheit zeigt Veceslav Rjabkov, der zugleich eine erhöhte soziale Verantwortung der Massenmedien annimmt. Als grundsätzlich gerechtfertigt werden so vor allem auch die diesbezüglichen Beschränkungen des Extremismusgesetzes angesehen. Mit einem Einblick in den Wahlkampf in Tschetschenien, wo ehrverletzende und volksverhetzende Äußerungen offenbar selbst in offiziellen Wahlreden keine Seltenheit darstellen, wird das Thema Medienrecht und Terrorismus von Dmitrij Muratov abgeschlossen. Mit Hilfe linguistischer Variablen versucht Jurij Baturin die Frage zu klären, ob die Pressefreiheit Voraussetzung für den demokratischen Rechtsstaat und die Zivilgesellschaft oder aber der demokratische Rechtsstaat und die Zivilgesellschaft eine Vorbedingung für die Pressefreiheit sind.
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Einleitung
Die in Russland vertretenen sehr unterschiedlichen Positionen zur Regulierung der Wahlberichterstattung in den Medien kommen in den letzten beiden Beiträgen deutlich zum Ausdruck. Während sich Ekaterina Lysova kritisch mit dem Verbot der Wahlwerbung im russischen Wahlgesetz und dem hierzu ergangenen Urteil des russischen Verfassungsgerichts auseinandersetzt, werden die Beschränkungen des Wahlgesetzes vom Vorsitzenden des zentralen Wahlausschusses Sergej Bol'sakov in Anbetracht der Tatsache, dass es in Russland im Gegensatz zu Deutschland keine unabhängigen Medien gäbe, grundsätzlich für unbedenklich und zudem erforderlich erachtet. Die Beiträge gehen auf die Referate zurück, die auf der Tagung im September 2003 gehalten wurden. Vereinzelt wurden auch spätere Rechtsentwicklungen und Ereignisse berücksichtigt. Abschließend sei der INDEM-Stiftung für die Bereitstellung der Tagungsräume und der Konrad-Adenauer-Stiftung für die großzügige Förderung der Tagung und die Gewährleistung einer Druckkostenbeihilfe gedankt. Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Konrad-Adenauer-Stiftung und des Instituts für Ostrecht der Universität zu Köln, die Schreib-, Korrekturund Übersetzungsarbeiten übernommen haben.
Teil I: Die völkerrechtlichen und europäischen Grundlagen
Aktuelle Probleme im Bereich des Medienrechts im Spiegel der Entscheidungen mittel- und osteuropäischer Verfassungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Angelika Nußberger
Einleitung Wann immer Gesetze geschaffen werden, die dem Bürger die Freiheit einräumen, seine Meinung öffentlich kundzutun, ist dies als Zeichen zu werten, dass der Staat bereit ist, auf seine Bürger zu hören, dass der Staat eine offene Gesellschaft - der moderne Begriff wäre eine Zivilgesellschaft - riskiert. Der Staat erkennt an, dass verschiedene Menschen verschiedene Ansichten haben und nimmt auch gegen die staatliche Autorität gerichtete Kritik, möglicherweise unbequeme Kritik, in Kauf. Hierfür gibt es in der Rechtsgeschichte Osteuropas interessante Beispiele. So wurden in Russland nach der Februarrevolution am 27. April/10. Mai 1917 drei Gesetze verabschiedet, die die Presse- und Literaturfreiheit verankern, die Zensur aufheben sowie Theater und Film von der Vorzensur befreien 1. In Polen stellte ein Zensurgesetz aus dem Jahr 1981, das eine Überprüfungskompetenz in Pressesachen festlegte, einen ersten Schritt zur institutionellen Gewährleistung politischer Grundrechte im sozialistischen Verfassungssystem dar. Auf der Grundlage dieses Gesetzes erstritt die Gewerkschaft Solidarnosc zwei obsiegende Urteile gegen die Zensurbehörde 2. Die in Art. 51 des Pressegesetzes vom 26.1.1984 vorgesehene gerichtliche Zensurkontrolle wurde über die Kriegsrechtsära hinweggerettet. 1
Sobranie uzakonenij i razporjazenij 1917, Nr. 109, Pos. 597, 598, 599; Hinweis bei Klaus Jürgen Kuss, Rechtsstaatliche Wurzeln in den osteuropäischen Staaten, JöRdG 34 (1985), S. 589 (598). 2 Zensurgesetz vom 31.7.1981 ; Hinweis bei Kuss, S. 616.
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Angelika Nußberger Meinungsfreiheit wurde auch in der sozialistischen Zeit gewährleistet 3 . A l -
lerdings wurden nicht alle Meinungen toleriert, sondern es wurde zwischen „bösen" und „guten" Meinungen unterschieden; Meinungen, die nicht der sozialistischen Gesellschaftsordnung dienten, waren nicht geschützt. Dies aber ist gerade das charakteristische Merkmal von nicht-demokratischen Regimen: unbequeme Meinungen, K r i t i k w i r d ausgegrenzt. Allerdings kann auch der demokratische Staat nicht alle Meinungen tolerieren. Grenzziehungen sind notwendig. Sehr bildhaft heißt es in der ministeriellen Begründung des Csemegi Kodex, des ungarischen Strafgesetzbuchs von 1878: „Die freie Mitteilung von Ideen, der die Menschheit ihre schönsten Errungenschaften verdanken kann, kann ebenso schädlich werden wie das Feuer, das leuchtet und wärmt, aber unkontrolliert und ungebremst lodernd häutig die Ursache von großem Unglück, viel Elend und Vernichtung wird." 4 Der entscheidende Unterschied ist somit nicht, dass bestimmte Meinungen zugelassen und andere unterdrückt, strafrechtlich verfolgt werden, sondern vielmehr, w o die Grenzlinie zwischen den „guten" und „schlechten" Meinungen zu ziehen ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte postuliert emphatisch den Grundsatz, den man mit „ i n dubio pro libertatis opinionis" umschreiben könnte: „Meinungsäußerungsfreiheit stellt eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft dar und ist eine der grundlegenden Bedingungen tur ihren Fortschritt und die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen. ... [Die Meinungsäußerungsfreiheit] ist nicht nur auf Informationen oder Ideen anwendbar, die mit Wohlwollen aufgenommen oder als nicht-aggressiv oder neutral betrachtet werden, sondern auch auf diejenigen, die angreifen, schockieren oder stören; dies sind die Anforderungen von Pluralismus, Toleranz und offener Geisteshaltung, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht möglich ist. Meinungsäußerungsfreiheit ist Gegenstand einer Reihe von Ausnahmen, die jedoch eng ausgelegt werden müssen. Die Notwendigkeit für eine Begrenzung [der Meinungsfreiheit] muss immer mit überzeugenden Argumenten dargelegt werden." 5
3 Beispielsweise hieß es in der so genannten Stai in-Verfassung von 1936: In Übereinstimmung mit den Interessen der Werktätigen und zur Festigung der sozialistischen Ordnung werden den Bürgern der UdSSR durch das Gesetz garantiert: a) die Redefreiheit, b) die Pressefreiheit, c) die Kundgebungs- und Versammlungsfreiheit, d) die Freiheit zur Durchführung von Straßenumzügen und -demonstrationen. 4 Zitiert nach der Entscheidung des ungarischen Verfassungsgerichts 30/1992 (V. 26.). 5 Vgl. Wille v. Liechtenstein, Application No. 28396/95 vom 28.10.1999.
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Aufgrund der Bedeutung, die der Meinungsäußerungsfreiheit europaweit zuerkannt wird, ist es kein Wunder, dass die Einhaltung dieser grundrechtlichen Garantie als Gradmesser für die Rechtsstaatlichkeit verstanden und Probleme mit Argusaugen beobachtet werden. Die Freiheit, eine Meinung zu äußern, ist die Grundlage des Presse- und Medienrechts. Das ungarische Verfassungsgericht spricht hier sehr anschaulich von „dem Mutterrecht" der kommunikativen Grundrechte 6. Deshalb soll im Folgenden beides, die Freiheit, eine Meinung zu äußern sowie die Freiheit, eine Meinung über die Medien zu verbreiten, als ein einheitlicher Komplex untersucht werden. Zwei Aspekte erachte ich als zentral: erstens die rechtlichen Maßnahmen, die möglich und notwendig sind, um eine vielfältige, ausgewogene und auch nicht niveaulose öffentliche Kommunikation sicherzustellen, und zweitens die Balance zwischen der Freiheit, eine Meinung zu äußern, und anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechten wie der persönlichen Würde oder der Staatssicherheit. Vorab aber gilt es zu fragen, welche Rolle dem Recht hier überhaupt zukommt und inwiefern die Verfassungsrechtsprechung in den Prozess der Meinungsbildung korrigierend eingreifen kann.
I. Rechtliche Normierungen von Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit 1. Grundrechtliche Gewährleistungen Eingangs habe ich verschiedene Gesetze zur Aufhebung der Zensur und Gewährleistung der Meinungsfreiheit erwähnt, die einen radikal neuen gesellschaftlichen Ansatz für Russland im Jahr 1917 und Polen im Jahr 1981 bedeuteten. Ein Gesetz ist allerdings erst einmal nur Theorie; die Frage der Umsetzung, der tatsächlichen Gewährleistung der Meinungsäußerungsfreiheit ist damit noch nicht beantwortet. Aber der zweite Schritt, die tatsächliche Gewährleistung, ist in der Regel nicht vor dem ersten Schritt, der rechtlichen Normierung, möglich. So war es ab 1989 allgemeine Überzeugung, dass die verfassungsrechtliche Verankerung grundrechtlicher Garantien in diesem Bereich conditio sine qua non für die Grundsteinlegung für einen Rechtsstaat wäre. Dementsprechend finden wir ähnliche oder gleiche Garantien auch in allen mittel- und osteuropäischen Verfassungen. Es wird ein Freiheitsbereich des Bürgers definiert, der im Wesentlichen folgende Garantien umfasst: die Möglichkeit, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu informieren und eine Meinung zu bilden (In-
6 Entscheidung 30/1992 (V.26.) AB, abgedruckt bei Georg Brunner, Laszlo Solyom, Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn, Baden-Baden, 1995, S. 368.
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formationsfreiheit) , eine Meinung zu äußern (Meinungsäußerungsfreiheit) und durch die Medien publik zu machen (Presse- und Rundfunkfreiheit) 9. Zum Teil wird darüber hinaus explizit festgehalten, dass Zensur verboten ist 10 . Auch eine Konzessionierung der Presse wird mehrfach explizit verboten 11; eine Konzessionierung anderer Medien dagegen entweder nicht geregelt oder ausdrücklich erlaubt 12 . Verschiedene Verfassungen enthalten darüber hinaus - vor allem organisatorische - Bestimmungen zur Sicherung von Pluralität in den Medien. In Ungarn etwa findet sich eine Bestimmung in der Verfassung, nach der für Gesetze über die Aufsicht über den öffentlichen Rundfunk, das Fernsehen und die Nachrichtenagentur, über die Ernennung der Leiter, über die Zulassung privater Rundfunk- und Fernsehgesellschaften sowie über die Verhinderung von Informationsmonopolen eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist 13 . 2. Einschränkungsmöglichkeiten Gleichermaßen explizit geregelt werden die möglichen Einschränkungen von Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit. Hier werden in der Regel die von der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgegebenen Kriterien aufgegriffen: „Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie vom Gesetz vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten, unentbehrlich sind."
Inhaltlich in relevanter Weise abweichende Normierungen finden sich nicht in den Verfassungen Mittel- und Osteuropas. Allerdings werden die in der Ver-
7 Vgl. z.B. Art. 29 Abs. 4 Verfassung der R.F.; Art. 54 Abs. 11. Alt. Verfassung von Polen, § 61 (1)2, Alt. Verfassung von Ungarn. 8 Vgl. z.B. Art. 29 Abs. 1 und 3 Verfassung der R.F.; Art. 54 Abs. 1 2. Alt. Verfassung von Polen, § 61 (1) 1. Alt. Verfassung von Ungarn. l) Vgl. z.B. Art. 29 Abs. 5 S. 1 Verfassung der R.F. 10 Vgl. Art. 29 Abs. 5 S. 2 Verfassung der R.F.; Art. 54 Abs. 2 Verfassung von Polen. 11 Art. 54 Abs. 2 Verfassung von Polen. 12 Vgl. auch Art. 10 Abs. 1 S. 2 EMRK. 13 § 61 Abs. 4 Verfassung von Ungarn.
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fassung enthaltenen Schranken-Schranken, wie es in der deutschen Dogmatik heißt, d.h. die Beschränkungen der möglichen Eingriffe in die Grundrechte, nicht immer eingehalten. Ein Beispiel wäre hier das weißrussische Gesetz „Über die Presse und die anderen Massenmedien". Dort sind Begrenzungen der Meinungsfreiheit in größerem Umfang zugelassen. Beispielsweise wird es hier auch untersagt, „Informationen im Namen politischer Parteien, Gewerkschaften oder sonstiger gesellschaftlicher Vereinigungen, die nicht ordnungsgemäß eingetragen sind, zu verbreiten." (Art. 5). Nun ist aber die rechtliche Normierung zwar, wie gesagt, ein essentiell wichtiger, aber dennoch nur der erste Schritt. Die Analyse des Rechts bringt noch keine Erkenntnisse über die tatsächliche Verwirklichung der Meinungsfreiheit. Liest man die Berichte zu den Ländern Mittel- und Osteuropas 14, so werden nicht marginale, sondern ganz grundlegende Defizite moniert. Beklagt wird etwa, dass oppositionelle Presseunternehmen mit so hohen Steuerforderungen überzogen werden, dass eine finanzielle Basis für eine Fortführung der Tätigkeit fehlt. Es sind Fälle bekannt, in denen die Arbeit von Rundfunksendern, insbesondere kurz vor Wahlen, gewaltsam unterbrochen wird. Häufig sind auch extrem hohe Schadensersatzforderungen, die Medienunternehmen eine Fortführung ihrer Tätigkeit unmöglich machen. Ein weiteres gravierendes Problem ist unkontrollierte politische Einflussnahme auf den öffentlichen Meinungsbildungsprozess. Ob derartige Verstöße rechtliche Konsequenzen zeitigen, ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig: von der Funktionsweise des Gerichtssystems, von der Unabhängigkeit der Justiz und damit auch von der Wertschätzung, die die Justiz in der Gesellschaft erfährt, von der Rechtskenntnis der Bevölkerung, von der Verfassungskultur. In der Regel fuhrt die Unterdrückung der grundrechtlichen Garantien im Bereich der Kommunikation umso seltener zu gerichtlichen Auseinandersetzungen, umso weiter ein Land davon entfernt ist, die demokratischen Mindeststandards ganz allgemein einzuhalten. Im Grunde ist es ein Paradox: Staaten, in denen es eine Vielzahl von Gerichtsverfahren zur Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit gibt und die so auf den ersten Blick eine Vielzahl von Problemen in diesem Bereich zu haben scheinen, sind in Wirklichkeit in der Regel die Staaten, die den Grundpostulaten der Rechtsstaatlichkeit eher Rechnung tragen. Wenn Schwierigkeiten evident werden, wird eine rechtliche Lösung gesucht. Anders ist es in den Staaten, in denen wenig an die Gerichte herangetragen wird. Dies kann - muss aber auch wiederum nicht - ein Zeichen dafür sein, dass das Recht nicht wirklich angewandt wird. Aufgrund dessen ist es wichtig festzuhalten, dass eine Analyse von Verfassungsgerichtsentscheidun14 Vgl. Vladimir Dzjuba (Weißrussland), Kestutis Petrauskis (Litauen), Valerij Ivanov (Ukraine), Aleksej Simonov (Russische Föderation), Osteuropa-Recht 2004, S. 157 ff., 172 f f , 134 f f , 118 ff.
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gen zu Problemen der Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit keine Aussage zulässt zu der Frage, wie es um die Verwirklichung dieser Grundrechte im jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Kontext tatsächlich steht. Aber dazu wird, so hoffe ich, noch die weitere Diskussion auf unserer Tagung beitragen. Auch sind die einzelnen Verfassungsprozessordnungen unterschiedlich grob- bzw. feinmaschige Filter für Auseinandersetzungen um das Rechtsgut Meinungsfreiheit. Das russische Verfassungsgericht beispielsweise kann bei Individualbeschwerden die Verfassungsmäßigkeit des zugrunde liegenden Gesetzes überprüfen, nicht aber untersuchen, ob im Einzelfall bei der Anwendung des Gesetzes der Bedeutung der Grundrechte tatsächlich Rechnung getragen wird. In dem berühmten Fall K. etwa ging es um die Beschreibung von Zirinovskij als Faschist und die darauf beruhende zivilrechtliche Klage gegen einen Journalisten. Das Verfassungsgericht war darauf beschränkt, die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des ZGB zu bestätigen, konnte aber - anders etwa als das Bundesverfassungsgericht - bei der Anwendung im Einzelfall die Ausbalancierung der verschiedenen auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter nicht überprüfen. Was die Analyse der Verfassungsgerichtsentscheidungen wie auch der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Staaten Mittel- und Osteuropas zeigen kann, ist, welche schwierigen Probleme im Einzelfall zu lösen sind bei der Grenzziehung zwischen notwendigen und nicht erlaubten Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit, bei der Unterscheidung zwischen zulässiger und nicht zulässiger Einflussnahme des Staates auf die Meinungsbildung. Vieles lässt sich hier nicht einfach und schematisch beantworten, selbst wenn die rechtlichen Vorgaben klar gefasst sind, da in der Regel verschiedene Verfassungsbestimmungen gegeneinander stehen und Wertkonflikte gelöst werden müssen.
II. Staatliche Aufgaben im Bereich des Medienrechts Auch wenn die Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit nach der klassischen Grundrechtsdoktrin als Abwehrrechte gegen den Staat kategorisiert werden, d.h. vom Staat grundsätzlich ein passives Verhalten, ein Nicht-Eingreifen fordern, bestehen doch daneben auch staatliche Aufgaben, deren Erfüllung Voraussetzung für den Prozess einer ausgewogenen gesellschaftlichen Meinungsbildung ist. Der Staat muss eine bestimmte Infrastruktur schaffen, die interne oder externe Pluralität der Meinungsbildung sichern und daraufhinwirken, dass eine Diskussionskultur entsteht und so die öffentliche Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Meinungen auf einem bestimmten Niveau stattfindet.
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1. Schaffung einer Infrastruktur für einen ausgeglichenen gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess Was damit gemeint sein kann, zeigt deutlich eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Türkei: der Gerichtshof konstatierte einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit, da der Staat nicht wirksam gegen Private vorging, die Gewalttaten gegen die Presse ausübten15. Es genügt also nicht, dass der Staat den gesellschaftlichen Prozess der Meinungsbildung sich selbst überlässt, denn staatliches Laissez faire kann dazu führen, dass diejenigen, die gewaltbereit sind, dominieren. Nicht nur staatliche Eingriffe gefährden die Meinungsfreiheit, sondern auch Übergriffe Privater.
2. Sicherung der Pluralität der Meinungsbildung Die wohl schwierigste Aufgabe ist die Sicherung der Pluralität der Meinungsbildung, wenn Meinungen durch die Medien vermittelt werden. Presse und Rundfunk unterschieden sich hier in der Vergangenheit grundlegend, da für die Veranstaltung von Rundfunk immer nur eine begrenzte Zahl von Sendefrequenzen zur Verfügung stand und für Sendungen ein außergewöhnlich hoher finanzieller Aufwand erforderlich war. Dagegen konnten beliebig viele Presseerzeugnisse auf den Markt gebracht werden. Diese Situation hat sich aufgrund des technischen Fortschritts zwar mittlerweile verändert, gewisse unterschiedliche Randbedingungen sind aber noch immer zu beachten.
a) Sicherung der Pluralität der Meinungsbildung in der Presse Die Meinungsbildung durch die Presse ist dann pluralistisch, wenn Presseerzeugnisse ohne Lizenzierung auf den Markt gebracht werden können und die Entstehung von staatlichen und privaten Monopolen verhindert wird. Wie bereits erwähnt, wird ein Konzessionssystem für die Presse zum Teil verfassungsrechtlich explizit untersagt. Aber auch wenn keine Konzession erforderlich ist, können andere Verfahren zu Grundrechtseinschränkungen führen. Im Fall Gaweda v. Polen wurde die Registrierung zweier Zeitungen abgelehnt. Die polnischen Gerichte bezogen sich dabei auf ein Pressegesetz von 1984, wonach die Registrierung untersagt werden kann, wenn sie „im Konflikt mit der Realität steht". Die erste Zeitschrift trug den Titel „Die soziale und politische Monatsschrift - Ein europäisches moralisches Gericht". Hier argumentierte das Gericht, dieser Name sei irreführend, da er nicht den in der Zeitung angebote-
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Özgür Gündem v. Türkei.
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nen Inhalten entspreche; weder sei ein derartiges europäisches moralisches Gericht existent, noch sei der Titel der tatsächlichen Bedeutung der Zeitschrift angemessen. Die zweite Zeitschrift hieß „Deutschland - ein tausendjähriger Feind Polens". Die Registrierung dieser Zeitschrift hielten die Gerichte gleichermaßen fur „im Konflikt mit der Realität stehend." Außerdem beriefen sie sich darauf, die Zeitschrift schade der deutsch-polnischen Versöhnung und sei schädlich fur gutnachbarschaftliche Beziehungen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sah in diesen Gerichtsentscheidungen einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK. Das den Entscheidungen zugrunde liegende Gesetz, das auf einen „Konflikt mit der Realität abstelle", sei nicht bestimmt genug, um eine gesetzliche Grundlage für Eingriffe in die Pressefreiheit zu bieten. Ein Registrierungssystem an sich aber verurteilt der Gerichtshof nicht, sondern hält es für ein Mittel zur Sicherung der Freiheit der Presse 16.
b) Sicherung der Pluralität der Meinungsbildung im Rundfunk aa) Verhinderung einseitiger politischer Einflussnahme Zu großen juristischen Streitigkeiten fuhrt die Frage, wie die Pluralität der Meinungsbildung in Rundfunk und Fernsehen gesichert werden kann. Hier gibt es grundsätzlich zwei verschiedene Ansätze, die man als „extern" bzw. „intern" charakterisieren könnte. „Extern" bedeutet, dass neben staatlichen Gesellschaften auch private Gesellschaften zugelassen werden, wobei ihnen entweder Sendefrequenzen zugeteilt werden oder aber ihnen die Möglichkeit eingeräumt werden kann, Programme über Kabel oder Satellit auszustrahlen. Soweit der Zugang zur Mehrheit der Bevölkerung gesichert ist, hat der EGMR die verschiedenen Möglichkeiten fur gleichwertig erachtet 17. „Intern" bedeutet, dass im Rahmen des staatlichen Rundfunks und Fernsehens eine ausgewogene Programmgestaltung sichergestellt werden muss. Das ungarische Verfassungsgericht formuliert die Ziele der jeweiligen organisatorischen Lösungen mit besonderer Präzision: „Die Verfassungsmäßigkeit der organisatorischen Lösungen wird anhand der Fragestellung überprüft, ob diese prinzipiell in der Lage sind, die allseitige, proportional ausgewogene und wahrheitsgetreue Wiedergabe der in der Gesellschaft vorhandenen Meinungen 16
Gaweda v. Polen ( 14.3.2002) Application No. 26229/95. Die Änderungen auf dem Gebiet zeigt deutlich die Entscheidung des EGMR Telel Privatfernsehgesellschaft mbH v. Österreich vom 21.9.2000, in der festgestellt wird, dass die Zuteilung von Sendefrequenzen nicht notwendig sei, wenn Privatgesellschaften auch über Kabel und Satellit die Mehrheit der Bevölkerung erreichen können. 17
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und die unvoreingenommene Berichterstattung über die Ereignisse und Tatsa18 chen von öffentlichem Interesse zu gewährleisten." Die Verfassungsgerichtsentscheidungen zu Problemen in diesem Zusammenhang - zur Frage, wer über die Zulassung privater Gesellschaften entscheidet, wer Entscheidungen trifft, die den staatlichen Rundfunk und das staatliche Fernsehen betreffen - zeigen, um es auf einen kurzen Nenner zu bringen, den „Kampf um die Macht" zwischen den verschiedenen staatlichen Funktionsträgern, insbesondere zwischen Parlament und Regierung. In Bulgarien etwa hielt die Opposition in der Abgeordnetenversammlung die Regelung, wonach der Ministerrat, d.h. die Regierung, die leitenden Stellen des Rats fur das nationale Rundfunkfrequenzspektrum und des Staatsausschusses fur das Fernmeldewesen besetzt, fur verfassungswidrig. Das bulgarische Verfassungsgericht 19 widersprach dem mit der Argumentation, dass die Verfassung insoweit keine Regelung treffe und somit einer derartigen Kompetenzverteilung auch nicht entgegenstehen könne. Angegriffen wurde auch das Recht des Ministerrats, an der Lizenzierung mitzuwirken. Auch hier verneinte das Verfassungsgericht eine Verfassungswidrigkeit, da dies nur die Tätigkeit im Rundfunkfrequenzspektrum betreffe, die Hoheitsrechte darüber aber der Staat ausübe 20 In der Russischen Föderation spielte der Einfluss auf die Medien eine große Rolle in der Auseinandersetzung zwischen Deputiertenkongress und dem Präsidenten in den Jahren 1992/1993. Streitgegenstand war eine Verordnung des Deputiertenkongresses vom 29.3.1993 „Maßnahmen zur Sicherung der Freiheit des Wortes in den staatlichen Rundfunkgesellschaften und Informationsdiensten", mit der die Tätigkeit des Föderalen Informationszentrums Russlands und des föderalen Fernseh- und Rundfunkdienstes, die der Präsident eingesetzt hatte, unterbunden wurde. Stattdessen sollten von der Legislative geschaffene Kontrollräte errichtet werden. Zugleich ging es um die Besetzung der leitenden Positionen in diesen Gremien. Die klagende Seite monierte eine Monopolisierung der Medien in den Händen der Legislative. Das Verfassungsgericht aber judizierte, dass ein Widerspruch zur Verfassung - es handelte sich allerdings noch um die alte Verfassung - nicht bestehe. In Polen hatte das Verfassungsgericht über das Recht des Präsidenten, den Vorsitzenden des Landesrundfunkrats abzuberufen, zu entscheiden. In Tschechien war streitig, ob der Rat des tschechischen Fernsehens von einem aus Abgeordneten des Parlaments zusammengesetzten Wahlkomitee und von allen Abgeordneten bestimmt werden darf. 18 19 20
Entscheidung 37/1992 (VI. 10) AB. Entscheidung Nr. 33 vom 8.12.1998 zu VS Nr. 30/98. Art. 18 Abs. 3, 5 Verfassung von Bulgarien.
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All diese Entscheidungen offenbaren die Schwierigkeit, die Medien, die notwendigerweise in den politischen Prozess eingebunden sind, von einseitiger politischer Einflussnahme freizuhalten. Soweit die Verfassungen aber zu diesen Kompetenz- und Organisationsfragen keine eindeutigen Regelungen bereithalten, ist fraglich, ob die Richtersprüche die Probleme einer dauerhaften Lösung zufuhren können. Vor diesem Hintergrund interessant ist der Tenor der ungarischen Verfassungsgerichtsentscheidung vom 8.6.1992, in der u.a. „gesetzgeberisches Unterlassen" gerügt wurde, da das Parlament es unterlassen habe, ein Gesetz über die Aufsicht über den öffentlichen Rundfunk und das öffentliche Fernsehen sowie über die Zulassung des kommerziellen Rundfunks und Fernsehens sowie über die Verhinderung von Informationsmonopolen auf dem Gebiet des Rundfunks und Fernsehens zu erlassen.
bb) Vorgabe von Werten Nun gibt es die Möglichkeit, den Prozess der Meinungsbildung in den öffentlichen Medien ganz sich selbst zu überlassen und mit Ausnahme von Grenzziehungen, die zum Schutz der Rechte anderer nötig sind, keine inhaltlichen Vorgaben zu machen. Alternativ kann man sich aber auch auf den Standpunkt stellen, bestimmte Wertvorgaben seien vonnöten. Diesen Weg ist Polen gegangen. Mit dem Rundfunk- und Fernsehgesetz vom 29.12.1992 legt es den öffentlichen und privaten Rundfunksendern bestimmte Pflichten auf. Die Verbreitung von Ansichten, die gegen das Recht, die Staatsraison oder die Moral und das Wohl der Allgemeinheit verstoßen, ist verboten. Religiöse Gefühle der Empfänger sind zu achten und das christliche Wertsystem zu respektieren 21. Öffentliche Sender müssen darüber hinaus über Ereignisse im In- und Ausland berichten und sich an der Bekämpfung gesellschaftlicher Probleme beteiligen. Außerdem sind sie verpflichtet, das christliche Wertsystem zu respektieren, wobei von universellen Grundsätzen der Ethik als Grundlage ausgegangen wird 2 2 . Diese inhaltlichen Vorgaben, insbesondere die Verpflichtung zur Respektierung allgemeiner christlicher Werte, wurden mehrfach vor dem polnischen Verfassungsgericht angegriffen. Das Verfassungsgericht legte das Gesetz verfassungskonform so aus, dass es keine Vorzensur ermögliche und auch keine För-
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Art. 18 Abs. 2 des Gesetzes. Art. 21 Abs. 2 Pkt. 6.
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derung christlicher Werte verlange. Mit dieser Maßgabe bejahte es die Verfassungsmäßigkeit23.
I I I . Konflikte zwischen verschiedenen verfassungsmäßig geschützten Rechten In einem letzten Punkt ist es nun noch nötig, die Rechtskonflikte aufzuzeigen, die immer dann entstehen, wenn Meinungen frei geäußert werden. Grenzziehungen sind notwendig, denn das Wort trägt nicht nur zur sachlichen Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Positionen bei, sondern kann auch beleidigen, diffamieren, verraten. In Konflikt geraten kann die Meinungsfreiheit insbesondere mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, mit der Ehre und Würde des Einzelnen, der von negativen Äußerungen betroffen ist, und mit der Staatssicherheit und öffentlichen Ordnung, wenn Staatsgeheimnisse verraten oder zu Straftaten aufgerufen wird.
1. Konflikte mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Bei Konflikten zwischen der Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit und der Ehre dessen, über den negativ geschrieben, negativ kommentiert wird, hat die Rechtsprechung in jedem Einzelfall eine Gratwanderung zu machen. In der Vielzahl der Gerichtsentscheidungen nationaler Verfassungsgerichte und des EGMR sind verschiedene Anhaltspunkte herausgearbeitet worden. So hat jemand, der als Politiker in der Öffentlichkeit agiert, Kritik in weiterem Umfang hinzunehmen als Privatpersonen. Dies gilt nicht in gleicher Weise fur Beamte. Unterschieden wird auch, ob eine Meinungsäußerung im Kontext einer allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzung steht oder nicht. Zur Illustration drei Entscheidungen des EGMR: In der Entscheidung Cumpana und Mazare v. Rumänien vom 13.5.2003 hatte eine Zeitung über angebliche Machenschaften des Bürgermeisters und einer Richterin bei der Vergabe von Lizenzen für das Abschleppen von Autos berichtet. Diesem Artikel wurde eine Karikatur beigefugt, die eine intime Liaison der Beteiligten nahe legte. Die rumänischen Gerichte verurteilten den verantwortlichen Journalist und den Redakteur der Zeitung wegen Beleidigung, bezogen sich dabei allerdings ausdrücklich nur auf die Karikatur, nicht auf den Text.
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Entscheidung vom 7.6.1994.
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Dies hielt der EGMR für gerechtfertigt: die Karikatur habe die Grenzen des Zulässigen überschritten. In dem Fall Janowski v. Polen vom 21.1.1999 24 warf ein Journalist Polizisten, die Straßenverkäufer zum Weggehen aufforderten vor, illegal zu handeln und gebrauchte in diesem Zusammenhang zwei Schimpfwörter. Er bezeichnete die Polizisten als „cwoki" und „glupki". Auch hier hielt der EGMR die strafrechtliche Verurteilung nicht für eine unzulässige Einschränkung der Meinungsfreiheit. Kritik müssten die Beamten hinnehmen, nicht aber Beleidigungen. Dagegen dürfen die Anforderungen an den Wahrheitsgehalt bei Presseberichten über strafbare Handlungen von Politikern nicht zu hoch gestellt werden. Berichtet etwa ein Journalist von einem Strafverfahren gegen eine öffentliche Person und zitiert dabei aus den Untersuchungsberichten, ist dieses Verhalten nicht als Verleumdung zu verurteilen, auch wenn das Strafverfahren später durch die Staatsanwaltschaft eingestellt wird. Aufgrund dessen stellt der EGMR im Fall Dalban v. Rumänien eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.
2. Konflikte mit der Staatssicherheit und öffentlichen Ordnung Die Äußerung von bestimmten Meinungen kann auch eine Gefährdung der Sicherheit des Staates und der öffentlichen Ordnung darstellen. Da hier aber eine große Nähe zu den politischen Straftatbeständen in den kommunistischen Regimen auszumachen ist, sind demokratische Staaten aufgefordert, bei der Abwägung zwischen dem, was auf dem Spiel steht, die Meinungsfreiheit besonders zu gewichten. Eine, wie ich finde, vorbildliche Entscheidung hat hier das ungarische Verfassungsgericht getroffen. Sie sei im Folgenden kurz referiert. Es ging um die Frage der Verfassungsmäßigkeit des strafrechtlichen Tatbestands der „Aufreizung gegen eine Gemeinschaft". Nach der fraglichen Vorschrift macht sich strafbar, wer Hass gegen bestimmte Gemeinschaften erregt (1. Alternative) bzw. seine Verachtung kundtut (2. Alternative). Das Verfassungsgericht untersucht nun im Einzelnen, ob diese Beschränkungen der Meinungsfreiheit unvermeidbar erforderlich sind und den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit entsprechen und kommt zu dem Schluss, dass bei der Erregung von Hass aufgrund der damit verbundenen konkreten Gefährdung von anderen subjektiven Grundrechten eine strafrechtliche Sanktionierung notwendig ist, dies aber dann nicht gilt, wenn jemand nur seine Verachtung kundtut. In diesem Fall sieht das Verfassungsgericht nur ein Abstraktum, die öffentliche Ordnung, die öffentliche Ruhe, den gesellschaftlichen Frieden als potentiell verletzt an; die Verletzung von Rechten anderer dagegen sei ungewiss. Dies genüge aber
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Application No. 25716/94.
