John H. Herz: Leben und Denken zwischen Idealismus und Realismus, Deutschland und Amerika [1 ed.] 9783428533565, 9783428133567

Die intellektuelle Biographie widmet sich Leben und Werk des deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftlers John H. Herz

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German Pages 336 [337] Year 2011

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John H. Herz: Leben und Denken zwischen Idealismus und Realismus, Deutschland und Amerika [1 ed.]
 9783428533565, 9783428133567

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Zeitgeschichtliche Forschungen

John H. Herz Leben und Denken zwischen Idealismus und Realismus, Deutschland und Amerika

Jana Puglierin

Duncker & Humblot · Berlin

42

JANA PUGLIERIN

John H. Herz

Zeitgeschichtliche Forschungen Band 42

John H. Herz Leben und Denken zwischen Idealismus und Realismus, Deutschland und Amerika

Von Jana Puglierin

Duncker & Humblot · Berlin

Die Philosophische Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2009 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild: John H. Herz, um 1960 (Foto: Privatbesitz) Alle Rechte vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1438-2326 ISBN 978-3-428-13356-7 (Print) ISBN 978-3-428-53356-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83356-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 * ∞

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Das vorliegende Buch entspricht meiner Dissertation, die im Sommer 2009 von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität angenommen wurde. Ohne die großartige Unterstützung seines Protagonisten hätte es in dieser Form nicht geschrieben werden können: John H. Herz hat mein Projekt bis zu seinem Tod im Dezember 2005 enthusiastisch begleitet, viele Türen für mich geöffnet und mir in zahlreichen Interviews Rede und Antwort gestanden. Für die herzliche und engagierte Betreuung meiner Dissertation danke ich Prof. Dr. Christian Hacke, der auch in schwierigen Momenten den Glauben an mich und diese Arbeit nicht verloren hat. Prof. Dr. Wolfram Hilz danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und die gute Zusammenarbeit am Institut. Für die freundliche Leitung der Prüfungskommission und seine Unterstützung danke ich Priv.-Doz. Dr. Volker Kronenberg. Meine Freunde und Kollegen am Lehrstuhl für die Wissenschaft von der Politik und Zeitgeschichte haben viel zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen. Ich bedanke mich bei Dr. Katrin Winter, Ingo Büchler, Hans-Christian Crueger und Dr. Giulia Prati, Gabriele von Hagen und Hannelore Schmidt. Sie alle haben die Zusammenarbeit jeden Tag zu einem großen Vergnügen gemacht und ich habe viel von ihnen lernen können – auch jenseits des Akademischen. Bedanken möchte ich mich insbesondere und von Herzen bei Dr. Patrick Keller: Ohne seine wohltuende Munterkeit, seine Loyalität und Kollegialität sowie seine beständige Freundschaft wäre mein Leben drastisch ärmer. Viel von seiner Klugheit floss in die nachfolgenden Seiten ein. Besonderer Dank geht auch an Prof. Dr. Ken Booth – academic mentor and living inspiration. Stephen Herz sowie Herz’ engste Freunde Marion Thimm und Prof. Dr. Tom Karis halfen mir, den Menschen hinter dem Werk besser kennen und verstehen zu lernen. Prof. Dr. Kenneth N. Waltz, Prof. Dr. Richard Ned Lebow, Prof. Dr. George Schwab und Prof. Dr. Nicholas J. Wheeler haben sich viel Zeit genommen, meine Fragen zu beantworten und damit erheblich zu meinem Verständnis von Herz’ theoretischem Ansatz beigetragen.

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Vorwort

Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst danke ich für die Finanzierung eines Forschungsaufenthaltes in den USA im Frühjahr 2007. Prof. Dr. John Spalek bot mir während dieser Zeit ein Zuhause und ich denke sehr gerne an unsere gemeinsamen Wochen zurück. Ich danke dem deutschen Exilarchiv in Frankfurt, dem Leo Baeck Institute in New York sowie insbesondere den großartigen Mitarbeitern der German and Jewish Intellectual Émigré Collection an der Universität von Albany. Es bleibt der Dank an die mir liebsten Menschen: Emil und Richard haben die Endphase meiner Dissertation ganz erheblich beschleunigt und dafür gesorgt, dass ich endlich dort angekommen bin, wo ich immer sein wollte. Sie sind die Freude meiner Tage. Meinen Eltern, die konkret am wenigsten zu dieser Arbeit beitragen konnten, verdanke ich am meisten; ihnen möchte ich sie widmen: Der Dank, den ich Ihnen schulde, liegt jenseits dessen, was sich mit Büchern ausgleichen und mit Wörtern zum Ausdruck bringen lässt. Berlin, im Januar 2011

Jana Puglierin

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Relevanz, Ziel und Methode der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 9 19 21 24

B. Ein Weltbild entsteht: Kindheit und Jugend (1908–1929) . . . . . . . . . . . . . .

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C. Die rechtswissenschaftlichen Grundlagen des Herzschen Denkens (1929–1931) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kelsens Lehre im Spiegel der Weimarer Staatslehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die „Reine Rechtslehre“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Herz’ Auseinandersetzung mit Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Identität des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Modifikation der „Reinen Rechtslehre“ durch die Ontologie Nicolai Hartmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Trennung von Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Völkerrecht als Ordnungsinstrument internationaler Beziehungen?. . III. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Wandern zwischen den Welten (1931–1952). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Eine Welt geht unter (1931–1935) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Weg ins Exil: Genf (1935–1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. „Becoming an American“ (1938–1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ankunft in der neuen Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Im intellektuellen Paradies von Princeton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutsche und amerikanische (Wissenschafts-)Welten . . . . . . . . . . . b) Hinwendung zum Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Machtpolitik und neue Weltordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vita Contemplativa und Vita Activa in Washington (1941–1952) . . . . . . 1. Ein Weißer unter Schwarzen: Howard University . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ein „Enemy Alien“ im Krieg gegen Deutschland: Office for Strategic Services . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ein Ankläger im eigenen Land: Nürnberger Prozesse . . . . . . . . . . . . . V. Zweierlei Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 36 36 43 48 49 54 57 60 67 71 71 74 86 86 90 95 107 115 128 129 133 141 145 151

8

Inhaltsverzeichnis

E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Wissenschaftler als Korrektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kernthesen von Political Realism and Political Idealism . . . . . . . . . . . . . . 1. Psychologische Grundlagen und Idealtypen politischen Handelns . . . a) Das „Sicherheitsdilemma“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Realismus und Idealismus als „Idealtypen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Konflikt zwischen Realismus und Idealismus auf internationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vom Sein zum Sollen – Theorie und Praxis eines realisierbaren Ideals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Wedding of Paradoxes“: Zur Konstruktion eines idealistischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Realliberalismus in den Internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . III. „Sicherheitsdilemma“ und „Realliberalismus“ in der Rezeption . . . . . . . . IV. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Vom „Realliberalismus“ zum „Universalismus“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. „Territorialität“ als zentraler Bestimmungsfaktor des Westfälischen Staatensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wandel der Ausgangslage durch Atomwaffen und Bipolarität . . . . . . . . . III. Das Sicherheitsdilemma im Atomzeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Eine neue Theorie der Internationalen Beziehungen für das Atomzeitalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Unanwendbarkeit klassischer Analysekategorien im Atomzeitalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Zweiteilung des realisierbaren Ideals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entwurf einer „Stillhalteaktion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Universalismus“ als „Überlebenstheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. „The Territorial State Revisited“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Die Wissenschaft vom Überleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Persönliches Leben und Überleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Internationale Politik im Technologiezeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wahrnehmung, Weltbilder und „Survival Research“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

154 157 159 159 159 167 171 179 179 185 189 204 208 209 212 220 222 224 226 226 230 239 242 251 252 258 265 274

H. John Herz und die „Zeitenwende“ von 1989/90 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 I.

Schlussbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334

A. Einleitung I. Relevanz, Ziel und Methode der Arbeit Im Jahr 1950 erschien in der amerikanischen Zeitschrift World Poltitics ein Aufsatz mit dem Titel „Idealist Internationalism and the Security Dilemma“1, der den Begriff des „Sicherheitsdilemmas“ erstmals in den Sprachgebrauch der Internationalen Beziehungen einführte.2 In „bislang unübertroffener Klarheit“3 wurden hier Annahmen über die Struktur des internationalen Systems und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Sicherheit von Staaten formuliert. Mittlerweile gehört das „Sicherheitsdilemma“ zum Grundinventar realistischen Denkens. Sein Schöpfer jedoch, der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler John H. Herz, ist in den letzten Jahrzehnten weitgehend aus dem Gedächtnis verschwunden. Obwohl er mancherorts noch heute als „einer der berühmtesten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Internationalen Politik“4 gilt, verblieben sein Leben und Denken bislang weitgehend im Dunkeln. Während sein Zeitgenosse und Weggefährte Hans J. Morgenthau seit einiger Zeit vermehrt das Interesse der Forschung auf sich gezogen hat und die Ursprünge und die Entwicklung seines Werks mittlerweile sehr gut erschlossen sind,5 wurde Herz diese Aufmerksamkeit bisher nicht zu Teil. Die folgende Arbeit möchte diese Lücke schließen. Das Erkenntnisinteresse gilt dabei Mensch und Werk gleichermaßen, es richtet sich sowohl auf die persönliche Gedanken- und Erlebenswelt

1 John H. Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, in: World Politics, Vol. 2, No. 2, 1950, S. 157–180. 2 Wenn in dieser Arbeit von Internationalen Beziehungen die Rede ist, dann ist die akademische Disziplin gemeint (in englischsprachigen Raum International Relations). Ist von dem Untersuchungsgegenstand der Disziplin die Rede, wird der (kleingeschriebene) Begriff der internationalen Beziehungen verwendet. 3 Andreas Jacobs, Realismus, in: Siegfried Schieder/Manuela Spindler (Hrsg.): Theorien der Internationalen Beziehungen, 2. Auflage, Opladen 2006, S. 39–63, S. 55. 4 Ernst-Otto Czempiel über John H. Herz im Vorwort zu John H. Herz: Nachdenken über mein Jahrhundert, HSFK-Standpunkte, Nr. 8, 1999, S. 1. 5 Pionierarbeit leistete die Dissertation von Christoph Frei, Hans J. Morgenthau. Eine intellektuelle Biographie, 2. Auflage, Bern, Stuttgart, Wien 1994. Siehe auch Christoph Rohde: Hans J. Morgenthau und der weltpolitische Realismus, Wiesbaden 2004.

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A. Einleitung

des Mannes als auch auf die Erschließung seiner Schriften im zeitgenössischen Kontext.6 Als Hans Hermann Herz 1908 in Düsseldorf geboren, wuchs er als Deutscher jüdischen Glaubens in einer assimilierten bürgerlichen Familie auf. Im vornazistischen Deutschland studierte er Rechtswissenschaft mit dem Schwerpunkt Staats- und Völkerrecht und promovierte 1931 bei Hans Kelsen in Köln. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten zwang ihn 1935 in die Emigration. Zunächst lebte er in der Schweiz, wo er sich am Genfer Institut des Hautes Études Internationales (HEI) auf das Studium der Internationalen Beziehungen spezialisierte. 1938 wanderte er in die Vereinigten Staaten aus, wurde Forschungsassistent am „Institute for Advanced Study“ in Princeton und lehrte ab 1941 an der Howard University in Washington. Während des Krieges arbeitete er im Office of Strategic Services (OSS) und wirkte gemeinsam mit Otto Kirchheimer, Herbert Marcuse und Franz L. Neumann im amerikanischen Staatsdienst an der Ausarbeitung der amerikanischen Besatzungspolitik für ein besiegtes Deutschland mit. 1945 kam er als Berater des amerikanischen Anklägers im Hauptkriegsverbrecherprozess nach Nürnberg. Von 1952 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1979 lehrte er am City College und der City University of New York. Am 26. Dezember 2005 verstarb Herz in Scarsdale, NY. Mit der Veröffentlichung seines grundlegenden Artikels „Rise and Demise of the Territorial State“7 und dem Erscheinen seines Buches International Politics in the Atomic Age8 wurde er zu einem führenden amerikanischen Gelehrten seiner Zeit. Seine Veröffentlichungen wurden zu Schlüsseltexten der „First Great Debate“, wie diejenige Auseinandersetzung zwischen den Idealtypen Realismus und Idealismus gemeinhin bezeichnet wird,9 die die Entstehung der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der 6 Die Arbeit konzentriert sich dabei auf die Entwicklung seiner Theorien auf dem Gebiet der Außen- und internationalen Politik und streift Herz’ Arbeiten im Bereich der Vergleichenden Regierungslehre nur am Rande. 7 John H. Herz, Rise and Demise of the Territorial State, in: World Politics, IX (4), 1957, S. 473–93. 8 John H. Herz, International Politics in the Atomic Age, New York 1959. 9 Im Rückblick wird die Entstehungsgeschichte der Theorien Internationaler Beziehungen oftmals in Form von Great Debates erzählt, die nach Steve Smiths Ansicht einen Schlüssel zum Selbstbild der Disziplin darstellen. Es wird angenommen, dass die erste Debatte zwischen Idealismus und Realismus dabei die wichtigste war, die alle weiteren Entwicklungsrichtungen vorgegeben hat. Siehe Steve Smith, The Self-Images of a Discipline: A Genealogy of International Relations Theory, in: Ken Booth/Steve Smith (Hrsg.), International Relations Theory Today, Cambridge 1995, S. 1–37, insbesondere S. 13–17. Zum Gebrauch und Missbrauch des Begriffs und der Debatte vgl. Peter Wilson, The Myth of the ‚First Great Debate‘, in: Tim Dunne/Michael Cox/Ken Booth (Hrsg.), The Eighty Years’ Crisis. International Re-

I. Relevanz, Ziel und Methode der Arbeit

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Internationalen Beziehungen überhaupt erst vorangetrieben hat. Vor diesem Hintergrund schrieb der amerikanische Politikwissenschaftler Kenneth Thompson: „Herz must be included among the small group of EuropeanAmerican scholars who have played a decisive role in the emerging study of international politics in the United States.“10 In den 1950er Jahren hatte er insbesondere Anteil an der Entwicklung der realistischen Schule der Internationalen Beziehungen. Gemeinsam mit Hans J. Morgenthau, Edward H. Carr und Reinhold Niebuhr gilt er als einer ihrer Gründungsväter.11 Warum aber genießt Herz heute nicht die gleiche Aufmerksamkeit, die Morgenthau, Carr und Niebuhr zuteil wird? Thompson führt dies hauptsächlich darauf zurück, dass Herz das Paradebeispiel eines einsamen Gelehrten gewesen sei, der sich am liebsten in seine Schreibstube zurückgezogen und in seine Arbeit vergraben habe, ohne sich innerhalb der Disziplin zu vernetzen: „He preferred to follow his own agenda.“12 Sein mangelnder Bekanntheitsgrad mag auch darin begründet sein, dass sich Herz’ Forschungsinteresse in gleichem Maße auf das Gebiet der Vergleichenden Regierungslehre wie auf die Internationalen Beziehungen richtete. Die Liste seiner Veröffentlichungen zur Außen- und internationalen Politik hat daher im Vergleich mit denen anderer Denker eher bescheidenen Umfang. Außerdem wurde der Herzsche Denkansatz nie von einem führenden Politiker auflations 1919–1999, Cambridge 1998, S. 1–15. Allerdings gibt es einige Wissenschaftler, die die Existenz einer solchen Debatte zwischen Idealisten und Realisten grundsätzlich bestreiten. Vgl. z. B. Cameron G. Thies, Progress, History and Identity in International Relations Theory: The Case of the Idealist-Realist Debate, in: European Journal of International Relations, Vol. 8, Number 2, 2002, S. 147–185. 10 Kenneth W. Thompson, Masters of International Thought: Major TwentiethCentury Theorists and the World Crisis, Baton Rouge et al. 1980, S. 112. Herz zählte darüber hinaus zu „dem knappen Dutzend für die amerikanische Disziplin der ‚international relations‘ repräsentativer Autoren, deren Arbeiten den Grundstock bildeten, als sich nach dem Krieg dieses Fach auch an deutschen Universitäten etablierte“. So Reinhard Mutz, Das Sicherheitsdilemma, in: Das Parlament, 22.03.1975, S. 15. 11 So beispielsweise Annette Freyberg-Inan, What Moves Man. The Realist Theory of International Relations and Its Judgment of Human Nature, Albany 2004, S. 67. Auch wenn Michael J. Smith Herz nicht in seine Portrait-Sammlung berühmter Realisten aufgenommen hat, erwähnt er im Vorwort zum Buch doch, dass man John H. Herz hätte dazunehmen können: Vgl. Smith, Realist Thought from Weber to Kissinger, Baton Rouge 1983, S. 2. Brian C. Schmidt bezeichnet ihn als „original member of the realist school“, siehe Schmidt, The Political Discourse of Anarchy. A Disciplinary History of International Relations, Albany 1998, S. 233. Schließlich verstand sich auch Herz selber als „co-founder“ der realistischen Schule. Siehe Herz an Joel H. Rosenthal, 11. Januar 1992, Box 3, Correspondence 1991–1993 [Ordner], Herz Papers. 12 Kenneth W. Thompson, Schools of Thought in International Relations. Interpreters, Issues, and Morality, Baton Rouge et al. 1996, S. 90.

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A. Einleitung

gegriffen, wie dies z. B. bei Henry A. Kissinger und Morgenthau der Fall war.13 Dennoch lohnt es sich, Herz (wieder) zu lesen und sich eingehend mit seinem Denken zu beschäftigen – auch wenn das Studium der „Klassiker“ des Faches manchem vielleicht als antiquiert erscheint. Ken Booth hat dies auf den Punkt gebracht: „Every once in a while in our disciplinary development, somebody comes up with a master variable or a conceptual innovation which they hope promises to be the key to explaining or understanding world politics. Today’s textbooks on IR are hypermarkets of the fruits of such creativity, with carefully organised shelves of variables and concepts, inviting students to choose one or other of the intellectual goods on offer. Master variables include power, anarchy, and polarity, while conceptual innovations include the decision-making approach, constructivism, and post-structuralism. While admiring the sophistication and seriousness of all these efforts to find the golden key to explaining and understanding the world of politics, I am not convinced that any of them offers any more – and often less – than discussions framed along the lines of Carr and Herz over a half-century ago (regardless of what one may think about their own particular contributions). In my view, their approach to structuring how to think about the discipline invites a dialogue or struggle between the ideal types [Realism and Idealism, J. P.], and the exploration of the rich frontier zone between them. In this exercise are raised all the demanding questions in our subject relating to the interplay of mind and materiality, norms and necessities, and ideas about what is real, what can we know, and how might we act.“14

Dieses Buch möchte aufzeigen, dass die Arbeiten von Herz größere Aufmerksamkeit verdienen, als ihnen bislang zuteil wurde. Es möchte nachweisen, dass Herz mit seinen Analysen oft intellektuelle Pionierarbeit leistete und einige seiner Handlungsempfehlungen auch heute noch Ausgangspunkt praktischer Außenpolitik sein können. Eine genauere Betrachtung seiner Schriften zur internationalen Politik ergibt, dass die häufig anzutreffende Zuordnung der Herzschen Theorien zur realistischen Denkschule fragwürdig ist. Das Herzsche Denken lässt sich keinesfalls auf die Beiträge zum Realismus reduzieren, sondern stellt sich weitaus komplexer dar und entzieht sich somit allzu schematischer Einordnung. Diese Auffassung teilt Brian C. Schmidt: „There was much more ambiguity in the writings and positions of the original realists such as Carr, Morgenthau and Herz than has been acknowledged in conventional accounts of this period.“15 Je tiefer man in 13

Morgenthau galt als „Kissinger’s teacher“. Das persönliche Verhältnis der beiden zerbrach jedoch über der amerikanischen Vietnam-Politik, der Morgenthau äußerst kritisch gegenüberstand. Vgl. Rohde, S. 40–41 mit weiteren Nachweisen. 14 Ken Booth, Navigating the ‚Absolute Novum‘: John Herz’s Political Realism and Political Idealism, in: International Relations, Vol. 22, No. 4, 2008, S. 510–526, S. 519.

I. Relevanz, Ziel und Methode der Arbeit

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die Gedankenwelt von Herz eindringt, desto dringender stellt sich die Frage, ob Herz überhaupt als realistischer Denker klassifiziert werden kann. Diese Frage zu beantworten ist ein Hauptanliegen dieser Dissertation. Die Arbeit versteht sich als intellektuelle Biographie. Sie soll nicht nur ein Werk, sondern auch ein Leben erschließen. Nachdem die „überkommenen Verfahren historistischen ‚Verstehens‘ der . . . großen Persönlichkeit für eine jüngere und stärker theoretisch ausgerichtete Historikergeneration ihre Selbstverständlichkeit verloren hatte“16, wurde in der westdeutschen Geschichtswissenschaft seit Beginn der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eine methodisch reflektierte Biographiediskussion geführt. Wie Jan Eckel anführt, wurde in dieser Diskussion jedoch am Forschungsfeld und der Darstellungsform der Biographie „vor allem Kritik geübt, so dass bis heute eine geschlossene historische Biographietheorie nicht existiert.“17 Die Diskrepanz zwischen biographischer Praxis und biographischer Theorie ist nach wie vor eklatant. Ein schwerwiegender Einwand gegen den biographischen Rahmen wurde von Pierre Bourdieu vorgebracht, der es als absurd kritisierte, „den Versuch zu unternehmen, ein Leben als eine einzigartige und für sich selbst ausreichende Abfolge aufeinanderfolgender Ereignisse zu begreifen, ohne andere Bindungen als die an ein Subjekt, dessen Konstanz zweifellos lediglich in der des Eigennamens besteht.“18 Bourdieu argumentierte, der Biograph und sein Untersuchungsgegenstand hätten in gewisser Weise das gleiche Interesse, das Postulat der Sinnhaftigkeit der berichteten Existenz zu akzeptieren: „Man ist zweifellos berechtigt zu unterstellen, dass die autobiographische Erzählung sich immer, mindestens teilweise, von dem Ziel anregen lässt, Sinn zu machen, zu begründen, eine gleichzeitig retrospektive und prospektive Logik zu entwickeln, Konsistenz und Konstanz darzustellen, indem sie einsehbare Beziehungen wie die der Folgewirkung von einem verursachenden oder letzten Grund zwischen aufeinanderfolgenden Zuständen herstellt, die so zu Etappen einer notwendigen Entwicklung gemacht werden.“19

Bourdieus Einwand ist für diese Arbeit insofern zentral, als hier in der Tat versucht wird, dem Untersuchungsgegenstand von außen Einheitlichkeit zu verleihen und eine Sinnstiftung vorzunehmen. Dabei gilt das Diktum des Friedrich-Biographen Johannes Kunisch, der darauf hingewiesen hat, dass 15

Schmidt, S. 234. Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 17. 17 Ebd., S. 18. 18 Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in: Erika M. Hoerning/Peter Alheit, Biographische Sozialisation, Stuttgart 2000, S. 51–60, S. 58. 19 Ebd., S. 52. 16

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A. Einleitung

„[a]uch ein um ‚Wahrheit‘ bemühter Autor . . . bei aller quellenkritischen Professionalität keine Realität abbilden, sondern nur etwas erfinden [kann], was sich der wirklichen Gestalt des Dargestellten annähert.“20 Es trifft also zu, dass „der biographische Rahmen eine methodische Setzung ist, die Vorannahmen über die Identität und die Fassbarkeit des Subjekts enthält.“21 Dies gilt allerdings keineswegs nur für die Biographie, sondern im Zweifel für jeden – zumindest sozialwissenschaftlichen – Untersuchungsgegenstand. Diese Arbeit hält nichtsdestoweniger an der These fest, dass es auch eine biographische Dimension wissenschaftlicher Arbeit gibt. Sie stützt sich dabei maßgeblich auf den unter anderem von Kenneth Thompson und Ole Waever entwickelten Ansatz, Theorien internationaler Beziehungen mit der Person und Persönlichkeit ihres jeweiligen Schöpfers zu verknüpfen.22 Waever verweist dabei auf einen entscheidenden Punkt: „Persons – volumes of work carrying an identical signature – are points where numerous crosspressures meet; different academic projects and discourses combine with numerous extra-academic factors.“23 In diesem Sinne ist das Herzsche Werk nicht als homogene und kohärente Einheit zu verstehen. Der junge Völkerrechtler und Kelsen-Schüler aus wohlhabendem Hause vertrat andere Standpunkte als der in Amerika gestrandete, seiner Heimat beraubte Flüchtling, der sich an verschiedenen amerikanischen Universitäten zunächst nur mühsam über Wasser hielt. Und dieser wiederum machte sich andere Gedanken über die internationalen Beziehungen, als der arrivierte Professor, der auf 80 Jahre seines Lebens zurückblickte. Das Bindeglied zwischen all den verschiedenen Erklärungsansätzen und Ordnungsentwürfen, die im Laufe eines langen Lebens im Kopf ein und derselben Person entstehen, ist die Biographie. Sie hilft, Veränderungen nachzuvollziehen, Gemeinsamkeiten herauszustellen und Entwicklungslinien nachzuzeichnen. Natürlich kann und sollte das Denken von Herz auch unabhängig von seinem Leben gelesen werden. Jede der von ihm entwickelten Ideen steht zunächst einmal für sich. Dennoch spricht alles gegen „eine systematische Vertreibung des Mannes aus seinem Werk“24. Um es mit Joakim Garff zu sa20 Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, 4. Auflage, München 2005, S. 8. 21 Eckel, S. 19. 22 Vgl. u. a. Kenneth Thompson, Fathers of International Thought. The Legacy of Political Theory, Baton Rouge et al. 1994; Ole Waever, Figures in International Thought: Introducing Persons Instead of Paradigms, in: Iver B. Neumann/Ole Waever (Hrsg.), The Future of International Relations. Masters in the Making, London/ New York 1997, S. 1–37. 23 Waever, S. 2. 24 So die Formulierung von Joakim Garff, Sören Kierkegaard, München/Wien 2004, S. 16.

I. Relevanz, Ziel und Methode der Arbeit

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gen: „Entfernt man nämlich erst den Mann aus dem Werk, hat man ihm auch das Leben genommen.“25 Dieser Arbeit liegt die Prämisse zugrunde, dass sich dem Leser durch die Betrachtung der Lebensumstände eine zusätzliche Verständnisebene erschließt. Eine nur auf die Theorien konzentrierte Betrachtung vermag zu zeigen, wo sich Widersprüche und Brüche im Werk selbst befinden. Darüber hinausgehend kann ein Blick in die Biographie erklären, warum diese Widersprüche und Brüche entstanden sind, bzw. warum es dem Autor vielleicht nicht möglich war, den einen oder anderen Gedankengang konsequent weiterzuverfolgen. Die folgende Studie möchte daher zeigen, wie persönliche Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnis miteinander verknüpft sind. Sie arbeitet zudem heraus, in welcher wissenschaftlichen Tradition Herz stand und aus welchen Quellen er schöpfte. Dabei konzentriert sie sich auf die intellektuelle Biographie von John H. Herz. Was sie nicht leisten kann und auch nicht leisten möchte, ist eine lückenlose Darstellung der Herz’schen Vita. Es liegt vielmehr im Wesen des hier verfolgten Ansatzes, dass die Lebensumstände nur insoweit Berücksichtigung finden, als sie zum Verständnis seines wissenschaftlichen Werks beitragen. Der transatlantische Charakter dieses Werkes steht dabei im Mittelpunkt der Betrachtung. Herz’ Leben war das eines deutschen Juden zwischen Assimilation und Emigration, zwischen Deutschland und Amerika; seine Weltanschauung fußte auf einer Synthese zwischen deutsch-europäischem und amerikanischem Gedankengut. Er war in beiden Welten bis zu seinem Tod in gleicher Weise zu Hause, hat in beiden gearbeitet, ist in beiden erfolgreich gewesen, zu akademischen Ehren gelangt und ist letztlich beiden treu geblieben. Als Teil jener Gruppe von deutsch-jüdischen Wissenschaftlern, die im Rahmen der größten erzwungenen Migration von Intellektuellen im 20. Jahrhundert Deutschland verließen und ihre Fähigkeiten, ihr Können und ihre Talente mit in die USA nahmen, gelang es ihm, deutsch-europäisches Gedankengut in die außenpolitische Debatte der USA einfließen zu lassen, bzw. wiederzubeleben. Das Ausmaß des „Brain Drain“26 dieser Zeit ist ohne Beispiel.27 Neben John Herz waren es unter anderem Hannah Arendt, Herbert Marcuse, Hans Morgenthau und Leo Strauss, deren Werke einen dauerhaften Einfluss auf das intellektuelle Leben diesseits und jen25

Ebd., S. 18. Herbert A. Strauss, Changing Images of the Immigrant in the USA, in: Amerikastudien, 21. Jahrgang, 1976, S. 119–137, S. 126. 27 So beispielsweise Alfons Söllner: „Der Übergang der deutschen Rechts- und Staatswissenschaft zur amerikanischen political and social science steht für eine der dramatischesten Veränderungen der internationalen Ideen- und Wissenschaftsgeschichte.“ Vgl. Söllner, Dem deutschend Selbstverständnis widersprechend – Biographien und Autobiographien jüdischer Emigranten, gesendet im Westdeutschen Rundfunk am 09.05.1985, 22.30–23.00 Uhr, WDR 3. 26

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A. Einleitung

seits des Atlantiks ausübten und nach wie vor ausüben. Obwohl Herz seine akademische Karriere gänzlich in den USA aufbaute, war er kein rein amerikanischer Denker. Durch die Emigration wurde er vielmehr zu einem „Wanderer zwischen zwei Welten“, der „aus der Not der Verbannung aus dem Lande seines Ursprungs und seiner Jugend die Tugend europäischamerikanischer Synthese“28 machen wollte. Neben den individuellen Erfahrungen prägt vor allem der historische Rahmen einer Biographie die Gedankenwelt eines Menschen. Auch Herz war unzweifelhaft a man of his times. Ein weiterer Aspekt, der bei der Analyse des Herzschen Denkens daher eine Rolle spielen soll, ist der zeitgenössische Kontext, in dem seine Schriften entstanden. Dass dies zum Verständnis dieser Schriften elementar ist, verdeutlicht Chris Brown: „[M]ost of all, we must not assume that an author is addressing a timeless set of problems, much less a set of problems that we happen to be concerned with.“29 So mag dem Leser von International Politics in the Atomic Age heute, 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges, das dort vorhergesagte nukleare Weltuntergangsszenario befremdlich und übertrieben erscheinen – aus der Perspektive des Jahres 1959 wirkt es dagegen deutlich weniger radikal. Die Arbeit möchte der Frage nachgehen, wie sich die extremen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auf die wissenschaftliche Tätigkeit von Herz auswirkten, wie er mit seinen Schriften auf die wechselvollen Entwicklungen seiner Lebenszeit reagierte. „Wissenschaft“, so die von Eckel übernommene Ausgangsüberlegung, „lässt sich als ein Medium verstehen, in dem ein Wissenschaftler seine zeitgenössische Gegenwart reflektiert, verhandelt, zu klären versucht.“30 Herz’ Ideen formten sich nie abstrakt im wissenschaftlichen Elfenbeinturm. Obwohl er sich in der weit überwiegenden Zahl seiner Publikationen primär um die theoretische Analyse der internationalen Beziehungen verdient gemacht hat, war er gleichzeitig ein stetiger Beobachter und Kritiker praktischer internationaler Politik. Insbesondere die Außenpolitiken derjenigen Länder, zu denen er sich in besonderem Maße zugehörig fühlte, nämlich Deutschland, Israel und vor allem die USA, beschäftigten ihn sehr und gerieten immer wieder in den Fokus seiner Arbeiten. Die Analyse der Wandlungen und Veränderungen in seinen Einstellungen und Ideen ist gerade deshalb so reizvoll, weil er während seines Lebens immer wieder gezwungen war, sein Denken an die jeweiligen historischen Gege28 John H. Herz, Staatenwelt und Weltpolitik. Aufsätze zur internationalen Politik im Nuklearzeitalter, Hamburg 1974, S. 9. 29 Chris Brown, Waltzian Neorealism, Classical Realism and Human Nature, unveröffentlichter Konferenzbeitrag zu ‚The King of Thought‘: Theory, The Subject and Waltz, University of Aberystwyth, 15.–17. September 2008. 30 Eckel, S. 10.

I. Relevanz, Ziel und Methode der Arbeit

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benheiten und weltpolitischen Konstellationen anzupassen. Die zahlreichen Umschwünge des 20. Jahrhunderts machten es notwendig, dessen theoretische Deutungen von veränderten Standpunkten zu überprüfen und neu zu durchdenken. Entstehung und Weiterentwicklung des Herz’schen Weltbildes drücken daher die Dynamiken des vergangenen Jahrhunderts aus. Noch im Kaiserreich geboren und in der Weimarer Republik aufgewachsen, erlebte Herz die Schrecken des Nationalsozialismus am eigenen Leibe und reflektierte den Einfluss der nationalsozialistischen Doktrin auf das Völkerrecht.31 Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und das sich anschließende atomare Wettrüsten zwangen ihn, seine Grundgedanken zur Ordnung der internationalen Staatenwelt neu zu justieren. Herz beobachtete außerdem das Ende des Kolonialzeitalters sowie das Entstehen einer „Dritten Welt“ und entwickelte früher als die meisten seiner Kollegen ein Bewusstsein für die damit zusammenhängenden Probleme wie unkontrolliertes Bevölkerungswachstum und globale Umweltverschmutzung. Nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion konzentrierte er sich ganz auf die Suche nach einem neuen Weltordnungsentwurf, der insbesondere globale Herausforderungen wie Ressourcenknappheit, demographische Entwicklungen, Klimawandel und die NordSüd-Problematik berücksichtigen sollte. Diese Studie möchte dazu anregen, Herz’ Schriften als Zeugnisse eines Intellektuellen zu lesen, der fast das ganze 20. Jahrhundert – sowie die Anfänge des 21. Jahrhunderts – miterlebt hat, und der Zeit seines Lebens versuchte, das Erlebte in allgemein gültige Formen und Theorien zu fassen. „Theoretical-minded by natural inclination“32 – wie er einmal über sich selbst schrieb – ging es ihm darum, zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“33. Nachfolgend soll untersucht werden, wie er durch die Ereignisse des Jahrhunderts geprägt wurde und welche Auswirkungen diese Prägung auf seine Sichtweise der internationalen Beziehungen und der Welt hatte. Was Richard Ned Lebow einmal über Hans J. Morgenthau schrieb, gilt heute in gleichem Maße auch für John H. Herz: „[He] and his ideas are once again timely and need to be put into historical and intellectual context for a new generation of readers.“34 31

John H. Herz alias Eduard Bristler, Die Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus, Zürich 1938. 32 John H. Herz, An Internationalist’s Journey through the Century, in: Joseph Kruzel/James N. Rosenau (Hrsg.), Journeys through World Politics. Reflections of Thirty-four Academic Travellers, Lexington, MA 1989, S. 249. 33 Diesen Bezug auf Goethes Faust stellt Herz selbst her: John H. Herz, Vom Überleben. Wie ein Weltbild entstand, Düsseldorf 1984, S. 48. 34 Richard Ned Lebow, The Tragic Vision of Politics. Ethics, Interests and Orders, Cambridge et al. 2003, S. 216.

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A. Einleitung

Obwohl im Verlauf der Studie immer wieder Bezüge zu Vertretern der realistischen Schule hergestellt werden, verfolgt sie nicht den Anspruch, Herz’ Arbeiten detailliert mit denen zeitgenössischer Autoren zu vergleichen. Dies würde ihren Rahmen sprengen und muss Ziel weiterer Forschung bleiben. Eine Ausnahme bilden die Schriften Hans J. Morgenthaus, die wiederkehrend als Referenzpunkt herangezogen werden. Morgenthau gilt als Vertreter des klassischen Realismus schlechthin. Seine Lebensgeschichte weist zu der von Herz zahlreiche Parallelen auf. Der Vergleich mit Morgenthaus Arbeiten dient dazu, den „Realismusgehalt“ des Herzschen Werks trennschärfer untersuchen zu können. Eine umfassende Gegenüberstellung erfolgt jedoch auch in diesem Fall nicht. Ziel dieser Arbeit ist vielmehr, die innere Entwicklung und Entfaltung des Herzschen Denkens nachzuvollziehen und – soweit dies möglich ist – auf ihre Ursachen zurückzuführen. Aus diesen Erläuterungen ergibt sich, dass sich diese Arbeit John H. Herz als außenpolitischem Denker auf drei verschiedenen Ebenen annähert. Auf der biographischen Ebene unternimmt sie den Versuch, die persönliche Gedankenwelt des Mannes hinter dem Werk zu erschließen. Auf der zeitgeschichtlichen Ebene untersucht sie den Einfluss, den die Weltereignisse im letzten Jahrhundert auf die Entwicklung dieser Gedanken genommen haben. Auf einer theoretischen Ebene steht das Werk als solches im Vordergrund; die Arbeit analysiert hier die Rolle, die Herz innerhalb der Theorieentwicklung der Disziplin eingenommen hat und versucht, sein Denken zu kategorisieren. Abschließend sei noch einmal auf die gewählte hermeneutische Methode eingegangen. John Herz selbst hat sich in den 1970er Jahren bitterlich darüber beklagt, dass Doktorarbeiten und ähnliche Werke junger Forscher seinerzeit immer folgendermaßen aufgebaut wurden: „The author proceeds to explain when and where he has done ‚field research‘, establishes a hypothesis, tests it by analyzing a large body of quantifiable data, and proves, amends or falsifies the hypothesis, as the case may be. In the overwhelming number of cases the result bears little relation to the vital problems of the area, country, or situation in question. One suspects that the author has not even been aware of them; or, perhaps, as a ‚scientist‘, he was ashamed to mention such mundane matter.“35

In einer Arbeit, die sich John Herz und seinen Werken annimmt, wird daher explizit auf den von Herz kritisierten Ansatz verzichtet. Stattdessen erfolgen die weiteren Ausführungen auf Basis jener traditionellen Herangehensweise, die Hedley Bull einmal als „Classical Approach“36 bezeichnet 35 John H. Herz, Relevancies and Irrelevancies in the Study of International Relations, in: Polity, Vol. IV, No. 1, 1971, S. 26–47, S. 37, Fn. 23.

II. Begriffsklärung

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hat. Dabei gilt, was Herz selbst seinem Buch International Politics in the Atomic Age vorausschickte: „It is simply the product of the application to problems and subject matter at hand of whatever intelligence was available.“37

II. Begriffsklärung Ein erkenntnisleitendes Interesse dieses Buches ist die Beantwortung der Frage, inwieweit John H. Herz als außenpolitischer Realist gelten kann. Hierfür bedarf es zunächst einer Begriffsklärung bzw. Eingrenzung: In der Literatur wird viel darüber diskutiert, was die „realistische Schule“ eigentlich ausmacht und ob eine solche überhaupt existiert. Unter dem Oberbegriff „Realismus“ und seiner Erweiterung durch den „Neorealismus“ werden heute eine Vielzahl unterschiedlichster Ansätze und Argumentationen subsumiert, die mitunter recht wenig miteinander gemein haben. Wie Stefano Guzzini zutreffend bemerkt: „There are nearly as many realist theories as realist theoreticians.“38 Die Spannbreite reicht vom klassischen Realismus Hans J. Morgenthaus über den strukturellen Realismus von Kenneth N. Waltz bis zum offensiven Realismus John J. Mearsheimers, um nur drei der bekanntesten Vertreter zu nennen. Welcher Realismus ist nun gemeint, wenn in dieser Arbeit der Vergleich mit dem Herzschen Werk angestrebt wird? Für die vorliegende Studie ist es zunächst wichtig festzuhalten, dass Realismus nicht als kohärente Theorie, sondern als Paradigma verstanden wird,39 als „general orientation“40 – bzw. in Anlehnung an Robert Gilpin 36 Hedley Bull definierte ihn wie folgt: „The approach to theorizing that derives from philosophy, history, and law, and that is characterized above all by explicit reliance upon the exercise of judgment and by the assumption that if we confine ourselves to strict standards of verification and proof there is very little of significance that can be said about international relations, that general propositions about this subject must therefore derive from a scientifically imperfect process of perception or intuition, and that these general propositions cannot be accorded anything more than the tentative and inconclusive status appropriate to their doubtful origin.“ Siehe Bull, International Theory. The Case for a Classical Approach, in: Klaus Knorr/James N. Rosenau, Contending Approaches to International Politics, Princeton, NJ, 1969, S. 20–38, hier S. 20. 37 Herz, International Politics in the Atomic Age, S. v. 38 Stefano Guzzini, Realism in International Relations and International Political Economy. The Continuing Story of a Death Foretold, London et al. 1998, S. viii. 39 Vgl. Timothy Dunne, Realism, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization of World Politics. An Introduction to International Relations, Oxford 1997, S. 109–124, S. 112 ff. 40 Jack Donnelly, Realism and International Relations, Cambridge 2000, S. 6.

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A. Einleitung

als „philosopical disposition and set of assumptions about the world“41. Wie Jack Donnelly nimmt die Verfasserin an, dass es trotz aller Unterschiede innerhalb der realistischen Denkschule möglich ist, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden – „a set of recurrent concerns and conclusions“42, der eine gemeinsame Tradition erkennen lässt. Diese Arbeit definiert die realistische Denktradition zunächst durch die von allen ihren Anhängern geteilte Überzeugung, dass im internationalen System Konflikte die Regel sind und das Element der „Macht“ das Zusammenleben der Staaten bestimmt. Damit einher geht ein grundsätzlicher Pessimismus bezüglich internationaler Kooperation und Fortschritt im internationalen System. Realismus, wie schon E. H. Carr feststellte, „tends to emphasise the irresistible strength of existing forces and the inevitable character of existing tendencies, and to insist that the highest wisdom lies in accepting, and adapting oneself to these forces and these tendencies.“43

In diesem Sinne richtet ein Realist den Blick auf das Sein, nicht auf das Sollen, um allgemeine Schlüsse über das Verhalten von Staaten im internationalen System zu ziehen. Fast alle Realisten, egal ob klassische, strukturelle, ökonomische usw., teilen folgende Grundannahmen:44 Erstens stimmen sie überein, die Struktur der internationalen Beziehungen als anarchisch zu betrachten. Um in der Anarchie zu überleben, ist „Macht“ der entscheidende Faktor. Die Essenz alles Politischen ist daher das Streben nach Macht. Zweitens gehen alle Realisten davon aus, dass Menschen sich in Gruppen zusammenschließen, um so soziale und politische Einheiten zu bilden. „Homo sapiens is a tribal species, and loyality to the tribe for most of us ranks above all loyalties other than that of the family“45, schreibt Gilpin. Nach dem Westfälischen Frieden haben diese Gruppen die Form von Staaten angenommen. Realisten betrachten daher Staaten als zentrale und rational handelnde Akteure der internationalen Beziehungen, deren innere Verfasstheit für ihr außenpolitisches Verhalten keine Rolle spielt. Drittens teilen alle Realisten 41 Robert G. Gilpin, The Richness of the Tradition of Political Realism, in: International Organization, Vol. 38, No. 2, 1984, S. 287–304, S. 289. 42 Donnelly, S. 9. 43 Edward H. Carr, The Twenty Years’ Crisis 1919–1939. An Introduction to the Study of International Relations, New York 2001 [1939], S. 10. 44 In Anlehnung an Gilpin, The Richness of the Tradition of Political Realism, S. 290–291. Vgl. auch Waever, S. 30, Anmerkung 14. Ähnlich: John J. Mearsheimer, The Tragedy of Great Power Politics, New York und London 2001, S. 17–18 und Robert O. Keohane, Theory of World Politics: Structural Realism and Beyond, in: Ada A. Finifter (Hrsg.), Political Science: The State of the Discipline, Washington, D. C. 1983, S. 503–540, S. 507. 45 Gilpin, The Richness of the Tradition of Political Realism, S. 290.

III. Aufbau der Arbeit

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die Ansicht über das strategische Misstrauen des Menschen gegenüber seinesgleichen, wenn auch nicht im Sinne des pessimistischen Menschenbildes Reinhold Niebuhrs oder Hans Morgenthaus. Dem steht nicht entgegen, dass viele Realisten dem Menschen auch positive Verhaltensweisen zugestehen können.46 Doch auch wenn menschliches Verhalten prinzipiell durch moralische Ziele motiviert sein kann, betonen Realisten, dass all diese noblen Ziele zum Scheitern verurteilt sind, wenn man nicht Vorkehrungen trifft, sein eigenes Leben, die eigenen Kerninteressen, zu sichern. Letztendlich dominiert der menschliche Egoismus, nicht eine Gesinnung.47 Die vorliegende Arbeit nimmt diese Grundannahmen als Folie, um die zentralen Prämissen des Herzschen Denkens auf ihren „Realismusgehalt“ zu untersuchen.

III. Aufbau der Arbeit Die Arbeit ist chronologisch aufgebaut. Das zweite und das vierte Kapitel sind vorwiegend biographisch orientiert. Die Kapitel drei, fünf, sechs und sieben beschäftigen sich primär mit den Herz’schen Theorien. Dieser Unterteilung zum Trotz wird berücksichtigt, dass die Geschichte eines Lebens und die Entwicklung eines Denkens vielfach ineinander übergehen. Der Leser unternimmt dabei eine Reise auf Herz’ intellektuellen Spuren, an deren Ende die Rekonstruktion und Analyse seines außenpolitischen Denkens stehen. Dieser Weg beginnt im zweiten Kapitel im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik. Die Arbeit gewährt einen Einblick in Herz’ Kindheit und Jugend, um die Wurzeln seines Weltbildes und die ersten ihn prägenden Einflüsse offen zu legen. Sein familiärer Hintergrund, seine Eltern und Freunde sowie die Bücher, die er in jungen Jahren studierte, hinterließen bleibende Eindrücke, die seine Sicht auf die Welt früh formten. Daran anschließend widmet sich die Arbeit im dritten Kapitel den rechtswissenschaftlichen Grundlagen des Herzschen Denkens. Von Hause aus Jurist näherte sich Herz der Politikwissenschaft und besonders den Internationalen Beziehungen aus rechtswissenschaftlicher Perspektive. Die „Reine Rechts46 So schrieb beispielsweise Nicholas J. Spykman, dass Menschen auch von anderen Bedürfnissen motiviert seien als dem alleinigen Streben nach Macht und dass Macht nicht der einzige Aspekt der internationalen Beziehungen sei. Siehe Spykman, America’s Strategy in World Politics. The United States and the Balance of Power, New York 1942, S. 7. 47 So schon Machiavelli: „Denn man kann von den Menschen im allgemeinen sagen, dass sie undankbar, wankelmütig, unaufrichtig, heuchlerisch, furchtsam und habgierig sind“. Siehe Niccoló Machiavelli, Il Pricipe/Der Fürst, übersetzt und herausgegeben von Philipp Rippel, Stuttgart 1986, S. 129.

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A. Einleitung

lehre“ seines akademischen Lehrers Hans Kelsen bildete dabei das erste Prisma, durch das er die Welt wissenschaftlich betrachtete. Kelsens Theorie filterte und kanalisierte seine Wahrnehmung, durch sie lernte er die systematische Trennung von Sein und Sollen, Wirklichkeit und Werten, Moral und Recht kennen. Daher werden die Grundannahmen der Staats- und Völkerrechtslehre Hans Kelsens zunächst kurz dargestellt. Daran schließt eine Untersuchung an, wie das Denken des jungen Herz durch Kelsens Lehre geformt wurde. Dabei zeigt sich, dass in der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kelsen bereits angelegt ist, welche Problemstellungen Herz in seinen politischen Theorien später behandeln und welche Lösungen er für diese Probleme finden sollte. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten, der Weg ins Schweizer Exil und die anschließende Emigration in die Vereinigten Staaten stellten gravierende Einschnitte im Leben des damals noch nicht Dreißigjährigen dar, die er auch intellektuell verarbeiten musste. Die Auswirkungen des Verlusts seines Heimatlandes und des Zusammenbruchs der bestehenden internationalen Ordnung durch den Zweiten Weltkrieg auf Herz’ außenpolitisches Denken stehen im Fokus des vierten Kapitels. Dieses umfasst außerdem die ersten Jahre in den Vereinigten Staaten, bis zum Ende der eigentlichen Exilzeit, welches durch Herz’ Entscheidung eingeläutet wurde, nach 1945 nicht nach Deutschland zurückzukehren. Die Arbeit beschäftigt sich in diesem Teil insbesondere mit der Frage, welchen Einfluss die amerikanische Wissenschaftstradition auf die Entwicklung seiner außenpolitischen Theorien nahm. Es wird herausgearbeitet, welche Elemente seines Denkens einer deutsch-europäischen Denktradition entstammen und welche neuen amerikanischen Einflüsse während seiner ersten Jahre in den Vereinigten Staaten hinzukamen. Sein persönliches Verhältnis zu Deutschland und den USA und die Frage seiner eigenen Identität als „Wanderer zwischen zwei Welten“ erfahren in diesem Kapitel besondere Aufmerksamkeit. Darüber hinaus steht hier im Zentrum, wie Herz sich enttäuscht und ernüchtert von Kelsens Lehre abwandte und aus dieser Enttäuschung heraus erste Überlegungen anstellte, die ihn zum außenpolitischen Realismus führten. Im fünften Kapitel konzentriert sich die Arbeit ganz auf Herz’ Beitrag zum außenpolitischen Realismus, insbesondere auf das von ihm entwickelte „Sicherheitsdilemma“ und den „Realliberalismus“, den er als Variante des Realismus erstmals in Political Realism and Political Idealism48 präsentierte. Beide Konzepte, die Herz noch während des Zweiten Weltkriegs entwickelte, werden umfassend vorgestellt und anschließend diskutiert und be48 John H. Herz, Political Realism and Political Idealism. A Study in Theories and Realities, Chicago 1951.

III. Aufbau der Arbeit

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wertet. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Fragestellung, wie sich Herz’ Überlegungen zu den Theorien anderer Realisten verhalten und wie sie innerhalb der Denkschule zu positionieren sind. Auch das sechste Kapitel konzentriert sich auf Herz’ theoretische Ideen und beschäftigt sich mit dem Einfluss, den die atomare Waffentechnologie und der Kalte Krieg auf die Weiterentwicklung seines Denkens ausgeübt haben. Als einer der ersten Denker stellte Herz die seit dem Westfälischen Frieden unangefochtene Bedeutung des Staates als zentraler Akteur der internationalen Politik infrage und entwickelte seine Theorie vom Ende des „hartschaligen Territorialstaates“, welche in diesem Kapitel zunächst kurz umrissen wird. Danach widmet sich die Arbeit den beiden zentralen Handlungsempfehlungen, die Herz für eine atomare und bipolare Welt entwickelte, nämlich der „Stillhalteaktion“ und dem „Universalismus“. Beide werden auf ihre theoretische Qualität und ihre praktische Anwendbarkeit überprüft. Wie schon im fünften Kapitel stellt sich dabei die Frage, inwieweit Herz’ Überlegungen dem außenpolitischen Realismus zuzuordnen sind. In seinem akademischen Spätwerk richtete Herz den Blick über den realistischen Tellerrand. Er widmete sich in verstärktem Maße den neuen globalen Problemen wie Klimawandel, Migration oder Umweltzerstörung. Auf diese Elemente seines Werks geht die Arbeit im siebten Kapitel ein. Nach einem erneuten Blick auf Herz’ Biographie rückt hier sein Entwurf für eine Theorie der internationalen Politik im „Überlebenszeitalter“ in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses, welche er bis zum Ende seines Lebens weiterentwickelte. Auch nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion nahm er weiter regen Anteil an der Weltpolitik und kommentierte und analysierte die internationalen Entwicklungen in zahlreichen Briefen und Veröffentlichungen. Das achte Kapitel dieser Arbeit hat daher Herz’ Sicht auf die internationalen Beziehungen nach der Zeitenwende von 1989/90 zum Inhalt. Um trotz der Unterschiedlichkeit der einzelnen Kapitel deren Kohärenz zu gewährleisten, arbeitet die folgende Studie mit Zwischenfazits, die nicht nur die gewonnenen Ergebnisse resümieren, sondern Raum für weiterführende Analyse und Kritik bieten. Die Arbeit endet mit einer großen Schlussbetrachtung, die die Leitlinien und Charakteristika von Herz’ außenpolitischem Denken aufzeigt und abschließend die Frage klärt, ob man John Herz aus guten Gründen der realistischen Schule zurechnen kann, als einer deren Gründungsväter er heute gilt.

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A. Einleitung

IV. Literatur Bislang ist keine Monographie zu John H. Herz und seinem Werk erschienen. Auch die allgemeine Sekundärliteratur berücksichtigt ihn nur unzureichend. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet hier das 2008 erschienene Buch The Security Dilemma von Ken Booth und Nicholas J. Wheeler, die Herz in einem eigenständigen Kapitel umfassend und kenntnisreich würdigen.49 Lange Zeit existierten zudem nur einige wenige wissenschaftliche Aufsätze, die sich allein auf Herz konzentrierten. Zum einen beschäftigte sich Kenneth W. Thompson in seinen Büchern über die ideengeschichtlichen Grundlagen des Faches immer wieder mit Herz. Zum anderen verfasste Peter Stirk im Jahr 2005 einen ausführlichen Artikel mit dem Titel, „John H. Herz: Realism and the Fragility of the International Order“, der im Review of International Studies erschien.50 Ebenso wie diese Dissertation behandelten beide Aufsätze allein Herz’ Arbeiten im Bereich der Internationalen Beziehungen. Im Dezember 2008 veröffentlichte die britische Zeitschrift International Relations anlässlich des hundertsten Geburtstages von Herz eine eigenständige Sonderausgabe, die sich mit seinen Arbeiten und seinem Wirken befasste. Dieser Sonderausgabe verdankt die vorliegende Studie zahlreiche Impulse.51 Daneben war auch die Sonderausgabe der Zeitschrift Europäische Ideen, die anlässlich des 70. Geburtstages von Herz bereits im Jahr 1978 erschien, hilfreich, auch wenn es sich bei den Beiträgen eher um Würdigungen als um wissenschaftliche Artikel handelte.52 Von diesen spärlichen Veröffentlichungen abgesehen, basieren die folgenden Ausführungen in der Hauptsache auf Quellen. Neben dem veröffentlichten Schrifttum, das sich vom Jahr 1931 bis zum Jahr 2006 erstreckt, stand für diese Untersuchung umfangreiches archivarisches Material zur Verfügung. Vor allem Herz’ Nachlass, Teil der „German and Jewish Intellectual Émigré Collection“ an der Universität von Albany, USA, hat sich als eine wahre Fundgrube für die Aufarbeitung seines Denkens erwiesen.53 49 Ken Booth/Nicholas J. Wheeler, The Security Dilemma. Fear, Cooperation and Trust in World Politics, Basingstoke 2008. 50 Peter Stirk, John H. Herz: Realism and the Fragility of the International Order, Review of International Studies Vol. 31, No. 2, 2005, S. 285–306. 51 International Relations, Vol. 22, No. 4, 2008. 52 Europäische Ideen, Heft 41, 1978. 53 John H. Herz Papers, German and Jewish Intellectual Émigré Collection, M.E. Grenander Department of Special Collections and Archives, University Libraries, University at Albany, State University of New York (nachfolgend zitiert als „Herz Papers“). Die Sammlung ist noch zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht aufbereitet, daher sind alle hier genannten Angaben hinsichtlich Aufbewahrungsbox und Aufbewahrungsordner vorläufiger Natur.

IV. Literatur

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Neben unveröffentlichten Manuskripten, Vorlesungsnotizen und Leserbriefen fand sich hier ein Großteil seiner Korrespondenz. Weitere Korrespondenz, insbesondere aus der Zeit der Weimarer Republik und während der Nürnberger Prozesse, fand sich in der „Herz-Aschaffenburg Collection“ des Leo Baeck Institutes in New York und im Nachlass von Ossip Flechtheim in der Deutschen Exilbibliothek in Frankfurt. Neben seinen Briefen diente Herz’ Autobiographie Vom Überleben als wichtigstes biographisches Selbstzeugnis. Zusätzlich basiert die Arbeit auf den Interviews, die die Verfasserin mit John H. Herz im März und im September 2005 führen konnte, sowie auf Gesprächen mit seinen Weggefährten und Freunden.

„Ehe der totale Staat fordernd und drohend auf mich zutrat und mich lehrte, was es heißt, Geschichte am eigenen Leib zu erleben, hatte ich schon eine ganz hübsche Menge von dem miterlebt, was man ‚historische Ereignisse‘ nennt.“1 (Sebastian Haffner)

B. Ein Weltbild entsteht: Kindheit und Jugend (1908–1929)2 Am 23. September 1908 wurde Hans Hermann Herz als ältester Sohn jüdischer Eltern in Düsseldorf geboren. Die Geschichte seiner Kindheit und Jugend steht stellvertretend für die Geschichte einer ganzen Teilkultur, die nur wenig später vollständig ausgelöscht werden sollte. Sie gibt Zeugnis von einer „verschollenen Epoche“3 deutscher Geschichte, in der das assimilierte deutsche Judentum seine Blütezeit erlebte. Die Familien Herz und Aschaffenburg (so der Mädchenname der Mutter) personifizierten den sozialen Aufstieg, den viele der deutschen Juden im Zuge der Judenemanzipation und des beginnenden Liberalismus im 19. Jahrhundert vollzogen hatten. Aus der noch ständisch geprägten, ländlich-kleinstädtischen Gesellschaft Deutschlands waren sie hineingewachsen in das aufblühende liberale Bürgertum – als Geschäftsleute, Künstler, Ärzte und Juristen.4 Während Herz’ Urgroßvater noch als Viehhändler auf dem Land lebte, hatte der Großvater bereits ein kleines, aber prosperierendes Geschäft in der Stadt, 1 Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, München 2002, S. 11 f. 2 Für die Zeit von Herz’ Kindheit und Jugend fanden sich in den Archiven kaum Zeugnisse. Die Arbeit muss in diesem Teil hauptsächlich auf Herz’ Autobiographie sowie auf Interviews mit ihm zurückgreifen. Dies bringt ein methodisches Problem mit sich, da die Aussagen, die Herz über seine Familie und sich trifft, kaum quellenkritisch überprüft werden konnten. Die Quellenlage ändert sich erst für seine Studienzeit. Aus den Jahren 1927–1929 ist eine Vielzahl von Briefen erhalten geblieben, die den aus der Autobiographie gewonnenen Eindruck nachträglich untermauern und bestätigen. Sie befinden sich in der Herz-Aschaffenburg Family Collection, AR 5625, Box II (AR 5753), Correspondence, Hans Herz WWI-1940 [Ordner 1], Leo Baeck Institute, New York, USA (nachfolgend zitiert als Herz-Aschaffenburg Family Collection). 3 So äußerte sich John H. Herz im Interview mit Wolfgang Luthardt in Berlin, gesendet am 17. Januar 1986 im Süddeutschen Rundfunk, SDR II, in der Sendereihe „Zeitzeugen“. Eine Abschrift des Interviews findet sich in Box 34, Additional Spalek Material [Ordner], Herz Papers. 4 Vgl. Volker Dahm, Kulturelles und geistiges Leben, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Juden in Deutschland 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, 2. unveränderte Auflage, München 1989, S. 75–267, S. 75.