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nicht, um eine strafrechtliche Sanktionierung verhältnismäßig erscheinen zu lassen.
Schlussbemerkung Die Garantie von Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit ist nicht als etwas Statisches beschreibbar; vielmehr handelt es sich um einen Prozess. Die Grenzziehung zwischen dem, was gerade noch tolerabel und dem, was tatsächlich zu unterbinden ist, ist nicht zementiert, sondern in immer neuen Fallkonstellationen zu finden. In den Staaten Mittel- und Osteuropas war die freie Meinungsäußerung über Jahrzehnte unterbunden worden. Mit dem Beginn der Reformen war es, als wäre der Deckel von einem unter Druck stehenden Dampfkessel genommen worden: alles kam heraus, brodelte über. Zugleich fehlten Mechanismen, um Einfluss und Macht in den Medien wirksam zu reglementieren. Hier eine Balance zwischen den einzelnen Rechten und Interessen zu finden, war - und ist - eine herkulische Aufgabe. Der Rechts vergleich zeigt, dass ähnlich problematische Konstellationen in verschiedenen Ländern auftauchen. Auf Einzelfragen werden verschiedene Antworten gegeben, die verfassungsrechtlichen Vorgaben werden zum Teil unterschiedlich ausgefüllt. Aber nicht das Ergebnis ist wirklich entscheidend. Wichtig ist der Prozess, die Tatsache, dass auf der Grundlage des Rechts Wege gesucht werden, um die verschiedenen betroffenen Interessen zu einem Ausgleich zu bringen, der für alle akzeptabel ist.
Aktuelle Probleme der Entwicklung des Medienrechts im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft Bernd Grzeszick
Einleitung Medienrecht ist nahezu zwangsläufig international beeinflusstes Recht. Der Grund dafür ist rasch gefunden: National geprägte und begrenzte Rechtsregeln können ihre Ordnungsaufgabe im Zuge der die Ländergrenzen übergreifenden Entwicklung der Kommunikationstechnik häufig nicht oder zumindest nicht mehr sachgerecht erfüllen. Funkwellen und Datenübertragungsnetzwerke machen an Schlagbäumen nicht halt. Satelliten strahlen ihre Programme über ganze Erdteile ab, und Kabelnetze sind grenzüberschreitend verbunden. Die nahezu ubiquitäre Verfügbarkeit der im Internet gespeicherten und weitergeleiteten Daten hat schließlich ein Maß erreicht, das die Rechtsordnung vor ein ernsthaftes Durchsetzungsproblem stellt: Im Internet begangene Rechtsverstöße bleiben zum großen Teil ungeahndet. Selbst in den Konstellationen, in denen territorial radizierte Rechtsregeln im Prinzip durchsetzbar sind, bedürfen die verschiedenen nationalen Regelwerke der inhaltlichen Koordination, um sich nicht gegenseitig auszuhebeln. Diese Entwicklungen machen eine internationale rechtliche Ordnung des Medienwesens erforderlich. Besonders intensiv lässt sich dies am Recht der Europäischen Gemeinschaft verfolgen. Deren Recht, also das Gemeinschaftsrecht, kann in Bezug auf Medien unter verschiedensten Aspekten beleuchtet werden. Im Folgenden soll vor allem einer, vielleicht der grundlegende Aspekt, herausgehoben werden: Die Frage nach der Legitimation der Medienregulierung. Legitimation wird dabei in dem Sinne verstanden, dass jede Regulierung sich zunächst die Frage stellen muss, was eigentlich warum gewollt wird 1 . Erst wenn das Ziel der Regulierung klar ist, können die entsprechenden rechtlichen Regelungen, die Mittel zur Erreichung des Zieles sind, sinnvoll gefasst und in ihrer Wirkung an diesem Ziel gemessen werden.
1 M. Schmittmann, 10 Jahre nach dem Pluralismus-Grünbuch: Muss über Medienkonzentrationsrecht neu nachgedacht werden?, AfP 2002, S. 393, 395.
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Dabei wird sich zeigen, dass die grundlegenden Strukturen des Medienrechts der Europäischen Gemeinschaft ebenso wie dessen aktuelle Probleme vor allem von einer Frage bestimmt sind: Sollen die Medien als Wirtschaftsgut oder als Kulturgut behandelt werden? Hinter dieser Frage steht die tatsächliche Ambivalenz der Medien 2 . Sie sind einerseits selbstverständliche Erscheinungsformen des Wirtschaftslebens und unterfallen deshalb dem zunächst als wirtschaftsrechtlichem Konzept entwickelten System der Gemeinschaftsverträge. Andererseits sind die Medien nach ihrer Eigenart auch kulturelle Phänomene, deren Bedeutung sich nicht ausschließlich aus dem Wirtschaftsrecht erschließen lässt. Die Ordnung der Medien hat deshalb eine erhebliche rechtliche und politische Relevanz. Aus dieser Perspektive wird im Folgenden das Medienrecht der Europäischen Gemeinschaft untersucht. Zunächst wird im ersten Teil des Vortrags ein Überblick über die Grundzüge des Medienrechts der Europäischen Gemeinschaft gegeben. Auf dieser Grundlage werden dann anschließend im zweiten Teil des Vortrags ausgewählte aktuelle Probleme vertieft erörtert.
I. Grundzüge des Medienrechts der Europäischen Gemeinschaft 1. Die Kompetenzfrage Die Europäische Gemeinschaft ist ein föderales System, das im Bereich des Rechts sowohl Kompetenzen der Mitgliedstaaten als auch Kompetenzen der Gemeinschaft vorsieht. Dabei gilt für die Kompetenzen der Gemeinschaft das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Diesem Prinzip zufolge darf die Gemeinschaft nur in den Materien tätig werden, in denen ihr im Gemeinschaftsvertrag von den Mitgliedstaaten Kompetenzen eingeräumt worden sind (Art. 5 EGV). Da der Gemeinschaftsvertrag eine umfassende Medienkompetenz der Gemeinschaft nicht vorsieht, verbietet sich de lege lata eine allumfassende Medienordnung der EG. Dennoch enthält das Gemeinschaftsrecht für den Bereich der Medien deutlich mehr bereit als nur punktuelle Regelungen. Denn die Organe der Gemeinschaft gehen von der Annahme aus, dass Medien Wirtschaftsgüter sind. Und als Wirtschaftsgüter unterfallen Medien den jeweils einschlägigen Vorschriften des EG-Vertrags, die fur den grenzüberschreitenden Austausch von Wirtschaftsgütern das Ziel eines einheitlichen Binnenmarkts postulieren. Soweit der wirtschaftliche Umgang mit Medien grenzüberschreitende Elemente hat, führt dies
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J. Schwarze, Die Medien in der europäischen Verfassungsreform, AtP 2003, S.
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deshalb zur Kompetenz der Gemeinschaft, im Wege der Rechtsangleichung einen gemeinsamen Binnenmarkt herzustellen. So ist die Gemeinschaft z.B. zuständig für den Erlass einer Richtlinie, die das Fernsehen reguliert 3, da der Rundfunk Dienstleistung ist und damit den Dienstleistungsvorschriften des Gemeinschaftsrechts unterfällt. Auf ähnliche Art und Weise ist die Gemeinschaft zuständig z.B. für den Erlass von Richtlinien zur Liberalisierung der Telekommunikation4 sowie zur Verwirklichung des Binnenmarktes für TK-Dienste durch Einführung eines offenen Netzzugangs5. Die Europäische Gemeinschaft ist damit zwar nicht umfassend für die Regulierung von Medien zuständig, sondern nur für die Regulierung in Bezug auf die Aspekte der Medien, die für den gemeinsamen Binnenmarkt relevant sind. Diese eingeschränkten Kompetenzen decken aber Regelungen mit zum Teil erheblicher inhaltlicher Reichweite und Dichte. Auf diese Art und Weise ist ein gemeinschaftsrechtlicher Rechtsrahmen für Medien entstanden, der aus Regelungen des sogenannten Primärrechts, also des EG-Vertrags, sowie des sogenannten Sekundärrechts, also der auf der Grundlage des EG-Vertrags erlassenen Rechtssätze, besteht. Dieser Rechtsrahmen lässt sich wie folgt skizzieren:
2. Primärrecht a) Grundrechte Ein ausdrücklich normiertes Grundrecht, das die Freiheit der Bürger in Bezug auf den Umgang mit Medien schützt, ist im EG-Vertrag nicht vorgesehen. Dennoch ist auch im Bereich des Gemeinschaftsrechts ein spezieller Grundrechtsschutz gegeben. Hier ist vor allem Art. 10 der EMRK von Bedeutung6. Art. 10 EMRK schützt die Meinungsfreiheit auch der und in den Medien7 und bindet zumindest mittelbar über die Bindung der Mitgliedstaaten auch die EG. Zudem ist im Unionsvertrag festgehalten, dass die Europäische Union die Grundrechte der EMRK und damit auch Art. 10 EMRK achtet (Art. 6 Abs. 2 EUV). Schließlich ist in der kommenden Europäischen Grundrechtscharta mit 3
AB1EG Nr. L 298 vom 17.10.1989, S. 23 ff. Vgl. AB1EG Nr. L 131 vom 27. 5. 1988, S. 73; AB1EG Nr. L 293 vom 24.7.1990, S. 10; AB1EG Nr. L 74 vom 22.3.1996, S. 13. • AB1EG Nr. L 192 vom 24.7.1990. 6 Dazu C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, S. 267 ff. Weiter A. Hesse, Rundfunkrecht, 3. Auflage, 2003, S. 318 f., Rn. 17; I. Müssle/M. Schmittmann, Der gemeinsame Markt und die Presse - Let's go Europe?, AfP 2002, S. 145 ff. 7 M. Holoubek, Medienfreiheit in der Europäischen Menschenrechtskonvention, AfP 2003, S. 193 ff. 4
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Art. 11 eine spezielle Regelung vorgesehen8. In Art. 11 Abs. 1 wird allgemein die Meinungsfreiheit garantiert. Daneben formuliert Art 11 Abs. 2 ausdrücklich: „Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet". Im Ergebnis ist demnach festzuhalten, dass das Gemeinschaftsrecht für den Bereich der Medien einen Grundrechtsschutz enthält.
b) Grundfreiheiten Neben diesem grundrechtlichen Schutz gewährt der Gemeinschaftsvertrag bestimmte Grundfreiheiten des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs. Zum einen wird die Freiheit des Warenverkehrs geschützt. Diese Freiheit ist auf sämtliche verkörperte Medien, also z.B. Presseerzeugnisse, Bücher, Videokassetten und CDs, anwendbar 9. Daneben treten die Niederlassungsfreiheit 10 sowie die Kapitalverkehrsfreiheit. Diese beiden Freiheiten sind insbesondere für Medien produzierende, vertreibende und beratende Unternehmen von Bedeutung. Schließlich und ganz zentral besteht innerhalb der Gemeinschaft Dienstleistungsfreiheit. Die Dienstleistungsfreiheit ist der eigentliche Ausgangspunkt fur die Entwicklung des Medienrechts der Europäischen Gemeinschaft 11. Die Organe der Gemeinschaft sind der Ansicht, dass auf sämtliche grenzübergreifenden wirtschaftsrelevanten Medientätigkeiten die Vorschriften über die Dienstleistungsfreiheit anwendbar sind 12 . Dies ist, wie gezeigt, von zentraler Bedeutung für die Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft, denn auf diese Grundlage stützt die Gemeinschaft ihre Zuständigkeit zum Erlass von Richtlinien, die einen einheitlichen Binnenmarkt durch Rechtsharmonisierung fördern sollen. Diese Qualifizierung der Medien als Wirtschaftsgut steht der kulturellen Dimension der Medien nicht grundsätzlich entgegen. Die entsprechenden nationalen Regelungen, die vor allem die inhaltliche Vielfalt der Medien sicherstellen sollen, sind zwar aus der Perspektive der Dienstleistungsfreiheit als Einschränkungen dieser Freiheit zu sehen. Aber die Freiheit zur grenzübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen wird im EGV nicht grenzenlos garantiert. Zum einen sieht der EGV Ausnahmen vom Anwendungsbereich der Grundfreiheiten vor. Die entsprechenden Vorschriften finden keine Anwendung auf Tätigkeiten in Ausübung öffentlicher Gewalt (Art. 45, 55 EGV) sowie auf Un-
8 Dazu J. Schwarze, Die Medien in der europäischen Verfassungsreform, AtP 2003, S. 209, 210 ff. 9 D. Dörr, Medienfreiheit im Binnenmarkt, AtP 2003, S. 202, 203. 10 D. Dörr, Medienfreiheit im Binnenmarkt, AtP 2003, S. 202, 206 f. 11 D. Dörr, Medienfreiheit im Binnenmarkt, AtP 2003, S. 202, 203 ff. 12 D. Dörr, Medienfreiheit im Binnenmarkt, AtP 2003, S. 202 f.
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ternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind („service public", Art.86 Abs. 2 EGV). Zum anderen können die Grundfreiheiten auch dort, wo sie grundsätzlich zur Anwendung kommen, durchaus beschränkt werden. Allerdings sind diese Beschränkungen dann rechtfertigungsbedürftig. Nationale Regelungen, die den grenzüberschreitenden Verkehr beschränken, sind dabei nur zulässig, wenn sie entweder aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit (Art. 46, 55 EGV) bzw. aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses 13 gerechtfertigt sind. Dies kann z.B. der Schutz des geistigen Eigentums14 oder die Aufrechterhaltung eines pluralistischen und nicht-kommerziellen Rundfunkwesens15 sein. Zudem müssen die Beschränkungen jeweils verhältnismäßig sein. Daran fehlt es, wenn die Interessen des Empfangsstaats bereits durch Regelungen des Sendestaats gewährleistet sind oder wenn die beschränkende Regelung des Empfangsstaates sonst unverhältnismäßig ist 16 . In Anwendung dieser Grundsätze hat der EuGH z.B. anerkannt, dass die Aufrechterhaltung des nichtkommerziellen und pluralistischen Charakters des inländischen Rundfunks ein legitimes Ziel im Sinne der öffentlichen Ordnung ist und Beschränkungen, z.B. bei der Aussendung von Werbung, rechtfertigen kann 17 . Allerdings wurde ein generelles Werbeverbot speziell für grenzüberschreitende Sendungen als diskriminierende und deshalb unzulässige Beschränkung angesehen18. Gleichfalls auf dieser Linie hat der EuGH geurteilt, dass ein staatliches Monopol für Rundfunkausstrahlung und -Übertragung zulässig sein kann 19 , um z.B. Störungen im Rundfunkverkehr zu verhindern, die sich aus der Knappheit der verfügbaren Kanäle ergeben 20. Ein solches Monopol kann insbesondere auch rechtfertigen, dass einem Rundfunkveranstalter unter anderem die Verbreitung aus dem Ausland herangeführter Sendungen verweigert wird 21 . Allerdings ist die Weigerung nicht gerechtfertigt, wenn das Monopolunternehmen nur einen
13
EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, S. 649. EuGH, Rs. 62/79 (Coditel I), Slg. 1980, S. 881, 903. 15 EuGH, Rs. C-148/91 (Veronica), Slg. 1993 1-487 ff.; Rs. C-23/93 (TV 10), Slg. 1994 1-4795 ff. 16 A. Hesse, Rundfunkrecht, 3. Auflage, 2003, S. 326 f.; M. Paschke, Medienrecht, 2. Auflage, 2001,S. 53 f., Rn. 133 f. 17 EuGH, Rs. C-52/79 (Debauve), Slg. 1980, S. 833; Rs. C-288/89 (Stichting), Slg. 1991 1-4007. 18 EuGH, Rs. 352/85 (Bond van Adverteeders), Slg. 1988, 1-2085; Rs. C-288/89 (Stichting), Slg. 1991 1-4007. 19 EuGH, Rs. 155/73 (Sacchi), Slg. 1974, S. 409, 430 f. Rz. 14. 20 EuGH, Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991 1-2925, 2957 Rz. 12, 2959 Rz. 20. 21 EuGH, Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991 1-2925 , 2959 f. Rz. 22-25. 14
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Teil der verfügbaren Kanäle nutzt, da dann durch die Nutzung eines weiteren Kanals Störungen des Rundfunkverkehrs nicht zu befürchten sind 22 .
c) Wettbewerbsrecht Der Schutz der Grundfreiheiten wird ergänzt durch ein eigenständiges Wettbewerbsrecht des EGV. Dieses besteht zum einen aus einem Verbot wettbewerbsverzerrender Beihilfen (Art. 87 ff. EGV). Zum anderen enthält der EGV ein Kartellverbot (Art. 81 EGV) sowie ein Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 82 EGV). Das Wettbewerbsrecht des EGV ist im Grundsatz auf Medien generell anwendbar, soweit Medien Teil der Wirtschaft sind. Die kulturelle Komponente der Medien führt hier aber gleichfalls zu Problemen. Diese kulminieren in der konkreten Frage, ob staatliche Rundfunkgebühren mit dem Beihilferecht vereinbar sind; diese Frage wird später noch ausführlich erörtert werden.
d) Kulturklausel Die bisher dargestellten Regelungen des EGV sind rein wirtschaftsbezogen. Der Bereich der Kultur war dagegen ursprünglich aus dem Gemeinschaftsvertrag ausgespart worden und sollte den Mitgliedstaaten und deren Kompetenz vorbehalten bleiben. Dies hat sich mittlerweile geändert. Mit dem 1992 abgeschlossenen Unionsvertrag wurde mit Art. 151 EGV eine Norm, die explizit auf Kultur Bezug nimmt, in den EGV aufgenommen. Damit ist nun auch der Bereich der Kultur zum Vertragsbestandteil geworden. Nach Art. 151 EGV leistet die Gemeinschaft einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten. Kultur in diesem Sinne ist ausdrücklich auch der audiovisuelle Bereich. Der Gemeinschaft soll dabei aber lediglich unterstützende und ergänzende Funktion zukommen. Dementsprechend ist umstritten, ob und wieweit Art. 151 EGV der Gemeinschaft eine weitere Kompetenz für den Bereich der Medien gibt 23 . Einige sehen die Regelung als eine Querschnittsklausel, die im genannten Bereich der Europäischen Gemeinschaft teilweise neue Kompetenzen verschafft 24. Diese Auslegung stützt sich vor allem auf Art. 151 Abs. 4 EGV, der verlangt, dass die Ge22
EuGH, Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991 1-2925, 2959 f. Rz. 22-25. Vgl. dazu D. Dörr, Medienfreiheit im Binnenmarkt, AfP 2003, S. 202, 205 f. m.w.N. 24 G. Ress, in: F. Fechner/T. Oppermann/L. Prott (Hrsg.), Prinzipien des Kulturgüterschutzes, 1996, S. 123, 124 f. 23
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meinschaft bei allen ihren Aktivitäten der Kultur Rechnung trägt. Daraus folge eine Erweiterung der bestehenden Ermächtigungen der Gemeinschaft in den Bereich der Kultur hinein. Dagegen sind andere der Ansicht, dass Art. 151 EGV der Gemeinschaft keine eigenständige Kompetenz zur Regelung kultureller Aspekte verschaffe 25. Die Bedeutung der Regelung liege darin, dass bei der Wahrnehmung der aus den anderen Vorschriften folgenden Kompetenzen kulturelle Aspekte mit zu berücksichtigen sind. Eigenständige Bedeutung habe die neue Regelung daher nur bei unterstützenden und ergänzenden Funktionen, vor allem Förderprogrammen 26 . Und selbst die entsprechende Ermächtigung zu Fördermaßnahmen in Art. 151 Abs. 5 EGV erfolgt ausdrücklich unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Vorschriften der Mitgliedstaaten. Diese Ansicht überzeugt. Insbesondere Art. 151 Abs. 5 EGV verhindert deshalb, dass Art. 151 EGV als eigenständiger Kompetenztitel der Gemeinschaft für den Bereich der audiovisuellen Medien verstanden wird. In Übereinstimmung mit Wortlaut und Systematik des Art. 151 EGV ist deshalb festzuhalten, dass die EG im Bereich der Medien, auch soweit sie Teil des Kulturbereichs sind, jedenfalls auf Grundlage des Art. 151 EGV keine Kompetenz zum Erlass von Rechtsakten hat, die die Mitgliedstaaten binden und deren nationalen Kompetenzbereich schmälern könnten.
3. Sekundärrecht Von den aus dem Primärrecht folgenden Kompetenzen hat die Gemeinschaft Gebrauch gemacht. Vor allem wurden verschiedene Richtlinien erlassen.
a) Fernsehrichtlinie Die bekannteste ist die Fernsehrichtlinie 27. Diese Richtlinie steht vor dem Hintergrund der skizzierten technischen Entwicklungen im Bereich des Fernsehens. Die Kombination von Ausstrahlung der Programme per Satellit, Verbreitung per Kabel und Sitzwahl für Veranstalter führte im Bereich des Fernsehens zu einem hohen internationalen Regulierungsdruck. Rechtlicher Ausgangspunkt war dabei, dass Rundfunk und damit auch Fernsehen unter die Dienstleistungs-
25
M. Paschke, Medienrecht, 2. Auflage, 2001, S. 55, Rn. 139; D. Dörr, Medienfreiheit im Binnenmarkt, AfP 2003, S. 202, 205 f. 26 G. Ress/J. Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Medienvielfalt, 1998, S. 58 f f 27 AB1EG Nr. L 298 vom 17. 10. 1989, S. 23 ff.
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freiheit des EGV fallt, also die Freiheit zum grenzüberschreitenden Verkehr mit dieser Dienstleistung geschützt ist. Um im Bereich des Fernsehens einen einheitlichen Binnenmarkt zu ermöglichen, sollten die verschiedenen nationalen Regulierungen, die einem grenzüberschreitenden Verkehr entgegenstehen, im Wege der Harmonisierung einem gemeinschaftsrechtlichen Rahmen angepasst werden. Dazu wurde die Richtlinie erlassen. Diese Richtlinie bezweckt Rechtsharmonisierung generell und betrifft deshalb nicht nur grenzüberschreitende Aktivitäten, sondern auch solche Sendungen, die nur im Sendestaat empfangen werden können. Grundidee der Fernsehrichtlinie ist es, den europaweit freien Empfang eines Programms mit der Einhaltung des gemeinschaftsrechtlichen Mindeststandards im Sitzstaat des Senders zu verbinden. Soweit eine Rundfunksendung in einem Mitgliedstaat rechtmäßig ausgestrahlt wird (Sendestaatsprinzip), ist deren freier Empfang in allen anderen Mitgliedstaaten garantiert, ohne dass diese noch zustimmen müssen (free flow of information without prior consent). Diese Garantie ist geknüpft an die Einhaltung von gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen, die Mindeststandards sicherstellen, vor allem für Werbung, Sponsoring, Jugendschutz und Gegendarstellungsrechte. Daneben finden sich in der Fernsehrichtlinie noch zwei weitere Regelungskomplexe. Dies ist zum einen die - sehr umstrittene 28 - Quotenregelung zugunsten europäischer Werke, die den europäischen Film vor allem vor den USFilmen schützen soll; die Quotenvorgabe wird von verschiedenen Fördermaßnahmen (Förderprogramme, Fonds) flankiert. Zum anderen wurde bei der Novellierung der Richtlinie 1997 eine Vorschrift aufgenommen, nach der Mitgliedstaaten Regelungen treffen können, durch die Ereignisse von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung auch dann nicht von der Übertragung im Free-TV ausgeschlossen werden dürfen, wenn sie sich im Pay-TV besser vermarkten lassen.
b) Richtlinien im Bereich des Urheberrechts Weitere Richtlinien bestehen vor allem im Bereich des Urheberrechts. Dabei wurde das Urheberrecht aus der Perspektive der EG wegen seiner nationalen Unterschiede zunächst vor allem als Hindernis für einen gemeinsamen Markt mit Dienstleistungen im Bereich der Medien gesehen. Die verschiedenen Bemühungen zur Harmonisierung waren hier aber nicht sehr erfolgreich. Zum einen sind die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten erheblich. Insbesondere verfolgen die Staaten zum Teil grundlegend unter-
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M. Paschke, Medienrecht, 2. Auflage, 2002, S. 59 Rn. 149.
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schiedliche Konzepte: Die Spannbreite reicht vom wirtschaftlich geprägten anglo-amerikanischen copyright über das vermittelnde deutsche Urheberrecht bis zum am Persönlichkeitsrecht orientierten französischen droit morale. Zum anderen fällt das Urheberrecht unter den Begriff des gewerblichen und kommerziellen Eigentums, weshalb Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit zum Schutz des Urheberrechts weitgehend gerechtfertigt sein können (Art. 30 EGV). In letzter Zeit hat sich die Perspektive der EG auf das Urheberrecht geändert. Es wurde zunehmend erkannt, dass das Urheberrecht die Dienstleistungsfreiheit und den einheitlichen Binnenmarkt nicht nur hindern, sondern auch fordern kann, weil es Anreiz zur Schaffung neuer, attraktiver Werke gibt, die wiederum Voraussetzung eines funktionierenden Marktes sind. Dieser Zusammenhang ist Ausgangspunkt für eine Reihe von jüngeren Richtlinien, die der Harmonisierung des Urheberrechts vor allem im Sinne des Schutzes des Urhebers und seiner Rechte dienen. Dies sind die Richtlinie zum Vermiet- und Verleihrecht 29 , die Richtlinie betreffend den Satellitenrundfunk und die Kabelweiterverbreitung j0 , die Richtlinie zur Harmonisierung der Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte^1 sowie die Richtlinie über den rechtlichen Schutz von Datenbanken32.
I I . Einzelne aktuelle Probleme Vor der skizzierten Folie des Primär- und Sekundärrechts können nun im Folgenden einige der wichtigsten aktuellen Probleme des Medienrechts der Europäischen Gemeinschaft näher analysiert werden.
1. Rundfunkgebühr Ein ständiger Streitpunkt ist die Finanzierung des nationalen öffentlichrechtlichen Rundfunks.
a) Problem Wie bereits angedeutet, gibt es im EGV eine Vorschrift, die bestimmte nationale Beihilfen verbietet. Nach Art. 87 Abs. 1 EGV sind staatliche Beihilfen,
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ABl EG Nr. AB1EG Nr. AB1EG Nr. AB1EG Nr.
L L L L
346 vom 248 vom 167 vom 281 vom
27. 11. 1992, S. 61. 6. 10. 1993, S. 15 ff. 22. 6. 2001, S. 10. 23. 11. 1995, S. 31.
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die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen den Wettbewerb verfälschen, grundsätzlich unzulässig. Allerdings ist dieses Verbot nur ein Grundsatz. Zum einen ist in Art. 86 Abs. 2 EGV eine Ausnahme normiert für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind („service public"). Zum anderen können gemäß Art. 87 Abs. 3 lit. d EGV Beihilfen zur Förderung der Kultur zulässig sein, wenn sie die Handels- und Wettbewerbsbedingungen in der Gemeinschaft nicht zu stark beeinträchtigen. Probleme bereitet in dieser Hinsicht die Finanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks durch eine Rundfunkgebühr 33. Dem liegen in der Regel staatliche Normen zugrunde, die an die Bereithaltung eines empfangsbereiten Gerätes anknüpfen und allein deshalb unabhängig von der tatsächlichen Nutzung durch den Bürger diesen zur Zahlung einer Gebühr an die Rundfunkanstalt verpflichten. Begründet wird diese Art der Finanzierung damit, dass sie die Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags sicherstelle, der eine ausgewogene Grundversorgung garantiert. Es überrascht nicht, dass die privaten Rundfunkveranstalter dies anders sehen. Aus ihrer Perspektive ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine staatlich finanzierte Konkurrenz, die auch jenseits der Grundversorgung im engeren Sinne tätig sei und in den rein wirtschaftlichen Bereich ausgreife, um die Einschaltquoten zu erhöhen. Mit staatlich gesteuerten Finanzierungsmitteln werden Anstalten aufgebaut, die unter anderem auch Werbung machen und dabei ihre staatlich finanzierte Marktstellung dazu benutzen, den privaten Veranstaltern Werbegeschäfte wegzunehmen. Soweit durch die Finanzierung die Belastung aus dem öffentlich-rechtlichen Auftrag überkompensiert wird, resultiert daraus eine Wettbewerbsverfälschung, da die öffentlich-rechtlichen Anstalten am Werbemarkt sowie beim Erwerb und Verkauf von Programmrechten in Konkurrenz zu den privaten Wettbewerben treten. Die Gebührenfinanzierung sei deshalb eine wettbewerbsverzerrende Beihilfe. Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Fundfunks durch Gebühr führt in Hinsicht auf die Beihilferegelungen des EGV zu einer Reihe schwieriger Fragen.
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327 ff.
Vgl. dazu und zum folgenden A. Hesse. Rundfunkrecht, 3. Auflage, 2003, S.
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b) Tatbestand Dabei ist bereits umstritten, ob die Rundfunkgebühr überhaupt tatbestandlich eine staatliche Beihilfe ist, die bestimmte Unternehmen begünstigt und dadurch den grenzüberschreitenden Wettbewerb verzerrt 34. Zunächst ist die Frage zu beantworten, ob es für die Qualifizierung der Mittel als „staatlich" genügt, dass eine staatliche Regelung besteht, die die Zahlung der Bürger an Rundfunkanstalt verlangt und deren Höhe festsetzt. Gegen die Qualifizierung als staatlich spricht, dass die Zahlungen der Bürger direkt an die zum Teil unabhängigen - Anstalten geleistet werden, ohne dass der Staat auf die Mittel Zugriff hat j5 . Dafür spricht, dass Pflicht und Höhe der Zahlungen staatlich festgesetzt werden und damit durch den Staat die konkrete verbindliche Zahlungspflicht zugunsten der Anstalten bewirkt wird. Weiter ist das Vorliegen einer „Begünstigung" fraglich. Dagegen wird angeführt, dass mit der Finanzierung nur die Grundversorgung sichergestellt und soweit nur der Nachteil ausgeglichen werde, der aus der Gemeinwohlbezogenheit der Grundversorgung resultiere. Sofern und solange die Rundfunkgebühr in sachgerechter Relation zum gemeinwohlbezogenen Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks stehe, sei sie deshalb aus beihilferechtlicher Sicht nicht zu beanstanden^6. Für die Annahme einer Begünstigung spricht, dass der Begriff der Grundversorgung zum Teil extensiv verstanden 37 und gehandhabt wird und die Anstalten in Bereichen tätig sind, die ein deutlich kommerzielles Gepräge haben. Durch eine beliebig weite Definition des Begriffs der Grundversorgung könne der Programmauftrag und die Finanzierung jeder Kontrolle durch das Gemeinschaftsrecht entzogen werden.
c) Rechtsfolgen Soweit tatbestandlich eine Beihilfe vorliegt, knüpfen daran verschiedene Rechtsfolgen an. Zunächst werden bestimmte Verfahrenspflichten ausgelöst. Der Staat muss die Beihilfe anmelden, damit die Kommission ein entsprechendes Aufsichtsverfahren durchführen kann. Das Aufsichtsverfahren führt zwar nicht stets und 34 Vgl. dazu C.-E. Eberle , Die Rundfunkgebühr au dem EU-Prüfstand, AtP 2001, S. 477, 479 IT. m.w.N. 35 A. Hesse, Rundfunkrecht, 3. Auflage, 2003, S. 330. 36 M Paschke, Medienrecht, 2. Auflage, 2001, S. 54 f., Rn. 136; C.-E. Eberle , Die Rundfunkgebühr auf dem EU-Prüfstand, AfP 2001, S. 477, 479. 37 Vgl. dazu die Mitteilung der Kommission AB1EG Nr. C 320 vom 15. 11. 2001, S. 5 ff. Rn. 33 f.
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zwingend zu einem Verbot der Beihilfe, da es verschiedene Möglichkeiten der Ausnahme und der Genehmigung gibt. Durch die Anzeigepflicht und das Aufsichtsverfahren soll aber erreicht werden, dass sämtliche Beihilfen einer zentralen, engen und präventiven Kontrolle unterliegen in einem Verfahren, das Transparenz herstellt und Verzerrungen des Wettbewerbs vorbeugen kann. In der Sache ist dann entscheidend, ob zugunsten der Beihilfe eine der im EGV geregelten Ausnahmen greift. Dabei ist zum einen an die besondere Ausnahmeregel des Art. 87 Abs. 3 lit. d EGV zu denken. Diese ermöglicht Ausnahmen vom Beihilfeverbot für Kulturbeihilfen. Allerdings ist umstritten, ob die Rundfunkgebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk unter den Begriff der Kulturbeihilfe fallen. Die Kommission lehnt dies ab 38 . Der Begriff der Kultur sei hier enger zu verstehen und erfasse nicht allgemeine bildungsmäßige und demokratische Bedürfnisse der Gesellschaft in einem Mitgliedstaat. Die Regelung sei nur einschlägig, falls der betreffende Mitgliedstaat eine gesonderte Definition und eine gesonderte Finanzierung im Hinblick auf eine Beihilfe vorsieht, die ausschließlich der Kulturförderung dient. Eine allgemeine, umfassende Finanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks kann deshalb auf diese Vorschrift nicht gestützt werden. Zum anderen kann die allgemeine Ausnahme des Art. 86 Abs. 2 EGV einschlägig sein 39 . Dies ist eine Regelung, nach der die Vorschriften des Vertrages - und damit auch die Beihilfevorschriften - nicht anwendbar sind auf solche Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (service public) betraut sind, wenn die Anwendung der Vertragsvorschriften die Erfüllung des Auftrags wesentlich erschweren oder unmöglich machen würde und die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht gemeinschaftswidrig beeinträchtigt wird. Ob diese Voraussetzungen in Bezug auf die Rundfunkgebühren gegeben sind, ist äußerst umstritten 40. Nach Ansicht der Kommission jedenfalls kann diese Ausnahme greifen. Voraussetzung ist aber, dass jeweils eine Wettbewerbsverzerrung vermieden wird. Deshalb dürfen die Rundfunkanstalten nicht mehr Geld erhalten, als zur Erfüllung ihres besonderen öffentlich-rechtlichen Auftrags erforderlich ist 41 .