B. Ein Weltbild entsteht: Kindheit und Jugend (1908–1929)

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und der Vater konnte studieren und wurde Beamter.5 Das in drei Generationen angesammelte Bildungs- und Kulturgut hatte sich mit dem Erklimmen jeder weiteren Gesellschaftsschicht stetig verfeinert. Zum Zeitpunkt von Herz’ Geburt arbeitete sein Vater als königlich-preußischer Richter im Deutschen Kaiserreich und hatte damit den Höhepunkt der Assimilation erreicht, da er als Beamter den damals „so hochverehrten ‚Staat‘“6 verkörperte. Die Familie gehörte zur gehobenen Gesellschaftsschicht des deutsch-jüdischen Bürgertums, das sich an der Schwelle zum Großbürgertum befand. Politisch fühlte sich die Familie wie die meisten deutschen Juden dem Liberalismus verbunden. Der junge Hans Herz wuchs in einer musischen und gebildeten Umgebung auf, umgeben von Kunst, Musik und Literatur.7 Von frühester Jugend an besuchte er die Oper und das Schauspielhaus, ging ins Konzert, zu Ausstellungen und Lesungen. Er selbst erhielt Klavierunterricht und dachte in seiner Jugend lange daran, Musik zu studieren. Die heimische Bibliothek war gut bestückt mit den deutschen Klassikern und den Standardwerken der Philosophie. Die Familie lebte eine deutsche Bildungstradition, wie sie in den Romanen von Thomas Mann beschrieben wurde:8 Abends traf man sich im Wohnzimmer zum gemeinsamen Lesen, Majong spielen und musizieren. Im Salon fanden Theateraufführungen oder Hauskonzerte statt. Man hatte sich ganz den schönen Künsten verschrieben, pflegte engen Kontakt zu Galeriebesitzern, Musikern, Literaten und anderen Künstlern. Noch in seiner Autobiographie zeigt sich Herz als archetypischer Vertreter der bildungsbürgerlichen Klasse, wenn er „Mäzenatentum, das Fördern von Künstlern, Musikern, das Sich-Einsetzen für kulturelle Anliegen und Einrichtungen“ als „moralische Verpflichtung“ deklariert.9 Es ist daher kaum verwunderlich, dass der junge Hans Herz sich schon früh für das Lesen begeisterte und von intellektueller Neugier getrieben alles in sich aufsog, was zwischen zwei Buchdeckeln zu finden war. Er interessierte sich für Geschichte und Philosophie, aber auch für Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften. Kants Erkenntnisphilosophie öffnete 5

Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 19 f. Ebd., S. 20. 7 Davon zeugt unter anderem ein Brief von Herz an Kurt Düwell, in dem er Düsseldorf als „ideale Stätte“ preist, um „junge Menschen in Kultur und Geistleben einzuführen“. Es folgen ausführliche Schilderungen einzelner kultureller Einrichtungen und Erinnerungen an die dort besuchten Veranstaltungen. Vgl. Herz an Kurt Düwell, 26. April 1999, Box 3, Correspondence 1999–2003 [Ordner], Herz Papers. 8 Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls aus der Lektüre der Herzschen Autobiographie. Vgl. insbesondere Herz, Vom Überleben, S. 25–28. 9 Ebd., S. 32. 6

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ihm die Augen und formte seine Sicht der Welt. Später begeisterte er sich für Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes10, dessen zyklische Interpretation der Geschichte und dessen Unterteilung der Welt in Kulturkreise ihn faszinierten. Spenglers geschichtsphilosophischer Ansatz wurde ihm nach eigenen Angaben zum Vorbild für seine späteren Arbeiten.11 Er sah sich angetrieben von einem Streben „nach Sicherheit des Wissens und der Überzeugungen“12 und dem Ziel, das Wesen der Dinge zu erkennen, die Antriebsfaktoren, die der Welt zugrunde lagen. Über sich selbst schrieb er in seiner Autobiographie: „Von Anfang an bestand die Vorstellung, dass man, wenn man nur die gehörige Energie daran setzte, nach und nach erfahren könne, was ‚die Welt im Innersten zusammenhält‘, man nicht nur vieles, sondern ‚alles wissen‘ würde.“13 Lernen empfand er als Segen. Er entwickelte sich zu einem guten und strebsamen Schüler, der mit Freude den Unterricht besuchte. Allein der Sportunterricht geriet ihm immer wieder zur Qual. Körperlich klein und schwach, konnte er sich hier nicht hervortun und empfand sich selbst als Außenseiter, als „jüdischer Stief“14, der auf dem Bolzplatz versagte. Umso mehr versuchte er, dieses Defizit durch besondere Leistungen auf geistigem Gebiet auszugleichen. Seinem Naturell nach introvertiert, verkroch er sich oft hinter seinen Büchern, was ihm den Ruf eines Strebers einbrachte. Lebenslang blieb er schüchtern, verlegen und zurückhaltend im Umgang mit anderen, ein Einzelgänger, den Minderwertigkeitsgefühle quälten.15 Aus diesem Grund empfand der Heranwachsende seinen jüdischen Hintergrund als belastend, da er in seinen Augen das Gefühl des „Andersseins“ verstärkte und ihn mit dem Siegel der Minderwertigkeit versah. Dieses Gefühl basierte jedoch weniger auf tatsächlichen eigenen antisemitischen Erfahrungen, als vielmehr auf dem Bild des „typischen“ Juden, das ihm nach eigenen Angaben in vielen populären Büchern der damaligen Zeit vermittelt wurde.16 In seiner Autobiographie erinnerte er sich: „[I]ch wollte sein wie die ‚Germanen‘, konnte aber nicht verleugnen, dass ich, als Jude geboren, 10 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Wiesbaden 2007 [1918 und 1922]. 11 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 78 ff. 12 Ebd., S. 73. 13 Herz, Vom Überleben, S. 48. 14 Ebd., Vom Überleben, S. 39. Von seinem Dasein als Außenseiter spricht Herz in seiner Autobiographie immer wieder. Vgl. ebd., S. 19, S. 39 f., S. 43. 15 Vgl. ebd., S. 24 f., S. 40. 16 In seiner Autobiographie erwähnt er Gustav Freitag, Soll und Haben, Leipzig 2005 [1855], und Wilhelm Raabe, Der Hungerpastor, 3. Auflage, Göttingen 2005 [1862]. Er bestätigte dies im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 1.

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auch ‚minderwertige‘ jüdische Züge mitbekommen hatte. Ich hatte geradezu ein schlechtes Gewissen, Jude zu sein.“17 Er wies daher alles typisch Jüdische weit von sich, betrachtete Jiddisch als Fremdsprache und die Sitten und Gebräuche der Ostjuden als seltsam und befremdlich. Er empfand sich als Deutscher, der sich oft patriotischer gebärdete als manche seiner nichtjüdischen Mitbürger.18 Rückblickend schrieb er in einem Brief aus dem Jahre 1991: „My family and myself not being ‚observant Jews‘, we hardly considered ourselves as defined by religion; we considered ourselves as German Jews, or, rather, Jewish Germans, part of the German nation (Volk) and German culture.“19 Familie Herz war „sehr unreligiös“20, sie nahm nicht am religiösen jüdischen Leben teil und zelebrierte keine Feiertage.21 Zu Hause und auf dem Gymnasium wurden dem jungen Hans Herz daher keine religiösen Inhalte vermittelt, sondern vielmehr die Ideale des Humanismus und der Aufklärung mit auf den Weg gegeben. Konsequenterweise äußerte er im Interview: „Was mich betrifft könnte ich eigentlich nicht sagen, dass das Jude-Sein mein Weltbild damals sehr beeindruckt hätte.“22 Von antisemitischen Parolen oder Übergriffen blieb er bis 1933 fast gänzlich verschont, auch in der Schule zeigten die Lehrer, selbst die deutschnationalen, keine Vorurteile und diskriminierten ihn nicht.23 Erst Hitler so Herz, „brachte einem bei, dass man Jude war“24 und führte ihm die „Minderwertigkeit“ seiner Rasse vor Augen. Zuvor war ihm Deutschland nie als feindlicher Ort erschienen.25 Diese positiven Erinnerungen blieben auch im 17

Herz, Vom Überleben, S. 42. In einem unveröffentlichten Vorlesungsskript schrieb Herz später einmal: „Wir deutschen Juden waren fast noch patriotischer als die anderen Deutschen, bis uns, zwanzig Jahre später, das Vaterland wissen ließ, dass wir uns besser hinwegbegäben.“ Vgl. John H. Herz, „Weltpolitik als Erfahrung und als Interpretation“ (unveröffentlichtes Manuskript), Box 17, Lectures at Bundeswehrhochschule Hamburg (March 1989) and at Frankfurt University (November 1989) (and related material) [Ordner], Herz Papers. 19 John H. Herz an M. Benjamin Mollov, 24. Oktober 1991, Box 3, Correspondence 1991–1993 [Ordner], Herz Papers. 20 So Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scardsdale, NY, Kassette 1. 21 Zwar war Herz’ Vater Mitglied des Vorstandes der Düsseldorfer Synagogengemeinde, die Familie pflegte aber keinerlei jüdische Gebräuche. Sie ging selbst an den hohen Feiertagen nicht in die Synagoge und feierte Weihnachten traditionell mit Baum und Geschenken. Die religiöse Einstellung der Mutter kennzeichnete ein „pessimistischer Agnostizismus“. Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 22. 22 Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 1. 23 Vgl. ebd. 24 Ebd. 25 Vgl. ebd. 18

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amerikanischen Exil erhalten und prägten sein Deutschlandbild über das Jahr 1933 hinaus.26 Obwohl er sich selbst stets als ungelenker Außenseiter empfand, gelang es ihm, sich während der Oberstufenzeit mit einem festen Freundeskreis zu umgeben, mit dem er sich jeden Sonntagnachmittag zu so genannten „Sonntagsgesprächen“27 traf, bei denen die Diskutanten die Weltlage analysierten und interpretierten. Regelmäßig fanden sich hier Herz’ lebenslanger bester Freund Ossip Flechtheim, Max Levy, Fritz Klestadt und Hans Wetzler ein. In ihrer Mitte fühlte sich Herz in seinem Element, ging es doch bei den Gesprächen um die Bücher, die man gelesen, die Konzerte, Ausstellungen und Theaterstücke, die man besucht hatte. Insbesondere politische Themen standen auf der Tagesordnung und wurden mit viel Leidenschaft diskutiert. Das politische Interesse, das damals die ganze Jugend erfasst hatte, erklärte Herz rückblickend durch die besondere Schwäche der Weimarer Demokratie, „wo es so viele verschiedene Richtungen, so viele verschiedene Parteien gab, wo die Regierung alle paar Monate zusammenbrach und so weiter, was dazu führte, dass man sich sagte: ‚Ja, gibt es denn da nicht etwas zu verbessern?‘“28 Flechtheim war seinerzeit „dogmatischer Marxist im Sinne des Leninismus“29, Levy erklärter Zionist, die beiden anderen kamen wie Herz aus einem bürgerlichen Lager und waren von gemäßigten liberal-demokratischen Auffassungen geprägt. Der intellektuelle Austausch, der zwischen den Freunden über die sonntägliche Kuchentafel hinweg erfolgte, gehörte zu den prägendsten Eindrücken, die Herz in seiner Jugend erfuhr. Im Rahmen der Diskussionen offenbarte sich ein Dilemma, das zu einem charakteristischen Leitmotiv des Herz’schen Denkens werden sollte. Wäh26

Darüber konnte sich mancher „Mit-Emigrant“ allerdings nur wundern. So schrieb beispielsweise sein ehemaliger Kommilitone, der berühmte Literaturwissenschaftler Hans Mayer, nach der Lektüre der Herz’schen Autobiographie folgende Zeilen an Herz: „Andererseits war ich frappiert über die Unterschiede in unseren Schilderungen der eigenen Jugend. Bei Ihnen doch trotz allem so etwas wie besonnte Vergangenheit. Bei mir, wie Sie bemerkt haben, eine starke Kühle und innere Distanz. Vor allem, weil ich stets von heute her schreibe und gar nicht den Versuch unternehmen konnte, die Emotionen von einst gleichsam zu galvanisieren. Bei Ihnen ist jedoch offenbar noch viel Wärme von damals zurückgeblieben, so dass Sie als Schreibender keiner Anstrengung bedurften.“ Vgl. Hans Mayer an Herz, 18. Januar 1985, Box 2, „Vom Überleben. Correspondence with Droste, etc.“ [Ordner], Herz Papers. 27 Herz, Vom Überleben, S. 68. 28 John H. Herz im Interview mit Angela Genger am 14. März 1997 in Scarsdale, New York. Eine Abschrift des Interviews findet sich in Box 34, Additional Spalek Material [Ordner], Herz Papers. 29 Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 2.

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rend Flechtheim und Levy unumwunden ihre jeweiligen Standpunkte vertraten, von den Grundannahmen der dazugehörigen Ideologien in jeder Beziehung überzeugt, konnte Herz sich nie zwischen gegensätzlichen Weltanschauungen entscheiden. Im Interview äußerte er sich wie folgt: „Meine Einstellung im Gegensatz zu den meisten anderen Freunden war zwiespältig. Ich konnte mich nicht irgendwie festlegen. Ich war so von einer und der anderen Richtung hin- und hergerissen, dass mir nicht klar war, welche Haltung soll ich denn einnehmen?“30 Besonders mit Flechtheim verwickelte er sich immer wieder in Streitgespräche. Im Interview sagte Herz: „Ich muss sagen, dass mir kein Mensch – jedenfalls meines Alters – so nahe gestanden hat und mich so beschäftigt hat.“31 Der von Flechtheim propagierte dogmatische Marxismus stand dabei immer wieder im Mittelpunkt einer hitzigen Diskussion. Die marxistische Geschichtsinterpretation machte auf Herz großen und nachhaltigen Eindruck, die kommunistische Partei schien ihm am ehesten die Sache der „Unterdrückten und Ausgebeuteten“32 zu vertreten. Trotz einer grundlegenden Sympathie konnte er sich den marxistischen Ideen jedoch nie ganz verschreiben: „Ich bin nie Kommunist oder auch nur dogmatischer Marxist gewesen, habe aber gewisse Dinge, die mir von Flechtheim vorgestellt wurden, als richtig anerkannt. Zum Beispiel glaube ich auch heute noch, dass Marx, was damals die Analyse des damals existierenden kapitalistischen Systems betraf, mit sehr vielem Recht gehabt hat.“33

Insbesondere das marxistische Verständnis von Kultur als bloßem Überbau über die herrschenden Produktionsverhältnisse blieb dem Musischen und Kunstbeflissenen jedoch stets fremd. Er blickte daher mit einer gewissen Sehn-, ja sogar Eifersucht auf den Freund, denn nichts wäre ihm lieber gewesen, als sein Bedürfnis nach Wahrheit und Erkenntnis endlich befriedigt zu wissen. In seiner Autobiographie schrieb er: „Ich war nie imstande, mich ganz einem Dogma, einer abgerundeten Weltanschauung anzuschließen – bin es bis heute nicht.“34 Stets war er auf Ausgleich und Versöhnung bedacht. Dies wurde charakteristisch für seine weitere Entwicklung. Die einzigen Schatten, die sich in den ersten Jahren über sein Leben legten, waren die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, die er als Kind zu spüren bekam. Bevor er lesen lernte, kannte er bereits den Atlas, und in Erinnerung an die ersten Jahre seines Lebens sah er stets die Farben der 30 31 32 33 34

Herz im Interview mit J. P. am 21. September 2005 in Thun, Schweiz. Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 1. Herz, Vom Überleben, S. 59 f. Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 2. Herz, Vom Überleben, S. 80.

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damaligen Kolonialreiche vor sich: „Französisches Westafrika blau, Ostafrika, da englisch, rosarot, etc.“35 Den Kriegsverlauf verfolgte die ganze Familie patriotisch und freute sich über die deutschen Siege. Über die Tage des Kriegsausbruchs sollte Herz später einmal schreiben: „Ich erinnere mich der Augusttage 1914, als wir den ins Feld ziehenden Feldgrauen zujubelten, die ‚Siegreich wolln wir Frankreich schlagen‘ sangen – Frankreich der Erbfeind, dazu vor allem noch das ‚perfide Albion‘. Ich pflanzte Fähnchen auf die Landkarten, die das stete Vordringen der deutschen Armee anzeigten (bis sie stecken blieben).“36

Als die deutschen Siege ausblieben und der Krieg sich immer weiter hinzog, wuchs das Gefühl der Bedrohung: In der Schule musste sich Hans Herz beim Fliegeralarm unter Sirenengeheul an die Wand stellen, zu Hause wurden Lebensmittel und andere Güter knapp. „Dann Niederlage, Revolution, neue Regierung (Rat der Volksbeauftragten), Unruhen, Linksradikalismus (Liebknecht, ‚Spartakusbund‘), alles erregte die Erwachsenen und übertrug sich auf die Kinder.“37 Angst erfasste die Jüngsten der Familie, wenn sie von den politischen Morden hörten, „oder vom Kapp-Putsch, dem Hitlerputsch, usw.“38 Herz erinnerte sich, „vom Mord am Finanzminister Erzberger ganz in unserer Nähe im Schwarzwald, wo wir in Ferien waren, gehört zu haben, und dann von dem am Außenminister Rathenau. Letzterer beunruhigte uns besonders, da er Jude war.“39 Dennoch erlebte Herz die Jahre zwischen 1918 und 1933 nicht im Zeichen der am Horizont aufsteigenden Bedrohung, sondern empfand sie als intellektuelle und kulturelle Blütezeit. Trotz des nicht lange zurückliegenden Ersten Weltkrieges herrschte das Gefühl von Sicherheit vor, und man knüpfte wieder an jenen Fortschrittsoptimismus an, der schon die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet hatte. Herz hatte das Gefühl, in ein Zeitalter geboren worden zu sein, in der alles Überlieferte in Frage gestellt worden war. Das „gute Leben“ sollte allen auf Erden ermöglicht werden, Zusammenarbeit und Frieden sollten Zwiespalt und Krieg ersetzen, Demütigung und Schmerz einem Leben in Menschenwürde weichen, Schönheit in Kunst und Leben alles Hässliche verjagen.40 Herz schrieb: „Der rasante Fortschritt der Technik – Telefon, Radio, Flugzeug, Kino, 35

Herz an Düwell am 26. April 1999. Weltpolitik als Erfahrung und als Interpretation (unveröffentlichtes Manuskript). 37 Herz an Düwell am 26. April 1999. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 14 sowie insbesondere auch S. 44. Vgl. zum damals herrschenden Fortschrittsoptimismus auch Michael Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, 3. Auflage, Berlin 1983, S. 249–365. 36

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alles war ja noch neu – ließ auf ein besseres Zeitalter hoffen, in dem kriegerische Konflikte vermieden würden und der Völkerbund ein einträchtiges Zusammenleben der Völker sichern könnte.“41 Das Gefühl von Geborgenheit dominierte. Der Glanz der Weimarer Jahre mit ihrer Betonung des Freigeistes, des Neuanfangs und des Aufbruchs überdeckte die drohende Gefahr. Herz und viele seiner Zeitgenossen erkannten daher die Stärke und die Bedrohlichkeit des tief verwurzelten rassistischen Nationalismus zunächst nicht. Sie glaubten, sich auf den fortschreitenden Assimilationsprozess des deutschen Judentums verlassen zu können und bewerteten den sich immer weiter ausbreitenden fanatischen Antisemitismus als Randerscheinung der extremen Rechten. Bis zur Machtübernahme Hitlers konnte Herz auf eine erfolgreiche und beschauliche Studienzeit zurückblicken, die er ihm Nachhinein als die „freieste und gelösteste“42 seines Lebens bezeichnete. Die Wahl des Studienfachs geriet dem vielfach Begabten und Interessierten allerdings zunächst zu einer der schwersten Entscheidungen seines Lebens. Er war hin- und hergerissen zwischen den so genannten „schönen Künsten“ wie Musik, Kunstgeschichte oder Literatur und der Notwendigkeit einer Tätigkeit, die auch dem Broterwerb dienlich war. Nach langen Monaten des Haderns und Zögerns fiel seine Wahl schließlich – a contrecoeur – auf die Rechtswissenschaft.43 Von 1927 bis 1931 studierte er an den Universitäten Freiburg, Heidelberg, Grenoble, Berlin, Bonn und Köln. Zum Schwerpunkt seiner Studien wählte er zum einen die Rechtsphilosophie, zum anderen das Staats- und das Völkerrecht, wohingegen er für das Zivilrecht nur wenig übrig hatte. In dieser Wahl traten sowohl sein theoretischphilosophisches als auch sein politisches Interesse bereits deutlich zutage. Dennoch hielt sich die Begeisterung für das gewählte Studienfach in Grenzen, und er besuchte in den ersten Jahren an der Universität wesentlich mehr philosophische, historische, germanistische, kunst- und musikwissenschaftliche als rechtswissenschaftliche Vorlesungen. Auch in späteren Semestern konnte Herz keine rechte Begeisterung für die „Juristerei“ entwickeln und dachte sogar öfters daran, sein Studium ganz abzubrechen. Dies sollte sich erst durch die Entdeckung der „Reinen Rechtslehre“ und ihres Schöpfers Hans Kelsen in Berlin ändern. Mit dieser Entdeckung einher ging auch die erstmalig systematische Beschäftigung mit 41 Herz, Weltpolitik als Erfahrung und als Interpretation (unveröffentlichtes Manuskript). 42 Herz, Vom Überleben, S. 85. 43 Eine Wahl, die er als „kleineres Übel“ bezeichnete, denn, so Herz, „ich war eigentlich mehr interessiert an den verschiedensten anderen Dingen, Philosophie, Literatur, auch Musik.“ Vgl. John H. Herz im Interview mit Angela Genger am 14. März 1997.

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Fragen der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen. Die „Reine Rechtslehre“ bildete sozusagen das erste Prisma, durch das Herz die internationale Politik wissenschaftlich betrachtete, wie er selbst rückblickend bemerkte: „My approach to international relations had been through the study of international law.“44 Mit seiner Rezeption der „Reiner Rechtslehre“ soll daher auch die intellektuelle Reise auf den Spuren von John H. Herz ihren Ausgangspunkt nehmen, an deren Ziel die Rekonstruktion seines außenpolitischen Denkens steht.

44 Vgl. John H. Herz, From Geneva 1935 to Geneva 1985: Roots of my Views on World Affairs, in: International Studies Notes of the International Studies Association, Vol. XII, No. 2, 1986, S. 28–30, S. 28.

C. Die rechtswissenschaftlichen Grundlagen des Herzschen Denkens (1929–1931) Hatte Hans Herz sein Jurastudium zunächst nur mit mäßiger Begeisterung betrieben, zog ihn die „Reine Rechtslehre“ Hans Kelsens unmittelbar in ihren Bann. Immer schon hatte ihn das historisch-rechtstheoretische Element der Rechtswissenschaft mehr interessiert als deren praktische Anwendung. Er lernte Kelsen persönlich erst in Köln kennen, als es ihn im Frühjahr 1929 zurück ins Rheinland verschlug. Aber schon während seiner Berliner Studienzeit hatte er dessen Schriften entdeckt und alles verschlungen, was Kelsen bis dato publiziert hatte. Auf der Suche nach den philosophischen Grundlagen der Rechtswissenschaft wurde er hier fündig: Die „Reine Rechtslehre“ schien ihm, „wie keine andere die wissenschaftlich-philosophische Basis der Juristerei darzustellen“.1 Kelsen, wie Herz jüdischer Herkunft, war zuvor in Wien wegen seiner ideologiekritischen Grundhaltung und der Verteidigung liberal-antiautoritärer Verfassungsprinzipien in Bedrängnis geraten und deshalb 1930 dem Ruf an die Universität Köln gefolgt.2 Nur wenige Tage nach seiner Ankunft suchte Herz ihn in seinem Hotelzimmer auf und bat um die Betreuung seiner Doktorarbeit. Als Thema schlug er vor, die Frage der Identität des Staates bei Revolutionen und Gebietsänderungen zu behandeln. Kelsen stimmte zu und Herz wurde sein erster Kölner Doktorand. Von nun an konzentrierte er sich fast ausschließlich auf die Rechtswissenschaft und das Studium bei seinem Doktorvater, besuchte aber auch eine Vorlesung des Kölner Philosophieprofessors Nicolai Hartmann, dessen Ontologie großen Eindruck auf ihn machte. In erster Linie wurde jedoch Kelsen zum prägenden Einfluss: In ihm fand Herz einen Lehrer, der die Entwicklung seines Denkens nachhaltig prägte. In einem Brief an Kelsen anlässlich seines 90. Geburtstags schrieb Herz: „Von dem Tag an, an dem ich mich bei Ihnen in Köln als Doktorand meldete – Sie waren noch im Domhotel, hatten noch nicht Ihre 1

Herz, Vom Überleben, S. 88. Eine Beschreibung der Situation in der staatsrechtlichen Abteilung der Universität Köln in den Jahren zwischen 1930–33 findet sich bei Hans Mayer, einem damaligen Kommilitonen und Mitdoktoranden von Herz: Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Band I, Frankfurt a. M. 1982, S. 148–150. Einen guten Überblick über den Lebensweg Hans Kelsens’ gibt Rudolf Aladár Métall, Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969. 2

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C. Die rechtswissenschaftlichen Grundlagen (1929–1931)

Wohnung bezogen –, nahm meine geistige Entwicklung eine Wende, die bis zum heutigen Tag nachgewirkt hat.“3 In der Tat ist in Herz’ Auseinandersetzung mit seinem akademischen Lehrer Hans Kelsen bereits angelegt, welche Problemstellungen er später als Politikwissenschaftler behandeln und welche Lösungen für diese Probleme er finden sollte. Kelsens Rechtslehre filterte und kanalisierte Herz’ Wahrnehmung, durch sie wurde er mit der systematischen Trennung von Sein und Sollen, Wirklichkeit und Werten, Moral und Recht vertraut gemacht. Die intellektuelle Auseinandersetzung mit Kelsens Werk stellt deshalb den Schlüssel zum Verständnis von Herz’ außenpolitischem Denken dar. Ferner gibt sie auch Aufschluss darüber, ob es einen systematischen Zusammenhang zwischen dem Entstehen des außenpolitischem Realismus und der Weimarer Staatsrechtslehre gab und worin dieser gegebenenfalls zu sehen ist.4 Sie steht daher im Zentrum dieses Kapitels.

I. Kelsens Lehre im Spiegel der Weimarer Staatslehre Nachfolgend werden die Grundannahmen der Staats- und Völkerrechtslehre Hans Kelsens kurz vorgestellt. Daran anschließend wird untersucht, wie das Denken des jungen Hans Herz durch die Auseinandersetzung mit Kelsens Lehre geformt wurde. 1. Die „Reine Rechtslehre“ Kelsens methodische Orientierung reichte zurück in die für Deutschland lange Zeit prägende Tradition einer Allgemeinen Staatslehre. In der Geschichte der Rechtsphilosophie ist seine schon vor 1918 konzipierte und im nachmonarchischen Wien voll entwickelte Theorie der „Reinen Rechtslehre“ als konsequente Weiterentwicklung des Rechtspositivismus zu verorten.5 Kelsen wollte versuchen, die Rechtswissenschaft davor zu bewahren, als 3 Herz an Hans Kelsen, 4. Oktober 1971, Box 2, General Correspondence 1971–1973 [Ordner], Herz Papers. 4 Viel ist darüber geschrieben worden, dass die Entstehung des außenpolitischen Realismus in den USA maßgeblich von emigrierten deutschen Rechtswissenschaftlern vorangetrieben wurde. Vgl. exemplarisch Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge et al. 2005: „The ‚Realism‘ that German jurists such as Morgenthau, Herz or Karl Deutsch (1912–1992) inaugurated in the international relations academia . . .“ 5 Vgl. Peter Koller, Meilensteine des Rechtspositivismus im 20. Jahrhundert: Hans Kelsens Reine Rechtslehre und H.L.A. Harts ‚Concept of Law‘, in: Ota Weinberger/Werner Krawietz (Hrsg.), Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, Wien/New York 1988, S. 129–178.

I. Kelsens Lehre im Spiegel der Weimarer Staatslehre

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Propaganda absoluter Werte, als Deckmantel politischer und ideologischer Meinungen, missbraucht zu werden. Ihm ging es darum, die Staatslehre zu einem im strikten Sinn wissenschaftlichen Arbeitsfeld zu machen, indem man sie endgültig von allen außerjuristischen Elementen, also allen moralischen, ethischen, ideologischen oder politischen Inhalten, befreite und sich auf die positiv rechtliche Ebene konzentrierte.6 Nach Kelsen mussten die Sphären des Seins, also des Faktischen, und des Sollens, also des Normativen, strikt voneinander getrennt betrachtet werden. Weder könne von einem Sein ein Sollen, noch von einem Sollen ein Sein abgeleitet werden7 – was für ihn gleichbedeutend war mit der Trennung des Rechts von Gerechtigkeit, Naturrecht und Moral. Damit stellte er sich in die Tradition der Neukantianer,8 welche in Analogie zu den Naturwissenschaften versuchten, auch in den Geisteswissenschaften reine, apriorische und formale Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten. Ebendiese theoretische Reinheit von Kelsens Lehre, „die Reinlichkeit, mit der sie sich von insbesondere naturrechtlich eingestellten, auf Ideologien beruhenden politischen Theorien von Staat, Recht etc. abhob“9, beeindruckte Herz nachhaltig. Kelsens Position war innerhalb der Weimarer Staatslehre alles andere als unumstritten. Die Weimarer Zeit gilt innerhalb der Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland als „Epoche der Grundlagendiskussion der Methodik, der tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten über die erkenntnistheoretischen und interpretatorischen Varianten des ‚Staates‘“10. Es gab nur wenige Wissenschaftszweige, in denen sich die Abkehr von den Denksystemen des 19. Jahrhunderts in so rascher und konsequenter Weise vollzog wie hier. Der „Methoden- und Richtungsstreit“,11 der quer durch die deutsche Staatswissenschaft ging, entfachte eine Generaldiskussion über den Standort des Faches, bei dem die Teilnehmer die elementaren methodischen Voraussetzungen der eigenen Disziplin definierten.12 Dabei wurde 6

Vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage, Wien 1960, S. 1. Vgl. ebd., S. 5 ff. 8 Zum Neukantianismus vgl. etwa den klassischen Text von Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, in: Ders., Rechtsidee und Recht: Rechtsphilosophische und ideengeschichtliche Bemühungen aus fünf Jahrzehnten, Göttingen 1960, S. 176–245. 9 Herz, Vom Überleben, S. 99. 10 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur, 1914–1945, München 1999, S. 154. 11 Zur Relevanz des Methoden- und Richtungsstreits für die Politikwissenschaft vgl. Wilhelm Hennis, Politikwissenschaft und politisches Denken, Tübingen 2000, insb. S. 2–16. 12 Vgl. Martin Schulte, Hans Kelsens Beitrag zum Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre, in: Stanley L. Paulson/Michael Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. 7

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C. Die rechtswissenschaftlichen Grundlagen (1929–1931)

allerdings um weit mehr gerungen als nur um den methodischen Zugriff. Es ging um konkurrierende Wissenschaftskonzeptionen. Als Varianten einer möglichen Fortentwicklung der allgemeinen Staatslehre hatte sich neben der Kelsenschen Version des Rechtspositivismus die antipositivistische Gegenposition herausgebildet, deren Vertreter die Disziplin nicht bereinigen, sondern gerade gegenüber den Sozial- und Geisteswissenschaften, insbesondere Ethik, Politik und Geschichte, wieder intensiv öffnen wollten.13 Letztere Richtung betrachtete all jene historischen, sozialen, kulturellen und politischen Bezüge des Rechts als originären Bestandteil der Rechtswissenschaft, welche die „Reine Rechtslehre“ als Fremdkörper aus dem Kreis rechtswissenschaftlicher Erörterungen zu verbannen suchte. Der schärfste und zugleich berühmteste Gegenspieler Kelsens war sein Kölner Kollege Carl Schmitt. Schmitt trennte nicht zwischen der „Wissenschaft“ und der „Politik als Beruf“, sondern forderte explizit eine Politisierung der Wissenschaft. Während Kelsen sich weigerte, im Staat allein den Inbegriff von faktischen Machtverhältnissen zu erblicken und ihn stattdessen als personifizierte Rechtsordnung sah, war Schmitt fasziniert vom Staat als einem eine eigene Legitimation nicht bedürftigen Wesen – er sah im Staat eine den „Ausnahmezustand“ bändigende „dämonische Macht“14. Für Schmitt war Recht ein bloßes Mittel zur Ausübung dieser staatlichen Macht, um so den Ausnahmezustand unter Kontrolle zu bringen.15 Während Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 248–263. 13 Zu nennen sind hier aus der Riege der Staatsrechtler der Weimarer Republik in erster Linie Heinrich Triepel, der einen zwar im Positivismus wurzelnden, aber ihn durch Einbeziehung der Geschichte und der politischen Interessen dynamisierenden Ansatz vertrat, und Rudolf Smend, dessen Reflexionen über den Staat gleichermaßen in der protestantischen Ethik, im gesellschaftlichen Bewusstsein und in einem konservativ-idealistischen Politikverständnis verankert waren, sowie Erich Kaufmann, dezidierter Hegelianer, der ein idealistisches Naturrecht mit nationalistischen Machtstaatsgedanken verband. Triepel, Smend und Kaufmann argumentierten aus einer konservativen Orientierung heraus, Kelsen erfuhr aber auch Kritik aus den eigenen, sozialdemokratischen Reihen. Insbesondere Hermann Heller wendete sich äußerst scharf gegen Kelsen, hielt dessen neukantianische Trennung von Sein und Sollen für grundlegend falsch und erklärte die Gleichsetzung von Staat und Recht für absurd. Für Heller war der Staat Teil der menschlichen Kultur, die Staatslehre deshalb Teil der Wissenschaft von der Politik. Die Wirklichkeit des Staates wollte Heller soziologisch, durch Erfassung von „Strukturen“, bestimmen. Alle hier Genannten einte einzig ihre Frontstellung gegen den Rechtspositivismus, ihre Ansätze waren ansonsten höchst unterschiedlich. Vgl. für weitere Nachweise Stolleis, S. 171–186 und Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden 1986, S. 20 f. 14 Stolleis, S. 178. 15 Schmitt betonte die Unfähigkeit des liberalen Rechtsstaates und seiner Staatslehre, den Ausnahmezustand wahrzunehmen und ein juristisches Instrumentarium

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Schmitt Recht also als politisches Instrument sah, war es für Kelsen rein, folglich unbestechlich, und daher vor der politischen Instrumentalisierung durch exogene Faktoren gefeit. Der britische Politikwissenschaftler Peter Stirk formuliert trennscharf: „Whereas Kelsen identified the state with law, Schmitt identified sovereignty with the decision about when the law does not apply.“16 Herz schrieb in einem späteren Aufsatz über Carl Schmitt, dass eben diese Politisierung des Rechts und der Wissenschaft auf ihn einen ungeheuren Eindruck gemacht hatte,17 wenn er sich zu diesem Zeitpunkt auch (noch) gegen eine solche Politisierung verwehrte. In seiner 1923 vorgetragenen Parlamentarismuskritik verwarf Schmitt die Idee der modernen Massen- und Parteiendemokratie zugunsten des Idealtyps eines starken Staates.18 Der Staat, verstanden als politische Einheit des Volkes, sollte kraftvoll und durchsetzungsstark sein, Freund und Feind unterscheiden,19 seine Gegner erkennen und sie bekämpfen, also politisch handeln. Schmitt übernahm sein Credo von Hobbes: Auctoritas, non veritas facit legem! Seine Schrift vom Begriff des Politischen eröffnete er 1932 mit der Eingangsthese: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“20 Schmitt formulierte also anders als Kelsen einen Primat der Politik, keinen Primat des Rechts: Aus der „Reinen Rechtslehre“ wurde bei ihm sozusagen eine „Reine Machtlehre“. Der Rechtsordnung ging immer eine andere, namentlich staatliche Ordnung voraus. Es war für Schmitt diese vor-rechtliche Ordnung, die es dem Recht erst ermöglichte, konkrete Wirklichkeit zu werden, während für Kelsen das Sollen dem Sein vorausging. Mit anderen Worten: Das Politische folgte bei Schmitt einer konstitutiven Logik, das Juristische einer regulativen – bei Kelsen war es umgekehrt. Während für die strikten Normativisten im Dunstkreis von Kelsen und seiner „Wiener Schule“ die Unterscheidung von Staat und Recht nicht mehr sinnvoll war, erschien Schmitt dieser Dualismus evident.21 Schon in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahre 1914 über den Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen schrieb Schmitt: „Der Staat als Macht für seine politische Bewältigung zu liefern. Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), 3. Auflage, Berlin 1979, S. 18 ff. 16 Peter Stirk, Twentieth-Century German Political Thought, Edinburgh 2006, S. 67. 17 Vgl. John H. Herz, Looking at Carl Schmitt from the Vantage Point of the 1990s, in: Interpretation, Vol. 19, No. 3 (Frühjahr 1992), S. 307–314, hier S. 307. 18 Vgl. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, in: Paul Krüger (Hrsg.), Bonner Festschrift für Ernst Zittelmann zum 50. Doktorjubiläum, München und Leipzig 1923, S. 413–473. 19 Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, S. 26 ff. 20 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 20.

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und daher als Nicht-Recht steht dem Rechte gegenüber, um es zu verwirklichen.“22 Kelsen indes sah im normsetzenden Willen des Staates die einzige Rechtsquelle: Der Staat könne über die Art der Rechtssetzung wie auch über die Durchführung und – wenn nötig – Erzwingung von Rechtsnormen frei verfügen. Recht bestand für Kelsen damit allein in den vom Staat gesetzten Rechtsnormen als eine Anordnung inhaltlich beliebiger Zwangsnormen verstanden als rein formale Kategorie. Jede verfassungsgemäß erlassene Norm stellte bindendes Recht dar, wobei der Gesetzgeber weder an moralische Grundwerte noch an ethische Prinzipien gebunden war. Recht wurde in der „Reinen Rechtslehre“ so zu einer mit beliebigem Inhalt ausfüllbaren Form. Die hier von Kelsen vorgenommene Definition von Recht, Rechtsnorm und Rechtsordnung erschien dem jungen Studenten Hans Herz einleuchtender als alle anderen Erklärungsansätze.23 Die Aufgabe der Rechtswissenschaft sah der „Normtechniker“24 Kelsen nun darin, das jeweilige positive Recht zu erkennen und zu verstehen, nicht aber darin, es zu bewerten. Der Erkenntnisgegenstand des Rechts sollte nicht vom Werturteil des erkennenden Subjekts beeinflusst werden.25 Zentral für Kelsen war die Frage, was und wie das Recht war, nicht aber wie es inhaltlich ausgestaltet oder in welchem Verfahren es erzeugt werden sollte: Die „Reine Rechtslehre“ wollte das Recht abbilden, „so wie es ist, nicht so, wie es sein soll: sie fragt nach dem wirklichen und möglichen, nicht nach dem ‚idealen‘, ‚richtigen‘ Recht.“26 In diesem Sinne stellte sie eine „radikal realistische Rechtstheorie“27 dar, die der Naturrechtslehre diametral gegenüber stand.28 21

Vgl. Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 4. Auflage mit einer neuen Einleitung, Berlin 2002, S. 38 ff. Vgl. ferner Stolleis, S. 155 f. 22 Carl Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, 2. Auflage, Hellerau 1917, S. 86. 23 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 94. 24 Alexandra Kemmerer, Atempause des Rechts. Wenn die Ordnung verstummt, ist die Völkerrechtstheorie gefragt, in: Internationale Politik, Mai 2005, S. 52–59, S. 57. 25 Zu einer Kritik an diesem Konzept vgl. Eric Hilgendorf, Zum Begriff des Werturteils in der Reinen Rechtslehre, in: Clemens Jablonner/Friedrich Stadler (Hrsg.), Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre. Beziehungen zwischen dem Wiener Kreis und der Hans-Kelsen-Schule, Wien/New York 2001, S. 117–135. 26 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 112. 27 Ebd. 28 Die Naturrechtslehre setzt ein ideales, natürliches, gerechtes und unveränderliches Recht voraus, welches der gesamten Rechtsordnung zugrunde liegt. Das reale,

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Kelsen berief sich in seiner Ablehnung des Naturrechtsgedankens auf die Unmöglichkeit, moralische Wertungen letztverbindlich zu begründen. Jeder Versuch, das Recht auf einen Geltungsgrund a priori zurückzuführen, sei notwendigerweise zum Scheitern verurteilt, da kein Kriterium ersichtlich sei, aufgrund dessen in rationaler Weise begründet werden könne, warum ein bestimmtes Glied in einer normativen Ableitungskette das letzte, endgültig maßgebliche Sollen darstelle.29 Zum Beweis dieser Ansicht analysierte Kelsen zunächst eine Reihe historisch bedeutsamer Gerechtigkeitsund Naturrechtslehren. Mit Verweis auf die in der Geschichte auftauchenden immer wieder höchst unterschiedlichen Auffassungen über unverfügbare, objektive Wertmaßstäbe erwies sich jedes Wertsystem als Ausdruck der jeweiligen Kultur – und somit als relativ: „Angesichts der außerordentlichen Verschiedenheit dessen, was die Menschen tatsächlich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten für gut und böse, gerecht und ungerecht halten, lässt sich aber kein den Inhalten der verschiedenen Moralordnungen gemeinsames Element feststellen.“30 Hans J. Morgenthau drückte den selben Gedanken später einmal so aus: „[W]hat the moral law demanded was by a felicitous coincidence always identical with what the national interest seemed to require.“31 Besonders wichtig erschien Kelsen die Bedeutung von Zwang bzw. Sanktionen: Jedes positive Rechtssystem bedürfe der Effektivität, d.h. der tatsächlichen Anwendung und Durchführung der Rechtsnormen, während abstrakte Gerechtigkeitsvorstellungen in den Köpfen einzelner losgelöst vom tatsächlich angewandten Recht schweben könnten. Die faktische Geltung der „positiven“ Rechtsnormen werde durch die Wirksamkeit des Zwangs garantiert. Zur Reinen Rechtslehre gehöre daher, dass ein Unterlassen eines rechtlich gebotenen Verhaltens rechtlich organisierte Sanktionen nach sich von Menschen gesetzte, „positive“ Recht gilt nach der Naturrechtslehre nur dann, wenn es mit dem idealen, gerechten Recht übereinstimmt. 29 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 67. Auch Kelsen musste sich jedoch die Frage stellen, warum Normen gelten: Eine Norm, die nichts anderes als eine Sollensanordnung ist, kann ihre Geltung nur von einer anderen, im Stufenbau der Rechtsordnung höher stehenden Norm ableiten. Da dies jedoch zu einem regressus in infinitum führen würde, sah sich Kelsen genötigt, zu einer Fiktion zu greifen und führte alle Normen des positiven Rechts auf eine einzige ungeschriebene Grundnorm als den letzten Grund der Geltung des positiven Rechts zurück. Vgl. ebd., S. 8, S. 196 ff. Ohne ein Minimum an Metaphysik kommt also auch Kelsen nicht aus. Vgl. Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer/Ulfrid Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Heidelberg 2004, S. 126. 30 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 66. 31 Hans J. Morgenthau, In Defense of the National Interest. A Critical Examination of American Foreign Policy, New York 1951, S. 19.

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ziehe.32 Was Kelsen damit sagen wollte war: Wer die Macht hatte, das Recht durchzusetzen, war dazu berufen, das Recht zu setzen.33 Wurde die bisher das Recht durchsetzende Gruppe innerhalb eines Staates durch eine Revolution abgesetzt, konnte sie geltendes Recht nicht mehr hervorbringen. An ihre Stelle trat dann eine andere Gruppe, die das bisherige Recht in ihrem Sinne abändern konnte. In der Reinen Rechtslehre galt mithin ein rein formaler, machtorientierter, entmoralisierter Rechtsbegriff.34 In einer berühmt gewordenen Formulierung fasste Kelsen dies in folgende Worte: „Die Frage, auf die das Naturrecht zielt, ist die ewige Frage, was hinter dem positiven Recht steckt. [. . .] Wer den Schleier hebt und sein Auge nicht schließt, dem starrt das Gorgonenhaupt der Macht entgegen.“35 Eben diese Ablehnung des Naturrechtsgedankens nahm Herz seinerzeit für Kelsens Theorie ein. Recht als Zwangsordnung aufzufassen, bedeutete für ihn „keine ‚unethische‘, ‚unmoralische‘ Einstellung“36, wie er in seiner Autobiographie schrieb. Kelsens an Max Weber orientierter Werterelativismus überzeugte ihn seinerzeit vollständig. Für ihn wie für seinen Lehrer fielen Recht und Moral in zwei voneinander unabhängige Sphären:37 Jede Rechtsnorm war unabhängig von ihrem Inhalt als verbindlich anzusehen, jeder beliebige Inhalt konnte Recht sein. Nach dieser „Trennungsthese“38 war die Rechtsqualität folglich unabhängig von ihrer moralischen Dignität. Gerade in der Beantwortung der Frage nach Recht und Gerechtigkeit, dieser Lösung des „uralten Problems des Verhältnisses von Recht und Ethik“39, bestand die besondere Faszination, die Kelsens Lehre auf Herz ausübte. Dieses „uralte Problem“, das Verhältnis von Recht und Ethik, von Politik und Moral, sollte Herz ein Leben lang nicht loslassen. Das Prinzip der Werturteilsfreiheit galt ihm stets als die Voraussetzung jeglicher wissen32

Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 25–31, S. 51–55. Vgl. David Dyzenhaus, The Gorgon Head of Power: Heller and Kelsen on the Rule of Law, in: Peter C. Caldwell/William E. Scheuermann, From Liberal Democracy to Fascism. Legal and Political Thought in the Weimar Republic, Boston et al. 2000, S. 20–46, S. 21. 34 Vgl. Bernd Rüthers, Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, 2. Auflage, München 2005, S. 320. 35 Hans Kelsen, Diskussionsrede zu den Berichten ‚Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung‘ bei der Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer zu Münster i. W. am 29. und 30. März 1926, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 3, Berlin und Leipzig 1927, S. 53–55, S. 54. 36 Herz, Vom Überleben, S. 96. 37 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 19. 38 Vgl. Michael Pawlik, Die Reine Rechtslehre und die Rechtstheorie H.L.A. Harts. Ein kritischer Vergleich, Berlin 1993, S. 19. 33

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schaftlicher Erkenntnis. Doch obwohl er Kelsens Trennungsthese grundsätzlich zustimmte, litt er bereits damals unter den Folgen dieses denkerischen Rigorismus – wie übrigens auch sein akademischer Lehrer selbst: Oft wurde Kelsen vorgeworfen, mit seiner Theorie legalisiere er den Unrechtsstaat und mache sich nichts aus guter und gerechter Herrschaft. Das Gegenteil war jedoch der Fall, wie Hans Mayer schrieb: „Herzlich gerne hätte er sich, wie so viele Rechtsphilosophen, die geachtet wurden, auf irgendein Naturrecht berufen. Allein alles Naturrecht, das in geschichtlichen Wandlungen stets anders postuliert wurde, so dass man die Verlegenheitsformel von einem ‚Naturrecht mit wechselndem Inhalt‘ erfunden hatte, schien vor den harten Befragungen durch den Positivisten Kelsen als ideologischer Dunst zu zergehen. Das machte ihn leiden, den redlichen Mann.“40

Rechtspositivismus und moralisch-politisches Engagement schlossen sich dennoch keinesfalls aus, wie Kelsen in einem 1929 erschienenen Artikel treffend erläuterte: „Wissenschaft treiben zwingt ja nicht, auf politische Werturteile zu verzichten, verpflichtet nur: das Eine vom Anderen, Erkennen und Wollen, voneinander zu trennen.“41 Herz sollte allerdings bereits wenige Jahre später unter dem Eindruck des aufziehenden Nationalsozialismus zu der Erkenntnis gelangen, dass auch der Wissenschaftler zuweilen auf politische Urteile nicht verzichten durfte, ohne sich schuldig zu machen. Er distanzierte sich daraufhin von der Idee einer vollkommen „reinen“ Lehre und er erweiterte sie um ein explizit normatives Element. 2. Völkerrecht Im Kern besteht die „Reine Rechtslehre“ also aus folgenden Prinzipien: Der systematischen Trennung von Sein und Sollen, von Wirklichkeit und Werten, von naturwissenschaftlichen Kausalsätzen und Rechtssätzen, von Rechtsform und Rechtsstoff. Sie ist antinaturrechtlich und antimetaphysisch, und sie geißelt den „verwerflichen Synkretismus der Methoden“42. Kelsen weitete sie auch auf das Gebiet des Völkerrechts aus.43 Die so konzipierte 40

Mayer, S. 149. Hans Kelsen, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, in: Juristische Wochenzeitschrift, 58. Jahrgang, 1929, S. 1723–1726, S. 1724. 42 Hans Kelsen, Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, Tübingen 1921, S. 18. 43 Mit dem Völkerrecht beschäftigte sich Kelsen eigentlich primär erst nach seiner Berufung nach Köln, wo er erstmals eine Lehrverpflichtung für Völkerrecht angenommen hatte. Bis dato hatte er sich mit dem Völkerrecht nur insoweit beschäftigt, als es das Verhältnis zwischen innerstaatlichem und internationalem Recht betraf. In den darauf folgenden Jahren sollte die Völkerrechtslehre zum Hauptinhalt des Kelsenschen Forschungsinteresses werden, insbesondere in Genf, Prag und den Vereinigten Staaten. Vgl. Métall, S. 57 f. 41

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Völkerrechtstheorie bildete die erste „Brille“, durch die Herz die internationalen Beziehungen betrachtete. Es war Kelsens Theorie, die seine Wahrnehmung zunächst filterte und kanalisierte, bis Herz sich in Genf schließlich von ihr distanzieren sollte. Dennoch wirkte sie auf die Entwicklung von Herz’ außenpolitischem Denken unterschwellig fort. Wie alle anderen völkerrechtlichen Theorien der Weimarer Zeit war auch Kelsens Völkerrechtslehre durch die zeithistorischen Umstände geprägt. Der Erste Weltkrieg und die darauf folgende Neuordnung Europas, insbesondere durch den Friedensvertrag von Versailles, hatten die europäische Landkarte kräftig durcheinander gewirbelt. Während die eine Seite eine wenn nötig auch gewaltsame Revision der geopolitischen Ordnung anstrebte,44 war die andere zu der Überzeugung gelangt, dass Krieg als Mittel der Außenpolitik ausgedient hatte.45 Angesichts der ungeheuren Anzahl von Toten, des brutalen Einsatzes moderner Kriegstechnik sowie des Leidens der Zivilbevölkerung waren Letztere gewiss, dass nur eine Neuordnung des internationalen Systems auf der Basis kollektiver Sicherheit und überwacht durch den Völkerbund den Ausbruch künftiger Kriege verhindern könnte. Es war die Hochzeit des außenpolitischen Idealismus, deren prominentester Vertreter der damalige amerikanische Präsident Woodrow Wilson war.46 Gleichzeitig waren es „goldene Jahre“ für das Völkerrecht.47 Kelsen sympathisierte eindeutig mit dem idealistischen Ansatz. In der Zwischenkriegszeit hatte er sich „zu einem überzeugten Internationalisten [entwickelt], der im Aufbau einer institutionalisierten Staatengemeinschaft den einzigen Weg zu einer friedlicheren Weltordnung sah.“48 Auch hier zeigt sich, dass Kelsen in seinem politischen – nicht juristischen – Denken stark wertegeleitet war.49 Trotzdem ging es ihm – im Einklang mit der „Reinen Rechtslehre“ – zunächst darum, eine unpolitische Methode der 44

Federführend war hier beispielsweise Carl Schmitt, der gegen den Liberalismus und Parlamentarismus der im Völkerbund vorherrschenden angloamerikanischen Mächte das Recht Deutschlands begründen wollte, „selbst Werte zu setzen und verteidigen zu dürfen.“ So Mathias Schmoeckel, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung. 2000 Jahre Recht in Europa – Ein Überblick, Köln et al. 2005, S. 438. 45 Es sei an dieser Stelle auf die gesamte idealistische Schule der internationalen Beziehungen verwiesen. Vgl. Lucian M. Ashworth, Where are the Idealists in Interwar International Relations, in: Review of International Studies, Vol. 32 (2006), S. 291–308. 46 Wilson hatte am 8. Januar 1918 in seiner Jahresbotschaft die Grundannahmen des Idealismus in „Fourteen Points“ vor dem amerikanischen Kongress dargelegt. 47 Vgl. Schmidt, S. 154. 48 Jochen von Bernstorff, Der Glaube an das universale Recht. Zur Völkerrechtstheorie Hans Kelsens und seiner Schüler, Baden-Baden 2001, S. 2. In diesem Sinne auch Koskenniemi, S. 245 f. 49 Vgl. Koskenniemi, S. 245.

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Völkerrechtswissenschaft zu etablieren. Sein zweites Ziel war dann die Förderung des politischen Projekts einer durchgehend verrechtlichten und stärker institutionalisierten Weltordnung.50 Wie der Rechtswissenschaftler Jochen von Bernstorff in seiner grundlegenden Arbeit über Kelsens Völkerrechtstheorie nachweist, war Kelsens Arbeitsweise charakterisiert „durch das ständige Bemühen, die beiden in der Stoßrichtung auf den ersten Blick konfligierenden Ziele durch seine Völkerrechtslehre voranzutreiben.“51 Das Selbstverständnis Kelsens als unpolitischer „Normtechniker“ einerseits und als politisches Individuum andererseits war nicht leicht miteinander vereinbar. Andererseits liegt gerade ein ausgeprägtes politisches Engagement in der Logik der „Reinen Rechtslehre“: Da letztlich alles als Recht anzuerkennen ist, was der Staat im politischen Prozess zu Recht macht, ist die politische Einflussnahme umso wichtiger. Denn die Ergebnisse der (politischen) Rechtssetzung können nicht mehr mit den Mitteln der (unpolitischen) Rechtsanwendung korrigiert werden. Anders ausgedrückt bedeutet dies: Während ein Naturrechtler eine politische Niederlage auf der Ebene der Rechtsanwendung wettmachen kann, verfügt ein Positivist im Sinne Kelsens über keine solche Möglichkeit. Ihm bleibt nur, das politisch und normativ für falsch erachtete Recht anzuwenden, weil es dennoch „reines“ Recht ist. Auch Herz konnte sich aus diesem Spannungsverhältnis nie wirklich lösen. Er kämpfte mit dem Anspruch, „reine“, werturteilsfreie und somit objektive Wissenschaft betreiben zu wollen, und dem gleichzeitigen Wunsch nach einer vom Völkerrecht dominierten Welt, die durch internationale Organisationen gesichert wurde und in der auch er die einzige Alternative zu dem bellum omnium contra omnes sah. Als Grundlage der Völkerrechtslehre Kelsens diente die bereits im Jahr 1920 erschienene Monographie Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts52, nach deren Veröffentlichung Kelsen zu „einem der völkerrechtstheoretischen Schrittmacher der Erneuerungsbewegungen der Zwischenkriegszeit“53 wurde. Aus Sicht dieser Erneuerungsbewegung bedurfte es einer grundlegenden Revision der Völkerrechtslehre, da nur ein 50

Vgl. Bernstorff, S. 1. Vgl. ebd. Bernstorff wirft Kelsen vor, er habe die nach seinem Reinheitspostulat zwingende Trennung von Rechtswissenschaft und Politik nur scheinbar durchgehalten. Zur Auseinandersetzung mit dieser These vgl. Bardo Fassbender, Hans Kelsen und die Vereinten Nationen, in: Pierre-Marie Dupuy/Bardo Fassbender/Malcolm N. Shaw/Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Völkerrecht als Weltordnung. Festschrift für Christian Tomuschat, Kehl et al. 2006, S. 763–784, insb. S. 778 f. 52 Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer Reinen Rechtslehre, 2. Auflage, Tübingen 1928. 53 Bernstorff, S. 5. 51

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zeitgemäßer Ansatz der durch den Ersten Weltkrieg erschütterten internationalen Rechtsordnung neue Autorität verleihen konnte. Sie stellt in dieser Hinsicht das rechtswissenschaftliche Pendant zum außenpolitischen Idealismus dar. Die Entwicklung der internationalen Staatenpraxis bot den Zeitgenossen für eine kleine Weile genügend Anlass, an den Ausbruch einer neuen Epoche im Völkerrecht zu glauben. Nachdem der Erste Weltkrieg, der den Krieg als solchen beenden sollte, siegreich ausgefochten war, ruhte auf dem neu gegründeten Völkerbund die Hoffnung, eine friedlichere Weltordnung zu befördern. Der Rechtswissenschaftler Joseph L. Kunz kommentierte den damals im Völkerrecht herrschenden Optimismus hinsichtlich dessen Gestaltungskraft wie folgt: „There was everywhere, in victors, neutrals, and vanquished, not only the will to achieve a better world through international law, but also the firm conviction that it could be done. Hence, the ambitious experiment of the League of Nations. Away with power politics!“54 Das Ende der Machtpolitik forderte auch Hans Kelsen, der die internationalen Beziehungen stattdessen auf internationales Recht betten wollte. Die theoretische Konstruktion des Völkerrechts, die ihm vorschwebte, sollte dabei den Aufbau einer rechtsbasierten Friedensordnung von wissenschaftlicher Seite abstützen und forcieren. Kelsens Ziel war es, das Völkerrecht als „objektives“ Recht der internationalen Staatengemeinschaft, welches für jeden einzelnen Staat Verbindlichkeit besaß, zu entwickeln. Dies stellte insofern eine besondere Schwierigkeit dar, als im Gegensatz zum staatlichen Recht eine den Staaten übergeordnete, zum Normerlass und zur Rechtsdurchsetzung befähigte zentrale Autorität auf internationaler Ebene fehlte. Kelsen wollte dennoch beweisen, dass auch Völkerrecht als verbindliches und durchsetzungsstarkes Recht konzipierbar sei.55 Da für Kelsen gerade die Möglichkeit, Normen mittels Zwang durchzusetzen, das Recht von anderen Bereichen wie z. B. Moral oder Religion unterschied, waren Sanktionen für ein solches Völkerrecht unerlässlich: „Soll das so genannte Völkerrecht eine Rechtsordnung sein, dann muss auch dieses Normensystem als eine Zwangsordnung gelten“56. Kelsen postulierte: Das Völkerrecht sei nichts anderes als eine als souverän vorausgesetzte Zwangsordnung 54 Joseph L. Kunz, The Swing of the Pendulum: From Overestimation to Underestimation of International Law, in: American Journal of International Law, XLIV, 1950, S. 135–140. 55 Das Fehlen einer zwangsbefugten Zentralgewalt war bereits im 19. Jahrhundert das Hauptargument der so genannten „Völkerrechtsleugner“. Vgl. Bernstorff, S. 74 f. 56 Hans Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht, Wien/Berlin 1932 (Neudruck: Aalen 1971), S. 483.

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menschlichen Verhaltens, die Zwangsakte als Sanktionen statuiere. Mangels eines zentralen Durchsetzungsapparates in einem auf das äußerste dezentralisierten internationalen System seien die spezifischen Sanktionen des Völkerrechts Akte der staatlichen Selbsthilfe. Das Völkerrecht werde auf der Ebene der Einzelstaaten durch die Repressalie oder den Krieg durchgesetzt.57 Er schrieb: „Denn nur, wenn man im Krieg, ganz ebenso wie in der Repressalie, die Reaktion des Rechts gegen das Unrecht sieht, kann man in ihm den Ansatzpunkt zu einer Entwicklung erkennen, die ihn allmählich aus einem Mittel der Selbsthilfe zu einem Zwangsakt zentraler, arbeitsteiliger Rechtsschutzorgane verwandeln wird, einer rechtstechnischen Entwicklung, deren erste, freilich noch sehr bescheidene Strukturen in der VB-Satzung zu erblicken sind.“58

Krieg, so Kelsen, könne juristisch entweder als Rechtsverletzung interpretiert werden (wenn ein Staat Gewalt ausübe ohne seine eigenen Rechte zu verteidigen) oder aber als Rechtserzwingung (als Mittel zur Selbstverteidigung im Rahmen des bellum iustum). Völkerrecht und die nationalen Rechtsordnungen seien somit im Ergebnis Teil eines einheitlichen Systems zwangsbewährter Normen. Bezüglich des Verhältnisses zwischen nationalem und internationalem Recht herrschte für Kelsen das Dogma von der Höherrangigkeit des „äußeren“ gegenüber dem „inneren“ Staatsrecht.59 Er gehörte zu der Minderheit der so genannten Völkerrechtsmonisten, die den Normen des internationalen Rechts den Vorrang vor dem innerstaatlichen Recht einräumen.60 Als höchste und somit souveräne Normschicht in einem hierarchisch durchstrukturierten universalen Rechtskosmos sollte das Völkerrecht die staatlichen Rechtsordnungen überwölben: „Die nationalen Rechtssysteme kulminierten danach im Recht der ganzen Welt, dem Völkerrecht.“61 Daher gab es für Kelsen innerhalb der internationalen Rechtsgemeinschaft keine Unterscheidung zwischen politischen und rechtlichen Fragen, da das Recht der Politik immer vorausgehe: Jede Frage sei mit Hilfe des Rechts zu lösen. Aus diesem Verständnis heraus war die nationale Souveränität der Staaten den Normen des Völkerrechts unterzuordnen. Kelsen leitete daraus das Recht ab, Staaten einer internationalen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen und 57

Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 323–324. Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht, S. 586. 59 Vgl. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 241 ff. 60 Vgl. Walter Pauly, Concepts of Universality – Hans Kelsen on Sovereignty and International Order, in: Dan Diner/Michael Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen and Carl Schmitt. A Juxtaposition, Gerlingen 1999, S. 45–50, hier S. 45 f. 61 Karl-Heinz Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Auflage, München 2007, S. 207. 58

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betonte die Wichtigkeit internationaler Zusammenarbeit, um die Normen des Völkerrechts umzusetzen und deren Einhaltung zu garantieren.62 Zusammenfassend gilt, dass Kelsen der bedeutendste Vertreter des (Völker-)Rechtspositivismus der Zwischenkriegszeit war.63 Sein Versuch einer „objektiven“ Konstruktion des Völkerrechts spiegelte seinen Glauben an die Leistungsfähigkeit des Völkerrechts als eine den Staaten übergeordnete, unabhängige Rechtsordnung mit Zwangscharakter wider.64 Das so geschaffene neue Völkerrecht sollte im Zeitalter des Völkerbundes als effektives Medium der Friedenssicherung dienen. Hinter Kelsens einheitlicher Konstruktion staats- und völkerrechtlicher Normen stand also der Wunsch nach einer von der internationalen Politik zu errichtenden, durchgehend verrechtlichten, globalen Ordnung mit handlungsfähigen internationalen Organisationen. Er sah Individuen als Völkerrechtssubjekte und sehnte sich nach einer Weltordnung mit Gewaltmonopol und einer obligatorischen internationalen Gerichtsbarkeit zur Absicherung der lückenlosen Herrschaft des Rechts. Die internationalen Beziehungen erschienen aus seiner Sicht in der Zwischenkriegszeit im Prozess einer solchen zunehmenden Verrechtlichung und Institutionalisierung begriffen. Wie sehr sich Kelsen irrte, sollte sich spätestens durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zeigen.