38 A. Luetdke/M. Schmittmann, Rundfunkgebühren als staatliche Beihilfen auf dem Prüfstand der Kommission, AfP 2001, S. 373, 374. 39 Vgl. D. Dörr, Medienfreiheit im Binnenmarkt, AfP 2003, S. 202, 207 f. m.w.N. 40 Vgl. dazu A. Luedtke/M. Schmittmann, Rundfunkgebühren als staatliche Beihilfen auf dem Prüfstand der Kommission, AfP 2001, S. 375. 41 A. Luedtke/M. Schmittmann, Rundfunkgebühren als staatliche Beihilfen auf dem Prüfstand der Kommission, AfP 2001, S. 375.
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d) Lösungsansätze Angesichts der vielen Unklarheiten und Streitpunkte wurde 1997 versucht, die offenen Fragen durch eine Protokollerklärung zum EGV zu regeln 42. In dieser Erklärung zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist zum einen festgelegt, dass die Bestimmungen des EGV nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten berühren, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu finanzieren, sofern die Finanzierung der Rundfunkanstalten dem öffentlich-rechtlichen Auftrag dient, wie er von den Mitgliedstaaten den Anstalten übertragen, festgelegt und ausgestaltet wird. Zum anderen wird als weitere Voraussetzung verlangt, dass durch diese Finanzierung die Handels- und Wettbewerbsbedingungen in der Gemeinschaft nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft, wobei den Erfordernissen der Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags Rechnung zu tragen ist. Im Ergebnis muss die zur Verfügung gestellte Finanzierung für die übertragene besondere Aufgabe verhältnismäßig sein. Die dogmatischen Fragen zu Verständnis und Auslegung der einzelnen Regelungen des EGV werden zwar durch die Erklärung nicht geklärt. Dies wäre aber zu verschmerzen, wenn eine weitere Klärung nicht nötig wäre, anders formuliert: wenn der derzeitige Stand eine praktisch hinreichende Grundlage wäre. Eben dies ist aber nicht der Fall. Es bestehen weiterhin erhebliche Unsicherheiten, die dem Ziel einer hinreichenden Rechtssicherheit entgegenstehen, insbesondere hinsichtlich der zu beschreitenden beihilferechtlichen Verfahren. Deutlich wird dies anhand des Urteils des EuG der 1. Instanz vom 10. Mai 2000 43 . Dieses Urteil betrifft Finanzbeihilfen für einen zwar in privatrechtlicher Form verfassten, aber aus staatlichen Mitteln finanzierten portugiesischen Sender, der das öffentlich-rechtliche Programm Portugals ausstrahlt. Die Kommission hatte es abgelehnt, ein beihilferechtliches Hauptprüfungsverfahren zu eröffnen. Die dagegen gerichtete Klage eines privaten Rundfunkveranstalters vor dem EuG 1. Instanz hatte Erfolg. Das EuG ist der Ansicht, dass die Kommission das beihilferechtliche Hauptprüfungsverfahren bereits dann eröffnen muss, wenn sie ernsthafte Schwierigkeiten hat einzuschätzen, ob die Mittel eine unzulässige Beihilfe darstellen. Für die weitere Frage nach den Auswirkungen auf den gemeinsamen Markt ist nach Ansicht des EuG entscheidend, ob die staatlichen Stellen mittels Fördermittel Begünstigungen einräumen. Da der Empfänger am Werbemarkt teil-
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Vgl. Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten, ABl EG 1997 Nr. C 340, S. 109. 43 EuG, Rs. T-46/97 (SCI), Slg. 2000 11-2125.
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nimmt und dadurch im direkten Wettbewerb mit anderen Anbietern und Fernsehveranstaltern steht, kann die Frage der Auswirkung auf den gemeinsamen Markt nicht ohne weiteres verneint werden. Schließlich ist nach Ansicht des EuG die Frage, ob durch die Zuwendungen allein die aus der öffentlich-rechtlichen Grund Versorgung resultierenden besonderen Lasten ausgeglichen werden, nicht bereits im Vorstadium der Beihilfenaufsicht relevant, sondern erst im eigentlichen Beihilfegenehmigungsverfahren, dem förmlichen Prüfungsverfahren nach Art. 88 Abs. 2 EGV. Im Ergebnis tendiert das EuG dazu, wohl stets die Pflicht zur Notifikation und Einleitung der Beihilfenaufsicht anzunehmen und die eigentliche Sachentscheidung erst im Genehmigungsverfahren zuzulassen. Dies ist wichtig, da Beihilfen ohne Einhaltung des erforderlichen Verfahrens überhaupt nicht geleistet werden dürfen und bereits bei einem Verstoß gegen die Notifikationspflicht zwingend zurückgefordert werden müssen, selbst dann, wenn sie in der Sache ausnahme- bzw. genehmigungsfähig sind 44 . Weitere Unsicherheit bezieht die Rechtslage daraus, dass der EuGH in seiner neueren Rechtsprechung wohl eine andere Tendenz verfolgt als das EuG 1. Instanz und den Beihilfenbegriff enger fasst 45. Eine verbindliche gerichtliche Klärung in der Frage der Rundfunkfinanzierung fehlt weiterhin. Und um die Sache vollends zu verkomplizieren, ist schließlich daraufhinzuweisen, dass im Juli 2000 eine Transparenzrichtlinie 46 erlassen wurde. Diese Richtlinie soll bei öffentlichen Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (service public) betraut sind (Art. 86 Abs. 2 EGV), verhindern, dass eine „Quersubventionierung" durch Umleitung von staatlichem Mitteln, die für die besondere, übertragene Aufgabe vorgesehen sind, in die rein wirtschaftliche Betätigung der Unternehmen erfolgt. Dazu verlangt die Richtlinie eine getrennte Buchführung: Die mit der Wahrnehmung des übertragenen Allgemeininteresses verbundenen Kosten und Erlöse sind getrennt auszuweisen von den mit den sonstigen Tätigkeiten verbundenen Kosten und Erlöse. Zum einen ist fraglich, ob die Richtlinie auf öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten überhaupt anwendbar ist. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob tatbestandlich eine Beihilfe vorliegt. Zum anderen ist das Vorliegen einer Ausnahme möglich: Selbst wenn die Richtlinie im Grundsatz anwendbar ist, kann ein in der Richtlinie enthaltener Ausnahmetatbestand greifen (Art. 4 Abs. 2 lit. c der Richtlinie). Danach ist die Richtlinie nicht anzuwenden, wenn die
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EuGH, Rs. C-24/95 (Alcan), Slg. 1997 1-1591. EuGH, Rs. C-53/00 (Ferring), Slg. 2001 1-9067, insbes. Rn. 26 ff.; Rz. C-280/00 (Altmark Trans), in: ZIP 2003, S. 1617 f f 46 AB1EG Nr. L 193 vom 29. 7. 2000, S. 75. 45
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gewährten staatlichen Beihilfen im Rahmen eines offenen, transparenten und nicht diskriminierenden Verfahrens festgesetzt werden, weil damit der Zweck der Richtlinie gewahrt ist. Falls die Gebühren in einem entsprechenden Verfahren festgesetzt werden, ändert deshalb die Richtlinie im Ergebnis nichts. Auf die insgesamt unsichere Rechtslage hat die Kommission im Oktober 2001 mit einer Mitteilung zur Anwendung der Beihilfevorschriften auf den Rundfunk zu reagieren versucht 47. Diese Mitteilung ist im Grundsatz eine Wiederholung des Protokolls von 1997. Sie wird mittlerweile ergänzt durch einen am 5. Juni 2002 vorgelegten Bericht der Kommission 48 . Darin wird die Herangehensweise der Kommission an die Finanzierung der Anstalten näher dargelegt. Im Ergebnis hält die Kommission an ihrem entschiedenen „sowohl - als auch" fest. Die Kommission unterstreicht zum einen, dass es ihre Aufgabe sei, sämtliche für das Beihilfenrecht maßgeblichen Aspekte der Finanzierung der Anstalten zu überprüfen. Zum anderen betont die Kommission aber, dass - in Übereinstimmung mit der Tendenz in der Rechtsprechung des EuGH 49 - angemessene Ausgleichszahlungen fur öffentliche Dienstleistungen nicht als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EGV angesehen werden. Zugleich betont die Kommission in der Mitteilung ausdrücklich, dass Mischformen der Finanzierung weiterhin zulässig sein können. Der in den Kommissionsvorschlägen sowie der Transparenzrichtlinie absehbare Trend zielt freilich auf eine Trennung von Gebühren- und Werbefinanzierung. Die optimale Lösung in diesem Sinne wäre, über die Transparenz hinauszugehen und die Tätigkeit der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten darauf zu reduzieren, eine ausschließlich am Gemeinwohl orientierte Grundversorgung bereitzustellen, wie sie am Markt nicht erbracht wird. Diese Tätigkeit könnte allein über eine Gebühr oder Steuer finanziert werden. Wegen der engen Definition der Grundversorgung wäre die Gefahr der Quersubventionierung und die Tendenz zur Ausweitung der Tätigkeit der Anstalten begegnet. Zudem wäre klar zu erkennen, fur was die Bürger jeweils zahlen. Mangels Werbung würde insoweit auch durch die Finanzierung keine Auswirkung auf den Markt eintreten. Eine Auswirkung auf den Rechtemarkt würde zwar weiterhin eintreten. Diese Auswirkung ist aber insoweit unvermeidlich, als sie aus dem Grundversorgungsauftrag folgt. Eine derartige Lösung bleibt aber zurzeit Mitgliedstaaten vorbehalten. Denn der derzeitigen Gemeinschaft fehlt eine entsprechende Gemeinschafitskompe47
AB1EG Nr. C 320 vom 15. 11. 2001, S. 5. K O M (2002) 280 endg. 49 EuGH, Rs. C-53/00 (Ferring), Slg. 2001 1-9067, insbes. Rn. 26 ff.; Rz. C-280/00 (Altmark Trans), in: NJW 2003, 2515 ff. 48
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tenz. Zwar ist das zugrundeliegende Problem auch mit Transparenz noch nicht gelöst. Denn der Umfang des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags ist allein durch Transparenz noch nicht in der Sache kontrolliert. Dies ist aber vom Gemeinschaftsrecht auch nicht zu bewerkstelligen. Die Festlegung des Programmauftrags bleibt zunächst den Mitgliedstaaten überlassen. Diese haben durch den Begriff der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse („service public", Art. 86 Abs. 2 EGV) bei der Finanzierung ihres nationalen öffentlich-rechtlichen Rundfunks einen Spielraum, innerhalb dessen keine Gemeinschaftskompetenz besteht.
2. Kartell- bzw. Konzentrationsrecht einschließlich Missbrauchsrecht Wenn Medien durch das Europäische Gemeinschaftsrecht primär als Wirtschaftsgüter behandelt werden, dann bedürfen sie auch einer entsprechenden Regulierungsstruktur. Der inhaltliche Pluralismus wird dabei nicht direkt reguliert, sondern soll durch einen funktionierenden Markt der Meinungen sichergestellt werden. Dem entsprechend ist im Bereich des Europäischen Medienrechts die allgemeine Marktregulierung des EGV von erheblicher Bedeutung. Da zudem die Konzentrationstendenzen bei den privaten Medienunternehmen sich national wie international deutlich fortsetzen, fuhrt dies zu der Frage, wie die Gemeinschaft darauf reagiert. Der EGV hält dafür nur allgemeine, nicht-medienspezifische Regelungen bereit. Zum einen sieht er eine Fusionskontrolle vor, damit keine den Wettbewerb gefährdende Marktstellung entsteht. Zum anderen regelt er eine Kartell- und Missbrauchsaufsicht, damit eine erlangte Stellung im Markt nicht missbraucht wird. Auf Grundlage dieser Regelungen lässt sich die Rechtmäßigkeit von bestimmten Absprachen, wie z.B. der Buchpreisbindungen in Deutschland und Österreich, relativ einfach beurteilen: Soweit sie grenzüberschreitende Wirkungen haben, verstoßen sie gegen das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EGV. Der Verstoß kann dadurch vermieden werden, dass die Absprachen so gestaltet werden, dass sie keine grenzüberschreitenden Wirkungen haben, da dann der gemeinsame Markt nicht betroffen ist. Die dahinter stehende Grundfrage, das Verhältnis zwischen ökonomischem Wettbewerb und publizistischer Vielfalt, ist aber sowohl bei der sonstigen Anwendung des EG-Wettbewerbsrechts als auch in ihrer Allgemeinheit deutlich schwieriger zu beantworten. Ist ökonomischer Wettbewerb das primäre Instrument zur Sicherung von publizistischer Vielfalt und publizistischem Wettbewerb, oder hat ökonomischer Wettbewerb nur eine dienende Aufgabe zur Herstellung publizistischer Vielfalt, da diese das eigentliche Ziel bei der Anwendung der Regelungen des EGV ist?
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Daraus resultiert die Frage, ob der Bereich der Medien nicht einer speziellen Richtlinie über Medienpluralismus und Medienkonzentration bedarf, die diesen Besonderheiten Rechnung trägt. Diese Frage ist in einem entsprechenden Grünbuch der Europäischen Kommission 50 bereits 1992 angedacht worden. In der entsprechenden Richtlinie sollen vor allem besondere Regelungen über die Konzentration im Rundfunk - auch bzw. insbesondere unter der Berücksichtigung von Verflechtungen mit Presseunternehmen - getroffen werden. Eine medienspezifische Regelung sei vor allem deshalb sinnvoll, weil entsprechende Konzentrationsprozesse durch nationale Ansätze alleine nicht angemessen in den Griff zu bekommen seien, da die entsprechenden Unternehmen zunehmend international agieren. Allerdings ist eine entsprechende Richtlinie bisher noch nicht verabschiedet worden. Denn es gibt ein zentrales Problem. Zunächst müsste das Ziel der Medienregulierung definiert werden, um dann anschließend die diesem Ziel entsprechenden Regelungen zu suchen. Mit der Frage nach dem Ziel des Europäischen Wettbewerbsrechts ist deshalb die zu Beginn angesprochene Grundfrage jeder Medienregulierung wieder aufgeworfen: Sind die Medien aus der Perspektive des Rechts als Wirtschaftsgut zu sehen oder als Kulturgut?
I I I . Fazit Diese Frage hat grundlegende Bedeutung für das Medienrecht nicht nur der Europäischen Gemeinschaft. Denn zum einen folgt daraus die inhaltliche Struktur und Ausrichtung des Medienrechts: Ist das Medienrecht Wirtschaftsrecht ist es Kulturgüterschutzrecht? Zum anderen ist damit die Kompetenzfrage verbunden: Fallen entsprechende Regelungen in den Zuständigkeitsbereich der oberen föderalen Ebene, oder ist die untere föderale Ebene zuständig? In diesem doppelten Spannungsverhältnis bewegt sich jede Regulierung der Medien in einem föderal organisierten Gemeinwesen.
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KOM (1992) 480 endg.
Teil I I : Regelung und Selbstregelung in den Medien
Medien zwischen Recht und Ethik Otto Depenheuer Über die Rolle der Ethik im Bereich der Medien zu sprechen ist heikel, schon weil die Problemstellung prinzipiell fragwürdig ist: in Anlehnung an Karl Kraus könnte man rhetorisch zurückfragen, ob das Thema dieses Vortrags die Ethik oder die Medien sein soll. Die Pointe dieser fiktiven Rückversicherung liegt in dem grundsätzlichen Zweifel, ob es so etwas wie Medienethik überhaupt geben kann, und wenn ja, welche Bedeutung der Ethik im Bereich der Medien neben dem Rechtsgesetz zukommen kann. Um diesen Zweifeln auf den Grund zu gehen und sie ggf. zu beheben, soll in den ersten beiden Abschnitten der theoretische Bezugsrahmen des Themas, d.h. die Voraussetzungen geklärt werden, unter denen die Frage nach einer Ethik der Medien überhaupt nur sinnvoll gestellt werden kann (I., II.). Sodann wird anhand einiger Beispiele aus der jüngsten Zeit die Brisanz der Thematik in Erinnerung gerufen (III.), das Problem schließlich in drei Fallgruppen (IV.-VI.) exemplarisch entfaltet und eine Modalität seiner praktischen Bewältigung vorgestellt werden (VII.).
I. Zum Verhältnis von Recht und Moral Voraussetzung und Ausgangspunkt einer Frage nach Recht und Ethik im Bereich der Medien ist die Feststellung, dass Presse und Rundfunk verfassungsrechtlich frei sein müssen. Ohne rechtlich garantierte Freiheit der Medien stellt sich die Frage einer ethischen Selbstbindung nicht. Nach Immanuel Kant - insoweit den systematischen Zusammenhang von Recht und Ethik bis heute maßgeblich konturierend - ordnet das Gesetz die äußerliche Freiheit der Bürger untereinander, während die Ethik der Selbstbindung der Bürger dient: Ethik verbietet dem Einzelnen, etwas zu tun, was er rechtlich tun dürfte.
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Kants Maxime fur die ethische Bindung lautet: „.Handle so, dass die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte". Der Mensch soll also nach Kant in seinem Handeln alle Menschen respektieren. Deshalb handelt er nur dann richtig, wenn jeder seinem Handeln zustimmen könnte, d.h. wenn es verallgemeinerungsfähig ist. Bei all seinem Handeln muss der Mensch gleichsam den Willen aller anderen Menschen antizipieren. Dadurch kann der subjektive Wille zu einem objektiven Wollen gemacht werden. Dieser kategorische Imperativ ist kein Rechtsgesetz, sondern ein moralisches Gesetz, ein Gesetz, das innerlich bindet, jedoch nicht äußerlich. Das moralische Gesetz kann man nicht erzwingen; seine Erfüllung beruht allein auf dem freien Willen des Bürgers. Das Verhältnis dieses moralischen Gesetzes zum Rechtsgesetz ergibt sich aus den Voraussetzungen für den kategorischen Imperativ: Wenn der kategorische Imperativ als moralisches Gesetz nur den Willen bindet, nur im Innenbereich gilt, dann muss Recht das äußere Verhalten regeln, nur für das Verhältnis nach außen gelten. Kant gewinnt den Rechtsbegriff dadurch, dass er den kategorischen Imperativ gleichsam nach außen wendet: "Eine jede Handlung ist Recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann 1 Das Prinzip des Rechtes ist also die Freiheit. Das Recht muss daher die Moralität jedes einzelnen respektieren, d.h. es muss der Freiheit einen möglichst großen Spielraum lassen. Und es kann dies tun, weil die Freiheit schon durch das moralische Gesetz normativ gebunden ist. Die Richtigkeit des Rechtes besteht folglich darin, dass es der Moral einen möglichst großen Spielraum lässt. Für Kant gehören also Recht und Ethik zusammen; sie ergänzen sich wechselseitig. Zwar ist das Recht nicht ethisch, aber es bildet den Rahmen für die Moral. Das Recht kann sich auf die Regelung des äußeren Verhaltens beschränken, weil die Freiheit bereits vom kategorischen Imperativ strukturiert wird. Kant hatte geglaubt, mit dem kategorischen Imperativ eine unfehlbare Sonde für die Unterscheidung zwischen Gut und Böse gefunden zu haben. Er hat sein Prinzip so formal gemeint, wie er es niedergeschrieben hat und geglaubt, auf inhaltliche Wertungen vollständig verzichten zu können. Ich kann hier nicht näher ausführen, dass Kant mit diesem Anspruch gescheitert ist.3 Ich kann daher auch keine allgemein verbindliche Ethik der Medien auf kantianischer Basis vorstellen. Für unsere Zwecke mag vielmehr die empirische Feststellung genügen, dass zwar die Ethik in Ansehung der vielfältigen neuen Entwicklungen und techni-
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Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung IV (Cassirer-Ausgabe, S. 25 f.). Ders., Einleitung, § C (Cassirer-Ausgabe, S. 31). 3 Vgl. nur die hegelsche Fundamentalkritik: G. Heçel, Enzyklopädie, Einleitung, § 10 (S. 53 f.). 2
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sehen Möglichkeiten derzeit Hochkonjunktur hat, aber ethische Forderungen, mögen sie auch noch so überzeugend begründet sein, aus sich heraus nicht intersubjektiv verbindlich sind und akzeptiert werden. Daraus folgt eine wichtige Differenzierung: ungeachtet der Leistungen einer Ethik als subjektiv unverzichtbarer Orientierungsmaßstab für den einzelnen ist Ethik unvermögend, als gesellschaftliches Steuerungsmedium zu wirken. Sind aber die Inhalte einer Medienethik zweifelhaft, so kommt alles auf das Verfahren an, diese Zweifel aufzufangen, zu kanalisieren und sie auszuräumen. Insoweit lassen sich zwei Strategien benennen, die verfassungsrechtliche Freiheit der Medien ethisch einzufangen: der Weg über journalistische Selbstverpflichtungen und der Weg der Bindung durch das staatliche Gesetz.
I I . Verfassungsrechtliche Freiheit und gesetzliche Bindung der Medien 1. Die Freiheit von Meinung, Presse, Funk und Fernsehen Das kantische Zusammenspiel von Recht und Moral liegt auch der Idee verfassungsrechtlich garantierter Freiheiten, so auch dem Grundrecht der Medienfreiheiten, zugrunde: ein Grundrecht der Meinungsfreiheit ist heute europäisches Gemeingut - darüber sollte kein Wort mehr zu verlieren sein. Der primäre Sinn und Zweck dieses Grundrechts lässt sich unschwer aus seiner Entstehungsgeschichte ablesen4: gerichtet ist es gegen staatliche Zensur, gegen das Monopol staatlicher Propaganda, das früher oder später dazu führen muss, dass die Regierenden verlogen werden, weil sie im Sog ihres Informations- und Meinungsmonopols alsbald selber nicht mehr wissen, was Wahrheit und was Lüge ist 5 : denn „Recht lügen können nur die ganz Wahrhaftigen" (Karl Jasper). Vor allem aber ist das Grundrecht der Meinungsfreiheit der Humus jeder freiheitlichen Demokratie: Meinungs- und Medienfreiheit sind - wie es das Bundesverfassungsgericht prominent formulierte - für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung „schlechthin konstituierend, [weil] dieses Grundrecht erst die ständige geistige Auseinandersetzung [ermöglicht], den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist" 6 . Tatsächlich ermöglicht das Grundrecht auf Meinungsfreiheit die Ausbildung jenes kritischen Resonanzbodens im Kontext einer freiheitlichen Demokratie, aufgrund dessen freiheitliche Gesellschaften flexibler auf sich wandelnde Wirklichkeiten reagieren können, unbefangener überkommene Lösungsmodelle in Frage stellen und durch bessere ersetzen können: 4
JöRNr. 1 (1951), S. 79 f f Vgl. dazu Heinnah Arendts Unterscheidung von Lügen und Verlogenheit, in: Wahrheit und Lüge in der Politik, 1972, S. 78 ff. 6 BVerfGE 7, 198 (208). s
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Durch die nie endende kritische Begleitung politischer Entscheidungen flankiert der Prozess des öffentlichen und freiheitlichen Meinungsaustausches den Lernprozess der modernen Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung. Regierungsformen ohne Meinungsfreiheit, die sich gegen Kritik abschotten und sie unterdrücken, müssen schon deswegen den Anschluss im Wettbewerb der Kulturen, Ökonomien und Staaten verlieren, weil ihre Flexibilität und Lernfähigkeit deutlich begrenzt ist: geschlossene Gesellschaften tendieren eher zu Sklerosierung als offene. 7 Für unseren Zusammenhang wichtig und deshalb kurz festgehalten sei nur, dass die verfassungsrechtliche Garantie der Meinungsfreiheit Bedingung dafür ist, ein Thema wie das der Ethik im Bereich der Medien überhaupt aufzuwerfen. Ohne Meinungs-, Presse- und Medienfreiheit gibt es keinen Raum für Überlegungen zur Medienethik: staatliche Zensur macht medienethische Überlegungen überflüssig. Eine staatlich gegängelte, zensierte oder unterdrückte Presse ist keine Frage der Medienethik, sondern eine der politischen Kultur, d.h. der politischen Ethik. In einer tendenziell totalitären Medienlandschaft stellt sich die medienethische Frage genau umgekehrt: nicht nach der moralischen Selbstbegrenzung gegebener rechtlicher Freiheit, sondern nach dem Mut zur journalistischen Freiheitsbehauptung unter politischen Repressionsbedingungen.
2. Gesetzliche Beschränkungen der Medienfreiheit Es ist ein uraltes Gesetz: Freiheit ermöglicht Missbrauch. Die verfassungsrechtliche Gewährung der Meinungsfreiheit hofft auf den sachlichen Diskurs, erwartet den freimütigen Austausch von Argumenten und sucht das Gemeinwohl als Resultante der öffentlichen Meinungen. Aber eine Verfassung muss auch mit dem Missbrauch der Meinungsfreiheit rechnen. Deshalb fügt sie der Gewährleistung der Freiheit den Vorbehalt gesetzlicher Beschränkung bei. Aus legitimen Gründen des gemeinen Wohls darf das freie Wort durch Gesetz eingeschränkt werden. Die Verfassung selbst nennt zwei Gründe: den Jugend- und Ehrenschutz. Für alle die Meinungsfreiheit beschränkenden Erwägungen aber gilt in einem rechtsstaatlichen System: nur im Umfang des unbedingt erforderlichen und verhältnismäßigen darf die Freiheit zurückgedrängt werden. Das Ziel der Beschränkung und die Einbuße an Freiheit darf nicht mit weniger einschneidenden Maßnahmen möglich sein und der Verlust an Freiheit nicht außer Verhältnis zum erstrebten Zweck stehen. Mit dieser Zielsetzung überziehen den Bereich der Medienfreiheiten zahlreiche Regelungen zum Schutze anderer
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F.A. v. Hayek. . Die Verfassung der Freiheit [I960], 1971, S. 30 ff., 49 ff.
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Rechtsgüter, aber auch um des Schutzes der Meinungsfreiheit selbst: so sucht insbesondere die Kartellgesetzgebung der Entstehung dominierender Meinungsmacht entgegenzuwirken. Das einseitig-hoheitliche Handeln des Staates bleibt zwar unverzichtbar. Immer mehr in den Vordergrund der Diskussion und der Verwaltungspraxis hingegen treten Formen der Selbstregulierung bzw. einer Kombination staatlicher Vorgaben mit Formen der Selbstregulierung. Die Vorteile autonomer gesellschaftlicher Selbstregulierung liegen auf der Hand: Sachnähe und Akzeptanz, Flexibilität und Implementation, Freiheit von staatlichem Zwang. Allerdings sollten auch die Gefahren nicht unterschätzt werden: ihre Durchsetzung ist unsicher und nicht sanktionsbewehrt. Zudem ist der Weg von der Selbstverpflichtung zur Selbstzensur nicht weit. Die Gemeinwohlverpflichtung der Medien kann schnell zur Konformität mit politischen Erwatungen fuhren. Man muss diese Dimensionen auch im Hinblick auf die Normierung und Durchsetzung ethischer Standards im Bereich der Medien im Auge behalten. Sie lassen das Gesetz in den Hintergrund treten, verkleinern den Freiraum zwischen Willkür und gesetzlicher Bindung, können aber seine Notwendigkeit des staatlichen Rechts nicht aufheben.
3. Medienethik als Disziplin Wie intensiv und umfangreich auch immer das Recht der Medien ist, in einem freiheitlichen Medienumfeld bleibt gleichwohl immer Raum zum Missbrauch: die verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit geht nicht auf in der gesetzlichen Bindung. Und auch durch Formen der Selbstverpflichtungen kann dieser Freiraum um der rechtlichen Freiheit willen nicht völlig ausgefüllt werden. Und genau hier stellt sich die Frage nach der ethischen Bindung der Freiheitsberechtigten: dürfen sie ethisch alles tun, was rechtlich nicht verboten ist? Die junge Disziplin der Medienethik hat zwischenzeitlich eine Vielzahl und Vielfalt an konkretisierenden Problemstellungen herausgearbeitet, zielt teils auf die Mikro-, teils auf die Makroebene. Dies alles kann hier nicht einmal im Überblick gestreift werden. 9 Vielmehr möchte ich mich auf die medienethische
8 Überblick: Frank Fechner, Medien zwischen Kultur und Kommerz - zur Rolle des Staates in der neuen Medienwelt, JZ 2003, S. 224 ff. 9 Vgl. nur Klaus Wiegerling, Medienethik, 1998: Peter Winterhoff-SpurkJKonrad Hilpert (Hrsg.), Medien und Ethik, 1995; Felix Weil Die Medien und die Ethik, 1999; Rainer Leschke, Einführung in die Medienethik, 2001; Matthias Karmasin (Hrsg.), Medien und Ethik, 2002.
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Zentralfrage beschränken, was der einzelne Journalist bzw. Verleger tun, vermeiden oder achten soll. 10 Als Hintergrund mögen einige aktuelle Fälle dienen:
I I I . Fälle ethisch fragwürdigen Verhaltens im Bereich der Medien Über Medienethik zu sprechen, setzt eine Differenz zwischen rechtlicher Freiheit und gesetzlichen Verboten voraus: man darf rechtlich mehr als man ethisch soll. Die ethische Generalnorm lautet in Ansehung dieser Differenz: nicht alles, was rechtlich zulässig ist, ist auch ethisch erlaubt. 11 Was dies im Einzelnen bedeutet, kann nur in Ansehung konkreter Problemstellungen diskutiert werden. Als Grundlage der nachfolgenden Überlegungen seien daher nachfolgend einige in der jüngeren Vergangenheit unter ethischem Blickwinkel diskutierte Fallgruppen vorgestellt. Dabei erhebt diese Übersicht nicht im Ansatz den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern möchte nur als exemplarische Grundlage für die ethische Diskussion dienen. Vielfalt und Heterogenität der Beispiele legen es nahe, sie der Übersichtlichkeit halber in drei Fall- und Problemgruppen einzuordnen: a) das Problem der Abhängigkeit der Medien von Politik und Kommerz, d.h. das Ethos der Unabhängigkeit; b) das Problem der Sachlichkeit der Berichterstattung; c) das Problem der wahren Berichterstattung. Die Fallgruppen gehen in der Wirklichkeit ineinander über; aus systematischen und analytischen Gründen sollen sie aber nachfolgend getrennt betrachtet werden. a) Das Problem der Abhängigkeit der Medien von politischer Einflussnahme markiert das Grundproblem einer freien Presse schlechthin: wenn die Medien nicht frei sind, können sie nicht der Meinungsbildung, sondern nur der Propaganda und Indoktrination dienen. Historisch wird in Deutschland insoweit auf das Beispiel des Presseimperiums von Hugenberg in der Weimarer Zeit verwiesen, das zu einem der Wegbereiter Hitlers geworden sei. Derzeit wird in diesem Zusammenhang gerne auf die Eigentümerstellung des italienischen Ministerpräsidenten über zahlreiche private Fernsehkanäle verwiesen (das BerlusconiMenetekel); die Ballung von politischer und Medienmacht führe zu einer Gefährdung der Demokratie. 12 Im kleineren Maßstab geraten in Rumänien Provinzzeitungen unter die Kontrolle „lokaler Barone" mit der Folge, dass Journalisten, die den Herrschenden nahe stehen, mit Preisen und Posten belohnt wer10
Vgl. nur Eberhard Schockenhoff Zur Lüge verdammt? 2000, S. 286 ff. Vgl. Otto Depenheuer, Recht und Tabu, 2003, S. 7 ff., 15. 12 Stefan Krempl: Das Phänomen Berlusconi. Die Verstrickung von Politik, Medien, Wirtschaft und Werbung, 1996. 11
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den, während ihre weniger konformistischen Kollegen Repressalien verschiedenster Art ausgesetzt sind. 13 Auch die Abhängigkeit der Medien von wirtschaftlichen Interessen erscheint ethisch fragwürdig, da sie die Medien anfallig mache fur alle Formen der Schleichwerbung und Instrumentalisierung für nichtpolitische Interessen. Insbesondere die fortschreitende Boulevardisierung der Medienlandschaft finde in der kommerziellen Abhängigkeit ihren eigentlichen Grund: Kultur und seriöse Berichterstattung würden auf dem Altar von Auflagenhöhe und Quote geopfert. So würden die Medien zum Instrument kommerzieller Macht, wenn sie, wie derzeit in Rumänien, von Geschäftsleuten aufgekauft und dann zur Erpressung eingesetzt würden: wer in den Zeitungen keine Anzeigen schaltet, läuft Gefahr, Objekt negativer Berichterstattung zu werden. 14 Ein klassisches Randphänomen der Fallgruppe der Unabhängigkeit bildet schließlich die Frage nach der Abhängigkeit des Journalisten vom Eigentümer des Mediums, eine Frage, die als Problem der inneren Pressefreiheit diskutiert wird. 15 b) Dauerbrenner der Medienkritik ist der Hinweis auf das sinkende Niveau der sachlichen Berichterstattung, die einhergeht mit der Verletzung immer weiterer Tabus im Interesse der Erzielung von Aufmerksamkeit, der Steigerung von Auflage und Quote: „Boulevardisierung der öffentlichen Diskussion". Mit Geschmacklosigkeiten aller Art, mit Sex und Gewalt sowie der Bedienung voyeuristischer Bedürfhisse durch Exhibitionierung des Intimen im „Big-Brother-Stil" finde ein Wettlauf „to the bottom" statt. Aber selbst die Dokumentation der Wirklichkeit wird ethisch hinterfragt: darf man Life-Interviews mit Geiselnehmern während der Geiselnahme führen und ausstrahlen? Darf man Bilder der vom WTC abstürzenden Menschen oder von Soldaten mit dem abgeschlagenen Kopf des Gegners veröffentlichen? Und wenn dann gar eine Boulevard-Zeitung dafür mit dem Slogan wirbt „Bild Dir deine Meinung", erreicht die moralische Entrüstung ihren Höhepunkt. c) Aber auch das Gebot sachlicher Information findet stets neue Aspekte, unter denen es diskutiert wird. Die bewusste oder unbewusste Manipulierung der Wirklichkeit ist erst jüngst in der Berichterstattung über den Irak-Krieg wieder bewusst geworden: die Berichterstattung in den amerikanischen und deutschen Medien über die gleichen Ereignisse wichen derart voneinander ab, das man an
13
Vgl. Brindusa Armanca, in: Dilema Nr. 536 v. 11. Juli 2003, zit. in: FAZ v. 9. 8.