II. Herz’ Auseinandersetzung mit Kelsen Aus Herz’ Autobiographie und anderen Selbstzeugnissen geht hervor, dass er seinen akademischen Lehrer sehr verehrte.65 Kelsen war für Herz Inspiration und Vorbild zugleich. Er gab an, mit Begeisterung dessen Schriften studiert zu haben, deren Inhalte ihn aus dem bis dato eher lustlos betriebenen Studium der Rechtswissenschaft herausgerissen hätten.66 Ihm 62

Vgl. Koskenniemi, S. 246. Vgl. Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 711. Der völkerrechtliche Positivismus kontinentaler Prägung trat nach 1918 in eine schwere, sich ständig verschärfende Krise. Nach dem Ersten Weltkrieg entstand das verstärkte Bedürfnis nach ewigen Werten und Metaphysik. Fragen nach den Grundlagen des Völkerrechts wurden nun wieder unter soziologischen, philosophischen und historischen Aspekten beleuchtet, eine allgemeine Rückkehr zu naturrechtlichen Begründungsansätzen war zu beobachten. 64 Peter Stirk verweist darauf, dass Kelsen gegenüber den Härten des internationalen Systems keineswegs blind und er auch kein bedingungsloser Pazifist gewesen sei. Sein bedingungsloser Einsatz für das Völkerrecht „was intended to sweep away the principled objections to international law as such and to promote the development of international law.“ Vgl. Stirk, Twentieth-Century German Political Thought, S. 79. Kelsens Glaube an die Regulierungskraft des Rechts war demnach einfach größer als seine Zweifel. 65 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 94–101. 63

II. Herz’ Auseinandersetzung mit Kelsen

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imponierte die unerbittliche logische Klarheit der „Reinen Rechtslehre“, sie gab ihm das Gefühl, das Recht in seinem Wesen zu erkennen.67 Als Schüler Kelsens musste sich auch Herz innerhalb des Richtungs- und Methodenstreits der Weimarer Staatsrechtslehre positionieren. Anders als sein akademischer Lehrer erschien ihm die strikte Trennung zwischen „Sein“ und „Sollen“ zwar theoretisch überzeugend, aber keine realistische Abbildung der Wirklichkeit zu sein. Letztlich hielt Herz die Einbeziehung der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in die wissenschaftliche Erörterung des Rechts für unabdingbar, und er entwickelte unter Berufung auf die ontologischen Thesen Nicolai Hartmanns eine eigene Theorie des Rechts innerhalb des Stufenbaus der Seinsschichten. Auch Kelsens strikte Trennung des Rechts von allen moralischen oder ethischen Überlegungen, die Herz gerade zu Anfang besonders überzeugt hatte, erschien ihm angesichts des Aufkommens totalitärer Systeme in Europa zunehmend fraglich. Wenn eine Rechtslehre auch in Anbetracht der nationalsozialistischen Gräueltaten nicht von dem Anspruch abließ, „rein“ bleiben zu wollen, sah Herz den Juristen zum bloßen Handlanger der jeweiligen Macht herabgewürdigt. Im Bereich des Völkerrechts schließlich kam es unter dem Eindruck des Scheiterns des Völkerbundes und des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs zu einer grundlegenden Distanzierung von Kelsens Ansatz. Nachfolgend wird Herz’ Kririk an Kelsen nun genauer diskutiert. 1. Die Identität des Staates Obwohl Herz von den Überlegungen Kelsens tief beeindruckt war, bewahrte er sich in einigen Fragen von Beginn an eine gewisse Unabhängigkeit und nahm für sich in Anspruch, nie hundertprozentiger „Kelsianer“ gewesen zu sein.68 In seiner Doktorarbeit Die Identität des Staates69 widmete er sich einem staatsphilosophischen Thema. Er behandelte die Frage der staatlichen Identität bei Revolutionen und Gebietsänderungen und setzte sich insbesondere mit der „Reinen Rechtslehre“ auseinander. Im Mittelpunkt stand die Problematik nach dem Bestehen von Schuldverbindlichkeiten und Verträgen, wenn sich der Ursprungsstaat verändert oder aufgelöst hatte. Herz bekam so die Gelegenheit, nicht nur geltende Völkerrechtssätze und -praktiken zu analysieren, sondern auch auf die theoretischen Probleme 66

Vgl. ebd., S. 88. Vgl. John H. Herz, Staatenwelt und Weltpolitik. Aufsätze zur internationalen Politik im Nuklearzeitalter, Hamburg 1974, S. 10. 68 Vgl. Herz im Interview mit Spalek am 19. September 1980. 69 Hans Herz, Die Identität des Staates, Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, Düsseldorf 1931. 67

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des Wesens des Staates und auf das Verhältnis von staatlichem Recht und Völkerrecht einzugehen. Seine Arbeit bewegte sich im Zentrum der allgemeinen Diskussion um die „Krise der Staatslehre“70. Insbesondere Kelsens Annahme einer vollständigen Identität von Staat und Recht schien Herz zu kurz gegriffen. Kelsen hatte den Staat als ein reines Gebäude von Rechtsnormen konstruiert und damit seine politisch-gesellschaftliche Bedingtheit negiert. Damit hatte er sich insbesondere von Georg Jellineks noch vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten soziologischjuristischen Methodendualismus distanziert.71 Nach Jellineks nicht ganz trennscharfer „Zweistaatentheorie“ erschien der Staat durch die juristische Brille als Normenordnung, durch die soziologische als realer Herrschaftsverband.72 Während Jellinek in der isolierten Sicht nur einer dieser Seiten einen schweren Irrtum sah, verbot sich für Kelsen eine pluralistische Betrachtungsweise aus Gründen der wissenschaftlichen Methodik. Als Objekt der Rechtswissenschaft durfte der Staat nicht aus einem soziologischen Blickwinkel betrachtet werden. Genau dies erwog nun aber Herz und entwickelte in deutlicher Distanz zu Kelsen ein wesentlich weiter gefasstes, soziologischeres Staatsverständnis. Er schloss sich damit dem allgemeinen Trend an, die Rechtswissenschaft für geisteswissenschaftliche und soziologische Methoden zu öffnen.73 Kelsens strikte Trennung des Rechts von all seinen sozialen, historischen und politischen Bezügen erschien Herz zwar konsequent, aber auch artifiziell. Obwohl er, wie oben gezeigt, die Unterscheidung zwischen „Sein“ und „Sollen“ grundsätzlich begrüßte und die Vermischung von Ethik, Politik und Naturrecht mit dem positiv gesetzten Recht ablehnte, gab er zu bedenken, dass die „mannigfachsten Erscheinungen auf dem Gebiet des Rechtlichen selbst“74 der absolut gesetzten Trennung einer idealen von einer realen Ebene widersprachen. In diesem Sinne argumentierte er: „Recht als eine Art Regelung von menschlichem Verhalten und menschlichen Beziehungen ist eine ‚soziale‘ Erscheinung; Rechtswissenschaft bildet daher einen Teil der Sozialwissenschaften, d.h. der Wissenschaften, die die 70 Zum Begriff: Hermann Heller, Die Krisis der Staatslehre (1926), in: Ders., Gesammelte Schriften. 3 Bände, zweite, durchgesehene, um ein Nachwort erweiterte Auflage, herausgegeben von Christoph Müller, Tübingen 1992, Band 2, S. 3–30. 71 Vgl. Dreier, S. 208. Kelsen hatte Jellinek 1908 in Heidelberg gehört, blieb aber relativ unbeeindruckt von dessen theoretischen Ansätzen. Vgl. Métall, S. 11. 72 Vgl. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage, Berlin 1914. 73 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 98. 74 Hans Herz, Das Recht im Stufenbau der Seinsschichten. Bemerkungen über das Verhältnis der reinen Rechtslehre zu Nicolai Hartmanns Lehre vom Schichtenbau der Welt, in: Revue Internationale de la théorie du droit, 1935, S. 283–294, S. 283.

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menschliche Gesellschaft zum Gegenstand haben“75. Herz wollte den Gegensatz zwischen „Sein“ und „Sollen“ also keineswegs aufheben, wohl aber relativieren. Zwar verortete auch er das Recht in der Sphäre des „Sollens“, verwies aber gleichzeitig darauf, dass ein Rechtssatz nur dann positiv gültig sein könne, wenn er faktisch wirksam sei. Dies unterscheide die Rechtswissenschaft von der Mathematik: Während die Richtigkeit eines mathematischen Satzes unabhängig von seiner Wirksamkeit sei, ohne dass er begriffen und anerkannt werde, gelte dies nicht für die Rechtsnorm. Eine Rechtsnorm sei daher von „‚minderer‘ Idealität“76 als ein mathematischer Satz, da sie im Gegensatz zu diesem auch im „Sein“ verwurzelt sei. Worauf beruhte nun die faktische Wirksamkeit der Rechtsordnung, bzw. die „soziologische Wurzel ihrer Geltung“77? Hier brachte Herz – ähnlich wie Jellinek – neben Kelsens normativem Staatsbegriff einen zweiten, soziologischen Staatsbegriff ins Spiel. Der „soziologische Staat“78 oder die „Staatsgemeinschaft“79 konstituiere demnach eine „Gemeinschaft zum Zwecke der Erzeugung und Aufrechterhaltung einer Rechtsordnung“80, die menschliches Verhalten in der Form des Rechts regeln wolle. Die Rechtsordnung war also bei Herz ohne die in der Sphäre des „Seins“ verortete „Staatsgemeinschaft“ nicht denkbar. Kelsen indessen hatte in seiner „Reinen Rechtslehre“ eben diesen soziologischen Staatsbegriff, also die Existenz eines Staates in der realen Sphäre, geleugnet und den Staat allein mit der Rechtsordnung gleichgesetzt. Dies ging Herz zu weit.81 Ähnlich wie Hans J. Morgenthau, der die „abstrakten Kategorien und Formeln“82 der „Reinen Rechtslehre“ als „wirklichkeitsfeindlich“83 einstufte, plädierte auch Herz für eine Verankerung der Rechtswissenschaft in der Realität. 75

Hans Herz, Einige Bemerkungen zur Grundlegung des Völkerrechts, in: Revue internationale de la théorie du droit, Band 13/1939, S. 275–300, S. 275. 76 Herz, Beiträge zum Problem der Identität des Staates, S. 258. 77 Herz, Die Identität des Staates, S. 68. 78 Ebd., S. 69. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Vgl. Herz, Beiträge zum Problem der Identität des Staates, S. 258 f.; Ders., Die Identität des Staates, S. 69 f. 82 So Hans J. Morgenthau in seiner Genfer Antrittsvorlesung mit dem Titel „Der Kampf der deutschen Staatslehre um die Wirklichkeit des Staates“, einzusehen im Nachlass Morgenthaus in der „Library of Congress“, Box 110, S. 13 des deutschsprachigen Manuskripts. Hier zitiert nach Frei, S. 123. 83 Ebd.: Morgenthau argumentierte, dass die „Reine Rechtslehre“, indem sie die Theorie des Staates willkürlich auf die Theorie des Rechts reduziere, eine „Schwäche vor der Realität“ zeige.

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Der juristische und der soziologische Staatsbegriff bezeichneten nach Herz zwei völlig unterschiedliche Phänomene. Herz unterschied Staat als eine von der Rechtsordnung anerkannte juristische Person vom Staat als einem Sozialphänomen, welches der Rechtsordnung zugrunde lag: Beide waren für ihn Gegenstände der Rechtsbetrachtung. Die „Staatsgemeinschaft“ sah er als Gruppe, die die Wirksamkeit der Rechtsordnung gewährleistete, in der wiederum der Staat als juristische Person erschien. Die Rechtsordnung galt in der Konsequenz nur deshalb, weil sie von einer Gruppe erzeugt, befolgt und anerkannt wurde. Dies erkannt zu haben, so schrieb Herz, sei der große Verdienst der Neuhegelianer um Carl Schmitt, die einen „existentialen Willen“ innerhalb einer sozialen Gruppe als Wirksamkeitsgrund aller Rechtsordnung aufgedeckt hätten.84 Das abstrakte „Sollen“ setze auch für Schmitt immer ein bestimmtes geordnetes „Sein“ voraus, das diesem erst die Möglichkeit gebe, sich zu verwirklichen. Interessant ist, dass Herz in seiner Kritik an Kelsen hauptsächlich auf die fehlende soziale Verankerung der „Reinen Rechtslehre“ einging und Kelsen vorwarf, dieser habe die das Recht erzeugende, befolgende und anerkennende Gruppe nicht berücksichtigt. Dieses soziale Element sollte auch Herz’ spätere Analysen der internationalen Beziehungen prägen, insbesondere dort, wo er das „Sicherheitsdilemma“ als „soziale Konstellation“ entwickelte und an den Anfang seines sozial-psychologisch begründeten Realismus stellte.85 In der Rezeption von Kelsen und dessen Gegenspieler Schmitt lässt sich bereits an dieser Stelle ein deutlicher Unterschied zu Hans J. Morgenthaus anthropologisch begründetem Realismus zeigen. Bereits in Morgenthaus an der Universität Frankfurt eingereichten Dissertation aus dem Jahre 1925 war es diesem darum gegangen, das Politische, und nicht das Soziale in den Mittelpunkt zu stellen.86 Morgenthaus Argumentation befand sich somit in viel größerer Nähe zu Carl Schmitt als diejenige von Herz,87 wobei Schmitt für 84 Vgl. Herz, Beiträge zum Problem der Identität des Staates, S. 260. Dem Lob folgt allerdings sofort Kritik. So beklagte Herz, die neuhegelianische Staatslehre neige dazu, Staat und Nation zu identifizieren und dabei kulturelle und sonstige Elemente in den Begriff der Staatsgemeinschaft hineinzutragen, die dort nichts verloren hätten. Die Gleichsetzung von Schmitt mit der neuhegelianischen Schule ist allerdings mit Vorsicht zu genießen und wird heute in Zweifel gezogen. Vgl. Max-Emanuel Geis, Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staatslehre, in: Juristische Schulung, Heft 2, 1989, S. 91–96, S. 94. 85 Herz spricht davon, er habe die Ursache des Machtkampfes im internationalen System „in a socio-psychological rather than an alleged innate psychological condition“ gesehen. Vgl. John H. Herz, The Security Dilemma in International Relations: Background and Present Problems, in: International Relations, Vol. 17, No. 4 (December 2003), S. 411–416, S. 412 f. (Herv. d. J. P.) 86 So Morgenthaus Dissertation Die internationale Rechtspflege, das Wesen ihrer Organe und die Grenzen ihrer Anwendung; insbesondere der Begriff des Politischen im Völkerrecht. Es ist dies der Titel der ursprünglich eingereichten Arbeit. Vgl.

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Morgenthau jedoch auf halbem Wege stehen blieb, anstatt bis zu den letzten Wurzeln der staatlichen Wirklichkeit vorzustoßen.88 Wenn man sich die Schlussworte von Morgenthaus Genfer Antrittsvorlesung vor Augen führt, dann findet sich genau hier der Ausgangspunkt von Morgenthaus später entwickelten anthropologisch begründeten Realismus: „So muss auch das Nachdenken über diese Wirklichkeit wieder bei dem Anfang alles Politischen, alles Staatlichen beginnen, und dieser Anfang kann nichts anderes sein als der Mensch“89. Das „Politische“ war für Morgenthau zwar auch ein soziales, ein gesellschaftliches Phänomen, seine Wurzeln lagen jedoch im Individuum: „Wir begreifen das Politische als eine dem Einzelmenschen innewohnende und notwendig auf andere Menschen gerichtete Kraft“90 – dem „Streben nach Macht“91. Für Herz war es genau umgekehrt, er verstand das „Politische“ in erster Linie als Ergebnis sozialer Interaktion, wie im Verlauf der Arbeit noch deutlich werden wird. Anders als Morgenthau konnte Herz sich die Schmittsche Sichtweise des „Politischen“ nicht zu Eigen machen.92 1992 kritisierte er Schmitt rückblickend insbesondere dafür, den Begriff des „Politischen“ ausschließlich auf den Kampf um die Macht, auf Konflikt und die Freund-Feind-Dichotomie reduziert zu haben. Ein solches Verständnis verneine die Möglichkeit des Kompromisses und der Kooperation, spiele sie zumindest aber herunter. Politik sei wesentlich komplexer, sei kein beständiger „Ausnahmezustand“, wie Schmitt dies fälschlicherweise postuliert habe. Herz ging sogar so weit Frei, S. 130. Veröffentlicht wurde sie leicht gekürzt unter dem Titel: Die internationale Rechtspflege, ihr Wesen und ihre Grenzen, Leipzig 1929. 87 Vgl. zur Priorität des Politischen bei Schmitt und Morgenthau Koskenniemi, S. 436 f. 88 Zu Morgenthaus Rezeption von Schmitt vgl. Frei, S. 124, S. 168–172. Wenn sich Morgenthaus und Schmitts Argumentation auch in vielem ähnelt, so war die persönliche Beziehung zwischen beiden überaus frostig, insbesondere da Morgenthau Schmitt vorwarf, ihn plagiiert zu haben. Vgl. auch Chris Brown, ‚The Twilight of International Morality‘? Hans J. Morgenthau and Carl Schmitt on the End of the Jus Publicum Europaeum, in: Michael C. Williams (Hrsg.), Realism Reconsidered. The Legacy of Hans J. Morgenthau in International Relations, Oxford et al. 2007, S. 42–61, S. 42 f. 89 Morgenthau, Der Kampf der deutschen Staatslehre um die Wirklichkeit des Staates, S. 28. 90 Hans J. Morgenthau in einem unveröffentlichten Manuskript mit dem Titel Über die Herkunft des Politischen aus dem Wesen des Menschen, einsehbar in Morgenthaus Nachlass in der „Library of Congress“, Box 151, S. 9, zitiert in Frei, S. 132. 91 Ebd. 92 Ein direkter Einfluss ist aber in jedem Fall vorhanden, wenn auch mit großen Einschränkungen. Diesen Einfluss sieht auch George Schwab, Comments on: Looking at Carl Schmitt from the Vantage-Point of the 1990s, unveröffentlichtes Manuskript, Box I, Correspondence on article on Carl Schmitt [Ordner], ohne Datum [wahrscheinlich 1992], Herz Papers.

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zu behaupten: „Even in the international arena, where the power factor is strongest, what one may call pragmatic pacifism has been the norm, with warlike policies the exception.“93 Die Unterschiedlichkeit der Weltbilder Herz’ und Morgenthaus kommt in ihrer unterschiedlichen Rezeption des „Politischen“ deutlich zum Tragen. Der Gegensatz zwischen Kelsen und Schmitt setzt sich bei Herz und Morgenthau fort. Morgenthau sah die Essenz des „Politischen“ im Kampf um die Macht und war dabei ganz bei Schmitt; Herz hingegen wehrte sich gegen dieses Verständnis, versuchte, es zu modifizieren und abzumildern. Auch wenn er es selbst von sich wies, blieb er im Grunde seines Herzens ein Kelsianer, der an die machtbändigende Kraft der Normen glaubte. Bereits hier zeigt sich, dass Morgenthau von einem realistischen und Herz von einem idealistischen Verständnis startete: Während sich nämlich der Realismus mit dem Konzept des Machtstaates identifiziert, liegt dem Idealismus der Rechtsstaat zugrunde. 2. Modifikation der „Reinen Rechtslehre“ durch die Ontologie Nicolai Hartmanns In einigen an seine Doktorarbeit anschließenden Aufsätzen aus den 1930er Jahren unternahm Herz den Versuch, die dort bereits aufgeworfene Frage nach der Verwurzelung rechtlicher Normen in den Sphären des „Sollens“ und/oder des „Seins“ ausführlicher zu beantworten.94 Kelsen hatte Rechtsnormen allein in der Sphäre des „Sollens“ verortet, um sie so gegenüber der realen Welt scharf abzugrenzen. Dadurch war es ihm gelungen, das Recht als eine eigene Sphäre zu bestimmen, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten unterworfen und von anderen normativen Sphären – wie der Moral – streng zu unterscheiden war. Herz sah Kelsens Verdienst darin, diese Sonderstruktur des Rechts herausgearbeitet zu haben. Dabei habe Kelsen jedoch übersehen, wie sehr jede Rechtsnorm mit dem faktischen Bereich, und damit dem „Sein“, verbunden sei. „Vielleicht“, fragte Herz, „ist die Trennung der Seinssphären doch nicht so eine scharfe, wie der Neukantianismus voraussetzt“95? Insoweit schien ihm die „Reine Rechtslehre“ allein keine befriedigenden Aussagen zu liefern. Daher entwickelte er einen eigenen Ansatz, in dem er Elemente der „Reinen Rechtslehre“ von Hans Kelsen mit der ontologischen Lehre Nicolai Hartmanns vom Schichtenbau der Welt zu kombinieren suchte. Es ging ihm darum, eine Rechtstheorie zu entwerfen, die dem zwiespältigen Charakter des Rechts Rechnung trug. 93

Herz, Looking at Carl Schmitt, S. 310 f. Vgl. Herz, Das Recht im Stufenbau der Seinsschichten, S. 283–294 und Hans Herz, Recht und Rechtsdialektik, in: Revue internationale de la théorie du droit, No. 1, 1937, S. 1–11. 95 Herz, Das Recht im Stufenbau der Seinsschichten, S. 284. 94

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Nicolai Hartmanns Philosophie der Seinsschichten stellte neben der „Reinen Rechtslehre“ den zweiten prägenden Einfluss auf Herz’ Denken in den frühen 1930er Jahren dar.96 In Köln hatte Herz nicht nur juristische Veranstaltungen besucht, sondern regelmäßig auch Hartmanns Vorlesungen gehört und sich tief beeindruckt gezeigt von der „unbestechlich-ehrlichen“97, „schlicht-einfachen“98 Art, mit der Hartmann Phänomene der Erkenntnislehre, der Ethik oder der Ontologie zunächst einmal feststellte, ohne das Unerklärliche oder Widersprüchliche dieser Phänomene zu verleugnen. Besonders beeindruckt zeigte sich Herz von Hartmanns Werk Das Problem des geistigen Seins99, in dem dieser das „Sein“ in verschiedene übereinander liegender Schichten zerlegte. Auf der untersten Ebene befand sich nach Hartmann die physisch-materielle Seinsschicht, über die sich die Seinsschicht des organischen Lebens wölbte. Darüber lag wiederum die seelische Seinsschicht oder der Bereich der Bewusstseinsphänomene. Über allen drei Schichten schwebte das Reich des geistigen Seins, zu dem Hartmann die Logik, die Erkenntnis, das Recht, das Ethos und die Kunst zählte. Über das Verhältnis der einzelnen Schichten zueinander schrieb Hartmann: Jede untere Seinsschicht stelle eine unabdingbare Voraussetzung für die jeweils darüber liegende Seinsschicht dar, jede höhere Stufe sei also von der unter ihr liegenden Stufe abhängig. Gleichzeitig trete auf jeder höheren Ebene etwas absolut Neues und Eigengesetzliches hinzu, welches nicht aus der darunter liegenden Schicht ableitbar sei. Jede Seinsschicht sei also einerseits von den unter ihr liegenden Schichten abhängig, andererseits aber auch autonom. Das ganze System bilde auf diese Weise eine Synthese von Abhängigkeit und Autonomie. Alle philosophischen Systeme, die von einer totalen Abhängigkeit entweder von der Materie oder vom geistigen Überbau ausgingen, übersähen diesen synthetischen Charakter der Seinsschichten.100 Das Reich des geistigen Seins wiederum unterteilte Hartmann noch einmal in den „objektiven“ und den „objektivierten“ Geist.101 Während der „objektive Geist“ in Raum und Zeit verwurzelt sei und soziale und kulturelle Erscheinungen wie Sprache, Moral, geltendes Recht, Stilgefühl oder Stand der Wissenschaft umfasse, handele es sich beim „objektivierten Geist“ um die Objekte, die der lebendige, „objektive Geist“ hervorbringe 96 Im Interview äußerte sich Herz: „I believe he was one of the outstanding philosophers of the time.“ Herz im Interview mit Spalek am 19. September 1980. 97 Herz, Vom Überleben, S. 101. 98 Ebd. 99 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, 3. unveränderte Auflage, Berlin 1962 [1933]. 100 Vgl. Hartmann, S. 17 ff. 101 Vgl. ebd., S. 175 ff. und 406 ff.

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und die ihn überdauerten. Der „objektive Geist“ nehme also eine Mittlerstellung zwischen Realem und Idealem ein, sei gleichzeitig überirdisch und zeitlich. Demgegenüber entspreche die Sphäre des „objektivierten Geistes“ dem eigentlich geistigen Sein idealen Charakters. Das Recht ordnete Hartmann in der Sphäre des „objektiven Geistes“ an, weil es das Lebendigsein der Gesetze im gemeinsamen Rechtswillen und -empfinden der Menschen erfordere.102 Erst durch die Macht, die „im gemeinsamen Rechtswillen lebendig“103 sei, könne Recht tatsächlich in Kraft treten. Herz übernahm nun Hartmanns Ontologie bis zu diesem Punkt, teilte aber nicht dessen Einschätzung bezüglich des „objektiven“ und „objektivierten“ Geistes: Er betonte den Vorrang des geistigen Seins – des künstlerischen Werks, der rechtlichen oder ethischen Sollensnorm, des logischen oder mathematischen Satzes – gegenüber den diese Phänomene lediglich tragenden Bewusstseinsphänomenen des von Hartmann so genannten „objektiven Geistes“.104 Herz war der Meinung, dass das Überzeitliche das in Raum und Zeit existierende Personale, Seelische, Lebendige überwölbe, „d.h. das Kunstwerk als Werk war etwas anderes als sein Aufgenommenund Genossenwerden, die Rechts- oder sonstige Norm etwas anderes als das ihr gemäße oder auch nicht-gemäße Verhalten der Menschen, der logische oder mathematische Satz etwas anderes als sein von Menschen Gedachtwerden.“105 In Anlehnung an Kelsen definierte Herz das Wesen des Rechts als „Sollen“, welches daher im Reich des idealen Seins anzusiedeln war. Andererseits war eine Rechtsnorm aber nur dann gültig, wenn sie zu einer bestimmten Zeit, in bestimmten Bereichen und für bestimmte Menschen faktisch wirksam wurde. Im Unterschied zu Kelsen, der eine absolute Dualität von „Sein“ und „Sollen“ propagiert hatte, und in Anlehnung an Hartmann betrachtete Herz das Recht daher als „realitätsnahe Idealsphäre innerhalb eines Stufenbaus von Seinsschichten.“106 Die idealen Gegenstände und ihre Gebiete, also Kunst, Recht, Logik etc. zeichneten sich allerdings durch ihre große Unterschiedlichkeit aus. Wie schon in seiner Dissertation diente ihm der Vergleich zwischen einem mathematischen Satz und einer Rechtsnorm zur Illustration der unterschiedlichen Qualitäten geistigen Seins: Während Mathematik gänzlich dem „idealen“ Sein angehöre, und ihre Sätze unabhängig davon galten, ob und von wem und von wie vielen sie erkannt würden, sei das positive Recht ein Gegenstand minderer Ideali102 103 104 105 106

Vgl. Hartmann, S. 275 f. Ebd., S. 275. Vgl. Herz, Das Recht im Stufenbau der Seinsschichten, S. 287 ff. Herz, Vom Überleben, S. 101. Vgl. Herz, Das Recht im Stufenbau der Seinsschichten, S. 294.

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tät, da seine Geltung von effektiver Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit in Zeit und Raum und damit von der Einwirkung der real-faktischen Schichten abhänge.107 Durch diese Verortung des positiven Rechts bettete Herz Kelsens „Reine Rechtslehre“ in den Hartmannschen Schichtenbau der Welt ein und zollte so dem zwiespältigen Charakter des Rechts Tribut, einerseits in der Realität verhaftet zu sein, andererseits aber einen besonderen Seinsbereich mit eigenen Gesetzmäßigkeiten zu bilden. Obwohl Herz seine Synthese aus Kelsen und Hartmann im Nachhinein kritisch betrachtete und insbesondere der „Idealität von Normen“ skeptisch gegenüberstand, urteilte er in seiner Autobiographie, dass sich in beiden Systemen noch immer ein beträchtlicher Teil dessen finden lasse, „was uns Menschen als ‚Wahrheit‘ überhaupt zugänglich ist“108. 3. Trennung von Recht und Moral Herz’ Faszination für Kelsen macht deutlich, dass ihn schon sehr früh die ganz grundlegende Frage beschäftigte, welche Rolle Moral und Ethik, das Gute und das Wünschbare spielen sollten. „Das zerreißt mich hin und her“109, klagte er noch 2005 im Interview. Die Frage, die Herz damals besonders umtrieb, war: „Wie verhält sich ‚Recht‘, das was ‚rechtens‘ ist, zu ‚Gerechtigkeit‘, das was als ‚richtig‘ oder ‚gerecht‘ empfunden wird?“110 Die „Reine Rechtslehre“ hielt hier eine eindeutige Antwort für ihn bereit: „[T]his agnostic theory makes justice disappear in reality altogether“.111 Nach Kelsens Lehre waren Recht und Gerechtigkeit zwei voneinander getrennte Sphären, die es nicht miteinander zu vermischen galt. Fragen nach der Unveräußerlichkeit von Grundrechten für den Einzelnen oder nach der Priorität kollektiver Rechte vor den Rechten Einzelner brauchte die Rechtswissenschaft nicht zu beantworten. Das gefiel Herz, brachte die „Reine Rechtslehre“ für ihn so Klarheit in das uralte Problem des Verhältnisses von Recht und Moral. Herz selbst erklärte seine Faszination für Kelsens Ansatz rückblickend wie folgt: „Was mich seinerzeit an der Reinen Rechtslehre beeindruckte, war vor allem ihre theoretische ‚Reinheit‘, die Reinlichkeit, mit der sie sich von insbesondere natur107

Vgl. Herz, Recht und Rechtsdialektik, S. 2. Herz, Vom Überleben, S. 103. 109 Herz im Interview mit der Verfasserin am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 3. 110 Herz, Vom Überleben, S. 94. 111 Herz’ Beitrag in den Proceedings of the Thirty-Fifth Annual Meeting of the American Society of International Law, Washington, D. C. April 24–26, 1941, Box 12, Herz Papers, S. 87. 108

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rechtlich eingestellten, auf Ideologien beruhenden politischen Theorien von Staat, Recht etc. abhob. Alles war hier wohlgeordnet, systematisch, damit meinem kritischen Ordnungssinn entgegenkommend.“112

Die Entkoppelung des Rechts von der Ethik, die der „Reinen Rechtslehre“ zugrunde lag, entsprach Herz’ Forderung nach objektiver Wissenschaft, so wie sie zuvor von Max Weber in „Wissenschaft als Beruf“ vertreten worden war.113 Es ging darum, das Recht so abzubilden, wie es war, nicht wie es sein sollte, die „Reine Rechtslehre“ fragte nach dem Wirklichen, nicht nach dem Idealen und Richtigen: „In reality, according to this theory, . . . there are only interests and hence conflicts of interests.“114 Dieses realistische Vorgehen sollte Herz später auch zur Analyse der internationalen Beziehungen anwenden. Wenn also Jochen von Bernstorff in seiner Dissertation über Kelsen die These aufstellt, das Projekt der „Reinen Rechtslehre“ könne „zugleich als eine rechtswissenschaftliche Reaktion auf die zentrifugalen Kräfte des ideologisierten Zeitalters verstanden werden“115 lässt sich ebenfalls behaupten, dass der unter anderem von Herz mitentwickelte außenpolitische Realismus eine (politik-)wissenschaftliche Reaktion auf die zentrifugalen Kräfte der ideologiegesättigten Zwischenkriegszeit darstellte. Kelsen wie Herz ging es darum, mit ihren theoretischen Ansätzen auf die Überbetonung der Ideologie zu reagieren und ein Gegengewicht zu etablieren. Beide bewegten sich außerdem im Spannungsfeld zwischen dem Anspruch, „reine“, werturteilsfreie und somit objektive Wissenschaft betreiben zu wollen, und ihren politischen Überzeugungen. Eben diese Spannung trieb Herz ein Leben lang um, und er suchte beständig nach einer Möglichkeit, beide Pole zusammenzubringen. Insbesondere nach der Machtübernahme Hitlers und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs begann Herz jedoch, mit dem Gebot der wissenschaftlichen Werturteilsfreiheit zu hadern bzw. dieses zu relativieren. In einer Zeit, in der das Recht und alle sittlichen Werte nur noch dazu dienten, Hitlers Machenschaften ideologisch zu verschleiern, dürfe Wissenschaft nicht mehr länger „rein“ und unpolitisch sein, so Herz.116 Schließlich habe nicht 112

Herz, Vom Überleben, S. 99. Webers Werterelativismus wurde für Herz’ Haltung als Wissenschaftler früh grundlegend. Vgl. ebd., S. 80. 114 Herz’ Beitrag, in: American Society of International Law, Proceedings of the Thirty-Fifth Annual Meeting of the American Society of International Law, Washington, D. C. April 24–26, 1941, Box 12, Herz Papers, S. 87. 115 Bernstorff, S. 3. 116 Vgl. John H. Herz, Introduction, in: Ders., The Nation-State and the Crisis of World Politics. Essays on International Politics in the Twentieth Century, New York 1976, S. 1–56, S. 6. 113

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zuletzt der Werterelativismus der „Reinen Rechtslehre“ zur Wehrlosigkeit der Weimarer Republik gegenüber ihren Feinden beigetragen.117 Denn immerhin sei das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933 die direkte Folge einer formalistischen Gesetzesgläubigkeit, der mit der Zweidrittelmehrheit Genüge getan worden war. In der Bejahung der gleichen Chance für jede politische Richtung zur Machtübernahme im Staat hätten Kelsen und seine Schüler die Selbstaufgabe der Demokratie in Kauf genommen. Herz folgte hier Morgenthaus Weg, der – selbst zunächst ein Verfechter wissenschaftlicher Wertfreiheit – schon 1930 angesichts der sich bereits abzeichnenden, großen „Schicksalsfrage“ die Weimarer Staatslehre dazu aufgefordert hatte, eine politische Position zu beziehen. Morgenthau hatte insbesondere die von Kelsen propagierte rigorose Ausgrenzung all dessen, was nicht zum Recht gehörte, für einen Rückzug aus der Wirklichkeit gehalten und ihn und seine Wiener Schule dafür verurteilt, die Augen vor der künftigen Bedrohung zu verschließen.118 Obwohl er mit Kelsen und Weber darin übereinstimmte, „dass Wertentscheidungen rational nicht begründbar, dass weltanschauliche Postulate wissenschaftlich nicht legitimierbar“119 seien, hielt er es trotzdem „für falsch, für gefährlich und letztlich unmöglich, Werturteile gänzlich aus den Sozialwissenschaften zu verbannen, um diese ‚rein‘ zu halten“120. Auch für Herz konnte eine „Reine Rechtslehre“ – trotz allem Abstand von spezifischen Rechtssystemen und Staatsformen – nunmehr nur dann funktionieren, wenn die Widerspruchslosigkeit des Normensystems garantiert war. Der von Kelsen verfochtene Wertrelativismus baute auf der freien Konkurrenz verschiedener Meinungen und Interessen auf und setzte damit zugleich die Anerkennung der absoluten Prinzipien der Toleranz, der Freiheit und der Gleichheit aller voraus. In einem System, in dem sich ein Diktator über alles noch geltende Recht hinwegsetzte, wie Hitler dies beim Röhmputsch oder mit seinem Geheimerlass über Euthanasie getan hatte, konnte Herz nicht wie Carl Schmitt postulieren: „Der Führer schützt das Recht“121. 117 Vgl. Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin 1997, S. 334. 118 Vgl. Morgenthau, Der Kampf der deutschen Staatslehre um die Wirklichkeit des Staates, S. 10. 119 Frei, S. 160. 120 Ebd. Frei führt aus, dass Morgenthau das Werteengagement des Wissenschaftlers nicht nur verteidigt, sondern geradezu herausfordert. Gegenüber politisch extremen, totalitären Programmen dürfe es nach Morgenthau einen schalen Relativismus bzw. die optimistische Gleichgültigkeit der Kelsenschen Staatstheorie nicht geben. Vgl. ebd., S. 161. 121 Carl Schmitt, Der Führer schützt das Recht, in: Deutsche Juristenzeitung 1934, Sp. 945–950.

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Indem die „Reine Rechtslehre“ jedwede ethische Begriffsbestimmung des Rechts ablehnte und keine denkbare Regelung von vornherein als möglichen Rechtsinhalt ausschloss, erwies sie sich de facto als wehr- und widerstandslos gegen totalitäre Kräfte.122 Angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere des Holocaust, waren die Grenzen von Kelsens Rechtslehre für Herz dementsprechend letztlich doch ethisch zu definieren. In diesem Sinne schrieb Herz in seiner Autobiographie: „Gewährt ein System nicht mehr auch nur das Elementarste an Publizität, Allgemeinheit des Gesetzes, kurz, Rechtssicherheit der Rechtsunterworfenen, dann kann wohl kaum noch von Recht in irgendeinem ‚sinnvollen‘ Sinne die Rede sein. Soll selbst der vom Hitlerstaat unternommene Holocaust im positivistischen Sinne ‚rechtens‘ gewesen sein?“123

Da man mit der „Reinen Rechtslehre“ wohl diesen Schluss ziehen musste, hatte sie sich in Herz’ Augen diskreditiert.124 Während die „Reine Rechtslehre“ in einem normal funktionierenden Rechtsstaat anwendbar sei, versage sie in Extremsituationen – so Herz abschließendes Urteil.125 Insbesondere sei die „Reine Rechtslehre“ dann kein geeignetes Instrument, wenn das Politische stärker als die geltende Rechtsordnung sei. Dies galt für keinen Bereich mehr als für das Völkerrecht. 4. Völkerrecht als Ordnungsinstrument internationaler Beziehungen? Im Bereich des Völkerrechts teilte Herz – im Gegensatz z. B. zu Morgenthau – zunächst Kelsens Glauben an dessen Wirkungskraft und unterstützte den Völkerbunde, seine Ideen und Institutionen.126 Die Machtergreifungen 122 Vgl. Dreier, S. 186: „Kein Zweifel also: der rechtlich allmächtige Staat ist potentiell totalitär.“ 123 Herz, Vom Überleben, S. 100. 124 Aus Kelsens Perspektive ist der Herz’sche Schluss allerdings nicht unbedingt zwangsläufig. Da Kelsen von einem Vorrang des Völkerrechts ausging, war der Holocaust auch schon zum Zeitpunkt der Tat ein völkerrechtliches Verbrechen. 125 Vgl. ebd. 126 Davon zeugen Herz’ Analyse des neuen Meerengenstatuts von Montreaux, sein Aufsatz über den japanisch-chinesischen Konflikt und ein Aufsatz, der sich mit der Stimson’schen Doktrin der Nichtanerkennung der ‚Früchte der Aggression‘ befasst: Hans Herz, Eine neue Wendung in der Meerengenfrage, in: Die Friedenswarte, Nummer 3/4, 1936, S. 138–147; Ders., Das Meerengenstatut von Montreux. Seine völkerrechtliche und politische Tragweite, in: Die Friedenswarte, Nummer 3/4, 1937, S. 126–144 und S. 153–159, Ders., Le problème de la naissance de l’Etat et la décision du Tribunal Arbitral Mixte germano-polonais du 1er août 1929, in: Revue de droit international et de législation comparée, No. 3, 1936, S. 1–27; Ders. Le conflit sino-japonais devant la Société des Nations, in: Revue de droit international et de législation comparée, No. 2, 1938, S. 371–403.

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von Mussolini und Hitler und deren zunehmend aggressivere, auf Expansion ausgerichtete Politik öffneten Herz allerdings die Augen. Das durch die Völkerbundsatzung eingerichtete Sanktionssystem in Verbindung mit dem Briand-Kellogg-Pakt konnte zu seiner Enttäuschung den zerstörerischen Kräften des Faschismus und des Nationalsozialismus nicht standhalten. Spätestens das Ausbleiben von Sanktionen gegen Mussolini im Abessinienkonflikt 1935 verdeutlichte ihm, dass es in der internationalen Politik unmöglich war, sich auf solche Sanktionen zu verlassen, um das Bestehen einer internationalen Rechtsordnung zu garantieren. Kelsens Völkerrechtslehre erschien ihm vor diesem Hintergrund gescheitert.127 Im Brief an Alfons Söllner aus dem Jahre 1986 hieß es rückblickend: „[S]o war ja Kelsens ‚Reine Rechtslehre‘, wie ich nach Jahren 90prozentigen Kelsenismus schließlich einsah, die dem Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts einigermaßen entsprechende, dem Völkerrecht bzw. den internationalen Beziehungen jedoch gar nicht angemessene Theorie.“128 Nicht Herz’ Abkehr von Kelsens Lehre ist für den außenpolitischen Realismus untypisch, sondern die Tatsache, dass Herz überhaupt so lange an Kelsens Überzeugungen und damit verbunden an dem Glauben an die Regulierungskraft des Völkerrechts festhielt. Dies unterschied ihn wesentlich von Morgenthau. Morgenthau hatte bereits in seiner Dissertation Die internationale Rechtspflege, das Wesen ihrer Organe und die Grenzen ihrer Anwendung; insbesondere der Begriff des Politischen im Völkerrecht aus dem Jahr 1929 die These aufgestellt, dass die Beziehungen der Nationen weniger durch das als generell schwach erkannte Recht bestimmt würden, als vielmehr durch die bis dahin als „außerrechtlich“ verstandenen Qualitäten internationaler Politik,129 womit Morgenthau explizit gegen die in den Staatswissenschaften vorherrschenden positivistischen Theorien anschrieb, wie sie insbesondere von Kelsen vertreten wurden. Morgenthau kritisierte Kelsens Ansatz also bereits zu einem Zeitpunkt, als Herz überhaupt erst anfing, sich 127

Vgl. Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 10. John H. Herz im Brief an Alfons Söllner vom 27. Mai 1986, General Correspondence 1985–86 [Ordner], Box 3, Herz Papers. 129 Morgenthau schrieb in seiner Dissertation: „Die geschichtliche Erfahrung erweist also, dass der in der Theorie herrschenden Antithese von Rechtsfragen und politischen Fragen keine Realität entspricht. Mit der positiven Feststellung, dass eine Streitigkeit rechtlicher Natur sei, ist nicht notwendig die negative Konstatierung verbunden, dass sie keinen politischen Charakter habe. Die Begriffe ‚rechtlich‘ und ‚politisch‘ bilden überhaupt kein adäquates Begriffspaar, dessen Teile in einem kontradiktorischen Gegensatz zueinander treten können.“ Vgl. Morgenthau, Die internationale Rechtspflege, ihr Wesen und ihre Grenzen, S. 62. Vgl. auch Koskenniemi, S. 436 f. Wie Frei nachweist, wurden Morgenthaus Ideen von Carl Schmitt in seine zweite Auflage von Der Begriff des Politischen (1932) aufgenommen – allerdings ohne den wahren Autor zu nennen. Vgl. Frei, S. 170. 128

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für diesen zu begeistern. Das Völkerrecht, so Morgenthau, erlege sich durch sein Festklammern an rein juristischen Kategorien viel zu enge Grenzen auf. Ihm ging es vielmehr darum, die politische Dimension der internationalen Beziehungen in den Mittelpunkt zu rücken und sich dem Begriff des Politischen im Staats- und Völkerrecht zu widmen. Während Herz lange Zeit geglaubt hatte, dass der Völkerbund im Kern ein realisierbares und sinnvolles Projekt darstellte, und eine auf einer internationalen Rechtsordnung basierende Kooperation der Staaten möglich war, hatte Morgenthau dies stets bezweifelt. Herz gab also eine Überzeugung nur widerstrebend und schweren Herzens auf, die Morgenthau niemals geteilt hatte. Dieser Unterschied sollte sich später in den unterschiedlichen Spielarten des außenpolitischen Realismus niederschlagen, die Herz und Morgenthau entwickelten. Schon als beide die Wende zur Politikwissenschaft bzw. den Internationalen Beziehungen noch nicht vollzogen hatten, sondern noch stark im juristischen Denken verhaftet waren, näherte sich Herz anders als Morgenthau dem Realismus aus einer idealistischen und rechtsgläubigen Ausgangsposition. In seinem Aufsatz „Einige Bemerkungen zur Grundlegung des Völkerrechts“, den er 1939 veröffentlichte, setzte sich Herz erstmals kritisch mit Kelsens Lehre auseinander und legte die Entwicklung seines eigenen Völkerrechtsverständnisses umfassend dar. Insbesondere die von Kelsen vorgenommene Interpretation des Krieges als Mittel der Rechtsdurchsetzung stehe im Widerspruch zu den Gegebenheiten der internationalen Beziehungen: „Da aber der Krieg je nach Machtlage auch vom Rechtsverletzer geführt und gewonnen werden kann, setzt hier naturgemäß die Kritik an.“130 Die Gefahr von Kelsens Ansatz sah Herz darin, aggressives Machtstreben von Staaten über die Theorie des bellum iustum mit dem Anschein der Legalität auszustatten.131 Wenn Krieg, „die oft nicht rechtdurchsetzende, sondern rechtsmissachtende und rechtsverachtende Gewalt“132, überhaupt als Rechtserscheinung aufgefasst werden könne, dann als Verfahren der Rechtsänderung.133 Herz stimmte an dieser Stelle mit Carl Schmitt überein, der ebenfalls auf die inhärente Missbrauchsgefahr einer Verrechtlichung des Krieges als Sanktion der Völkerrechtsgemeinschaft hinwies.134 130

Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 97. John H. Herz, The Pure Theory of Law Revisited: Hans Kelsen’s Doctrine of International Law in the Nuclear Age. In: Salo Engel/Rudolf A. Métall (Hrsg.), Law, State, and International Legal Order. Essays in Honor of Hans Kelsen, Knoxville 1964, S. 107–118, S. 108. 132 John H. Herz, Hauptprobleme des Völkerrechts im Atomzeitalter, in: Die Friedenswarte, Nummer 2/1959, S. 101–106, S. 102. 133 Vgl. Herz, Einige Bemerkungen zur Grundlegung des Völkerrechts, S. 286. 131

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Herz kam zu dem Schluss, dass Kelsens Verständnis des Völkerrechts als einer Staatsordnung höherer Stufe „auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen nicht als adäquate Abbildung des gegebenen Materials angesehen“135 werden könne. Allenfalls mochte man „den hier herrschenden Zustand [. . .] als ein ‚System‘ interpretieren, in welchem ein Komplex von ‚Grundnormen‘ über Gewohnheitsrecht, Vertrag, Entstehung und Untergang der ‚Rechtssubjekte‘ Staat usw. die obersten Rechtsquellen einsetzt und damit eine nur formell vereinheitlichte, inhaltlich lückenhafte und möglicherweise widerspruchsvolle ‚Ordnung‘ delegiert.“136

Und sogar diese Interpretation lief in Herz’ Augen Gefahr, als reine „Juristen-Ideologie“137 einen Zustand „reiner Macht- und Gewaltverhältnisse“138 zu beschönigen. Herz fragte daher: „Widerspricht nicht bereits der Begriff der modernen Staatsgebilde als ‚souveräner‘, die letzte Entscheidung für sich beanspruchender und keiner gemeinsamen höheren Entscheidungsstelle sich unterwerfender Einheiten der Auffassung des zwischenstaatlichen Bereichs als eines Bereichs auch nur irgendwie diese Gebilde ‚bindender‘ Normen?“139

Kelsens Annahme eines internationalen Gewaltmonopols hielt er für eine gefährliche Fiktion.140 Der disparate und hoch umstrittene Bestand völkergewohnheitsrechtlicher und vertragsrechtlicher Normen, aus dem sich das Völkerrecht zusammensetzte, konnte nach Herz nicht als zwangsbewehrtes Normsystem gedeutet werden. Zumindest bezogen auf einen Großteil der zwischenstaatlichen Regelungen – von Herz die „Sphäre reiner ‚Macht- und Spielregeln‘“141 genannt – fand das Völkerrecht offensichtlich keine Anwendung: „Under forever shifting conditions of power relations and power politics this kind of rules and arrangements at best concretizes a temporary power constellation 134 Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 55: „Wenn ein Staat im Namen der Menschheit seinen politischen Feind bekämpft, so ist das kein Krieg der Menschheit, sondern ein Krieg, für den ein bestimmter Staat gegenüber seinem Kriegsgegner einen universalen Begriff zu okkupieren sucht.“ 135 Vgl. Herz, Einige Bemerkungen zur Grundlegung des Völkerrechts, S. 287. 136 Ebd., S. 288. 137 Ebd. 138 Ebd. 139 Ebd. 140 Vgl. Herz, The Pure Theory of Law Revisited, S. 108. 141 Herz, Einige Bemerkungen zur Grundlegung des Völkerrechts, S. 289. Um welchen Bereich es sich hier allerdings genau handelt, wird aus Herz’ Aufsatz nicht wirklich deutlich. Herz selbst äußert sich eher kryptisch, wenn er schreibt: „[D]ie Bezeichnung ‚politische Abmachungen‘ vermag ungefähr anzudeuten, welcher Bereich hier gemeint ist.“

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in the common, although likewise temporary, political interest of the nations concerned.“142 Im Interview erklärte Herz, die Erkenntnis, dass Recht ohne ein effektives Zwangsinstrumentarium eigentlich nicht funktionieren könne, habe ihn schließlich zum Realismus geführt.143 Genau genommen hatte sich Herz in dieser Frage der Position Morgenthaus angenähert, der bezüglich völkerrechtlicher Sanktionsmöglichkeiten argumentiert hatte, dass Staaten ihre Sanktionsmittel nur dann zur Verfügung stellten, wenn es in ihrem eigenen Interesse läge. Die Wirksamkeit des Völkerrechts hing für Morgenthau gänzlich von der internationalen Macht- und Interessenkonstellation ab.144 Herz stimmte damit Morgenthau und allen Realisten explizit zu, die die Wirkungskraft völkerrechtlicher Normen generell bezweifelten: „Hier ist der ‚realistisch‘ eingestellte ‚Politiker‘ oder ‚political scientist‘ im Recht, wenn er sich über den ‚Völkerrechtler‘ lustig macht, der sich etwa um die ‚Rechtsfolgen‘ des Bruches eines Allianzvertrages und die Berechnung des aus der dadurch verursachten Niederlage entstandenen Schadens bemüht.“145

Herz ging allerdings nicht so weit, das Völkerrecht als „Ideologie der Philosophen, Utopisten, Theoretiker, kurz, bloßes ‚Naturrecht‘“146 zu degradieren und seine Wirkungskraft generell zu leugnen. Eine solche kritische Haltung gegenüber dem Völkerrecht hatte beispielsweise Carl Schmitt im Begriff des Politischen entfaltet, indem er die Herrschaft einer überstaatlichen Rechtsordnung in den internationalen Beziehungen unter Berufung auf Hobbes als fiktive Konstruktion zurückwies.147 Mit Kelsen stimmte Herz darin überein, dass es zweifelsohne seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges zu einem gewissen Fortschritt im Bereich des Völkerrechts gekommen war: „‚Im Schatten des Krieges‘, am ‚Rande des Vulkans‘“ sei so „ein Komplex von Normen und Regelungen entstanden, der der weltwirtschaftlichen, pazifisierenden, verrechtlichenden Komponente der Entwicklung internationaler Beziehungen“148 entspreche. Die Satzung des Völkerbundes, die Ächtung des Krieges durch den Briand-Kellogg-Pakt und das generelle Gewaltverbot aus Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta sowie die Etablierung eines Internationalen Gerichtshofs seien Zeugen dieses zunehmenden Verrechtlichungsprozesses.149 142

Herz, The Pure Theory of Law Revisited, S. 112. Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 1. 144 Vgl. Hans J. Morgenthau, Théorie des Sanctions Internationales, in: Revue de Droit International et de Législation Comparée, Volume 16/1935, S. 474–503 und 809–836. 145 Herz, Einige Bemerkungen zur Grundlegung des Völkerrechts, S. 288. 146 Ebd. 147 Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 66. 148 Herz, Einige Bemerkungen zur Grundlegung des Völkerrechts, S. 288. 143

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Herz beobachtete außerdem, dass, wenn sich die Parteien erst einmal einer bestimmten völkerrechtlichen Norm, z. B. der Schiedsgerichtsbarkeit durch den Internationalen Gerichtshof, unterworfen hatten, sie dazu tendierten, ihre Verpflichtungen auch einzuhalten. Einmal etabliertes und akzeptiertes Recht brachte also in Herz’ Interpretation immer weiteres Recht hervor. Zwar schränkte er ein, dass es auf dem Gebiet der „politischen Abmachungen“150, wenn Fragen nationaler Macht und Interessen auf dem Spiel stünden, wahrscheinlich gar nicht erst zu einer rechtlichen Regelung käme,151 aber die Wirkungskraft völkerrechtlicher Normen auf anderen Gebieten war für ihn unbenommen: „Below the level of the ‚highly political‘, however, there are numerous situations and patterns of conduct which states establish as legally relevant.“152 Kelsens Völkerrechtsverständnis reduzierte für ihn jedoch die Realität der internationalen Beziehungen einzig auf die – wenn auch vorhandenen – Tendenzen stärkerer Institutionalisierung und Verrechtlichung, ohne die gegenläufigen Entwicklungen, die Herz unter dem Begriff power politics153 subsumierte, zu betrachten. Herz kritisierte, dass Kelsen, indem er sich auf die zweifelsohne erreichten Fortschritte konzentriere und allein die wachsende Anzahl internationaler Institutionen, die Einrichtung einer internationalen Gerichtsbarkeit und die Einführung kollektiver Sanktionsmöglichkeiten zur Rechtsdurchsetzung in den Fokus seiner Analyse stelle, Gefahr laufe, die Wirklichkeit schön zu färben und Entwicklungen zu antizipieren, die sich so in der Realität nicht finden ließen.154 Letztlich warf er Kelsen vor, auf diese Weise jene Zyniker noch zu stärken, die die Wirkungskraft des Völkerrechts generell in Abrede stellten und dadurch das Gegenteil des eigentlich Beabsichtigten zu bewirkten.155 Er unterschied zwei verschiedene Sichtweisen des Völkerrechts. Auf der einen Seite könne man Völkerrecht als „‚gerecht‘ empfundenes, noch zu verwirklichendes Ideal“156 verstehen, „das dann, da ‚Recht‘ ja so ähnlich klingt wie ‚gerecht‘, als bestehendes, den Menschen, Gruppen, Staaten zustehendes Recht“157 empfunden werde. Auf Basis dieses Verständnisses könne man ein Selbstbestimmungsrecht der Völker, ein Recht auf Heimat, 149 150 151 152 153 154 155 156 157

Vgl. Herz, The Pure Theory of Law Revisited, S. 108. Herz, Einige Bemerkungen zur Grundlegung des Völkerrechts, S. 291. Vgl. ebd. Herz, The Pure Theory of Law Revisited, S. 112. Vgl. ebd., S. 108. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 109. Herz, Hauptprobleme des Völkerrechts im Atomzeitalter, S. 101. Ebd.

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Menschenrechte, ja generell ein Recht auf „dieses und jenes, auf so ungefähr alles, was Menschen je als wünschenswert erschienen ist“158 für sich reklamieren. Problematisch an dieser Sichtweise war für Herz allerdings, dass das, was man als bestehendes Recht für sich in Anspruch nahm, weder gängige Staatenpraxis darstellte, noch international konsensfähig war. Die größte Gefahr sah Herz darin, dass solchermaßen in Anspruch genommenes Recht Gefahr lief, zum „ideologischen Kampfmittel im ewigen Interessenwettstreit der Völker und Menschen“159 zu mutieren. Anhand dieser Formulierung, die Herz 1959 in einem Aufsatz über die „Hauptprobleme des Völkerrechts im Atomzeitalter“160 gebrauchte, wird deutlich, wie sehr sich seine Sichtweise auf die internationalen Beziehungen den realistischen Politikvorstellungen in der Zwischenzeit angenähert hatte. Die andere Sichtweise auf das Völkerrecht, der auch Herz sich anschloss und die er später in einem Aufsatz aus dem Jahr 1964 als legal empiricism161 bezeichnete, betrachtete das Völkerrecht aus einer wesentlich pragmatischeren und zugleich bescheideneren Perspektive. Völkerrecht beruhe demnach weniger auf der Erzwingbarkeit von Normen als vielmehr auf der „Anerkennung gemeinsamer Interessen“162 und dem Willen der Staaten, Völkerrechtsgrundsätze als für sie bindend anzuerkennen.163 So hätten sich beispielsweise die souveränen Einzelstaaten über gewisse Grundabgrenzungen ihrer Machtbefugnisse vertraglich oder auch stillschweigend im Sinne des Gewohnheitsrechts geeinigt, um ihre Existenz wechselseitig zu sichern:164 „Such units require to know, and know in some detail, where their jurisdictions end and those of other units begin. [. . .] Without a minimum of such regulation there would have been anarchy, with nations constantly involved in strife over the implementation of their ‚independence‘.“165 Die gegenseitige Anerkennung von Kompetenz- und Souveränitätssphären und die Übereinkünfte darüber, wer auf den Ozeanen, in Küstengewässern, Meerengen oder im Luftraum zuständig war, waren für Herz beobachtbares und befolgtes modernes Völkerrecht. Dies erfülle „allerdings ‚nur‘ eine utilitaristische Funktion, und nicht die einer ‚höheren Gerechtigkeit‘.166 Wirksames Völkerrecht, so Herz, sei „von jeher Reflektion von Machtverhältnissen und Interessenlagen“167. 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167

Ebd. Ebd. Ebd., S. 101–106. Vgl. Herz, The Pure Theory of Law Revisited, S. 109. Herz, Hauptprobleme des Völkerrechts im Atomzeitalter, S. 102. Vgl. Herz, The Pure Theory of Law Revisited, S. 113. Vgl. ebd., S. 109. Ebd. Vgl. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 166. Herz, Hauptprobleme des Völkerrechts im Atomzeitalter, S. 103.

III. Zwischenfazit

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Darüber hinaus kritisierte Herz Kelsen für dessen radikalen Völkerrechtsmonismus, der seiner Ansicht nach die Realität verzerre:168 Völkerrecht und jeweiliges Landesrecht verhielten sich als Einheit zueinander. Sie seien einander weder über- noch untergeordnet, sondern existierten nebeneinander, ohne voneinander getrennt zu sein. Welches Recht letztendlich dominiere, sei eine Frage der Aufteilung und Ausbalancierung der Macht, was dazu führen könne, dass je nach herrschenden Machtverhältnissen das eine oder andere Rechtssystem, „aus dem Zustand der Nebenordnung hervortretend, sich dem anderen überordnet.“169 Auch hier zeigt sich, dass Herz die theoretische Reinheit von Kelsen zugunsten eines theoretisch-systematisch weniger befriedigenden, dafür aber an der Realität orientierten Ansatzes aufgab: „Es liegt . . . an der Vielfalt und teilweise Widersprüchlichkeit der gegebenen Verhältnisse und Lagen, die der Einordnung in das eine oder andere ‚System‘ [Monismus bzw. Dualismus] spotten.“170 Zusammenfassend kann man festhalten, dass Herz’ Völkerrechtsverständnis weniger ambitioniert war, als das seines akademischen Lehrers. Damit stand Herz der Sicht des politischen Realismus näher. Denn Völkerrecht stellte für Herz kein harmonisches und geschlossenes Rechtssystem dar, sondern manifestierte sich als „gleichzeitiges Auftreten vieler sich kreuzender vertraglicher Partikularnomen ohne Bezugnahme auf eine Gesamtordnung“171, ergänzt durch allgemeine Gewohnheitsgrundsätze, und zeichnete sich zudem durch seine große Fragilität aus: „[N]ur in den Grenzen, die ihm die Erscheinung des Krieges setzt, hat dieses ‚Völkerrecht‘ seinen fragwürdigen Bestand“.172 Herz’ Abschlussurteil über Kelsens Völkerrechtstheorie fiel entsprechend hart aus: „Insbesondere aber versagt Kelsen, wenn es sich um die systematische Erfassung der Beziehungen handelt, in die die Staaten selber zueinander treten, also um internationale Beziehungen und Völkerrecht.“173

III. Zwischenfazit In der Auseinandersetzung mit der „Reinen Rechtslehre“ seines akademischen Lehrers Kelsen formten sich grundsätzliche Charakterzüge des Herzschen Denkens. In seiner Dissertation und den daran anschließenden Arbeiten beschäftigte er sich erstmals in analytischer und kohärenter Weise mit 168 169 170 171 172 173

Vgl. Herz, Einige Bemerkungen zur Grundlegung des Völkerrechts, S. 296. Ebd., S. 298. Ebd. Ebd., S. 288. Ebd., S. 292. Herz, Vom Überleben, S. 100 f.

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dem Wesen des Staates und des Rechts, mit dem Verhältnis von Politik, Recht und Ethik und mit dem Geltungsbereich und der Wirkungskraft von Staats- und Völkerrecht. Seine erste Berührung mit dem Analysegegenstand der Politikwissenschaft und ihrer Teildisziplin Internationale Beziehungen fand aus der Perspektive des Rechtswissenschaftlers statt. Als solcher hing Herz zunächst dem Weberschen Werterelativismus und der Wertfreiheit der Wissenschaft an – beides war im Sinne der „Reinen Rechtslehre“ – und befürwortete eine strenge Trennung der Bereiche Moral und Recht. Er sah Kelsens Lehre als Mittel, um den ideologisch motivierten Versuch, Recht als Rechtfertigung für politische Entscheidungen zu benutzen, zu vereiteln. Dem Wissenschaftler stand es nicht zu, moralische Überlegungen in seine Analyse einfließen zu lassen. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten relativierte diese Sichtweise. Die Diskrepanz zwischen dem Staat, wie er in der „Reinen Rechtslehre“ gedacht wurde und der Realität des Staates im Dritten Reich war so groß, dass Herz nicht umhin konnte, in der Kelsenschen Lehre letztlich auch nur eine Naturrechtsdoktrin zu sehen und sie unter „Ideologieverdacht“ zu stellen.174 „Forschung musste aktivistisch werden, mahnende Analyse“175; Wissenschaft konnte nicht mehr länger „rein“ sein, sondern musste ihren Beitrag dazu leisten, vor der aufkommenden Bedrohung zu warnen – also zur politischen Wissenschaft werden. Später manifestierte sich dieser scheinbare Widerspruch zwischen wertfreier und normativer Wissenschaft in einer Zweiteilung des Herzschen Forschungsansatzes, der in seinen nachfolgenden Publikationen deutlich zutage trat. An eine möglichst wertfreie und neutrale Analyse schloss Herz zukünftig immer auch eine konkrete Handlungsempfehlung an, die eine Antwort auf die Frage gab, welche Politik aufgrund der objektiv gegebenen Umstände die jeweils beste zu sein schien, wobei er ethische Überlegungen explizit mit einbezog. Während Herz zunächst an der Reinheit der Lehre festhielt, hatte Morgenthau Kelsens unbedingte Ausgrenzung all dessen, was nicht zum Recht gehörte, schon früh als realitätsfern bezeichnet. In einem Bereich allerdings distanzierte sich auch Herz bereits von Anfang an von Kelsen. So konnte er mit dessen Verständnis des Staates allein als personifizierte Rechtsordnung nur wenig anfangen und erweiterte es um eine soziologische Komponente. Letztlich hielt auch er die Einbeziehung der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in die wissenschaftliche Erörterung des Rechts für unabdingbar, und entwickelte unter Berufung auf die ontologischen Thesen Nicolai Hartmanns eine eigene Theorie des Rechts innerhalb des Stufenbaus der Seinsschichten. Besonders im Bereich 174 175

Vgl. ebd., S. 100. Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 10.