2003. 14 15
1979.
Vgl. Christian Ghinea, in: Dilma(N 10). Vgl. nur Wolfgang Hoffmann-Riem, Innere Pressefreiheit als politische Aufgabe,
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der Identität der Ereignisse zweifeln konnte. 16 Ein Exempel der besonderen Art unwahrer Berichterstattung lieferte im Jahre 2003 die angesehene New York Times: einer ihrer Redakteure, der Pulitzer-Preisträger Jayson Blair, hatte jahrelang Stories erfunden oder abgekupfert; während er vorgab, vor Ort recherchiert zu haben, hatte er tatsächlich alles zu Hause abgeschrieben.17 Soviel zu den Beispielen. Nun zu der Frage ihrer ethischen Bewertung. Aus systematischen Gründen soll zunächst das medienethische Grundgebot - das Ethos der Wahrhaftigkeit - erörtert, sodann das Gebot der Unabhängigkeit und schließlich die Problematik der Boulvardisierung der Medien einer ethischen Betrachtung unterzogen werden.
IV. Ethik der Wahrhaftigkeit Die Meinungsfreiheit dient dem freien Austausch subjektiver Meinungen, Ansichten, Einschätzungen. Aus philosophischer Perspektive dient der freie Kommunikationsprozess dem Auffinden der Wahrheit, aus demokratietheoretischer Perspektive der Konsensfindung, aus staatstheoretischer der verbindlichen Formulierung des Gemeinwohls und aus entscheidungstheoretischer Perspektive schlicht der Sicherung künftiger Entscheidungsakzeptanz durch die Möglichkeit kommunikativer Mitwirkung im Vorfeld der Entscheidungsfindung. Ob sich die Medienfreiheit unter diesen Gesichtspunkten auch auf die Mitteilung unwahrer Tatsachen bezieht, erscheint fraglich. Denn nur die richtigen Tatsachen können überhaupt die Grundlage einer darauf basierenden Meinungsbildung sein; auf unzutreffender Tatsachengrundlage wird jede Diskussion zur Farce. Daher könne und dürfe einer gewichtigen Ansicht zufolge die Meinungsfreiheit nicht dazu Ig
dienen, bewusst unwahre Tatsachen in die Welt zu setzen. Die Gegenmeinung weist zutreffend darauf hin, dass diese Auffassung zwar gut gemeint, aber schlechthin unerfüllbar ist, da es einen Maßstab in Ansehung der Objektivität der Wahrheit nicht geben könne, vielmehr jede Tatsachenaussage unvermeidlich Elemente subjektiver Meinung enthielten.19 Jede sinnliche Wahrnehmung ist notwendig subjektiv, und der Zugang zu den Dingen „an sich" bleibt uns verschlossen; 20 zudem können wir unsere sinnliche Erfahrung nur in die Worte 16 Vgl. nur: Andrea Szukula, Medien und öffentliche Meinung im Irakkrieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 24-25/2003), S. 25 ff.: Sandra Kegel, Im Krieg findet jeder zu seiner Wahrheit, in: FAZ v. 14. 4. 2003, S. 42. 17 Das Beispiel dürfte kein Einzelfall sein, vgl. nur Joseph Croitoru, Jayson Blair lebt jetzt in Prag, in: FAZ v. 9. 8. 2003. 18 Vgl. BVerfGE 54, 208 (219); 97, 125 (149). 19 Vgl. E. Sc hm idt-Jortzig, in: HStR VI, (1989), § 141 Rn. 20. 20 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Vorrede zur 2. Auflage [1787], Cassirer-Ausgabe, S. 18.
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der allgemeinen Sprache kleiden, die aber wegen ihrer Allgemeinheit unsere subjektive Wahrnehmung gerade nicht wiedergeben kann. 21 Im Prinzip gilt damit: jeder kann in Ansehung seiner Meinungsfreiheit sagen, was und wie er es will, sogar die Unwahrheit. Aber kann es richtig sein, dass man die Freiheit bewusst zur unwahren Berichterstattung missbrauchen kann, für Schmutz und Schund werben kann, Kriege mit bewusst falschen Argumenten rechtfertigen oder diskreditieren kann? In der öffentlichen Diskussion wird man schnell Konsens erzielen darüber, dass dies jedenfalls nicht in der Intention derjenigen lag, die für Meinungsfreiheit gekämpft haben. Und gewiss ist auch, dass die bewusste Verbreitung der Unwahrheit nicht öffentlich legitimierbar ist und sie deswegen auch nicht geschützt sei. Gegen die Forderung nach Meinungsfreiheit wurde daher insbesondere von konservativer Seite immer eingewandt, dass Freiheitsrechte nur zu ihrem „richtigen" Gebrauch berechtigten, nicht aber zu ihrem Missbrauch, folglich auch die Meinungsfreiheit nur der Wahrheitsmitteilung und damit nicht der Lüge dienen dürfe. Aber das damit angeschnittene Problem liegt tiefer, und zwar nicht nur im unvermeidlich subjektiven Wahrheitsbegriff, sondern im Freiheitsbegriff selbst. Denn die Freiheit zum Richtigen wäre nur jene Freiheit, die auch der Herzog von Alba dem Ruf Egmonts nach Freiheit der Niederländer von der spanischen Krone zu gewähren bereit war: „Freiheit? Ein schönes Wort, wer's recht verstände! Was wollen sie für Freiheit? Was ist des Freiesten Freiheit? - Recht zu tun! - und daran wird sie der König nicht hindern". 22 In diesen Worten zeigt sich die stillschweigend vorausgesetzte Prämisse der Auffassung, Meinungsfreiheit dürfe es nur fur die Wahrheit geben: nur wer im unangefochtenen Besitz der Wahrheit ist, der kann Meinungsfreiheit für die Unfreiheit nicht dulden. Doch diese erkenntnistheoretische Naivität ist in der Neuzeit zu einem aufgeklärten Skeptizismus mutiert, ist sich bewusst, dass es im „Meer der Wahrheiten*' die eine objektive, zeitlose, für jeden einsehbare Wahrheit nicht geben kann. Die Meinungsfreiheit kann nicht der Mitteilung der einen Wahrheit zu dienen verpflichtet sein, nicht, weil die Lüge ethisch gerechtfertigt wäre, sondern weil uns diese Wahrheit schlicht verschlossen bleibt. Um Wahrheit wird im Meinungskampf gestritten und der gesellschaftliche Konsens markiert nur den jeweiligen Stand der Wahrheit. Würde hingegen die Wahrheit der Meinungsäußerung zur Tatbestandsvoraussetzung der Meinungsfreiheit, also die Richtigkeit des Handelns Bedingung der Freiheitsgewährleistung, dann wäre dies das Ende der Freiheit und die uneingeschränkte Souveränität des jeweiligen Inhabers des Wahrheitsmonopols. Im Ergebnis kann daher die Wahrheit einer Aussage im Prinzip nicht Voraussetzung
21 G. HeçeL Phänomenologie des Geistes [1807], in: Theorie Werkausgabe, Bd. 2, 1970, S. 82 ff. 22 J.-W. v. Goethe, Egmont. Ein Trauerspiel [1787], IV. Aufzug.
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der Freiheit sein. Etwas anderes kann nur gelten, wenn dadurch Rechte Dritter verletzt werden. Denn kein Freiheitsrecht vermittelt die Befugnis, die Integrität Dritter zu verletzen. Daher muss, wenn durch eine unwahre Tatsachenbehauptung die Ehre eines Dritten verletzt wird, das Strafrecht gegen die Verleumdung aktiviert werden können. In der Folge gibt die Meinungsfreiheit ein „Mehr" an Befugnis als eigentlich gut wäre: auch die Meinungsfreiheit kann missbraucht werden. Aber das ist nur die Normalität der Freiheit, deren unerwünschte Folgen durch mittelbare Vorkehrungen verhindert werden müssen. Etwa durch das ethische Gebot der Trennung von Meinung und Tatsachenmitteilung. Vor allem aber erfolgt der Ausgleich durch die medienspezifische Kartellgesetzgebung. Wenn jeder im Prinzip ungehinderten Zugang zum Meinungsmarkt hat, und dies ist im Zeitalter des Internet prinzipiell der Fall, dann wird der Lügner auf Dauer notwendig entlarvt. Daher sollte man das Problem der bewussten Lüge in den Medien nicht überdramatisieren: in einem freiheitlichen Gemeinwesen hat keine Lüge Aussicht, auf Dauer unentdeckt zu bleiben. Damit soll nicht geleugnet werden, dass die Lüge kurzfristig Vorteile bringen kann. Aber auf Dauer läuft der Urheber der unwahren Mitteilung Gefahr, dass er und sein Medium diskreditiert ist gemäß dem Sprichwort: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Ein Medium aber, das sich einmal den Ruf unseriöser Berichterstattung zugezogen hat, wird auf dem offenen Markt der Meinungen wirtschaftliche Nachteile zu gewärtigen haben. Insoweit wirkt schon die ökonomische Rationalität auf wahrheitsgemäße Berichterstattung hin. 2 4 Eine Ausnahme gilt insoweit natürlich für Medien, die ihrem Selbstverständnis nach satirisch oder ironisch sind bzw. sein wollen. Diesen darf man also gerade nicht alles so glauben, wie es gesagt wurde. Und wenn man dies auch nicht tut, kann man die satirische oder ironische Aussage genießen. Und wenn jemand partout behauptet, dass sich die Sonne um die Erde dreht und die Erde eine Scheibe ist, dann kann sich jeder über den Autor eine Meinung bilden. Auch dieses Problem muss nicht medienethisch gelöst werden, es löst sich sozial durch Entzug sozialer Respektierung.
V. Ethik der Unabhängigkeit Medien kommunizieren Tatsachen und Meinungen über Tatsachen. Dabei ist schon die Entscheidung, ob eine Tatsache mitgeteilt werden soll oder nicht, eine Meinung über die Wichtigkeit der Tatsache. Meinungen aber sind diskutabel,
23 Fragwürdiges und einziges Gegenbeispiel: das Verbot der Leugnung des Holocaust in § 130 Abs. 3 StGB. Zum Problem: Gerd Roellecke, Wenn die Tatsache Ausschwitz geleugnet wird, in: FAZ v. 18. 5. 1994, S. 13. 24 Vgl. näher unten V.2.
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gut oder schlecht begründet, mit aufklärerischer oder manipulativer Absicht platziert. Das alles gehört zum Kampf um die öffentliche Meinung in einer Demokratie und bildet als solches die Normalität einer offenen Gesellschaft. Vorausgesetzt wird dabei aber immer eines: die Authentizität der Meinungskundgabe. Nicht, was einer sagt, wohl aber, dass er es ist, der etwas gesagt hat, ist für eine Auseinandersetzung über Inhalte wichtig; ansonsten führt man Phantomdiskussionen. An diesem Punkt setzt die ethisch inspirierte Kritik an, die die tatsächlich oder vermeintlich - fehlende Unabhängigkeit der Medien thematisiert: vom Eigentümer des Mediums, von der Politik, von kommerzieller Einflussnahme.
1. Innere Pressefreiheit - Abhängigkeit vom Eigentümer Die Frage der inneren Pressefreiheit, also der Freiheit von Redakteuren und Journalisten gegenüber dem Verleger und Eigentümer des Mediums, wurde in Deutschland in den siebziger Jahren intensiv diskutiert. 25 Dabei hat sich die zutreffende Ansicht durchgesetzt, dass ein Journalist nicht uneingeschränkt seine journalistische Freiheit leben kann, insbesondere nicht gegenüber dem Eigentümer. Medien sind - nicht nur, aber auch - Tendenzbetriebe, d.h. der Eigentümer gibt die inhaltliche Ausrichtung des Produktes vor: Qualität, Niveau, Zielgruppe, politische Zielrichtung etc. Das ist nicht nur sachangemessen, weil nur so das Medium Profil gewinnen kann, sondern auch legitim, weil es die Bedingung zur Entfaltung der Medienfreiheit des Eigentümers ist. Die inhaltliche und politische Ausrichtung des Mediums sind Journalisten wie Redakteuren also vorgegeben. Sie steckt damit den Rahmen ab, innerhalb dessen er seine Beiträge zu liefern hat. Insoweit ist ihm Medienfreiheit nur in Grenzen gegeben. Ein ethisches Problem besteht darin kaum: kein Journalist ist in offener Gesellschaft gezwungen, gegen seine Auffassung zu schreiben oder sein Gewissen zu vergewaltigen. Wenn er sich bei einem bestimmten Medium bewirbt und fur es arbeitet, akzeptiert er konkludent die Grundlinie des Blattes. Wenn er dies mit seinem Gewissen, seinen politischen Überzeugungen oder ästhetischen Ansprüchen nicht vereinbaren kann, dann muss er daraus die Konsequenzen ziehen. Es gibt kein Freiheitsrecht, seine Meinungsfreiheit und journalistische Unabhängigkeit auf Kosten anderer auszuleben: Ethik gibt kein Mandat zur Trittbrettfahrerei.
25
Vgl. u.a. Wolfgang Hoffmann-Riem, Innere Pressefreiheit als politische Aufgabe, 1979; Friedrich Kühler, Empfiehlt es sich, zum Schutze der Pressefreiheit gesetzliche Vorschriften über die innere Ordnung von Presseunternehmen zu erlassen?, 1972; Werner Weber, Innere Pressefreiheit als Verfassungsproblem, 1973.
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2. Medien in der Hand der Politik - Abhängigkeit von der Politik a) Die Unabhängigkeit der Medien ist unverzichtbare Bedingung ihrer Bedeutung für eine freiheitliche Demokratie. Eine staatlich gelenkte oder staatsnah agierende Medienlandschaft fuhrt allenfalls zu einer „gelenkten" Demokratie, die aber mit einer „Herrschaft des Volkes" wenig zu tun hat. Die Unabhängigkeit der Medien ist daher zu recht ein hohes Gut, dessen Tangierung sensibel beobachtet werden muss. In Deutschland gilt als ausgemacht, dass ohne die Hugenberg-Presse die Nazis nicht an die Macht gekommen sind. 26 Der Einfluss der Politik auf die Medien verkörpert sich derzeit in der Person des italienischen Ministerpräsidenten: das Berlusconi-Menetekel erscheint als die Gefahr einer unabhängigen und kritischen Medienlandschaft schlechthin. b) Doch hat sich im Zuge der Entwicklung der Informationstechnologien die Bedeutung des Problems zumindest relativiert. Die Zeiten, in denen ein Informationsmonopol technisch möglich war, sind im Zeitalter satellitengestützter Kommunikationsmöglichkeiten fürs erste vorbei. Schon damit relativiert sich das Problem: jeder, der etwas wissen will, kann sich die Information besorgen. Und die Zeiten, in denen ein Informationsmonopol rechtlich sanktioniert war, sind jedenfalls in Europa hoffentlich gleichfalls vorbei. Sofern verfassungsrechtlich effektiv gewährleistet ist, dass , jeder das Recht hat, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten" 27, und eine Fusionskontrolle die Entstehung marktbeherrschender Strukturen vermeidet, verliert das Problem weiter erheblich an Gewicht. Denn wenn man weiß, welche Medien im Eigentum einer politischen Partei oder gar des Staates stehen, weiß man auch, was man davon zu erwarten hat und kann sich gegen eventuelle Einflüsse immunisieren. In der entwickelten Medienlandschaft korrespondiert daher Medienmacht nicht notwendigerweise auch politische Macht.2 Die Zeiten eines staatlichen Meinungsmonopols sind aber nicht nur technisch und juristisch vorbei, sondern sogar politisch riskant. Die Unterdrückung der Wahrheit gelingt nur kurzfristig, die Abwehr freier Information verlangt einen unverhältnismäßigen Aufwand und diskreditiert umso mehr, als man im Namen der Freiheit vorgibt zu agieren: die USA werden den Verlust an Glaubwürdigkeit bei der Rechtfertigung des Irakkrieges noch lange als politische Hypothek zu spüren bekommen.
26 Zum Hugenberg-Phänomen vgl. nur: Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin, 1982, S. 312 ff., 365 f f ; H. Holzbach, Das „System Hugenberg" 1981; D. GuratzscK Macht durch Organisation. Die Grundlegung des Hugenbergschen Presseimperiums, 1974. 27 So die Formulierung in Art. 5 Abs. 1 des Grundrechtskatalogs des Grundgesetzes. 28 Erklärenswert am Fall Berlusconi ist also weniger, dass er die politische Macht mit Hilfe seiner Medien gewonnen hat, sondern vielmehr, dass er sie zeitweise trotz seiner Medien auch wieder verloren hatte.
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c) Im übrigen sollten auch die üblichen kleinen Formen der Zusammenarbeit von Politik und Medien in den Blick genommen werden: die exklusive Information gegen gute Berichterstattung. So hat jeder Journalist seine Quellen in der politischen Szene, die ihn mit Informationen versorgt, und jeder Politiker kennt Journalisten, mittels derer er sich ins die öffentliche Debatte einschalten kann: dieses Spiel des Gebens und Nehmens, exklusiver Informationen gegen positive Berichterstattung, verbleibt im Rahmen der politischer Normalität. Die partielle Instrumentalisierung der Medien durch die Politik wird durch den Informationsgewinn ausgeglichen. Und weil alle Akteure in Politik und Medien das gleiche tun, gleichen sich auch die positiven Berichterstattungen sowie die wechselseitigen Indiskretionen aufs Ganze gesehen aus. Eine politisch inszenierte Verzerrung oder gar Lenkung der öffentlichen Diskussion ist von hier aus nicht zu erwarten.
3. Medien als Wirtschaftsunternehmen - Abhängigkeit vom Geld a) Auch Medien brauchen Geld. Diese ökonomische Elementartatsache nimmt ihnen schon im Ansatz die Unabhängigkeit des Diogenes. Wer Geld braucht und will, der begibt sich in die Sogwirkung des Geldes. Die Macht des Geldes aber ist verführerisch: wo immer es herkommt, der Empfanger wird es im Blick haben, sich daran orientieren. Dass der Eigentümer die Tendenz seines Blattes bestimmt, ist insoweit der unproblematische Aspekt des Problems: er nimmt mittels seiner Eigentümerstellung nur seine Medienfreiheit wahr. Anders verhält es sich mit der kommerziell bedingten Jagd nach Auflagen- und Quotenhöhe: sie gebiert Effekte, die ethische Kritik auf sich ziehen. Der ethische Vorwurf lautet im Kern: die Phänomene der billigen Bedienung des Massengeschmacks durch Sex, Crime und Sensationshascherei, aber auch die mangelnde Sorgfalt der journalistischen Recherche sollen sich aus dem Umstand erklären, dass dadurch der Umsatz gesteigert und der Gewinn erhöht werden kann. Die Plagiatsaffäre der New-York-Times markiert insoweit nur die Spitze eines Eisbergs. Unterstellt, dass die kritisierten Wirkungen ethisch bedenklich sind, 29 stellt sich die Grundsatzfrage, ob in der diesen Wirkungen zugrundliegenden Abhängigkeit der Medien von kommerziellen Überlegungen ein ethisches Problem steckt. b) Um es zu wiederholen: auch Presse und Medien brauchen Geld. Sie müssen sich als Wirtschaftssubjekte am Markt behaupten. Sie reagieren auf Nachfrage und ändern sich mit ihren Kunden. Wer dies bereits für anstößig hält, muss schon angeben, woher denn das Geld stattdessen kommen soll: etwa aus einer staatlichen Gebühr im Rahmen eines öffentlich-rechtlich organisierten 29
Vgl. dazu ο. IV und u.VI.4.
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Medienwesens? Abgesehen davon, dass eine solche Konstruktion kaum als die einem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen angemessene bezeichnet werden kann, ist darin allein kein Garant fur Qualität und Kultur zu sehen. Dass in Deutschland auch die öffentlich-rechtlich organisierten Medien verstärkt ihr bildungs- und kulturpolitische Aufgabe zugunsten von Unterhaltung und Shows immer mehr zurückfahren, ist insoweit ein bezeichnender Skandal. Nicht nur verletzen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten damit ihren Auftrag zur Grundversorgung, sondern entlegitimieren nachhaltig ihre rechtliche Existenzberechtigung. Vor allem aber zeigt sich in dieser Entwicklung: Trivialisierung ist kein Phänomen genuin privatorganisierter Medienunternehmen. c) Dass also Medien auf Nachfrage regieren und sich der Nachfrage anpassen müssen, ist kein spezifisches Problem der Medien. Politik, Wirtschaft und Kultur (jedenfalls die nichtsubventionierte) tun das Gleiche und müssen das Gleiche tun. Wenn das Bildungsniveau des Volkes sinkt oder der Geschmack des Volkes sich ändert, wäre es erstaunlich, wenn sich dies im Markt nicht wiederspiegelte. In diesen Wirkungsmechanismen spiegelt sich nur die Normalität eine freiheitlichen Gesellschaft. Wer den Niveauverlust beklagt, kann dies natürlich tun, und bestätigt dadurch die getroffene Feststellung, denn auch für Kulturkritik und Kulturpessimismus gibt es Nachfrage und hat sich zu allen Zeiten gut verkauft. Nur wer selbst frei von kommerziellen Zwängen lebt, kann unbelastet von finanziellen Sorgen Kulturkritik betreiben, sollte aber auch nach der Verallgemeinerungsfähigkeit seines privilegierten Status fragen. d) In der Abhängigkeit der Medien von ökonomischen Grundlagen liegt aber - paradoxerweise - ein ergiebiger Ansatz für einen wirkungsvollen Schutz gegen die beschworenen Gefahren der Trivialisierung und Plagiatierung. Denn jedes Medium - Presse, Funk, Fernsehen, Internetauftritt - will und muss ein Bild von sich in der Öffentlichkeit geben. Nur dann wird es als ein Medium mit einem spezifischen, unverwechselbaren Gesicht identifiziert; nur dann weiß man, was man sieht oder liest und welchen Preis man dafür zu zahlen bereit ist. Das Selbstverständnis der Medien aber fällt in einer freiheitlichen Gesellschaft höchst unterschiedlich aus. Um es am Beispiel der Tagespresse zu erläutern: die seriöse Tagespresse - z.B. New-York-Times, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung - präsentiert sich anders als die Boulevardpresse, Fachmagazine oder Herrenmagazine. Diese Selbstpräsentation bindet: das „Seite-3Mädchen" passt nicht in die Frankfurter Allgemeine Zeitung, ein Boulevardblatt ist ohne sie kaum zu denken; vom Playboy erwartet niemand politische und ökonomische Analysen, und im Spiegel oder Focus sucht niemand Erotik-, Esoterik· und Wellness-Informationen. Damit verflüchtigen sich viele ethische Bedenken von selbst: Wer den Playboy kauft, kann sich nicht über dessen Inhalt entrüsten. Das frei gewählte Selbstbild des Mediums gibt ihm sein öffentliches Image, an dem es wiedererkannt werden will, das deshalb auch gepflegt werden muss und - das ist der entscheidende Punkt - an dem es auch gemessen wird.
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Die Plagiatsaffäre um die New-York-Times hätte niemals solches Aufsehen erregt, wenn die N Y T nicht in ihrem Selbstverständnis eine seriöse Tageszeitung mit eigenem Korrespondentennetz und exklusiver Berichterstattung gewesen wäre. Nur vor diesem Hintergrund kann man ermessen, was es für sie bedeutet, Plagiate als selbst recherchierte Berichte zu veröffentlichen: sie verliert - gemessen an ihrem eigenen Selbstverständnis - ihr höchstes Gut, nämlich ihre Glaubwürdigkeit. Zwar hat die Fremdrecherche ihrer Aufgabe der Informationsverbreitung keinen Abbruch getan, wohl aber dem selbstgesteckten Anspruch auf niveauvolle, unabhängige und authentische Information. Mit dem Verlust an Glaubwürdigkeit läuft sie Gefahr des Verlustes an Image, Umsatz, Marktanteilen und abnehmender Nachfrage bei ihrer spezifische Klientel - Zeitungen, die sich generell auf Fremdrecherche verlassen, kann man billiger kaufen. Dies hat in Deutschland vor Jahren das Wochenmagazin „Stern" bitter erfahren müssen: Dieses Magazin mit dem Anspruch eines seriösen und kritischen Politikmagazins hatte Hitlers vermeintliche Tagebücher (verbunden mit einer deutlichen Preiserhöhung) veröffentlicht. Nachdem die plumpe Fälschung offenbar geworden war, kam es (trotz sofortiger Rücknahme der Preiserhöhung) zu einem substantiellen Einbruch von Auflage und Reputation, von der sich das Magazin nie wieder erholt hat. Um diesem Schicksal zu entgehen und die über viele Jahre erworbene Reputation zu wahren haben die Verantwortlichen der NYT nach Bekannt werden des Skandals alles getan, um den eingetretenen Schaden zu minimieren: Entschuldigung beim Leser, Versprechen der Besserung, Verstärkung des internes Controlling, um den Wiederholungsfall zu verhindern. Nicht ethische Überlegungen, sondern ureigene ökonomische Interessen sichern so die Seriosität der Berichterstattung.
VI. Ethik sachlicher Berichterstattung
1. Das Leitbild Als zentrale Aufgabe der Medien wird schließlich die sachliche Berichterstattung insbesondere in politischer Hinsicht genannt. Der demokratische Willensbildungsprozess als Nukleus der politischen Macht bedürfe der sachlichen Information, der vorurteilsfreien Diskussion der verschiedenen Aspekte, in dem sich ein Konsens herausbilde oder der die faire Grundlage einer demokratischen Mehrheitsentscheidung sei. Meinungs- und Medienfreiheit sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung „schlechthin konstituierend, [weil] erst dieses Grundrecht die ständige gei-
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stige Auseinandersetzung [ermöglicht], den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist" 3 0 .
2. Boulevardisierung der politischen Berichterstattung Aus der Höhe eines derart politisch-emphatisch aufgeladenen Anspruchs an die Wahrnehmung der Meinungs- und Medienfreiheiten muss der Blick auf die heutige Realität der politischen Berichterstattung ein Graus sein: Übertreibungen und Sensationshascherei, die zunehmende Einbettung von Sachinformationen in werbetypische Unterhaltungsformate sowie die Verkürzung komplexer Sachverhalte auf „Ein-Satz-Statements", die Personalisierung und Skandalisierung der Diskussion etc. Doch lässt sich aus dem Befund ein ethisch berechtigter Einwand formulieren? Betrachtet man zunächst den Sachverhalt, dann wird man schnell feststellen, dass sich die Bedingungen der politischen Berichterstattung in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert haben. 31
3. Die Realität der Mediendemokratie Zentrale Aspekte der Veränderungen des von den Medien geprägten Umfeld der politischen Kommunikation sind: Vielfalt des Informationsangebotes und Knappheit von Aufmerksamkeit; •
die Verkürzung der öffentlichen Debatte;
•
die Entertainisierung der politischen Kommunikation (Infotainment);
•
die Personalisierung der politischen Kommunikation.
Der immer weiter zunehmenden Vervielfältigung des Informationsangebotes korrespondiert notwendig eine wachsende Knappheit von Aufmerksamkeit: man kann nicht alles zur Kenntnis nehmen. Das macht in der entwickelten Mediengesellschaft die Erringung öffentlicher Aufmerksamkeit sowie die öffentliche Kommunikation zwischen Staat und Bürger immer schwieriger. Wirtschaft, Po30 BverfGE 7, 198 (208). - Mit diesen Worten wird nicht einer Verengung des Freiheitsbegriffs das Wort geredet und die Meinungsfreiheit auf den Bereich des Politischen begrenzt (Vgl. zur Privilegierung politischer Freiheitsausübung Rudolf Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968, S. 316 ff. Kritisch dazu Otto Depenheuer, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: VVDStRL 55 (1996), S. 101 ff. Natürlich darf die Medienfreiheit auch der Unterhaltung, dem Hobby und der Freizeit dienen. Aber auf diesen Aspekt sei nur hingewiesen, er steht hier nicht zur Diskussion. 31
Zum Folgenden eingehend: Otto Depenheuer, Selbstdarstellung des Staates, 2002, S. 81 ff.
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litik, Kultur und Religion stehen in Konkurrenz um die knappe mediale Aufmerksamkeit des Bürgers. Die Akteure der politischen Diskussion mussten darauf reagieren und sie haben darauf reagiert. Entsprechend haben sich Sprache und Modalitäten der politischen Kommunikation in der Mediendemokratie signifikant verändert. Signifikant fällt zunächst die Verkürzung der öffentlichen Diskussion auf. Die Knappheit an Aufmerksamkeit verlangt, politische Botschaften so kurz, so einfach, so pointiert, so suggestiv wie möglich zu formulieren: Politik muss mediengemäß sprechen und schreiben, um vom Bürger überhaupt wahrgenommen zu werden. Komplexe Probleme, differenzierte Lösungsstrategien, substantielle Begründungslinien müssen erst mediengerecht „übersetzt" werden, um sie überhaupt in die öffentliche Diskussion einfuhren zu können. Begleitet wird die Verkürzung der öffentlichen Debatte durch die Phänomene der Entertainisierung und Personalisierung der politischen Kommunikation. Die öffentliche politische Diskussion muss im massendemokratischen Zeitalter, will sie im Kampf um Aufmerksamkeit bestehen, notwendig und unvermeidlich massendemokratische Qualität aufweisen, und zwar in inhaltlicher wie in formaler Weise 32 . Politische Botschaften werden daher dorthin transportiert, wo sie ihr Publikum finden: auch Talkshows und ähnliche Foren der öffentlichen Unterhaltung sind heute ihre Arenen 33 . Zwischen Information und Unterhaltung kann immer weniger unterschieden werden. Ebenso wie das Bundesverfassungsgericht die Garantie der Pressefreiheit deshalb auch unterhaltenden Beiträgen zuerkennt, so muss sich auch amtliche Öffentlichkeitsarbeit an die Kommunikationsbedingungen der Mediendemokratie anpassen können. Staatli32 Zu allen Aspekten näher: Otto Depenheuer, Zur Logik der öffentlichen Diskussion, in: FS für Hartmut Schiedermair, 2001, 287, 302 ff. Vgl. im übrigen Depenheuer (N 32), S. 81 ff. Zur Personalisierung der politischen Kommunikation, die vorliegend ohne Relevanz ist: Depenheuer (N 32), S. 86 sowie BVerfGE 101, 361 (390). 33 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Entwicklung klar erkannt und ihr in Ansehung der Garantie der Meinungsfreiheit zutreffend Rechnung getragen: „Auch in unterhaltenden Beiträgen findet Meinungsbildung statt. Sie können die Meinungsbildung unter Umständen sogar nachhaltiger anregen oder beeinflussen als ausschließlich sachbezogene Informationen. Zudem lässt sich im Medienwesen eine wachsende Tendenz beobachten, die Trennung von Information und Unterhaltung sowohl hinsichtlich eines Presseerzeugnisses insgesamt als auch in den einzelnen Beiträgen aufzuheben und Information in unterhaltender Form zu verbreiten oder mit Unterhaltung zu vermengen (,Infotainment'). Viele Leser beziehen folglich die ihnen wichtig oder interessant erscheinenden Informationen gerade aus unterhaltenden Beiträgen [...]. Aber auch der bloßen Unterhaltung kann der Bezug zur Meinungsbildung nicht von vornherein abgesprochen werden. Es wäre einseitig, anzunehmen, Unterhaltung befriedige lediglich Wünsche nach Zerstreuung und Entspannung, nach Wirklichkeitsflucht und Ablenkung. Sie kann auch Realitätsbilder vermitteln und stellt Gesprächsgegenstände zu Verfügung, an die sich Diskussionsprozesse und Integrationsvorgänge anschließen können, die sich auf Lebenseinstellungen, Werthaltungen und Verhaltensmuster beziehen, und erfüllt insofern wichtige gesellschaftliche Funktionen" (BVerfGE 101, 361 [389 f.]).
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che Öffentlichkeitsarbeit verliert ihre verfassungsrechtliche Legitimation also nicht schon deshalb, weil sie in spielerische, humorvolle oder sonst unterhaltende Formen eingekleidet wird. Wer diese Konsequenz für die Formen amtlicher Öffentlichkeitsarbeit ablehnt und ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit bestreitet, muss sich darüber im klaren sein, dass er den demokratischen Diskurs im Ergebnis auf die politische Elite beschränken, er die Masse des Volkes überhaupt nicht mehr mit politischen Problemen erreichen würde. Eine derartige Verweigerung des demokratischen Diskurses mit dem Souverän aber würde die Demokratie als praktizierte Staatsform im Zeitalter der Informations- und Mediengesellschaft insgesamt in Frage stellen. Etwas anderes zu fordern, hieße, die politische Klasse unter sich zu lassen, Demokratie nicht mehr als Herrschaft des ganzen Volkes zu begreifen, sondern sie zu einem elitären In-sich-Geschäft der politischen Klasse zu denaturieren. 4. Ethos der Sachlichkeit im Gewände des Populären Diese Realität der medialen Wirklichkeit ist den Akteuren vorgegeben. Die Träger der Meinungsfreiheit können sie nicht ändern, sondern müssen sich in ihm ihren Platz erobern. Das gilt zumal fur die Kritiker dieser Entwicklung, die ihrerseits Gehör nur finden, wenn sie sich auf das Niveau begeben, das sie sich kritisieren und ändern wollen. Daraus folgt: der Trend zur Boulevardisierung der politischen Berichterstattung ist adäquat in einer Massendemokratie, die nicht nur aus Intellektuellen besteht, die über ausreichend Zeit verfugen, sich sachlich zu informieren. In der Massendemokratie wird die demokratische Diskussion auf dem Niveau der Masse gefuhrt - wo sonst in einer Demokratie. Das wird nicht jedermanns Geschmack sein, aber darüber lässt sich bekanntlich nicht streiten. Die Grenzen von Sensationshaschereien und Geschmacklosigkeiten zu markieren, gehört zu den Aufgaben des Gesetzes einerseits und gesellschaftlichen Selbstregulierungsmechanismen.