III. Zwischenfazit

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des Völkerrechts teilte Herz zunächst den Kelsenschen Glauben an die Regulierungskraft völkerrechtlicher Normen. Kelsen und Herz hielten es für möglich, eine verrechtlichte und stärker institutionalisierte Weltordnung zu schaffen. Erst nach 1933 geriet Herz’ Überzeugung diesbezüglich ins Wanken. Der Glaube an die Wirkungskraft des Völkerrechts erschien ihm zunehmend naiv, ebenso wie der „Legalismus“ als Betrachtungsweise der internationalen Beziehungen. Herz wandelte sich – allerdings widerwillig – vom Anwalt des Friedensbundes, seiner Ideen und Institutionen, zu einem großen Skeptiker des Völkerrechts, der – wieder wesentlich später als Morgenthau – an dessen Wirksamkeit grundlegend zweifelte. Enttäuschung und Ernüchterung machten sich breit und führten zu einer Hinwendung zum außenpolitischen Realismus als einer die Wirklichkeit abbildenden Theorie der internationalen Beziehungen. Hier erklärt sich das Phänomen, warum die deutschen Gründungsväter des außenpolitischen Realismus vielfach ehemalige Rechtswissenschaftler waren. Gerade in der enttäuschten Hoffnung und in der Desillusionierung durch die Machtlosigkeit des eigenen Untersuchungsgegenstandes liegt die Wurzel des außenpolitischen Realismus als Wissenschaft von der Macht. Während Morgenthau allerdings schon immer ein politischer Realist war, indem er den Faktor des „Politischen“ – für ihn mit dem Machtfaktor synonym – betonte, wurde es der Kelsen-Schüler Hans Herz erst unter dem Druck der Ereignisse, und nicht, weil es seinen innersten Überzeugungen entsprach. Einer der wesentlichen Gründe für diesen Unterschied ist sicherlich in der unterschiedlichen Sozialisierung beider Denker zu sehen. Während Herz die ihn umgebende Welt trotz einiger Eintrübungen im Wesentlichen als friedlichen Ort der Geborgenheit erfuhr, erging es Morgenthau gänzlich anders, wie Christoph Freis intellektuelle Biographie deutlich macht.176 Anders als Herz war Morgenthau seit frühester Kindheit ständiger Diskriminierung ausgesetzt gewesen. Früh hatte sich das nationalsozialistische Gedankengut in seiner Heimatstadt Coburg durchgesetzt, so dass die Atmosphäre dort – anders als im weltläufigen Düsseldorf – schon in den frühen 1920er Jahren vergiftet war. Anders als Herz, der am HEI bis 1938 eine komfortable Position innehatte, geriet auch Morgenthaus Aufenthalt in Genf wenig heiter. Zusätzlich musste er Francos Regime in Spanien entfliehen, bevor er letztendlich in den USA eine neue Heimat fand. Morgenthau war demzufolge das Denken in den Schmittschen Kategorien „Freund“ und „Feind“ buchstäblich in die Wiege gelegt worden, während Herz sich im „Bliss“177 seiner frühen Jahre sonnte. 176

Vgl. Frei, S. 13–31. In Ermangelung eines entsprechenden deutschen Wortes bezeichnete Herz das Grundgefühl des ersten Stadiums seines Lebens als uneingeschränkten „Bliss“. Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 13. 177

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Doch sollen diese persönlichen Erfahrungen nicht überstrapaziert werden. Auch intellektuell kam Herz eindeutig aus einer vom deutschen Idealismus und vom Liberalismus geprägten Tradition und näherte sich dem Realismus erst im Laufe der Zeit an: „Er hat seinen intellektuellen Weg als ‚Idealist‘ begonnen“178, stellt der Politikwissenschaftler Gert Krell richtigerweise fest. Trotzdem hatten Herz und Morgenthau miteinander gemein, dass sie im Völkerrecht nicht eine bloß fiktive Konstruktion sahen, sondern ihm – wenn auch nur sehr begrenzt und unter gewissen Umständen – doch noch so etwas wie eine Wirkungskraft auf die internationale Politik zubilligten. Der Völkerrechtler Martti Koskenniemi bringt dies auf den Punkt: „However, Herz and Morgenthau also reserved a limited role for law in situations where the balance of power or common interests were working. Both conserved a traditional court and case oriented image of law. Legal rules and institutions were sometimes useful as instruments for the advancement of State interests that every now and then converged to create a normal stability. The residual role they reserved for international law was an inseparable part of their traditionalism that focused on the cultivated sensibilities of foreign policy decision-makers who would understand the value of the experiences that were condensed in legal rules ever if they were not ‚binding‘ or enforceable in the straightforward fashion like rules of national law.“179

Vergleicht man darüber hinaus Kelsen, Herz und Morgenthau noch auf einer ganz anderen Ebene, so bleibt ein weiterer Unterschied nicht verborgen. Morgenthau ging es, wie sein Biograph urteilt, nie „um eine Auseinandersetzung mit abstrakten Werten und Idealen; er war auch keineswegs gewillt, sich in den normlogischen Tüfteleien der ‚herrschenden Rechtswissenschaft‘ zu verlieren. Sein Interesse galt dem tatsächlichen Verhalten von Menschen und der Möglichkeit, dieses Verhalten durch Normen zu beeinflussen.“180 Kelsen und Herz jedoch waren solche „Tüftler“, denen es mehr um die theoretischen Grundlagen ging, als um die praktische Anwendbarkeit der Rechtswissenschaft. Während also Morgenthau von jeher das Praktische der Rechts- bzw. Politikwissenschaft betonte, war Herz nach eigener Einschätzung „[t]heoretical-minded by natural inclination“181.

178 Gert Krell, Weltbilder und Weltordnung. Einführung in die Theorie der Internationalen Beziehungen, 2. Auflage, Baden-Baden 2003, S. 149. 179 Koskenniemi, S. 471 f. 180 Frei, S. 141. 181 Herz, An Internationalist’s Journey through the Century, S. 249.

„Die Fahrt ins Exil ist eine ‚journey of no return‘. Man mag, um mit Zuckmayer zu sprechen, wiederkehren, aber man kehrt niemals heim. Natürlich kann man sagen, wir haben eine Heimat verloren, aber wir haben eine Welt gewonnen. Wozu brauche ich Wurzeln, ich habe ja Flügel. Manche modernen Menschen meinen, sie könnten Heimat gegen Welt eintauschen – was für ein glänzendes Geschäft! Wieviel Heimat braucht der Mensch? Mehr als er weiß.“1 (Ernst C. Stiefel)

D. Wandern zwischen den Welten (1931–1952) Die Machtübernahme der Nationalsozialisten, der Weg ins Schweizer Exil und die anschließende Emigration in die Vereinigten Staaten stellten gravierende Einschnitte im Leben von Hans Herz dar, die er auch intellektuell verarbeiten musste. Das folgende biographische Kapitel geht daher der Frage nach, wie diese extremen Erfahrungen sein Denken veränderten, wie sie sich auf seine wissenschaftliche Tätigkeit auswirkten und wie sie ihn letztlich dem außenpolitischen Realismus näher brachten. Die Auseinandersetzung mit Deutschland und den Deutschen spielt dabei eine zentrale Rolle, sie erfährt besondere Aufmerksamkeit. Behandelt werden die Jahre der Exilzeit, die mit der Entscheidung, nach dem Sieg über Hitler-Deutschland nicht in die Heimat zurückzukehren, ein Ende fand. Durch diese Entscheidung wurde Herz dauerhaft zu einem „Wanderer zwischen zwei Welten“2, dessen Identität gespalten blieb und dessen Denken von den unterschiedlichen (Wissenschafts-)Traditionen diesseits und jenseits des Atlantiks beeinflusst wurde.

I. Eine Welt geht unter (1931–1935) Nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Doktorarbeit im Jahre 1931 begann Herz mit seinem Gerichtsreferendariat, konnte dieses aber nicht mehr beenden. Politisch war die Atmosphäre in Deutschland immer schlechter geworden, „Unheimliches bahnte sich an, das musste jeder fühlen, der sich 1

Ernst C. Stiefel, zitiert im Vorwort von Marcus Lutter zu Ernst C. Stiefel/Frank Mecklenburg, Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933–1959), Tübingen 1991, S. IV. 2 Herz, Vom Überleben, S. 9.

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nicht vollkommen absonderte.“3 Die Folgen der Wirtschaftskrise, der Aufstieg der NSDAP und die zunehmende Polarisierung von rechts und links überschatteten die frühen 1930er Jahre. Der fanatische Antisemitismus, der sich zunächst nur auf die extreme Rechte konzentriert hatte, breitete sich durch Hitlers Propaganda mehr und mehr im Land aus. Die Juden galten als Urheber der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg, nun wurden sie als „Betreiber und Nutznießer von Revolution, Inflation und Erfüllungspolitik dargestellt“4, die sich auf Kosten des deutschen Volkes bereicherten. Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum deutschen Reichskanzler am 30. Januar 1933 wurde Herz wenige Monate später auf Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ als Rechtsreferendar aus dem Staatsdienst entlassen. Dieses Berufsverbot traf alle „nicht-arischen“ Beamten, Hochschullehrer und Rechtsanwälte und machte es Herz unmöglich, als Jurist Fuß zu fassen.5 Ein Umstand, der sich bald als ein großes Glück herausstellen sollte. Andernfalls hätte er sich nie mit dem Gedanken getragen, das Land so frühzeitig zu verlassen. Wie viele andere hoch assimilierte deutsche Juden in dieser Zeit war er tief in deutscher Sprache und deutschem Denken verwurzelt, fühlte er sich so deutsch, wie die legendäre deutsche Eiche. Mit ungläubigem Staunen nahm er daher die von Hitler ausgegebene antisemitische Propaganda zur Kenntnis, nach der er von einem Tag auf den anderen kein Mitglied der deutschen Gesellschaft mehr sein sollte. Wie viele andere Vertreter des liberalen jüdischen Bürgertums konnte er mit dem Etikett „Jude“, das ihm plötzlich verliehen wurde, nicht viel anfangen, hatte er sich doch bis dato in keiner Weise durch sein „Jüdischsein“ definiert.6 Es erschien ihm und seinen Leidensgenossen zunächst unvorstellbar, dass alle Assimilation und Emanzipation wertlos geworden sein sollte, „nur“ weil die NSDAP mit ihrer primitiven Rassenideologie an die Macht gekommen war. Warum sollten ihr Einsatz fürs Vaterland im Ersten Weltkrieg, ihre Liebe zu Deutschland, ihre Wurzeln in deutscher Kultur und Geistigkeit, nun nicht mehr von Bedeutung sein? Im Interview erinnerte sich Herz an diese Zeit: „The Nazi-Takeover was a very cruel awakening, especially 3

Ebd., S. 92. Winkler, S. 429. 5 Vgl. Norman Bentwich, The Rescue and Achievement of Refugee Scholars. The Story of Displaced Scholars and Scientists 1933–1952, Den Haag 1953, S. 1–8. 6 Auch nachdem er aus Nazi-Deutschland fliehen musste und in die USA emigriert war, definierte Herz sich nie über seinen jüdischen Hintergrund. 1988 schrieb er in einem Brief: „[U]ntil Hitler made my being Jewish my destiny, I had never felt strongly Jewish, and since my coming to America I have tried to assimilate to American culture not as a Jew but as a human being.“ Vgl. Herz an Richard C. Rowson, 20. Februar 1988, Box 2, Vom Überleben. English Translation [Ordner], Herz Papers. 4

I. Eine Welt geht unter (1931–1935)

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for those German Jews who did not consider themselves as even a religious or ethnic minority. We considered ourselves as part of German society.“7 Die wenigsten deutschen Juden glaubten daher daran, dass sich das neue Bündnis von bürgerlichen Konservativen mit der NSDAP an der Spitze des Landes halten würde.8 Das Ganze würde sich bald als bloßer Spuk erweisen, schließlich war die Gleichberechtigung der Juden in der Weimarer Reichsverfassung verankert. Wie viele andere verschloss auch Herz zunächst die Augen vor der kommenden Bedrohung und betrachte diese als eine Art „Belagerungszustand“9, den es zu überdauern galt: „Man klammerte sich an scheinbare Verfallserscheinungen, wie den Röhmputsch vom Juli 1934, die das baldige Ende des Regimes anzukündigen schienen.“10 Nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst wusste Herz zunächst nichts mit seinem Leben anzufangen. Obwohl er sich halbherzig nach Arbeitsmöglichkeiten im Ausland umsah, konnte er sich zu einer Emigration nicht recht entschließen, zumal seine Chancen auf eine Anstellung im Ausland als Jurist äußerst gering waren.11 Er, der sich selbst als „Ordnungsmensch“ sah, „den es beunruhigte, wenn er nicht vorausplanen, sein Leben ‚organisieren‘ konnte“12, schreckte davor zurück, sich auf ein solches unkalkulierbares Risiko einzulassen. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten bedeutete für ihn „die Zerstörung des geplanten, geordneten Werdegangs und Lebens“.13 Als Übergangslösung gab ihm sein alter Repetitor, in dessen Kanzlei Herz bis zu seiner Entlassung aushilfsweise beschäftigt gewesen war, für die nächsten beiden Jahre die Möglichkeit, inoffiziell weiter für ihn zu arbeiten.14 Als jedoch abzusehen war, dass die Herrschaft der Natio7

Herz im Interview mit Spalek am 19. September 1980. Nicht wenige deutsche Juden fühlten sich ebenso wie andere nationalliberal oder demokratisch, deutsch-national oder sozialdemokratisch empfindende Deutsche mit manchen Zielen und Bestrebungen der von Hitler geführten Regierung sogar solidarisch: „Für die Überwindung des Versailler Vertrages und den Wiedergewinn nationaler Größe begeisterte sich das jüdische Bürgertum nicht weniger als das nichtjüdische.“ So Wolfgang Benz, Das Exil der kleinen Leute, in: Ders. (Hrsg.), Das Exil der kleinen Leute. Alltagserfahrungen deutscher Juden in der Emigration, München 1991, S. 7–37, S. 15. 9 Herz, Vom Überleben, S. 104. 10 Ebd. 11 Herz im Interview mit Spalek am 19. September 1980: „I in particular was very unsure of what to do. Having studied law there wasn’t much you could do with German law in other countries. I thought for a while to try to enter the book trade [. . .] but anywhere where I went I got a negative answer.“ 12 Beide Zitate aus Herz, Vom Überleben, S. 55. 13 Ebd., S. 106. 14 Vgl. Erich Wenderoth, In diesen neunzig Jahren, Düsseldorf 1999, S. 134 f. Mit Wenderoth blieb Herz Zeit seines Lebens freundschaftlich verbunden. 8

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nalsozialisten keine bloße Episode darstellte und die Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Einschränkungen der jüdischen Bevölkerung im September 1935 im Erlass der Nürnberger Gesetze gipfelten, entschied Herz, alle Hoffnung auf ein weiteres Verweilen in seiner Heimat fallen zu lassen.15 Seine Chance erhielt er durch seinen Doktorvater Hans Kelsen, der mittlerweile am Institut Universitaire de Hautes Études Internationales (HEI) in Genf lehrte und Herz bei einem Treffen in London überzeugen konnte, ihm dorthin zu folgen. Das HEI basierte, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg gegründet, auf Woodrow Wilsons Überzeugung, dass eine künftige, auf anerkannten Völkerrechtsnormen aufgebaute Friedenspolitik auch einen neuen Typ der Fachleute erfordern werde.16 Konsequenterweise widmete sich das Institut der Erziehung und Ausbildung von Beamten und Angestellten internationaler Organisationen, des Völkerbundes, des internationalen Arbeitsamtes usw. Hier gab es Anfang der 1930er Jahre noch immer relativ großzügige Stipendien für viele sich sammelnde Flüchtlinge aus ganz Europa. Noch in dem Glauben, vielleicht bald wieder in die Heimat zurückkehren zu können, verließ Hans Herz, ausgerüstet mit einem Studentenvisum für die Schweiz, im Herbst 1935 deutschen Boden. „Wunderliches Erlebnis, dass einem, während man gerade draußen ist, sein Land irgendwohin davonläuft, so dass man es nicht wiedergewinnen kann.“17 (Thomas Mann)

II. Der Weg ins Exil: Genf (1935–1938) In Genf kam Herz erstmals mit einem wirklich internationalen Umfeld in Berührung.18 Der Völkerbund war hier beheimatet, und die Stadt wimmelte von hohen Beamten aller Nationalitäten. Das HEI hatte sich zum Sammelbecken junger Flüchtlinge entwickelt, die dort ihr intellektuelles Asyl fan15

John H. Herz im Interview mit der Verfasserin am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 1: „Mein Pessimismus von damals veranlasste mich, mich nicht darauf einzulassen noch länger dazubleiben – und wahrscheinlich dann in der Gaskammer geendet zu sein – sondern auszuwandern. Das erwähne ich immer als einen gewissen Vorteil des Pessimismus, weil ich im Bezug auf das, was sich in Deutschland ereignen würde, sehr viel pessimistischer war als viele andere Leute.“ 16 Mayer, S. 196. 17 Dies schrieb Thomas Mann am 27. Mai 1933 in sein Tagebuch: Thomas Mann, Tagebücher 1933–1934, hrsg. mit Vorwort, umfangr. Anmerkungen u. Register von Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1977, S. 93. 18 Vgl. Herz, An Internationalist’s Journey through the Century, S. 248.

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den. „Vor allem“, so schrieb Herz im Rückblick, „waren es die Lehrer am Institut, die mir eine ganz neue Art beibrachten, die internationale Welt, die Welt der Weltereignisse zu betrachten.“19 Neben seinem akademischen Lehrer aus Köln, Hans Kelsen, unterrichteten auch Carl Burckhardt, Paul Manthoux, Maurice Bourquin, Guglielmo Ferrero, Paul Guggenheim, Hans Wehberg und später die Gastprofessoren Manley O. Hudson und Georges Scelle am HEI. Sie alle waren in ihren jeweiligen Herkunftsländern namenhafte Wissenschaftler gewesen, die ihre Forschung nun in Genf weiterführten. Bis dato hatte Herz die internationalen Beziehungen allein durch die Brille des Völkerrechts betrachtet.20 In Genf wurde seine Perspektive nun entscheidend erweitert und er begann mit dem systematischen Studium der Internationaler Beziehungen, das er ohne die Emigration wahrscheinlich niemals in Betracht gezogen hätte.21 In einer Atmosphäre der geistigen Freiheit, des interkulturellen Austauschs und der intellektuellen Herausforderung fühlte er sich in seinem Element. Sein persönliches Glücksempfinden wurde dadurch verstärkt, dass ihm einige Zeit später sein bester Freund Ossip Flechtheim ans HEI nachfolgte und er auch seine spätere Frau Anne in Genf kennen lernte. Herz’ private „Seligkeit“22 stand allerdings in krassem Widerspruch zur Entwicklung der internationalen Politik. Unter dem Eindruck des Siegeszuges totalitärer Systeme durch Europa wurde sein Weltbild nach 1933 zunehmend pessimistischer. Besonders das Scheitern des Völkerbundes im Abessinien-Konflikt, stellte für ihn eine beispiellose Enttäuschung dar: „Ich erinnere mich noch, als wäre es erst gestern gewesen, wie Haile Selassi, Kaiser von Äthiopien, vor der Versammlung des Völkerbundes auftrat und ihre Mitglieder, vor allem die stärksten: Frankreich und Großbritannien, beschwor, ihm zu Hilfe zu kommen. Wenn ihr mir jetzt nicht helft, so seine Aussage, werdet ihr euch früher oder später in einer vergleichbaren Situation wiederfinden. Einen Augenblick lang schien es so, als würde wirklich etwas unternommen, um Mussolini zum Rückzug aus Äthiopien zu zwingen – Ölsanktionen, Schließung des Suezkanals oder ähnliches. Aber dann fehlte der Mut, und nichts geschah.“23

Der Völkerbund erwies sich als macht- und willenlos. Frankreich und Großbritannien wollten Mussolini nicht verärgern, da sie hofften, ihn auf ihre Seite gegen Deutschland ziehen zu können. Für Herz wurde so die 19

Herz, Vom Überleben, S. 109. Vgl. Herz, An Internationalist’s Journey through the Century, S. 247. 21 So spekulierte Herz in einem Brief an Ellen Rafshoon, 29. August 1994, Box 3, Correspondence 1993–1995 [Ordner], Herz Papers. 22 Herz, Vom Überleben, S. 108. 23 John H. Herz, Nachdenken über mein Jahrhundert, in: HSFK-Standpunkte, Nr. 8, Dezember 1999, S. 3. 20

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letzte Chance der Verwirklichung einer auf Rechtsnormen gegründeten Friedensordnung vertan. Anders als die meisten Realisten glaubte er grundsätzlich an die innere Logik und Durchführbarkeit eines kollektiven Sicherheitssystems: „Ich bin überzeugt, dass, hätte man damals Ernst gemacht, es keinen Einmarsch Hitlers ins Rheinland gegeben hätte, und keine der folgenden Dinge (Österreich, Prag usw.). . . . Der nicht-utopische, auf damals realistischen Erwägungen aufbauende Menschheitstraum, Angriffskriege durch Isolierung des Angreifers zu verhüten, war ausgeträumt.“24

Die Enttäuschung über die verpasste Chance zur Friedenserhaltung ist der Schlüssel für die realistische Wende des Herzschen Denkens, die sich von nun an langsam vollziehen sollte. Herz bezeichnete seinen Aufenthalt in Genf rückblickend im Jahr 2005 als eine der „eindrucksvollsten und wichtigsten Perioden“25 seines Lebens. Als Zeuge des kläglichen Versagens des Völkerbundes und der zahnlosen Appeasementpolitik der europäischen Nachbarstaaten wuchs in ihm die Überzeugung, dass allein durch diplomatische Bemühungen und edle Absichten der internationale Frieden nicht garantiert werden könne. Am 12. März 1938, dem Tag des Einmarschs deutscher Truppen in Österreich, heißt es in einer tagebuchähnlichen Aufzeichnung: „Das Schweigen hierauf wird die neue Stilart legitimieren und die nächsten Blitze in der Nacht werden immer dichter aufeinanderfolgend ein schrecklich blasses Publikum beleuchten bis zuletzt doch Gewalt auf Gewalt antworten wird, aber ohne die Hüter des Friedhofs einer Pax germanica.“26

Von der Frustration über die Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft gezeichnet, ging Herz in einem wenige Jahre später veröffentlichten Aufsatz so weit, statt eines Bundes (wie etwa dem Völkerbund) einen starken Hegemon herbeizuwünschen, der internationale Stabilität garantieren sollte. Der internationale Frieden hatte seiner Meinung nach dann eine größere Verwirklichungschance, „wenn ein Staat (oder eine Koalition) so stark wäre, dass er die anderen zum Gewaltverzicht, unter Garantierung der Einhaltung und Ausführung des an die Stelle der Gewaltausübung tretenden Schlichtungsverfahrens bringen könnte; er würde 24 Herz, Vom Überleben, S. 108. Vgl. auch ders., Power Politics and World Organization, in: The American Political Science Review, Vol. 36, No. 6, December 1942, S. 1039–1052, S. 1050. Dies bestätigte Herz auch noch einmal im Interview mit J. P. am 22. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 4: „Ich glaube, dass damals die Möglichkeiten der erfolgreichen Durchsetzung des Kollektivsicherheitssystems des Völkerbundes viel stärker waren als die Historiker heute annehmen.“ 25 Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY. 26 Herz in einem unveröffentlichten handschriftlichen Dokument ohne Adressaten, geschrieben in Genf am 12. März 1938, Box 28, Herz Papers.

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hier wohl auch die Rolle des ‚Richters‘ zu spielen, d.h. die Maßstäbe der Rechtsprechung und Rechtsänderung selbst zu setzen haben.“27

Dieses Argument ähnelt grob der von Charles P. Kindleberger begründeten „Hegemonic Stability Theory“, die Richard Rosecrance als einen „Ableger des realistischen Ansatzes“28 bezeichnet. Ausgehend vom Beispiel Großbritanniens im 19. Jahrhundert argumentiert Kindleberger, dass nur unter dem Schutz einer internationalen Hegemonialmacht ein stabiles Finanzund Handelssystem geschaffen und erhalten werden könne.29 Ein anderer Vertreter der Theorie, Robert Gilpin, betont zudem die entscheidende politische Funktion, die die militärische Hegemonie für die restlichen Mitglieder des internationalen Systems erfülle, da sie die Aufrechterhaltung eines dauerhaften Friedens gewährleiste.30 Für Herz blieb der Flirt mit der hegemonialen Stabilität jedoch ein einmaliges und kurzes Gedankenexperiment, das allerdings deutlich macht, wie tief seine Welt erschüttert worden war. „Hegemonie“ war für ihn vor und nach dieser Äußerung immer zutiefst negativ konnotiert und mit Ausbeutung und Unterdrückung eng verbunden.31 Darüber hinaus widerspricht die „Hegemonic Stability Theory“ der Theorie des Machtgleichgewichts in nahezu allen Aspekten. Nach der letztgenannten sichert ein Gleichgewicht der wirtschaftlichen und militärischen Macht die Interessen der Systemmitglieder, nach der erstgenannten untergräbt es die Aussicht auf ein friedliches Wachstum der Staaten. Herz war der Gedanke der friedenserhaltenden Wirkung einer „Balance of Power“ viel näher, wie sich in den folgenden Jahren abzeichnen sollte. Interessant ist, dass Herz seine Argumentation dabei genau wie Kindleberger auf die Rolle Großbritanniens im Zeitraum von 1648 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stützte. Er gelangt dabei jedoch zu einer völlig anderen Einschätzung und sah in Großbritannien den klassischer Balancer, der versuchte, die Ambitionen der Möchtegern-Hegemonialmächte Spanien, Frankreich und Deutschland einzudämmen. Wie im vorherigen Kapitel bereits ausgeführt kann man auch Herz’ beginnende Skepsis gegenüber der „Reinen Rechtslehre“ auf die Genfer Jahre datieren.32 Die völlige Aushebelung der Weimarer Reichsverfassung durch die 27

Herz, Einige Bemerkungen zur Grundlegung des Völkerrechts, S. 300. Richard Rosecrance, Der neue Handelsstaat. Herausforderungen für Politik und Wirtschaft, Frankfurt 1987, S. 67. 29 Vgl. Charles P. Kindleberger, The World in Depression, 1929–1939, revised and enlarged edition, Berkeley 1986. 30 Vgl. insbesondere Robert G. Gilpin, The Politics of Transnational Economic Relations, in: Robert O. Keohane/Joseph Nye (Hrsg.), Transnational Relations and World Politics, Cambridge, Mass. 1972, S. 55–63. 31 Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 207. 32 Vgl. Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 10. 28

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Notverordnungen und das Ermächtigungsgesetz ließen den unerschütterlichen Glauben an die Kraft der Normen in einem fahlen Licht erscheinen. Zudem sah Kelsen das Völkerrecht als eine den Staaten übergeordnete Rechtsordnung an, wobei die Einhaltung der Rechtsnormen notfalls durch Sanktionen wie Repressalien und Krieg erzwingbar war.33 Das Ausbleiben dieser Sanktionen gegen Mussolini führte Herz vor Augen, dass es in der internationalen Politik jedoch de facto unmöglich war, sich auf das Völkerrecht zu verlassen, um die internationale (Rechts-)Ordnung zu gewährleisten. Hätte sich das Kollektivsicherheitssystem des Völkerbundes bewährt, so wäre damit das Kelsensche Erfordernis eines funktionierenden Zwangssystems erfüllt worden. So aber hatte sich Herz die anarchische Struktur der internationalen Politik offenbart, in der die Beziehungen zwischen den Staaten allein auf Macht, nicht aber auf einer übergeordneten rechtlichen oder faktischen Instanz beruhten: „What emerged was an anarchic system of units striving and competing for power.“34 Diese Erkenntnis deckt sich mit den realistischen Grundprämissen Hans J. Morgenthaus‘, den er persönlich in Genf nur knapp verpasste.35 Als Antwort auf die Herausforderungen des Nationalsozialismus wendete sich Herz nun vom Völkerrecht ab und den Regeln der Machtpolitik zu. Anders ausgedrückt hatte seine „Wendung zum politischen Realismus“36, wie er selbst es formulierte, ihren Anfang genommen.37 In Reaktion auf die Vorkommnisse in Abessinien und das Scheitern des kollektiven Sicherheitssystems wollte Herz wie viele andere jüdische Emigranten den Entwicklungen nicht länger tatenlos zusehen. Er entwickelte das Bedürfnis, einen Beitrag zu leisten, um auf die Kriegsabsichten Deutschlands hinzuweisen und einen drohenden Krieg so doch noch abzuwenden. Einige seiner Freunde, allen voran Ossip Flechtheim, wurden politisch aktiv und gingen in den Widerstand. Herz war dazu nach eigenen Angaben „zu passiv und nicht mutig genug“38. Er konzentrierte sich daher auf den Bereich, der ihm am nächsten war, die Wissenschaft, und auf das, was er am besten vermochte, nämlich das Schreiben. Seine Berufung sah er in 33

Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 321–345. Herz, From Geneva 1935 to Geneva 1985, S. 28. 35 Vgl. John H. Herz, Letter to the Morgenthau Conference, in: Christian Hacke/ Gottfried-Karl Kindermann/Kai Schellhorn (Hrsg.), The Heritage, Challenge, and Future of Realism. In Memoriam Hans J. Morgenthau (1904–1980), Bonn 2005, S. 23. Morgenthau hielt sich von 1932 bis 1935 in Genf auf und habilitierte sich dort, was ohne die Hilfe von Hans Kelsen wohl unmöglich gewesen wäre. 36 Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 11. 37 Vgl. Kurt Düwell, Ossip K. Flechtheim und John H. Herz – zwei fast parallele Lebensläufe, in: Maritta Hein-Kremer/Hein Hoebink/Falk Wiesemann (Hrsg.), Landes- und Zeitgeschichte im Westen Deutschlands. Ausgewählte Beiträge von Kurt Düwell, zu seinem 65. Geburtstag, Essen 2004, S. 237–247, hier S. 241. 38 Herz, Vom Überleben, S. 106. 34

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der Aufklärung über den wahren Charakter der nationalsozialistischen Ideologie: „Study could no longer be ‚pure‘ research; it had to become research committed to warn of the deadly peril and show the way to the necessary action.“39 Die Zeit der „Reinen Rechtslehre“ war vorbei. Wissenschaft musste nunmehr praxisorientiert sein und klare Werturteile fällen – sie sollte als Mittel dienen im Kampf gegen den Nationalsozialismus und für die Wiederherstellung von Frieden und Demokratie. Die Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik sah Herz nicht zuletzt in der „a-politischen Einstellung der geistigen Eliten.“40 In seinem Bemühen, politisch motivierte Wissenschaft zu betreiben, verfolgte er zwei verschiedene Ansätze. Zum einen bemühte er sich, „trotz aller ‚realistischen‘ Skepsis“41, die dem Völkerbund zugrunde liegenden Ideen doch noch zu stärken. Zum anderen wollte er die Welt aufmerksam machen auf die durch Hitler drohende Gefahr. Insbesondere beabsichtigte er, die angebliche Friedenspolitik der Nazis als verschleierte Angriffsideologie zu enthüllen. Zu diesem Zweck entstand in den Genfer Jahren seine große Studie über Die Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus42. 1938 erschien das Buch unter dem Pseudonym „Eduard Bristler“43 im Schweizer Europa-Verlag und wurde daraufhin in Deutschland und Österreich sofort verboten. Bis nach Ende des Zweiten Weltkrieges konnte es daher keine große Wirkungskraft entfalten, es blieb jedoch über Jahrzehnte hinweg die einschlägigste und nachhaltigste Auseinandersetzung mit diesem Thema. Noch in den 1990er Jahren galt es als „most valuable work available“44 und bis heute grundlegende Untersuchung nationalsozialistischen Völkerrechtsverständnisses.45 Obwohl es im Jahr 1938 erschien, ist das Vorwort auf Dezember 1937 datiert und wurde somit noch vor dem Münchner Abkommen verfasst. Mit erstaunlichem Weitblick prognostizierte Herz damals den deutschen Angriffskrieg und musste nur neun Monate später dabei zusehen, wie Großbritannien und Frankreich die deutsche Annektion des Sudetenlandes tatenlos geschehen ließen. Rückblickend schrieb er: 39

Herz, The Nation State and the Crisis of World Politics, S. 6. John H. Herz im Brief an seinen alten Klassenkameraden Hans-Dieter Fleischhauer, 1. Dezember 1984, Box 2, „Vom Überleben. Correspondence with Droste, etc.“ [Ordner], Herz Papers. 41 Herz, Vom Überleben, S. 110. 42 Bristler, S. 19. 43 Herz musste damals unter Pseudonym veröffentlichen, weil seine Eltern und seine Schwester noch in Düsseldorf lebten und er sie nicht gefährden durfte. Vgl. Herz im Interview mit Genger am 14. März 1997. 44 Detlev F. Vagts, International Law in the Third Reich, in: American Journal of International Law, Vol. 84, No. 3, July 1990, S. 661–704, S. 661, Fn. 1. 45 Vgl. Mathias Schmoeckel, Die Grossraumtheorie, Berlin 1994, S. 15. 40

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„Nur wer sich die diesen Zielen gegenüber blind verhaltende Beschwichtigungspolitik der Mächte vergegenwärtigt, kann die Verzweiflung derer verstehen, die damals vergeblich, ungehört, zum Zusammenschluss aller noch freien Länder gegen den Expansionismus der faschistischen Länder (sowie den der japanischen Militaristen) aufriefen.“46

Herz wollte die nationalsozialistische Völkerrechtslehre entlarven, und zwar mit Hilfe ihrer eigenen Waffen. Die Völkerrechtler der Nationalsozialisten, allen voran Carl Schmitt, reklamierten für sich, eine gänzlich neue Grundlegung des Völkerrechts zu vertreten, die universelle Gültigkeit besitzen sollte.47 Herz beabsichtigte, diese Lehre an ihrem eigenen Anspruch und ihren eigenen Voraussetzungen zu messen. Er wollte bewusst kein politisches Traktat, keine subjektive „Abrechnung“ mit der nationalsozialistischen Weltanschauung schreiben, sondern als Rechtstheoretiker eine Auseinandersetzung auf wissenschaftlicher, objektiver Grundlage betreiben.48 Ganz im Sinne der „Reinen Rechtslehre“ bestand die von ihm gewählte Methode darin, zunächst eine möglichst werturteilsfreie Betrachtung der Lehre selbst vorzunehmen, um dann allerdings auf einer zuverlässigen Basis eine Bewertung und praktische Folgerung anzuschließen. Es ging ihm dabei jedoch nur zuvorderst allein um Fragen der Rechtstheorie. Denn die nationalsozialistische Völkerrechtsdoktrin hatte vor allem praktische Konsequenzen für Hitlers Außenpolitik. Herz wollte daher unter Zuhilfenahme der Völkerrechtslehre beweisen, dass Hitler zukünftig eine revisionistische Außenpolitik verfolgen würde, mochten die europäischen Chamberlains auch die Augen davor verschließen. Detailliert nahm er erst die nationalsozialistische Völkerrechtsdoktrin und anschließend Hitlers außenpolitische Doktrin auseinander: In ihrem Bemühen, eine Neukonstruktion des Völkerrechts vorzunehmen, stützten sich die Völkerrechtler des Dritten Reiches auf zwei grob zu unterscheidende Erklärungsansätze: Eine erste Gruppe wollte die neue Rechtsordnung auf der „Grundlage von Naturrecht und Staatengrundrechten“49 begründen, eine zweite Gruppe berief sich auf die Rassentheorie.50 In beiden Fällen war das Gleichheitsprinzip Dreh- und Angelpunkt der Diskussion. 46

Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 11. So schrieb Carl Schmitt: „Die Rechtssubstanz des europäischen Völkerrechtsdenkens liegt heute bei uns.“ Zitiert in Bristler, S. 19 aus Carl Schmitt, Nationalsozialismus und Völkerrecht, Berlin 1934. 48 Vgl. Bristler, S. 19. 49 Mathias Schmöckel weist darauf hin, dass die von Herz gewählte Bezeichnung insofern problematisch sei, als die Annahme von Staatengrundrechten und -pflichten auch heute noch der herrschenden Lehre entspreche. Vgl. Schmoeckel, Die Grossraumtheorie, S. 112. 50 Vgl. Bristler, S. 72. 47

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Die Vertreter der ersten Gruppe erkannten als „echtes“ Völkerrecht allein mit dem Gerechtigkeitsgrundsatz konformes Recht an. Sie argumentierten, Verträge wie der von Versailles verstießen als „bloße Gewaltordnungen“ gegen die „Heiligkeit des Rechts“ und konstituierten folglich kein „Gerechtigkeitsrecht“.51 Dieser Ansatz bezog explizit gegen Kelsens Positivismus Position, der ja gerade die Vermischung von Recht und Gerechtigkeit als irreführend abgelehnt hatte. Damit sollte nach Auffassung dieser Gruppe nun Schluss sein. Stattdessen sahen sie Deutschland als federführend im Kampf um das wahre und gerechte Völkerrecht an, wobei sie diesen Kampf zur Weltmission erklärten. Hier setzte die Herzsche Kritik an: Wieder einmal, schrieb Herz, werde so das Naturrecht zur „Waffe im Kampf gegen einen bestehenden Rechtszustand.“52 Die konkrete Ausgestaltung des Naturrechts bleibe in der nationalsozialistischen Völkerrechtslehre zudem äußerst vage und unbestimmt. Man ziehe sich auf Begriffe wie „Gerechtigkeit“, „Sittlichkeit“, „Idee des Rechts“ zurück, oder proklamiere die „Gleichheit“ aller Staaten als das Gerechtigkeitsprinzip der Gemeinschaftsordnung, ohne all diese Begriffe jedoch mit wirklichen Inhalten zu füllen.53 Als weiteren Einwand brachte Herz vor, dass diese Gruppe sich in der Auseinandersetzung paradoxerweise allein auf den Vertrag von Versailles beschränke und als Grundlage des gesamten Völkerrechts ansehe, neben dem alles bisher geltende positive Recht von belangloser Qualität sei. Um die theoretischen Probleme, die die Völkerrechtler bis dato beschäftigt hätten, kümmere sich die nationalsozialistische Völkerrechtslehre in keiner Weise.54 Das größte Problem sah Herz darin, dass Vertreter dieses Ansatzes immer wieder die politische Natur des Rechts betonten. Dem Recht solle demnach nur dann eine entscheidende Rolle in der konkreten Ausgestaltung internationaler Politik zukommen, wenn es sich mit den Interessen der Staaten im Einklang befinde. Dies, so Herz, führe zu einer „Aushöhlung des Völkerrechts, zur Schaffung völliger Willkürfreiheit der Staaten“55. Seine Schlussfolgerung fiel vernichtend aus. Das Bestreben dieser Gruppe gehe nicht dahin, „die auf Naturrecht und Staatengrundrechte gegründete Gemeinschaft in ihrem konkreten Bestande auszubauen und zu sichern, sondern geradezu dahin, ihr die notwendige Basis wieder zu entziehen.“56 Sei es das Ziel der Gruppe gewesen, das Völkerrecht neu zu begründen, so habe sie gründlich versagt. Sie habe einzig vermocht, das bisher geltende 51 52 53 54 55 56

Alle Zitate aus ebd., S. 75. Ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 79 f. Vgl. ebd., S. 89. Ebd., S. 107. Ebd., S. 108.

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Recht zu verwässern und sich auf ein Naturrecht zu berufen, dessen Inhalt unbestimmt und vage bleibe. Anders als die erste Gruppe, die ihre Argumentation weitestgehend jenseits des Rassegedankens aufgebaut hatte, griff die zweite Gruppe auf diesen Kerngedanken der nationalsozialistischen Weltanschauung zurück.57 Nicht Staaten standen im Mittelpunkt der Argumentation, sondern rassisch bestimmte Volksgruppen. Vertreter dieses zweiten Ansatzes gingen davon aus, dass es kein vom Volk losgelöstes, abstrakt-formales, überall gültiges Recht geben könne. Auch das Recht sei in der Rasse verwurzelt, wobei „Recht“ durch seinen Nutzen für das Volk definiert werde. Folgende Gedankenkette illustriert diese Argumentation: Recht gründe im Rechtsbewusstsein des Volkes, der Führer verkörpere dieses Bewusstsein durch seine Person, Akte des Führers seien also „Recht“ im eigentlichen Sinne, ergo könne allein der Führerstaat auch ein Rechtsstaat im eigentlichen, höheren Sinne sein.58 Soweit die nationalsozialistische Logik. Herz konterte an dieser Stelle, die Grundannahme einer einheitlichen Rechtsüberzeugung des Volkes sei problematisch, und die Erkennbarkeit und Äußerungsform dieser Rechtsüberzeugung seien fragwürdig. Ganz und gar unklar sei darüber hinaus, „inwieweit Volksüberzeugung und ‚Nützlichkeit für das Volk‘ überhaupt identisch sind, und wer gegebenenfalls über das, ‚was dem Volke nützt‘ entscheidet.“59 Insgesamt sah Herz auch den Versuch der zweiten Gruppe, ein genuin neues Völkerrecht zu begründen, als gescheitert an. Auch dieser Versuch diene, so Herz, alleine dazu, „das Völkerrecht innerlich auszuhöhlen und so seine Existenz überhaupt als fraglich erscheinen zu lassen.“60 Kein Vertreter habe es vermocht, plausibel zu begründen, wie ein allgemein gültiges Völkerrecht überhaupt existieren könne, wenn alles Recht gemäß den unterschiedlichen „Qualitäten“ der Rassen variiere. Damit hatte Herz die Argumentation der ersten und zweiten Gruppe diskreditiert. Nachdem er sich mit den Neubegründungsversuchen nationalsozialistischen Völkerrechts auseinandergesetzt hatte, schaute er sich im letzten Drittel des Buches die außenpolitischen Vorstellungen des Dritten Reiches genauer an. Er beobachtete, wie Hitler vor der Machtübernahme immer wieder betont hatte, dass Außenpolitik in erster Linie völkische Rassenpolitik sei, und damit ein Kampf um das Recht des Stärkeren. In diesem Sinne hatte er den Kampf des deutschen Volkes um „Lebensraum“ zum Grundsatz 57

Vgl. ebd., S. 108 ff. Vgl. zur Illustration der nationalsozialistischen Lehre auch Schmoekel, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung, S. 449 ff. 59 Bristler, S. 28. 60 Ebd., S. 110. 58

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nationalsozialistischer Außenpolitik erhoben. Außenpolitik sollte zugleich „Bodenpolitik der Zukunft“61 sein. Nach der Machtübernahme hingegen hatte Hitler immer wieder auf den Gleichberechtigungsanspruch Deutschlands verwiesen und den deutschen Friedenswillen proklamiert, sobald dieser Gleichberechtigung durch die Wiederherstellung des alten Status quo ante bellum Genüge getan wurde. An dieser Stelle sah Herz jedoch einen Widerspruch zwischen der nationalsozialistischen Völkerrechtsdoktrin und den angeblichen Zielen der Außenpolitik. Er argumentierte, mit dem Verlangen nach einer neuen, gerechten Völkerrechtsordnung gemäß der nationalsozialistischen Rassentheorie habe auch das außenpolitische Verlangen nach Revision zwangsläufig weiter Bestand, und so seien Tür und Tor für einen baldigen Krieg geöffnet.62 Hätten die Nationalsozialisten erst einmal die Revision des Versailler Vertrages erreicht, würden sie die durch ihre Völkerrechtsdoktrin mühsam errichtete Fassade fallen lassen und ihr wahres Gesicht zeigen und die „‚rein‘ rassengesetzlichen Grundsätze des ‚ewigen Kampfes‘ . . . zu einem geschlossenen ‚System‘“63 ausweiten, so Herz’ düstere Zukunftsprognose. Wie recht Herz mit seinen Befürchtungen hatte, sollte die Geschichte schon bald darauf zeigen. Nach dem Anschluss Österreichs und der Eroberung des Sudentenlandes war keine Rede mehr von einer saturierten Außenpolitik des Reiches, sondern Hitler begann mit seinem Eroberungsfeldzug quer durch Europa. 1940 konnte Herz in der Rückschau nur noch darauf verweisen, wie absehbar dieser Wandel in der außenpolitischen Strategie der Nazis doch gewesen sei: „A change in National Socialist ideology of international law might thus have been expected to come sooner or later, and, in fact, did arrive.“64 Doch da war es bereits zu spät und der Zweite Weltkrieg war in vollem Gange. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der fast dreijährige Aufenthalt in der Schweiz für Herz vor allem einen grundlegenden Schwerpunktwandel mit sich brachte. Obwohl er sich auch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten schon für Politik interessiert hatte, wie sich in der Wahl seiner juristischen Schwerpunkte zeigte, traten politische Fragen nun in den Mittelpunkt. Zwar war seine Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus eine 61

So formulierte es Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1933, S. 742, zitiert nach Bristler, S. 34. 62 Bristler, S. 41 ff. 63 Ebd. 64 Dies schrieb Herz in einem Artikel, den er zusammen mit Ossip Flechtheim, der sich allerdings hinter einem Pseudonym verbergen musste, veröffentlichte. Vgl. Joseph Florin/John H. Herz, Bolshevist and National Socialist Doctrines of International Law. A Case Study of the Function of Social Science in the Totalitarian Dictatorships, in: Social Research, Vol. VII, No. 1, February 1940, S. 1–31, S. 15.

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primär juristische Publikation, aber das HEI bot Herz darüber hinaus die Chance zu einer systematischen Erweiterung seines Horizonts über die Rechtswissenschaft hinaus. Dies sollte ihm bei seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten noch von großem Nutzen sein. Die Genfer Jahre waren für Herz eine Zeit des Lernens und des Konzipierens, in der er sich von der „Reinen Rechtslehre“ abwandte, seinen Glauben an den Völkerbund und die Regulierungskraft des Völkerrechts verlor und eine realistische Wende vollzog. Im Rückblick erscheint er als desillusionierter „Kelsianer“, der sein Denken eher unfreiwillig den Ereignissen anpasste, die ihn dazu zwangen, sich vom Recht ab- und den Gesetzen der Macht zuzuwenden. Dennoch blieb er stets ein treuer Verfechter jener liberalen Ideen, die auch Kelsen vertreten hatte. Die Wurzeln seines sich aus diesem Spannungsverhältnis entwickelnden Realliberalismus reichen bis in die Genfer Jahre zurück. Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, dass in der Forschung die Auffassung, vertreten wird,65 Herz’ Studien der Internationalen Beziehungen in Genf seien vornehmlich durch die Ideen des Leiters des Instituts William E. Rappard geprägt worden: „[M]an darf annehmen, dass Rappards ökonomisch orientierte Analysen der internationalen Beziehungen und des Völkerbunds den Geist des Genfer Instituts wesentlich mitgeprägt und, mehr indirekt wohl, auch auf John Herz gewirkt haben. Rappards kritische Bewertung der Arbeit des Völkerbundes, die sich dann in der Kriegszeit rückblickend noch verstärkt hat, könnte so auch die spätere Herzsche Theorie des politischen Realismus, vielleicht mehr unbewusst, mit beeinflusst haben.“66

So sieht Kurt Düwell in Herz und Morgenthaus ersten Arbeiten „wenn auch auf unterschiedliche Weise, eine konsequente Fortführung der Analyseergebnisse, die William E. Rappard schon 1940 ebenfalls in den USA vorgelegt hatte.“67 Herz selbst widersprach dieser Annahme entschieden und wies jede Beeinflussung seines Denkens durch Rappard von sich.68 Im 65

In diesem Sinne äußert sich Düwell, S. 241 ff. Ebd., S. 241. Auf S. 243 f. des zitierten Aufsatzes wiederholt Düwell seine These noch einmal und sieht Rappards Einfluss auch in Herz’ Autobiographie angedeutet. 67 Ebd., S. 244. Düwell bezieht sich auf William E. Rappard, The Quest for Peace since the World War, Cambridge, Mass. 1940. 68 Dies geht aus einem Brief an J. P. deutlich hervor. Herz schrieb, dass er Rappard weder in dessen Vorlesungen gehört, noch je etwas von ihm gelesen habe. Über Düwells These äußerte er sich: „Wer ihm das eingeredet hat oder wie er darauf gekommen ist, weiß ich nicht. Auch nicht, welche Ideen ich übernommen hätte. Ich bin R. immer dankbar dafür gewesen, wie er sich für refugees wie mich damals eingesetzt hat, mit Stipendien geholfen, etc. Aber von irgendeinem Einfluss auf meine Ideen kann keine Rede sein.“ Herz im Brief an Jana Puglierin, 14. Juli 2005, Brief im Besitz von J. P. 66

II. Der Weg ins Exil: Genf (1935–1938)

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Herzschen Werk findet Rappard jedenfalls keine Erwähnung. Allenfalls liegt es nahe, dass Herz durch den Einfluss Rappards und anderer Genfer Dozenten verstärkt auf dieses Themenfeld aufmerksam wurde. Es gibt jedoch viel mehr Anzeichen dafür, dass nicht Rappard, sondern Ferrero durch seine Theorie der grande peur entscheidende Bausteine für Herz’ spätere Theorie des Macht- und „Sicherheitsdilemmas“ lieferte:69 „Daraus habe ich irgendwie damals schon die Idee des Sicherheitsdilemmas entwickelt“, sagte Herz im Interview.70 Der italienische Historiker, einer der populärsten Wissenschaftler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hatte eine politische Philosophie entwickelt, die maßgeblich auf Angst als Antriebsfaktor menschlichen Handelns beruhte.71 Angst war für Ferrero, ähnlich wie für Hobbes, nicht nur ein individuelles Gefühl, sondern ein soziales Phänomen mit verheerenden Auswirkungen. Er war der Meinung, Angst bringe immer weitere Angst hervor und sei daher ursächlich für einen unendlichen Teufelskreis aus Angst und Gewalt als ihrer Gegenreaktion: „Fear is the soul of the living universe. The universe cannot enter into the sphere of life without becoming afraid . . . The highest living creature is man, who is also the most fearful and the most feared creature. He fears and is feared more than any other because he is the only creature with the idea, the obsession, and the terror of the great dark gulf of death into which the torrent of life has been pouring ever since the beginning of time; and because he is the only one that has the ability to invent and manufacture instruments to destroy life.“72

Genau an diesem Punkt knüpfte Herz später an und erhob „Angst“ neben „Unsicherheit“ zu einem grundlegenden Faktor seines Sicherheitsdilemmas.73

69 In diesem Sinne äußerte sich Herz selbst im Interview mit J. P. am 22. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 4. In Political Realism and Political Idealism bezeichnete Herz Ferreros Buch Pouvoir (der englische Titel lautete The Principles of Power), in dem er seine politische Philosophie zusammenfasste, als „brilliant“, vgl. Political Realism and Political Idealism, S. 267, Anmerkung 6. 70 Herz im Interview mit J. P. am 22. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 4. 71 Unübersehbar bewegte sich Ferrero damit in unmittelbarer intellektueller Nähe zu Hobbes, mit dem sein Ansatz dann auch immer wieder verglichen wurde. Vgl. die Besprechung des Buches durch Alfred Cobban, ohne Titel, in: International Affairs, Vol. 22, No. 4 (October 1946), S. 549–550. 72 Guglielmo Ferrero, The Principles of Power. The Great Political Crises of History, translated by Theodore R. Jaeckel, New York 1941, S. 30. 73 Vgl. auch Booth und Wheeler, The Security Dilemma, S. 39, wo beide Autoren Herz’ Ansatz eine „original emphasis on fear“ zuschreiben. Vgl. auch ebd. S. 21 ff.

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D. Wandern zwischen den Welten (1931–1952)

III. „Becoming an American“74 (1938–1943) Im folgenden Teil beschäftigt sich die Arbeit insbesondere mit der Frage, welches Verhältnis Herz zu seiner neuen Heimat entwickelte. Sie analysiert die Auseinandersetzung eines Sozialwissenschaftlers deutscher Prägung mit der geistig-kulturellen Tradition der USA und arbeitet heraus, welchen Einfluss sein neues Umfeld auf die Entwicklung seiner Theorien nahm und wie er selbst dieses Umfeld prägte. 1. Ankunft in der neuen Heimat Als Herz 1935 den Weg nach Genf antrat, hatte er fest daran geglaubt, dass ihm das Institut nur so lange als Zufluchtsstätte dienen müsste, bis sich der nationalsozialistische Alptraum in Schall und Rauch aufgelöst haben würde. Da in den Jahren zwischen 1935 und 1938 jedoch immer deutlicher wurde, dass der Weg zurück nach Deutschland bis auf Weiteres versperrt bleiben würde, beobachtete Herz die Geschehnisse in seiner Heimat mit wachsender Sorge, zumal sich seine Eltern noch immer im Rheinland aufhielten.75 1938 entschloss er sich, die alte Welt zu verlassen und in die USA zu emigrieren, die damals das einzige Land waren, „in dem junge jüdische oder auch politische Emigranten noch eine Lebensmöglichkeit sahen“76. Am 12. August schiffte er sich zusammen mit seinem Bruder Werner in Le Havre auf die SS Washington nach New York ein. Der Abschied von seinen Eltern, seiner Heimat und von allem ihm Vertrauten fiel ihm nicht leicht. Er fühlte sich seines Zuhauses und seiner Wurzeln beraubt. In seiner Autobiographie schrieb er: „Es war der Abschied von einem Kontinent, der zum Sterben verurteilt schien. Und was einen erwartete, die neue Welt, war fremd, erschien mir damals noch immer im Licht des Vorurteils, das in Amerika das Rom einer ‚bloßen‘ Zivilisation gegenüber dem Griechenland der europäischen Kultur sah.“77 Amerika, das 74

Herz, An Internationalist’s Journey Through the Century, S. 247. Obwohl auch Herz’ Vater direkt nach der Machtübernahme zwangspensioniert wurde, gingen Herz’ Eltern zunächst davon aus, dass nur ihre Kinder aufgrund der fehlenden Berufs- und Zukunftschancen Deutschland verlassen mussten und sie ihren Lebensabend in Ruhe in Deutschland verbringen konnten. Nach dem Schock der „Reichspogromnacht“ emigrierten sie noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Frühjahr 1939 zusammen mit Herz’ Schwester Lore ebenfalls in die USA und ließen sich später in Louisville, Kentucky nieder. Vgl. Katrin Krehan, Die Reintegration von Juristen jüdischer Herkunft an den Berliner Universitäten nach 1945, Berlin 2007, S. 280. 76 Herz im Interview mit Luthardt am 17. Januar 1986. 77 Ebd. 75

III. „Becoming an American“ (1938–1943)

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war für Herz wie für die meisten Emigranten ein weitab liegender Kontinent geblieben, in dem die Menschen einzig um ihren Profit und ihr persönliches Fortkommen besorgt zu sein schienen.78 Herz’ Gefühlswelt war dominiert von „Pessimismus, Wehmut, Resignation“79. Vom Pioniergeist und Optimismus so vieler früherer Auswanderer fehlte bei ihm jede Spur. Er fürchtete, in ein Land zu kommen, von dem er nichts wusste, in dem er sich nicht auskannte, wo er es „vielleicht zu nichts Rechtem bringen konnte“.80 Die Fahrt über den Atlantik erschien ihm als Abschied für immer: „I thought I would not see my parents again.“81 Seine Verlobte Anne Klein, die gemeinsam mit ihm an Bord gegangen war, hatte das Schiff bereits in Southampton verlassen, um eine Stelle als Dienstmädchen in Großbritannien anzutreten – die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihr lag ebenfalls in weiter Ferne. Sechs Tage nachdem die SS Washington in See gestochen war, landete sie am 18. August 1938 im Hafen von New York. Zum Zeitpunkt ihrer Ankunft litten die Vereinigten Staaten noch immer an den Folgen der „Großen Depression“. Es herrschte verheerende Arbeitslosigkeit, besonders unter den jüdischen Emigranten, die nun in Scharen ins Land strömten. Im Gegensatz zu Thomas Mann und Albert Einstein wurden die „Durchschnittsemigranten“ in den USA zunächst nicht mit offenen Armen empfangen und sahen sich vielfach enormen Schwierigkeiten ausgesetzt.82 Außergewöhnlich viele 78 Auch Morgenthau teilte Herz’ Einschätzung, wie sein Biograph Christoph Frei notierte: „Aufgewachsen in der Verehrung für Theorie und Geschichte, weltanschaulich eingestimmt durch die Zeitdiagnose Friedrich Nietzsches, vermochte Morgenthau nichts anzufangen mit dem vermeintlich oberflächlichen Pragmatismus der Amerikaner, mit Begriffen wie ‚cash-value‘, ‚profit‘ oder ‚result‘, wie sie für James so typisch sind.“ Frei, S. 189 f. 79 Herz, Vom Überleben, S. 114. 80 So Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, USA, Kassette 1. 81 Interview von John Spalek mit John H. Herz am 3. Oktober 1980 in Scasdale, USA. 82 In vielen Darstellungen ist das Exil romantisiert bzw. zur Idylle stilisiert worden, man denke nur an das Bild Lion Feuchtwangers, der in Pacific Palisades mit Thomas Mann den Tee unter Palmen nimmt. Mit einer solchen Idylle hatte die Wirklichkeit meist wenig zu tun. Vgl. Jarrell C. Jackman, German Émigrés in Southern California, in: Jarrell C. Jackman/Carla M. Borden (Hrsg.), The Muses Flee Hitler. Cultural Transfer and Adaption 1930–1945, Washington 1983, S. 95–110. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die Integration der HitlerFlüchtlinge in die amerikanische Gesellschaft nach anfänglichen Schwierigkeiten erstaunlich reibungslos und erfolgreich verlief. Dieser Punkt wird besonders deutlich bei: H. Stuart Hughes, Between Commitment and Disillusion. The Obstructed Path & The Sea Change 1930–1965, Middletown, Conn. 1987. Auf das zweite der hier von Hughes in einem Sammelband abgedruckten Bücher, The Sea Change, sei nachdrücklich verwiesen, da Herz sich in Hughes’ Beschreibungen gut wiederfand. Im Brief an Hughes, der im OSS sein Vorgesetzter gewesen war, schrieb er: „In reading

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der Neuankömmlinge waren Akademiker und Künstler, waren Teil der geistigen und kulturellen Elite Europas. Die Eingewöhnung in eine bis dato unbekannte Kultur und Sprache forderte von ihnen große Tribute – Änderungen im täglichen Benehmen, in der Haltung und den Wertvorstellungen.83 Selbst die sehr gut ausgebildeten europäischen Akademiker wie Herz sprachen oftmals besser Latein und Altgriechisch als Englisch. Auch die USA waren nicht völlig frei von Antisemitismus. Manch einer empfand die jüdischen Emigranten als Außenseiter, die gerade während der großen Depression zu Sündenböcken für die schlechte wirtschaftliche Lage gemacht wurden. Das Bild der New Yorker Juden, die wie die Rockefellers oder die Rothschilds in Saus und Braus lebten und sich auf Kosten der kleinen Leute bereicherten, bediente ein gängiges Klischee. Gewaltsame Übergriffe kamen nur äußerst vereinzelt vor, doch die Vorurteile gegen Juden waren auch in der amerikanischen Gesellschaft fest verwurzelt.84 In New York angekommen fühlte sich auch Herz zunächst wie ein Gestrandeter. Sein Bruder Werner hatte die Stadt unmittelbar nach ihrer gemeinsamen Ankunft verlassen, um dem dritten Herz-Bruder Gerhard, der schon zwei Jahre zuvor in die USA übergesiedelt war, nach Kentucky zu folgen, wo sich später auch Herz’ Eltern niederließen. Herz blieb derweil alleine zurück. Seine Weltuntergangsstimmung drohte übermächtig zu werden. „Der uralte Furcht-Traum vom Einsam-durch-die-Stadt-Ziehen schien in Erfüllung zu gehen. Nie hatte ich mich so fremd und verlassen gefühlt“85, heißt es in seiner Autobiographie. Auf der Suche nach einer Beschäftigung schrieb er über einhundert Bewerbungsschreiben an eine Vielzahl von Colleges und Universitäten im ganzen Land – doch seine Mühen waren vergeblich.86 Zwar genoss das deutsche Erziehungs- und Universitätssystem traditionell ein hohes Ansehen in den USA, aber der amerikanische Isolationismus, der nach dem Ersten Weltkrieg die öffentliche Meinung bestimmte, hatte sich auch im akademithe book I often had the feeling of tua res agitur.“ Vgl. Herz an Hughes, 6. Juni 1975, Box 2, General Correspondence 75–77 [Ordner], Herz Papers (Hervorhebung im Original). 83 Sehr anschaulich beschreibt Donald Peterson Kent die zahlreichen Missverständnisse, die aus dem Zusammenprall zweier unterschiedlicher Kulturen entstanden. Vgl. Donald Peterson Kent, The Refugee Intellectual. The Americanization of the Immigrants 1933–1941, New York 1953, S. 168 f. 84 Zum Antisemitismus in den USA vgl. Arthur Hertzberg, Shalom Amerika! Die Geschichte der Juden in der Neuen Welt, Frankfurt a. M. 1992, insb. S. 199–222. 85 Herz, Vom Überleben, S. 119. 86 Zahllose Bewerbungsbriefe aus dieser Zeit finden sich in seinem Nachlass in Albany. Vgl. „Applications for positions 1939 ff. and correspondence“ [Ordner], Box 1, Herz Papers.

III. „Becoming an American“ (1938–1943)

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schen Umfeld niedergeschlagen. Verstärkt wurde die Problematik durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise, die auch vor den Toren der amerikanischen Colleges und Universitäten nicht Halt gemacht hatte. Im Zuge der Depression waren sie gezwungen, Stellen einzusparen, so dass mehr als 2000 amerikanische Akademiker ihre Anstellungen verloren hatten.87 Die USA wurden in den 1930er Jahren wahrlich überflutet von Wissenschaftlern aus Deutschland, Spanien, Österreich und Italien, die auf der Flucht vor Faschismus und Nationalsozialismus in den Vereinigten Staaten Zuflucht suchten und an die amerikanischen Universitäten und Forschungseinrichtungen strömten. Dieser Zustrom wurde gerade unter jüngeren amerikanischen Dozenten als Bedrohung der eigenen Aufstiegschancen gesehen.88 Eine wissenschaftliche Anstellung zu erhalten, besonders da Herz nicht schon in Europa Professor gewesen war, gestaltete sich daher für ihn zunächst als unmöglich. Zwar hatte er in Deutschland den Doktor der Rechtswissenschaften erworben, doch sein Abschluss war in den USA gänzlich wertlos. Ohne das amerikanische Examen in Händen und nachgewiesene Kenntnisse im amerikanischen common law konnte er in den USA keinerlei juristische Tätigkeit ausüben. Die deutsche Rechtswissenschaft war für Amerikaner „unverständlich, unnötig, unverwertbar, unwillkommen, ungebildet und ungelehrig“89 – wie der Rechtswissenschaftler Ernst C. Stiefel mit spitzer Feder schrieb. Man kann sich unschwer das Ausmaß der Frustration vorstellen, die Herz in dieser Zeit erfüllt haben mögen. In einer Rundfunkreportage über jüdische Emigranten, in deren Zusammenhang auch Herz interviewt wurde, hieß es, dass die deutsch-jüdischen Juristen doppelt und dreifach benachteiligt waren, „nicht nur als Juden und als politische Exilanten, sondern darüber hinaus auch als Vertreter einer Profession, deren Kompetenzen außerhalb des kontinentaleuropäischen Rechtssystems praktisch wie theoretisch nutzlos geworden waren“90. Nachdem ihm die juristische Laufbahn in den USA verschlossen blieb, fehlte Herz zunächst jede Perspektive auf eine baldige Anstellung. Dazu kam zunächst noch die Sorge um die in Deutschland zurückgebliebenen Eltern, insbesondere nachdem diese in der Reichspogromnacht nur mit Mühe noch einmal unbescha87

Vgl. Claus-Dieter Krohn, Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt und New York 1987, S. 29; Kent, S. 118. 88 Vgl. Lewis A. Coser, Refugee Scholars in America. Their Impact and Their Experiences, New Haven und London 1984, S. 7. 89 Ernst C. Stiefel, Die deutsche juristische Emigration in den USA, in: Walter Jagenburg/Georg Maier-Reimer/Thomas Verhoeven (Hrsg.), Festschrift für Walter Oppenhoff zum 80. Geburtstag, München 1985, S. 433–449, S. 436. 90 Vgl. Alfons Söllner, „Dem deutschend Selbstverständnis widersprechend – Biographien und Autobiographien jüdischer Emigranten“, gesendet im Westdeutschen Rundfunk am 09.05.1985, 22.30–23.00 Uhr, WDR 3.

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det davongekommen waren.91 Von Sorgen, Einsamkeit und Perspektivlosigkeit geplagt, war für Herz der „Terror-Zustand“92, wie er ihn nannte, vollkommen. 2. Im intellektuellen Paradies von Princeton Durch einen glücklichen Zufall und die Vermittlung seines Bruders Gerhard kam Herz in Kontakt mit Abraham Flexner, dem Begründer und damaligen Direktor des „Institute for Advanced Study“ in Princeton. Obwohl das Institut – anders als die „University in Exile“ oder das Frankfurter Institut für Sozialforschung – keine reine Emigranteninstitution war,93 wurde es zum Sammelbecken einer kleinen Elite emigrierter jüdischer Wissenschaftler aus Europa, da es sich im Gegensatz zu anderen amerikanischen Universitäten und Colleges bei der Anstellung von Juden nicht an inoffizielle Obergrenzen zu halten brauchte.94 Herz profitierte davon und wurde für drei Jahre Forschungsassistent von Edward M. Earle, Historiker und damit einziger Sozialwissenschaftler am Institut. Neben dieser Tätigkeit arbeitet er auch an der eigentlichen Universität von Princeton für John B. Whitton, einem Professor für Völkerrecht.95 Dadurch war er in ausnehmendem Maße privilegiert: „[B]ecause it meant that for almost three years I had a chance as very few others had to gradually adjust to American Academic life.“96 Hätte er sich direkt nach seiner Ankunft nach einer Lehrtätigkeit umsehen müssen, wäre er wahrscheinlich 91

Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 129. Ihr Haus wurde allerdings von den Nationalsozialisten vollkommen verwüstet. Vgl. auch Herz im Interview mit Genger am 14. März 1997. 92 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 119. 93 Die „University in Exile“ wurde der „New School of Social Research“ als „graduate faculty“ angegliedert. Das von Max Horkheimer und Theodor Adorno gegründete Frankfurter Institut für Sozialforschung emigrierte als Gesamtinstitution und wurde Teil der Columbia University in New York. Die europäischen Wissenschaftler blieben hier weitgehend unter sich und mussten sich, anders als ihre an amerikanischen Universitäten und Colleges gestrandeten Kollegen, nicht – oder wesentlich weniger – an die amerikanischen Verhältnisse anpassen. Beide Institute unterschieden sich aufgrund ihrer Gründungsgeschichte, personellen Zusammensetzung und intellektuellen Tradition erheblich von amerikanischen Bildungseinrichtungen. 94 Vgl. Joachim Radkau, Die deutsche Emigration in den USA. Ihr Einfluss auf die amerikanische Europapolitik 1933–1945, Düsseldorf 1971, S. 34. 95 Diese Tätigkeit bleibt in den autobiographischen Schilderungen von Herz unerwähnt. Von der Tätigkeit zeugt aber der Brief an seine Familie vom 20. Dezember 1938, AR 5625, Box 2 (AR 5753), Correspondence, Hans Herz WWI-1940 [Ordner 1], Herz-Aschaffenburg Family Collection. 96 Herz im Interview mit Spalek am 3. Oktober 1980.

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niemals fündig geworden, wie er 1975 in einem Brief an das Institut schrieb.97 Andere Emigranten, darunter auch Hans J. Morgenthau, hatten in den Jahren nach ihrer Ankunft gar keine Zeit, sich mit den USA intellektuell auseinanderzusetzen, da sie vornehmlich damit beschäftigt waren, ihr Auskommen zu sichern und die Schwierigkeiten des amerikanischen Alltags zu meistern.98 Herz indes konnte von seinem monatlichen Stipendium ohne große Entbehrungen leben.99 Er wähnte sich in Princeton im intellektuellen Paradies. Im Brief an seine Eltern schilderte Herz diese Idylle: „Dass ich mich trotz sehr vieler Arbeit höchst wohl fühle, könnt Ihr Euch denken – es ist schließlich ein Wandel von manchmal recht aussichtslos erscheinendem Herumtappen und Herumsuchen und regelmäßiger Arbeit auf meinem Gebiete, von der Rastlosigkeit und Unruhe der Weltstadt zum friedlicheren und idyllischeren Leben in der kleinen Universitätsstadt und vor allem das Gefühl, einen ersten Schritt in der erhofften Richtung getan zu haben, in der Zuversicht (die, wie ich ja jetzt gestehen kann, ich in New York manchmal schon nahe daran war, aufzugeben), dass es jetzt auch weitergehen wird.“100

Sein neues Wirkungsfeld fand er in der damals noch jungen Disziplin der Politikwissenschaft. Ihm kam dabei zugute, dass er bereits am HEI in Genf in diesem Bereich geforscht und auch ein politikwissenschaftliches Diplom erworben hatte. Dies unterschied ihn von vielen anderen jüdischen Emigranten, denn die Universitäten der Weimarer Republik kannten keine selbständige Disziplin der Politikwissenschaft.101 Dennoch bot gerade diese junge Disziplin, die erst seit den 1920er Jahren zunehmend Einzug in die amerikanischen Hochschulen gehalten hatte, vielen jüdischen Staats- und Völkerrechtlern, aber auch Soziologen und Ökonomen, akademisches Asyl.102 Die große Popularität der Disziplin unter deutsch-jüdischen Wissenschaftlern lag vor allem darin begründet, dass sie ein noch nicht so streng reglementiertes Wissensgebiet darstellte, in das die Exilanten erfolg97

So äußerte sich Herz in einem Brief an das Review Committee des Instituts, die 1975 einen Fragebogen an alle ehemaligen Mitglieder versendeten, am 1. Dezember 1975, Box 2, General Correspondence 1975–1977 [Ordner], Herz Papers. 98 Zum Beispiel Morgenthaus vgl. Frei, S. 189 ff. 99 Dies geht im Brief an das Review Committee vom 1. Dezember 1975 hervor. 100 Herz im Brief an seine Eltern vom 20. Dezember 1938. 101 Dies bedeutet allerdings nicht, dass es keine Berührungspunkte zwischen Wissenschaft und Politik gab. Insbesondere die Staatsrechtslehre beschäftigte sich vielfach mit politikwissenschaftlichen Fragestellungen. Darüber hinaus gab es die Berliner Hochschule für Politik, die jedoch in der Weimarer Republik keine universitäre Anerkennung erlangte und ein politisches Studium Generale für das ganze Volk ermöglichen sollte. Vgl. Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 198–228. 102 Vgl. insbesondere die Studie von Alfons Söllner, Deutsche Politikwissenschaft in der Emigration. Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte, Opladen 1996.

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reich quereinsteigen konnten. Es ist auffällig, wie viele der jüdischen Exilanten zu renommierten Politikwissenschaftlern wurden,103 deren Werke einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der Disziplin hatten104 – zunächst in den USA selbst, aber nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auch in Deutschland.105 In einem Brief anlässlich des 75. Geburtstags des Instituts aus dem Jahre 2005 wird deutlich, wie sehr die wenigen Jahre in Princeton das Herzsche Denken augenscheinlich geprägt haben. Herz schrieb: „My career would have been a more difficult one, yes, my life, would have been a different one, had I not had the great good luck to spend my first years in this than free and energizing country at the Institute for Advanced Study.“106 Sein ganzes Leben lang bewahrte er ein Gefühl der Verbundenheit und der Dankbarkeit gegenüber dieser Institution, die ihm den Einstieg in den amerikanischen Wissenschaftsbetrieb sehr erleichtert hatte. Neben dem unschätzbaren Vorteil, sich auf einem Gebiet profilieren zu können, das anders als die Rechtswissenschaft eine dauerhafte akademische Perspektive in den USA beinhaltete, konnte Herz in Princeton die amerikanischen Lehrmethoden aus nächster Nähe kennenlernen und sich ohne eigene Lehrverpflichtungen ganz der Forschung widmen. Die Arbeitsbedingungen am Institut entsprachen „der Vorstellung eines wissenschaftlichen Idylls“107, das einem jungen hungrigen Intellektuellen wie Herz nahezu unzählige Inspirationsund Stimulationsmöglichkeiten bot. In einem Brief an das Institut rühmte er später dessen Verdienste: 103 Ihren großen Einfluss auf die Internationalen Beziehungen erkennt auch Martin Griffiths, Fifty Key Thinkers in International Relations, London 1999, S. 17. 104 Der Historiker Hajo Holborn, selbst ein Emigrant, erklärt die starke Wirkung der deutschen Immigration innerhalb der amerikanischen Academia vor allem dadurch, dass sich Amerika zu diesem Zeitpunkt in einer Krise befand: „Wäre die deutsche Immigration zehn Jahre früher erfolgt, so wäre ihr intellektueller Ertrag wahrscheinlich sehr gering gewesen, dann hätten sich Neuankommende an das Leben eines prosperierenden und luxuriösen Landes gewöhnen müssen, ebenso wie an die verhältnismäßig geringe Stellung, die intellektuelle Dinge zu der Zeit einnahmen. Aber die Wirtschaftskrise nach 1931 hatte das amerikanische Selbstbewusstsein erschüttert und besonders in der jüngeren Generation eine gewisse Bereitschaft ausgelöst, neue Ideen zu empfangen und über andere Dinge als die gewohnten amerikanischen zu hören. Infolgedessen kamen wir gerade in einem psychologisch und geistesgeschichtlich ungewöhnlich günstigen Moment.“ Vgl. Hajo Holborn im Interview mit einer Reporterin von Radio Bremen, in: Auszug des Geistes, Bericht über eine Sendereihe, Bremer Beiträge, eine Buchreihe von Radio Bremen, Bd. IV, Bremen 1962, S. 91. 105 Vgl. Düwell, S. 237–247. 106 John H. Herz im Brief an Peter Goddard vom 27. Februar 2005, Brief im Besitz von J. P. 107 Radkau, S. 34.

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„As conceived by its ‚founding fathers‘ (and in particular, by Abraham Flexner), it was thought of as a haven for serious scholars, an oasis of leisurely and quiet work and mutual stimulation, free from the often so distracting demands not only of students and teaching but of administrative and similar tasks.“108

Besonders Edward M. Earle hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die jungen europäischen Emigranten in einer Gruppe zusammenzubringen und sie an die amerikanische Wissenschaftskultur und den „American Way of Life“ heranzuführen.109 Dies erwies sich für Herz als großer Glücksfall. Rückblickend schrieb er über Earle: „He made it a point to introduce us to the most important American scholars and literary writers. This was of inestimable value to people like me.“110 Die Tatsache, dass Earle kein Politikwissenschaftler im eigentlichen Sinne, sondern Historiker war, empfand Herz dabei als Vorteil: „The fact that, at that time, there was no political (or even social) scientist in the narrower sense on the permanent staff was no disadvantage at all; on the contrary, working with Earle and other historians gave my studies an additional and, I believe, vitally important dimension.“111

Sein ganzes Leben lang sollte Herz der historischen Methode verpflichtet bleiben. Seinen Forschungsansatz bezeichnete er in seiner Autobiographie später einmal als „geschichtsphilosophisch“112. Damit vertrat er ein ähnlich traditionelles Wissenschaftsverständnis wie viele der emigrierten Wissenschaftler aus Europa, die sich in Amerika angekommen angesichts des dort vorherrschenden Szientismus und Behavioralismus in hohem Maße irritiert zeigten.113 Jeden Nachmittag veranstaltete das Institut eine Teestunde nach englischer Fasson, wo sich die Gelegenheit bot, weltberühmte Wissenschaftler in informellem Rahmen zu treffen. Neben Albert Einstein arbeiteten und forschten dort in dieser Zeit der Mathematiker Hermann Weyl und der Kunsthistoriker Erwin Panofsky – um nur einige der großen Namen zu nennen. Auch Thomas Mann konnte Herz in Princeton erleben.114 In dieser 108 Herz im Brief an das Review Committee der Univerität Princeton vom 1. Dezember 1975. 109 Vgl. Herz im Brief an Ellen Rafshoon am 29. August 1994. 110 Herz im Brief an Peter Goddard am 27. Februar 2005. 111 Herz im Brief an das Review Committee der Universität Princeton am 1. Dezember 1975. 112 Herz, Vom Überleben, S. 189. 113 Auch Morgenthau zeigte sich irritiert und litt unter einem „Kulturschock intellektueller Art“. Vgl. Frei, S. 196. 114 Den Besuch im Hause Mann schilderte er in einem Brief vom 7. März 1939 seinem Bruder Gerhard, Brief im Besitz von J. P.: „Die Visite bei Thomas Mann war ein gemütlicher Tee unter 8 Augen, d.h. wir beiden [gemeint sind Hans Herz

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reich gebildeten und internationalen Atmosphäre, die der des HEI in Genf ähnelte, bot sich für Herz erneut die Gelegenheit, zu studieren, zu forschen und zu diskutieren. Hier holte er sich maßgebliche Anregungen für seine späteren Schriften. Dies erklärt die Schaffenskraft, die Herz in der Folgezeit an den Tag legte. Es verwundert daher nicht, dass Herz die Jahre in Princeton im Rückblick zu den schönsten und produktivsten seines Lebens zählte.115 Auch die Sorge um die in Europa verbliebene Familie legte sich. Neben seinem besten Freund Ossip Flechtheim waren mittlerweile auch seine Verlobte Anne Klein und deren Familie in den Vereinigten Staaten angekommen und hatten sich in Manhattan niedergelassen. Im Sommer 1939 übersiedelten schließlich auch Herz’ Eltern und seine Schwester Lore. Wie zuvor in Genf stand Herz’ inneres Glück jedoch in krassem Gegensatz zur weltpolitischen Lage. In Europa standen die Zeichen auf Krieg. Herz tauchte währenddessen immer tiefer in die akademische Welt der USA ein und widmete sich intensiv dem Studium der amerikanischen Literatur, Geschichte und Politik. Im Sommer 1939 verbrachte er zusätzlich einige Zeit am Dartmouth College, wo ihn die Nachricht vom deutschen Einmarsch in Polen erreichte. Er füllte ganze Schulhefte mit Aufzeichnungen über amerikanische Innen- und Außenpolitik, Regierungsform, Verfassungsgeschichte sowie die Rechtsprechung des „Supreme Court“. Mit großem Ernst setzte er sich mit den Vereinigten Staaten und ihren geistigen und kulturellen Traditionen auseinander und sog in sich auf, was er nur finden konnte. Die Grundlage für sein Amerikabild wurde in diesen ersten Jahren entscheidend geprägt. In seinen Bemühungen, sich seiner neuen Heimat anzupassen und sich in ihr zurechtzufinden, ging Herz so weit, dass er 1939 seinen Vornamen ins Englische übersetzte. Aus Hans Hermann Herz war 1944 der amerikanische Staatsbürger John H. Herz geworden. und Ossip Flechtheim, der inzwischen ebenfalls in die USA emigriert war und Herz für einige Tage in Princeton besuchte], Frau und er. Wir waren schon auf große Gesellschaft vorbereitet, wo man ihn kaum würde sprechen können, und daher angenehm überrascht. Zuerst empfing uns die Frau, d.h. beim Eintreten sah man zunächst mal gar nichts außer einem riesigen Saal, den man erst zu durchschreiten hatte bis man (wie auch Mussolini das zu arrangieren pflegt) in der äußersten anderen Ecke die Mannin entdeckte. Die redet unaufhörlich und hört nicht zu was der andere sagt. Bald darauf erschien ‚Er‘, der platterdings in der schier alltäglichen Umgangssprache der gewöhnlichen Sterblichen konversierte, den Mann’schen Stil also den Werken vorzubehalten scheint. Thema natürlich hauptsächlich Politik, das scheint ihn augenblicklich fast ganz auszufüllen. [. . .] Mann ist wirklich ‚umgänglich‘, gar nicht überlegen oder von oben herab, richtig ‚menschlich‘. [. . .] Sein Englisch ist zwar alles andere als schön, aber verständlich. Äußerlich war ich überrascht von der großen Ähnlichkeit mit Heinrich. Jetzt steht Einstein auf dem Programm! Habe aber noch keine Einführung.“ 115 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 120.

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„If the Intellectual has to give up his country, he does more than change residence. He has to cut himself off from an historical tradition, a common experience; has to learn a new language; has to think and experience within and through it; has, in short, to create a totally new life. It is not the loss of a profession, of property, of status – that alone and by itself is painful – but rather the weight of another national culture to which he has to adjust himself.“116 (Franz L. Neumann)

a) Deutsche und amerikanische (Wissenschafts-)Welten Die Eingewöhnung in den amerikanischen Universitätsalltag mit seinen „recht neuartigen Verhältnissen“117 fiel Herz trotz aller Begeisterung zunächst nicht leicht. Für den damals knapp Dreißigjährigen bedeutete die Emigration eine zweite wissenschaftliche und politische Sozialisation. Im Gegensatz zu denjenigen Emigranten, die an rein europäischen Forschungszentren wie der „New School of Social Research“ oder dem Institut für Sozialforschung untergekommen waren, wo sie unter sich blieben und weiterhin ihre deutschen Debatten fortsetzten, waren die vielen Emigranten, die an amerikanischen Universitäten und Colleges verstreut waren, gezwungen, sich an das dort herrschende höchst unterschiedliche Klima anzupassen.118 Dies ging nicht ohne Reibungsverluste und Anpassungsschwierigkeiten vonstatten. Über die Unterschiede zwischen dem europäischen und amerikanischen Wissenschaftsbetrieb schrieb Herz an seine Eltern: „Die Methoden amerikanischer Forschung sind von den europäischen (einschl. Genfer) in vielem recht verschieden, angefangen von den äußeren Einrichtungen, wie denen der Bibliotheken, in denen man z. B. sich die Bücher selber in den endlosen Gängen der Aufbewahrungsräume holt (was Vor- und Nachteile hat) bis zur Wissenschaftsmethode selbst, die viel utilitaristischer und aufs Praktische gerichtet ist, aber keineswegs weniger gründlich ist als die theoretische, in der wir Europäer aufgewachsen sind. Ganz kann ich mich da noch nicht umstellen.“119 116 Franz L. Neumann, The Social Sciences, in: W. Rex Crawford (Hrsg.), The Cultural Migration. The European Scholar in America, Philadelphia 1953, S. 4–26, hier S. 13. 117 John H. Herz im Brief an seine Eltern vom 20. Dezember 1938. 118 Dennoch war auch Princeton keine repräsentative Bildungsstätte, sondern bot gerade den jungen Forschern herausragende Privilegien und Förderungsmöglichkeiten. Vgl. Bentwich, S. 52: „The Institute at Princeton was able [. . .] to offer a haven to some scores of displaced scholars who eagerly began their academic life once more in the New World.“ 119 Herz im Brief an seine Eltern vom 20. Dezember 1938.

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In der Tat waren die akademischen Traditionen diesseits und jenseits des Atlantiks sehr unterschiedlich. Paradigmatisch brachte der jüdische Emigrant und Politikwissenschaftler Franz L. Neumann, der später Herz’ Kollege am OSS werden sollte, die Unterschiede in seinem berühmten Aufsatz „The Social Sciences“ auf den Punkt: „The German scholar generally came under three intellectual influences: German idealism, Marxism, and historicism. All three have in common that they are comprehensive systems of thought claiming to fit every phenomenon into its system. All three express the extraordinary weight of an historical tradition. Thus the thought of German scholars was primarily theoretical and historical – rarely empirical and pragmatic. [. . .] [I]n the whole, the German exile . . . entered a diametrically opposed intellectual climate: optimistic, empirically oriented, a-historical, but also self-righteous.“120

Herz’ eigene Wahrnehmung deckte sich mit der Schilderung Neumanns. Sie ähnelt in verblüffender Weise auch dem intellektuellen Kulturschock, den Morgenthau nach seiner Ankunft erlebte – und den Frei in seiner intellektuellen Biographie beschreibt: „Anders waren die Amerikaner nicht bloß in ihrer Art, konkrete Probleme anzugehen. Anders waren sie nicht nur in Bezug auf banale Einschätzungen und Erwartungen im alltäglichen Kontext. Die Andersartigkeit ging tiefer. Sie war grundsätzlicher Natur.“121 Den deutschen Traditionen der Theoriebildung und der historischen Perspektivierung stand insbesondere der in Amerika dominante Behaviorism entgegen.122 So begann Herz einen seiner Artikel mit der Feststellung, dass es nicht ganz zu Unrecht „das Charakteristikum amerikanischer politischer Gedankenwelt sei, keine politische Theorie zu haben.“123 Wie die meisten europäischen Emigranten betrachtete er Wissenschaft nicht als Sammlung empirisch gewonnener Fakten, sondern sein Blick richtete sich vielmehr auf die den Fakten zugrunde liegenden Ideen. Er war weniger an Methoden interessiert, als an den dahinter stehenden großen philosophischen Systemen.124 Die theoretische Verwurzelung der deutschen Wissenschaftler 120

Neumann, S. 19. Frei, S. 196. 122 Vgl. auch Paul F. Lazarsfeld, An Episode in the History of Social Research: A Memoir, in: Donald Fleming/Bernard Bailyn (Hrsg.), The Intellectual Migration. Europe and America, 1930–1960, Cambridge, Mass. 1969, S. 270–337, S. 271. Zum Behavioralism in den amerikanischen Sozialwissenschaften vgl. Albert Somit/Joseph Tanenhaus, The Development of American Political Science. From Burgess to Behavioralism, Boston, Mass. 1968, S. 173 ff. 123 John H. Herz, Politische Theorie in amerikanischer Sicht, in: Neue politische Literatur, Band 2, 1957, S. 849–860, S. 849. 124 In diesem Sinne auch Pachter, S. 35: „We taught that science is not a collection of more or less true facts but the crystallizing of ideas from facts. We were less interested in methods and more in ideas.“ 121

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führte in den USA zu einer Reihe von Missverständnissen. Überspitzt gesagt sahen die Deutschen die amerikanischen Wissenschaftler oft als „naive fellows, pedestrian, commonsensical, down-to-earth, and hypnotized by ‚facts‘“125, während die Amerikaner die „arrogance“126 der Deutschen und den „heavy German way of presenting a topic“127 beklagten. Herz war für diese „Theorielastigkeit“ ein besonders gelungenes Beispiel. Schon während seiner Zeit als Student der Rechtswissenschaft hatte er sich mehr für Fragen der Rechtsphilosophie interessiert, als für die konkrete Anwendung der Gesetze. Aus dieser Vorliebe resultierte auch Herz’ Begeisterung für die „Reine Rechtslehre“. Er selbst bezeichnete sich rückblickend als typischen Vertreter einer jungen europäischen Generation, die auf der Suche nach einem System war, welches die Welt und die Weltereignisse beleuchten und erklären sollte. Über sich selbst schrieb er: „Like many young Germans who later came to the United States, I was deeply involved in somewhat metaphysical theory which kept its distance from the more pragmatic Anglo-American approach.“128 Dieses theoretische Interesse ist für das gesamte wissenschaftliche Wirken von Herz grundlegend. Mit der in den Vereinigten Staaten gepflegten Konzentration auf die Erhebung von Daten konnte Herz, wie viele deutsche Wissenschaftler, zunächst nur wenig anfangen. Die Bedeutung quantifizierbarer Daten und statistischer Erhebungen wurde in den amerikanischen Sozialwissenschaften seiner Ansicht nach weit überschätzt.129 Vor allem liefe man Gefahr, Daten einfach um ihrer selbst Willen zu erheben, ohne dass man dadurch einen größeren Erkenntnisgewinn erhielt. Herz spottete in einem Aufsatz „what can be counted will be counted.“130 Außerdem verhindere die Konzentration auf ein solch empirisches Vorgehen, Probleme in ihrer historischen Bedeutung zu sehen. Herz erinnerte sich noch sehr lebhaft an ein Seminar des amerikanischen Politikwissenschaftlers Quincy Wright, noch während seiner Zeit am Genfer Institut – „[A]lthough greatly impressed by the wealth of his data [his chiefly European students, J. P.] were flabbergasted by the unsophisticated use of the historical and cultural variables.“131 Eine „laborhafte“ Betrachtung der internationalen Beziehungen hielt Herz schlechter125 So die Schilderungen von Herz’ späterem Chef im OSS, H. Stuart Hughes, Social Theory in a New Context, in: Jarrel C. Jackmann/Carla M. Borden (Hrsg.), The Muses Flee Hitler, Washington D. C. 1983, S. 111–120, hier S. 112. 126 Hughes, Social Theory in a New Context, S. 112. 127 Ebd. 128 Herz, The Nation State and the Crisis of World Politics, S. 5. 129 Vgl. insbesondere Herz, Relevancies and Irrelevancies in the Study of International Relations, S. 26. 130 Ebd., S. 31. 131 Ebd., S. 33, Fn. 13.

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dings für unmöglich. Ein Forscher, der gezwungen sei, eine riesige Datenmenge zum Beleg seiner Aussagen herbeizubringen, könne leicht zum bloßen Verwalter werden, so seine Argumentation. Auch Franz Neumann kritisierte, die Erhebung der Daten sei ein sehr kostspieliges Unterfangen und der Wissenschaftler aus diesem Grunde auf erhebliche Summen an Forschungsmitteln angewiesen, was seine Abhängigkeit von seinen Geldgebern in einem kritischen Ausmaß erhöhe.132 Eine wertfreie Wissenschaft, wie sie der Behavioralismus anstrebte, sei auf diese Weise – so ein oft erhobener Einwand deutscher Wissenschaftler – jedenfalls nicht zu erreichen: „[H]ow was it possible to arrive at so-called objectivity by compiling lists of subjective responses?“133 Herz blieb gegenüber dem behavioristischen Trend in den amerikanischen Sozialwissenschaften ein Leben lang kritisch eingestellt.134 In einem Aufsatz aus dem Jahr 1989 schrieb er: „I have never been able to see much merit in a scientism that believes only in the quantifiable to be the legitimate object of scientific investigation. The human sciences, including those dealing with behavior, cannot be reduced to mathematical equations or statistical tables (important as statistics surely is as auxiliary means in social research). An approach that reduces everything to the quantifiable data runs the risk of not distinguishing the trivial from the relevant.“135

Das eindrucksvollste Beispiel seiner Abneigung aber lieferte er bereits 1959 im Vorwort zu International Politics in the Atomic Age, wo er für eine Rückkehr zu einem traditionellen Forschungsansatz plädierte. Die Ironie und Bissigkeit dieses Vorworts erlangten eine gewisse Berühmtheit innerhalb der Disziplin und trugen wesentlich zum Erfolg des Buches bei: „This is an old-fashioned kind of book. It is the result neither of teamwork nor of any similar type of group study or collective research. It is not the product of a seminar, nor that of a study conference for which the author served as reporter. It has not been issued from a lecture series, and it is not based on a field trip or any wide travelling whatsoever. The author has not used a single IBM facility in the book’s preparation, nor has he conducted any interviews for it, whether in depth or otherwise. There has not been any polling, nor have questionnaires been distributed. As a matter of fact, the book does not contain a single chart, graph, map, diagram, table, or statistical figure. It is simply the product of the application to problems and subject matter at hand of whatever intelligence was available.“136 132

Vgl. Neumann, S. 24. Anthony Heilbut, Exiled in Paradise. German Refugee Artists and Intellectuals in America, from the 1930s to the Present, Boston 1983, S. 77. 134 Zum Behavioralismus in der amerikanischen Politikwissenschaft vgl. Raymond Seidelmann, Political Science and the American Crisis 1884–1984, Albany 1985, S. 149 ff. 135 Herz, An Internationalist’s Journey, S. 258. 133

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Auf der anderen Seite hat sich Herz gegenüber den neuen amerikanischen Einflüssen nicht verschlossen. Seiner Meinung nach dienten der amerikanische Pragmatismus und Empirismus als notwendige Korrektive für die europäischen Sozialwissenschaften. Der amerikanische Forschungsansatz habe dem europäischen „Realitätsnähe oder sogar -durchdringung“137 voraus. In Europa, so führte er weiter aus, hätten die Einsichten eines Hobbes oder Montesquieu, die Ideale Rousseaus oder Kants in der Vergangenheit wenig direkten Wiederklang in der administrativen Praxis eines Landes oder in der Rechtssprechung oberster Gerichte gefunden. In den USA jedoch seien die Ideen eines Jefferson oder John Adams kaum von ihrer Anwendung zu trennen.138 Herz stellte fest, dass die Sozialwissenschaftler in den USA sicherlich an Theorie- und Geschichtsvergessenheit litten, dass ihre deutschen Kollegen jedoch in der Regel zu wenig praxisorientiert seien. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines ersten in den USA erschienenen Buches Political Realism and Political Idealism schrieb Herz im Jahre 1957: „Die abendländische Geschichte ist reich an reiner Theorie, arm an der Fähigkeit, sie auf die Welt des Geschehens und des Handelns anzuwenden.“139 Er war daher davon überzeugt, dass eine Synthese zwischen seiner aus Deutschland mitgebrachten Forschungsperspektive und dem amerikanischem Wissenschaftsverständnis überaus fruchtbar ausfallen konnte. Seine intellektuelle Offenheit mag auch darin begründet sein, dass er schon zuvor in Deutschland und dann in Genf mit seinen Fragen und seinem Forschungsverständnis die traditionellen Grenzen seines jeweiligen Faches überschritten hatte: Sei es in seiner Doktorarbeit, in der er Kelsens Ansatz um einige soziologische Aspekte erweiterte, sei es am HEI, als er seiner juristischen Perspektive eine politikwissenschaftliche hinzufügte. Er blieb daher auch in den USA nicht starr in seinen alten Denkstrukturen verhaftet und schottete sich nicht gegenüber den neuen Einflüssen ab,140 sondern war offen und neugierg.141 Andererseits blieb er seiner deutsch-euro136

Herz, International Politics in the Atomic Age, S. v. Vgl. Herz, Politische Theorie in amerikanischer Sicht, S. 858. 138 Vgl. ebd. 139 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 5. 140 Ein deutliches Gegenbeispiel war Theodor W. Adorno, der sich den amerikanischen Einflüssen explizit verweigerte und auf die kulturelle Überlegenheit der alten Welt beharrte: „I consider myself European through and through, considered myself as such from the first to the last day abroad and never denied it. [. . .] By nature and personal history, I was unsuited for ‚adjustment‘ in intellectual matters.“ Vgl. Theodor W. Adorno, A European Scholar in America, in: Donald Fleming/Bernard Bailyn, The Intellectual Migration. Europe and America, 1930–1960, Cambridge, Mass. 1969, S. 338–370, hier S. 338. Für weitere Beispiele vgl. Coser, S. 11 f. 137

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päischen Prägung treu und übernahm nicht blind die Datenhörigkeit des Behaviorismus. Sein Ziel war es, das Beste der beiden Welten, zwischen denen er nicht nur wissenschaftlich wanderte, zu einer europäisch-amerikanischen Synthese zu verknüpfen.142 Anlässlich der German Studies Conference im Jahr 1972 formulierte er dies einmal besonders deutlich: „At best one can gain a viewpoint au dessus de la mêlée that permits one to distinguish the characteristics of both the German and the American scenes in all their contrasts and acuities.“143 Der ständige Versuch der Versöhnung von Gegensätzen ist eines der Leitmotive des Herz’schen Denkens. Stets bemühte er sich um die Entschärfung von Widersprüchen und suchte eine Möglichkeit des Ausgleichs. Diese synthetische Kraft seines Denkens zeichnete ihn einerseits besonders aus und machte ihn zu einem „Weltkind in der Mitten“144, wie er selbst sich in seiner Autobiographie bezeichnete. Andererseits barg seine Sehnsucht nach Harmonie auch die Gefahr der intellektuellen Konturlosigkeit. Praktisch sollte sich die angestrebte transatlantische Wissenschafts-Synthese zukünftig in einem zweifachen Forschungsansatz zeigen: An die möglichst objektive und wertfreie Analyse gegebener Tatsachen schloss er immer auch eine konkrete Handlungsempfehlung an. Im Herzen blieb er stets ein Werterelativist im Weberschen und Kelsenschen Sinne. Dennoch war ihm schon in Genf durch den Nationalsozialismus vor Augen geführt worden, dass der Wissenschaftler nicht immer bedingungslos apolitisch sein durfte. Diese Erkenntnis wurde durch die amerikanische Wissenschaftstradition einer praxisorientierten Wissenschaft noch verstärkt. In Princeton war Herz sofort positiv eingenommen von der Offenheit und Freundlichkeit der amerikanischen Professoren, die weit zugänglicher und weniger steif und distanziert waren als ihre europäischen Kollegen.145 Während an den deutschen Universitäten eine strenge Hierarchie geherrscht hatte, legte man an amerikanischen Universitäten zu Herz’ großem Erstaunen anscheinend keinen so großen Wert auf Titel, Rang oder Status.146 Zur 141 Zur individuellen Reaktion der deutschen Intellektuellen auf die amerikanische Wissenschaftswelt vgl. Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 201–212. 142 Vgl. Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 9. 143 Herz, German Government and Politics from the Textbook Author’s Viewpoint, in: Louis F. Helbig/Eberhard Riechmann (Hrsg.), Teaching Postwar Germany in America. Papers and Discussions, German Studies Conference, (Indiana University, March 24–25, 1972), S. 77–82, hier S. 82. 144 Herz, Vom Überleben, S. 73. 145 Vgl. Coser, S. 8. 146 Vgl. Kent, S. 22. Kent weist allerdings darauf hin, dass es sich bei der scheinbar „klassenlosen Gesellschaft“ an amerikanischen Universitäten nur um eine Fassade handele, hinter der eine etablierte Hierarchie ganz wie in Europa herrsche.

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Illustration mag folgende Passage aus einem oben bereits zitierten Brief an Herz’ Eltern dienen: „Dr. Flexner, der Direktor, [ließ] in seinem eigenen Auto meine Sachen von der Bahn herschaffen und versammelte dann seinen staff um sich, um zu beraten, wo ich am besten frühstücken, dinieren, etc. würde (stellt Euch das in Europa vor!)“147. Anders als die deutschen Universitäten, die sich als Kaderschmieden einer geistigen Elite verstanden, sahen sich die amerikanischen Universitäten einem demokratischen Erziehungsprinzip verpflichtet, wo die größtmögliche Anzahl von Bürgern von den Vorteilen einer umfassenden Erziehung profitieren sollte. Die Tatsache, dass amerikanische Professoren im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen weniger Macht und Prestige besaßen, machte es den Emigranten leichter, einen Fuß in die Tür des dortigen Wissenschaftsbetriebs zu bekommen.148 Sie schlug sich auch in dem Verhältnis zwischen den Professoren und ihren Studenten nieder. Bei Heilbutt heißt es treffend: „In Europe, the professor was king, but in democratic America, the students elected him.“149 Anders als die deutschen Universitätsprofessoren, die Studenten vielfach eher als störende Elemente empfanden, von denen sie sich lieber fernhielten, verstanden sich die amerikanischen Professoren zunächst als Lehrer und bauten vielfach väterliche Beziehungen zu ihren Schülern auf.150 Interessant ist, dass Herz, obwohl er den freundschaftlichen und familiären Umgang mit seinen Professoren am Princetoner Institut sehr schätzte, später als Professor selbst eher als typisch deutscher Ordinarius galt,151 der seine Vorlesung auf Basis eines ausformulierten Skripts in einem trockenen Vortragsstil ablas und von seinen Studenten eher als unnahbar, steif und distanziert wahrgenommen wurde.152 Trotz aller Faszination für die USA erschien ihm das Land dennoch im Großen und Ganzen überwiegend un- oder halbgebildet und provinziell zu 147

Herz im Brief an seine Eltern vom 20. Dezember 1938. So zumindest die Einschätzung von Hughes, The Sea Change, S. 3. 149 Heilbut, S. 77 und Kent, S. 120 f. 150 Vgl. Neumann, S. 20. 151 Benita Luckmann weist darauf hin, dass der „deutsche Professor“ in den USA zu einem allgemein bekannten Typus geworden sei, „oft mit Vorstellungen von besonderer Pedanterie, Weltfremdheit und einer gewissen Komik verbunden.“ Vgl. Benita Luckmann, Exil oder Emigration. Aspekte der Amerikanisierung an der „New School for Social Research in New York, in: Wolfgang Frühwald/Wolfgang Schieder, Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland 1933–1945, Hamburg 1981, S. 227–234, S. 227. 152 In diesem Sinne äußerte sich Michaela Wenninger Richter, eine ehemalige Studentin von Herz, im Interview mit J. P. am 23. März 2007 in New York City. Ganz anders, das heißt „extraordinarily open and helpful“, wurde Herz von denjenigen Studenten wahrgenommen, die sich die Mühe machten, ihn nach den Vorlesungen in seinem Büro aufzusuchen. 148

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sein, selbst in seiner kulturellen Elite:153 „Hier in Amerika sind wir Europäer doch nur so eine Art Griechen im römischen Italien“154, so schrieb er in seinen Anfangsjahren nach Deutschland. Er bewahrte zeitlebens eine gewisse Skepsis gegenüber den künstlerischen und kulturellen Errungenschaften der neuen Welt.155 Schwierigkeiten bereitete ihm gerade in seiner Anfangszeit auch das Englische, insbesondere, wenn er Fachvorträge vor einem größeren Publikum halten musste: In einem Brief an seine Mutter, den er am 24. August 1939 während seines Sommeraufenthalts am Dartmouth College verfasste, schrieb Herz: „Ei weih hab ich ne Angst, das erste Mal vor Publikum und vor allem vor der hier unvermeidlichen question hour, die daran anschließt und wo man in arkansischstem Dialekt gemurmelte Fragen, die man nicht im entferntesten verstanden hat, kühnlich beantworten muss!“156 Auf der anderen Seite brachte er dem Land, das ihn vor dem Holocaust gerettet und ihn aufgenommen hatte, ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit entgegen und war beeindruckt von der amerikanischen Gesellschaft. Im Brief an den Vater schrieb er wenige Tage vor dem 4. Juli 1939: „Das amerikanische Volk aber hat seine Unabhängigkeitserklärung mit dem Gelübde verbunden, sein Gemeinwesen auf der Achtung des Menschen, auf Toleranz aufzubauen und wenn auch hier nicht alles so ideal geworden ist, wie man geglaubt hat, so ist das Land doch immer wieder Tausenden von Flüchtlingen eine neue Heimat geworden. Wir an der letzten Stelle in dieser Flut können deshalb den 4. Juli sicherlich mit gutem Gewissen und ohne Blasiertheit mitfeiern.“157

Während in Deutschland die Unterdrückung durch das totalitäre Regime und die Angst vor der Gestapo das Lebensgefühl bestimmt hatten, herrschte in den USA das Gefühl grenzenloser Freiheit vor. In einem Leserbrief aus dem Jahr 1996 schrieb Herz über seine ersten Jahre in den USA: „I was happy to find not only an atmosphere of freedom from the oppression I had experienced as a Jew and political opponent in Nazi Germany, but also a 153 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 128. Eine solche Einstellung war unter den Emigranten aus dem alten Europa weit verbreitet, wie Kent zeigt. Vgl. Kent, S. 122. 154 John H. Herz an einen unbekannten Empfänger (vermutlich Fritz oder Otto Grüters) in einem Brief unbekannten Datums (vermutlich zwischen 1945 und 1951), Box 28, Herz Papers. 155 Im Interview mit der Verfasserin am 23. März 2005 (Kassette 8) gab er an, kulturell eher Europäer geblieben zu sein und zeitlebens ein gewisses Vorurteil gegenüber der amerikanischen Kultur gehegt zu haben: „Amerikanische [Künstler] kenne ich eigentlich sehr wenig.“ 156 Herz an seine Mutter, 24. August 1939, AR 5625, Box 2 (AR 5753), Correspondence Hans Herz WWI-1940 [Ordner 1], Herz-Aschaffenburg Family Collection. 157 Herz im Brief an seinen Vater, 30. Juni 1939, AR 5625, Box 2 (AR 5753), Immigration of Herz [Ordner 9], Herz-Aschaffenburg Family Collection.

III. „Becoming an American“ (1938–1943)

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spirit of enthusiastic cooperation among different groups in American society, of sacrifices for the common good, and of a readiness to pay for programs of public works where the private sector failed, in short, a spirit of concern and compassion.“158

Hier bezog sich Herz insbesondere auf die Politik des „New Deal“ des damaligen Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Mit Hilfe von einschneidenden staatlichen Investitionen und Arbeitsbeschaffungsprogrammen hatte Roosevelt die Binnenkonjunktur der USA ankurbeln und – zusammen mit der Einführung eines Sozialversicherungssystems, progressiver Besteuerung und massiver Arbeitszeitverkürzung – die durch die Weltwirtschaftskrise verursachte Massenarbeitslosigkeit und -armut lindern wollen. Zum ersten Mal hatte die Regierung in einer solch massiven Form in die amerikanische Wirtschaft eingegriffen. Roosevelts Politik verkörperte ein für die USA neues Staatsverständnis: Die staatliche Verantwortung gegenüber seinen Bürgern beschränkte sich nicht mehr auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der äußeren Sicherheit, sondern der Staat hatte auch eine gewisse Fürsorgepflicht bzw. trug die Verantwortung für das Wohlergehen seiner Bürger.159 Mit seiner Politik gewann Roosevelt die Herzen der jüdischen Emigranten, die ihn „mit einzigartiger und unvergleichlicher Leidenschaft“160 liebten.161 Die „Roosevelt Revolution“162 schien ihnen den Beweis zu liefern, dass die Wirtschaftskrise nicht zwangsläufig zur Machtübernahme durch totalitäre Regime führen musste, wie dies in Deutschland geschehen war, sondern auch als Vehikel für eine weitere Demokratisierung der Gesellschaft dienen konnte:163 „An enlightened government was transforming the Republic into a social democracy whose ideology was the opposite pole from Hitler’s and Stalin’s.“164 Roosevelts Politik und auch die Person des Präsidenten selbst wurden von den jüdischen Emigranten nahezu schwärmerisch verklärt. Der optimistische Aufbruchsgeist der Roosevelt-Ära verkörperte für Herz bis zu seinem Tod das 158 John H. Herz, Democrats Have Abandoned Ideals, in: The Scarsdale Inquirer, veröffentlicht am 9. August 1996. 159 Vgl. zur Politik Roosevelts die immer noch grundlegende dreibändige Studie von Arthur M. Schlesinger, The Age of Roosevelt: I. The Crisis of the Old Order, 1919–1933, Boston 1957, II. The Coming of the New Deal, Boston 1958, III. The Politics of Upheaval, Boston 1960. Vgl. außerdem Katie Louchheim, The Making of the New Deal. The Insiders Speak, Cambridge, Mass./London 1983. 160 Hertzberg, S. 263. 161 Vgl. Radkau, S. 73. 162 William E. Leuchtenburg, Franklin D. Roosevelt and the New Deal: 1932–1940, New York 1963, S. xii. 163 Vgl. Neumann, S. 18. 164 So der Emigrant Henry Pachter über die Wahrnehmung der Administration seitens der jüdischen Emigranten: Pachter, S. 29.

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ideale Amerika. Roosevelt versinnbildlichte für ihn auch außenpolitisch den idealen Präsidenten.165 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Herz’ erste Jahre in den Vereinigten Staaten geprägt waren von den widersprüchlichsten Gefühlen und Eindrücken, Hoffnungen und Ängsten, Erwartungen und Enttäuschungen. Die Anpassung an den „American Way of Life“ und die amerikanische Wissenschaftstradition konnte nur langsam und schrittweise erfolgen – die Zerrissenheit zwischen alter und neuer Heimat, die Herz mit so vielen anderen Emigranten teilte,166 machte eine klare Identifikation für ihn anfänglich schwierig. Anlässlich seines Aufenthalts als Gastprofessor in Marburg 1968 versuchte Herz, das Dilemma der Emigration rückblickend in Worte zu fassen: „Wer vor 30 Jahren als Emigrant nach Amerika kam, befand sich in der Tat in seltsamer Lage. Es gab verständlicherweise viele – es gibt sie noch – die alles in dem Lande, das sie ausgespien hatte, hassenswert und alles im Lande ihrer Zuflucht liebens- und lobenswert fanden. Aber es gab und gibt ebenso viele [. . .] die trotz allem Bitteren, das sie erfahren hatten, in sozusagen romantischer Rückprojektion dennoch das meiste ihrer alten Heimat für gut befanden und es zuungunsten Amerikas mit dem für sie Neuen verglichen – die „Bei-uns“, wie man sie drüben [in den USA] nannte, weil immer alles „bei uns“, d.h. in Deutschland, soviel besser gewesen war – bis 1933 jedenfalls.“167

Herz gehörte zu denjenigen, die sich zunächst als Repräsentanten des besseren, anderen Deutschlands fühlten und sich daher auch im Exil ein positives Deutschlandbild bewahrten. Mit Thomas Mann teilte er die Vorstellung eines doppelten Deutschlands – das innerhalb der deutschen Grenzen und jenes Deutschland außerhalb, das die eigentliche Kultur repräsentierte.168 Das „andere Deutschland“ war für Herz in besonderem Maße jüdisch, wie er in einem Leserbrief an den Aufbau illustrierte: 165

Herz äußerste sich im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, (Kassette 2): „Ich wüsste eigentlich nur zwei [Präsidenten, J. P.], deren Außenpolitik ich beinahe zu hundert Prozent befürwortet habe, das war Roosevelt auf der einen Seite und Carter auf der anderen Seite.“ Einen Tag später fügte er Kennedy seiner Aufzählung noch hinzu (Kassette 4). Insbesondere die Nennung Carters mag an dieser Aufzählung verblüffen, steht dieser doch in dem Ruf, die amerikanische Macht massiv geschwächt zu haben, wie nicht zuletzt der sowjetische Einmarsch in Afghanistan zeigte. Herz gefiel an Carter dessen Einsatz für die Menschenrechte und dessen Bewusstsein für die Nord-Süd-Problematik. 166 Vgl. auch Pachter, S. 32 f.: „I found myself constantly caught between two camps – explaining Europe to Americans and explaining America to Europeans.“ 167 Zitiert aus dem unveröffentlichten Manuskript eines Vortrags über Amerika aus Herz’ Zeit als Gastprofessor in Marburg 1968, ohne Titel, Box 4, Herz Papers. 168 Vgl. Helmut Koopmann, „Des Weltbürgers Thomas Manns doppeltes Deutschland“, in: Thomas Koeber/Gerd Sautermeister/Sigrid Schneider (Hrsg.), Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939–1949, Opladen 1987, S. 13–29, insb. S. 22 f.

III. „Becoming an American“ (1938–1943)

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„Die deutsch-jüdische Symbiose, historisch nur eine kurze Zeitspanne (kaum mehr als ein Jahrhundert umfassend) war in ihren Auswirkungen etwas ganz Außergewöhnliches gewesen. Das ‚Jüdische‘ darin hatte fast immer das, was man das ‚andere Deutschland‘ genannt hat – das fortschrittlich-liberale, aufklärerischkritische – gegenüber den in Deutschland traditionell stärkeren autoritär-nationalistischen-militaristischen Kräften gestärkt. Nun war das ‚andere Deutschland‘ in seinem eigenen Lande der Hitlerei zum Opfer gefallen. Nur im Exil lebte es fort, und die wenigen antinazistischen deutschsprachigen Veröffentlichungen sahen ihre Aufgabe darin, die geistigen, künstlerischen, politischen Werte des anderen Deutschland über die Durststrecke des Nazismus in die noch verbleibenden demokratischen Teile der Welt hinüberzuretten. Diesem Deutschtum gehörten auch nichtjüdische Emigranten an . . . aber die Juden überwogen.“169

Im Nationalsozialismus sah Herz folglich zunächst „nur die Verzerrung und Verfälschung der ihm vorangegangenen Geschichte und Kultur“170: „Wir glaubten, dass sie nach dem Ende des Nazismus wieder herstellbar sein würden und stimmten Thomas Mann bei, wenn er nach seiner Emigration (vielleicht etwas überheblich, aber korrekt) sagte: ‚Wo ich bin, ist deutsche Literatur.‘ Wir sahen daher keinen Grund, das Deutsche zu vermeiden.“171

Nachdem Herz selbst erlebt hatte, dass sich seine vor der Emigration gehegte Vorstellung von den USA in der Realität als falsch herausgestellt hatte, entstand in Princeton die Idee für ein Forschungsprojekt, das ihn viele Jahre umtreiben sollte, ohne dass je etwas Konkretes daraus wurde: Herz wollte das Amerikabild der Deutschen erforschen und begann damit, umfassendes Material zu sammeln. Obwohl aus dieser Idee nie eine Publikation hervorging, wird alleine durch seine Forschungsmotivation deutlich, welchen Stellenwert Herz der subjektiven Wahrnehmung beimaß: Er ging davon aus, dass die Vorstellung, die sich ein Volk über ein anderes machte, dessen praktisches außenpolitisches Handeln beeinflusste. Herz war an dieser Wechselwirkung interessiert und wollte herausfinden, wie sich Weltbilder in den Köpfen der Denkenden und Handelnden im Laufe der Zeit entwickelten und auch veränderten.172 In diese Richtung führte ihn zudem ein weiteres Projekt: Für John Whitton erforschte er am neu gegründeten „Princeton Listening Center“ die Radiopropaganda der Achsenmächte und wurde sich so der Macht bewusst, die man durch Manipulation über das Denken der Menschen gewinnen konnte.173 169

Leserbrief von John H. Herz im Aufbau, 14. Oktober 1994, S. 8. John H. Herz im Brief an Monika S. Schmid vom 28. September 1999, Box 3, Correspondence 1999–2003 [Ordner], Herz Papers. 171 Ebd. 172 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 123. 173 Vgl. John B. Whitton/John H. Herz, Radio and International Politics, in: H. L. Childs/John B. Whitton (Hrsg.), Propaganda by Short Wave, New York 1972 170

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Die Rolle von (Fehl)Wahrnehmungen und unterschiedlichen Weltbildern sollte Herz dann auch in seinen späteren Arbeiten immer wieder an zentraler Stelle aufgreifen und in seine Überlegungen einfließen lassen. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1968 schrieb er: „All policy is affected by the way in which reality is perceived. There is usually no uniform perception; even the most realistic statesman sees the world through some ‚prism,‘ if not in ‚blinkers,‘ applying his own interpretative framework to foreign affairs.“174 Weltbilder und Ideologien waren für ihn keine bloß sekundären Phänomene, keine „slogans explaining, justifying, or veiling that which ‚really‘ underlies events, namely, strategic, economic, and other interests of nations and power groups“175. Dies unterschied ihn von Anfang an von Morgenthau als einem typischen Vertreter der realistischen Denkschule, der argumentierte, dass Ideologien primär zur Verteidigung und Verschleierung nationaler Interessen dienten. Morgenthau schrieb: „The ideologies that he [the individual] develops are at the same time justifications and rationalizations of his drive for power and rationalization and justification of his defensive attitude toward the power of others.“176 Morgenthau sah Ideologien als organische Elemente des eigentlichen Machtkampfes, Herz hingegen war überzeugt, dass sie primäre Antriebsfaktoren sein und manchmal über die nationalen Interessen eines Landes triumphieren konnten.177 Herz’ Argumentation trägt hier augenfällig Züge, die mit der heute innerhalb der Disziplin gebräuchlichen Sprache wohl als „konstruktivistisch“ zu bezeichnen wären. Diese Züge treten in seinem Werk mit den Jahren immer deutlicher zutage und werden in dieser Arbeit an späterer Stelle noch mehrfach aufgegriffen. Sie haben dazu geführt, dass einzelne Autoren in Herz einen frühen Vertreter des Konstruktivismus sehen.178 Wie Peter Stirk rich[1942], S. 1–48. Der Aufsatz wurde zwar alleine von Herz verfasst, aber Whitton wollte als Co-Autor erscheinen. Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 279, Anmerkung 1. 174 John H. Herz, Ideological Aspects, in: David L. Sills/Robert K. Merton (Hrsg.), International Encyclopaedia of the Social Sciences, New York 1968, S. 69–75, S. 74. 175 Ebd. 176 Hans J. Morgenthau, The Organic Relationship between Ideology and Power Reality, in: George Schwab (Hrsg.), Ideology and Foreign Policy – A Global Perspective, New York 1981, S. 117–123, S. 118. 177 Sein archetypisches Beispiel an dieser Stelle war Nazi-Deutschland, indem er argumentierte, dass Hitler durch den ideologisch motivierten „totalen Krieg“ das Überleben des Staates geopfert habe. Hier sah er den klaren Beweis für die Oberhand von Ideologie über Interesse. Vgl. John H. Herz, Power Politics or Ideology? The Nazi Experience, in: George Schwab (Hrsg.), Ideology and Foreign Policy – A Global Perspective, New York 1981, S. 14–34. 178 Diese Meinung vertritt insbesondere Casper Sylvest, Herz and the Resurrection of Classical Realism, in: International Relations, Vol. 22, No. 4 (December 2008), S. 441–455.

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tigerweise betont, gibt es jedoch keinen Anlass, dies als befremdendes Element in Herz’ Realismus zu interpretieren: „There is no need to do so because the basis of Herz’s realism is the recognition of a social condition, the security dilemma, and not a certain conception of agency which excludes such conceptions on principle.“179 Nachfolgend soll diese Grundlage des Herzschen Realismus eine nähere Untersuchung erfahren. b) Hinwendung zum Realismus Herz nutzte die Zeit in Princeton vor allem, um sein in Genf schon vorangetriebenes Interesse an Geschichte, Struktur und Theorie der internationalen Politik weiter zu entwickeln. Als Forschungsassistent von Earle, „a realistic, anti-isolationist historian“180 und „the lone social scientist on the institute’s faculty“181, beschäftigte er sich insbesondere mit dem Studium der europäischen Gleichgewichtspolitik von 1648 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und schloss somit an seine am HEI begonnenen Forschungen über die Struktur des modernen Staatensystems an. Interessant ist, dass sich auch Henry Kissinger und Hans Morgenthau intensiv mit dieser Periode europäischer Geschichte beschäftigten und ihre Grundannahmen über die internationalen Beziehungen aus dieser Analyse ableiteten. Im Fokus von Herz’ Interesse stand vor allem die Analyse der britischen Außenpolitik dieser Zeit. Herz interpretierte das europäische Gleichgewicht der Mächte als eine über drei Jahrhunderte dauernde Abfolge einer stabilen Balance und immer wieder unternommenen Versuchen, diese durch Hegemoniebestrebungen zu stürzen. England nahm dabei die Rolle des klassischen Balancer ein, der versuchte, die Ambitionen der Möchtegern-Hegemonialmächte Spanien, Frankreich und Deutschland einzudämmen. Obwohl Herz’ Buch Political Realism and Political Idealism erst 1951 in den USA erscheinen konnte, stützen sich die darin enthaltenen Kernthesen auf ebendiese Studien.182 Bezeichnend ist, dass Herz das europäische Gleichgewichtssystem positiv bewertete. Zwar könne Krieg nicht verhindert werden, ja, er sei sogar nötig zur Wiederherstellung der Balance, aber das System ermögliche ein Mehrmächtegleichgewicht, in dem die meisten Länder ihre Unabhängigkeit be179 Stirk, John H. Herz: Realism and the Fragility of the International Order, S. 298. 180 Herz, From Geneva 1935 to Geneva 1985, S. 28. 181 Herz, An Internationalist’s Journey through the Century, S. 249. 182 Vgl. Herz im Brief an Peter Goddard am 27. Februar 2005: „This proved vital to the development of my ideas on international systems and politics, which I subsequently laid down in my first book in English, Political Realism and Political Idealism.“

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wahren konnten: „Gleichgewichtspolitik erschien als etwas verhältnismäßig Rationales, nach Erhaltung oder Herstellung einer bestimmten Struktur menschlichen Zusammenlebens Strebendes.“183 Realistische Gleichgewichtspolitik war demnach besser als utopischer Idealismus. Während Letzterer nicht realisierbar war, milderte Erstere uneingeschränkte Machtpolitik zumindest ab. Woodrow Wilson hatte diesen zentralen Punkt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs übersehen, Gleichgewichtspolitik zu einer reinen Machtpolitik degradiert und sich fälschlicherweise auf die Regulierungskraft des Völkerbundes verlassen – mit fatalen Folgen für das internationale System, wie Herz am eigenen Leibe erfahren hatte. Schon in Genf hatte ihn das Versagen des Völkerbundes angesichts von Mussolinis Einmarsch in Äthiopien an der Wirkungskraft von internationalen Organisationen und des Völkerrechts zweifeln lassen und ihm eine realistischere Betrachtungsweise der internationalen Politik näher gebracht. Die Appeasement-Politik der europäischen Großmächte angesichts einer ganz offensichtlich aggressiv und expansiv orientierten deutschen Außenpolitik hatte ihn schier verzweifeln lassen, Winston Churchill – für Herz „the lone voice of practical reason“184 – avancierte zu seinem persönlichen Helden. Sein damaliges Weltbild schätzte er selbst wie folgt ein: „I arrived in my new country with a rather confused image of the world. Despite my faint belief in the possibility of a better international order to be installed after the demise of the fascist dictatorships, my main impression of international relations, created by Axis power politics and the then still prevailing appeasement policies of the other major powers (as well as American isolationism), was one of a basically anarchic system of units striving and competing for power.“185

Die Betonung des anarchischen Charakters des internationalen Systems sowie die Bedeutung, die Herz dem Faktor Macht zuerkannte, spiegeln klar die Herzsche Hinwendung zum Realismus wider. Dennoch zeugt das Zitat zugleich von Herz’ Glauben an eine bessere Welt, der in immerwährendem Gegensatz zu seinen realistischen Grundannahmen stand. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Sein und Sollen ist Antriebsmotor und Hintergrund aller Herzschen Überlegungen und zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk. Es wird von Herz jedoch in unterschiedlicher Weise aufgelöst: Während er zu diesem Zeitpunkt die Betonung klar auf die realistischen Grundannahmen, also auf das „Sein“, legte, wurde das „Sollen“ später im Laufe der 1960er Jahre wieder zunehmend leitmotivisch. Doch zunächst formte sich Herz’ realistische 183 184 185

Herz, Vom Überleben, S. 122. Herz, An Internationalist’s Journey, S. 249. Ebd.