V I I . Ethik durch journalistische Selbstverpflichtungen Die medienethische tour d'horizon ist weniger erschreckend als manch ethische Bedenklichkeit vermuten lässt. Das legt den Schluss nahe, dass die medienethische und -kritische Debatte selbst ein medienethisches Phänomen sein könnte. Wie dem auch sei, eines hat sich gezeigt: es gibt nur äußerste Grenzen eines kollektiv verbindlichen ethischen Standards im Bereich der Medien. Wo aber die Inhalte unklar sind, da muss ein Verfahren her, das die Inhalte formuliert. Ethik ist als solches ein zu unscharfer Begriff, als dass man aus ihm unumstrittene Inhalte und verpflichtende Gebote ableiten könnte. Zwar weiß man, dass nicht alles, was von Rechts wegen zulässig wäre, auch ethisch vertretbar ist. Aber dann beginnt bereits die ethische Grauzone. Deshalb hat der deutsche
Medien zwischen Recht und Ethik
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Presserat publizistische Grundsätze formuliert, in denen sich Regeln für die tägliche Arbeit der Journalisten finden, die die Wahrung der journalistischen Berufsethik sicherstellen sollen. Sie binden freilich nur moralisch; eine Verletzung kann allenfalls „gerügt" werden. Immerhin kann sich dann die Öffentlichkeit eine Meinung bilden, was die medienethische Diskussion in Gang hält. Man kann einen Vortrag über die Medien zwischen Recht und Ethik nicht besser schließen als mit einigen Auszügen aus diesem Pressekodex: 34 „1. Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. 2. Zur Veröffentlichung bestimmte Nachrichten und Informationen in Wort und Bild sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. Dokumente müssen sinngetreu wiedergegeben werden. Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen. Symbolfotos müssen als solche kenntlich sein oder erkennbar gemacht werden. 3. Veröffentlichte Nachrichten oder Behauptungen, insbesondere personenbezogener Art, die sich nachträglich als falsch erweisen, hat das Publikationsorgan, das sie gebracht hat, unverzüglich von sich aus in angemessener Weise richtig zu stellen. 4. Bei der Beschaffung von personenbezogenen Daten, Nachrichten, Informationen und Bildern dürfen keine unlauteren Methoden angewandt werden. 5. Die vereinbarte Vertraulichkeit ist grundsätzlich zu wahren. 6. Jede in der Presse tätige Person wahrt das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien sowie das Berufsgeheimnis, macht vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch und gibt Informanten ohne deren ausdrückliche Zustimmung nicht preis. 7. Die Verantwortung der Presse gegenüber der Öffentlichkeit gebietet, dass redaktionelle Veröffentlichungen nicht durch private oder geschäftliche Interessen Dritter oder durch persönliche wirtschaftliche Interessen der Journalistinnen und Journalisten beeinflusst werden. Verleger und Redakteure wehren derartige Versuche ab und achten auf eine klare Trennung zwischen redaktionellem Text und Veröffentlichungen zu werblichen Zwecken. 8. Die Presse achtet das Privatleben und die Intimsphäre des Menschen. Berührt jedoch das private Verhalten öffentliche Interessen, so kann es im Einzel-
34 Vom Deutschen Presserat in Zusammenarbeit mit den Presseverbänden beschlossen und Bundespräsident Gustav WHeinemann am 12.12.1973 in Bonn überreicht. In der Fassung vom 20.06.2001 Bundespräsident Johannes Rau am 28.11. 2001 überreicht.
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fall in der Presse erörtert werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch eine Veröffentlichung Persönlichkeitsrechte Unbeteiligter verletzt werden. Die Presse achtet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und gewährleistet den redaktionellen Datenschutz. 9. Es widerspricht journalistischem Anstand, unbegründete Behauptungen und Beschuldigungen, insbesondere ehrverletzender Natur, zu veröffentlichen. 10. Veröffentlichungen in Wort und Bild, die das sittliche oder religiöse Empfinden einer Personengruppe nach Form und Inhalt wesentlich verletzen können, sind mit der Verantwortung der Presse nicht zu vereinbaren. 11. Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt und Brutalität. Der Schutz der Jugend ist in der Berichterstattung zu berücksichtigen. 12. Niemand darf wegen seines Geschlechts oder seiner Zugehörigkeit zu einer rassischen, ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden. 13. Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Die Presse vermeidet deshalb vor Beginn und während der Dauer eines solchen Verfahrens in Darstellung und Überschrift jede präjudizierende Stellungnahme. Ein Verdächtiger darf vor einem gerichtlichen Urteil nicht als Schuldiger hingestellt werden. Über Entscheidungen von Gerichten soll nicht ohne schwerwiegende Rechtfertigungsgründe vor deren Bekanntgabe berichtet werden. 14. Bei Berichten über medizinische Themen ist eine unangemessen sensationelle Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnte. Forschungsergebnisse, die sich in einem frühen Stadium befinden, sollten nicht als abgeschlossen oder nahezu abgeschlossen dargestellt werden. 15. Die Annahme und Gewährung von Vorteilen jeder Art, die geeignet sein könnten, die Entscheidungsfreiheit von Verlag und Redaktion zu beeinträchtigen, sind mit dem Ansehen, der Unabhängigkeit und der Aufgabe der Presse unvereinbar. Wer sich für die Verbreitung oder Unterdrückung von Nachrichten bestechen lässt, handelt unehrenhaft und berufswidrig. 16. Es entspricht fairer Berichterstattung, vom Deutschen Presserat öffentlich ausgesprochene Rügen abzudrucken, insbesondere in den betroffenen Publikationsorganen."
A u f dem Wege zur Pressefreiheit: die Erfahrung Russlands Michail Fedotov Der große Königsberger Philosoph Kant hat einmal gesagt, dass er von zwei Dingen beeindruckt ist, dem Sternenhimmel über dem Haupt und dem uns immanenten moralischen Gesetz. Ich bin noch von einer weiteren Sache sehr beeindruckt - dem Widerspruch zwischen dem, mit welcher Kraft und welchem Engagement sich die russischen Journalisten für die Medienfreiheit einsetzen und dem weiten Umfang, in dem sie von dieser Freiheit keinen Gebrauch machen können. Dieser Widerspruch ist in der Praxis sehr ärgerlich, und es ist notwendig, hier Abhilfe zuschaffen.
I. Die Periode der „Glasnost'" Die Beziehungen von Presse und Macht in Russland können in unterschiedliche Etappen aufgeteilt werden. Die erste Zeitspanne reicht von 1985 bis 1989 und umfasst die Etappe der „Glasnost'" (Offenheit). Dieser Grundsatz beinhaltete nicht mehr als ein Privileg, denn „Glasnost'" war nicht jedermann als ein Recht eingeräumt, sondern wurde kraft Entscheidung der Behörden dem jeweiligen Medienunternehmen gewährt. Darüber hinaus war dieses Privileg zuweilen lediglich im Hinblick auf ein konkretes Thema, einen Autor oder sogar nur einen Artikel wirksam. Dies sah in der Praxis folgendermaßen aus: Der Chefredakteur von „Moskovskie Novosti" rief beispielsweise beim ZK der KPdSU an - oder er schrieb - und kündigte an, einen bestimmten Artikel drucken zu lassen. Er wies dann darauf hin, dass in der „Moskauer Manege" die Ausstellung „300 Jahre der russischen Journalistik" stattfinde, es dort eine Halle gäbe, in der Dokumente mit gleichem Inhalt ausgestellt seien - und bat, den jeweiligen Artikel drucken zu lassen, die jeweilige Diskussion zu eröffnen bzw. das jeweilige „Thema aufzuwerfen". Der große „NaCalnik" (Boss) im ZK der KPdSU (ihm sei gedankt dafür!) sagte „genehmigt". So sah also „Glasnost'" in der Zeit von 1985 bis 1989 aus. Rechtsreformen haben dagegen zu dieser Zeit noch nicht stattgefunden.
I I . Die Befreiung der Medien In der zweiten Etappe von 1990 bis 1993 bildete sich die Rechtsbasis für die Medienfreiheit heraus. Im Sommer 1990 wurde das Presse- und Mediengesetz
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der UdSSR1 und Ende 1991 das russische Mediengesetz2 verabschiedet. Gerade das Presse- und Mediengesetz der Union hat dem totalitären System den Hauptschlag versetzt. Denn hiermit wurde zum ersten Mal die Zensur aufgehoben und ausdrücklich ausgeführt, dass jeder Bürger ein Medienunternehmen gründen darf. Die „Minen" wurden von den Behörden übersehen; und diese explodierten erst, nachdem das Gesetz schon in Kraft getreten war. Eine solche „Mine" war in Artikel 7 versteckt, wo es hieß, dass ein Medienunternehmen nicht nur von Institutionen, sondern auch von Bürgern und „Arbeitskollektiven" errichtet werden kann. Die Behörden wollten ja nicht dem Einzelnen das Recht zuerkennen, Medienunternehmen zu gründen. Als typisches Beispiel kann insofern der Abgeordnete Leonid Kravôenko, ehemaliger Leiter des gesamtstaatlichen Fernsehens, genannt werden, der in einer Parlamentssitzung verlangte, „Bürger" als Berechtigte in Artikel 7 zu streichen. Denn „wir brauchen keine „Springers"", hatte er am Rednerpult getönt. Es trifft zu, dass sich innerhalb der Behörden die Furcht ausbreitete, Privatpersonen könnten nun auf die Idee kommen, sich in diesem Bereich zu betätigen. Übersehen haben sie jedoch dabei, dass die „Arbeitskollektive" und damit die Belegschaften als etwaige Gründer eines Medienunternehmens, eine viel größere Gefahr für das noch geltende Regime bedeuteten. Gefordert wurde zwar ebenfalls die Streichung der Belegschaften, die Autoren der Gesetzesvorlage haben sich zur Rechtfertigung der Zulassung der Belegschaften als Gründer eines Medienunternehmens aber stets auf die Zitate Lenins, der die Betriebszeitungen zu Organen der Belegschaften machen wollte, berufen. 3 Daraufhin wurden derartige Forderungen fallengelassen. Die „Bombe" explodierte jedoch am 1. August 1990, dem Tag, an dem das Gesetz in Kraft trat. Bereits am Morgen standen die Chefredakteure von Zeitungen und Zeitschriften Schlange, um die betreffenden Unternehmen als unabhängige, von den Belegschaften errichtete Redaktionen eintragen zu lassen und damit ihre Zeitungen und Zeitschriften nach Maßgabe des Gesetzes von der Herrschaft der bisherigen Nomenklatura-Herren zu erlösen.4
1 Gesetz „über die Presse und die sonstigen Masseninformationsmittel" vom 12.6.1990, Vedomosti S'ezda narodnych deputatov SSSR i Verchovnogo Soveta SSSR (Mitteilungen des Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR und des Obersten Sowjets der UdSSR, fortan: VSNDiVS SSSR) 1990 Nr. 26 Art. 492. 2 Gesetz „über Masseninformationsmitter vom 27.12.1991, Vedomosti S'ezda narodnych deputatov RSFSR i Verchovnogo Soveta RSFSR (Mitteilungen des Kongresses der Volksdeputierten der RSFSR und des Obersten Sowjets der RSFSR) 1991 Nr. 7 Art. 300). 3 Der Verfasser hat an der Ausarbeitung der Gesetzesvorlage mitgewirkt. 4 Dies kann der Verfasser als Angehöriger des Ministeriums aus eigener Anschauung bestätigen; auch kann heute zugegeben werden, dass Mitarbeiter des Ministeriums damals bei der Antragstellung behilflich waren.
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Eine weitere „Mine" war mit Artikel 4 des Mediengesetzes gelegt, indem die Redaktion des Medienunternehmens zu einem eigenständigen Wirtschafitssubjekt, zu einer eigenständigen juristischen Person, die aufgrund ihrer Satzung tätig ist, erklärt wurde. Daraus folgte, dass nun alle Publikationsorgane, die bisher als Partei- bzw. Staatsverlage qualifiziert wurden, Eigenständigkeit erlangten und damit einen Anspruch auf einen Anteil an den bisher staatlichen Vermögenswerten erwarben. Allein aufgrund dieser beiden Rechtsnormen ist das Partei- und Staatsmonopol im Bereich der Printmedien und auch zum Teil im Bereich von Rundfunk und Fernsehen zusammengebrochen. Die Presse, die frei sein wollte, konnte frei sein. Daher kann diese Phase als Aufhebung der Leibeigenschaft im Medienbereich bezeichnet werden.
I I I . Die Bildung von Monopolen und die Kehrtwende in der Medienpolitik Ende 1993 setzte jedoch wieder eine Wende in die entgegengesetzte Richtung ein, denn ab dieser Zeit bemühten sich die Behörden nicht mehr um die Sicherung der Freiheit der Medien, sondern strebten im Gegenteil die Bildung von Medien-Imperien an. Zu den bekanntesten Konglomeraten im Medienbereich zählten die Imperien von Vladimir Gusinskij und Boris Berezovskij. Am Aufbau dieser oligarchischen Strukturen hat die Staatsmacht mit allen Kräften mitgewirkt, denn die Oligarchen wurden nicht als Oligarchen geboren. Sie waren nicht einmal reich; sie haben vielmehr ihren Reichtum der Privatisierung von Macht zu verdanken und sind durch ihre Integrierbarkeit in den Staatsapparat erst zu Oligarchen geworden. Diese Medien-Imperien waren organisch mit denjenigen Menschen verbunden, die die Macht verkörperten, und konnten damit nicht als unabhängig angesehen werden. Bedingt durch den Personenwechsel im Bereich des Staates ist allerdings auch ein Wandel im Hinblick auf die als kremlnah oder kremlfern angesehenen Medien-Imperien zu verzeichnen. Etwa seit Mitte der 90er Jahre bedient sich die Staatsgewalt der mit ihrer Hilfe entstandenen Medien-Imperien für ihre Zwecke, und zwar vor allem bei den Wahlen. Hier haben zwar nach den Rechtsvorschriften vor allem die Fernsehgesellschaften allen Mitbewerbern im Wahlkampf dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken. Die Praxis bei den Parlamentswahlen von 1999 und den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 sah jedoch ganz anders aus. Der staatliche Fernsehsender TVZ hat 1999 nach den Feststellungen ausländischer Beobachter 46 Prozent der Sendezeit dem Wahlblock „Ote£estvo - vsja Rossija" (Vaterland ganz Russland) mit dem Moskauer Oberbürgermeister Jurij LuSkov an der Spitze gewidmet.
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Bei den Präsidentschaftswahlen von 2000 haben es die Behörden dann dem nichtstaatlichen Fernsehsender NTV übel genommen, dass dieser nicht für den Wahlblock „Edinstvo" (Einheit) des neuen Staatspräsidenten geworben hat, womit sich NTV politisch verdächtig gemacht hatte. Sieht man sich allerdings die Sendezeiten an, wird ersichtlich, dass in der Wahlwerbung zugunsten von Staatspräsident Putin kaum Unterschiede bei den Fernsehsendern NTV und dem zu 100 Prozent von der Staatsmacht abhängigen Fernsehsender ORT verzeichnet werden können. Der Anteil negativer Berichte über Putin machte beim Fernsehsender NTV 1, 3 Prozent, beim Sender ORT 0, 5 Prozent aus, womit NTV wegen einer Differenz von 0,8 Prozent harsche Kritik erfahren hat. Der von der Staatsmacht ausgeübte Druck hat inzwischen zum Zusammenbruch der oppositionellen Medien-Imperien geführt. Zeitgleich wurde der spezielle Spruchkörper für Medienstreitigkeiten - die Gerichtskammer fur Informationsstreitigkeiten - aufgelöst. Diese Maßnahmen haben jedoch nicht bewirkt, dass im Bereich der Medien alle Oligarchen verschwunden sind. Das GusinskijImperium hat sich im Gegenteil fortentwickelt, allerdings ohne Gusinskij; zudem verzichtet man hier heute auf jede Opposition. Auch vom Imperium des Medienoligarchen Berezovskij sind Teile, und zwar insbesondere des Verlagswesens, erhalten geblieben. Andere Medien-Imperien werden sogar weiter ausgebaut. Diese sind allerdings stets darum bemüht, sich entweder gar nicht in die Politik einzumischen oder aber eindeutig untertänige Positionen einzunehmen. Solange es aber Oligarchen gibt und sich die russischen Medien zu oligarchischen Unternehmen entwickeln, werden diese in Erscheinung treten, irgendwann in die Opposition geraten und wieder in Ungnade fallen und vernichtet werden. Dieser Ablauf wird sich wohl in Russland noch auf lange Zeit regelmäßig wiederholen, was weder dem Staat noch der Gesellschaft noch der Journalistik von Nutzen ist, aber kaum geändert werden kann.
IV. Die Lage im Bereich der Printmedien Die Zahl der Publikationen hat sich im Bereich der Printmedien im Zeitraum von 1996 - 2002 vervielfacht. In besonderem Maße gilt dies für regionale Zeitungen und Zeitschriften, deren Herausgabe - im Vergleich zur Herausgabe landesweiter Publikationen - unkomplizierter und mit geringeren Kosten verbunden ist. Zudem sind diese Medien als Wahlkampfmittel besonders gut geeignet. Nicht selten ist daher zu beobachten, dass eine Zeitung vor den Wahlen auf den Markt kommt, dann nach den Wahlen noch ein- oder zweimal jährlich erscheint, um den Existenznachweis zu erbringen, dann aber erst zu den nächsten Wahlen mit einer Auflage von 200.000 wiederauflebt.
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Printmedien in Russland
Landesweite
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2294
2709
3030
3387
4119
4859
5144
Zeitungen Regionale Zeitungen Lokale Zei-
4992
6379
7840
10293
12717
15717
16519
992
1251
1661
2288
3010
3758
3970
2940
3754
4635
5343
6540
7872
8421
723
1049
1514
2100
2658
3432
3674
tungen Landesweite Zeitschriften Regionale Zeitschriften
V. Die Lage im Bereich der elektronischen Medien Auch die Zahl der elektronischen Medien ist in den letzten Jahren rasant angestiegen. Auffällig ist dabei, dass trotz der im Vergleich zur Errichtung eines neuen Rundfunksenders erheblich höheren Gründungskosten die Zuwachsrate bei den Fernsehsendern viel größer ist. Die Gründe sind vielfältig. Eine Ursache stellt sicherlich der Mangel an freien Frequenzen dar. Zudem ist bei den Fernsehsendern zu beobachten, dass sich nicht selten mehrere Sender einen Rundfunkkanal teilen, in dem jeder sein Programm nur jeweils 2-3 Stunden am Tag ausstrahlt. Für den Zuschauer ist oft kaum auszumachen, welcher Sender das Programm, das er sich anschaut, produziert hat. Dies gilt beispielsweise in Moskau für die Programme von TVZ und Kanal 3. In der Vergangenheit ist es deshalb vorgekommen, dass sich Zuschauer mit Beschwerden an die „Große Jury" des russischen Journalistenverbands gewandt haben, ohne in der Lage zu sein, den betreffenden Sender anzugeben. Große Wachstumsraten sind ebenfalls bei den Internetmedien zu verzeichnen. Die Registrierung der Nachrichtenagenturen und Online-Zeitungen und Zeitschriften ist nach den Rechtsvorschriften bisher nicht obligatorisch, was auch so bleiben sollte. Seitens des Staates wird jedoch Druck in Richtung einer „freiwilligen" Registrierung ausgeübt. Denn ohne Registrierung ist es häufig unmöglich, in den Genuss der Vorteile des Medienrechts und insbesondere der hier eingeräumten Rechte zu kommen. So wird beispielsweise den Journalisten nicht registrierter Medienunternehmen die Akkreditierung bei der Staatsduma verwehrt.
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Elektronische Medien in Russland 1996
1907
1998
1999
2000
2001
Rundfunkstationen
73
88
88
268
657
690
Fernsehstationen
92
166
186
351
879
911
Internet-Medien
0
0
0
58
287
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VI. Finanzierung der Medien Haupteinkunftsquellen der Medienunternehmen sind die Werbeeinnahmen und die Subventionen aus dem Staatshaushalt. In der Wirtschaftskrise von 1998 ist der Werbemarkt zusammengebrochen, wovon in erster Linie die Fernsehsender betroffen waren. Das Niveau der Einkünfte von 1998 wurde erst im Jahr 2002 wieder erreicht. 2003 werden die Werbeeinnahmen der Fernsehsender bei etwa einer Milliarde Dollar liegen. Um normal funktionieren zu können, benötigen die föderalen Sender aber erheblich höhere Einnahmen. Nicht nur das Fernsehen, auch die Printmedien sind heute in erheblichem Umfang von den Einnahmen aus der Werbung abhängig. Diese reichen aber auch hier bei Weitem nicht aus und sind zudem seit Jahren rückläufig. Im Staatshaushalt sind beträchtliche „Subsidien und Subventionen" zugunsten der Medienunternehmen vorgesehen, wovon zu etwa 90 Prozent die staatlichen Fernseh- und Rundfunkgesellschaften profitieren. Die summenmäßigen Beträge der für Zwecke der Medien ausgewiesenen Haushaltsmittel ist dabei in den letzten Jahren gestiegen, prozentual machen diese Subvention aber jedes Jahr konstant etwa 0, 5 Prozent der Staatsausgaben aus. Neben der direkten Förderung gibt es eine indirekte Förderung der Medien durch Steuervergünstigungen. Heute ist sowohl auf der Ebene der Föderation als auch in den Subjekten der Russischen Föderation ein vielfaltiges und kompliziertes System aus Subventionen, Privilegien und Steuervergünstigungen vorgesehen. Meistens kommen aber auch derartige Vergünstigungen allein den staatlichen Medien zugute. Nichtstaatliche Medienunternehmen gehen dagegen in der Regel leer aus. Aus diesem Grunde wurde der Versuch unternommen, den staatlichen Medienunternehmen die Werbeeinnahmen zu nehmen, um so zu verhindern, dass die staatlich subventionierten Medienunternehmen mit Hilfe der von ihnen erzielten Werbeeinnahmen die Preise auf dem Markt unterbieten und so private Konkurrenten vom Markt drängen können. Eine entsprechende Gesetzesvorlage hat aber bereits den Kreml nicht verlassen, so dass sich an der diesbezüglichen Rechtslage bis heute nichts geändert hat.
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V I I . Ehrschutz in den Medien Stark angestiegen ist die Zahl der Klagen, in denen Betroffene zum Schutz ihrer Ehre, ihrer Würde oder ihres guten Rufes den Rechtsweg beschreiten. Konstant geblieben ist aber der Anteil der erfolgreichen Klagen, der sich im letzten Jahrzehnt zwischen 33 und 39 Prozent bewegte. Hierfür gibt es unterschiedliche Gründe. Zum einen sind den Journalisten die Grenzen der Meinungsfreiheit nicht vertraut. Zum anderen verfügen auch die Richter nur über recht geringe Rechtskenntnisse. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf das russische, sondern vor allem ebenso im Hinblick auf das europäische Recht und die Spruchpraxis des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs. So gestehen die Richter einem Journalisten nicht den kleinsten Irrtum zu, während sie fehlerhafte Gerichtsentscheidungen für nicht problematisch erachten, da diese ja in der nächst höheren Instanz überprüft werden könnten. Ehrschutzklagen in Russland Jahr
Zahl der Klagen
Entscheidungen
Stattgaben
1990
1140
726
435 (38 %)
1991
1029
586
391 (38 %)
1992
1442
773
548 (38 %)
1993
1502
809
555 (37 %)
1994
1793
978
616(34%)
1995
2827
1505
944 (33 %)
1996
3472
1725
1136 (33 %)
1997
3928
2054
1321 (34%)
1998
4158
2308
1571 (38%)
1999
4235
2374
1548 (37%)
2000
5197
2695
2011 (39%)
2001
5499
3074
2113(39%)
V I I I . Notwendige Reformen und Zukunftsaussichten Es wird immer wieder darauf hingewiesen, Russland sei ein Land des Übergangs, und zwar von seiner totalitären Vergangenheit zu einer demokratischen Zukunft. Ein solcher Übergang ist stets durch eine Vielzahl von Marksteinen gekennzeichnet. Wird ein Markstein erreicht, kann gesagt werden, dass das Land auf dem richtigen Weg ist. Wird der Markstein nicht erreicht, ist der Reformprozess stecken geblieben. Eine derartige Übergangsperiode stellt zudem
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stets eine instabile „Balance-Periode" dar, in der die Gesellschaft Schritte nach vorn, zur Seite, aber auch zurück machen kann. Die folgenden Indikatoren sollen aufzeigen, an welchem Punkt die Presse und die Gesellschaft heute in Russland angekommen sind. Ein wichtiger Markstein auf dem Weg zu einem demokratischen System ist die Transformation des staatlichen in einen öffentlichen Rundfunk und ein öffentliches Fernsehen. Eine entsprechende Gesetzesvorlage ist in der Staatsduma eingebracht und es ist erfreulich, dass hierüber eine lebhafte Debatte in der Öffentlichkeit ausgebrochen ist.5 Ein weiterer Markstein wäre die Entstaatlichung, Entnationalisierung und Privatisierung derjenigen Unternehmen, die die materiell-technische Basis im Medienbereich ausmachen. Gegenwärtig sind aber bei Rundfunk und Fernsehen noch 90 Prozent dieser materiell-technischen Basis im staatlichen Eigentum. Dieser Anteil ist zwar bei den Printmedien etwas geringer, muss aber auch hier noch als beträchtlich qualifiziert werden. Die Privatisierung von Druckereien, womit in den 90er Jahren begonnen wurde, ist schnell wieder eingestellt worden. Die Begründung war, dass erst noch entschieden werden müsse, was privatisiert werden und was im Eigentum des Staates verbleiben soll. Dieser Entscheidungsprozess ist bis heute nicht abgeschlossen. Denn jeder an der Privatisierung beteiligte Staatsbeamte, möchte zunächst die Frage beantwortet wissen, wie er denn von der Privatisierung profitieren kann. Wichtig wären auch eine Entmonopolisierung im Medienbereich und die Sicherstellung von Transparenz. Zurzeit kann indes niemand - ausgenommen vielleicht die Steuerinspektion - darüber Auskunft geben, wer Eigentümer eines Medienunternehmens ist. So handelte es sich beispielsweise beim Fernsehsender ORT um eine offene Aktiengesellschaft, an der der Staat mit einem Aktienpaket von 51 Prozent beteiligt ist. Wer jedoch Eigentümer der restlichen 49 Prozent der Aktien ist, bleibt der Öffentlichkeit verborgen. Die offenen Aktiengesellschaften haben nach den Rechtsvorschriften ihre Jahresabschlüsse zu veröffentlichen, wo dies aber zu geschehen hat, ist nicht geregelt und bleibt damit offen. Einer Entmonopolisierung stehen zurzeit kaum überwindbare Hindernisse entgegen. Es existiert zwar ein Gesetz, das den Wettbewerb ermöglichen und Monopole auf den Warenmärkten einschränken soll. 6 Dieses ist sogar schon zu Beginn der 90er Jahre verabschiedet worden. Aus unterschiedlichen Gründen kann es jedoch im Bereich der Medien keine Wirkung entfalten. Erstens möchte
5 Im Oktober 2003 veranstaltet beispielsweise auch der staatliche Rundfunksender „Majak" (Leuchtturm) eine Konferenz, auf der die Perspektiven des öffentlichen Rundfunks in Russland erörtert werden. 6 Gesetz vom 22.3.1991, VSNDiVS SSSR 1991 Nr. 16 Art. 499.
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keiner der Beteiligten, dass dieses Gesetz im Medienbereich wirksam wird. Dies gilt sowohl fiir die staatlichen Behörden als auch die großen Medienkorporationen, die de facto, gar keine Monopole, sondern Oligopole darstellen. Alle Versuche, Vorschriften über die Zerschlagung von Monopolen in die Vorlage zum Mediengesetz aufzunehmen, wurden wiederholt rigoros zurückgewiesen. Im Jahr 1998 hat eine grundlegende Änderung des Mediengesetzes allein aus diesem Grund nicht die notwendige Mehrheit gefunden. Kritisiert wurde, dass sich einige Bestimmungen der Änderungsvorlage auch gegen Monopole richteten. Die frühere links-nationalistische Mehrheit in der Staatsduma wollte mit dieser Änderungsvorlage der Freiheit der Meinungsäußerung und zugleich der Freiheit der Monopole ein Ende bereiten. Da seitens der Behörden aber darauf bestanden wurde, dass die sich gegen Monopole richtenden Bestimmungen wieder gestrichen wurden, haben die Abgeordneten gegen die Vorlage gestimmt, womit letztlich die Medienfreiheit - entgegen den Absichten aller Beteiligten - gewonnen hat. Zu begrüßen wäre es schließlich, wenn sich die Entwicklung des Medienbereichs in Russland der Entwicklung in den Staaten der EU und NATO annähern würde, Russland mithin mit denselben Problemen - wie auch diese Staaten - zu kämpfen hätte. Bedauerlicherweise leidet Russland aber heute an solchen „Krankheiten", die in den Staaten der EU bereits vor 25 bis 30 Jahren überwunden wurden. Eben diese Zeitspanne gilt es nun in Russland zügig zu überwinden.
Verfassungs- und Rechtsnormen des Informationsaustausches in Russland Stanislav Severdjaev Die spezifischen Erfahrungen der inländischen historischen Verfassungsentwicklung führten zur Notwendigkeit, eine besondere Regelungsstruktur im Hinblick auf die Informations- und Ideologie-Subsysteme der gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland zu schaffen. Diese Systeme gründen auf dem Prinzip der ideologischen Mannigfaltigkeit, das in Art. 13 der Verfassung der Russischen Föderation verbrieft ist, denn die ideologische Mannigfaltigkeit wird ausdrücklich anerkannt, und die Anerkennung einer jeden Ideologie als staatlich oder verbindlich ist verboten.
I. Das Verbot einer staatlichen oder verbindlichen Ideologie Ein wichtiges Moment ist in diesem Zusammenhang das Problem einer korrekten Widerspiegelung des Verbots der Zulassung einer staatlichen oder verbindlichen Ideologie in der politischen und gesetzgebenden Praxis. Das Wesen dieses Verfassungsverbots besteht darin, dass erstens die Festlegung einer bestimmten Parteiideologie als staatliche Ideologie nicht zugelassen wird, zweitens die gesetzliche Zulassung einer jeden Ideologie ausgeschlossen wird. In diesem Zusammenhang ist die Aufmerksamkeit zunächst auf die gegenwärtig diskutierte Idee der Bildung einer Parteiregierung zu lenken, die für parlamentarische Republiken eigentlich kennzeichnend ist. In Russland ist die heutige „Partei der Macht" zurzeit bestrebt, den von der Kommunistischen Partei der UdSSR geräumten Platz zu besetzen. In Anbetracht der langen bürokratischen Traditionen ist es dabei gar nicht notwendig, Pflichten, Verbote oder gar Zwangsmaßnahmen, die gegenüber Andersdenkenden ergriffen werden, schriftlich niederzulegen. Allein die Existenz des Parteipräsidenten und der Parteiregierung ist ein hinreichender Anlass, um in deren Sinne im gesamten vertikalen Machtapparat zu handeln, wie dies in der Vergangenheit stets geschehen ist und den Erfahrungen nach auch heute ständig geschieht. Im Hinblick auf das Verbot der gesetzlichen Festsetzung einer Ideologie ist des Weiteren die „Informationssicherheitsdoktrin", die vom russischen Staats-
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Präsidenten am 9. September 2000 bestätigt wurde, kritisch zu beleuchten.1 Problematisch ist zunächst sicherlich der Inhalt. Nicht weniger wichtig ist jedoch aus Sicht der Rechtswissenschaft die Form, in der dieses Regelwerk ergangen ist. Diese Doktrin stellt keinen Normativakt dar, umfasst dem Wortlaut nach aber die Gesamtheit der offiziellen Auffassungen im Hinblick auf die Ziele, die Aufgaben, die Prinzipien und die grundlegenden Ausrichtungen, um die Informationssicherheit zu gewährleisten. Ein solches Dokument ist nach Auffassung der Rechtslehre in Anbetracht des in der Verfassung aufgestellten Verbots einer Staatsideologie bedenklich. Probleme ergeben sich zudem daraus, dass auch der Austausch von Informationen betroffen ist, und dieses Dokument einem Gesetz „Über die obligatorische Ideologie" nicht unähnlich ist.
I I . Die Informationsfreiheit und das Recht auf Informationen Abgesehen von den vielfältigen Aspekten dieses Themas hat vor allem die Bestimmung des Inhalts des Rechts auf Informationen in Russland zu lebhaften Debatten im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion geführt. In den letzten Jahren ist dabei eine bestimmte Tendenz zu beobachten, und zwar die Tendenz, die ganze Vielfalt von Informationsrechten der Bürger nur auf ein einziges Verfassungsrecht, das Recht auf Informationen zu beschränken. Gewährt wird dieses Recht in Artikel 29 Absatz 4 der russischen Verfassung der RF, wonach jedermann das Recht besitzt, auf jede rechtmäßige Weise frei Informationen zu suchen, zu erhalten, weiterzugeben, zu erzeugen und zu verbreiten. Diese Auslegung ist insgesamt für rechtswissenschaftliche Arbeiten im Bereich der Informationsgesetzgebung kennzeichnend, die noch in der Denkweise der 70er und 80er Jahre behaftet sind und von einer Pflicht des Staates zur umfassenden und wissenschaftlich begründeten Unterrichtung der Gesellschaft ausgehen. Bei einer solchen Herangehensweise besteht die Gefahr darin, dass die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Presse durch diese umfassende Informationspflicht verschlungen, die Informationsrechte ihrer heutigen Vielfalt beraubt und wichtige Unterschiede zwischen diesen eingeebnet werden. Es scheint, dass es, solange die Werte der Meinungsfreiheit und anderer Verfassungsrechte im Informationsbereich nicht in vollem Maße realisiert werden, in Russland noch zu früh ist, über das Entstehen eines bestimmten umfassenden Rechts auf Informationen zu sprechen. Die Forderung, ein System von Informationsrechten zu entwickeln, ist vollkommen berechtigt. Dies kann jedoch nicht durch eine Vereinheitlichung, sondern nur mittels einer Diversifizierung von Informationsrechten, die allerdings das System auch komplizieren, erreicht werden. Diese Komplikationen folgen 1
www.scrf, gov.ru/Documents/Decree/2000/09-09.html.