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Sicht auf die Welt in den in Princeton verbrachten Jahren weiter aus: „Thus, when arriving in the United States, I set out to develop a theory of political realism.“186 Herz war nicht der einzige, der angesichts des Münchner Abkommens von 1938 und eines dem Krieg anheim fallenden Europas die Wirkungskraft von Völkerrecht und Völkerbund infrage stellte.187 Genau an dieser Stelle hatte der Idealismus der Zwischenkriegszeit mit seiner „utopischen Schwärmerei“188 eines Weltstaats und einer weltweiten Herrschaft des Rechts versagt. Zusammen mit anderen deutschen Emigranten wie Arnold Wolfers oder Hans J. Morgenthau verurteilte Herz daraufhin die Rechtsgläubigkeit, den Utopismus und die „moralizing attitude“189, die bis dato im Mainstream der Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen in den USA vorgeherrscht hatten.190 „Peace through law“ schien Herz kein Erfolg versprechender Ansatz mehr zu sein. Dabei musste er sich einmal mehr von Kelsens „Reiner Rechtslehre“ verabschieden, verkörperte sie doch in der Diskussion den Inbegriff jener Illusionen, von denen sich die Disziplin nun befreien sollte. Insbesondere ging es den deutschen Emigranten darum, die Aufmerksamkeit weg von dem Studium des Völkerrechts und der internationalen Organisationen zu lenken und die internationale Politik in den Vordergrund der 186

Herz, From Geneva 1935 to Geneva 1985, S. 28 (Hervorhebung durch J. P.). Vgl. Gerald Stourzh, Die deutschsprachige Emigration in den Vereinigten Staaten: Geschichtswissenschaft und Politische Wissenschaft, in: Jahrbuch für Amerikastudien, Band 10/1996, S. 59–77, S. 72. 188 So Herz im Brief an Christian Hacke, 1. Mai 1990, Box 17, Notes and Clippings on New World Order [Ordner], Herz Papers. 189 John H. Herz, The Nation-State and the Crisis of World Politics. Essays on International Politics in the Twentieth Century, New York 1976, S. 7. 190 Koskenniemi spricht davon, dass das Studium der internationalen Beziehungen in den USA von einem Wilsonian legalism geprägt gewesen sei. Vgl. Koskenniemi, S. 466. John J. Mearsheimer weist zurecht darauf hin, dass das liberale Amerika, genau wie die gesamte westliche Welt, auch heute noch realistische Positionen aus tiefstem Herzen ablehnt: „Americans appear to have an especially intense antipathy toward balance-of-power thinking.“ Einen Absatz später heißt es: „Americans tend to be hostile to realism because it clashes with their basic values. Realism stands opposed to Americans’ views of both themselves and the wider world. In particular, realism is at odds with the deep-seated sense of optimism and moralism that pervades much of American society. Liberalism, on the other hand, fits neatly with those values. Not surprisingly, foreign policy discourse in the United States often sounds as if it has been lifted right out of a Liberalism 101 lecture.“ Alle Zitate entnommen aus Mearsheimer, The Tragedy of Great Power Politics, S. 23. Gert Krell merkt allerdings im Gegensatz dazu an, dass es eine solche idealistische Vorherrschaft in der Disziplin zumindest nach dem Ersten Weltkrieg nicht gegeben habe. Vgl. Krell, S. 138. 187

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Betrachtung zu stellen.191 Motiviert waren sie gerade in den späten 1930er Jahren durch den ganz konkreten Wunsch, den Kriegseintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg zu erleben. Ganz in der europäischen Tradition von Bismarcks Realpolitik192 oder den Gedanken Max Webers und Carl Schmitts hauchten sie daher den Konzepten „Macht“ und „Machtpolitik“ im amerikanischen außenpolitischen Diskurs wieder Leben ein.193 In Amerika waren diese Konzepte jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt wenig hoffähig gewesen und als „bad, old power politics of Europe“194 verurteilt worden. Von diesem „ugly power play“195 hatte sich ein reines Amerika fernhalten wollen: „Those Americans who were concerned with and about world affairs for the most part believed in peace through law and how to secure it through outlawry of war, ‚union now‘ in a world federation, and similar schemes that appeared utopian to us refugees.“196 Herz, einst glühender Advokat des Völkerrechts, charakterisierte dies nun als „utopian ideology“197. 191 Vgl. John H. Herz, Reflections on Hans Morgenthau’s Political Realism, in: American Foreign Policy Newsletter, Vol. 7, No. 1 (February 1984), S. 1 und 5–10, S. 6. 192 So wollte z. B. Morgenthau explizit Bismarcks Realpolitik dem Utopismus des Völkerbundes als positives Gegenbild gegenüberstellen. Vgl. Hans J. Morgenthau, Scientific Man vs. Power Politics, London 1946, S. 106. Vgl. ferner Christian Hacke, Zuviel Theorie? Zuwenig Geschichte? Eine kritische Zwischenbilanz der Disziplin der Internationalen Beziehungen in Deutschland, in: Studien zur Internationalen Politik, Nr. 2/2003, S. 27. 193 Die Beispiele Bismarcks und Webers zitiert Herz selbst in „An Internationalist’s Journey through the Century“, S. 249. Morgenthau und Herz waren sicherlich nicht die ersten, die die Gedanken Bismarcks oder Webers in die USA brachten. Die deutschsprachige Emigration zwischen 1933–1945 hat in einem Kontinuum solcher Einflüsse gewirkt. Herz selbst schrieb einmal in seinen Notizen zu einem Vortrag: „Entdeckung des Machtfaktors in der internationalen Politik durch Morgenthau, Kennan, Niebuhr, etc. war in Wirklichkeit nicht so ganz neu. Ging zurück auf den Realismus der Founders und Federalists, aber diese Wurzeln waren verschüttet durch traditionellen amerikanischen Idealismus bzw. Utopismus, der immer wieder in kreuzzugsartigen, . . .. harten Idealismus‘ . . . ausgeartet war.“ Vgl. Herz’ Vortragsnotizen, vermutlich zu einem Vortrag über die Entwicklung der außenpolitischen Ideen in den USA, ohne Titel, ohne Ort, ohne Datum, Box 17, Lecture Notes and Lectures in Germany 1981 [Ordner], Herz Papers. Dennoch ist es das besondere Verdienst der jüdischen Emigranten, diese realpolitische Tradition wieder wachgerufen zu haben. 194 Vgl. Herz, Role of the United States in International Relations, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript anlässlich der Conference on Political Culture in the U.S. in Königstein vom 15.–20. Juni 1981, Box 17, Lecture Notes and Lectures in Germany 1981 [Ordner], Herz Papers, hier S. 5. 195 Ebd. 196 Herz, From Geneva 1935 to Geneva 1985, S. 28. 197 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 204.

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Herz und Morgenthau warfen der amerikanischen Politikwissenschaft damals vor, diese ignoriere die Wirklichkeit, überschätze das Aufklärungsund Einflusspotential von Sozialwissenschaften, beruhe auf falschen Analogien zur Naturwissenschaft und verkenne die moralischen Grundkonflikte, die für eine praxisrelevante Theorie von der Politik notwendig seien.198 Sie sei beherrscht von zu viel „legalism“, „moralism“, „utopianism“, „perfectionism“, „empirism“, „factualism“, „formalism“ und vor allem „scientism“. In all diesen ‚-isms’ erkannten Morgenthau und Herz ungesunde Übersteigerungen und geistige Fehlhaltungen: „Hinter den Symptomen stand indes die Krankheit selber, stand eine verkehrte Grundansicht der Dinge, des Menschen, der Welt“199 – „a crisis of philosophy“200, wie Morgenthau schrieb. Die hier artikulierte Skepsis gegenüber den amerikanischen Sozialwissenschaften war nicht nur auf Vertreter des außenpolitischen Realismus beschränkt, sondern ein typisches Phänomen, das sich auch dem Realismus fern stehenden europäischen Emigranten wie Franz Neumann finden lässt: „To me, and to many others, the extraordinary optimism about the potentialities of social science to change the world cannot be shared. Our expectations are far more modest; the limits to the social science presented by the historical process are far narrower.“201 Herz selbst vertrat die These, dass der europäischen Betrachtungsweise ein „tragisches Element“ anhafte, das aus der „tragischen europäischen Geschichte“ erwachse.202 Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten hätten europäische Staaten immer wieder um ihr eigenes Überleben kämpfen müssen. Diese Erfahrung, so Herz, habe der europäischen politischen Theorie „den Blick in die Tiefen gegeben, die ihrer Schwester jenseits des Atlantiks nur selten sichtbar wurden.“203 Die Amerikaner seien optimistischer, vor allem auf ihr individuelles Leben ausgerichtet. Sie fühlten sich als „Pioniere, die im Land der unbegrenzten Möglichkeiten alles erreichen können, was sie wollen“204, während sich auf dem alten Kontinent eine pessimistischere Weltanschauung durchgesetzt habe. Auch Brian C. Schmidt attestiert den deutschen Emigranten aus einem ähnlichen Grund einen „profound sense of pessimism“205 in der Tradition von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, welches zumindest Herz tatsächlich tief beeindruckt 198

Vgl. Morgenthau, Scientific Man vs. Power Politics, S. 122 ff. Frei, S. 197. 200 Morgenthau, Scientific Man vs. Power Politics, S. 2. 201 Neumann, S. 24. 202 Beide Zitate Herz, Politische Theorie in amerikanischer Sicht, S. 857. 203 Ebd. 204 So John H. Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, USA, Kassette 1. 205 Schmidt, The Political Discourse of Anarchy, S. 210. 199

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hatte.206 Dementsprechend machten sie es sich zur Aufgabe, den Utopismus und Moralismus in den Internationalen Beziehungen zu bekämpfen und die Macht als Essenz der Politik herauszustellen.207 Herz verstand sich explizit als Korrektiv einer überidealistischen Wissenschaft, die er durch realistische Elemente wieder ins Gleichgewicht bringen wollte.208 In einem Brief an Alfons Söllner aus dem Jahr 1986 beschrieb Herz seine starke Betonung von realistischen Faktoren ausdrücklich als Gegenreaktion auf „legalism“, „moralism“ und „wishful thinking“209, welche in den USA das Studium der internationalen Beziehungen geprägt hätten: „Das schien uns Europäern so utopisch-idealistisch, dass wir den machtpolitischen Realismus nicht nur entwickelten sondern wohl übertrieben. Dahinter standen gewiss unsere Erfahrungen des in den westlichen Demokratien oft vorherrschenden Pazifismus, des daraus hervorgehenden ‚appeasements‘, der Einsicht, dass dem Nazi-Expansionismus (verbündet mit dem italienischen und japanischen) nur durch Gegenmacht beizukommen sei.“210

Interessant ist allerdings, dass sowohl Morgenthau als auch Herz sich bemühten, die typisch deutschen Elemente ihres Denkens zu verschleiern.211 Morgenthau zitierte schon in seinen ersten Veröffentlichungen fast nur angelsächsische Autoren und auch Herz zitierte Fichte nicht nach dem deutschen Original, sondern nach John Dewey.212 Insbesondere Carl Schmitt war unter den jüdischen Emigranten nicht zitierfähig, hatte dieser doch nach Hitlers Machtergreifung offen mit den Nazis sympathisiert. Dennoch sind sowohl Morgenthau als auch Herz von Schmitt beeinflusst worden, wie Herz im Brief an Söllner selbst herausstellt: „Sicherlich haben wir alle, 206

Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 78–80. Die Tatsache, dass so viele Emigranten zu Kritikern des Utopismus wurden, illustriert umfassend Radkau, S. 246–250. Er äußert hier außerdem eine recht eigenwillige und – in den Augen der Verfasserin auch abwegige – These, warum sich viele Emigranten zu Anwälten des Realismus und des nüchternen Nationalinteresses aufschwangen. Dies sei nicht zuletzt „einige Kompensation eigener Unsicherheit“, da die Berufung auf das nationale Interesse eine beliebte Methode der Einwanderungsbehörde darstellte, um die Verhaftung und Deportation unerwünschter Ausländer zu rechtfertigen: „Unter solchen Umständen sieht sich bei den Emigranten der Kampf für das ‚Nationalinteresse‘ und gegen den ‚Utopismus‘ der Amerikaner wie ein Versuch an, den Spieß umzudrehen und entsprechenden Angriffen durch eine eigene Offensive zuvorzukommen.“ Vgl. Radkau, S. 250. 208 Vgl. das Vorwort zur deutschen Ausgabe von Political Realism and Political Idealism: John H. Herz, Politischer Realismus und Politischer Idealismus. Eine Untersuchung von Theorie und Wirklichkeit, Meisenheim am Glan 1959, S. 6 f. 209 Alle drei Zitate aus John H. Herz, Political Realism Revisited, in: International Studies Quarterly, Vol. 25, No. 2, (June 1981), S. 182–197, S. 183. 210 Herz im Brief an Söllner am 27. Mai 1986. 211 Vgl. Radkau, S. 222. 212 Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 258, Anm. 25. 207

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nicht nur M. [Morgenthau], Weberisches (wenn nicht gar Schmittisches) nach Amerika verpflanzt.“213 Auch der Verweis auf Friedrich Nietzsche galt als äußerst unpopulär, obwohl insbesondere Morgenthaus Denken von Nietzsches Geistesgut durchzogen war.214 Im Kern blieben sowohl Morgenthau als auch Herz europäische Denker, die durch das „triumvirate of significant Germans“215, Nietzsche, Weber und Schmitt, entscheidend beeinflusst worden waren. Im Rückblick erscheint es überaus bemerkenswert, wie es einer relativ kleinen Außenseitergruppe gelingen konnte, nicht nur die Tradition des liberalen Philosophierens in den USA in Frage zu stellen, sondern die gesamten Disziplin zu transformieren.216 Natürlich muss man vorsichtig sein, wenn man die Einflüsse der jüdischen Emigranten auf das amerikanische Geistesleben genau feststellen und platzieren will. Franz Neumann hat hier zurecht vor apodiktischen Urteilen gewarnt: „It is quite impossible to assess the contribution of the German exile to the social and political science. [. . .] The influences are too subtle, to diffused, to be easily identified or measured.“217 Dennoch hat es für die Entwicklung des außenpolitischen Realismus sehr wohl einen solchen klar identifizierbaren Einfluss gegeben. Dies ist vor allem auf die Wirkungskraft Hans J. Morgenthaus zurückzuführen,218 den Golo Mann als Beleg dafür anführt, dass die deutschen Emigranten „fleißig mitgewirkt“219 hatten, die Lehre von der Staatsräson in den USA einzubürgern. Auch Herz hat dies so gesehen.220 213 Herz im Brief an Söllner am 27. Mai 1986. Allerdings steht Schmitt Morgenthau durch seine Betonung der anthropologischen Voraussetzungen des Politischen um einiges näher als Herz. Vgl. zur Anthropologie Schmitts Campagna, S. 82 f. 214 Dies hat insbesondere Christoph Frei in seiner Biographie über Morgenthau gezeigt und auch erklärt, warum dieser Einfluss von Morgenthau geheim gehalten wurde. Vgl. Frei, S. 114–115. Vgl. dazu auch Rohde, S. 81 ff. Bis heute wird der Einfluss Nietzsches auf Morgenthau in den USA und in Israel gerne in den Hintergrund gedrängt. So verzichtet beispielsweise M. Benjamin Mollov in seiner Arbeit über Morgenthaus jüdische Wurzeln vollständig auf die Erwähnung Nietzsches. Vgl. M. Benjamin Mollov, Power and Transcendence. Hans J. Morgenthau and the Jewish Experience, Lanham, Md. et al. 2002. 215 Michael Cox, Hans J. Morgenthau, Realism, and the Rise and Fall of the Cold War, in: Michael C. Williams, Realism Reconsidered. The Legacy of Hans J. Morgenthau in International Relations, Oxford et al. 2007, S. 166–194, S. 167. 216 Vgl. Alfons Söllner, Hans J. Morgenthau. Ein deutscher Konservativer in Amerika? Eine Fallstudie zum Wissenstransfer durch Emigration, in: Rainer Erb/ Michael Schmidt (Hrsg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss, Berlin 1987, S. 243–266, S. 256 ff. 217 Neumann, S. 23. 218 So argumentiert jedenfalls Lebow, S. 216. 219 Golo Mann im Interview, zitiert in: Radkau, S. 219.

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Er selbst wurde zwar nie so berühmt wie der Übervater des außenpolitischen Realismus, erhielt jedoch ebenfalls Beachtung. Insbesondere avancierte er zu einem bedeutenden Protagonisten innerhalb der Debatte zwischen Idealismus und Realismus, die die weitere Entwicklungsrichtung der Internationalen Beziehungen bis in die 1950er Jahre hinein maßgeblich vorgab. Auch wenn es das idealistische Paradigma der First Debate vielleicht tatsächlich nie gegeben hat, wie einige neuere Studien behaupten,221 so ist es den Realisten zumindest gelungen, den Eindruck zu erwecken, den Mainstream ihrer Disziplin herausgefordert und diskreditiert zu haben. In der äußeren Wahrnehmung erlebte die Disziplin in dieser Zeit einen völligen Paradigmenwechsel, weg von den Vorstellungen des (utopischen) Idealismus und hin zu einem außenpolitischen Realismus. Noch heute wird die Geschichte der Internationalen Beziehungen oft anhand der großen Debatten gelehrt. Bei Martti Koskenniemi liest man: „The ‚Realism‘ that German jurists such as Morgenthau, Herz or Karl Deutsch (1912–1992) inaugurated in the international relations academia, espoused a Hobbesean anthropology, an obsession with the marginal situation, the pervading sense of a spiritual and political ‚crisis‘ in the (liberal) West, and constant concern over political collapse.“222

Diese Ansätze, so Koskenniemi weiter, hätten letztlich zum Entstehen einer eigenständigen Disziplin der IB geführt, die nicht bloß eine Erweiterung des Völkerrechts oder eine exotische Variante der Soziologie bzw. der Ethik gewesen sei:223„[T]hey provided identity and substance for the academic discipline of international relations that had so far existed somewhat insecurely on the boundaries of law and political science.“224 Der große Einfluss der jüdischen Emigranten auf die amerikanische Politikwissen220 Dies geht aus einem Zitat aus dem Jahre 1980 hervor. Herz schreibt: „Intellektuellenwanderungen wie etwa die der deutschen Emigranten der dreißiger Jahre tragen oft Begriffe in die neue Umgebung. Der ‚politische Realismus‘ von Hans Morgenthau verwandelte sich auf diese Weise in die angeblich realistischen Einstellungen amerikanischer Politiker zum Kalten Kriege.“ Vgl. Herz, Weltbilder und Bewusstwerdung – vernachlässigte Faktoren beim Studium der Internationalen Beziehungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 11/1980, S. 3–17, S. 10, Fn. 10. 221 In der Forschung wird inzwischen mitunter bezweifelt, ob es eine idealistische Vorherrschaft tatsächlich gegeben habe. Vielmehr wird argumentiert, dass die „Idealisten“ von den Realisten erst zu solchen hochstilisiert worden seien. Zur Konstruktion des Idealismus durch den Realismus vgl. Miles Kahler, Inventing International Relations Theory After 1945, in: Michael W. Doyle/G. John Ikenberry (Hrsg.), New Thinking in International Relations, Boulder, Col. 1997, S. 20–53, vgl. ferner Schmidt, The Political Discourse of Anarchy, der die Geschichte der Idealisten, die dann von den Realisten abgelöst wurden, als Ursprungsmythos der IB bezeichnet. 222 Koskenniemi, S. 467. 223 Vgl. ebd. 224 Ebd., S. 466.

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schaft ist umso erstaunlicher, als das Fach in der Weimarer Republik im eigentlichen Sinne noch gar nicht existiert hatte.225 Allerdings darf man nicht vergessen, dass die jüdischen Emigranten aus Europa mit ihren realistischen Ideen einen Nerv trafen, der ohne den Aufstieg der Vereinigten Staaten zur führenden Weltmacht nach 1945 und den Beginn des Kalten Krieges wohl kaum in diesem Maße empfindlich gewesen wäre.226 Ihre Argumente waren weit eher dazu geeignet, die Gewaltbereitschaft des internationalen Systems zu erklären, als es die idealistischen Ansätze vermochten. Außerdem boten sie den USA passende Handlungsanweisungen für eine erfolgreiche Außenpolitik unter den Bedingungen der Bipolarität und des nuklearen Wettrüstens. Ihre Ideen fielen in den USA daher in der Nachkriegszeit auf besonders fruchtbaren Boden und verbanden sich mit den dort ohnehin schon vorhandenen Ideen von George Kennan, Nicolas Spykman oder Walter Lippmann zu eben jenem klassischen Realismus, der in den 1950er Jahren zum überragenden Paradigma der Internationalen Beziehungen wurde.227 c) Machtpolitik und neue Weltordnung Nachdem die Ursprünge des Herzschen außenpolitischen Denkens freigelegt wurden, soll nun ein Blick auf Herz’ frühe Veröffentlichungen in den USA geworfen werden, in denen er seine persönlichen Erfahrungen und am Institut gesammeltes Material verarbeitete. Nach und nach entstand so eine kohärente Theorie der Internationalen Beziehungen: „[A] theory that, going beyond my findings on the European balance, would examine the role of power in human, and especially international, affairs through opposing a political realism to idealism.“228 An dieser Stelle wird erneut deutlich, wie sehr Herz’ Wissenschaftsverständnis von der deutschen Tradition geprägt war: Seine Überlegungen speisten sich zum einen aus dem Studium der Geschichte und zum anderen aus seinem Ziel, allgemeine Strukturen und Ge225 Auf diese Tatsache verweist Ernst Fraenkel im Interview, zitiert in: Radkau, S. 220. 226 Steve Smith erkennt beispielsweise die zentrale Rolle Morgenthaus an, besteht aber darauf, dass das damalige politische Klima dem Realismus eine „much more immediate credibility“ gab. Vgl. Steve Smith, Paradigm Dominance in International Relations: The Development of International Relations as a Social Science, in: Millenium: Journal of International Studies, Vol. 16, No. 2/1987, S. 189–206, S. 192. 227 Stourzh sieht die Wirkungskraft Kennans und Lippmanns darin, dem außenpolitischen Realismus in der breiten Öffentlichkeit zum Durchbruch verholfen zu haben, während Morgenthau, Herz, Wolfers und Gurian als „Vorkämpfer“ des Realismus in den Universitäten gewirkt hätten. Vgl. Stourzh, S. 72. 228 Herz, An Internationalist’s Journey, S. 250.

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setzmäßigkeiten aus den historischen Beobachtungen abzuleiten. Sozialwissenschaft konnte nach Herz niemals ahistorisch sein.229 In seiner Autobiographie findet sich diesbezüglich ein leidenschaftliches Plädoyer: „Ich bin heute [1984] wie damals von der Bedeutung der Historie für den Aufbau jeglicher sinnvollen Betrachtungsweise im Bereich menschlicher Beziehungen überzeugt. Wer nicht Geschichte [. . .] betreibt und sie aller Weltbetrachtung zugrunde legt, der hat nur eine eindimensionale Weltsicht, die einer Welt ohne Tiefe und Schatten. Ohne historischen Background erklärt sich nichts, versteht man nichts. Und das gilt auch für die Handelnden: Wer über die Vergangenheit (d.h. das ‚image‘ der Vergangenheit in den Köpfen der Gegenwärtigen) verfügt, verfügt in weitem Maße auch über die Zukunft.“230

Er war sich dabei wohl bewusst, wie sehr ein solcher historischer Ansatz gerade angesichts des behavioralistischen Trends in den amerikanischen Sozialwissenschaften dem Vorwurf ausgesetzt war, nicht wissenschaftlich, sondern bestenfalls guter Journalismus zu sein.231 Für Herz galt jedoch das genaue Gegenteil: Jede Beschäftigung mit Mensch und Gesellschaft musste mit dem Blick in die Geschichte beginnen, um überhaupt relevant zu sein. Ein erstes Resultat seiner Forschung aus dieser Zeit ist der 1942 in der Zeitschrift The American Political Science Review veröffentlichte Aufsatz „Power Politics and World Organization“, in dem Herz die Erkenntnisse seines Studiums der britischen „Balance of Power“ verarbeitete und einen Ausblick auf die mögliche Neuorganisation des internationalen Systems nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab. In diesem Aufsatz präsentierte sich Herz erstmals einem breiteren Publikum als „scholar of International Relations“ und stellte einige erste Grundüberlegungen bezüglich der Beschaffenheit des internationalen Systems und dessen Einheiten, den Nationalstaaten, an. Er überschrieb den Aufsatz mit einem Zitat seines Genfer Lehrers Ferrero, welches auch als Leitmotiv seiner nachfolgenden Arbeiten gelten kann: „Power is the supreme manifestation of the fear that man has created for himself by his efforts to liberate himself. It is perhaps the most profound and obscure secret of history.“232 Angesichts seines persönlichen Schicksals nimmt es nicht Wunder, dass Herz „Angst“ als zentralen Schlüsselfaktor zum Verständnis menschlichen Verhaltens identifizierte. Dieser 229

Herz selbst schreibt: „I frankly represent the more conservative, or traditionalist, school which believes that . . . the results of the scientific method are lost unless is is grounded in a broad historical and cultural framework“. Vgl. sein unveröffentlichtes Manuskript „German Government and Politics from the Textbook Author’s Viewpoint“, Prepared for Delivery at the German Studies Conference at Indiana University, Bloomington, Indiana, March 24/25, 1972, Box 4, Herz Papers. 230 Herz, Vom Überleben, S. 123. 231 Vgl. Herz, An Internationalist’s Journey, S. 258. 232 Herz, Power Politics and World Organization, S. 1039.

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Schlüssel führte ihn einige Jahre später zur Entwicklung des „Sicherheitsdilemmas“233, mit dessen Hilfe es ihm gelang, dass Phänomen des Krieges auch in Abwesenheit eines klar erkennbaren Wunsches nach Eroberung zu erklären.234 Herz argumentierte 1942 mit Hilfe einer eindeutig realistisch orientierten methodischen Herangehensweise: Ausgehend von den tatsächlichen Gegebenheiten des internationalen Systems wollte er ein klareres Bild davon gewinnen, welche Entwicklungen künftig möglich sein würden, und welche man als utopisch einschätzen konnte. Er ging also von einem tatsächlichen „Sein“ und nicht von einem abstrakten „Sollen“ aus und distanzierte sich damit deutlich vom Vorgehen der Idealisten, denen er vorwarf:235 „Wrong concepts of the forces underlying the present system have too often produced ‚peace plans‘ built on the sand of wishful thinking, and therefore bound to be wrecked on the rocks of reality.“236 Dem Utopismus dieser „world federalists“237 trat er in seinem Aufsatz durch Machtpolitik als Leitprinzip der internationalen Beziehungen entgegen: Jede Überlegung über eine zukünftige Weltordnung müsse zunächst vom Faktor „Macht“ ausgehen, da „Macht“ die zentrale Konstante des internationalen Systems darstelle und alle Beziehungen der Staaten untereinander bestimme.238 Staaten seien souveräne Gebilde und daher keiner höher stehenden Autorität untergeordnet, die ihre Macht begrenze. Alle Politik sei deshalb qua definitionem Machtpolitik, auch wenn diese gelegentlich durch ökonomische, religiöse, moralische oder persönliche Elemente verwässert oder überlagert werde: „In spite of occasional ‚deviations‘, however, power politics has asserted itself in the long run as predominant in the international realm.“239 Der einmal etablierte Machtwettbewerb unter den Staaten habe, so argumentierte Herz weiter, zwangsläufig dazu geführt, dass Staaten keine machtfremden Überlegungen und Politikkonzeptionen mehr verfolgen könnten, wollten sie ihren Status oder gar ihr Überleben innerhalb des Systems nicht gefährden. 233 Der Begriff tauchte erstmals 1950 auf in: Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 157. 234 Vgl. Herz, The Security Dilemma in International Relations: Background and Present Problems, S. 412. 235 Im Gegensatz zu späteren Publikationen benutzt Herz für die Vertreter einer idealistischen Theorie der Internationalen Beziehungen nicht das Wort „Idealisten“, sondern bezeichnet diese als „Internationalists“, die eine Untergruppe der Idealisten darstellten. Vgl. Herz, Power Politics and World Organization, S. 1041. 236 Ebd., S. 1039. 237 Herz, The Nation-State and the Crisis of World Politics, S. 7. 238 Vgl. Herz, Power Politics and World Organization, S. 1039. 239 Ebd., S. 1040.

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Schon hier, acht Jahre bevor Herz die Vokabel vom „Sicherheitsdilemma“ schuf, kreisten seine Überlegungen um dessen zentralen Gedanken, nämlich den Einfluss der Struktur des internationalen Systems auf das Verhalten der Einzelstaaten.240 So schrieb Herz weiter: „Any proposal for a reform of the system has to start from a realization of the compulsion which the system exerts upon each member and the inescapability which it implies as far as the policies of each single unit are concerned.“241 Herz erwies sich folglich schon 1942 als Systemtheoretiker. Seiner Meinung nach hatte die Struktur des Systems Auswirkungen, die von dem jeweiligen Innenleben der Systemmitglieder unabhängig waren. Die Struktur überwölbte die Mitgliedstaaten und legte ihnen bestimmte Verhaltensweisen – konkret die Verfolgung von Machtpolitik – auf, wobei die einzelnen Mitglieder keine andere Wahl hatten, als ihre Politik nach den Bedingungen des Systems auszurichten.242 Damit nahm Herz den zentralen Gedanken Kenneth Waltz’, nämlich, das internationale System zu dem entscheidenden Bestimmungsfaktor der internationalen Beziehungen zu erheben, schon 1942 vorweg.243 Wie kein anderer der frühen Realisten steht Herz aus diesem Grunde dem später entwickelten Neorealismus nahe, dessen gesamte Argumentation auf diesem Punkt aufbaut. Herz führte weiter aus: Der Macht-Wettbewerb zwischen den Einzelstaaten habe in der Vergangenheit entweder zur Vorherrschaft eines einzelnen Staates, also dem Aufstieg eines Hegemons, oder zur Entstehung eines internationalen Gleichgewichtssystems geführt. Während Hegemonie für die Stabilität des internationalen Systems seiner Meinung nach verheerend war und großes Eskalationspotential bot, beurteilte er Gleichgewichtspolitik positiv. Nur durch das – wenn auch prekäre – Gleichgewichtssystem, welches sich nach 1648 in Europa entwickelt habe, sei es zur Aufrechterhaltung eines multipolaren internationalen Staatensystems mit autonomen Einheiten 240 241

Vgl. Herz, The Nation-State and the Crisis of World Politics, S. 7 f. Herz, Power Politics and World Organization, S. 1040 (Hervorhebungen durch

J. P.). 242

Dieser Punkt wird später noch einmal besonders deutlich formuliert in Herz, Die amerikanische Sicherheitspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 8/1967, S. 625–629, S. 628 f. Hier schreibt Herz, auf dem „Gebiet der allgemeinen Struktur der Staatenwelt“ befänden sich „einige der ‚causae primae der auswärtigen Politik‘“. Er wendete sich in diesem Aufsatz gegen das von Ernst-Otto Czempiel vorgebrachte Argument, innenpolitische Faktoren, insbesondere das Regierungssystem, seien ausschlaggebend für die Gestaltung von Außenpolitik. Stattdessen betonte er die Wichtigkeit struktureller Faktoren, die seiner Meinung nach die innenpolitischen Faktoren deutlich an Wichtigkeit überträfen. 243 Auch Gert Krell rückt Herz’ Ansatz „schon in die Nähe des Neorealismus (auch struktureller Realismus), den Kenneth Waltz ausgearbeitet hat.“ Vgl. Krell, S. 137.

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gekommen. Gleichgewichtspolitik habe es diesen Einheiten außerdem erlaubt, ihre eigene kulturelle Identität als „Nationen“ zu entwickeln. Hierin bestanden in Herz’ Augen die beiden großen Verdienste des klassischen Balance-of-Power-Systems.244 Im Zuge des Aufkommens eines extremen Nationalismus in Europa sowie insbesondere des Ausbruchs zweier Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe das System diese beiden Funktionen nun nicht länger erfüllen können. Es habe nicht nur total versagt, sondern die Entwicklungen sogar selbst herbeigeführt.245 Die ständig zunehmende Interdependenz zwischen den Staaten, insbesondere ihre wirtschaftliche Abhängigkeit voneinander, habe, wie Herz bemerkte, nicht wachsende Kooperation und die Sicherung des internationalen Friedens begünstigt, wie dies die Idealisten vorausgesagt hätten. Im Gegenteil: Unter dem Eindruck eines weltweiten Machtkampfes könne es sich kein Staat nunmehr leisten, sich von einem anderen Staat in irgendeiner Weise abhängig zu machen. Er müsse deshalb danach streben, immer mehr Macht anzuhäufen, immer größere Gebiete zu kontrollieren, um das Gefühl zu haben, unabhängig, und damit vor dem Übergriff durch andere Staaten in Sicherheit, zu sein. 244 Genau wie Herz hat eine Vielzahl von Realisten die europäische Gleichgewichtspolitik des 18. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt theoretischer Analyse der internationalen Beziehungen gemacht. Hans J. Morgenthau und Henry Kissinger sind nur zwei der prominentesten Beispiele. Es soll an dieser Stelle jedoch ausdrücklich darauf verwiesen werden, dass in der historischen Forschung völlig umstritten ist, in welchem Maß damalige Politiker tatsächlich irgendwie geartete Gleichgewichtsvorstellungen zur Richtschnur ihres politischen Handelns erhoben. Heinz Duchhardt kommentiert: „Die Forschung ist in diesem Punkt der sog. internationalen Handlungserklärungen sehr kontrovers, vor allem was die angebliche oder tatsächliche Gleichgewichtspolitik britischer Politiker betrifft. Aber selbst wenn angenommen wird, dass Männer wie Bolingbroke, Stanhope oder vor allem König Wilhelm III. in der Perspektive von Gleichgewicht dachten und Balance als ein politikleitendes Modell anerkannten: dass Gleichgewicht etwas mit Statik und Bewahrung eines fixen Status quo zu tun hätte, haben sie wohl niemals in Erwägung gezogen“. So Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen; Bd. 4), Paderborn et al. 1997, S. 17. Duchhardt sieht in der Balance vielmehr ein „allgegenwärtiges Interpretament, wobei die Autoren freilich . . . darin differieren, ob sie das Gleichgewicht als Ziel und Regel außenpolitischen Handelns verstanden oder aber als Ideologie im Sinn einer realitätsverdeckenden Augenwischerei der politisch Verantwortlichen bzw. als Prinzip der Entscheidungsträger, mittels einer Formel die politische Wirklichkeit zu rationalisieren. Siehe ebd., S. 13. Zur Interpretation der europäischen Gleichgewichtspolitik durch die genannten Autoren vgl.: Hans J. Morgenthau, Macht und Frieden. Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik, Gütersloh 1963, insbesondere IV. Teil (S. 145 ff.) und Henry Kissinger, A World Restored. Castlereagh, Metternich and the Restoration of Peace, 1812–1822, Boston 1957. 245 Vgl. Herz, Power Politics and World Organization, S. 1040.

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Die Crux dieses Bestrebens bestand nun für Herz darin, dass in einer globalisierten Welt kein einzelner Staat seine Sicherheitsinteressen befriedigen könne, ohne die Sicherheitsinteressen eines anderen Staates dadurch zu verletzen.246 Hier wendete Herz das „Nullsummenspiels“ an, ohne es jedoch beim Namen zu nennen. Interessant ist, dass Herz eine klassisch idealistische Argumentation, nämlich, dass wachsende weltweite Interdependenz die Stabilität des internationalen Systems automatisch begünstigt, umdreht und in ihr Gegenteil verkehrt: „[I]nstead of making for peace and world order, it brought a struggle of powers to dominate the world in order to be secure from the world.“247 Im Machtkampf innerhalb des internationalen Systems sah Herz außerdem einen der zentralen Gründe für das Aufkommen von totalitären Systemen in Europa. Mag dieser Zusammenhang auf den ersten Blick eher unkonventionell erscheinen, so entbehrt Herz’ Argumentation nicht einer gewissen Logik: Aus den begrenzten bzw. gehegten Kriegen der Vergangenheit war im 20. Jahrhundert nunmehr der „totale Krieg“ hervorgegangen. Eine Zeit des Friedens, so Herz’ Gedanke, gab es nicht mehr, da sie der Vorbereitung für künftige Kriege diente. In der Konsequenz befanden sich alle Staaten in der einen oder anderen Weise in einem permanenten Kriegszustand, der jeden Aspekt des politischen, kulturellen oder ökonomischen Lebens bestimmte. Da moralische oder ethische Bedenken die Kriegsvorbereitung hinderten oder beeinträchtigen konnten, mussten die Staaten bestrebt sein, die innerhalb einer zivilisierten Gesellschaft entwickelten Grundwerte und ethischen Standards zugunsten einer „fascistization of man and mind“248 zu ersetzen: „Power competition drives remaining non-totalitarian states into entering the same route.“249 Ganz in realistischer Tradition verfiel Herz daher nicht zurück in den Fortschrittsoptimismus des beginnenden 20. Jahrhunderts, sondern kam zu einer pessimistischen Bestandsaufnahme der bisherigen Geschichte: Diese habe gezeigt, dass nicht weniger Konflikte und Kriege zu beobachten seien, sondern dass sich Wettbewerb und Kampf von kleinen auf immer größere Einheiten ausgebreitet hätten. Kriege und Konflikte seien aus dem menschlichen Zusammenleben nur schwer wegzudenken. Die Ausweitung der Kampfzone bringe allerdings, so Herz, letztlich die Gefahr der Ausrottung der gesamten menschlichen Rasse mit sich. 246 Das Wort „Globalisierung“ kommt bei Herz so noch nicht vor. Er selbst benutzte in seinem Aufsatz den Ausdruck „shrinking world“, gemeint ist aber dasselbe Phänomen. Vgl. Herz, Power Politics and World Organization, S. 1041. 247 Ebd. 248 Ebd., S. 1042. 249 Ebd.

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An dieser Stelle zeigt sich, wie sehr das „Überlebensmotiv“ das Herzsche Denken schon hier durchzogen hatte, noch bevor es im Zuge der Nuklearisierung der internationalen Beziehungen in den 1950er Jahren zum Leitmotiv seiner Schriften werden sollte. Seine Weltsicht wurde zunehmend schwärzer, sein Glaube an den baldigen Untergang der Menschheit immer ausgeprägter. Herz selbst schrieb dazu: „The pessimism characterizing my later writings began prior to the explosion of the atomic bomb.“250 Dieser Pessimismus wurde zu einem roten Faden, der sich durch alle weiteren Manuskripte zog. In einem Brief an seinen ehemaligen Lehrer Fritz Grüters kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begründete Herz seinen Mangel an Hoffnung wie folgt: „Was Sie meine ‚Hoffnungsarmut‘ nennen ist, glaube ich, nicht konstitutionell bedingtes Schwarzsehen – an sich bin ich wohl eher optimistisch veranlagt – sondern mehr und mehr die Überzeugung, dass Leute wie Spengler oder Toynbee, obwohl der eine zu dogmatisch, der andere zu fatalistisch – mit ihrer Prognose, die jetzige Weltzeit betreffend, recht zu behalten scheinen, dass unsere Zivilisation sich an ihren eigenen Widersprüchen festgerannt hat und anscheinend keinen positiven Ausweg findet.“251

Herz’ eklatanter Pessimismus stand jedoch nie für sich allein. Zu ihm gesellte sich stets ein optimistisches Element, welches auf Besserung in Aussicht stellte.252 Wissenschaftlich zeigte sich dies so: Nachdem Herz sich im Laufe der 1930er Jahre von Kelsens Gebot einer reinen Lehre distanziert hatte, trat in diesem Aufsatz nun die vordem erwähnte Zweiteilung des Herzschen Vorgehens zutage. Vor allem in den Sozialwissenschaften, so Herz im Interview, sei es ihm darauf angekommen, „die Wissenschaft nicht nur als das Erkennen dessen, was objektiv gegeben ist, zu behandeln, sondern sich danach zu fragen: Was kann getan werden?“253 Er wollte konkrete Handlungsempfehlungen geben, die deutlich machen sollten, welche Politik aufgrund der objektiv gegebenen Umstände die beste zu sein schien. Damit erweiterte er sein Wissenschaftsverständnis um eine klar normative Komponente und passte sich auch dem policy-orientierten amerikanischen Forschungsansatz an. Ausgehend von der oben skizzierten realistischen Bestandsaufnahme der Wirklichkeit machte er sich nun Gedanken über ein mögliches „Sollen“, na250

Herz, The Nation-State and the Crisis of World Politics, S. 8. John H. Herz an einen unbekannten Empfänger (vermutlich Fritz oder Otto Grüters), in einem Brief unbekannten Datums (vermutlich zwischen 1945 und 1951), Box 28, Herz Papers. 252 Dieser „Pessimismus cum Optimismus“, wie Ivo D. Duchacek ihn nannte, trieb Herz immer wieder dazu an, trotz realistischer Analysen auf eine bessere Welt hinzuarbeiten. Vgl. Ivo D. Duchacek, Grußadresse anlässlich des 70. Geburtstages von John H. Herz, in: Europäische Ideen, Heft 41/1978, S. 13–15, S. 13. 253 Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 1. 251

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mentlich die Konstruktion einer besseren Weltordnung. Wie konnte und wie sollte man die Beziehungen zwischen den Staaten nach einem hoffentlich baldigen Sieg der westlichen Alliierten über Nazi-Deutschland organisieren, um einen weiteren Weltkrieg zu vermeiden? Zunächst plädierte Herz dafür, den „Machtfaktor“ zur Grundlage aller Überlegungen auch für die Zeit nach dem Krieg festzuschreiben, da die internationalen Beziehungen mehr als jemals zuvor von Misstrauen und Ängsten der Staaten um die eigene Sicherheit geprägt sein würden. Anschließend widmete er sich drei unterschiedlichen populären Vorschlägen hinsichtlich einer Neugestaltung der internationalen Ordnung und untersuchte diese auf ihre Anwendbarkeit und Plausibilität: Der erste viel erörterte Vorschlag kam aus der Denkschule der Idealisten. Er stellte das Selbstbestimmungsrecht und die Souveränität der Einzelstaaten in den Mittelpunkt der Argumentation. Dieser Vorschlag sah vor, an den guten Willen und die Ehrlichkeit der Staaten zu appellieren und sie zu einer freiwilligen negativen Selbstverpflichtung zu bewegen, die darin bestehen sollte, von solchen Verhaltensweisen abzusehen, die den Ausbruch von Gewalt befördern würden. Diese Idee war nach Herz in Anbetracht der Verfasstheit des internationalen Systems wenig Erfolg versprechend, da sie de facto den Karren vor das Pferd spannte. Jede von den Einzelstaaten erwartete negative Selbstverpflichtung beinhaltete letztlich den Verzicht auf Macht, was in einem von Macht dominierten System gleichbedeutend mit Selbstmord war.254 Der zweite, ebenfalls bei einigen Idealisten prominente Vorschlag sah vor, eine supranationale Autorität in Form einer Weltregierung zu etablieren, dem sich die Einzelstaaten unterordnen sollten. Herz hielt eine solche Entwicklung damals keineswegs für utopisch,255 wenn auch für fast nicht durchsetzbar, da nationale Loyalitäten und Identitäten zugunsten eines neuen internationalen Verständnisses aufgegeben werden müssten: „Nothing short of an ideological and spiritual revolution would be required in order to eradicate ‚nationalism‘ from the minds in favor of ‚world patriotism‘.“256 Die Etablierung einer Weltregierung beinhaltete für Herz allerdings noch lange nicht die Abschaffung des Machtfaktors aus den internationalen Be254

Vgl. Herz, Power Politics and World Organization, S. 1043–1045. Dies änderte sich allerdings im Laufe seines Lebens. Im März 1989 sagte Herz in einem Vortrag an der Bundeswehruniversität in Hamburg folgenden Satz: „Solange wir keinen Weltstaat oder eine Weltföderation haben (dies zu erwarten, wäre utopisch, nicht realistisch), bestehen die Interessen der Staaten als Hauptakteure auf der Weltbühne weiter.“ Vgl. „Außenpolitik im Zeitalter des bedrohten Menschheitsüberlebens“ (unveröffentlichtes Manuskript), 1. März 1989, Manuskript im Besitz von Christian Hacke (Hervorhebung durch J. P.). 256 Herz, Power Politics and World Organization, S. 1045 f. 255

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ziehungen, sondern allenfalls seine Bändigung. „Macht“ würde von der Ebene der Einzelstaaten auf eine übergeordnete Ebene verlagert. Während dies jedoch theoretisch zumindest denkbar war, sah Herz die größeren Schwierigkeiten darin, die psychologischen und ideologischen Voraussetzungen zu schaffen, die notwendig waren, um ein solches System funktionstüchtig zu machen.257 Interessanterweise postulierte auch Hans J. Morgenthau schon Mitte der 1930er Jahre den Weltstaat als rationale Notwendigkeit, obwohl er sich genau wie Herz bewusst war, dass sein Postulat bis auf weiteres nicht verwirklicht werden konnte.258 Der dritte und von Herz favorisierte Vorschlag beinhaltete schließlich die Errichtung eines kollektiven Sicherheitssystems in Form eines verbesserten Völkerbundes. Diesen erachtete er als Mittelweg zwischen den beiden oben aufgezeigten Ansätzen und blieb somit auch hier seinem Leitmotiv der Synthese treu.259 Obwohl er mittlerweile auf kritische Distanz gegenüber seinem akademischen Lehrer gegangen war, stimmte Herz in dieser Weltordnungsvorstellung mit Kelsen überein. Auch Kelsen wollte keinen Weltstaat errichten und warnte vor einem utopischen Pazifismus. Er forderte vielmehr die Errichtung einer effektiven, zwischenstaatlichen Organisation auf der Grundlage des Völkerrechts, welche die Mängel des Völkerbundes beheben sollte. Entsprechend schlug Kelsen die Gründung eines verbesserten Völkerbundes vor und verteidigte dies in seinen Genfer Vorlesungen, denen auch Herz gelauscht haben muss.260 Lehrer und Schüler teilten in diesem Punkt also die gleichen Zielvorstellungen, argumentierten jedoch von unterschiedlichen Standpunkten. Während Kelsen an seiner „Reinen Rechtslehre“ und dem Primat des Rechts festhielt, begründete Herz sein Weltordnungsmodell mit realpolitischen Argumenten und dem Primat der Macht. Dies vermag auf den ersten Blick paradox erscheinen. Denn indem Herz auf die Idee der kollektiven Sicherheit zurückgriff, bediente er sich zunächst eines klassisch idealistischen Konzepts, wie es bereits durch Woodrow Wilson nach dem Ende des Ersten Weltkriegs propagiert wurde, und wie es spätestens mit dem Einmarsch Mussolinis in Äthiopien 1935 mit Pauken und Trompeten gescheitert war. Das Besondere an der Herzschen Argumentation ist jedoch, dass er kollektive Sicherheit nicht idealistisch, 257

Vgl. Ebd. Vgl. Frei weist darauf hin, dass Morgenthau zeitlebens an der rationalen Notwendigkeit eines Weltstaates festhielt. Vgl. Frei, S. 149 mit weiteren Nachweisen. 259 Vgl. Herz, Power Politics and World Organization, S. 1046. 260 Vgl. Fassbender, S. 764, S. 768. Im Sommer 1938, also kurz bevor Herz in die USA emigrierte, hielt Kelsen am HEI noch eine Vorlesung mit dem Titel „La révision du Statut de la Société des Nations“. Auch wenn Herz weder in seinen Erinnerungen noch an anderer Stelle explizit davon berichtet, dass er diese Vorlesung gehört hat, so ist dies doch anzunehmen. 258

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sondern realistisch zu interpretieren versuchte. Im Gegensatz zu den meisten Realisten, die das System der Kollektivsicherheit als utopisch abtaten, verstand Herz die Idee der kollektiven Sicherheit als eine moderne Verfeinerung und Institutionalisierung des alten Balance-Systems.261 Kollektive Sicherheit galt ihm als „practical“ und „pragmatic“262. Der Vorteil dieses Vorschlags bestand darin, dass die bestehende Struktur der internationalen Beziehungen, insbesondere die Aufspaltung in souveräne nationale Einheiten, erhalten bleiben konnte. Zugleich aber wurde der Kreislauf, der zu einer extensiven Ausweitung der Machtpolitik zwischen den Staaten geführt hatte, durchbrochen. Hier lag nach Herz der Schlüssel für eine erfolgreiche neue Weltordnung: Die Organisation von „Macht“ sollte in einer Weise erfolgen, die allen Staaten Sicherheit verspreche. Eine Gleichgewichtspolitik, wie sie die europäischen Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg verfolgt hatten, konnte nach Herz’ Argumentation in der Nachkriegsära nicht mehr umgesetzt werden, da kein Staat mehr so mächtig sein würde, die Rolle des weltweiten „Balancers“ einzunehmen, die Großbritannien so lange Zeit innegehabt hatte.263 Diese Rolle sollte nun eine internationale Organisation einnehmen. Kollektive Sicherheit habe in der Vergangenheit nur deswegen nicht funktioniert, weil Staaten nicht bereit gewesen seien, lediglich für abstrakte moralische Prinzipien in den Krieg zu ziehen. Wie jedoch die bittere Erfahrung der 1930er Jahre gezeigt habe, verkörpere sie eben kein abstraktes Ideal, sondern liege im nationalen Interesse aller Staaten. Deshalb stehe die Idee der kollektiven Sicherheit im Einklang mit den realistischen Grundannahmen. Herz wendete also realistisches Vokabular auf ein idealistisches Konzept an. Der Zweite Weltkrieg war seiner Meinung nach ein deutliches Beispiel dafür, dass man „Produzenten“ und „Konsumenten“ von Sicherheit nicht länger unterscheiden könne.264 Der „totale Krieg“ mache vor Landesgrenzen keinen Halt, so dass jeder Staat ein identisches Interesse daran haben müsse, jede Aggression, egal wo sie auf der Welt auftrete, im Keim zu ersticken. Der Hauptgrund für das Scheitern des Völkerbundes in der Zwischenkriegszeit lag in Herz’ Augen darin, dass die Mächte diese „Harmonie ihrer Interessen“ noch nicht ausreichend verinnerlicht und daher mit Appeasement oder Isolation reagiert hätten. Angesichts des Scheiterns dieser Strategien nach 1939 hoffte Herz nun, dass sich die Einsicht in den Nutzen eines kollektiven Sicherheitssystems international durchsetzen würde – Staaten also künftig ihre kurzfristigen, spezifischen und nationalen Interessen 261 262 263 264

Vgl. Herz, Power Politics and World Organization, S. 1047. Beide Zitate Herz, Reflections On My Century, S. 2. Vgl. Herz, Power Politics and World Organization, S. 1046 f. Vgl. ebd., S. 1049.

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zugunsten eines langfristigen, überwältigenden und allgemeinen Interesses an globaler Sicherheit zurückstellen würden.265 Die Anwendung realistischen Vokabulars auf ein ursprünglich idealistisches Konzept kann jedoch nur schwer darüber hinwegtäuschen, dass es im Kern dieselbe Idee blieb, die ihre Kraft aus der Vernunft des Menschen und seiner Fähigkeit zur Einsicht schöpft. Indem Herz argumentierte, die Mächte hätten die angebliche Kongruenz ihrer Interessen nur noch nicht ausreichend verinnerlicht, machte er deutlich, wie sehr seine Überlegungen auf dem Glauben an die menschliche Lernfähigkeit aufbauten. Obwohl Herz seine diesbezüglichen Ideen immer wieder als realistisch klassifizierte, erwies er sich hier vor allem als großer Rationalist, der an das Instrument der Vernunft glaubte, um einen Wandel des internationalen Systems herbeizuführen. Dieses rationalistische Element trat im Aufsatz selbst deutlich zutage: „Turning from power politics to collective security, therefore, means the adoption of a more rational scheme of international relations, just as balance-of-power politics at one time meant a comparatively rational system based on the elimination of certain power-alien elements in favor of raison d’état.“266

Herz übersah an dieser Stelle allerdings, dass Gleichgewichtspolitik klassischerweise nicht auf Vernunft, sondern auf dem sich ausbalancierenden Machtpotential der Antagonisten, nicht zuletzt auf militärischer Gewalt, basiert. Der in seiner Argumentation deutlich erkennbare Rationalismus ist ein typisches Leitmotiv des außenpolitischen Denkens von Herz. Sein Vernunftbegriff geht dabei eindeutig über den rein instrumentellen Vernunftbegriff des Realismus hinaus. Schon in seiner Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus hatte er unter Berufung auf Nicolai Hartmann darauf verwiesen, dass der Geist geschichtlich gesehen noch jung und sein Potential daher vielleicht noch nicht ausgeschöpft sei. Die „Erreichung eines gewissen Maßes geistiger Durchrationalisierung der Menschheit“267 erachtete er daher nicht als utopisch. Dass ein solcher „Zustand ‚noch nie dagewesen‘ sei, halte man dem Versuch seiner Verwirklichung nicht entgegen“268, schrieb Herz 1938. Dies macht deutlich, welch’ großes Vertrauen Herz auch nach 1933 noch in die menschliche Vernunft setzte.269 Dennoch war er wiederum Rea265 Vgl. Herz, Power Politics and World Organization, S. 1049. Vgl. auch Herz, The Nation-State and the Crisis of World Politics, S. 8. 266 Herz, Power Politics and World Organization, S. 1049. 267 Herz, Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus, S. 213. 268 Ebd., S. 214. 269 Darauf verweist Ossip K. Flechtheim, John H. Herz zum 70. Geburtstag, in: Europäische Ideen, Heft 41/1978, S. 3–8, S. 4.

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list genug, um einzusehen, dass Rationalität allein noch nicht den Erfolg des Konzepts bedingte, und es noch lange nicht zu erwarten war, dass sich Menschen auch gemäß ihrer gewonnenen Erkenntnisse verhielten – Herz blieb jedoch optimistisch und hielt allen Skeptikern entgegen: „[M]en sometimes learn from bitter experience.“270 Seine außenpolitische Theorie war mithin von Anfang an darauf angelegt, auf einen Wandel zum Positiven hinzuwirken. Wie verhält sich dieses rationalistische Element nun zum außenpolitischen Realismus? Ein Vergleich mit Morgenthau bringt hier Licht ins Dunkel. Auch in Morgenthaus Ansatz ging es explizit darum, eine „rationale Theorie der internationalen Politik zu entwickeln“271, die den Leitfaden für kluges außenpolitisches Handeln vorgeben sollte. Auch er sah Theorie als „Annäherung an ein Modellsystem“272, die dazu beitragen sollte, „die rationalen Elemente der politischen Wirklichkeit stärker hervorzuheben“273 als diese tatsächlich vorhanden waren. Beide Denker starteten also vom gleichen Ausgangspunkt. Morgenthau beschrieb ihn so: „Wir versetzen uns . . . in die Lage eines Staatsmannes, der ein bestimmtes Problem der Außenpolitik unter bestimmten Voraussetzungen lösen muss, und fragen uns, zwischen welchen denkbaren Alternativen ein Staatsmann, der unter diesen Voraussetzungen mit diesem Problem konfrontiert ist (immer angenommen, dass er rational handelt), zu entscheiden hätte und welche dieser Alternativen dieser Staatsmann unter dem Einfluss der Umstände vermutlich wählen würde.“274

In der Haut des Staatsmannes steckend mussten Morgenthau und Herz allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Der Unterschied zwischen beiden Denkern, der sich bereits in den Anfängen der Herzschen Theorie abzeichnet, ist, dass Morgenthau im Gegensatz zu Herz an die außenpolitischen Akteuren einen viel geringeren Anspruch stellte. Herz glaubte, der Mensch könne einsehen, dass die Verfolgung kurzfristiger Eigeninteressen langfristig zu seinem persönlichen Schaden gereichen würde und er sie daher zu Gunsten eines allgemeinen Interesses zurückstellen müsse. Morgenthau hingegen hielt diese Erwartung für utopisch. Er sprach sich für die Devise „Maximiere Dein Minimum“ aus, d.h. er strebte die aus seinen Augen am wenigsten schlechte Lösung eines Problems an, die aus eigener Kraft erreichbar schien. Er nahm für sich in Anspruch, die unmittelbar vorhandenen nationalen Interessen stets im Blick zu haben, und entwickelte sie zum Mittelpunkt seiner Theorie. Rationale Machtpolitik hieß für 270 271 272 273 274

Herz, Power Politics and World Organization, S. 1049. Morgenthau, Macht und Frieden, S. 53. Ebd., S. 54 (Hervorhebung durch J. P.). Ebd., S. 53 (Hervorhebung durch J. P.). Ebd., S. 50.

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den Realisten Hans Morgenthau das sorgfältige und vernünftige Abwägen verschiedener Optionen durch den für die Außenpolitik zuständigen Staatsmann im Sinne des Nationalinteresses.275 Für John H. Herz hingegen bedeutete rationale Machtpolitik, sich auf die kollektiven Interessen zu konzentrieren, durch die man den Nutzen für den eigenen Staat maximieren konnte. Es erscheint denkbar, dass der Unterschied zwischen beiden Denkern nicht zuletzt auch dadurch begründet ist, dass Morgenthau Herz’ zunehmend apokalyptische Weltsicht nicht teilte. Das oben bereits angesprochene „Überlebensmotiv“ fehlt bei Morgenthau, und damit auch die Alternative „radikaler Wandel oder Untergang“, die das Herzsche Denken zunehmend bestimmte. Doch auch Herz erwartete nicht, dass mit der Etablierung eines neuen Kollektivsicherheitssystems unmittelbar ein friedfertiges, goldenes Zeitalter anbrechen würde. Dazu waren die Mechanismen der klassischen Machtpolitik noch zu stark in den Köpfen der Staatslenker verankert. Dennoch sah Herz durchaus die Chance für eine Transformation des internationalen Systems auf lange Sicht.276 Die Hauptherausforderung eines so neuen Systems bestand seiner Meinung nach darin, Mechanismen zu finden, mit deren Hilfe man zukünftig diejenigen Probleme würde friedlich lösen können, die in der klassischen Epoche der Machtpolitik die Anwendung von Gewalt erfordert hatten. Denn durch die Ächtung von Gewalt zur Lösung politischer Probleme würde der Status quo nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erst einmal gefestigt werden. Um zu verhindern, dass es – wie nach dem Vertrag von Versailles – wieder zu revisionistisch motivierten Kriegen kommen würde, bedurfte es einer völkerrechtlichen Regelung, damit es nicht auf ewig Sieger und Besiegte gab. Nur, wenn die Mitgliedstaaten des internationalen Systems ihre unmittelbaren Ansprüche berücksichtigt sähen, würden sie überhaupt in der Lage sein, ihr kollektives Interesse an einem umfassenden Sicherheitssystem zu erkennen. Herz reagierte hier auf den besonders durch E. H. Carr am Idealismus der Zwischenkriegszeit geübten Vorwurf, die damals propagierte „Harmonie der Interessen“ sei in Wahrheit nur eine Scheinharmonie der Sieger gewesen.277 Eine Kritik, die im Übrigen auch Carl Schmitt teilte.278 „The fundamental issue“279, so bemerkte 275

Vgl. Krell, S. 147. Vgl. Herz, Power Politics and World Organization, S. 1050 f. 277 Carr, S. 51 f.: „It was easy after 1918 to convince that part of mankind which lives in English-speaking countries that war profits nobody. The argument did not seem particularly convincing to Germans, who had profited largely from the wars of 1866 and 1870, and attributed their more recent sufferings, not to the war of 1914, but to the fact that they had lost it.“ 278 Schmitt verwarf den Genfer Völkerbund als eine politische Justiz der Sieger des Ersten Weltkriegs, die nur den Zweck hatte, den Status quo von Versailles rechtlich zu befestigen. Vgl. Carl Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbundes, Berlin 1926. 276

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Herz abschließend, „would be nothing less than finding rational solutions for what rarely, so far, has been regulated in other than irrational ways.“280 Einmal mehr zeigte sich Herz als überzeugter Rationalist. Was Herz 1942 noch nicht voraussehen konnte, war, dass eine weitere grundlegende Bedingung für die Etablierung eines wirksamen und schlagkräftigen Kollektivsicherheitssystems nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gegeben sein würde: „A multiplicity of not-too-unequal powers that could apply effective sanctions even after surprise attack.“281 Mit der Einteilung der Welt in zwei Machtblöcke, die in der Lage waren, sich wechselseitig zu vernichten, war die für Herz notwendige Bildung einer Übermacht zur Eindämmung eines potentiellen Aggressors nicht mehr möglich.282 Weder das klassische Mehrmächtegleichgewicht alteuropäischen Stils noch ein verbessertes System kollektiver Sicherheit konnten unter den gewandelten internationalen Bedingungen Wirkung zeigen.

IV. Vita Contemplativa und Vita Activa in Washington (1941–1952) Die zwölf Jahre, die Herz in Washington verbrachte, standen im Zeichen dreier Eindrücke: seiner Anstellung an einem „Black College“, wo er als Weißer während der Rassentrennung farbige Studenten unterrichtete, seiner Arbeit für das OSS, wo er als „enemy alien“ Nachkriegspläne für ein besiegtes Hitler-Deutschland erstellte, und seinem Besuch der Nürnberger Prozesse, wo er als Ankläger ins eigene Land zurückkehrte. Seine Zeit an der Howard University eröffnete ihm einen Einblick in das schwarze Amerika und versetzte ihn von der Rolle des jüdischen „Untermenschen“ in die des Angehörigen der weißen „Herrschaftsschicht“. Seine Zeit am OSS und seine Reise nach Nürnberg boten ihm die Möglichkeit, die amerikanische Politik aktiv zu gestalten und führten ihm gleichzeitig die Grenzen dieser Möglichkeit vor Augen. Durch seine Arbeit war er gezwungen, sich mit der Frage nach seiner eigenen Identität zu konfrontieren. Insgesamt bedeuteten die Washingtoner Jahre für Herz daher eine Zeit der intensiven Auseinandersetzung mit seiner neuen Heimat sowie insbesondere mit Deutschland und den Deutschen. Der folgende Teil der Arbeit nimmt sich dieses Wanderns zwischen den Welten an und verdeutlicht, wie es Herz’ wissenschaftliche Arbeit motivierte. 279

Herz, Power Politics and World Organization, S. 1052. Ebd. 281 Herz, The Nation-State and the Crisis of World Politics, S. 8. 282 Vgl. Herz, Macht, Mächtegleichgewicht, Machtorganisation im Atomzeitalter, in: Die Friedenswarte, Band 51, Nr. 1/1951, S. 59–64, S. 61. 280

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„I came from a situation of forceful segregation where we were the victims and now suddenly I was on the other side; I belonged not to the oppressed but to the oppressor.“283 (Ernst Moritz Manasse)

1. Ein Weißer unter Schwarzen: Howard University Herz’ Position in Princeton war von vornherein nicht auf Dauer angelegt, sondern nur als Übergangsperiode gedacht. An der Schwierigkeit, eine wissenschaftliche Anstellung in den USA zu finden, hatte sich gegenüber 1938 nichts verändert. Nach wie vor herrschten die Nachwehen der Depression und es gab viel zu viele Bewerber auf viel zu wenige Stellen. Einen Ausweg aus der Misere der Arbeitslosigkeit boten vielen jüdischen Wissenschaftlern zu deren großer Überraschung diejenigen Universitäten, die allein eine afroamerikanische Studentenschaft unterrichteten – die so genannten „Black Colleges“. Diese wurden von den weißen amerikanischen Wissenschaftlern traditionell ignoriert, diente das Unterrichten der „Neger“ nicht gerade als Karrieresprungbrett. Das Arrangement war so von beiderseitigem Vorteil: Die schwarzen Universitäten gewannen die Expertise und die Geistesgaben der jüdischen „Refugee Scholars“. Im Gegenzug boten die Universitäten den jüdischen Professoren ein neues Zuhause, einen Hörsaal voller Studenten und darüber hinaus einen intimen Blick auf ein Amerika, das die meisten Weißen nicht zu sehen bekamen. In dem Dokumentarfilm From Swastika to Jim Crow284 äußert sich Ismar Schorsch, damals Kanzler des Jewish Theological Seminary, über seine jüdischen Kollegen, die in schwarzen Universitäten Zuflucht fanden, wie folgt: „They found a place where they could make a contribution, pursue their intellectual life; they found a place where they could make a difference in American Society.“285 Die profane Tatsache, dass es den jüdischen Akademikern durch ihre dortige Arbeit gelang, ihr Auskommen zu sichern, mag eine mindestens ebenso entscheidende Motivation gewesen sein. Durch die Vermittlung Ossip Flechtheims ergatterte Herz 1941 eine Anstellung an einer der renommiertesten und ältesten Bildungsstätten dieser 283 So der an der schwarzen North Carolina Central University lehrende jüdische Professor Ernst Moritz Manasse, zitiert in: Gabrielle Simon Edgcomb, From Swastika to Jim Crow: Refugee Scholars at Black Colleges, Malabar, Fl. 1993, S. 67. 284 Der einstündige Dokumentarfilm From Swastika to Jim Crow aus dem Jahr 2000 basiert auf dem gleichnamigen Buch von Gabrielle Fischer Edgcomb und wurde von Joel Sucher und Steven Fischler produziert. Regie führten Lori Cheattle und Martin Taub. Eine Kopie des Films befindet sich in Box 27, Herz Papers. 285 Ebd.

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Art, der Howard University in Washington. Howard galt auch als „Black Harvard“ und zeichnete sich dadurch aus, dass die Studenten größtenteils einer kleinen schwarzen Elite entstammten und sie daher viel gebildeter als die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung waren. Howard bot Herz sowohl einen Ausweg aus der drohenden Arbeitslosigkeit als auch die Möglichkeit, weiter als Wissenschaftler zu arbeiten. Als Herz 1941 nach Howard kam, war die Segregation in den USA noch in vollem Gange. Im Zuge der „Jim Crow Laws“ herrschte eine klare Rassentrennung, die alle Bereiche des öffentlichen Lebens, vom öffentlichen Erziehungswesen bis zum Wohnungsbau, umfasste. Nach dem Motto „separate but equal“286 gab es getrennte Toiletten und getrennte Sitzplätze in allen öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln, ja sogar getrennte Wasserhähne an öffentlichen Trinkbrunnen. „Had they come so far in their effort to escape humiliation and degradation only to find it very much alive in the land of the free and the home of the brave?“287 – fragten sich viele der jüdischen Emigranten, als sie auf der Straße plötzlich wieder Schilder mit der Aufschrift „white only“ oder „No dogs, no Negroes“ lesen mussten und sich an den Terror erinnert fühlten, dem sie gerade erst entkommen waren. Die jüdischen Dozenten teilten mit ihren afroamerikanischen Studenten daher die Erfahrung von Diskriminierung aufgrund der eigenen Rasse und das Gefühl des „Andersseins“ inmitten der übrigen Gesellschaft.288 Dies erstreckte sich auch auf ihre Erfahrungen in Amerika, wie Herz in einer Anekdote illustrierte: „There were no white students among the undergraduates. But once I asked a student, ‚aren’t there any white students here?‘ And he said, ‚no, only a few Jews at the medical school‘, which impressed me very much. In other words, there were some white students at (black) medical schools because you had this numerus clausus (quota) in many medical schools, especially for Jews, and so Jews went to that school.“289

Juden und „African Americans“ waren gleichermaßen Randgruppen des amerikanischen Bildungssystems, denen der Zugang zu den Universitäten der White-Anglo-Saxon Protestants, insb. zu denen der „Ivy League“, schwer bis unmöglich gemacht wurde. Beide Gruppen hatten in der ame286 „Separate but equal“ galt in den Vereinigten Staaten als sozialer und juristischer Grundsatz, der von 1896 bis 1954 in den Südstaaten den als Rassentrennung bezeichneten Umgang mit der afroamerikanischen Minderheit und das Verhältnis zwischen den beiden wichtigsten Bevölkerungsgruppen definierte. Obwohl durch den Grundsatz „getrennt aber gleichberechtigt“ offiziell vorgeschrieben war, dass die Leistungen für Weiße und Schwarze hinsichtlich Umfang und Qualität gleich sein sollten, waren sie es in der Realität in der Regel nicht. 287 John Hope Franklin in seinem Vorwort zu Edgcomb, S. iv. 288 Vgl. ebd., S. xiv. 289 Herz im Interview mit Edgcomb, S. 78.

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rikanischen Gesellschaft einen unklar definierten Status, beide litten mehr oder weniger unter der offenen oder versteckten Diskriminierung der herrschenden Schicht. Den jüdischen Flüchtlingen wurde daher besonders von der schwarzen Minderheit häufig offenkundige Empathie entgegengebracht. In einem Leserbrief an die New York Times, der am 3. April 1994 veröffentlicht wurde, schrieb Herz: „Having (barely) escaped from the impending holocaust, a common bond united refugees (for the most part Jewish) and blacks in mutual sympathy as victims of persecution and discrimination. The helping hand stretched out to us by black colleges and black scholars should not be forgotten [. . .] I myself shall forever remember it in gratitude.“290

Im Interview mit Gabrielle Simon Edgcomb betonte Herz diesen Punkt noch einmal in aller Deutlichkeit: „[T]hat was really . . . the main . . . emotional experience which I had, that here were people with whom I could empathize because they were also victims of racial policies and racial persecution.“291 Das Gefühl der Zusammengehörigkeit verwandelte sich in seinem Fall in lebenslange Sympathie für „the blacks and their struggle for emancipation and a life in dignity.“292 Immer wieder thematisierte er in späteren Aufsätzen die Ungleichbehandlung von schwarzen und weißen Amerikanern und setzte sich für die Rechte der „African Americans“ ein.293 Die wechselseitige Sympathie zwischen jüdischen Dozenten und schwarzen Studenten stellt allerdings bei weitem nicht die Regel, sondern eher eine einmalige historische Besonderheit dar.294 Obwohl der liberale Teil des amerikanischen Judentums von jeher die schwarze Bürgerrechtsbewegung unterstützt und auf völlige Gleichberechtigung gepocht hatte, gab es zwischen den beiden Minderheiten auch erhebliche Spannungen, insbesondere in den „integrated neighborhoods“ der amerikanischen Großstädte, die einen regelrechten schwarzen Antisemitismus und eine heftige jüdische Gegenreaktion hervorbrachten.295 In den Erinnerungen des jüdischen Publizis290

Herz im Leserbrief an die New York Times vom 3. April 1994. Herz im Interview mit Edgcomb, S. 79 f. 292 John H. Herz, Political Realism – Can it Survive the Global Survival Threats? Reflections on Realism, old or neo-, and its applicability to a post-cold war ‚new world order‘ (unveröffentlichtes Manuskript), datiert auf März 1992, Scarsdale, Manuskript im Besitz von J. P. 293 Vgl. John H. Herz, Amerika – Land ohne Alternativen? Zur gesellschaftlichen und politischen Krise in den Vereinigten Staaten, in: Politische Vierteljahresschrift, Band 10/1969, S. 170–190, insb. S. 172–174. 294 Zu diesem Urteil gelang auch Edgcomb, S. xiv. 295 Vgl. Shlomo Katz (Hrsg.), Negro and Jew: An Encounter in America, New York 1967. 291

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ten Norman Podhoretz an seine Kindheit in Brooklyn – „fearing and envying and hating Negroes“296 – findet sich das Gegenbeispiel zu den Erfahrungen, die Herz in der geschützten Welt von Howard machte. Auch in Howard war das Verhältnis zwischen den „African Americans“ und den weißen jüdischen Hitler-Flüchtlingen jedoch nicht unbelastet und keinesfalls auf Augenhöhe. Denn obwohl es auch für Juden schwierig war, an amerikanischen Universitäten aufgenommen zu werden, bildete ihre Hautfarbe für Schwarze ein absolutes Ausschlusskriterium: „Cambridge could make a Jew indistinguishable from an Anglo-Saxon Protestant, but not even Harvard could make a black man white.“297 Erst der vor dem Supreme Court 1954 verhandelte Fall „Brown vs. Board of Education“ markierte de jure das Ende der rechtlich sanktionierten Rassentrennung zumindest an staatlichen Schulen in den Vereinigten Staaten. Darüber hinaus verfügten die Angehörigen der jüdischen Minderheit in der Regel über ein weitaus höheres Einkommen und bessere Aufstiegsmöglichkeiten als diejenigen der schwarzen Minderheit. Schließlich waren antisemitische Ressentiments – obwohl vorhanden – bei weitem nicht so verbreitet wie die Vorbehalte, die man gegenüber den „Negern“ hatte. Die jüdischen Wissenschaftler fanden sich auf einmal auf der anderen Seite wieder, sie waren plötzlich keine „Untermenschen“ mehr, sondern Weiße während der noch immer herrschenden Segregation. Herz befand sich daher in einer Art doppeltem Exil: Zum einen war er Ausländer in einem fremden Land, zum anderen war er zerrissen zwischen seiner schwarzen Arbeits- und seiner weißen Lebenswelt. Dies machte ihm die vollständige Integration in die amerikanische Gesellschaft zunächst schwer. Dennoch behielt er die an der Howard University verbrachten Jahre, insbesondere das ausgesprochen gute Verhältnis zu seinen Studenten und den anderen Fakultätsmitgliedern, rückblickend in guter Erinnerung. Howard hatte sich für ihn als Glücksfall herausgestellt: „It was a great good luck of mine to find my first teaching job at a Black university where I felt I had so much in common with teachers and students.“298 Allerdings lehrten an der Howard University nur wenige renommierte Kapazitäten auf ihrem Gebiet. Obwohl die Qualität der Lehre und der Lernenden gut war, vermisste Herz nach einer Weile die Exzellenz und die damit einhergehende intellektuelle Stimulation seiner Anfangsjahre in Princeton. „Intellektuell war Howard wenig anregend“299, schrieb er in seiner Autobiographie. 1943, als 296 Norman Podhoretz, My Negro Problem – And Ours, in: Commentary, February 1963, S. 93–101, S. 99. 297 Edgcomb, S. 5. 298 Herz im Interview im Dokumentarfilm From Swastika to Jim Crow. 299 Ebd., S. 146.

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sich die Reihen der Studenten auch an der Howard University zunehmend lichteten, weil sie in den Krieg zogen, begann Herz daher, sich nach einer neuen Herausforderung umzusehen und sollte bald darauf fündig werden. „There we were, so-called ‚enemy aliens‘, permitted to work in one of the most sensitive war agencies.“300 (John H. Herz)

2. Ein „Enemy Alien“ im Krieg gegen Deutschland: Office for Strategic Services Nach dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 benötigte die expandierende Washingtoner Kriegsbürokratie zunehmend Fachleute für europäische Rechts- und Sozialfragen. Insbesondere der Bedarf an Deutschlandexperten wuchs stetig und konnte kaum mehr befriedigt werden. Dies führte dazu, dass eine Reihe von Behörden grundsätzliche Bedenken bezüglich der Beschäftigung von „enemy aliens“ über Bord warfen und begannen, emigrierte deutsche Wissenschaftler zu beschäftigen. Aufgrund ihrer Kenntnisse des Feindgebietes und ihrer durch die Emigration erwiesenen Gegnerschaft zum nationalsozialistischen System waren die Emigranten in besonderer Weise befähigt, die amerikanische Regierung hinsichtlich des gegenwärtigen und zukünftigen Umgangs mit Deutschland zu beraten. Dazu kam, dass viele der jüdischen Emigranten den Wunsch hegten, sich im Kampf gegen Hitler und den Nationalsozialismus aus dem Exil heraus zu engagieren. Sie empfanden ihre Tätigkeit für eine amerikanische Regierungsbehörde als Chance, endlich etwas tun zu können, um dasjenige System zu bekämpfen, das ihnen die Heimat geraubt hatte. Zugleich sahen sie es als moralische Pflicht an, Amerika zu dienen. Dies motivierte auch Herz, der in seiner Autobiographie schrieb: „Ich wollte, was ich nur konnte, zum Sieg meines neuen Heimatlandes beitragen.“301 Außerdem ging es ihm, wie er selbst betonte, auch darum, die amerikanische Besatzungspolitik nach einem Sieg über Deutschland mitzugestalten und die Demokratie zurück in die Heimat zu bringen.302 Dies 300 John H. Herz, unveröffentlichtes Manuskript der Rede anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes im Jahre 1975, ohne Titel, ohne Ort, ohne Datum [vermutlich 1975], Herz Papers. 301 Herz, Vom Überleben, S. 135. 302 Vgl. Herz, An Internationalist’s Journey, S. 251 f. Vgl. auch Alfons Söllner, Wissenschaftliche Kompetenz und politische Ohnmacht. Deutsche Emigranten im amerikanischen Staatsdienst 1942–1949, in: Thomas Koebner/Gert Sautermeier/ Sigrid Schneider (Hrsg.), Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939–1949, Opladen 1987, S. 136–150, hier S. 139.

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führte dazu, dass die Kriegsbehörden zu Sammelbecken renommierter deutscher Wissenschaftler wurden. Insbesondere im Office for Strategic Services,303 dem Vorgänger der heutigen Central Intelligence Agency (CIA), fanden viele Emigranten Verwendung.304 Unter ihnen war auch Herz, der für die Anstellung am OSS 1943 sowohl die Möglichkeit ausschlug, als „Research Assistant“ nach Yale zu gehen, als auch ein bereits bewilligtes Forschungsstipendium zum Studium von demographischen Problemen der internationalen Politik nicht annahm.305 Sein Verzicht auf beide Möglichkeiten zugunsten seiner Tätigkeit für die amerikanische Regierung illustriert durchaus, wie wichtig ihm die Arbeit für das OSS gewesen sein muss. Zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben war er nicht nur ein bloßer Betrachter, sondern ein paar Jahre lang, wenn auch in winzigem Maße, aktiv an der Gestaltung der Weltpolitik beteiligt. Herz wurde Teil des „Research and Analysis Branch“ (R&A), der sich hauptsächlich mit der Nachrichtenaufbereitung des Feindgebiets und der Erstellung von Plänen für eine künftige Besatzung Deutschlands beschäftigte. Die Aufgaben des R&A erstreckten sich auf die Analyse der militärischen, politischen und gesellschaftlichen Situation der feindlichen Staaten. Herz arbeitete für die Mitteleuropäische Abteilung (Central European Section), die von Franz Neumann geleitet wurde und unter anderem auch Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer, Felix Gilbert und Hajo Holborn sowie viele weitere Emigranten aus Deutschland und Österreich beschäftigte. Auf Seiten der Amerikaner fanden sich hier die „Spitzenkräfte der sozialwissenschaftlichen Fakultäten der US-Universitäten“306, insbesondere der Ostküste, versammelt. Diese Ansammlung brillanter Köpfe, „die Crème de la Crème der späteren amerikanischen Sozialwissenschaft“307, 303 Anders als in Großbritannien fehlte in den USA eine dem „Secret Intelligence Service“ entsprechende Stelle. Das wachsende Bedürfnis nach einer Bündelung von logistischen und strategischen Informationen führte 1941 zur Gründung des Office of the Coordinator of Information, das ein Jahr später in das OSS umgewandelt wurde. Dessen Leiter William Donovan richtete es als auslandsnachrichtendienstliches Informationsbüro ohne operative Befugnisse aus, um konkurrierende Zuständigkeiten gegenüber anderen Kriegsbehörden zu vermeiden. Vgl. Robin W. Winks, Cloak & Gown. Scholars in the Secret War 1939–1961, New York 1988, S. 60–115. 304 Der Frage nach der Bedeutung der jüdischen Emigranten für die Kriegsbehörden ist vielfach nachgegangen worden. Vgl. insbesondere Alfons Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Analysen politischer Emigranten im amerikanischen Geheimdienst, Band 1: 1943–1945, Frankfurt am Main 1982 und Barry M. Katz, Foreign Intelligence. Research and Analysis in the Office of Strategic Services 1942–1945, Cambridge, Mass./London 1990. 305 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 134. 306 Stiefel/Mecklenburg, S. 150. Viele Mitarbeiter der etablierten Behörden spotteten daher über den „Campus“, der das OSS in ihren Augen war. 307 John H. Herz zitiert in: Rainer Erd (Hrsg.), Reform und Resignation. Gespräche über Franz L. Neumann, Frankfurt am Main 1985, S. 156.

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die in der Literatur auch als „galaxy of academic stars“308 bezeichnet wird, zeichnete sich durch eine „nicht unproblematische Eigen- bzw. Einzigartigkeit“309 aus. Während Neumann, Marcuse und Kirchheimer aus dem der Kritischen Theorie verpflichteten Frankfurter Institut für Sozialforschung stammten und alle drei mehr oder weniger neomarxistischen Konzeptionen anhingen,310 standen auf der anderen Seite der Meinecke-Schüler Fritz Gilbert und einige meist liberal-demokratisch gesinnte amerikanische Historiker und Sozialwissenschaftler. Herz befand sich wie so oft in der Mitte. Er war der dezidiert Liberale der Gruppe311, wenn er auch mit der Sozialdemokratie sympathisierte.312 Zu den unterschiedlichen politischen Einstellungen innerhalb der Gruppe kam hinzu, dass hier wieder das amerikanische und das europäische Verständnis von Sozialwissenschaft diametral aufeinander trafen.313 Petra Marquardt-Bigman bemerkt dazu: „In ihren Weltanschauungen wie ihrem Wissenschaftsverständnis repräsentierten die Mitarbeiter der Central European Section im wahrsten Sinne des Wortes verschiedene Welten.“314 Neben allen Unterschieden wurde die „seltsame Gruppe von Menschen“315 jedoch zusammengehalten durch das große gemeinsame Ziel – die Niederwerfung des Nationalsozialismus, dem sich jeder unterordnete.316 Dies führte zu einer hohen Bereitschaft, konstruktiv zusammenzuarbeiten. Verstärkt wurde diese Tendenz durch die Gepflogenheit, Stu308 Steward Alsop/Thomas Braden, Sub Rosa. The O.S.S. and American Espionage, New York 1946, S. 18. 309 Petra Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942–1949, München 1995, S. 70. 310 Dazu bemerkt Herz treffend: „Es war, als hätte sich der linkshegelianische Weltgeist vorübergehend in der Mitteleuropäischen Abteilung des OSS angesiedelt.“ Herz, Vom Überleben, S. 136. 311 In diesem Sinne Söllner, Wissenschaftliche Kompetenz und politische Ohnmacht, S. 141. 312 Dies geht aus dem Interview hervor, das Herz mit Rainer Erd geführt hat. Vgl. die entsprechenden Zitate von Herz in: Erd, S. 155 ff. 313 Herz illustriert dieses Aufeinandertreffen qualitativer und quantitativer Forschungsansätze schön, indem er seine Begegnung mit einem jungen amerikanischen Studenten beschreibt, der ein großer Anhänger der quantitativen Inhaltsanalyse war: „My first encounter with a content-analyzer was when I worked in one of the war agencies during World War II and a young and eager student fresh from Harold Lasswell’s seminar suggested searching utterances by Hitler and assorted other Nazi leaders for their strategic intentions.“ Mit diesem Vorschlag konnte Herz allerdings wenig anfangen: „I doubt whether it helped curtail the war by one hour.“ Vgl. Herz, Relevancies and Irrelevancies in the Study of International Relations, S. 32. 314 Marquardt-Bigman, S. 70. 315 Herz, Vom Überleben, S. 136. 316 Vgl. Erd, S. 154.

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dien als Gruppenprojekte zu erstellen und sie in ihrer endgültigen Form als anonymes Abteilungsprojekt in Umlauf zu bringen.317 Alfons Söllner sieht hier die Anfänge jenes „Kompromissprozesses“318, „der auf längere Sicht zur Verschmelzung deutscher und amerikanischer Wissenschaftstraditionen führte.“319 Während der Zeit ihres Bestehens produzierte die Abteilung Hunderte von Berichten über alle denkbaren Aspekte des nationalsozialistischen Deutschland.320 Ihre Dienste wurden von zahlreichen Regierungsbehörden in Anspruch genommen. Herz und seine Kollegen waren hauptsächlich damit beschäftigt, „Civil Affairs Guides“ und ein mehrbändiges „Civil Affairs Handbook“321 zu erstellen, welche Leitlinien für die nach der Befreiung Deutschlands zu errichtende US-Militärregierung enthielten. Das Programm für die Militärverwaltung in Deutschland behandelte insbesondere die Themen Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Errichtung einer demokratischen Regierung. Im Interview mit Rainer Erd kommentierte Herz seine Tätigkeit wie folgt: „[D]as war die Chance, die wir sahen, den Amerikanern klarzumachen, was in Deutschland zu tun war.“322 Die von der Mitteleuropaabteilung entwickelten Leitlinien folgten einer liberalen Perspektive. Ihre Verfasser glaubten daran, „ein demokratisches Deutschland jenseits von Agrarisierung, aber auch jenseits des westlichen Kapitalismus schaffen zu können – ein Deutschland mit einer demokratischen Verfassung, die alle Optionen vorläufig offen lassen würde.“323 Es ging ihnen um eine Art angelsächsische Demokratie, die sozialistische Elemente nicht 317 Herz schrieb diesbezüglich: „Whenever something like a guide or a hand book chapter was to be written, the work and the result were much more ‚collective‘, i. e. the product of discussion, arguments, and consensus of those concerned, than is commonly believed.“ Vgl. Herz an Barry M. Katz, 3. Februar 1984, Box 2, Correspondence 82–84 [Ordner], Herz Papers. Die meisten R&A-Studien können daher keinem einzelnen Autor zugeordnet werden. Allerdings findet sich in den Herz Papers in Albany ein Schriftstück mit dem Vermerk „confidential“, aus dem genau hervorgeht, welche Schriften Herz alleine oder zusammen mit anderen verfasst hat. Vgl. John H. Herz, „Statement of Work and Activities in OSS“ (unveröffentlichtes Manuskript), ohne Ort, ohne Datum [wahrscheinlich Washington, D. C. 1948], Box 15, Herz Papers. 318 Söllner, Wissenschaftliche Kompetenz und politische Ohnmacht, S. 144. 319 Ebd. Vgl. ferner Stourzh, S. 61. 320 Ende 1945 wurde die Forschungsabteilung (R&A) des OSS dem State Department als dessen Forschungs- und Nachrichtenzweig angegliedert. Der Großteil des OSS ging in der CIA auf. 321 Hier war Herz beispielsweise für die Sektionen „Government and Administration“, „Labor“ und „Public Safety“ zuständig. 322 Herz, zitiert in: Erd, S. 154. 323 Herz zitiert in: Söllner, Wissenschaftliche Kompetenz und politische Ohnmacht, S. 140. Im Gespräch mit Rainer Erd äußerte sich Herz eher dahingehend,

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ausschloss, sie aber andererseits auch nicht explizit beinhaltete. Wie tragfähig dieser liberal-demokratische Konsensus der Mitteleuropagruppe tatsächlich gewesen wäre, mag an dieser Stelle dahinstehen.324 Viel entscheidender waren die Differenzen zwischen den von der Gruppe entwickelten Leitlinien und der tatsächlichen Deutschlandpolitik der Amerikaner nach 1945. Schon vor Kriegsende hatten die R&A-Bediensteten unter der Weigerung des amerikanischen Präsidenten gelitten, die amerikanische Deutschlandpolitik im Vorfeld festzulegen. Die Analytiker hatten geglaubt, mit ihren wissenschaftlichen Studien praktischen Einfluss auf die amerikanische Nachkriegsstrategie nehmen zu können. Sie hatten dabei übersehen, dass das R&A eine reine Dienstleistungsbehörde war, die empirische Informationen aus Deutschland zu analysieren und zu interpretieren hatte, deren Handlungsempfehlungen aber in keiner Weise verpflichtend waren. Die Enttäuschung unter den jüdischen Emigranten war daher groß, als sie schließlich feststellen mussten, dass ihre mühsam am Schreibtisch entwickelten Strategien in der Praxis keine Umsetzung fanden. Der wissenschaftlichen Leistung, verschiedene Wissenschaftskulturen miteinander in Einklang zu bringen und brillante Analysen über die deutsche Gesellschaft in den 1940er Jahren zu verfassen, stand die praktische Nutzlosigkeit dieser Analysen gegenüber. Die Dokumente mit den Richtlinien erreichten die zuständigen Behörden oft viel zu spät, oder sie wurden von den amerikanischen Entscheidungsträgern vor Ort kaum berücksichtigt. Im Interview mit Söllner verlieh Herz seiner Frustration Ausdruck: „Wir hatten ein Memorandum nach dem anderen eingereicht – und die deskLeute, also die Entscheidungsträger in den anderen Abteilungen des State Department, haben sie einfach in den Papierkorb geschmissen. Wir haben nie Reaktionen bekommen, hatten nie das Gefühl, dass überhaupt etwas zur Kenntnis genommen wurde von dem, was wir empfahlen oder wovor wir warnten.“325

Angetreten, um aktiv gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen, mussten sich die Analytiker des R&A wenige Jahre später ihre tatsächliche Wirkungslosigkeit eingestehen. Die Entnazifizierung gestaltete sich in Deutschland zudem in Herz’ Augen als großer Misserfolg – ein „Fiasko“, wie er in einem 1948 erschienenen dass die Gruppe eine „Wiederherstellung der sozialdemokratischen Politik wie in der Weimarer Republik“ angestrebt habe. Vgl. Erd, S. 156. 324 Alfons Söllner vertritt z. B. die These, dass es weit mehr interne Konflikte unter den Mitgliedern der Forschungsgruppe gab, als dieser Kompromiss nahe legt. Neumann, Marcuse und Kirchheimer sei es eigentlich darum gegangen, ihre in Wahrheit viel sozialistischeren Positionen indirekt und im Rahmen einer verdeckt operierenden politischen Strategie umzusetzen. Vgl. Söllner, Wissenschaftliche Kompetenz und politische Ohnmacht, S. 141. 325 Herz zitiert in ebd.

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Aufsatz schrieb.326 In diesem Punkt stimmte Morgenthau völlig mit Herz überein. In einem Brief aus dem Jahr 1949 schrieb Morgenthau an Herz: „I think the facts which you have used justify the most pessimistic conclusions. [. . .] It seems to me that the main and decisive reason lies in the mistaken philosophy of denacification. It was a fundamental mistake to believe that Nazism was a kind of clearly identifiable and separate cancer in an otherwise healthy body. In actuality it was a truly popular movement supported by the great majority of the German people.“327

Die Vorschläge des R&A hatten dementsprechend vorgesehen, den Nationalsozialismus an seinen sozialen Wurzeln zu packen und die deutsche Gesellschaft völlig neu zu ordnen. Als Grundsatz für die Neuorganisation des Staatsapparates galt der Mitteleuropagruppe, dass einer möglichst umfassenden und weit reichenden Entnazifizierung der Vorzug vor einer geordneten Verwaltung gegeben werden sollte. Auch hier waren die amerikanischen Besatzer den Vorstellungen der Mitteleuropagruppe nicht gefolgt, was dazu führte, dass „allgemeine Amnestien erlassen wurden und nichts dabei herauskam“328. De facto wurden große Teile der höheren Verwaltung des Dritten Reiches in das politische System der Bundesrepublik integriert.329 In einem Interview aus dem Jahr 1986 beklagte Herz, dass man viele der kleinen Parteigenossen für einige Zeit interniert oder zu einer Geldstrafe verurteilt habe, während die Untersuchungen und anschließenden Prozesse gegen hochrangige Nationalsozialisten oft vertagt worden seien.330 Zutiefst desillusioniert äußerte sich Herz in seiner Autobiographie abschließend über seine Jahre am OSS: „Nie ist mir klarer geworden, wie wenig das, was die unteren Experten ausarbeiten, dem gleicht, was die oberen Entscheidungsträger schließlich entscheiden. Was an Einzelheiten, Unterscheidungen, Qualifikationen ‚unten‘ erläutert und vorgeschlagen wird, schwindet, vereinfacht oder verändert sich beim Durchgang nach ‚oben‘ so, dass oft das Umgekehrte dabei herauskommt. Die ‚terrible simplificateurs‘ pflegen den oft überbeschäftigten Entscheidenden wie Ministern, Präsidenten, etc. nur das gröbst vereinfachte auf einer Seite vorzulegen von dem, was die gelehrten Experten auf hunderten ausgeklobert hatten.“331

Herz’ einziger Ausflug in die Welt der politischen Praxis endete somit in tiefer Frustration über die Einfluss- und Wirkungslosigkeit dessen, was die 326 Vgl. John H. Herz, The Fiasco of Denazification in Germany, in: Political Science Quarterly, Vol. 63, No. 4 (December 1948), S. 569–594. 327 Hans J. Morgenthau an Herz, 11. Januar 1949, Box 3, unbenannter Ordner, Herz Papers. 328 Herz zitiert in Erd, S. 160. 329 Vgl. Joachim Perels, Das juristische Erbe des „Dritten Reiches“. Beschädigungen der demokratischen Rechtsordnung, Frankfurt/New York 1999, S. 43. 330 Herz im Interview mit Luthardt am 17. Januar 1986. 331 Herz, Vom Überleben, S. 137.

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Gruppe jahrelang ausgearbeitet hatte. Seine investierte Energie erschien ihm verschwendet. Alle vor Kriegsende erdachten Pläne und Leitlinien mussten hinter den realpolitischen Zwängen des Kalten Krieges zurückstehen, spätestens seit die Truman-Doktrin 1947 die amerikanische Deutschlandpolitik bestimmte.332 Als Folge des Ost-West-Konflikts standen für die Amerikaner nicht mehr eine konsequent durchgeführte Entnazifizierung und eine effektive demokratische Umerziehung an vorderster Stelle. Vielmehr ging es darum, den Kommunismus im Osten einzudämmen und die Einheit des Westens unter Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland herzustellen bzw. zu verteidigen – sehr zum Leidwesen von Herz und seinen Kollegen, wie Marquardt-Bigman unterstreicht: „Obwohl gerade R&A stets die Ansicht vertreten hatte, dass die ‚deutsche Frage‘ nur im Rahmen einer europäischen Friedensordnung gelöst werden könne, entsprachen die sich nun abzeichnenden ‚halben‘ – nämlich auf Westeuropa beschränkten – Lösungen so wenig den von der Abteilung mit so viel Engagement vorgetragenen Konzeptionen, dass die ehemaligen R&A-Mitarbeiter, die diese Entwicklung im State Department zu beobachten hatten, kaum viel Freude an ihrer Arbeit gehabt haben dürfen.“333

Angesichts der politischen Entwicklungen der Nachkriegsjahre und gemessen an ihren ursprünglichen Zielen waren die Emigranten aus der Mitteleuropagruppe bei dem Versuch, ihre wissenschaftliche Kompetenz in politischen Einfluss umzuwandeln, gescheitert. Die bittere Erfahrung der eigenen Einflusslosigkeit nannte Herz eine der großen Lehren, die er aus seiner Arbeit für die amerikanische Regierung gezogen hatte: „I learned from this negative experience how vitally important it is to deal effectively with the legacies of authoritarian or totalitarian regimes: purging society of those who had served the regime in important positions and punishing those who, in its service, had committed atrocities – all this not for reason of vengeance but in order to lay sound foundations for new democratic systems.“334

Als Ergebnis seiner Erfahrungen beschäftigte er sich später wissenschaftlich mit diesem Thema, arbeite viel über die Demokratisierung Deutschlands und gab eine große Studie mit dem Titel From Dictatorship to Democracy heraus.335 In den USA wurde er auf diesem Weg zu einem anerkannten Länderexperten für Deutschland.336 332

Vgl. Perels, S. 45. Marquardt-Bigman, S. 218. 334 Herz, An Internationalist’s Journey, S. 252. 335 John H. Herz (Hrsg.), From Dictatorship to Democracy. Coping with the Legacies of Authoritarianism and Totalitarianism, Westport/London 1982; vgl. The Problem of Successorship in Dictatorial Regimes. A Study in Comparative Law and Institutions, in: Journal of Politics, Vol. 14, No. 1/1952, S. 19–40; German Officialdom Revisited: Political Views and Attitudes of the West German Civil Service, in: World Politics, Vol. 7, No. 1/1954, S. 63–83. 333

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Das Gefühl, Berge von Papier allein für den Papierkorb verfasst zu haben, das viele von Herz’ Kollegen mit ihm teilten, veranlasste schließlich einen nach dem anderen, das OSS zu verlassen.337 Bemerkenswert ist, wie viele von Herz’ Kollegen sich ebenso wie er nie wieder in der politischen Praxis betätigten, sondern in Forschung und Lehre gingen, kaum dass sie den Staatsdienst quittiert hatten. Man kann wohl die These aufstellen, dass die Frustration über die in der Praxis gesammelten Erfahrungen sie alle hinter die schützenden Mauern der Universitäten zurücktrieb. Jenseits des Frustrationserlebnisses lassen sich für die wissenschaftliche und persönliche Entwicklung von Herz jedoch zwei große Gewinne verzeichnen. Zum einen konnte er wie zuvor schon in Princeton durch die enge Zusammenarbeit mit amerikanischen Kollegen einen Einblick in die amerikanische Wissenschaftstradition ebenso wie in die amerikanische Gesellschaftswelt erhalten. Stuart Hughes, der späterer Vorsitzender der Emigrantengruppe im State Department wurde, illustriert dies wie folgt: „The subculture of the OSS’s Research and Analysis Branch took the form of an ongoing if ever-interrupted seminar. [. . .] Thus on the one hand, the Research and Analysis Branch provided free of charge a second graduate education to young political scientists, historians, or sociologists who were to go on to become professors at major universities. On the other hand, the émigrés who worked with them enjoyed a rare opportunity to familiarize themselves with American manners and values under conditions that minimized occasions for wounded sensibilities or hurt pride. The interchange succeeded for the very reason that it was unintended: neither side needed to be self-conscious about a process that occurred so naturally that only long after the fact did its importance become manifest.“338

Durch diese Erfahrung wurde die von Herz angestrebte Symbiose zweier Wissenschaftskulturen weiter vorangetrieben. Zum anderen gewann Herz in seinen Jahren am OSS die enge Freundschaft mit Otto Kirchheimer, der ihm neben Ossip Flechtheim zum engsten Freund wurde.

336 Vgl. John H. Herz/Gwendolen Carter/John Ramsey, Foreign Powers: The Governments of Great Britain, France, Germany and the Soviet Union, New York 1957 (Der Band erzielte zahlreiche Auflagen, Übersetzungen und Einzelausgaben zu den Regierungssystemen einzelner Länder); Gwendolen M. Carter/John H. Herz, Government and Politics in the Twentieth Century, New York et al. 1961 (deutsch: Regierungsformen des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1962). 337 In diesem Sinne äußerte sich auch H. Stuart Hughes, ein späterer Vorgesetzter von Herz am OSS: „Aus diesem Grund war die Stimmung sehr schlecht, alle suchten einen Lehrstuhl. Aber es war für die Emigranten sehr schwer, einen Lehrstuhl zu bekommen. Neumann meinte, es sei besser, Professor zu werden, als in Washington zu bleiben und Berichte zu verfassen, die niemand interessierten. Und selbst wenn sie jemand las, tat er das Gegenteil dessen, was wir vorschlugen.“ H. Stuart Hughes zitiert in Erd, S. 168. 338 H. Stuart Hughes, Social Theory in a New Context, S. 118.

IV. Vita Contemplativa und Vita Activa in Washington (1941–1952)

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„John H. Herz, the last to arrive at N., the first (I hope) to leave this Saunest again, im übrigen one of the many who are disguised and fed up with things and events here.“339 (John H. Herz)

3. Ein Ankläger im eigenen Land: Nürnberger Prozesse Obwohl dem OSS bei der Ausgestaltung der amerikanischen Entnazifizierungspolitik im allgemeinen kein zentraler Stellenwert zukam, spielte die Institution unter Leitung von William J. Donovan bei der Vorbereitung und Durchführung der Nürnberger Prozesse eine gewisse Rolle.340 Als Mitglied einer Gruppe von OSS-Leuten wurde Herz Teil des amerikanischen Anklagestabs und reiste kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs erstmals wieder in seine alte Heimat. Das Wiedersehen mit Deutschland und den Deutschen fiel ihm nicht leicht.341 So verbunden er sich auch immer noch mit Deutschland fühlte, die Aussicht auf seine Reise nach Nürnberg weckte in ihm gemischte Gefühle. Auf die Prozesse selbst setzte er allerdings große Hoffnungen: „I feel that if not some kind of retribution would be forthcoming for all this, this world would no longer be worth living in.“342 Am 21. Oktober 1945 bestieg Herz ein Militärflugzeug, das ihn zunächst nach Paris brachte. Dort angekommen nutzte er die erste Gelegenheit, um durch die Straßen der Stadt zu flanieren und die „lieben vertrauten Stellen“343 in Augenschein zu nehmen. Er verglich sich selbst mit einem Durstigen, der nach einer langen Zeit des Darbens die kurze und flüchtige Möglichkeit hatte, sich zu laben.344 An Anne schrieb er: 339

John H. Herz an seine Eltern, 11. November 1945, AR 5625, Box II (AR 5753), Correspondence of Herz from Nuremberg [Ordner 6], Herz-Aschaffenburg Family Collection. 340 Für den Chefankläger Robert Jackson war das OSS allerdings in erster Linie ein nützlicher Hilfsdienst zur Erstellung von Anklagedokumenten und Hintergrundstudien. Vgl. Michael Salter, Nazi War Crimes, US Intelligence and Selective Prosecution at Nuremberg. Controversies Regarding the Role of the Office of Strategic Services, Abingdon 2007, S. 259–269. 341 So John H. Herz an seinen ehemaligen Studenten Uwe Prell, 1. Mai 1990, Correspondence 1989–1991 [Ordner], Box 1, Herz Papers. 342 John H. Herz an Clifford Truesdell, 21. Juli 1945, Correspondence 1989–1991 [Ordner], Box 1, Herz Papers. 343 John H. Herz an seine Eltern, 1. November 1945, AR 5625, Box II (AR 5753), Correspondence of Herz from Nuremberg [Ordner 6], Herz-Aschaffenburg Family Collection. 344 Diesen Vergleich zieht Herz selbst in einem Brief an seine Frau Anne, 22. Oktober 1945, AR 5625, Box II (AR 5753), Correspondence of Herz from Nuremberg [Ordner 6], Herz-Aschaffenburg Family Collection.

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„My first walk was to Ste. Chapelle and Notre Dame; the latter is still better than her ‚sister‘ at W. 110th Street! On Isle St. Louis is enshrined the whole treasure of a once peaceful Europe. It is a city one would like to go back and live. Even the houses around St. Lazare are at first beautiful to look at, after U.S.A.“345

Die europäische Kultur erschien ihm im Vergleich zur amerikanischen eindeutig überlegen, wie auch ein Brief an seine Familie in Louisville offenbart: „Merkwürdig, das erste Wiedersehen mit Europäern macht doch die Amerikaner, im Durchschnitt, als ziemlich grob, laut, ungebildet, bestenfalls als Kinder erscheinen.“346 Einige Tage später erreichte er Nürnberg. Der Anblick der zerstörten Stadt und das erste Wiedersehen mit seinen ehemaligen Landsleuten erschütterten ihn tief. Seiner Frau berichtete er: „I must admit that this first ‚Wiedersehen‘ with our former compatriots was rather niederschmetternd. They grumble and complain without the slightest recognition of their own responsibility; war destruction as well as present conditions are only the fault of the Americans. Nazis and what they did are not defended but played down; and it is all concerned with the small material needs of the day, which of course, to them are big but there was no tone statement of regret about the destruction of the beauty that was N., the thing that strikes one with a tremendous impact. We went, in the dark, through the destroyed heart of the city up to the Burg, and the thing surpasses the wildest imagination. It is not that it is flat: To the contrary, pieces of walls, sometimes a whole fac¸ade, are still standing, it is miles of skeletons of once beautiful churches, homes, etc. side by side without end, and the worst is that from time to time some little piece of a building, some church squire, some Torbogen, is still reminding you of what has been. All this has been done by one night’s and one day’s bombing, and I think that this entirely useless destruction cannot be forgiven. I have much understanding and even feel the urge for revenge, but this did not hit the Nazis, and not even the Germans, or most of them, but only those who had a feeling of the uniqueness of what has been killed here. Thus the first Begegnung had not much which was encouraging. For the rest it is strange to speak German to Germans again.“347

Der Anblick der Ruinen grub sich so tief in sein Gedächtnis ein, dass er ihn später in einer Passage von Political Realism and Political Idealism verarbeitete: „There should be no triumph, even if there is reason for temporary satisfaction, in the ruins of beautiful places, the use of cathedrals as stables, or even the flames which, in consuming a Nazi system, consumed the medieval centers of the German cities. For in such destruction something is always lost which was 345

John H. Herz an seine Frau Anne am 22. Oktober 1945. Herz an seine Eltern am 1. November 1945. 347 John H. Herz an seine Frau Anne, 25. Oktober 1945, AR 5625, Box II (AR 5753), Correspondence of Herz from Nuremberg [Ordner 6], Herz-Aschaffenburg Family Collection. 346

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not the peculiar property of a class or an era but the rightful endowment of all generations.“348

Herz’ spätere obsessive Besorgnis um das menschliche Überleben wird vor diesem Hintergrund deutlich nachvollziehbarer. Wer ein solches Ausmaß an Zerstörung mit eigenen Augen gesehen hat, entwickelt sicherlich eine besondere Sensibilität für Bedrohungslagen und deren mögliche Folgen. In Nürnberg sollte Herz die Vorbereitung der Anklage, insbesondere die damit beauftragten Offiziere, unterstützen. Die Zusammenarbeit gestaltete sich sehr problematisch, was Herz insbesondere darauf zurückführte, dass sich die gestandenen Offiziere nicht von jungen, zumeist jüdischen „Schnöseln“349 aus Mitteleuropa über die Schultern schauen lassen wollten. Überschattet wurde die Arbeit in Nürnberg außerdem durch den allgemeinen Eindruck der Unzulänglichkeit der Prozessvorbereitung und der generellen „dis- and over-organization“350, der unter den beteiligten Emigranten, besonders den Juristen, in den folgenden Tagen entstand. Herz machte seiner Enttäuschung darüber in zahlreichen Briefen Luft. Am 11. November schrieb er: „Es ist alles so schlecht und unzulänglich vorbereitet worden, dass man richtig deprimiert wird, weil aus solch guter Gelegenheit so wenig gemacht wird. Unter den Dutzenden und Dutzenden von American lawyers, die jetzt die verschiedenen Teile des indictments ausarbeiten, ist keiner, der Verständnis hat für die historische Bedeutung dieses Falles, und dass es einen Unterschied macht, ob man einen gewöhnlichen kleinen Verbrecher wegen irgendeiner Missetat anklagt, oder ein ganzes Regime sich vor der Geschichte verantworten soll. Es zerfällt alles in Kleinlichkeit, u. man muss sehr froh sein, wenn nur die rechtlichen Einzelheiten richtig behandelt werden.“351

Das größte Problem bestand darin, dass die Amerikaner keine erfahrenen Anwälte oder Rechtswissenschaftler berufen, sondern die Vertreter der Anklage nach militärischen Gesichtspunkten ausgewählt hatten, was einer professionellen Prozessvorbereitung nicht zuträglich war. Noch nie, so schrieb Herz nach Hause, sei „an einen historisch so bedeutsamen Fall . . . mit solch unzulänglichen Mitteln herangegangen worden.“352 Der ganze Prozess er348

Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 153. Herz, Vom Überleben, S. 140. 350 John H. Herz an seine Frau Anne, 28. Oktober 1945, AR 5625, Box II (AR 5753), Correspondence of Herz from Nuremberg [Ordner 6], Herz-Aschaffenburg Family Collection. 351 John H. Herz an seine Eltern am 11. November 1945, AR 5625, Box II (AR 5753), Correspondence of Herz from Nuremberg [Ordner 6], Herz-Aschaffenburg Family Collection. 352 John H. Herz an seine Eltern, 18. November 1945, AR 5625, Box II (AR 5753), Correspondence of Herz from Nuremberg [Ordner 6], Herz-Aschaffenburg Family Collection. 349

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schien ihm als „galaxy of mediocrities“353. Die OSS-Experten kämen immer nur dann ins Spiel, wenn es bereits zu spät sei. Ihre Ratschläge verhallten zumeist ungehört, worüber sich Herz ausnehmend bitter beklagte. Schweren Herzens verfolgte er die Versuche der Amerikaner, das deutsche Recht zu entschlüsseln, wo doch die Mitteleuropaabteilung des OSS unter seiner maßgeblichen Beteiligung jahrelang damit beschäftigt gewesen war, eben dieses zu analysieren und für die Amerikaner zugänglich zu machen. Wie oft die Empfehlungen und Strategiepapiere des OSS ihren Zielort nicht erreicht hatten oder in die falschen Hände gefallen waren, konnte Herz nun persönlich vor Ort erleben: „I work with and for four or five different sections at once, give them all the Eitzes [jiddisch: guter Rat, J. P.] which we have been trying to give them for the last 6 or 8 months, all over again. Maybe this time they will learn.“354 Herz’ Briefe bekamen einen frustrierten Ton. Sein anfänglich noch vorhandener Idealismus hatte sich angesichts der Lage schnell in „mit laziness verbundenen disgust“355 verwandelt. Seine Frustration steigerte sich noch, als er sah, wie nachlässig und unvollständig die amerikanischen Besatzer in seinen Augen den Prozess der Entnazifizierung betrieben. Im Rahmen seiner Tätigkeit war Herz mit den Vorbereitungen der Anklage gegen den früheren Reichsminister des Inneren und späteren Reichsprotektor des Protektorats Böhmen und Mähren Wilhelm Frick beschäftigt, den er in diesem Zusammenhang länglich vernahm. Frick erschien ihm als „shaky, toothless, weak and stammering old man, eager to ‚cooperate‘“356. Es fiel Herz schwer, kein Mitleid mit ihm zu haben: „One almost had trouble not to pity the fellow, by always keeping in mind that that vicious guy, only a few years ago, had the power to drive me and my family out of my country.“357 Auch im Falle der anderen Hauptkriegsverbrecher gelang es ihm nur mühsam, die Angeklagten mit den ihnen zur Last gelegten Taten in Verbindung zu bringen: „Sie sehen, mit wenigen Ausnahmen, so gewöhnlich und inconspicuous aus, dass diese Gruppe von human (?) beings mal die Herrscher der Welt spielen wollten. An Göring kam ich beim Herausgehen auf einen Meter heran und versuchte, ihn zu fixieren. Er weicht aber aus wenn man ihn ansieht, hat a kind of Hundeaugen.“358 353 John H. Herz an seine Frau Anne, 13. November 1945, AR 5625, Box II (AR 5753), Correspondence of Herz from Nuremberg [Ordner 6], Herz-Aschaffenburg Family Collection. 354 Herz an Anne am 28. Oktober 1945. 355 Herz an seine Eltern am 18. November 1945. 356 John H. Herz an seine Frau Anne, 17. November 1945, AR 5625, Box II (AR 5753), Correspondence of Herz from Nuremberg [Ordner 6], Herz-Aschaffenburg Family Collection. Frick wurde im Prozess zum Tode verurteilt. 357 Ebd.

V. Zweierlei Heimat

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Rückblickend betonte Herz in seiner Autobiographie, während keinem Prozess Genugtuung oder ein befriedigtes Rachegefühl empfunden zu haben, obwohl er im Brief an Anne durchaus seinen „urge for revenge“359 erwähnt hatte.360 Nun schrieb er, es sei ihm vorrangig darauf angekommen, der Welt und vor allem den Deutschen selbst ein klares Bild des Geschehens zu vermitteln.361 Diesem Auftrag widmete er sich in vielen seiner nachfolgenden Publikationen, in denen er sich mit Deutschland, Demokratie und Totalitarismus, Nationalsozialismus und Kommunismus, auseinandersetze.362 Seine Heimatgefühle gegenüber Deutschland waren ihm während seines Aufenthaltes allerdings zunächst gründlich vergangen: „[F]roh und erleichtert, nach acht Wochen wieder in die Heimat zurückzukehren“363 verließ er in den ersten Dezembertagen des Jahres 1945 Nürnberg.

V. Zweierlei Heimat Zum Zeitpunkt seiner Rückkehr aus Nürnberg befand sich Herz im zehnten Jahr seines Exils, sieben Jahre davon hatte er in den Vereinigten Staaten verbracht. Er war nun an einer Wegscheide angekommen, die ihn vor die Frage stellte, ob aus dem Deutschen in den letzten sieben Jahren auch ein Amerikaner geworden war, der nicht nur den amerikanischen Pass in der Tasche trug, sondern der in den Vereinigten Staaten eine neue (intellektuelle) Heimat gefunden hatte. Der Weg zurück nach „Hause“ stand ihm nun theoretisch wieder offen. Wie alle deutsch-jüdischen Emigranten war er daher unweigerlich mit der Frage konfrontiert, wie sehr er sich den Deutschen noch zugehörig fühlte, wie tief er bereits in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt war und ob eine Rückkehr nach Deutschland überhaupt denkbar erschien. In seiner Autobiographie schrieb er: „Für mich wie viele andere war es nicht Exil, sondern Emigration gewesen; man hatte damit angefangen, im neuen Land Wurzeln zu schlagen, und auf baldige ‚Remigration‘ hatte man sich gar nicht eingestellt. Was inzwischen geschehen, war nicht so leicht zu überwinden. Konnte man einfach wieder Deutscher wer358 John H. Herz an seine Frau Anne, 20. November 1945, AR 5625, Box II (AR 5753), Correspondence of Herz from Nuremberg [Ordner 6], Herz-Aschaffenburg Family Collection. 359 Vgl. Herz an Anne am 25. Oktober 1945. 360 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 142. Auch im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY sprach er allerdings davon, dass der Prozess als solcher ihm eine „große Genugtuung“ bereitet habe. Vgl. Kassette 1 des Interviews. 361 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 142. 362 Vgl. From Dictatorship to Democracy sowie Carter/Herz, Government and Politics in the Twentieth Century. 363 Herz, Vom Überleben, S. 284.

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den? Musste man sich nicht bei jeder Begegnung – es sei denn mit absolut unverdächtigen Freunden – fragen, ob der andere nicht ein, sei es opportunistischer, sei es überzeugter Nazi, wohlmöglich ein ‚Schreibtischtäter‘, gewesen war?“364

In Nürnberg war er zu der bitteren Erkenntnis gelangt, dass das deutsche Volk sich weigerte, Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen: „Keiner, der eine eigene Schuld zugibt. Aber unterwürfig wie Sklaven“365 schrieb er an seine Familie in den USA. Andererseits fühlte er sich mit dem Deutschland noch immer verbunden und hielt vielen deutschen Freunden auch nach 1945 die Treue: Erich Wenderoth, der Herz nach 1933 illegal in seiner Kanzlei weiterbeschäftigt hatte, und Herz’ ehemalige Lehrer Fritz und Otto Grüters standen Pate für das Land, welches Herz einmal eine Heimat gewesen war. Ein Leben lang behielt er diese zwiespältige Einstellung. Er empfand sich selbst als Fremder und gleichzeitig immer noch als Angehöriger des deutschen Volkes. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes im Jahre 1975 sagte er: „In one sence, to be sure, as Thomas Wolfe said, ‚You cannot go home again,‘ but in another sense one can never separate oneself altogether from one’s origins even if one wanted to.“366 Insbesondere als Politikwissenschaftler befand sich Herz in einem Dilemma. Ihn lockte die Aufgabe, an der Demokratisierung Deutschlands mitzuwirken und ein freies, neues und anderes Land aufzubauen. Für ihn und die anderen Mitglieder der OSS-Mitteleuropagruppe bot sich nun endlich die Chance, die angestrebten Ziele doch noch durch eigene Initiative umsetzen zu können. In diesem Sinne kehrten einige der emigrierten „political scholars“ nach Deutschland zurück und wurden dort zu Lehrmeistern der Demokratie. Arnold Bergstraesser, Ernst Fraenkel und Eric Voegelin gelang die universitäre Etablierung des Fachs Politikwissenschaft in Freiburg, Berlin und München. Carl Joachim Friedrich, der schon vor 1933 ausgewandert war, übernahm diese Funktion in Heidelberg. Herz’ bester Freund Ossip Flechtheim remigrierte 1951 ebenfalls nach Berlin und wurde ordentlicher Professor am Otto-Suhr-Institut.367 Im intellektuellen Reisegepäck hatten die Remigranten das Selbstverständnis, das methodische Instrumentarium 364 Herz, Vom Überleben, S. 142 f. In der Tat verstand die Mehrheit der jüdischen Emigranten aus Deutschland das ihnen aufgezwungene Schicksal letztendlich nicht als Exil, sondern als Einwanderung. Vgl. Strauss, Zur sozialen und organisatorischen Akkulturation deutsch-jüdischer Einwanderer der NS-Zeit in den USA, S. 237 f. 365 Herz an seine Eltern am 1. November 1945. 366 Vgl. das unveröffentlichte Manuskript der Rede anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes im Jahre 1975. 367 Herz’ Freund Otto Kirchheimer und auch Franz Neumann wären höchstwahrscheinlich ebenfalls nach Deutschland zurückgekehrt, hätte beide nicht ein früher

V. Zweierlei Heimat

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und die inhaltlichen Ergebnisse der amerikanischen political science – sowie die durch den in Amerika herrschenden Empirismus und Pragmatismus transformierte Staatslehre der Weimarer Republik.368 Dauerhaft nach Deutschland remigrieren wollte Herz im Gegensatz zu ihnen nicht. Zum einen, weil auch seine Eltern und Geschwister den Entschluss gefasst hatten, nicht wieder nach Deutschland zurückzukehren. Zum anderen, weil Herz seinem 1946 geborenen Sohn Stephen das Schicksal des Vaters ersparen und ihn nicht entwurzeln wollte.369 Er beschloss daher, als Professor an die Howard University zurückzukehren, bis er schließlich 1952 an das New Yorker City College berufen wurde. Seine Entscheidung gegen die Remigration war somit in erster Linie privat motiviert. Es gelang ihm jedoch nie, sich vollständig zu amerikanisieren. Nicht nur während der weltpolitischen und persönlichen Umbrüche und Veränderungen in den Jahren des Exils konnte er die Zerrissenheit zwischen seiner neuen und alten Heimat nicht eindeutig auflösen. Ganz glücklich konnte man seiner Meinung nach in einem Land, in das man erst mit beinahe dreißig Jahren kam, Tod ereilt. Vgl. Herz an H. Stuart Hughes, 6. Juni 1975, Box 2, General Correspondence 75–77 [Ordner], Herz Papers. 368 Der Politikwissenschaftler Wilhelm Bleek resümiert den Einfluss der Emigranten auf die Entwicklung der Disziplin in Deutschland wie folgt: „Für die Politikwissenschaft in Deutschland war die sozialwissenschaftliche Emigration in die USA in den dreißiger Jahren und die Remigration nach 1945 nicht nur die Chance, aus den USA Neues und Innovatives zu übernehmen, sondern auch an eine in Deutschland weitgehend verschüttete Tradition anzuknüpfen, die in Amerika – wenn auch in veränderter Form – bewahrt worden war.“ Siehe Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 260. Der Einfluss dieser jüdischen Remigranten auf die Entwicklung der Politikwissenschaft in Deutschland ist an vielen Stellen besonders betont worden. Vgl. die Sammelbesprechung mehrerer Bücher und Artikel, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, von Hubertus Buchstein/Peter Th. Walter, Politikwissenschaft in der Emigrationsforschung, in: Politische Vierteljahresschrift, 30. Jahrgang (1989), S. 342–352. Eine Ausnahme bilden Max Horkheimer und Theodor Adorno, die zwar ebenfalls nach Deutschland remigrierten, aber auch in den USA der deutschen wissenschaftlichen Tradition treu geblieben waren und sich vor amerikanischen Einflüssen größtenteils abgeschottet hatten. Vgl. Coser, S. 12 f. Von einer Symbiose zwischen amerikanischer und deutscher Wissenschaftswelt kann man in beiden Fällen nicht sprechen. 369 Die Zerrissenheit zwischen Europa und Amerika übertrug sich dennoch auf die nächste Generation. Herz’ Sohn fühlte sich in den USA nie wirklich heimisch und ging zum Studium zurück nach Europa, wo er sich schließlich dauerhaft niederließ. Aus einem Brief von Herz an H. Stuart Hughes geht hervor, wie sehr Herz die Frage der persönlichen Wurzeln beschäftigte und auch bekümmerte: „[W]hile my wife and I decided to stay here, our son (an only child), born and raised here, failed to take roots in America (I am sure our being refugees having something to do with that) and now has become a sort of American ‚remigrant‘ to Europe . . .; God knows whether he will be able to become rooted there – it is, of course, the great sadness of our lives.“ Herz an Hughes am 6. Juni 1975.

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nicht werden,370 auch weil man „zwischen zwei Ausdrucksweisen, der deutschen und der englischen Sprache, hin und hergerissen“371 war. Seine privaten Briefe verfasste er oft in beiden Sprachen, die er wild durchmischte, wie es ihm gerade in den Sinn kam. Deutsch sprach er Zeit seines Lebens mit rheinischem Singsang. Obwohl er schon 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, ließen ihn seine deutschen Wurzeln nicht los. Ein Zeugnis seiner den Nationalsozialismus überdauernden Zuneigung zu Deutschland ist die bereits zitierte Rede aus dem Jahr 1975: „There are many forests in the world, and many river landscapes, but the remembrance of the niederrheinische Landschaft where I grew up, or of the Schwarzwald at the foot of which I began my studies, has a special irreplaceable aura. Bach and Hölderlin, the Kölner Dom and the South German baroque churches belong to the world, true enough, but if you have encountered them in the prime of your youth, they belong to you in a special way. So also with human beings, former teachers, friends of one’s younger years, many of whom are no longer around but whose memory will live with me to the end of my days.“372

In seinem späteren Wohnort Scarsdale galt Herz auch nach fast 67 Jahren in den USA noch als Deutscher.373 Seine gespaltene Identität wurde zu einem Hauptantrieb seiner Forschung. Er sorgte dafür, dass seine amerikanischen Publikationen ins Deutsche übersetzt wurden und veröffentlichte regelmäßig Beiträge in deutschen Fachzeitschriften. Auch wenn eine Mehrzahl deutscher Politikwissenschaftler mit seinem Name heute wenig verbinden kann, so war er doch in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland populär und seine theoretischen Überlegungen wurden häufig zitiert.374 Sein Ziel war es, die Verständigung zwischen seinen beiden Heimatländern durch seine wissenschaftliche Arbeit voranzutreiben. Dafür erhielt er 1975 das Bundesverdienstkreuz. Der Gefahr mangelnder Objektivität bei diesem Unterfangen, die sich aus seiner persönlichen Lebensgeschichte ergab, war er sich dabei wohl bewusst: „The danger of an emotional and even biased approach is great, but so is the chance of overcoming it and contributing to understanding from the twofold 370 Vgl. Herz an Fritz oder Otto Grüters am 27. November 1945, Box 28, Herz Papers. 371 Ebd. 372 Unveröffentlichtes Manuskript der Rede anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes im Jahre 1975. 373 Katrin Krehan beschreibt in ihrer Dissertation, wie sie auf dem Weg zum Haus von John Herz in Scarsdale von ihrem Taxifahrer mit den Worten angesprochen wurde: „You are going to see that German guy“. Vgl. Krehan, S. 292, Fn. 85. 374 Vgl. z. B. Karl Kaiser, Theorie der Internationalen Politik, in: Karl-Dietrich Bracher/Ernst Fraenkel, Internationale Beziehungen, Frankfurt a. M. und Hamburg 1969, S. 275–285, S. 277.