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vor allem aus zwei Verfassungsrechten, die in der rechtswissenschaftlichen und Rechtsschutzdiskussion noch keine gebührende Beachtung gefunden haben. Dies gilt für das Recht auf Zugang zu Regierungsinformationen und das Recht auf universellen Zugang zu den Telekommunikationsmitteln. Das Recht auf Zugang zu Regierungsinformationen zählt zu den essenziellen Elementen eines Informationsaustausches. In der russischen, aber wohl auch in der ausländischen Verfassungsgesetzgebung ist dieses Recht noch jung. In Russland rückte dieses Recht in seiner derzeitigen Ausgestaltung erst Anfang der 90er Jahre in das Bewusstsein des Gesetzgebers. So wurden in der am 22. November 19912 verkündeten Deklaration der Rechte und Freiheiten des Menschen und des Bürgers die Organe der Staatsmacht verpflichtet, jedermann die Möglichkeit zur Einsicht in Dokumente und Materialien, die unmittelbar seine Rechte und Freiheiten betreffen, zu gewährleisten. Eigenartig ist, dass diese Regelung in Artikel 31 der Deklaration aufgenommen wurde, während die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Presse in Artikel 13 der Deklaration garantiert werden. Letzteres ist besonders wichtig, weil das Recht auf Informationen des Staates in der heute geltenden Verfassung seinen vorderen Platz im Grunde genommen verloren hat, denn der Informationsanspruch ist nun nur noch in Art. 24 Abs. 2 zu finden, der in erster Linie - in Absatz 1 - den Schutz des Privatlebens zum Gegenstand hat. Dabei hat ein Recht auf staatliche Informationen auch heute seine Bedeutung nicht verloren. Es stellt vielmehr einen wichtigen Eckpfeiler der heutigen Verwaltungsreform dar. Besonders wichtig ist dieses Recht im Bereich der Medien, denn nur hierdurch könnte das Monopol der Massenmedien im Umgang mit der Staatsmacht zunichte gemacht werden. Artikel 39 des Gesetzes über die Massenmedien3 räumt offensichtlich nicht nur den Redaktionen der Massenmedien, sondern auch den Bürgern das Recht ein, einen Bericht über die Lage im Staat zu erhalten. Dieses Recht erweitert zweifellos den Spielraum für einen politischen Dialog in der Gesellschaft und gewährleistet den demokratischen Charakter der Macht. Daher ist es wichtig, diesen Bestandteil des Rechtsstatus des Individuums nicht zu vergessen. Zurzeit wird vom Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung der Russischen Föderation entsprechend des Aufrufs des Staatspräsidenten im vergangenen Jahr die Vorlage für ein föderales Gesetz über den Zugang der Bürger zu Informationen über die Tätigkeit der Organe der Staats-
2 Vedomosti S'ezda narodnych deputatov SSSR i Verchovnogo Soveta SSSR (Mitteilungen des Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR und des Obersten Sowjets der UdSSR, fortan: VSNDiVS SSSR) 1991 Nr. 52 Art. 1865. 3 Gesetz vom 27.12.1991, Nr. 7 Art. 300, Vedomosti S'ezda narodnych deputatov SSSR i Verchovnogo Soveta SSSR (Mitteilungen des Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR und des Obersten Sowjets der UdSSR, fortan: VSNDiVS SSSR) 1992 Nr. 7 Art. 300.
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macht ausgearbeitet. Der Fortgang des Verfahrens und vor allem die Aussichten dieser Vorlage sind aber gegenwärtig noch nicht abzuschätzen. Im Hinblick auf einen Ausbau des Informationssystems ist noch ein weiterer wichtiger Aspekt, der einen unmittelbaren Bezug zum Rechtsstatus des Menschen im Bereich des Informationsaustausches hat, anzusprechen, der bisher in der rechtswissenschaftlichen und sonstigen Fachliteratur nicht genügend Aufmerksamkeit gefunden hat. Es geht um das Recht auf universellen, allgemeinen und gleichen Zugang zu den Telekommunikationsmitteln. Gemäß Artikel 57 des föderalen Gesetzes „über das Fernmeldewesen" vom 7. Juli 2003,4 das am 1. Januar 2004 in Kraft getreten ist, werden in der Russischen Föderation Dienstleistungen zur Datenübertragung und zur Sicherstellung des Zugangs zum Internet unter Inanspruchnahme gemeinsamer Zugangsstationen gewährleistet. In Ortschaften mit mindestens 500 Einwohnern soll eine gemeinsame Zugangsstation zum Internet geschaffen werden. Inzwischen sind die positiven Auswirkungen des Föderalen Zielprogramms „Elektronisches Russland"5 zu spüren. Problematisch ist jedoch, dass die Realisierung dieses Zugangsrechts und der Schutz des Zugangsrechts bisher keine Regelung erfahren haben, obgleich das Internet im Hinblick auf die Entwicklung eines politischen Pluralismus in Russland ein hervorragendes Umfeld schafft.
I I I . Die Medienfreiheit Eine ausdrückliche Absicherung der Medienfreiheit auf der Ebene der Verfassung ist in Russland noch nicht erfolgt. Insbesondere hat der Status der Massenmedien im Rahmen der Bestimmungen, die die Informationsverhältnisse zum Gegenstand haben, bisher keine Regelung gefunden. Eine derartige Regelung hatte der vom Verfassungsausschuss ausgearbeitete Entwurf der neuen russischen Verfassung in dem der Zivilgesellschaft gewidmeten Verfassungskapitel enthalten; in die geltende Verfassung hat aber weder diese Bestimmung noch das Kapitel über die Zivilgesellschaft Eingang gefunden. Dies ist vielleicht damit zu erklären, dass in einer Verfassung nicht die Rechtsgrundlagen einer Zivilgesellschaft festgelegt werden können, diese sich vielmehr selbständig aus den politischen Traditionen der Zivilgesellschaft herausbilden müssen. Dieser Ansicht wäre zuzustimmen, wenn nun nach Ablauf von mehr als zehn Jahren nach Verabschiedung der Verfassung derartige Traditionen ersichtlich geworden wären. Es hat sich aber im Gegenteil herausstellt, dass die Entwicklung von
4 Sobranie Zakonodatel'stva Rossijskoj Federacii (Sammlung der Gesetzgebung der Russischen Föderation, fortan: SZ RF) 20Ò3 Nr. 28 Art. 2895. 5 Das Programm gilt tur den Zeitraum 2002 - 2010 und wurde durch Regierungsverordnung vom 28.1.2002 bestätigt.
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Elementen der Zivilgesellschaft tatsächlich von oben inspiriert wird, und zwar sowohl von den Massenmedien als auch von den politischen Parteien und sonstigen Institutionen. Die Erfahrungen in der Praxis können dabei nicht immer als erfreulich bezeichnet werden, wie die Beispiele der Fernsehsender NTV und TV-6 zeigen. Besser wäre es mithin gewesen, die Grundlagen des Rechtsstatus der Massenmedien in der Verfassung zu regeln. In der geltenden Verfassung gibt es nur eine Bestimmung, die direkt die Massenmedien betrifft. In Artikel 29 Abs. 5 werden die Freiheit der „Masseninformation" garantiert und die Zensur verboten. In der Rechtswissenschaft wird die Ansicht vertreten, dass diese Verfassungsbestimmung die Freiheit des Medienunternehmens als Organisation nicht erfasse, da sich Artikel 29 im Kapitel über den Status des Menschen und des Bürgers befinde. Ein Bestandteil des Rechts auf Freiheit der Masseninformation sollte aber auch das Recht des Bürgers, aus unabhängigen Quellen alle zugänglichen Informationen zu erhalten, sein, worin zugleich die Garantie der Organisationsfreiheit des Medienunternehmens zu erblicken wäre.
IV. Die Ausgestaltung des Medienrechts durch den einfachen Gesetzgeber Das Gesetz über die Massenmedien wird bisher als Teil der Verfassungsgesetzgebung angesehen. Vom Industrieausschuss wurde allerdings im Rahmen der Bemühungen um eine Novellierung des Mediengesetzes der Versuch unternommen, dieses den Wirtschaftsgesetzen zuzuordnen. Hauptproblem des geltenden Gesetzes über die Massenmedien ist seine Lückenhaftigkeit. Darüber hinaus bestehen Widersprüche zur Vorlage eines neuen Fernseh- und Rundfunkgesetzes. Hier ist es bisher nicht gelungen, einen Kompromiss zu finden. Kernprobleme, die eine Neuregelung in beiden Bereichen bisher haben scheitern lassen, sind vor allem die Modalitäten der staatlichen Steuerung im Medienbereich, das öffentliche Fernsehen bzw. der öffentliche Rundfunk sowie die Sanktionen, die gegenüber den Medienunternehmen verhängt werden können. Das geltende russische Modell der staatlichen Steuerung im Medienbereich, die Steuerung durch eine Regierungsbehörde, stellt eine äußerst archaische Variante des Verwaltungsaufbaus dar. Die sowohl im Inland als auch im Ausland gemachte Erfahrung zeigt dagegen, dass es in denjenigen Bereichen der Gesellschaft, in denen politische Kompromisse von besonderer Bedeutung sind, zweckmäßiger ist, Staatsorgane „sui generis", d.h. Staatsorgane einer besonderen Art zu bilden. Von herkömmlichen Staatsorganen unterscheiden sich diese in erster Linie durch die pluralistische Art und Weise ihrer Errichtung. Beteiligt werden Rechtssetzungsorgane, die Verfassungsgerichtsbarkeit sowie mit der Organisation und Durchführung von Wahlen befasste Organe. Denn das Informations· und Ideologie-Subsystem der Gesellschaft benötigt ein besonderes
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pluralistisches Umfeld, in dem die herkömmlichen Modelle der administrativen Verwaltung keine vernünftigen Ergebnisse bringen können. Daher ist es schon lange geboten, dass das Ministerium für Pressewesen durch eine in einem besonderen Verfahren errichtete nichtstaatliche Einrichtung, deren Bildung und Finanzierung deren Unabhängigkeit gewährleistet, ersetzt wird. Das Hauptproblem bei der Frage öffentlicher oder privater Medien sowie beim öffentlichen Fernsehen und Rundfunk besteht darin, dass das Ziel der Errichtung öffentlicher Massenmedien stets ideologischer Natur ist. Gemeint sind hier nicht diejenigen Massenmedien, die allein zu dem Zweck geschaffen wurden, Beschlüsse und Berichte der Machtorgane bekannt zu machen. Letztere stellen keine Massenmedien im wahren Sinne des Wortes dar und bedürfen daher nach den geltenden Rechtsvorschriften auch keiner Registrierung. Dagegen ist es offensichtlich, dass die nichtamtliche Auslegung aktueller politischer Fragen in den öffentlichen Massenmedien durch deren Leitungsorgane allein den politischen Interessen ihrer Gründer dient. Dies kann beispielsweise in Bezug auf Streitigkeiten innerhalb der oder zwischen den Behörden, im Hinblick auf den Wahlkampf oder die Ämterkonkurrenz oder auf die zielgerichtete Vorbereitung der öffentlichen Meinung auf diesen oder jenen Beschluss der Machtorgane sinnvoll sein. Wie wir sehen, gibt es hier kein einzelnes Ziel, das allein eine Unterstützung wert wäre. Werden aber die negativen Folgen der Errichtung öffentlicher Medienunternehmen in Bezug auf die Printmedien dank der tatsächl ichen Vielfalt auf dem landesweiten Markt der periodischen Presse im Wesentlichen abgeschwächt, so ist die Erhaltung einer derartigen Situation im Bereich des landesweiten Fernsehens und Rundfunks mit begrenzten Rundfunkfrequenzen äußerst problematisch. Dabei soll dieses Infrastrukturmodell der Staatsbeteiligung am politischen Diskurs eine Monopolisierung der Mittel des öffentlichen Dialogs, der Massenmedien, und zwar egal, um welche Art von Massenmedien und um welche Form von Monopolisierung es auch gehen mag, sicher ausschließen. Dies gilt in erster Linie für das nationale Fernsehen als eines - in Anbetracht des Zuschauerkreises und der Verbrauchseigenschaften von Fernsehprogrammen - der einflussreichsten Instrumente zur Verbreitung von Informationen. Deswegen wäre für Russland der Übergang vom öffentlichen oder halböffentlichen landesweiten Fernsehen zum gesellschaftlichen Fernsehen die beste Lösung. Die organisatorische Handhabung wäre nicht kompliziert. Eine Modernisierung der Mechanismen zur Bildung der Leitungsorgane der landesweiten Fernsehsender würde völlig genügen. Aber sogar in Bezug auf einen solchen anspruchslosen Schritt fehlt gegenwärtig der politische Willen.
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V. Die Sanktionen gegen die Massenmedien Als ein grundlegendes Problem des geltenden Gesetzes über die Massenmedien haben sich in der Praxis die gegenüber Massenmedien zulässigen Sanktionen herausgestellt. Dringend notwendig wäre es, auf die Verfahren der Einstellung und Aussetzung der Tätigkeit von Medienunternehmen als Maßnahmen der Verantwortung, die die Medienunternehmen tragen, zu verzichten. Das Verbot der Tätigkeit von Massenmedien hat sich als eine nicht adäquate Maßnahme im Kampf gegen den Missbrauch der Freiheit der Masseninformation erwiesen. In den allermeisten Fällen wäre es zweckmäßiger gewesen, die illegale Tätigkeit eines Medienunternehmens durch wirtschaftliche Sanktionen gegenüber der juristischen Person, gegenüber dem Eigentümer, oder durch administrative und strafrechtliche Maßnahmen gegenüber den natürlichen Personen, denen die Befugnis, das Unternehmen zu vertreten, eingeräumt ist, zu ahnden. Heute sind die Strafsanktionen, die Medienunternehmen auferlegt werden können, im Gesetzbuch über Verwaltungsrechtsverletzungen 6 (z.B. Artikel 5.5, 13.15, 13.17, 13.21, 13.22) normiert. Diese Sanktionen werden nicht anstelle von Verbot oder Aussetzung der Tätigkeit des Medienunternehmens nach dem Gesetz über die Massenmedien, sondern zusammen mit den hier vorgesehenen Sanktionen verhängt. Mehr noch, die Strafsanktion des Tätigkeitsverbots hat Eingang auch in die jüngsten russischen Gesetze gefunden und ist beispielsweise im föderalen Extremismusgesetz7 noch weiter ausgebaut worden.
6 Ein neues Gesetzbuch wurde am 30.12.2001 verabschiedet (Rossijskaja gazeta vom 31.12.2001) und ist am 1.7.2002 in Kraft getreten. 7 Gesetz über die Bekämpfung extremistischer Tätigkeit vom 25.7.2002, SZ RF 2002 Nr. 30 Art. 3031.
Entwicklung des Medienrechts in Belarus Michail Pastuchov Die Situation im Medienbereich hat sich in der Republik Belarus äußerst ungünstig entwickelt. Diese Entwicklung ist ein Spiegelbild der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Situation, die mit dem im Wesen, in der Form und in den Folgen fragwürdigen Verfassungsreferendum vom November 1996 eingeleitet wurde. Zu diesem Zeitpunkt hat Staatspräsident A. LukaSenko - im Widerspruch zur Entscheidung des Verfassungsgerichts über den empfehlenden Charakter des Referendums über die Änderung bzw. Ergänzung der Verfassung1 - die Verfassungsnovelle in Kraft gesetzt. Damit wurde die absolute und von niemandem zu kontrollierende Macht des auch heute noch amtierenden Staatsoberhauptes, A. LukaSenko, sichergestellt.
I. Entwicklung des Medienrechts In der geänderten Verfassung sind die Grundrechte und -freiheiten der Bürger, einschließlich der Freiheit der Meinung und Überzeugung (Art. 33) sowie des Rechts auf Erlangung, Aufbewahrung und Verbreitung von Informationen über die Tätigkeit der Staatsorgane sowie über Ereignisse auf politischer, wirtschaftlicher, kultureller und internationaler Ebene (Art. 34), formal unverändert geblieben. In der Praxis werden diese Rechte und Freiheiten jedoch durch die Machtorgane nicht gewährleistet. Die Entwicklung der weißrussischen Mediengesetzgebung lässt sich als eine stetige Abkehr von den demokratischen Normen, als Ansammlung immer neuer Einschränkungen der Informationsfreiheit charakterisieren. Zahlreiche Änderungen des geltenden Gesetzes „über die Presse und andere Medien" 2 wurden im Dezember 1997 vorgenommen, nachdem der Oberste Sowjet der 13. Legislaturperiode von A. LukaSenko aufgelöst und durch das „Marionetten-Parlament", die Nationale Versammlung der Republik Belarus, ersetzt worden war.
1
Veröffentlicht in der Datenbank für Rechtsinformationen des nationalen InternetRechtsportals (www.president.gov.by). 2 Vedomosti nacional'nogo sobranija Respubliki Belarus' (Mitteilungen der Nationalversammlung der Republik Belarus, fortan: VNS RB) 1998 Nr. 5 Art. 27.
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1. Medienaufsicht Mit den Änderungen zum Mediengesetz wurde die Tätigkeit des „Pressekomitees", einer speziellen staatlichen Medienbehörde, legalisiert. Diese Behörde setzt gemäß Artikel 1 des Gesetzes die staatliche Politik im Medienbereich um; sie kontrolliert die Einhaltung der Gesetzgebung der Republik Belarus durch die Medien und registriert die Medien. Um die Wahrnehmung der Funktionen zu erleichtern, wurde dem staatlichen Pressekomitee das Recht eingeräumt, Presseunternehmen im Fall der Verletzung gesetzlicher Bestimmungen offiziell zu verwarnen und die Tätigkeit für einen Zeitraum von maximal drei Monaten auszusetzen (Art. 16). Nach den Präsidialwahlen von 2001 ist die Kontrolle insbesondere der „unabhängigen" Medien noch weiter ausgebaut worden. Das staatliche Pressekomitee wurde zu einem Informationsministerium heraufgestuft und mit weiteren Funktionen und Zuständigkeiten ausgestattet. Seither unterstehen dem Informationsministerium organisatorisch auch der staatliche Fernseh- und Hörrundfunk, die Monopolunternehmen „Belpoöta" und „Belsojuzpeòat'" sowie die aus dem Haushalt der örtlichen Exekutivkomitees finanzierten Druckereien. Um eine effizientere Umsetzung der Aufgaben des Informationsministeriums sicherzustellen, ist auch das Verhältnis zwischen dem Innenministerium als Zentralbehörde und seinen Untergliederungen, den Informationsverwaltungen der Gebietsexekutivkomitees, neu geregelt worden. Die Einzelheiten beinhalten die im Januar 2002 ergangenen und vom Informationsministerium bestätigten „Vorläufigen Bestimmungen über die Informationsverwaltungen der Republik Belarus". Hiernach haben die Informationsverwaltungen vor allem folgende Aufgaben: 1) Sie haben Maßnahmen zur Umsetzung der staatlichen Politik im Bereich Massenmedien, Druckereiwesen und Vertrieb von Druckerzeugnissen auszuarbeiten und umzusetzen. Ihnen obliegt ebenfalls 2) die Überwachung der Einhaltung des Medienrechts. Schließlich haben sie 3) die staatliche Informationspolitik auf dem jeweiligen Territorium umzusetzen und die Bevölkerung über die Tätigkeit des Präsidenten, der Nationalversammlung, der Regierung der Republik Belarus, der Vorsitzenden des Gebietsexekutivkomitees, des Exekutivkomitees, des Gebietssowjets und der sonstigen Staatsverwaltungsorgane umfassend zu unterrichten. Auf der Ebene der Städte und Landbezirke wurden bei den örtlichen Exekutivkomitees Informationsabteilungen mit gleichen Funktionen eingerichtet. 2. Registrierung der Printmedien Mit der Novellierung des Mediengesetzes wurden die Anforderungen an die Registrierung der Printmedien erhöht. Ein Tätigkeitsverbot von zwei Jahren ab Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung gilt gemäß Art. 8 für alle „natürli-
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chen und juristischen Personen, die früher als Gründer eines Medienunternehmens aufgetreten sind und deren Tätigkeit untersagt wurde". Für alle Gründer eines Medienunternehmens hat sich die Lage dadurch verschlechtert, dass die Liste der Schriftstücke, die dem Registrierungsantrag beizulegen sind, und zwar insbesondere die Satzung der Redaktion, der Gründungsbeschluss, ein Beleg über die Entrichtung der Registrierungsgebühr sowie eine Bescheinigung über den mit der Lokalbehörde vereinbarten Unternehmenssitz, weiter ergänzt wurde. Gerade die Bescheinigung der Lokalbehörde ist in der Praxis zu einem unüberwindbaren Hindernis geworden, da die Lokalbehörden ihre Ausstellung aus fadenscheinigen Gründen verweigern, womit die Registrierung einer neuen Zeitung praktisch unmöglich gemacht wird. Schon mit dem Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches am 1. Juli 1999J hatte sich die Rechtslage der Redaktionen der Printmedien geändert. Laut Entscheidung des staatlichen Pressekomitees galt auch für die Redaktionen der Präsidialerlass vom 11. März 1999, wonach für alle Wirtschaftssubjekte ein neues Verfahren der staatlichen Registrierung und Auflösung festgelegt wurde. Seither wird die unabhängige weißrussische Presse permanent neu registriert. Gegenwärtig sind in Belarus 1.464 Druckerzeugnisse, darunter etwa 200 staatliche und 800 nichtstaatliche Zeitungen und Zeitschriften registriert. Bei den nichtstaatlichen Periodika überwiegen die Informations-, Werbe- und Unterhaltungsjournale. Etwa 40 nichtstaatliche Zeitungen sind gesellschaftlichpolitischer Natur. Ihre Gesamtauflage umfasst ungefähr 200.000 Exemplare. Die größte unabhängige Zeitung ist mit einer Auflage von 30.000 „Narodnaja Volja" (Volkswille). Die größte staatliche Zeitung „Sovjetskaja Belorussija" (Sowjetisches Weißrussland), deren Gründungsväter die Präsidialverwaltung und das Redaktionsteam sind, erscheint dagegen in einer Auflage von 300.000 Exemplaren. Im Unterschied zu den meisten anderen wird „Sovjetskaja Belorussija" mit einem Umfang von 36 Seiten im Farbdruck zu einem Preis herausgegeben, der nur die Hälfte des Verkaufspreises von „Narodnaja Volja" ausmacht.
3. Missbrauch der Medienfreiheit Artikel 5 des Mediengesetzes, der u. a. die „Unzulässigkeit des Missbrauchs der Medienfreiheit" betont, wurde insofern erweitert, als nun auch die „Verbreitung von Daten, die die Ehre und Würde von leitenden Vertretern der Staatsorgane, deren Status mit der Verfassung der Republik Belarus eingeführt worden ist, in Misskredit bringen", dem gesetzlichen Verbot unterfällt. Später wurde diese Bestimmung noch um die ausdrückliche Erwähnung „des Präsidenten der 1
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Republik Belarus" ergänzt. Dies bedeutet, dass nun die Beleidigung oder Verleumdung hochgestellter inländischer Amtsträger als eine separate Rechtsverletzung angesehen wird. Nach dem neuen Strafgesetzbuch, das am 1. Januar 2001 in Kraft getreten ist,4 wird die Verleumdung des Staatspräsidenten in einer öffentlichen oder gedruckten Rede, in einem öffentlich präsentierten Werk oder in den Medien mit einer Geldstrafe von bis zu 1.000 Mindestlöhnen oder mit Besserungsarbeit oder Freiheitsentzug von bis zu vier Jahren bestraft (Art. 367 Strafgesetzbuch). Die öffentliche Beleidigung des Staatspräsidenten kann mit einer Geldstrafe, mit Arrest bis zu 6 Monaten, mit einer Freiheitsbeschränkung oder mit Freiheitsentzug von bis zu zwei Jahren sanktioniert werden. Stehen diese Taten im Zusammenhang mit einem schweren oder besonders schweren Delikt, kann sich die Strafe auf Freiheitsentzug bis zu 3 Jahren erhöhen (Art. 368 Strafgesetzbuch). Diese Straftatbestände wurden schon wiederholt auf Journalisten der unabhängigen Printmedien angewandt. So wurden im Jahr 2002 der Chefredakteur der Zeitung „Pagonja", Nikolaj Markeviô, der Berichterstatter der Zeitung Pavel MoSejko und der Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung Viktor IvaSkevtë wegen dieser Delikte zu diversen Freiheitsbeschränkungen - Zwangsarbeit unter Aufsicht der Organe für innere Angelegenheiten - verurteilt. Vorgeworfen wurde ihnen, während des Präsidentenwahlkampfes Materialien veröffentlicht zu haben, die den Staatspräsidenten der Mitwirkung am Verschwinden namhafter weißrussischer Politiker (des Parlamentsabgeordneten Viktor Gondar und des ehemaligen Innenministers Jurij Zacharenko) und an anderen ungesetzlichen Taten bezichtigten. Durch ein Dekret des Staatspräsidenten wurde das Betätigungsfeld der Medien im Wahlkampf weiter eingeschränkt.5 Das Präsidialdekret hat Art. 5 des Mediengesetzes um das Verbot ergänzt, „Informationen im Namen politischer Parteien, Gewerkschaften und sonstiger gesellschaftlicher Vereinigungen, die nicht ordnungsgemäß staatlich registriert oder neu (wiederholt) registriert wurden, zu verbreiten".
I I . Sonderregeln für die elektronischen Medien Die Tätigkeit des Fernseh- und des Hörrundfunks wird in der Republik Belarus sowohl durch das allgemeine Mediengesetz als auch durch spezielle Rechts-
4
VNS RB 1999 Nr. 24 Art. 420. Dekret Nr. 2 vom 26.1.1999 „über einige Maßnahmen zur Regelung der Tätigkeit politischer Parteien und Gewerkschaften". 5
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Vorschriften geregelt. In Belarus existieren insgesamt 30 landesweite und 26 regionale Fernsehsender sowie 156 Hörfunksender. Das Kabelnetz ist inzwischen auf 80 Sender angewachsen. Dominierend unter den elektronischen Medien ist die nationale staatliche Fernseh- und Rundfunkgesellschaft der Republik Belarus (Belteleradiokompanija). 6 Sie wurde 1994 durch Präsidialdekret 7 auf der Basis des Staatskomitees fur Fernsehen und Rundfunk errichtet. Ihre Rechtsstellung regelt ein weiteres Präsidialdekret. 8 Hiernach handelt es sich bei „Belteleradiokompanija" sowohl um ein Medienunternehmen als auch ein zentrales Staatsverwaltungsorgan, dem neben seinen sonstigen Funktionen insbesondere die Genehmigung der Tätigkeit von Organisationen, die auf dem Territorium der Republik Belarus Fernseh- und Rundfunksendungen ausstrahlen möchten, obliegt. Beide Präsidialdekrete waren im April 1994 Gegenstand eines auf Initiative von Parlamentsabgeordneten eingeleiteten Verfahrens vor dem Verfassungsgericht. Das Verfassungsgericht hat die Monopolstellung von „Belteleradiokompanija" im System der elektronischen Medien grundsätzlich gebilligt. Vorgeschlagen wurde aber, die Bestimmungen über die nationale staatliche Fernsehund Rundfunkgesellschaft in Einklang mit den geltenden Rechtsvorschriften zu bringen. Staatspräsident LukaSenko und der Vorstand von „Belteleradiokompanija" G. Kissel haben jedoch das Urteil des Verfassungsgerichts ignoriert und alles beim Alten belassen. Im Frühjahr 2003 hat der Staatspräsident seinen Einfluss auf den staatlichen Rundfunk noch vergrößert. Nach den neuen Bestimmungen9 stellt die Gesellschaft nun eine dem Staatspräsidenten unterstellte staatliche Einrichtung dar, die im Rahmen ihrer in den Rechtsvorschriften und ihrem Statut festgelegten Zuständigkeiten „einzelne leitende Funktionen ausübt". 6 Zu dieser Gesellschaft gehören der erste nationale Kanal (BT-1), fünf TVGebietsstudios, der erste nationale Kanal des weißrussischen Hörfunks, die Radiosender „Belarus", „Kultur" und „Staliza", fünf Hörfunkgesellschaften auf Gebietsebene und das Staatsunternehmen „Belorussij Radiotelecentr" mit insgesamt 3.000 Beschäftigten, „Belorusskaja Gazeta" vom 3.2.2003. Seit dem 1.1.2001 wird in der Stadt und im Gebiet Minsk auf dem 8. Kanal das „Hauptstadtfernsehen" („Stoliönoe Televidenie") übertragen. Obwohl der Sender eine nichtgemeinnützige Einrichtung darstellt, wurde der Generaldirektor - der stellvertretende Vorsitzende der nationalen Fernseh- und Hörfunkgesellschaft A. Simovskij - durch Präsidialdekret ernannt. Am 15.2.2002 wurde der zweite nationale Fernsehkanal „ O N T 1 als geschlossene Aktiengesellschaft mit einem staatlichen Aktienpaket von 51 % etabliert. Die restlichen Aktien halten nichtgemeinnützige Einrichtungen. Zum Vorstandsvorsitzenden wurde der ehemalige Chef von „Belteleradiokompanija" berufen. 7
Präsidialdekret Nr. 27 vom 5.8.1994. Präsidialdekret Nr. 128 vom 28.9.1994. 9 Präsidialdekret Nr. 174 vom 23.4.2003 „über einige Fragen der nationalen staatlichen Fernseh- und Rundfunkgesellschaft der Republik Belarus". 8
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Im Dezember 2002 wurde das Informationsministerium durch Regierungsverordnung 10 ermächtigt, die Fernseh- und Hörfunkfrequenzen unter den Medienunternehmen zu verteilen, während das Ministerium für Post- bzw. Fernmeldewesen weiterhin für die technischen Voraussetzungen der Umsetzung der Frequenzpolitik Sorge zu tragen hat. In der Regierungsverordnung wurde das Informationsministerium beauftragt, binnen eines Monats eine Fernseh- und Hörfunkkommission der Republik zu errichten, die Arbeitsordnung für dieses Gremium auszuarbeiten und zu bestätigen sowie die bereits erteilten Genehmigungen zur Übertragung von audiovisuellen Programmen und von Fernsehsendungen neu registrieren zu lassen. Entsprechende Ausführungsbestimmungen des Ministeriums sind im Januar 2003 ergangen. 11 Aufgabe dieses neuen Gremiums ist hiernach, die Unversehrtheit eines einheitlichen Informationsraums sicherzustellen, die Politik des Staates im Bereich Entwicklung von Fernsehen und Hörfunk umzusetzen sowie die Voraussetzungen für die Entwicklung sozial wichtiger Sendeprogramme und -formen zu schaffen. Mitglieder der Kommission sind Vertreter des Informationsministeriums und des Kulturministeriums sowie Angehörige der fuhrenden weißrussischen Fernsehsender und der Journalistenverbände. Im Frühjahr 2003 wurden schließlich die Bestimmungen über die Erteilung der Genehmigung zur Ausstrahlung terrestrischer Fernseh- und Rundfunkprogramme novelliert. Zugleich wurde angeordnet, dass sich auch alle bestehenden Fernseh- und Hörfunksender neu zu registrieren haben.12
I I I . Repressalien des Staates Nach der Ansicht unabhängiger Beobachter hat die Situation im weißrussischen Medienbereich inzwischen einen kritischen Punkt erreicht. Die staatlicherseits angewandten Methoden, insbesondere, um unabhängige Printmedien wirtschaftlich zu diskriminieren, werden dabei immer raffinierter. Im Frühjahr 2001 13 wurde allen juristischen und natürlichen Personen in Belarus untersagt, finanzielle Hilfen oder sonstige Sachmittel aus dem Ausland anzunehmen. Nach den geltenden Rechtsvorschriften ist es lediglich gestattet, die von einem speziellen Departement der Präsidialverwaltung genehmigten „Grants" zu erwerben. Wird die Genehmigung erteilt, werden mindestens 30 Prozent der ausländischen 10 Verordnung des Ministerrats der Republik Belarus vom 30.12.2002 „über elektronische und Netzmedien". 11 Ordnung der Fernseh- und Hörfunkkommission der Republik Belarus vom 15.1.2003. 12 Regierungsverordnung vom 30.5.2003 „über die Einräumung des Rechts auf Ausstrahlung terrestrischer Fernseh- und Hörfunkprogramme aufgrund Ausschreibung". 13 Präsidialdekret Nr. 8 vom 12.3.2001.
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Finanzhilfe als Steuer einbehalten. Ein weiteres Instrument zur Schädigung der unabhängigen Medien sind die Preiserhöhungen der staatlichen Monopolunternehmen, die alljährlich willkürlich ihre Tarife für Zeitungspapier, den Druck und den Vertrieb anheben. Derartige Kosten sind fur die - subventionierten staatlichen und die nichtstaatlichen Medienunternehmen gleich hoch, was die Herstellung der nichtstaatlichen Periodika unrentabel macht. Des Weiteren wird Staatsunternehmen und anderen Wirtschaftsubjekten staatlicherseits „nicht empfohlen", ihre Werbung auf den Seiten der unabhängigen Zeitungen zu platzieren. Die Redaktionen dieser Periodika werden ferner nicht selten zu Objekten der Finanz- und Steuerprüfung. Auch bemüht sich der Staat, den Vertrieb von unabhängigen Druckerzeugnissen mit allen Mitteln zu verhindern. Die Restriktionen haben zur Folge, dass in den letzten anderthalb Jahren etwa zwei Dutzend der Zeitungen und Zeitschriften mit gesellschaftlichpolitischem Inhalt ihr Erscheinen zumindest vorübergehend eingestellt haben. Zahlreiche unabhängige Zeitungen wurden vom Informationsministerium offiziell verwarnt. Dieses Schicksal erlitt beispielsweise die Redaktion der Zeitung „Belorusskaja Delovaja Gazeta" (Weißrussische Geschäftszeitung, BDG), der jeweils am 20., am 21. und am 22. Mai 2003 eine solche Warnung zugegangen ist. Die erste Verwarnung erging wegen des Artikels „Barskij Imiz" (Herrenimage), der nach der Aussage des Informationsministers, „die nicht wahrheitsgetreuen Daten enthalten habe, der Präsident der Republik Belarus habe der russischen Schönheit Svetlana Koroleva ein Flugzeug des Staatsoberhauptes zur Verfugung gestellt, um damit nach Moskau zu fliegen." Das Informationsministerium war der Meinung, dass ein solcher Bericht „nicht nur die weißrussischen Bürger in die Irre führe, sondern auch die Ehre und Würde des Präsidenten der Republik Belarus herabwürdige". Einen Tag später wurde BDG dann für die Artikelreihe „Afganskie Borzye" (Afghanische Windhunde) gerügt, in denen es um den Straftatbestand der Korruption ging. Am nächsten Tag folgte eine Verwarnung wegen des Artikels „Wo sind die Millionen von Leonov? Der Staatsanwalt kann diese Frage nicht beantworten. Er sucht ...". Hier wurden nach Auffassung des Informationsministers Materialien über das Strafverfahren ohne schriftliche Zustimmung des Richters veröffentlicht, womit gegen Art. 5 des Mediengesetzes verstoßen worden sei. Nach diesen Verwarnungen wurde das Erscheinen der Zeitung fur drei Monate ausgesetzt. Auf entsprechende Bitten der Redaktion wurden dieser in anderen unabhängigen Zeitungen Seiten zur Verfügung gestellt. Dies blieb nicht ohne Folgen für die Unterstützer. Die hierdurch zum Ausdruck gebrachte Solidarität wurde mit Finanzprüfungen und Verwarnungen wegen eines nichtordnungsgemäßen Impressums oder der Kündigung der mit den staatlichen Druckereien geschlossenen Verträge geahndet. Die BDG hat sich daher um Hilfe an ihre russischen Kollegen gewandt. Mit Unterstützung der Redaktion der russischen Zei-
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tung „Novaja Gazeta" (Neue Zeitung) wird die BDG seither in Russland, gegenwärtig in Smolensk, gedruckt und anschließend wieder importiert, so dass die Zeitung auf Umwegen ihren Leser erreicht. Einzelne Auflagen wurden jedoch an der russisch-weißrussischen Grenze oder in Belarus beschlagnahmt. Die staatlichen Repressalien haben allerdings bewirkt, dass sich der Leserkreis um die Hälfte reduziert hat; die Auflage ist von 20.000 auf 10.000 Exemplare gesunken. Auf Anordnung des Informationsministeriums wurde auch das Erscheinen der fur Jugendliche bestimmten Satire-Zeitung „Navinki" ausgesetzt, da die Würde des Präsidenten der Republik durch zwei Fotos von LukaSenko und einen Kommentar in Misskredit gebracht worden sei. Ein weiterer Artikel wurde als Anschlag gegen die Moral der Bürger gewertet. Unabhängige Zeitungen und Zeitschriften werden schließlich nicht selten zum Gegenstand millionenschwerer Schadensersatzklagen der angeblich beleidigten staatlichen Amtsträger, denen die Gerichte regelmäßig stattgeben. In einer Reihe von Fällen hatten die Prozesse zur Folge, dass die Zeitungen - wie beispielsweise „Naviny" (früher „Svaboda") - ihr Erscheinen einstellen mussten. Die Schadensersatzforderung des damaligen Sekretärs des Sicherheitsrates V. Seiman in Höhe von 35.000 US-Dollar konnte vom Unternehmen nicht befriedigt werden, womit seine Existenz beendet war. In der letzten Zeit sind neue unabhängige Zeitungen praktisch nicht mehr auf dem Markt erschienen. Die Auflagen der noch existierenden unabhängigen Periodika sinken stetig wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der Repressalien seitens des Staates. Der Informationsraum einer unabhängigen Presse wird mithin immer kleiner.
IV. Das geplante neue Mediengesetz Gegenwärtig wird in der Präsidialverwaltung ein neues Paket von Änderungen zum Mediengesetz vorbereitet. Die Gesetzesvorlage könnte bereits Gegenstand der Erörterung der nächsten Sitzung des Parlaments, der Nationalversammlung, werden. Wird dieses Gesetz verabschiedet, wird die Meinungs- und Informationsfreiheit weiter eingeschränkt. Problematisch sind vor allem die folgenden Punkte. 1. Finanzierung Zulässige Finanzierungsquellen sind nach dem 1. Kapitel, in dem im Rahmen der „allgemeinen Bestimmungen" auch die Finanzierung geregelt wird, die Mittel der Gründer sowie Einkünfte aus einer Wirtschaftstätigkeit und aus Spenden, aus den Haushalten des Staates und der Kommunen sowie sonstige Quellen, die nach den weißrussischen Rechtsvorschriften nicht verboten sind. Ausdrücklich laut Mediengesetz untersagt ist es nun, Finanzmittel und sonstige Vermögens-
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werte von ausländischen juristischen Personen oder von ausländischen Bürgern oder Personen ohne Staatsbürgerschaft, die auf dem Territorium der Republik Belarus nicht ständig wohnhaft sind, oder aus anonymen Quellen anzunehmen. 2. Registrierung Die Registrierungsanforderungen werden rigoros verschärft. Einen Antrag auf Errichtung eines Medienunternehmens kann danach nicht jedermann, sondern nur eine juristische Person oder ein privater Einzelunternehmer stellen, „die/der gemäß der Gesetzgebung der Republik Belarus das Recht hat, Masseninformationen zu produzieren und zu verbreiten". Der Anteil eines Ausländers am Grundkapital des Unternehmens darf 30 % nicht überschreiten. Obligatorisch wird künftig auch die Registrierung der über das Internet der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Zeitungen und Zeitschriften. Ausgenommen von der Registrierungspflicht werden Periodika mit einer Auflage von weniger als 500 Exemplaren. Diese sind aber anzumelden. Zudem sind bei der Registrierungsbehörde diejenigen Unterlagen, die die Impressen der Ausgabe widerspiegeln, sowie des Weiteren obligatorisch ein Exemplar dieser Publikation, und zwar „in der Art und Weise und unter den Bedingungen, wie sie in der Gesetzgebung der Republik Belarus vorgesehen sind", vorzulegen. Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass auch in dieser Gesetzesvorlage in den abschließenden Bestimmungen nicht der Auftrag an die Regierung fehlt, die staatliche Neuregistrierung derjenigen Medienunternehmen zu organisieren, „deren Satzungen vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingetragen wurden." Eine solche Anordnung hat nur eine Bedeutung, und zwar, dass alle existierenden Medienunternehmen erneut von den Registrierungsbehörden gesiebt und die Missliebigen ausgesondert werden. 3. Aufsicht Beim Informationsministerium soll nun ein „Gesellschaftlicher Rat für die Koordinierung, die gesellschaftliche Kontrolle und die Beilegung von Streitigkeiten im Medienbereich" geschaffen werden. Ihm sollen Vertreter der Staatsorgane sowie angesehene Medienfachleute und Wissenschaftler angehören. Aufgabe dieses „Gesellschaftlichen Rates" soll es sein, zu begutachten, ob „mit durch die von den Medien auf dem Territorium der Republik Belarus verbreiteten Materialien die Anforderungen des Gesetzes verletzt (oder nicht verletzt) werden". Nach seiner Besetzung, seinem Status und seinen Funktionen ist anzunehmen, dass dieser Rat nicht als ein gesellschaftliches Organ agieren kann. Ein
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solches Organ dürfte vielmehr die Funktionen eines Gerichts fur Streitigkeiten im Bereich des Informationswesens wahrnehmen, sich aus Staatsbeamten zusammensetzen und die „Instruktionen" des Informationsministeriums gehörig erfüllen.
4. Rechte und Pflichten der Journalisten In der Gesetzesvorlage werden der Status des Journalisten, seine Rechte und Pflichten ausfuhrlich behandelt. Es ist dabei nicht zu übersehen, dass der Journalist zukünftig noch mehr Pflichten haben wird, als bereits im geltenden Mediengesetz vorgesehen sind. Er ist danach in Zukunft ausdrücklich verpflichtet, die für die Redaktion normierten Regeln einzuhalten, die Rechte und die legitimen Interessen der Bürger und der juristischen Personen zu respektieren, zuverlässige Informationen für die Weiterverbreitung zur Verfugung zu stellen, die Zustimmung des Bürgers selbst oder von dessen legitimem Vertreter zur Veröffentlichung von Angaben über das Privatleben in den Medien einzuholen, auf Verlangen seinen Dienstausweis zu zeigen, wobei die Form des Dienstausweises für alle auf dem Territorium der Republik Belarus registrierten Medien vom Informationsministerium festgelegt wird. Eine äußerst problematische Vorschrift findet sich am Ende der Gesetzesvorlage in Art. 53, wonach die Verbreitung bestimmter Informationen in den Medien untersagt wird. Einem ausdrücklichen Verbot unterliegen danach: - Informationen im Namen von nicht registrierten, nicht erneut registrierten oder aufgelösten politischen Parteien oder sonstigen gesellschaftlichen Vereinigungen, - die Werbung für die Verwendung oder den Gebrauch von Drogen, psychotrophen Stoffen oder sonstigen Rauschmitteln für nichtmedizinische Zwecke, - Informationen, die für eine soziale, nationale, Rassen- oder religiöse Feindschaft werben oder diese schüren, - Informationen, deren Verbreitung vom Mediengesetz oder von sonstigen Rechtsvorschriften verboten wird. Ebenso wie nach geltendem Recht können Medienunternehmen auch nach den Bestimmungen der Gesetzesvorlage vom Informationsministerium oder vom zuständigen Staatsanwalt wegen der Veröffentlichung von Informationen, deren Verbreitung verboten ist, und wegen einer Handlung, die den „Bestimmungen über die Redaktion" widerspricht, schriftlich verwarnt werden. Werden gegenüber einem Medienunternehmen mehr als zwei Warnungen innerhalb eines Jahres ausgesprochen, kann die Einstellung seiner Tätigkeit angeordnet werden.
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V. Schlussbetrachtung Die Juristen des „Zentrums für den Rechtsschutz in Medienangelegenheiten beim weißrussischen Journalistenverband" qualifizieren diese Gesetzesvorlage als Musterfall einer einschränkenden Gesetzgebung, die es den Behörden ermöglicht, die Schlinge um den Hals der unabhängigen Presse noch weiter zuzuziehen, um sie gänzlich der staatlichen Kontrolle zu unterwerfen und die Abrechnung mit nicht genehmen Publikationen zu erleichtern. Während der Vorbereitung der Vorlage haben sich die Juristen des weißrussischen Journalistenverbands wiederholt mit Vorschlägen und Anmerkungen an die Väter des Gesetzes, an das Informationsministerium, an die Parlamentsabgeordneten gewandt. Alle Bemühungen sind erfolglos geblieben; an den restriktiven Bestimmungen wurde unverändert festgehalten. Die Juristen des Weißrussischen Journalistenverbands haben nun eine alternative Vorlage für ein neues Mediengesetz ausgearbeitet und den Abgeordneten des Parlaments zur Diskussion vorgelegt. Die Abgeordnetengruppe „Respublika" will sich bemühen, dass die Vorlage in die Tagesordnung des Parlaments aufgenommen wird. Wer Realist ist, kann jedoch kaum die Hoffnung haben, dass diese alternative Vorlage bei der Regelung der Verhältnisse im Medienbereich Berücksichtigung findet. Für die Verabschiedung demokratischer Gesetze ist in Belarus wohl die Zeit noch nicht gekommen. Wird das Gesetz aber in seiner derzeitigen Gestalt verabschiedet, wird es Belarus wiederum zurückwerfen und noch weiter von den Gleisen einer demokratischen Entwicklung im gesamten übrigen Europa entfernen.
Entwicklung des Medienrechts in Estland Carmen Schmidt In Estland sind nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit unverzüglich die Grundlagen für eine demokratische und rechtsstaatliche Medienordnung geschaffen worden. Demzufolge ist schon bald eine pluralistische Medienlandschaft entstanden, so dass sich Medienrecht und Medienrealität grundsätzlich auch im Einklang befinden. Daher ist es keine Überraschung, wenn Estland in der Rangliste der Menschenrechtsorganisation „Reporter ohne Grenzen" im Jahr 2003 mit Platz 13 von 166 zu dem von den nordischen Staaten angeführten Spitzenfeld derjenigen Staaten, in denen sich die Lage im Bereich der Pressefreiheit am günstigsten erweist, gehört. 1 Im Rahmen der Neuordnung des Medienbereichs hat sich der Gesetzgeber grundsätzlich gegen eine über das unbedingt Erforderliche hinausgehende staatliche Steuerung entschieden. Vor allem bei den Printmedien, die sich seit Abschluss der Privatisierung fast ausnahmslos in den Händen privater Unternehmen befinden, ist die Regulierung weitgehend den Akteuren überlassen. Beim Rundfunk wurde dagegen eine duale Ordnung etabliert, die sowohl einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk als auch private Rundfunkanbieter umfasst. Probleme im Medienbereich resultieren in erster Linie in den faktischen Verhältnissen. Die Bevölkerung ist klein. Nach den Erhebungen der Volkszählung von 2000 2 leben nur knapp 1,4 Mio. Menschen in Estland. Klein sind dementsprechend auch der Medien- und insbesondere der für die Finanzierung bedeutsame Werbemarkt. Zusammen mit der noch recht geringen Kaufkraft der Bevölkerung hat dies zur Folge, dass eine große Vielfalt in allen Medienbereichen, auch wenn sie von allen Seiten gewünscht ist, kaum zu finanzieren ist. Aus diesem Grund hat schon bald nach der Blütezeit und hohen Diversifikation zu Beginn der 90er Jahre ein Schrumpfüngs- und Konsolidierungsprozess eingesetzt, der auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Diese in den letzten Jahren zu beobachtende Konzentration hat Befürchtung hervorgerufen, dass, setzt sich 1
Deutschland Rang 8, Russland Rang 148, der in negativer Hinsicht von den ehemaligen Unionsrepubliken der UdSSR nur noch von Weißrussland, Usbekistan und Turkmenistan übertroffen wird, www.reporter-ohne-grenzen.de . 2 2000. aasta rahva ja eluruumide loendus. II Kodakondsus, rahvus, emakeel ja vöörkeelte oskus (Volks- und Wohnraumzählung des Jahres 2000. II Staatsangehörigkeit, Volk, Muttersprache und Beherrschung von Fremdsprachen), S. 9 (estnisch/englische Ausgabe).
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dieser Prozess ungehemmt fort, Meinungsmonopole entstehen und der eben erst errungene Meinungspluralismus wieder gefährdet wird. 3 Eine Monopolstellung hat indes bisher kein Medienunternehmen erreicht. Gemessen an der Größe der Bevölkerung im Lande und damit des möglichen Abnehmerkreises von Medienprodukten ist die Vielfalt im Medienbereich vielmehr trotz - und vielleicht sogar gerade wegen - der Konzentration und des Ausbaus der Beteiligungen vor allem durch skandinavische Medienunternehmen beachtlich.
I. Verfassung Die Kommunikationsgrundrechte sind in der estnischen Verfassung garantiert. Dies gilt zunächst fur die Meinungs- (Art. 45 Absatz 1) und die Informationsfreiheit (Art. 44 Absatz 1). Nur mit der sowjetischen Vergangenheit zu erklären ist wohl, dass darüber hinaus die Nötigung zur Änderung der Meinung einem ausdrücklichen Verbot in einer speziellen Verfassungsbestimmung (Art. 41 Absatz 1) unterstellt wurde. Mit dem Recht des Einzelnen auf Zugang zu den für den allgemeinen Gebrauch verbreiteten Informationen korrespondiert die Verfassungspflicht aller Einrichtungen des Staates und der Kommunen sowie von deren Amtsträgern, Auskunft über ihre Tätigkeit zu erteilen, sofern die Preisgabe der betreffenden Informationen nicht gesetzlich verboten oder diese allein für den behördeninternen Gebrauch bestimmt sind. Auf eine besondere Festschreibung der Presse-, Rundfunk- oder übergreifenden Medienfreiheit ist in Estland dagegen - wie in vielen osteuropäischen Staaten - verzichtet worden. Die Presse- und Rundfunkfreiheit stellt vielmehr einen Unterfall der Meinungsfreiheit dar. Hierunter fallen auch die Neuen Medien, denn der Schutz der Verfassung gilt nicht nur für die Verbreitung von Ideen, Meinungen, Überzeugungen und anderen Informationen in Wort, Druck und Bild, sondern auch für jede andere Übermittlungsweise. Eine Einschränkung der Verbreitung von Meinungen und Informationen darf nach der Verfassung ausschließlich durch Gesetz und zur Verfolgung bestimmter Zwecke, und zwar zum Schutz der öffentlichen Ordnung und der Moral sowie der Rechte und Freiheiten, der Gesundheit, der Ehre und des guten Namens erfolgen. Des Weiteren müssen Beschränkungen nach dem allgemeinen Schrankenvorbehalt des Art. 11 der Verfassung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein und dürfen das Wesen der beschränkten Rechte und Freiheiten nicht verändern. Grundrechte, die ebenfalls von besonderer Bedeutung für das Medienrecht sind, stellen schließlich die Be-
3 Vgl. beispielsweise die Berichte in der Tageszeitung Postimees vom 15., 16. und 26. Aug. 2003. Anlass der Debatte war die Beteiligung der Eesti Media, Tochter des norwegischen Medienunternehmens Shibsted, zu dem bereits ein privater Fernsehsender (Kanal 2), die größte Tageszeitung Postimees und eine Reihe weiterer Zeitungen und Journale gehören, am größten Hörfunkunternehmen Trio LSL.
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rufsfreiheit (Art. 29) und die Freiheit von Wissenschaft und Kunst (Art. 38 Abs. 1) dar. Dagegen können vor allem das Recht auf Ehre und den guten Namen (Art. 17), aber auch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 19 Abs. 1) und das Recht auf Unverletzlichkeit des Familien- und Privatlebens (Art. 26), die ebenfalls Verfassungsrang besitzen, eine einschränkende Wirkung gegenüber den Medien entfalten.
I I . Einfachgesetzliche Rechtsgrundlagen Auf einfachgesetzlicher Ebene beinhaltet das 1994 verabschiedete und seither zahlreichen Änderungen unterworfene und hierdurch an das europäische Recht angepasste Rundfunkgesetz 4 die rechtliche Rahmenordnung. Unter dem Begriff Rundfunk werden dabei sowohl der Hörrundfunk als auch der Fernsehrundfunk, und zwar unabhängig davon, ob die Übermittlung über Leitungen oder drahtlos erfolgt, verstanden. Ein spezielles Pressegesetz existiert dagegen nicht. Presserelevante Normen ergeben sich damit allein aus den allgemeinen Gesetzen, zu denen vor allem das Zivil- und Strafrecht sowie die Prozessgesetze zählen.5
I I I . Gewähr der Presse- und Rundfunkfreiheit Die Meinungs- und damit auch die Presse- und die Rundfunkfreiheit wird in erster Linie durch die Sicherung des Marktzugangs, die Einräumung spezieller medienrechtlicher Informationsansprüche sowie den Schutz vor staatlicher Einflussnahme gewährleistet. Zulassungsregeln und Inhaltsbindungen bestehen abgesehen von der Bindung an die Verfassung und hier insbesondere das Verbot der Aufwiegelung zu nationalem, rassischem, religiösem oder politischen Hass (Art. 12 Abs. 1 Verf.) sowie den Regelungen des Jugendschutzes - nur beim Rundfunk. Hier wird mit gewissen Anforderungen an die Programmgestaltung versucht, eine Grundversorgung der Bevölkerung und ein Mindestmaß an inhaltlicher Qualität und Ausgewogenheit sicherzustellen.
4 Rundfunkgesetz vom 19. Mai 1994 i. d. F. vom 18. Dez. 2002 (RT I 1994 Nr. 42 Art. 680, 2003 Nr. 4 Art. 22). 5 Eine Darstellung des Telekommunikationsrechts und des Rechts der Neuen Medien würde den Rahmen sprengen. Verwiesen sei insofern auf das Telekommunikationsgesetz vom 9. Februar 2000 (RT I 2000 Nr. 18 Art. 116, 2003 Nr. 23 Art. 136) und die hierzu ergangen Durchführungsverordnungen. Die Bereitstellung von Telekommunikationsdiensten über Kabelnetze regelt das Kabelübertragungsgesetz vom 31. Mai 2001 (RT I 2001 Nr. 53 Art. 310, 2002 Nr. 63 Art. 375), das den Markt für die Kabelübertragung vollständig geöffnet hat.
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1. Marktzugang Im Bereich der Presse gilt mangels gesetzlicher Zulassungspflichten die Zulassungsfreiheit. Der Zugang zum Rundfunk ist hingegen von der Erteilung einer Rundfunkerlaubnis durch das Kulturministerium abhängig. Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ist die Rundfunklizenz zu erteilen. Bestehende Grenzen bei der Lizenzerteilung sind dabei nicht rechtlicher, sondern technischer Natur, da die Anzahl der Frequenzen fur terrestrische Programme begrenzt ist. Als ein Hindernis, das der Vergabe von Lizenzen auch bei entsprechenden technischen Kapazitäten im Wege steht, erweisen sich allerdings die finanziellen Rahmenbedingungen und vor allem der relativ kleine Werbemarkt, auf den private Sender zur Finanzierung angewiesen sind. Reicht dieser zur Unterhaltung einer Vielzahl privater Anbieter nicht aus, schwindet das Interesse an einer Lizenz. Derzeit bestehen neben dem zum überwiegenden Teil aus dem Staatshaushalt finanzierten öffentlich-rechtlichen Fernsehen (Eesti Televisioon) ETV zwei private Fernsehsender, an denen das norwegische Medienunternehmen Shibsted (Kanal 2) bzw. die schwedische Kinnevik, Tochter des Medienkonzerns Modern Times Group, MTG (TV 3) Beteiligungen erworben haben. Der dritte Privatsender TV 1 hat hingegen im Herbst 2001 seine Sendungen eingestellt, nachdem der polnische Anteilseigner Polsat offenbar nicht mehr bereit war, Verluste auszugleichen. Hinzu kommen mehr als zehn Kabelnetze, die eine Vielzahl ausländischer Programme übertragen. 6 Eine große Rolle innerhalb der russischen Minderheit spielen allerdings weiterhin die russischen Fernsehsender ORT Bait und RTR, die über Kabel oder Satellit zu empfangen sind. Umfangreicher ist mit etwa 30 die Zahl der privaten Radiostationen. Landesweit zu empfangen sind aber nur die vier Programme des öffentlich-rechtlichen Radios Eesti Raadio (ER) von denen drei in Estnisch und ein Programm in Russisch (Raadio 4) ausgestrahlt wird. Auch auf dem privaten Radiomarkt haben inzwischen ausländische Geldgeber Bastionen erworben. Größtes Unternehmen ist die Trio LSL (Raadio Kuku, Uuno, Elmar, EEva, Raadio 100, Katjuscha), deren Anteilseigner die US-amerikanische Metromedia International und das norwegische Medienunternehmen Shibsted über ihre Tochter Eesti Meedia. Star-FM und Powerhit Raadio gehören dagegen zur schwedische Modern Times Group, während an der Sky Media Group (Sky Radio, Sky+ und Russkoe Radio), vorwiegend russische Geschäftsleute beteiligt sind. Marktfuhrer bei den Printmedien sind der Eesti Meedia-Konzern (Postimees, Pärnu Postimees), die Express-Gruppe (Eesti Ekspress, Eesti Päevaleht) und die schwedische Bon-
6 So werden beispielsweise laut Angaben der Kabelnetzbetreiber in der vorwiegend von Russen bewohnten Stadt Narva insgesamt 60 Programme (drei estnische, 47 russische, 5 englische, 3 deutsche und zwei französische Programme) in das lokale Netz eingespeist, Informationen der Unternehmen AS Com und AS STV, http ://tvcom. netfirms. com ).
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nier-Gruppe (Äripäev). Nachdem es letzterer nicht gelungen war, eine Mehrheitsbeteiligung an der Ekpress-Gruppe zu erwerben, hat die Bonnier-Gruppe ihre Beteiligung an den estnischen Gründer rückübereignet, womit dieser wiederum zum Alleingesellschafter wurde. Insgesamt ist die Zahl der Zeitungen, Zeitschriften und Journale verhältnismäßig groß. Nach den Angaben des Verbands der Zeitungsverleger EALL erscheinen - Stand Juli 2003 - 6 landesweite Tageszeitungen (4 estnische und 2 russische), 11 Wochenzeitschriften (5 estnische, 6 russische) sowie 29 regionale und lokale Periodika (9 estnische, 4 russische). Hiermit ist jedoch, da in Anbetracht des kleinen Marktes häufig derselbe Kreis von Lesern anvisiert ist, nicht unbedingt auch eine inhaltliche Vielfalt verbunden. Zudem variieren die Auflagen sehr stark. Während die beiden beliebtesten estnischen Tageszeitungen Postimees und Eesti Päevaleht eine Auflagenstärke von mehr als 60.000 erreichen, bringen es die beiden größten russischen Tageszeitungen nach Angaben des Verlegerverbands gerade einmal auf 6.000 bis 7.000 Exemplare.
2. Anforderungen an die Programmgestaltung Mit der Festlegung eines Mindestprogrammumfangs und der Programmstruktur gibt das Rundfunkgesetz sowohl dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk als auch privaten Rundfunkunternehmen ein Programmgerüst vor, womit versucht wird, eine gewisse Grundversorgung zu garantieren. Darüber hinaus sind Formen und Sendungen grundsätzlich der Entscheidung durch die Sender überlassen. Fernsehsender müssen so mindestens 56 Stunden (lokale Sender 21 Stunden), Radiosender mindestens 84 Stunden pro Woche ihr Programm ausstrahlen. In den erteilten Lizenzen sind allerdings regelmäßig längere Sendezeiten zur Auflage gemacht. Inhaltliche Anforderungen bestehen insofern, als mindestens 5 Prozent der wochentäglichen Sendezeit Nachrichten vorzubehalten sind. Eigenproduktion, die sich mit dem Estland der Gegenwart und dem Kulturerbe beschäftigt, hat mindestens 10 Prozent der Sendezeit nach Abzug von Nachrichten, Sportsendungen, Werbung etc. auszumachen, wovon wiederum 50 Prozent während der Hauptsendezeit (19-23 Uhr) auszustrahlen sind. 51 Prozent der Sendezeit sind Werken europäischer Herkunft zu widmen. Mit dieser sowie weiteren Regelungen, die insbesondere den Minderjährigenschutz sowie die Werbung und das Teleshopping betreffen, wurde dem Europäischen Fernsehübereinkommen7, das in Estland im Jahr 2000 in Kraft getreten ist, sowie der
7 Europäisches Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen vom 5. Mai 1989.
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Fernsehrichtlinie der Europäischen Union 8 Rechnung getragen. Zur Harmonisierung der Politik im Fall grenzüberschreitender Fernsehsendungen hat sich Estland gegenüber der Europäischen Union bereits 1996 im Europaabkommen verpflichtet. 9 Dementsprechend wurden ein Gegendarstellungsanspruch, das Gebot der klaren Trennung von Werbung und Programm sowie inhaltliche und zeitliche Beschränkungen für Werbespots in das estnische Rundfunkgesetz aufgenommen. Auch wurde in Ausführung der EU-Richtlinie die Möglichkeit geschaffen, Exklusivverträge bei Veranstaltungen, die für die Allgemeinheit von besonderer Bedeutung sind, einzuschränken und ein Recht auf Kurzberichterstattung oder vollständige Übertragung im Free-TV einzuräumen. Diejenigen Veranstaltungen, die wie beispielsweise die Olympischen Spiele im Free TV zu übertragen sind, regelt eine Regierungsverordnung 10. Gesponserte Sendungen müssen als solche gekennzeichnet sein. Der Inhalt der Sendung oder die Programmstruktur dürfen nicht beeinflusst werden, womit die redaktionelle Unabhängigkeit nicht beeinträchtigt werden darf. Nachrichten und politische Sendungen dürfen ausdrücklich nicht gesponsert werden. Im Übrigen besteht ausdrücklich für alle Rundfunksender das Gebot zur politischen Ausgewogenheit (§ 6 1 Rundfunkgesetz). Wird einer Partei oder politischen Bewegung Sendezeit zur Verfügung gestellt, ist auch den anderen Parteien oder politischen Bewegungen ohne ungerechtfertigte Verzögerung im selben Programm eine Gelegenheit zur Stellungnahme zu eröffnen. Weitergehende Verpflichtungen beinhaltet das Gesetz für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der ein umfassendes, ausgewogenes und vielfältiges Programm, das auch die Interessen der im Lande lebenden Minderheiten berücksichtigt, anbieten soll (§§ 25 ff. Rundfunkgesetz).
3. Aufsicht Bei der Aufsicht im Medienbereich übt der estnische Staat - abgesehen von der allgemeinen Wirtschaftsaufsicht, der alle Unternehmen unterstehen - im Interesse der Presse- und Rundfunkfreiheit große Zurückhaltung. Im Fall der Rundfunkunternehmen obliegt dem Kulturministerium die Rechtsaufsicht im Hinblick auf die Beachtung des Rundfunkgesetzes. In der Gestaltung ihrer Sendungen und Programme sollen dagegen gemäß § 28 Rundfunkgesetz alle, mithin nicht nur die privaten, sondern ebenfalls die öffentlich-rechtlichen Rund-
R i c h t l i n i e 1989/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit vom 3. Okt. 1989 mit den Änderungen der Richtlinie 1997/36/EG. 9 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Estland vom 12. Sept. 1996. 10 Regierungsverordnung vom 6. Mai 2003, Riigi Teataja I 2003 Nr. 40 Art. 276.
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funkunternehmen ausdrücklich unabhängig sein. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen und der öffentlich-rechtliche Rundfunk sind in Form einer Aktiengesellschaft organisiert. Oberstes Organ von ETV und ER ist der Rundfunkrat, dessen neun Mitglieder vom Parlament gewählt werden. Der Rundfunkrat übt eine medieninterne Kontrolle aus. Um den Einfluss von Parteien und Regierung abzuschwächen, sind vier der neun Mitglieder des Rundfunkrats - so auch der derzeitige Vorsitzende des Rundfunkrats Andres Jöesaar - aus dem Kreis der Medienfachleute zu berufen. Die übrigen Mitglieder werden aus der Mitte des Parlaments unter Berücksichtigung des Parteienproporzes gewählt. Während der Mitgliedschaft im Rundfunkrat ist die Ausübung von Regierungsfunktionen wie auch die Mitwirkung in einem Medienunternehmen - untersagt, womit die Einflussmöglichkeiten der Regierung auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ebenfalls gemindert werden. Auf eine spezifische medienrechtliche Aufsicht wird im übrigen und im Bereich Presse gänzlich verzichtet. Eine freiwillige Selbstkontrolle üben der Medienrat (wörtlich: Rat des öffentlichen Wortes, ASN) und der Ende 2002 entstandene Presserat aus.11 1992 wurde zunächst vom Verband der Zeitungsverleger nach finnischem Vorbild der Medienrat mit dem Auftrag, sich für den Schutz der Pressefreiheit einzusetzen, gegen Missstände vorzugehen sowie Beschwerden gegen die Berichterstattung in den Medien zu überprüfen, errichtet. Dem Verlegerverband schlossen sich später die Rundfunkveranstalter, der Journalistenverband, der öffentliche Rundfunk, aber auch medienfremde Institutionen wie der Estnische Kirchenrat als Interessenverband der Religionsgemeinschaften und der Verbraucherschutzverband an. 1997 wurde ein Ehrenkodex angenommen, der die Sorgfaltspflichten von Journalisten, den Informantenschutz sowie ein Recht zur Gegendarstellung und Berichtigung des durch die Berichterstattung in den Medien Betroffenen regelt. Auf der Grundlage dieses Kodex überprüft der monatlich tagende Rat Beschwerden gegen ethische Verstöße in den Medien. Sieht der Medienrat eine Beschwerde als begründet an, ist das gerügte Medienunternehmen nach den Statuten verpflichtet, die Rüge des Medienrats zu publizieren. Kommt das aufgeforderte Medienunternehmen allerdings seiner Veröffentlichungspflicht nicht nach, bestehen keine Sanktionsmöglichkeiten. Der Betroffene ist in diesem Fall auf die allgemeinen Instrumente des Zivilrechts angewiesen. Bis zum Frühjahr 2002 ist die Selbstkontrolle durch den Medienrat im Wesentlichen von allen Medienunternehmen akzeptiert worden. Im Zeitraum 2000-2002 wurden beispielsweise bei etwa 20 - 30 Beschwerden jährlich in ungefähr einem Drittel bis 50 Prozent der Fälle ein Verstoß gegen die journalistische Ethik bejaht. Nach Meinungsverschiedenheiten 11
Über Mitglieder, Statut, Verfahrensordnung, Ethikkodex und eingelegte Beschwerden informieren jeweils die Internetseite des ASN - www.asn.org.ee - sowie im Hinblick auf den Presserat die Internetseite des Verbands der Zeitungsverleger www.eall.ee.
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und wiederholten Vorwürfen, dass einzelne Presseunternehmen, deren Berichterstattung beanstandet wurde, ihrer Publikationspflicht nicht nachgekommen seien, hat der Verband der Zeitungsverleger seine Mitarbeit im Medienrat aufgekündigt und ein eigenständiges Gremium, den Presserat gebildet, womit nun, da auch der Medienrat die Fortsetzung seiner Tätigkeit beschlossen hat, grundsätzlich zwei Organe bestehen, die sich die freiwillige Kontrolle im Medienbereich zur Aufgabe machen. Da sich die meisten Beschwerden bisher aber gegen Veröffentlichungen in den Printmedien und mithin in erster Linie gegen Mitglieder des Verbands der Zeitungsverleger richten, hat sich der Schwerpunkt der freiwilligen Selbstkontrolle zum Presserat verlagert. 12 Ende Dezember 2002 hat der Presserat darüber hinaus beschlossen, sich künftig auch mit Beschwerden gegen Internetportale zu befassen. Die ersten Anbieter haben sich im Sommer 2003 im Wege der Vereinbarung bereit erklärt, sich dem Verfahren vor dem Presserat zu unterwerfen.
4. Medienrechtliche Informationsansprüche Damit die Massenmedien ihrer Aufgabe, über Vorgänge in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu berichten, gerecht werden können, benötigen sie grundsätzlich das Recht, die erforderlichen Informationen an der Quelle in Erfahrung zu bringen. Die Normierung spezieller medienrechtlicher Informationsansprüche ist jedoch in Estland keine vordringliche Angelegenheit, da schon jeder Bürger über recht weitreichende Informations- und Auskunftsansprüche verfugt, auf die sich natürlich auch die Journalisten berufen können. Insofern folgt Estland offenbar dem skandinavischen Vorbild einer grundsätzlich transparenten Staatsverwaltung. Die allgemeinen gesetzlichen Grundlagen für Auskunftsansprüche beinhaltet zunächst das Gesetz über öffentliche Informationen, das die Auskunftspflicht des Art. 44 Absatz 2 der estnischen Verfassung konkretisiert. Staatliche und kommunale Behörden werden nach dieser Regelung zudem verpflichtet, Informationen über diejenigen Ereignisse und Fakten, bei denen ein öffentliches Interesse zu vermuten ist, von sich aus an Rundfunk- und Presseuriternehmen zwecks Veröffentlichung weiterzuleiten. 13 Die Informations- und Auskunftsansprüche des Individuums sind dabei nicht allein auf staatliche und 12 Insgesamt wurden in den 1 Vi Jahren bis Ende 2003 beim Presserat 47 Beschwerden eingelegt, während sich die Zahl der Beschwerden beim Medienrat im Jahr 2003 auf 15 reduziert hat. Von den 33 im Jahr 2003 vom Presserat abgeschlossenen Beschwerdeverfahren wurde in 8 Fällen ein Verstoß gegen die journalistische Ethik bejaht, in 14 Fällen die Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen. In 11 Fällen ist die Beschwerde nach einer gütlichen Einigung zwischen Beschwerdeführer und Gegner zurückgenommen worden, Angaben des Verbands der Zeitungsverleger (Anm. 11 ). 13 § 30 Abs. 4 des Gesetzes vom 15. Nov. 2000 i. d. F. vom 12. Febr. 2003 (RT I 2000 Nr. 92 Art. 597, 2003 Nr. 26 Art. 158).
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kommunale Einrichtungen beschränkt. Unter den gesetzlich genannten Voraussetzungen kann sich der Anspruch auch gegen Privatpersonen richten. Informationsansprüche bestehen nach dieser allgemeinen Regelung gegenüber Privatpersonen, die mit der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben betraut wurden, gegenüber marktbeherrschenden Unternehmen sowie hinsichtlich der Verwendung öffentlicher Mittel des weiteren auch gegenüber Handelsgesellschaften, an denen der Staat oder eine Kommune beteiligt ist. Weitere Informationsansprüche sind in den die jeweilige Materie regelnden Spezialgesetzen vorgesehen, zu denen vor allem das Umweltregistergesetz 14 gehört, das dem Staat umfangreiche Verpflichtungen zur Veröffentlichung von Umweltdaten auferlegt.
5. Schutz vor staatlicher Einflussnahme Wichtigstes Instrument zum Schutz vor staatlicher Einflussnahme ist das in der Verfassung verbriefte Zensurverbot (Art. 45 Absatz 2). Es ist mithin nicht gestattet, die Verbreitung von Meinungen und Informationen von einer Prüfung und Genehmigung abhängig zu machen. Eine weitere unabdingbare Voraussetzung, damit Medienunternehmen die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit wahren und die unentbehrlichen Informationsquellen insbesondere gegenüber staatlichem Zugriff schützen können, ist in vielen europäischen Staaten das den Journalisten in Ermittlungs- und Strafverfahren eingeräumte Zeugnisverweigerungsrecht. Denn ist die Vertraulichkeit zwischen Journalist und Informant nicht geschützt, wird die Beschaffung von Informationen wesentlich erschwert oder gar unmöglich, wenn ein Informant aus den unterschiedlichsten Gründen anonym bleiben möchte. Ein ausdrückliches Zeugnisverweigerungsrecht der Mitarbeiter von Medienunternehmen existiert aber in der estnischen Rechtsordnung bisher noch nicht. Im Jahr 2000 wurden allerdings spezielle Regelungen zum Schutz von Informanten in das Rundfunkgesetz aufgenommen. Gemäß § 7 dieses Gesetzes sind die Rundfunkanstalten nicht zur Offenlegung ihrer Informationsquellen verpflichtet. Darüber hinaus dürfen Angaben über ihre Informanten nicht ohne deren Einwilligung veröffentlicht werden. In Verbindung mit den Bestimmungen des Strafprozessgesetzbuchs steht den Mitarbeitern der Rundfunkunternehmen damit in Strafverfahren ein Zeugnisverweigerungsrecht zu. 15 Ob sich indes alle Journalisten und insbesondere die Mitarbeiter der Presseunternehmen ebenfalls auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen können oder dieses mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung zu verneinen ist, ist in Estland noch offen. In Deutschland wurde das Zeugnisverweigerungsrecht vom 14
§ 43 Abs. 1 Umweltregistergesetz vom 19. Juni 2002 (RT I 2002 Nr. 58 Art. 361). § 72 Abs. 1 lit. 4 Strafprozessgesetzbuch vom 12. Febr. 2003, RT I 2003 Nr. 27 Art. 166, wonach diejenigen, die durch Gesetz zur Wahrung eines Amts- oder Berufsgeheimnisses verpflichtet sind, ein Zeugnisverweigerungsrecht haben. 15
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Bundesverfassungsgericht unmittelbar aus der in der Verfassung verankerten Pressefreiheit hergeleitet. Da eine ausdrückliche gesetzliche Regelung fehlt, kann diese Frage letztlich nur vom Verfassungsaufsichtskollegium des estnischen Staatsgerichtshofs, in dessen Zuständigkeit die Entscheidung über Verfassungsfragen fällt, geklärt werden. In der Praxis der estnischen Gerichte hat das Zeugnisverweigerungsrecht von Journalisten bisher - soweit ersichtlich keine Rolle gespielt. Dennoch wäre im Interesse der Sicherung der Pressefreiheit eine Regelung zweckmäßig. Da das Zeugnisverweigerungsrecht des Journalisten ohne eine Absicherung des Redaktionsgeheimnisses durch Durchsuchungs- und Beschlagnahmeverbote, die ebenfalls in den Rechtsvorschriften bisher nicht vorgesehen sind, unvollständig bleibt, wäre auch hier eine Nachbesserung sinnvoll.
IV. Abwehrrechte und Rechtsschutz gegenüber den Medien Nach den Rechten, die den Mitarbeitern der Medienunternehmen zum Schutz ihrer Tätigkeiten eingeräumt sind, sollen nun im Folgenden auch die Rechte derjenigen, die durch die Berichterstattung in der Presse oder im Rundfunk beeinträchtigt wurden, Erwähnung finden. Abgesehen von der bereits angesprochenen Beschwerde beim Medien- oder Presserat kann sich der Betroffene mit den Mitteln des Zivilrechts zur Wehr setzen, wenn seine Ehre oder andere Persönlichkeitsrechte durch die Berichterstattung in den Medien beeinträchtigt wurden. Das Schuldrechtsgesetzbuch vom 26. September 2001 16 gewährt dem Geschädigten zunächst im Fall der Veröffentlichung unrichtiger Angaben wahlweise einen Gegendarstellungs- oder Berichtigungsanspruch (§ 1047 Abs. 4). Im Fall eines Rundfunkunternehmens ist ein Anspruch auf Gegendarstellung des Weiteren im Rundfimkgesetz vorgesehen. Dieser Anspruch setzt ebenfalls die Unrichtigkeit der veröffentlichten Tatsachen voraus; er ist innerhalb von 20 Tagen geltend zu machen und nach der Geltendmachung innerhalb von 20 Tagen zu veröffentlichen (§ 8 Rundfunkgesetz). Ein Schadensersatzanspruch wegen Rechtsverletzungen durch eine Medienberichterstattung kommt dagegen nach dem Schuldrechtsgesetzbuch nicht nur bei unrichtigen Tatsachenbehauptungen, sondern auch dann in Betracht, wenn die Ehre beispielsweise durch eine unangemessene Wertschätzung verletzt wurde (§§1043, 1045, 1046 Schuldrechtsgesetz). Dieser Anspruch ist nicht auf den Ersatz materieller Schäden begrenzt. Ersetzt wird grundsätzlich auch der immaterielle Schaden. Sind die Ehre oder sonstige Persönlichkeitsrechte verletzt worden, setzt ein Ersatz des immateriellen Schadens aber gemäß § 134 Abs. 2 Schuldrechtsgesetz zusätzlich voraus, dass der Ersatz des Schadens durch die Schwere der Verletzung und insbe-
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sondere infolge physischer oder psychischer Schmerzen gerechtfertigt wird. Hieran werden in der Gerichtspraxis recht strenge Anforderungen gestellt. Die Folge ist, dass Schmerzensgeldansprüche insbesondere von Personen, die vom Gericht als Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens qualifiziert werden, zumeist an diesem Erfordernis gescheitert sind, während dem Unterlassungsund/oder Richtigstellungsanspruch stattgegeben wurde. 17 Im Gegensatz zum zivilrechtlichen Ehrschutz, der mit der Novellierung des Schuldrechts ausgebaut wurde, ist der strafrechtliche Ehrschutz im Rahmen der Strafrechtsreform erheblich eingeschränkt und mit wenigen Ausnahmen inzwischen abgeschafft worden. Die Gründe sind wohl in mehreren Strafverfahren zu finden, die nach der Berichterstattung über Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gegen Journalisten eingeleitet wurden, teils auch zur Verurteilung führten und nicht nur von den betroffenen Medienunternehmen als Unterwanderung der Pressefreiheit durch eine zu weite Auslegung der Beleidigungs- und Verleumdungstatbestände kritisiert wurden. Besonderes Aufsehen hat in diesem Zusammenhang der Prozess gegen einen Journalisten der Tageszeitung Postimees erregt. Dieser hatte in seinem Bericht über ein Interview mit einem anderen Journalisten die langjährige Mitarbeiterin und zweite Ehefrau des Vorsitzenden der größten Oppositionspartei (Zentrumspartei) als „rongaema" (Rabenmutter) und „abielulöhjkuja" (Ehebrecherin) bezeichnet und war daraufhin vom Stadtgericht Tallinn wegen Beleidigung zu einer moderaten Geldstrafe verurteilt worden. Hiergegen gerichtete Rechtsmittel hatten keinen Erfolg. Nach Ansicht der estnischen Gerichte, die auch ein Sprachgutachten eingeholt hatten, sind diese Worte in der estnischen Sprache als in einer Weise verletzend und diffamierend zu bewerten, dass sie nicht mehr als vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt angesehen werden können. Auf den Wahrheitsgehalt komme es dabei gar nicht an. So habe der angeklagte Journalist in seinem Bericht durchaus offenbaren können, dass die Klägerin ihr Kind nicht aufgezogen sowie die erste Ehe ihres Ehemannes zerstört habe.18 Dieses Urteil hatte vor dem Europäischen Gerichtshof fur Menschenrechte in Straßburg Bestand. In Anbetracht des eingeholten Sprachgutachtens und der sorgfältigen Abwägung zwischen den widerstreitenden Grundrechten der Meinungs- und Pressefreiheit und des ebenfalls durch die estnische Verfassung geschützten Grund17
So beispielsweise im Fall der Klage des ehemaligen Kultur- und Bildungsministers Kreitzberg gegen die Zeitschrift Eesti Ekspress, Urt. des Zivilkollegiums des StGH vom 30. Okt. 1997, 2-1-123-97, im Fall der Direktorin des Menschenrechtsinformationszentrums Larissa Jakovleva gegen den Abgeordneten Nutt und die Tageszeitung Postimees, die den Beitrag des Abgeordneten veröffentlicht hatte; anders dagegen das Urt. des Zivilkollegiums v. 17. Okt. 2001, 2-1-105-01, das die Schadensersatz verneinende Entscheidung des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache zwecks Feststellung des immateriellen Schadens zurückverwiesen hat. 18
Vgl. das Urt. des Strafkollegiums des estnischen Strafgerichtshofs vom 26. Aug. 1997, 1-1-80-97.
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rechts auf Ehre und den guten Namen hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit im vorliegenden Fall verneint. 19 Eine Wiederholung einer Verurteilung unter ähnlichen Umständen ist in Estland indes trotz dieser Entscheidungen nicht zu erwarten. Im neuen Strafgesetzbuch vom 6. Juni 2001 20 hat das Parlament die allgemeinen Ehrschutzdelikte kurzerhand abgeschafft, so dass die Betroffenen seither insofern auf die Klage vor den Zivilgerichten verwiesen sind. Strafbar ist nach dem neuen Strafgesetzbuch nur noch die Beleidigung eines Hoheitsträger oder Ordnungshüters, des Gerichts oder Richters, eines Diplomaten oder dessen Familienangehörigen.
V. Schlussbemerkungen Die Beispiele zeigen, dass die Meinungsfreiheit in Estland nicht nur in der Verfassung verankert, durch die Medienordnung abgesichert, sondern auch in der alltäglichen Praxis heute eine Selbstverständlichkeit ist. Mögen auch einzelne Ergänzungen des Medienrechts sowie allgemein im Medienbereich hinsichtlich der Qualität der Berichterstattung und der journalistischen Ausbildung Verbesserungen auch in der Medienwirklichkeit noch wünschenswert sein. Betrachtet man die Medienordnung, wäre es sinnvoll über eine gesetzliche Normierung zumindest einzelner grundlegender Elemente des Presserechts - wie insbesondere der Wahrheits- und Sorgfaltspflichten des Journalisten einerseits, die Absicherung des Redaktionsgeheimnisses andererseits - sowie vielleicht auch über Vorkehrungen zur Sicherung der Meinungsvielfalt und Verhinderung von Meinungsmacht nachzudenken. Ob indes medienspezifische Regelungen im Wettbewerbsrecht - wie beispielsweise in Ungarn, wo, um medienübergreifenden Meinungskartellen vorzubeugen, eine gleichzeitige Mehrheitsbeteiligung an Bildschirm- und Printmedien verboten ist, auch in Estland sinnvoll wären, ist die Frage. Zu bedenken ist hier ebenfalls, dass die Unternehmenskonzentration notwendig sein kann, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhalten, da nur wirtschaftlich starke Unternehmen auf Dauer ihre Unabhängigkeit erhalten können. Letzteres stellt aber gerade im Medienbereich kleine Länder vor erhebliche Probleme. Solange indes auf dem kleinen estnischen Medienmarkt neben dem öffentlichen Fernsehen und Radio private estnische Medienunternehmen
19 20
Tammer v. Estonia, Urt. vom 6. Febr. 2001. RT I 2002 Nr. 86 Art. 504.
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und darüber hinaus gleich mehrere ausländische Medienunternehmen bzw. deren Töchter miteinander im Wettstreit liegen, ist die Gefahr der Bildung von Meinungskartellen aber hier wohl allenfalls als gering einzuschätzen.
Teil I I I : Alte und neue Herausforderungen der Medienfreiheit. Alte und neue gesetzgeberische Reaktionen
Das Verhältnis von Macht und Medien in der Russischen Föderation Margareta Mommsen
I. Einführende Betrachtungen Das Verhältnis zwischen Massenmedien und staatlicher Autorität hat in den zwölf Jahren seit Bestehen der Russischen Föderation ganz unterschiedliche Entwicklungsphasen durchlaufen. Am Ende der UdSSR hatte Gorbaöevs Politik der Glasnost' und Perestrojka erstmals die Weichen für die Entfaltung und Behauptung einer kritischen öffentlichen Meinung gestellt. Für das postsowjetische Russland erwiesen sich die in der Verfassung vom Dezember 1993 verankerten Prinzipien der Meinungsfreiheit, des Zensurverbots und der Freiheit der Masseninformation (Art. 29, Abs. 1-5) von grundsätzlicher Bedeutung. Die rasch einsetzende Kommerzialisierung und Privatisierung der Medien boten dem russischen Journalismus weitere Chancen zur Emanzipation von staatlicher Aufsicht. Allerdings führte dies auch dazu, dass sich die neuen mächtigen finanz-industriellen Gruppen auf dem Medienmarkt breit machten und auf die politische Ausrichtung von Presse und Fernsehen Einfluss nahmen. Dieser Faktor und die staatliche Informations- und Medienpolitik bewirkten in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, dass sich erneut bestimmte Formen der Gängelung der Medien verbreiteten. 1 Vor allem gelangte die regionale und lokale Presse immer stärker unter die Kontrolle der örtlichen Behörden.2 Ungeachtet solcher 1
Anja Kreisel·. Zwischen Information und Macht: Die russische Medienlandschaft, in: Hans-Hermann Höhmann/Hans-Henning Schröder (Hrsg.): Russland unter neuer Führung, Münster 2001, S. 42. 2 Peter Hübner. Russland: Ein Jahrzehnt nach der sowjetischen Informationsdiktatur, in: Berichte des BlOst Nr. 2/2000, S. 16 f f
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Tendenzen besaßen die genannten Verfassungsnormen zur Medienfreiheit und Meinungsvielfalt während der Ära El'cin durchaus gute Entwicklungschancen. Im Unterschied dazu verloren sie seit dem Beginn der Präsidentschaft Putins im Frühjahr 2000 stetig an Gewicht. Es stellt sich die Frage, ob die Einschränkung der Medienfreiheit ein typischer Ausdruck der „gelenkten Demokratie" ist, die sich nach Auffassung vieler Kommentatoren während der Amtszeit Vladimir Putins in Russland herausgebildet hat. In diesem Beitrag soll diesem Thema unter Berücksichtigung der weiterreichenden Frage nachgegangen werden, inwieweit der Grad der heutigen Medienfreiheit Aufschluss über die allgemeinen Fortschritte respektive Rückschritte Russlands auf dem Weg der Demokratisierung geben kann. Zunächst sollen die tatsächlichen Einschränkungen der Meinungsvielfalt und der Medienfreiheit in einem kursorischen Überblick zur Darstellung gebracht werden. In einem zweiten Schritt werden aus demokratietheoretischer Sicht Antworten auf die Frage gesucht, in welcher Phase der Systemtransformation sich Russland befindet und welche Defizite für die Wirkungsweise der Medien von diesem Blickwinkel her erkennbar werden. Um den Standort des russischen Übergangsregimes zwischen Autoritarismus und demokratischer Konsolidierung zu ermitteln, können die von der Transitionswissenschaft erarbeiteten Hypothesen und Kriterien herangezogen werden. Zum Verständnis des Verhältnisses von Macht und Medien ist vor allem der Blick auf den Grad der Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur unter den Führungseliten und den Bürgern zu richten. Zu ihren Grundvoraussetzungen gehört das vorbehaltlose Eintreten für einen offenen politischen Wettbewerb und folglich für eine unbeschränkte Meinungs- und Medienfreiheit. ' Einen wichtigen Einblick in die politische Kultur der Träger staatlicher Führungspositionen bieten die von diesen selbst bekundeten Überzeugungen, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen. Von besonderem Interesse erscheint das jeweilige Verständnis der Verfassung, die Einstellung zur Meinungsfreiheit, zur Gewaltenteilung und zu Parteien und Verbänden als Trägern der gesellschaftlichen Willensbildung. Zu prüfen ist daher, ob und inwieweit sich in Russland bestimmte Missverständnisse über diese Grundvoraussetzungen eines demokratischen Systems eingeschlichen haben. Zugleich sollen eklatante Widersprüche zwischen dem Verfassungsauftrag und der Verfassungswirklichkeit herausgestellt und Fehlentwicklungen aufgezeigt werden, die sich aus einem unvollständigen Demokratieverständnis ergeben oder vorwiegend Ergebnis bloßer politischer Nützlichkeitskalküle sind.
3
Robert Dahl: Polyarchie. Participation and Opposition, New Haven u.a. 1971, S. 3.
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II. Einschränkungen der Meinungsfreiheit unter Putin eine Entwicklungsbilanz Schon bald nach Putins Amtsantritt im Mai 2000 wurde das Bestreben des neuen Präsidenten sichtbar, die Macht der sogenannten Präsidentenvertikale zu stärken und alle politischen wie gesellschaftlichen Gegengewichte zu schwächen. Unter dem Begriff der Präsidentenvertikale ist die hierarchisch aufgebaute bürokratische Machtpyramide zu verstehen, die sich von der Moskauer Zentralgewalt über alle weiteren nationalen und regionalen Herrschaftsebenen erstreckt. Zur Stärkung der Präsidentenvertikale wurden unter dem Schlagwort der „Reform der Macht" zu allererst die regionalen Oberhäupter, die unter El'cin ein hohes Maß an Unabhängigkeit erreicht hatten, wieder der Vormundschaft des Zentrums unterstellt. 4 Zu diesem Zweck wurde die Machtstellung des Föderationsrates, der sich unter El'cin als eine wichtige Vetomacht profiliert hatte, drastisch eingeschränkt. Zu den Neuerungen gehörte, dass die zweite Parlamentskammer nicht mehr ex officio aus den Häuptern der regionalen Legislative und Exekutive bestand, sondern nur noch aus deren Delegierten. Außerdem wurde durch die Berufung von sieben bevollmächtigten Vertretern des Präsidenten die Moskauer Kontrolle über die Provinzfürsten deutlich erhöht. Parallel zu Putins „Blitzkrieg" gegen die Regionen begann der Angriff auf die Bastionen des Pluralismus der Massenmedien und damit auf das für jede Demokratie so hohe Gut der Meinungsvielfalt. Erstes Opfer wurde das Medienimperium „Most'", das sich unter der Leitung des „Oligarchen" Vladimir Gusinskij befand. 5 Gusinskij selbst wurde der Steuerhinterziehung beschuldigt und festgenommen. 6 Ähnliches drohte bald auch Boris Beresovskij, einem weiteren Medienmagnaten, der über die Aktienmehrheit bei dem Fernsehkanal ORT verfügte. 7 Letztlich wurden beide Medienmagnaten ins Ausland abgedrängt. In seiner ersten Botschaft an das Parlament machte Putin im Frühsommer 2000 klar, dass er die von privater Hand finanzierten Medien als „Mittel der Massendesinformation" und sogar als „Instrumente zur Bekämpfung des Staates" betrachtete und darin einen maßgeblichen Grund für deren Vernichtung erblickte. Gusinskijs Fernsehkanal NTV und die von der Mostgruppe betriebenen Printmedien hatten generell ein eher regierungskritisches Verhalten an den Tag gelegt.
4
Margarete Wiest: Rußlands schwacher Föderalismus und Parlamentarismus. Der Föderationsrat, Münster-Hamburg-London 2003, S. 323 ff. 5
Als „Oligarchen" wurden seit Mitte der neunziger Jahre die Leiter der großen Finanz- und Industrieimperien bezeichnet, die es verstanden hatten, große Anteile aus der Privatisierung der sowjetischen Großunternehmen zu erwerben. 6 7
Avtandil Tsuladse: BolSaja manipulativnaja igra, Moskau 2000, S. 295 f.
Ivan Zasurskij: Rekonstrukcija Rossii: Mass-Media i Politika, Moskau 2001, S. 220 ff.
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Der Kanal NTV hatte auch nicht die Kandidatur Putins bei den Präsidentschaftswahlen favorisiert. Beresovskij war bald nach Putins Wahl als dessen Kritiker in der Öffentlichkeit hervorgetreten. Vieles sprach dafür, dass der Präsident deshalb daran interessiert war, gerade diese Quellen öffentlicher Kritik einzudämmen. Da die beiden „Oligarchen" Gusinskij und Beresovskij in der Bevölkerung wenig beliebt waren, konnte das Vorgehen gegen die beiden aber auch als populistisches Handlungsmotiv der neuen Kremlfiihrung und als Vorwand zu dem Zweck gedeutet werden, wieder ein staatliches Monopol über die Medien zu errichten. 8 Tatsächlich zeigte der neue Präsident von Beginn seiner Amtsübernahme an deutliches Missvergnügen gegenüber jedweder öffentlicher Kritik an seiner Person und seiner Amtsführung. Vorbehalte gegenüber einer unkontrollierten Medienberichterstattung waren wohl auch Ausfluss dieser Einstellung. Nicht wenige Kommentatoren führten Putins allergische Reaktionen auf öffentliche Kritik auf seine mentalen Prägungen während seiner siebzehnjährigen Arbeit im sowjetischen Geheimdienst KGB zurück. Zu der besonderen politischen Kultur dieser Institution gehörte bekanntlich strikte Geheimhaltung, zu der ihre Angehörigen verpflichtet wurden. Die Schließung der privaten Fernsehkanäle folgte dem Gesetz der Serie. Förmlich kam das Aus für den Sender NTV und für die Presseprodukte von Mediamost im Frühjahr 2001. 9 Das gleiche Schicksal ereilte nach dem Fall dieser Bastion im Januar 2002 auch der von Beresovskij betriebene private Fernsehkanal TV6. Den Abschluss der vernichtenden Schläge gegen unabhängige gesellschaftliche Fernsehanstalten bildete der Untergang des Kanals TVS im Juni 2003. 10 Auffällig war, dass dabei jeweils ähnliche Muster „der Übernahme" bzw. der Schließung ins Spiel kamen. So wurden zunächst finanzielle Schwierigkeiten der Sender geltend gemacht; Gerichtsurteile bestätigten dies. Das Verdikt zur Schließung blieb nicht aus. Die tatsächlich auch bei den staatlichen Fernsehkanälen bestehenden Finanzprobleme blieben demgegenüber außer Betracht. Bemerkenswert war zugleich, dass die jeweils an den Aktienpaketen dieser unabhängigen Sender beteiligten namhaften Wirtschaftsmagnaten von staatlicher Seite ausgebootet wurden und diese damit ihren Einfluss auf das Personal und auf die Ausrichtung der Fernsehprogramme verloren. In der transitionswissenschaftlichen Literatur werden derartige staatliche Sanktionen gegenüber privaten Fernsehkanälen als eine typische Form des „postcensorship" gedeutet. Patrick O'Neil hat diese Rückfälle in autoritäre Herrschaftsformen in
8
Margareta Mommsen: Wer herrscht in Russland? Der Kreml und die Schatten der Macht, München 2003, S. 125 f. 9 Barbara Oertel: Viel Presse - wenig Freiheit. Medien und Macht in Russland, der Ukraine und Belarus, in: Osteuropa 1/2003, S. 27 f. 10 Arina Borodina/Ilja S. 11-15.
Bulavinov: Pustaja Sestaja, in: Kommersant Vlast 22.6.2003,
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mehreren postsozialistischen Staaten beobachtet. Dem Autor zufolge sei dabei die Ausübung ökonomischen Drucks durch Sanktionen, die Anwendung von Doppelstandards bei Lizenzvergaben und die Nutzbarmachung der Judikative charakteristisch. 11 Die Vorgänge um die Einstellung der russischen Sender fugen sich genau in dieses Muster des „postcensorship". In der Ausbootung der Wirtschafitsmagnaten aus den großen russischen Fernsehbetrieben konnte man auch eine konsequente Umsetzung des Prinzips des „gleichen Abstands" aller Oligarchen von der Politik sehen, dem sich Vladimir Putin bereits in den Präsidentschaftswahlen im März 2000 verschrieben hatte.12 Diese Stoßrichtung wurde im Zusammenhang mit der Schließung des Senders TV6 besonders deutlich. Präsident Putin erklärte bei der Gelegenheit: „Wenn ein Organ oder ein Massenmedium ausschließlich den Interessen von Oligarchen dient, deren Vermögen von obskuren Operationen herrührt, hat das nichts mehr mit Pressefreiheit zu tun." 13 Letztlich bestätigte sich in der Politik des Kremls gegenüber den privaten Fernsehsendern, dass das schon im Sommer 2000 in der Doktrin zur „Informationssicherheit" festgelegte Ziel, die „staatlichen Massenmedien zu stärken", keineswegs ein bloßer Papiertiger war. 14 Aufgrund des Mitte 2003 vollzogenen Übergangs aller nationalen Fernsehkanäle in staatliche Hand war das kostbare Gut der Meinungsfreiheit in grundsätzlicher Weise bedroht. Nunmehr war die gesellschaftliche Kontrolle der Medien über die Politik klar beeinträchtigt und die Meinungsvielfalt drastisch reduziert. Die zivilgesellschaftliche Funktion der Medien hatte schweren Schaden genommen. Es fruchtete wenig, dass sich die betroffenen Journalisten gegen die Übernahme von NTV im Frühjahr 2001 durch den staatlichen Energiegiganten Gasprom heftig wehrten. Der Aufschrei der Journalisten wurde von einigen Demonstrationen begleitet. Diese gesellschaftlichen Proteste zur Abwehr der Übernahme und zur Unterstützung der Journalisten hielten sich allerdings in einem eher überschaubaren Rahmen und verstummten bald wieder. Der Widerstand gegen die Schließung von TV6 blieb Anfang des Jahres 2002 nur noch einer kleinen Schar von Aufrechten überlassen. Das Aus für den Sender TVS fand im Juni 2003 einen noch schwächeren kritischen Widerhall. Während der Generaldirektor von Media-Socium das Abschalten des Kanals als „äußerste Gesetzlosigkeit" bezeichnete, führte der Minister für Massenkommu-
11 Patrick Η. Ο'Neil: Democratization and Mass Communication, in: ders. (Hrsg.): Communicating Democracy. The Media and Political Transitions, Boulder 1998, S. 9. 12
Margareta Mommsen, Wer herrscht in Russland, a.a.O., S. 125.
13
Reporters sans frontières : la liberté de la presse dans le monde, Russie - Rapport annuel 2002, 14 Anita Bister. Handlungsspielräume der zivilen Gesellschaft in Russland, in: Gerhard Mangott (Hrsg.): Zur Demokratisierung Russlands, Baden-Baden 2002, S. 151 f.
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nikation, Michail Lesin, das aus seiner Sicht unabwendbare Ende des Senders auf mehrere Faktoren zurück. Nicht zuletzt habe der Sender seine „soziale Funktion" nicht erfüllt, die nach Meinung des Ministers ein Sportkanal weitaus besser gewährleisten könne. 15 Lesin spezifizierte freilich nicht, worin die „soziale Funktion" des Senders hätte bestehen sollen. Mit dem Aus fur TVS hat der russische Staat jedenfalls das totale Monopol über die nationalen Sender durchgesetzt, wie Aleksej Venediktov, der Chefredakteur des liberalen und regierungskritischen Radiosenders „Écho Moskvy" zu Recht feststellte. 16 Auffällig erschien, dass selbst die an TVS beteiligten Vertreter des Big Buisiness, die Gruppe um den Leiter des Stromgiganten RAO EES, Anatolij Cubajs, und die Gruppe um den Aluminiumproduzenten Oleg Deripaska, keine erkennbaren Anstrengungen zur Rettung des Senders machten. Deshalb sah der frühere Chefredakteur der Nezavisimaja Gazeta, Vitalij Tretjakov, in der Schließung von TVS nur das letzte Gefecht in dem großen Medienkrieg, der 1999 eingesetzt habe. Die Verliererseite - die „Oligarchen" zusammen mit den Journalisten - sei immer stärker ins Hintertreffen geraten; die verbliebenen „Oligarchen" hätten selbst keine gewinnbringenden Ziele mehr in einem fortgesetzten gemeinsamen Kampf gegen den staatlichen Druck gesehen. Das sinkende Interesse der Öffentlichkeit an einem unabhängigen Fernsehkanal führte Tretjakov darauf zurück, dass „die Meinungsfreiheit nicht mehr den überragenden existentiellen Wert verkörperte, als den ihn viele Menschen Anfang der neunziger Jahre betrachtet hatten". 17 Zu dieser pessimistischen Einschätzung über den Stellenwert der Meinungsfreiheit in der politischen Kultur der Bürger passen auch die Ergebnisse einer Meinungsumfrage, die am Vorabend des Kampfes um die Parlamentswahlen im September 2003 publik wurden. Der Umfrage zufolge schenkte eine Mehrheit von nahezu zwei Dritteln den Informationen der staatlichen Fernsehsender ihr Vertrauen. Die Befragten wollten sich im bevorstehenden Kampf um die Dumawahlen in erster Linie an den staatlichen Sendern orientieren. 18 In einer weiteren Umfrage wurde ermittelt, dass 57% der Befragten eine Zensur der Medien sogar befürworteten. 19 Aus diesen Angaben folgerten Soziologen, dass sowjetische Reflexe in den Köpfen der Menschen lebendig geblieben waren. Ohne jeden Zweifel boten sich die nationalen Fernsehkanäle nicht mehr als ein Medium dazu an, die demokratische Selbstreflexion der Gesellschaft zu fordern oder gar
15
Nezavisimaja Gazeta vom 13.6.2003.
16
Ebenda.
17
Rossijskaja Gazeta vom 26.6.2003.
18
Vedomosti vom 11.9.2003.
19
Carnegie Endowment for International Peace,