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vantage-point of the ‚old country‘ in which one was born and grew up, and the country where one spends one’s life now.“375 Durch seine wissenschaftlichen Beiträge vermittelte er zahlreichen amerikanischen Studenten eine Vorstellung vom geteilten Deutschland und seiner Geschichte. Damit war er einzigartig unter den europäischen Gründungsvätern des außenpolitischen Realismus, weil er sich in einem solch umfassenden Maße auch mit innenpolitischen Fragen auseinandersetzte. Seine Reputation innerhalb der Vergleichenden Regierungslehre war damals größer als die innerhalb der Internationalen Beziehungen.376 In der Rezeption seines Werkes ist aus diesem Grunde bisweilen die Auffassung vertreten worden, Herz’ mangelnde Anerkennung als Scholar of International Relations sei ein Resultat seiner vielfältigen Forschungsinteressen. Auch Kenneth W. Thompson bedauerte in seinem Buch Masters of International Thought: „If Herz had devoted himself unreservedly to international politics, his statue as a major figure almost certainly would have been proportionally greater.“377 Thompson gelingt es in seinem Herz-Portrait jedoch nicht, dessen Motivation hinreichend zu erkennen und so ein tieferes Verständnis für die Zweiteilung seiner Forschung zu entwickeln. Was Herz zu seinen Regierungs- und Deutschlandstudien veranlasste, war nämlich in erster Linie der Versuch, zu verstehen, „wie es möglich war, dass ein zivilisiertes Volk, das so viel und so wesentlich zur westlichen Kultur beigetragen hatte, plötzlich ins niedrigste Barbarentum zurückfallen konnte“378. Seine Forschung war biographisch motiviert und getragen von dem Bestreben, dass Unbegreifbare begreifen zu wollen. Dabei blieb er skeptisch gegenüber wissenschaftlich begründeten Versuchen, den Nationalsozialismus als ein in der Natur der Deutschen begründetes Phänomen zu sehen.379 Ein ganzes Volk in Sippenhaft zu nehmen, erschien ihm ein unzureichender und simplifizierender Erklärungsansatz zu sein.380 Im Interview 375

Herz, German Government and Politic from the Textbook Author’s Viewpoint, S. 82. 376 Dies sah auch Herz selbst so, vgl. Vom Überleben, S. 149. 377 Kenneth W. Thompson, Masters of International Thought: Major TwentiethCentury Theorists and the World Crisis, Baton Rouge und London 1980, S. 110. 378 Herz, Vom Überleben, S. 143. 379 So äußerte er sich im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 1. „Typisch deutsch“ war für ihn allerdings die Tatsache, dass der Nationalsozialismus „auf einen rein theoretischen Rassismus gegründet war.“ 380 In seiner Ansprache anlässlich des Empfanges beim Oberbürgermeister der Stadt Düsseldorf am 27. September1984 sagte Herz: „Angesichts dieses Schicksals [Tod von sechs Millionen Juden durch den Holocaust] könnte man fragen: Wie kommt es denn, dass Du in ein Land zurückkehren magst – zurückzukehren vermagst – das solches Schicksal verursacht hat? In der Tat, manche, die das meinige

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äußerte er: „Ich habe immer auf dem Standpunkt gestanden, dass man unterscheiden müsse zwischen Deutschen und deutscher Kultur und dem spezifisch extremen Nationalismus und Rassismus.“381 Als ihn der Verleger von Major Foreign Powers einmal dazu anhalten wollte, weite Teile seines darin enthaltenen Deutschland-Artikels zu ändern, da diese nicht objektiv genug seien, setzte Herz sich mit folgender Begründung zur Wehr: „All my life I have been in sympathy with German democrats and liberals (after first having been such a one myself) and condemned the ‚Vansittardist‘ quasi-racialist theory of the ‚evil‘ ‚inborn‘ nature of Germans (or any other nation). That, on the one hand, German democratic forces were weak under Weimar and are still weak today is a historical fact which I could or would not hide or gloss over, but that has nothing to do with a ‚condemnation of Germans as such‘.“382

In der wissenschaftlichen – teilweise sehr skeptischen – Analyse des bundesrepublikanischen Demokratisierungsprozesses verstand er seinen Beitrag, diesen Prozess zu befördern, wie es schon im OSS sein Ziel gewesen war. Überhaupt begleitete er sowohl die deutsche wie auch die amerikanische Innen- und Außenpolitik immer mit sehr kritischen Augen. Als Angehöriger beider Welten empfand er sich diesseits und jenseits des Atlantiks gleichermaßen als Fremder, der sich den Dingen daher mit einer größeren Objektivität und Distanz annähern konnte.383 Kann man nun vor diesem Hintergrund die These aufstellen, dass Herz im Grunde genommen ein deutscher Denker geblieben ist, der weite Teile seiner wissenschaftlichen Arbeit auf Englisch verfasst hat? Seine wissenschaftliche Sozialisation jedenfalls erhielt er zunächst in Deutschland und in der Schweiz. Als er in den USA ankam, waren seine Arbeitsmethoden geteilt haben, sind nie zurückgekehrt; sie weigern sich, ihren Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Ich respektiere ihre Einschätzung, aber ich teile sie nicht. Ich kann nicht ein ganzes Volk verantwortlich machen für die Schandtaten zeitweiliger Führer und ihnen blind folgender Mitläufer – sicherlich nicht eine junge Generation, die zur Zeit des ‚tausendjährigen Reiches‘ überhaupt noch nicht vorhanden war.“ Das Manuskript der Rede befindet sich in Box 14, Herz Papers. 381 So Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 1. 382 Herz in einem Brief an John F. Gallagher vom Verlag Harcourt, Brace and Co., 8. Juni 1954, Box 1, Textbook up to 1964 only [Ordner], Herz Papers. 383 Dieses Verständnis brachte er auch dem Staat Israel und seiner Politik entgegen. In einem Brief aus dem Jahre 2003 kommt das oben Illustrierte besonders schön zur Geltung: „[I]ch bin immer der Ansicht gewesen, dass man gerade dem Land, der Gruppe gegenüber kritisch sein muss, der man angehört. Bei mir also Dreien: Deutschland, das bis 1938 mein ‚Vaterland‘ war, wenn immer es nazistische oder neonazistische Züge zeigt(e). Amerika, schon bei der McCarthy-Periode und heute wieder dem Bush-Regime gegenüber, und, als Jude, Israel gegenüber, wenn es, auch noch so schrecklich heimgesucht, mit counter-terror reagiert.“ Herz an Christian Hacke, 22. Januar 2003, Box 3, Correspondence 2002/2003 [Ordner], Herz Papers.

VI. Zwischenfazit

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und seine Wissenschaftsauffassung vom europäischen Ideal geprägt. In den USA übernahm er die größere Praxisorientiertheit der amerikanischen Sozialwissenschaft. Auf die Frage, welche Elemente in seinem Denken er selbst eher als deutsch, und welche er als amerikanisch bezeichnen würde, antwortete er im März 2005: „Was vielleicht typisch deutsch genannt werden könnte ist mein Versuch, das zu erkennen, was, Goethe zitierend, „die Welt im Innersten zusammenhält“. Mit anderen Worten das theoretische Interesse an Erkenntnis, wohin sie auch führen mag, während das typisch Amerikanische wohl das ist, wie man Erkanntes und als Weltbild Verarbeitetes nun dazu benutzen soll, die Welt zu verändern und in subjektivem Sinne zu verbessern. Das ist vielleicht eine Unterscheidung, die man machen kann. Jetzt fühle ich mich eigentlich weniger als Wanderer zwischen zwei Welten, sondern als Wanderer zwischen allen Welten, oder wenn man so ausdrücken will: weniger als Europäer oder andererseits als Amerikaner, denn als Bewohner dieses zu klein werdenden Planeten – also kosmopolitisch, mehr als auf ein bestimmtes Kulturgebiet oder einen bestimmten Erdenteil beschränkt.“384

In dieser Äußerung ist angelegt, was für Herz’ Weltbild seit Ende der 1950er Jahre zunehmend charakteristischer wurde: Die Zerrissenheit zwischen verschiedenen Nationen und Identitäten löste er zugunsten eines so genannten „Universalismus“ auf. Sein Erkenntnisinteresse galt nicht mehr einzelnen Außenpolitiken oder auch nur der internationalen Politik als solcher. Er verstand sich zunehmend als „Praeceptor mundi“385, der seinen Blick auf das große Ganze richten wollte. Seine Lebenswelt war zu einer „Überlebenswelt“386 geworden, mit der er sich „unter Hintanstellung aller Interessen an Einzelwelten“387 identifizierte. Dieser „Universalismus“, der sein Werk spätestens seit Intenational Politics in the AtomicAge dominierte, ist also nicht zuletzt eine Folge von Herz’ persönlicher Ortlosigkeit.

VI. Zwischenfazit Die Jahre zwischen 1931 und 1952 waren für Herz „Jahre radikaler Weltveränderung“388, aber auch Jahre radikaler Veränderungen seiner persönlichen Lebensumstände: Am Abend des 30. Januar 1933 war er Zeuge der nationalsozialistischen Machtübernahme geworden, wobei die neuen Herren ihn erst zu einem „Untermenschen“ degradiert und dann aus seiner Heimat 384

John H. Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, N.Y., Kassette 1. 385 Herz, Vom Überleben, S. 159. 386 Ebd., S. 158. 387 Ebd. 388 Ebd, S. 130.

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D. Wandern zwischen den Welten (1931–1952)

verjagt hatten. Er hatte seine Sprache und seine Kultur zurücklassen und sich innerhalb weniger Jahre zweimal in einer neuen Umgebung zurechtfinden müssen. Den Anschluss Österreichs, Chamberlains Appeasement-Politik und schließlich den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte er schon früh vorausgesehen, vergeblich davor gewarnt und schließlich aus der Ferne des Exils mitverfolgt. Er hatte seinen deutschen Vornamen abgelegt und in das englische „John“ verwandelt. In Princeton hatte er drei Jahre neben einigen der größten Gelehrten seiner Zeit geforscht und dabei Bekanntschaft mit der amerikanischen (Wissenschafts-)Kultur gemacht. Durch seine Anstellung an einem „Black College“ war Herz stärker sensibilisiert für die Rassendiskriminierung innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Den Sieg der Alliierten über die Achsenmächte hatte er aus amerikanischer Regierungsperspektive erlebt, als aus dem Theoretiker für kurze Zeit ein Praktiker der internationalen Beziehungen geworden war. Als Vertreter der Anklage war er zu den Nürnberger Prozessen gereist und hatte seinen ehemaligen Landsleuten in amerikanischer Uniform gegenübergestanden. In den frühen 1940er Jahren hatte er kurze Zeit die Hoffnung auf eine friedliche Weltordnung unter dem Regime der kollektiven Sicherheit gehegt – bis seine Welt durch den Abwurf der amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki aus den Angeln gehoben wurde. All dies war nicht ohne Einfluss auf die Entwicklung seines außenpolitischen Denkens geblieben. Aus dem Fürsprecher des Völkerbundes und des Völkerrechts war ein harter Kritiker geworden, aus dem Rechtsgläubigen ein von der Macht Bekehrter, aus dem jungen Rechtswissenschaftler mit einem Hang zum Idealismus ein Politikwissenschaftler und ein desillusionierter Mitbegründer des außenpolitischen Realismus. Seine Grunddisposition, an die Vernunftbegabung des Menschen und seine Fahigkeit zur Einsicht zu glauben, behielt er im Laufe dieses Entwicklungsprozesses jedoch bei. Hingegen hatte er seinen Glauben an eine „reine“ Lehre bereits in Genf verloren und sein Denken um eine explizit normative Komponente erweitert. Als die Alliierten am 8. Mai 1945 die deutsche Kapitulation entgegennahmen, hatten sich viele jener Grundannahmen bereits in seinem Kopf verfestigt, die ihm später zu einiger Berühmtheit verhelfen sollten: Seine Argumentation war auf das System der internationalen Beziehungen gerichtet und damit struktureller Natur; schon damals war so der Grundstein für die Annahme des „Sicherheitsdilemmas“ gelegt, obwohl Herz diesen Begriff erst 1950 in die Debatte einführen sollte. Sein „Überlebensmotiv“, welches bis zu seinem Tod sein Denken immer mehr dominierte, zeichnete sich ebenfalls frühzeitig ab – und zwar bereits vor den amerikanischen Atombombenabwürfen. Und auch seine Beschäftigung mit individueller Wahrnehmung und Weltbildern nahm in der Zeit unmittelbar nach seiner Ankunft in den USA ihren Anfang – genau wie seine Sorge um die Auswirkungen

VI. Zwischenfazit

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eines unbegrenzten Bevölkerungswachstums auf die Geschicke der internationalen Politik, auf die Energieressourcen der Erde und das menschliche Habitat. All diese Ansätze waren in seinem Kopf bereits vorhanden und sollten in den nachfolgenden Jahren weiter ausgebaut, verfeinert und miteinander verknüpft werden. Auf seiner intellektuellen Pilgerfahrt hatte er sich der realistischen Weltsicht weiter angenähert, die in der Ausarbeitung seines ersten in den USA veröffentlichten Buches Political Realism and Political Idealism gipfeln sollte.

„[P]ure realism can offer nothing but a naked struggle for power which makes any kind of international society impossible. Having demolished the current utopia with the weapons of realism, we still need to build a new utopia of our own.“1 (Edward H. Carr)

E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus Das folgende theoretische Kapitel konzentriert sich auf Herz’ bekannteste Beiträge zum außenpolitischen Realismus, das „Sicherheitsdilemma“ und den „Realliberalismus“. Beide Konzepte basieren maßgeblich auf den in Genf und Princeton gewonnenen Erkenntnissen.2 In seinem 1951 in den USA veröffentlichten Buch Political Realism and Political Idealism führte Herz sie erstmals umfassend in die Debatte ein. Dieses Kapitel stellt Herz’ theoretische Überlegungen zunächst vor, um sie anschließend zu diskutieren und zu bewerten. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Fragestellung, ob Political Realism and Political Idealism tatsächlich ein Standardwerk des außenpolitischen Realismus ist, das seinem Autor zu Recht den Ruf einbrachte, diese Denkschule mitbegründet zu haben. In dem Bewusstsein, dass seine Berichte am OSS sowieso für den Papierkorb bestimmt waren, steckte Herz seine vorhandene Energie nach 1945 in die Niederschrift seiner Ideen, so dass wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein fertiges Manuskript vorlag.3 Nach Abschluss des Buches hatte sich Herz jahrelang vergeblich um einen Verleger bemüht, aber erst als sich Hans Morgenthau persönlich für eine Veröffentlichung einsetzte, konnte es bei der University of Chicago Press erscheinen.4 Die Schwierigkeiten, die Herz mit der Vermarktung hatte, rissen auch nach der Veröffentlichung nicht ab. Im Gegensatz zu Morgenthaus Büchern, welche begeisterten Absatz fanden,5 erwies sich Political Realism and Political 1

Carr, S. 93. Dies wird deutlich aus einem Brief, den Herz nach Erscheinen des Buches an seinen ehemaligen Mentor Edward M. Earle verfasste. Herz schrieb: „If you look into the book you will see that everywhere, and especially in the sections dealing with international affairs, it is indebted to you and the group of the Institute with which I had the good fortune to be affiliated in 1939/40.“ Herz an Earle, 25. April 1951, Box 1, „Book Reviews and Correspondence on Political Realism and Political Idealism“ [Ordner], Herz Papers. 3 Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. V. 4 Der Verlag hatte Herz’ Manuskript 1948 bereits einmal abgelehnt. Morgenthau reichte das Buch daraufhin eineinhalb Jahre später persönlich noch einmal ein. Der Vorgang wird deutlich aus dem Brief von Fred Wiek, Associate Editor des Verlags, an Herz, 1. August 1950, Box 3, unbenannter Ordner, Herz Papers. 2

E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

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Idealism bald als Ladenhüter, obwohl es in Fachkreisen durchaus wohlwollend aufgenommen und sogar mit dem renommierten „Woodrow Wilson Award of the American Political Science Foundation“ prämiert wurde. 1959 schrieb Herz enttäuscht an die Verkaufsleiterin des Verlages: „After it was published, and apparently did not do too well in terms of sales figures, it was offered for sale at cheap rates (I believe, at 99 cents or so) in or about 1954.“6 In Herz’ Nachlass finden sich zahlreiche weitere Briefe, die belegen, wie sehr ihn die scheinbar schlechte Vermarktung seines Buches, dessen mangelnde Besprechungen in Fachzeitschriften und später dessen fehlerhafte Übersetzung ins Deutsche frustrierten – all diese Gründe machte er für den mäßigen Erfolg des Buches verantwortlich.7 Im Gegensatz zu Morgenthau, der bald nach der Veröffentlichung von Politics Among Nations im Jahr 1948 zum „Shooting Star“ am akademischen US-Himmel wurde, verlief die Kariere von Herz nach seinem Ausscheiden aus dem State Department zögerlicher. Nicht nur, was den Erfolg seiner Bücher anging, stand Herz in Morgenthaus Schatten.8 Morgenthau hatte sich bereits als Ordinarius an der renommierten Universität von Chicago etablieren können, während Herz noch in Howard festsaß, wo er sich zwar wohl fühlte, welches für ihn intellektuell aber keine Herausforderung darstellte. Inhaltlich baute Political Realism and Political Idealism auf Herz’ Aufsatz „Power Politics and World Organization“ aus dem Jahre 1942 auf, erweitete die dort präsentierten Thesen aber zu einer umfassenden und grundlegenden Theorie: „[T]he book tried to develop a more general theory of basic types of political attitudes and action applicable not only to foreign 5 Allein Morgenthaus Politics Among Nations wurde direkt nach seinem Erscheinen von den Universitäten Harvard, Yale, Princeton, Columbia und Notre Dame offiziell als Lehrmittel für Außenpolitik und Internationale Beziehungen eingeführt, bis April 1949 von über 90 weiteren Colleges im ganzen Land. Vgl. Frei, S. 84. 6 Herz im Brief an Mary D. Alexander, 31. Juli 1959, Box 1, „Book Reviews and Correspondence on Political Realism and Political Idealism“ [Ordner], Herz Papers. 7 Vgl. Box 1, „Book Reviews and Correspondence on Political Realism and Political Idealism“ [Ordner], Herz Papers. Exemplarisch sei hier ein Auszug aus einem Brief von Herz an seinen alten Kollegen aus Princeton, Felix Gilbert, vom 2. Mai 1951 zitiert: „May I ask you to do me a favor? My book (Political Realism and Political Idealism) has come out, at last, but the idiotic publisher (Chicago Press, sorry to say) gave it a jacket blurb which makes it appear as a kind of text in government (‚for teachers and students of government . . .‘). I am very anxious to have this wrong impression corrected, so that it gets attention also of periodicals outside the ones specializing in political science.“ 8 So auch Christian Hacke, „Dabei bleibt unübersehbar, dass Herz bei der Formulierung des so genannten außenpolitischen Realismus im Schatten von Hans Morgenthau gestanden hat.“ Vgl. Hacke, Als Jude im Exil. Ein Sozialwissenschaftler für die internationale Politik, in: DIE ZEIT, 7. Dezember 1984.

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E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

affairs but in principle to all levels of political interaction.“9 Herz bemühte sich seit den frühen 1940er Jahren verstärkt darum, einen umfassenden Erklärungsansatz für das gesellschaftliche Geschehen zu finden – sein Interesse richtete sich auf nichts Geringeres als auf das „‚Ganze‘ der Welterkenntnis“10. Das Buch hatte den Anspruch, „grundsätzlich-theoretischer Natur“11 zu sein und allgemeine, „überzeitliche Gültigkeit“12 zu besitzen. Es wurde aber unter den recht spezifischen Eindrücken der eigenen Emigration und des Zweiten Weltkriegs verfasst und war von diesen Erfahrungen durchzogen. Es ist daher auch ein erstes umfassendes Zeugnis der amerikanischen Anfangsjahre von Herz und insofern als Ergebnis seiner wissenschaftlichen Akkulturation zu sehen. Seine im vorherigen Kapitel beschriebene Zerrissenheit zwischen zwei Welten spiegelt sich hier deutlich wider. Herz selber unternahm im Vorwort zur deutschen Ausgabe den Versuch, die deutschen und die amerikanischen Elemente seines Ansatzes zu identifizieren. Er schrieb: „Vieles in den theoretischen Grundlagen dieser Studie verdankt der Verfasser . . . seiner Erziehung in deutscher und europäischer Gedankenwelt. [. . .] Das heißt aber nicht, dass das Buch ein rein deutsches Produkt sei, welches lediglich infolge der Wirren der Zeit zunächst fremdsprachig und ‚in der Fremde‘ erschienen wäre: Amerika . . . hat Entscheidendes beigesteuert, mehr vielleicht (typisch für angelsächsisches Wesen) in der Erfassung des Verhältnisse von Theorie und Praxis als zur theoretischen Grundlegung. [. . .] Wenn, zum Beispiel, die diesem Buche zugrunde liegende Unterscheidung von Fundamentaltypen politischen Denkens . . . vielleicht deutscher Herkunft ist, so ist es zweifelhaft, ob ohne den Einfluss seiner neuen Heimat dem Verfasser die Idee des ‚Real-Liberalismus‘ als Maxime politischen Handelns gekommen wäre.“13

Auch die amerikanische Kritik ging auf den transatlantischen Charakter des Buches ein. Der Rezensent Arnaud B. Leavelle lobte explizit den Herzschen Versuch, beide Wissenschaftstraditionen miteinander zu vereinen: „Dr. Herz, European-trained and now professor of political science at Howard University, seeks both to support and to transcend the historic, Anglo-American tradition. In doing so, he has achieved a unique combination of rationalism and empiricism – a kind of rationalism which permits the classification of men and 9

Herz, The Nation-State and the Crisis of World Politics, S. 9. Herz, Vom Überleben, S. 157. 11 So Herz im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Buches Politischer Realismus und Politischer Idealismus, S. 6. Abgesehen von dem Vorwort zur deutschen Ausgabe soll nachfolgend allein aus der englischen Originalausgabe zitiert werden, da Herz die deutsche Übersetzung seines Buches für dermaßen unzureichend hielt, dass er stets davor warnte, diese zu benutzen. Dies betonte er im Interview mit der Verfasserin am 24. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 9. 12 Herz, Politischer Realismus und Politischer Idealismus, S. 6. 13 Ebd., S. 5. 10

I. Der Wissenschaftler als Korrektiv

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attitudes into ‚ideal types,‘ and a cautious empiricism which illustrates these categories with a wide range of sociopolitical data.14

Herz selbst sah in dem Buch das „Produkt zweier Welten, der seines ehemaligen ‚Vaterlandes‘ und der seines neuen ‚Kinderlandes‘“15. Political Realism and Political Idealism ist daher nicht nur als Synthese zweier Theorieschulen, sondern darüber hinaus auch als Synthese zweier Wissenschaftstraditionen zu verstehen.

I. Der Wissenschaftler als Korrektiv Als Herz seine Einsichten kurz nach Kriegsende niederschrieb, war es ihm nach wie vor ein Bedürfnis, gegen den in der Zwischenkriegszeit in den USA herrschenden Trend des utopischen Wunschdenkens anzuschreiben. Er wollte ihm die harten Fakten der europäischen Realpolitik gegenüberstellen. Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von 1951 schrieb Herz: „When the book was conceived we were in an era of somewhat greater hopefulness, free, as we were, from the bane of fascism and planning for a brave new world.“16 Herz bezog sich hier auf die kurze Zeitspanne zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Beginn des Kalten Krieges, in der sich die Hoffnung der Welt auf die neu gegründete UNO richtete. Ihm ging es damals darum, die Planer dieser schönen neuen Weltordnung vor überzogenen Erwartungen zu warnen und das Mögliche, nicht das Wünschenswerte, in den Vordergrund der Betrachtung zu stellen.17 Ganz offensichtlich stellte sich das Buch in die Tradition der Publikationen Morgenthaus oder auch E. H. Carrs.18 Aber schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ruderte Herz in seinem Bestreben zurück und gab zu bedenken, dass es – angesichts des Kalten Krieges und der Gefahr einer nuklearen Eskalation – nunmehr an der Zeit 14 So in der Besprechung des Buches durch Arnaud B. Leavelle, in: The Western Political Quarterly, Vol. IV, No. 4/1951. Genau diese europäischen Elemente stießen dort jedoch nicht ungeteilt auf Begeisterung. In der Zeitschrift Phylon konnte man lesen: „Mr. Herz evidences a wide acquaintance with European political thought and philosophy. His basic frame of reference is also quite typically European. His approach tends to be philosophical, occasionally even to the extent of making the analyzing of a term or condition seem more complicated than is necessary.“ So Anders M. Myhrman, Realist Liberalism, in: Phylon, Vol. 12, No. 3, 3rd Quarter, 1951, S. 290–291, S. 290. 15 Herz, Politischer Realismus und Politischer Idealismus, S. 5. Der Begriff „Kinderland“ bezieht sich auf die Geburt seines 1945 geborenen Sohnes Stephen. 16 Ebd., S. v. 17 Vgl. auch Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 15. 18 Dies entsprach ebenfalls der Wahrnehmung des Autors. Vgl. Herz, An Internationalist’s Journey through the Century, S. 250.

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E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

sei, den Machtspielen der beiden Supermächte Grenzen aufzuzeigen. Zu sehr, so Herz, sei das Pendel inzwischen in die realistische Richtung geschwungen. Aus rationaler Eindämmungspolitik sei schon sehr bald „crusading anti-communism“ geworden.19 Trumans demokratische Regierung habe Kennans Politik des „Containment“ so verstanden, wie es nie beabsichtigt gewesen sei, nämlich als Aufruf, alles auf Aufrüstung abzustellen. Dies war in Herz Augen „genau das Falsche“20. In einem geradezu zynischen Ausmaß erkläre sich die breite Öffentlichkeit dazu bereit, die entstandene Situation zu akzeptieren. „Unmitigated, power-glorifying, force-obsessed“21 – so fiel Herz’ Urteil über die internationale Politik der beginnenden 1950er Jahre aus. Fast entschuldigend schränkte er daher den Inhalt von Political Realism and Political Idealism mit den Worten ein: „This book, it is hoped, will not be misunderstood as advocacy of ‚power politics‘ in the cruder sense. The human cause will be lost if the liberal ideal is forgotten, even as surely as it is lost if left to the utopian Political Idealist.“22 Wie zuvor schon deutlich wurde, sah Herz seine Aufgabe als Wissenschaftler neben der sachlichen und möglichst wertfreien Analyse der Realität darin, von eben dieser Analyse und ihrer Interpretation ausgehend auch das Erstrebenswerte zu definieren – allerdings wies er stets darauf hin, dass man dabei nie aus den Augen verlieren dürfe, was realistischerweise tatsächlich umsetzbar sei. Das Beispiel des oben zitierten Vorworts zeigt, dass er es stets für seine Pflicht hielt, als Korrektiv zu fungieren und extremen Tendenzen entgegenzuwirken. Herz wollte als Wissenschaftler etwas dazu beizutragen, die Welt zu verbessern. Von der unpolitischen „Reinen Rechtslehre“ Kelsens hatte er sich in der Zwischenzeit weit entfernt und verstand sich eher als Vertreter einer praxisorientierten, amerikanischen „policy science“23. Er verglich sich mit einem Arzt, der auf Basis einer sorgfältig vorgenommenen Diagnose die richtige Medizin verschreiben wollte.24 Im Interview sagte er: „Natürlich sage ich, das Gegebene muss man zur Kenntnis nehmen. Ich ziehe daraus nicht die Konsequenz, dass man deshalb das Moralische nicht ins Sozialwissenschaftliche einbeziehen sollte. Sozialwissenschaftler sind „Policy“-Wissen19 So Herz noch einmal rückblickend in „Role of the United States in International Relations“, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript anlässlich der „Conference on Political Culture in the U.S.“ in Königstein vom 15.–20. Juni 1981, Box 17, Lecture Notes and Lectures in Germany 1981 [Ordner], Herz Papers, S. 7. 20 So äußerte Herz sich im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 2. 21 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. V. 22 Ebd. 23 Herz, Ossip K. Flechtheim, S. 158. 24 Vgl. Herz, An Internationalist’s Journey, S. 258 f.

II. Kernthesen von Political Realism and Political Idealism

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schaftler. [. . .] In diesem Sinne würde ich sagen, dass alle Sozialwissenschaften, also auch „International Relations“ und Politikwissenschaft, „policy sciences“ sind, die nicht nur festzustellen haben, das und das geschieht, sondern auch die Frage stellen [müssen]: Was soll geschehen? Natürlich glaube ich nicht, dass man Haltungen vorschreiben soll. In der Beziehung bin ich Relativist.“25

In seinem Bestreben stand Herz dem britischen Historiker E. H. Carr nahe: Nicht nur war es Carr in The Twenty Years’ Crisis ebenfalls um ein Gleichgewicht zwischen Utopie und Realität gegangen, in dem ewigen Disput zwischen denen, die ihre Ideale zum Maßstab von Politik machten und denen, die die Politik an den Realitäten der Welt orientieren wollten. Er teilte darüber hinaus auch das Herzsche Ziel einer Verbindung aus Theorie und Praxis und aus Sein und Sollen: „Political science“, schrieb Carr 1939, „must be based on a recognition of the interdependence of theory and practice, which can be attained only through a combination of utopia and reality.“26

II. Kernthesen von Political Realism and Political Idealism Political Realism and Political Idealism verfolgt wie schon zuvor sein Aufsatz „Power Politics and World Organization“ eine doppelte Zielsetzung: Es sollte zugleich Bestandsaufnahme und Handlungsanweisung sein. Dementsprechend stellte Herz im ersten Teil des Buches zunächst einige psychologische Überlegungen an, die seiner Meinung nach das politische Denken der Menschen unabhängig von Zeit und Raum beeinflussen. Darauf aufbauend identifizierte er zwei Idealtypen politischen Handelns, die sich in unterschiedlichen Theorien, dem Realismus und dem Idealismus, niederschlagen. Nach dieser Bestandsaufnahme versuchte Herz im zweiten Teil des Buches eine praxistaugliche Synthese aus beiden Theorien zu entwickeln. 1. Psychologische Grundlagen und Idealtypen politischen Handelns a) Das „Sicherheitsdilemma“ Herz’ Kernprämisse bestand in der Annahme, dass das politische Denken der Menschen durch einige fundamentale Grundeigenschaften charakterisiert wurde – egal, um welchen Denker, um welche Epoche oder um wel25 Herz im Interview mit der Verfasserin am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 2. 26 Carr, S. 13.

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E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

ches Thema es sich dabei handelte. Sein Ziel lag nun darin, eben jene Grundeigenschaften herauszufiltern und zu analysieren.27 Interessanterweise deckt sich Herz’ Kernprämisse diesbezüglich mit derjenigen Hans J. Morgenthaus: Auch Morgenthau hatte im ersten seiner sechs Prinzipien des politischen Realismus postuliert, dass die internationale Politik – so wie die Gesellschaft im Allgemeinen – von objektiven Gesetzen beherrscht werde, die ihre Gültigkeit auch jenseits von Zeit und Raum bewahrten und ihren Ursprung in der menschlichen Natur hatten.28 Beiden Denkern ging es also zunächst darum, die ewig wiederkehrenden, unabhängigen Konstanten des politischen Denkens und Handelns zu identifizieren. Beide beriefen sich dabei auf die psychologische Verfasstheit des Menschen. Jedoch führten ihre Überlegungen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen. Morgenthau hatte argumentiert, der Mensch denke im Banne seiner fundamentalen Leidenschaften und Triebe ausschließlich an die Maximierung seiner eigenen Macht und neige bei all seinen Taten eher zum Bösen als zum Guten. Die Gier der Menschen nach Macht und Herrschaft kannte für ihn keine Grenzen, sie war unstillbar. Immer und überall, so schrieb er, „versucht der Mensch, Macht über andere Menschen zu bewahren und zu begründen“29. Dieser beständige Kampf um die Macht sei niemals zu überwinden, da das menschliche Verlangen immer größer sein werde als die Möglichkeit, es zu befriedigen.30 Herz postulierte demgegenüber, dass sich die menschliche Natur in zwei widersprüchliche Gefühle bzw. Verhaltensweisen aufspalten lasse: Das Bedürfnis nach Selbsterhaltung und das Gefühl des Mitleids. Zunächst einmal sah Herz den Menschen als Lebewesen, das sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst war und daher den Tod fürchtete. Entscheidend für das Miteinander in einer Gruppe oder Gesellschaft war die Erkenntnis, dass jeder Mensch potenziell zu einem Mörder werden konnte: „This very realization that his own brother may play the role of Cain makes his fellow men appear to him as potential foes. Realization of this fact by 27

Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. xii. Vgl. Morgenthau, Macht und Frieden, S. 49. 29 Ebd., S. 77. 30 „For while man’s vital needs are capable of satisfaction, his lust for power would be satisfied only if the last man became an object of his domination, there being nobody above or beside him, that is, if he became like God.“ Vgl. Morgenthau, Scientific Man vs. Power Politics, S. 165. Dennoch ist Morgenthaus Menschenbild nicht ganz so pessimistisch, wie es gemeinhin angenommen wird. Auch Morgenthau sah den Menschen als moralisches Wesen: „Man is an animal longing for power, but he is also a creature with moral purpose, and while man cannot be governed by abstract moral principles alone, he cannot be governed by power alone either.“ Hans J. Morgenthau, The Commitments of Political Science, in: Ders. (Hrsg.), The Decline of Democratic Politics, Chicago 1962, S. 130. 28

II. Kernthesen von Political Realism and Political Idealism

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others, in turn, makes him appear to them as their potential mortal enemy.“31 Für Herz war es also die Angst, welche das menschliche Verhalten bestimmte. Diese Erkenntnis hatte ihm schon Ferrero in Genf nahe gebracht. Der große Stellenwert, den Herz dem Faktor „Angst“ in seiner Theorie zubilligt, hat ganz offensichtlich nicht zuletzt auch biographische Ursachen. Zu dieser Ansicht gelangt auch Peter Stirk, der in einer Studie, in der er Herz mit Leo Strauss vergleicht, zu dem Schluss kommt: „That such otherwise diverse theorists should converge in making fear the key to their understanding of the political condition is, of course, hardly surprising in the light of what they witnessed and what they had to fear.“32 Aus diesem Angstfaktor leitete Herz das fundamentale Dilemma der menschlichen Existenz ab, dessen Identifikation in den nachfolgenden Jahren ganz maßgeblich zu seinem Ruhm beitragen sollte: „[T]he dilemma of ‚kill or perish‘, of attacking first or running the risk of being destroyed“33, auch „security dilemma“34 genannt.35 Es basierte auf folgenden Überlegungen: Einerseits sucht und benötigt der Mensch Kontakt zu seinen Mitmenschen, um zu überleben. Andererseits kann er jedoch nie wissen, was diese im Schilde führen, welche geheimen Absichten sie verfolgen – ein Problem, dass die Fachliteratur theoretisch erfasst hat und auch „the problem of the Other Minds“ nennt.36 Das Dilemma resultiert also weniger aus den tatsächlichen Absichten und Fähigkeiten eines bestimmten Akteurs, sondern vielmehr aus dem existenziellen Gefühl der Unsicherheit,37 welches die Köpfe aller Akteure beherrscht, die niemals vollständige Gewissheit darüber erlangen können, worin die Intention ihres Gegenübers tatsächlich besteht. Ganz offensichtlich greift Herz hier auf das Menschenbild von Thomas Hobbes zurück.38 31

Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 3. Stirk, Twentieth-Century German Political Thought, S. 117. 33 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 3. 34 Ebd. 35 Es sollte nicht vergessen werden, dass Herbert Butterfield zeitgleich mit Herz aber völlig unabhängig von ihm ebenfalls das Phänomen des „Sicherheitsdilemmas“ beschrieben hat. Herz war aber derjenige, der den Begriff 1950 prägte, während Butterfield von einem „irreducible dilemma“ sprach. Vgl. Booth/Wheeler, The Security Dilemma, S. 26 f. 36 Vgl. Martin Hollis/Steve Smith, Explaining and Understanding International Relations, Oxford 1990, S. 171–176, 185–189, 192. 37 Ken Booth und Nicholas Wheeler bezeichnen diese Grundkondition mit dem Ausdruck „unresolvable uncertainty“. Vgl. Ken Booth/Nicholas J. Wheeler, The Security Dilemma, in: John Baylis/Nicholas J. Rengger (Hrsg.), Dilemmas of World Politics. International Issues in a Changing World, Oxford 1992, S. 29–60, S. 30. 38 Dies illustriert Wolfgang Kersting: „Hobbes Menschenbild ist nicht von macbethianischer Verruchtheit bestimmt, sondern von Zukunftsangst. Das Machtstre32

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E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

Für Herz lagen die Wurzeln des gerade skizzierten Dilemmas also letztlich im dualistischen Charakter menschlichen Lebens, darin, dass der Mensch von seinen potentiellen Todfeinden abhängig war und deshalb in ständiger Furcht leben musste: „[This] creates the paradoxical situation that man is at the same time foe and friend to his fellow man, and that social co-operation and social struggle seem to go hand in hand, and to be equally necessary.“39 Herz führte weiter aus, dass des Menschen Unsicherheit über die Intentionen seiner Mitmenschen ihn dazu zwängen, nach Möglichkeiten zu suchen, seine Sicherheit und damit sein Überleben zu garantieren. Um sich gegen Angriffe, Unterwerfung, Beherrschung oder Vernichtung zu schützen, sei er darauf angewiesen, seine Macht stetig zu mehren, um so der Macht der anderen begegnen zu können. Weil alle Menschen innerhalb einer Gesellschaft aber ständig und gleichzeitig damit beschäftigt seien, Macht anzusammeln, führe der Machtgewinn des Einen zu einem Gefühl der Bedrohung des Anderen und zu der Befürchtung, er könne ein Opfer dieses Machtvorteils werden. Einmal in der Spirale der Machtakkumulation gefangen, führe das Dilemma zwischen töten oder getötet werden in einen Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gebe. Was eigentlich der Sicherheit dienen solle, schlage um in deren Gefährdung. Das besonders Fatale an der Situation sei, dass auch Menschen mit ursprünglich friedlichen und defensiven Absichten so zu einem aggressiven und offensiven Verhalten gezwungen würden. Wiederum liegt die Ähnlichkeit mit Hobbes’ Naturzustandsargument auf der Hand. Genau wie bei Hobbes ist bei Herz also nicht die Rede von einer „irrational-wölfischen Triebnatur, einer obsessiven Machtgier, sondern von den Vorbeugungsstrategien der instrumentellen Vernunft, von dem gewaltbereiten offensiven Misstrauen.“40 An dieser Stelle besteht der große Unterschied zwischen Herz und Morgenthau. Während Morgenthau davon ausging, der Machttrieb sei dem Menschen angeboren, er also individual-psychologisch argumentierte, sah Herz den Menschen erst durch die Interaktion mit seinem Mitmenschen zu einem aggressiven Verhalten gezwungen. Man sei nicht von Natur aus jemandes Feind, sondern man werde es aus der Situation des gegenseitigen Verdachts, der beiderseitigen Furcht heraus, argumentierte Herz.41 Er löste sich somit von Morgenthaus auf „Macht“ und „Interesse“ ben, das präventive Streben nach immer mehr Macht hat seinen Grund darin, dass der Mensch einmal ein bedürftiges Wesen ist und zum anderen ein providentielles Wesen ist. Ein zugleich bedürftiges und auf Vorsorge bedachtes Wesen wird sein Leben so gestalten, dass zu jedem Zeitpunkt eine hinreichend zufriedenstellende Befriedigungsrate seiner Bedürfnisse . . . gewährleistet ist.“ So Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, Hamburg 1992, S. 84. 39 Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 3. 40 Kersting, S. 106.

II. Kernthesen von Political Realism and Political Idealism

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basierendem Erklärungsansatz und begründete seinen eigenen Ansatz stattdessen sozial-psychologisch, bzw. systemisch. In Political Realism and Political Idealism schrieb er: „The condition that concerns us here is not an anthropological or biological, but a social one.“42 Die Frage, ob der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen ist, ließ er dabei bewusst unbeantwortet. Für seine Argumentation genügte die Feststellung, dass der Mensch immer in soziale Strukturen hineingeboren wird und sich innerhalb dieser Strukturen behaupten muss.43 Jede Gruppe oder Gemeinschaft glich insofern einem Theater und stellte die Bühne für den Überlebenskampf der individuellen Gruppenmitglieder dar:44 Der Mensch lebte – so eine Formulierung von Herz – in einer „anarchic society“45. Herz ließ also völlig offen, ob dem Menschen ein Machttrieb (animus dominandi) innewohnt, wie Hans J. Morgenthau es meinte, oder nach Reinhold Niebuhr ein Element des sich aus dem Sündenfall ergebenden Bösen. Er schrieb: „Whether man is ‚by nature‘ peaceful and co-operative, or aggressive and domineering, is not the question.“46 Eine Seite später wandte er sich direkt gegen Morgenthau und dessen in der Natur des Menschen verwurzeltes Machtverständnis: „It is a mistake to draw from the universal phenomenon of competition for power the conclusion that there is actually such a thing as an innate ‚power instinct‘.“47 Stattdessen nahm er an, dass 41

Vgl. Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 13. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 3 (Hervorhebung durch J. P.). 43 Vgl. ebd., S. 11. 44 Für Herz war wichtig, dass sich – unabhängig von dem individuellen Machtkampf innerhalb einer Gruppe – auch das Gefühl von Gruppensolidarität gegenüber anderen Gruppen einstellen könne, die die Existenz oder den Status der eigenen Gruppe bedrohen. In dieser Identifizierung sah Herz eines der wichtigsten Phänomene im Bereich des sozialen und besonders des politischen Lebens. Sie bedeute jedoch nicht, dass das individuelle Streben nach Macht und Sicherheit aufgelöst werde, sondern nur, dass der menschliche Existenzkampf sich nun auf die Gruppe ausdehne. Vgl. Ebd., S. 12. 45 Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 157. Interessant ist, dass Hedley Bull, einer der Begründer der Englischen Schule, Jahre später ein Buch mit dem Titel The Anarchical Society vorlegen sollte. Herz’ Formulierung bewusst oder unbewusst folgend argumentierte Bull, dass es trotz der anarchischen Natur der internationalen Beziehungen nicht nur ein internationales Staatensystem, sondern auch so etwas wie eine internationale Gesellschaft gebe. Vgl. Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, 2nd edition, New York 1977. 46 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 3. 47 Ebd., S. 4. Herz ließ zwar zu, dass es Menschen geben möge, die mit einem besondern Willen zur Macht ausgestattet seien. Das Entscheidende sei aber, dass selbst ein Mensch, der diesen besonderen Willen nicht habe, darauf bedacht sein müsse, seine eigene Macht zu maximieren, weil er nur so seine Existenz sichern könne. Vgl. ebd. 42

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der Mensch als Mitglied einer sozialen Gemeinschaft nach immer mehr Macht streben müsse. Auch wenn er gar nicht die Absicht habe, andere Menschen anzugreifen, so genüge dennoch seine bloße Existenz, um Angst und Misstrauen unter seinen Mitmenschen zu verbreiten. Gert Krell kommentiert dies treffend: „Die Angst voreinander, nicht die Herrschsucht der Menschen, treibt sie in die Machtpolitik.“48 Überleben erfordert im Herzschen Model also permanente Überlegenheit, die in eine Spirale aus Machtakkumulation, Machtwettstreit und schließlich Gewaltanwendung mündet. In dieser Argumentationskette entblößte sich für Herz die grundlegende Sozialkonstellation, der alle Menschen von Geburt an ausgesetzt waren. Der „Kampf ums Dasein“ umschreibt einen Kampf, der durch das Gefühl der Unsicherheit bedingt wird. Es geht dabei nicht primär um den Gewinn von Macht, sondern um den Gewinn von Sicherheit. Herz unterschied also defensives Machtstreben deutlich von aggressivem Verhalten. Die Konsequenz aus dieser Feststellung für die nachfolgende Theoriebildung war schwerwiegend: Auch wenn der Teufelskreis des „Sicherheitsdilemmas“ unüberwindbar zu sein schien, ließ Herz’ Argumentation an dieser Stelle doch einen Ausweg erkennen, der dem anthropologisch oder theologisch begründeten Realismus fehlte. Das Beste, worauf man unter Berufung auf Morgenthaus Ansatz nach hoffen konnte, „was being rational enough to aim at compromise and negotiate ever so temporary settlements of issues.“49 Im Gegensatz dazu bot das Sicherheitsdilemma Raum für eine umfassendere Politik, die in Herz’ Worten auf dem „‚enlightened‘ interest of nations“50 basieren sollte. Zwar wies auch Herz’ Konzeption des Sicherheitsdilemmas eine deutlich fatalistische bzw. deterministische Komponente auf. Er hielt es jedoch für voreilig, die sich aus diesem Dilemma ergebenden Folgen als ewig gültige Gesetze anzusehen. Gerade die Tatsache, dass es nicht auf der menschlichen Natur beruhte, sondern auf einer sozialen Konstellation, ließ es denkbar erscheinen, dass es Auswege aus dem Dilemma gab. So war es nicht a priori unmöglich, eine Situation oder Konstellation zu beeinflussen, zu verändern oder wenigstens doch abzumildern, die der Mensch selbst geschaffen hatte:51 „This homo homini lupus situation does not preclude social cooperation as another fundamental fact of social life“52 – wie Herz es an anderer Stelle schrieb. Denn wenn die Staaten wirklich nur Sicherheit voreinander 48

Krell, S. 150. Herz, Reflections on Hans Morgenthau’s Political Realism, S. 8. 50 Herz, Comment, in: International Studies Quarterly, Vol. 25, No. 2 (June 1981), S. 237–241, S. 239. 51 Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 64. 52 Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 157. 49

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suchten, dann müssten sie in der Lage sein, das Sicherheitsdilemma durch gemeinsame Verabredungen und Versicherungen über die wechselseitigen defensiven Absichten abmildern zu können, weil sich Sicherheit so viel besser garantieren ließe als durch einen latenten Kriegszustand. In späteren Veröffentlichungen gab Herz allerdings zu bedenken, dass ein auf unbegrenztes Machtstreben bedachter Angreifer, wie etwa Hitler, nicht zu beschwichtigen sei.53 Eine Abmilderung des „Sicherheitsdilemmas“ war daher auch im Herzschen Kontext nur möglich, wenn alle Seiten in erster Linie nach Erhalt des Status quo strebten und keine revisionistischen Absichten hegten. Herz war jedoch der Ansicht, „that the security dilemma more often than not constitutes the factor that motivates nations’ actions“54. Entscheidend ist an dieser Stelle, sich die Machtdefinition bei Herz und Morgenthau näher anzuschauen und sie miteinander zu vergleichen: Morgenthau definierte Macht als „die Herrschaft von Menschen über das Denken und Handeln anderer Menschen.“55 Die Weite dieser Definition spiegelte sich in seiner Erklärung, dass der Begriff der Macht vom subtilsten geistigen Überzeugungsvermögen zu brutalster physischer Gewalt alles umschließe, was geeignet sei, um die Kontrolle von Menschen über Menschen zu errichten und zu erhalten. Unter politischer Macht verstand Morgenthau „die psychologische Beziehung zwischen denen, die die Macht ausüben, und denen, über die sie ausgeübt wird.“56 Auch Herz definierte „Macht“ äußerst breit. An einer Stelle bezeichnete er Macht als „[p]ossession of the means of living, and possession of weapons to defend oneself and one’s ‚property‘“57. An anderen Stellen im Buch verwies er darauf, dass auch der Besitz von Prestige zum Machtpotenzial beitragen könne, ebenso wie die Kontrolle der öffentlichen Meinung oder ökonomische Überlegenheit.58 Wichtig ist jedoch, dass Macht für Herz in erster Linie immer ein Instrument war, um Sicherheit zu garantieren – „power as a means of attaining more security“59 – und kein Selbstzweck, nach dem die Menschen aus einem natürlichen Instinkt strebten.60 53

Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 282, Fn. 4. Herz, Reflections on Hans Morganthau’s Political Realism, S. 8. 55 Morgenthau, Macht und Frieden, S. 54 f. 56 Ebd., S. 71. 57 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 4. 58 Vgl. Ebd., S. 4, 25, 26. 59 Ebd, S. 24. 60 Dies erkannte auch Kenneth Waltz, der Herz gegen den Vorwurf Quincy Wrights verteidigte, Herz habe Macht als obersten Wert postuliert: „Power appears as a possibly useful instrument rather than as a supreme value that men by their very natures are led to seek.“ Siehe Kenneth N. Waltz, Man, the State, and War: A Theoretical Analysis, New York 2001 [1954], S. 37. 54

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Obwohl „Macht“ also in beiden Fällen äußerst weit (und vage) definiert wurde, geriet sie bei Herz nicht zu einem alles umfassenden Erklärungsansatz, wie dies bei Morgenthau der Fall war. Stattdessen erhielt sie bei Herz einen neuen Stellenwert. Zwar erkannte auch er, dass es in der Geschichte immer wieder Extremfälle enthemmter Machtexpansion gegeben hatte, wie beispielsweise im Dritten Reich, doch diese sah er keineswegs als Regelfälle an. Er vertrat die Ansicht, dass es viele Staaten gebe, deren außenpolitisches Verhalten über einen langen Zeitraum nicht von konfrontativ-expansivem Machstreben gekennzeichnet gewesen sei. Konsequenterweise ersetzte er die Morgenthausche Variable „Macht“ durch die Variable „Sicherheit“, bzw. „Unsicherheit“ als zentrales Leitmotiv seines Denkens. Das Streben nach Macht stellte für ihn vor allem eine Folge des Sicherheitsdilemmas dar – und keinen Selbstzweck. Auch sei das Machtstreben nicht der einzige menschliche Handlungsantrieb, so Herz: „A behavior based entirely and consciously upon the realization of the ‚homo homini lupus‘ situation is a highly rationalized behavior, and average man is not usually born or reared as a coolly calculating being.“61 Damit war der Mensch für Herz anders als bei Morgenthau kein hundertprozentiger „Rational Actor“. Dies erscheint verwirrend, hatte er doch 1942 in seinem Aufsatz „Power Politics and World Organization“ sein Plädoyer für ein verbessertes kollektives Sicherheitssystem mit der Fähigkeit des Menschen zu rationalem Handeln begründet. Ohne dem Menschen diese Fähigkeit grundlegend abzusprechen, öffnete er seine Argumentation an dieser Stelle für das Phänomen der Irrationalität,62 welches das menschliche Verhalten seiner Meinung nach ebenfalls kennzeichnete. Menschliches Verhalten war für ihn nicht wie eine mathematische Gleichung kalkulierbar, sondern immer von Widersprüchen und Paradoxien geprägt. Herz zeigte hier einen Sinn für das Absurde, der mit seiner rationalistischen Argumentation nicht übereinstimmte, für ihn selbst mit dieser aber Hand in Hand zu gehen schien. Dieser rationalistischen Argumentation entgegen arbeitete auch das zweite Grundgefühl des Menschen, welches dem auf Machtmaximierung ausgerichteten ersten Grundimpuls entgegenstand: Das Gefühl des Mitleids oder Mitgefühls, das seiner Ansicht nach in den allermeisten Menschen schlummere.63 Neben dem Bedürfnis nach Sicherheit und Selbsterhaltung zeichnete 61

Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 6. Vgl. ebd., S. 16. 63 Dieses Gefühl war nach Herz keinesfalls mit dem Gefühl der Liebe oder der Zuneigung zu verwechseln und nicht auf die einem nahe stehenden Menschen reduziert. Es richtete sich vielmehr auf jedes Lebewesen, das in der Lage war, Schmerz zu empfinden. Vgl. ebd., S. 6 f. 62

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sich das menschliche Wesen in Herz’ Augen vor allem durch dieses zweite Gefühl aus, welches den Menschen dazu bringe, das Leid anderer nur schwer mit ansehen zu können. Zwischen diesen beiden Gefühlen – „one driving him toward enmity against his fellow men, and the other compelling him to suffer under the realization of the pain thus inflicted upon them“64 – sei der Mensch hin- und hergerissen. Er lebe in einem ständigen Spannungsfeld und müsse sein Verhalten an beiden Polen zugleich ausrichten.65 Genau auf diesen grundlegenden Antagonismus führte Herz dann die Entwicklung zweier Idealtypen politischen und sozialen Denkens zurück. b) Realismus und Idealismus als „Idealtypen“ Herz unterteilte das politische Denken grob in zwei „Idealtypen“, die sämtliche politischen Theorien und Strömungen umfassten.66 Politischer Realismus und Politischer Idealismus spiegelten seiner Meinung nach den widersprüchlichen Dualismus der gesamten menschlichen Existenz wider. Entgegen der herrschenden Verwendungsweise beider Begriffe in der Metaphysik oder der allgemeinen Philosophie ging es Herz nicht um die Frage nach dem Verhältnis von Materie und Geist, und auch nicht allein um die Unterscheidung zwischen Gegebenem und Wünschenswertem. Herz gab stattdessen an, in seiner Untersuchung eine komplexere Deutung beider Begriffe verwendenden zu wollen: „‚Political Realism‘, in our sense, characterizes that type of political thought which in one form or another . . . recognizes and takes into consideration the implications for political life of those security and power factors which . . . are inherent in human society. [. . .] ‚Political Idealism‘, on the other hand, is characteristic of that type of political thinking which in the main does not recognize the problems arising from the security and power dilemma, or, if it does so, takes notice of them only in a perfunctory way, and concentrates its interest upon ‚rational‘ considerations and ‚rational‘ solutions.“67

Den Unterschied zwischen beiden Theorien sah Herz also hauptsächlich in der Wahrnehmung des Macht- und Sicherheitsdilemmas. 64

Ebd., S. 7. Im Buch schließt sich hier eine längliche Schilderung der verschiedenen Reaktionstypen an, auf die an dieser Stelle verzichtet werden soll, da sie die Argumentation nicht voranbringt. Es sei jedoch verwiesen auf ebd., S. 8 ff. 66 Er war sich dabei durchaus darüber im Klaren, wie oberflächlich und grob seine Zweiteilung war. Er rechtfertigte dies wiefolgt: „The distinction here suggested, while frankly inadequate in the realm of more refined political theory, seems to be a fertile one for the study of the great social and political movements of history.“ Vgl. Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 159. 67 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 18. 65

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Eine realistische Geisteshaltung kennzeichnete nach Herz’ Definition vor allem, dass die Machtkonflikte und widerstreitenden Interessen erkannt wurden, in die sich Individuen, Gruppen und Staaten immer wieder verwickelten. Der politische Realist war sich völlig über die Ausweglosigkeit im Klaren, sich diesem Kampf zugunsten der Realisierung irgendeines „höheren“ oder „sittlicheren“ Zustandes entziehen zu wollen, da er erkannte, dass man sich bei einem solchen Versuch nur selbst Schaden zufügen würde. Er akzeptierte daher das Macht- und Sicherheitsdilemma als unveränderliche Gegebenheit und richtete seine Politik dementsprechend als Kampf um Macht und Machtpositionen aus. Herz sah im politischen Realismus primär das Produkt praktischer Erfahrung. Mit spitzer Feder schrieb er: „If the student of political thought would look more often outside his books, and study the ideas of party politicians or diplomats, he would realize more fully the true strength of what we have called here Political Realism, and its actual hold over ideas and actions.“68 Trotz dieser offensichtlichen Stärke und Überlegenheit unterstellte er der realistischen Denkschule einige bedeutende Schwächen. Eine erste Schwäche sah Herz in der Vernachlässigung innerer und ideologischer Faktoren. Indem sich der politische Realismus allein auf den Machtkampf zwischen den handelnden Machteinheiten konzentriere, übersehe er, dass innerhalb dieser Einheiten wiederum ein interner Machtkampf tobe, der nicht ohne Wirkung auf das Außenverhalten bleibe. In der Vernachlässigung von „subnational“ oder auch „supranational interests“ sah Herz das große Versäumnis Hans Morgenthaus und seines Konzepts des „national interest“:69 „Despite what Morgenthau said, the interests of nations seem to be irreconcilable, and ‚national interest‘ seems to be undefinable.“70 Richtigerweise, so Herz, betone der politische Realismus den großen Einfluss, welche – nota bene! – die vorhandene Struktur des politischen Systems auf seine Einheiten ausübe. Dabei entgehe ihm jedoch, dass auch Ideologien eine signifikante Rolle spielten, „in influencing the actual course of history and in shaping actual politics“71. Indem Herz die Wichtigkeit innerer Faktoren und ideologischer Bewegungen für die Wirkung der Einheiten nach außen betonte,72 löste er sich bereits früh vom rigorosen Argumentationsgerüst des Realismus und wendete sich klassisch-idealistischen Erklärungsvariablen zu. Dies erkannte 68

Ebd., S. 28. Vgl. Herz, Reflections on Hans Morgenthau’s Political Realism, S. 7. 70 Ebd., S. 8. 71 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 29. 72 Den Einfluss von Ideologien auf die Außenpolitik sah Herz als besonders zentral an. Vgl. Herz, Ideological Aspects, S. 69–75. 69

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auch Kenneth Thompson, der schrieb: „Long before it became fashionable to connect domestic or national and international politics, Herz was writing in this vein.“73 Herz plädierte schon 1951 für eine Öffnung des Politischen Realismus. Er nahm in diesem Punkt eine Ausdifferenzierung innerhalb der realistischen Theorieschule der Internationalen Beziehungen vorweg, wie sie an populärer Stelle erst seit dem Ende der 1990er Jahre verfolgt wird. In einem Aufsatz in der Zeitschrift World Politics fasste der amerikanische Politikwissenschaftler Gideon Rose diese Richtung im Jahr 1998 unter dem Oberbegriff „Neoclassical Realism“ zusammen. Ziel der neoklassischen Realisten ist es, eben jene innenpolitischen und ideologischen Faktoren in einer realistischen Theorie der dritten Generation zu berücksichtigen.74 Eine zweite nicht weniger bedeutende Schwäche des politischen Realismus bestand für Herz in der Tendenz, Analyse und Bewertung unkritisch miteinander zu vermischen. Wie oben bereits beschrieben, sah Herz die Aufgabe des Wissenschaftlers neben der sachlichen und möglichst wertfreien Analyse der Realität auch darin, von ihr und ihrer Interpretation ausgehend das „Erwünschte“ und „Erstrebenswerte“ zu definieren. Er kritisierte die Vertreter des politischen Realismus dafür, dass sie zu oft in die Falle tappten, das von ihnen korrekt beobachtete Macht- und Sicherheitsdilemma zu einem wünschenswerten politischen Ideal zu verklären und eine entsprechende auf Machtmaximierung angelegte Politik positiv zu bewerten.75 Hier sollte daran erinnert werden, dass Herz bei der Definition des „Erwünschten“ zwar immer den „realistischen“ Fakten Rechnung tragen wollte, eine Apologie der Machtpolitik aber vehement ablehnte. Das Macht- und Sicherheitsdilemma stellte für ihn eine objektive Beobachtung dar. Es durfte aber keineswegs zur Propagierung, Ausbreitung oder gar moralischen Rechtfertigung einer machtglorifizierenden Weltanschauung instrumentalisiert werden. Während der politische Realismus also Gefahr lief, das Macht- und Sicherheitsdilemma zu „idealisieren“, wurde es vom entgegengesetzten Ideal73

Thompson, Masters of International Thought, S. 110. Vgl. Gideon Rose, Neoclassical Realism and Theories of Foreign Policy, in: World Politics, Vol. 51, No. 1/1998, S. 144–172. Zu den prominenten Vertretern des neoklassischen Realismus zählen Randall Schweller, Fareed Zakaria und William Wohlforth. Obwohl sich neoklassischer Realismus in der Regel ausschließlich mit der Analyse von Außenpolitik beschäftigt, weist Randall Schweller darauf hin, dass auch andere politische Ergebnisse damit erklärt werden können. Vgl. Randall Schweller, The Progressiveness of Neoclassical Realism, in: Colin Elman/Miriam Fendius Elman (Hrsg.), Progress in International Relations Theory: Appraising the Field, Cambridge et al. 2003, S. 311–347. 75 Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 29 f. 74

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typus, dem politischen Idealismus, gänzlich verneint oder ignoriert. Stattdessen gingen politische Idealisten von der Vernunftgeleitetheit menschlichen Handeln aus: Menschen waren entweder ohnehin von Natur aus gut, rücksichtsvoll und friedliebend, oder aber zumindest fähig, aus früheren Fehlern zu lernen und damit zum „Guten“ erziehbar. Da aus dieser Sicht der Mensch zudem ein moralisches Wesen war, fähig, zwischen gut und böse, richtig und falsch zu unterscheiden, richtete er seine Handlungen nicht egoistisch auf Machterhalt und Machterwerb, sondern auf die Verwirklichung des absoluten „Guten“ – des Gemeinwohls, der Freiheit und Gleichheit aller und des weltweiten allumfassenden Friedens. Der politische Idealismus sah eine alles umspannende „Harmonie der Interessen“ als gegeben an und berief sich auf allgemein gültige Werte.76 Er vertrat eine monokausale Geschichtsinterpretation, also die Erwartung, alles Übel in der Welt ausmerzen zu können, wenn nur erst einmal das entscheidende „Grundübel“ beseitigt worden war.77 Herz’ Urteil über den politischen Idealismus fiel harsch aus: „Because of its wrong basic assumptions, Political Idealism has proved sterile, so far as realization of political ideas in historic reality is concerned.“78 Eben diese falschen Grundannahmen, die das Macht- und Sicherheitsdilemma außen vor ließen, führten demnach dazu, dass der ganze politische Idealismus auf Sand gebaut und zum Scheitern verurteilt sei, wie ein Blick in die Geschichte dem Beobachter unzweifelhaft beweisen müsse: So habe die Französische Revolution von den humanistischen Ideen der Aufklärung wenig übrig gelassen – und stattdessen ihre eigenen Kinder gefressen. Ebenso wenig habe die Oktoberrevolution in Russland zur Schöpfung einer klassenlosen Gesellschaft geführt – stattdessen aber zur Errichtung eines totalitären Staates mit einem nicht weniger starken Zwangsapparat. Auch die Sklavenbefreiungsbewegung in den Vereinigten Staaten habe aus den ehemaligen Sklaven keine freien und gleichberechtigten Mitglieder der amerikanischen Gesellschaft gemacht – stattdessen aber Verelendung, wirtschaftliche Abhängigkeit und eine faktische Diskriminierung nach sich gezogen. „Time and again“, resignierte Herz daher, „it has been the tragedy of Political Idealism to witness the fatal reversal whereby, as soon as the situation or condition under attack was replaced by something new, the laws of Political Realism turned the result into the opposite of the expected utopia.“79 76

Vgl. Ebd., S. 31–34. Den Anfang allen Übels sah Herz je nach idealistischer Theorie beispielsweise im mangelnden Selbstbestimmungsrecht (Nationalismus), in der Klassengesellschaft (Bolschewismus) oder im feudalabsolutistischen Ständestaat (Jakobiner der Französischen Revolution). 78 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 36 (Hervorhebung durch J. P.). 77

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Dennoch gewann Herz auch dem politischen Idealismus einige positive Seiten ab. So waren die nach dem Unmöglichen strebenden politischen Idealisten seiner Meinung nach erst dafür verantwortlich, dass das Mögliche überhaupt erreicht werden konnte: „Much of what has been achieved, in various stages of history, at various times in various civilizations, has been due to their thinking and to the use, in actual political history, of the concepts and ideals developed by them.“80 Bilanzierend schrieb Herz, es handle sich bei den beiden „Idealtypen“ Politischer Realismus und Politischer Idealismus um zwei entgegengesetzte Denkschulen, deren Grundannahmen sich nicht miteinander vereinbaren ließen. Die Tragik des Idealismus bestehe darin, dass er seine große Stunde immer genau dann habe, wenn die von ihm verfochtenen Ideale noch unerfüllt seien und er für deren Umsetzung in den Kampf ziehen müsse, nur um dann durch die Gesetze der Realpolitik korrumpiert zu werden. Herz zog daher den scheinbar unabwendbaren Schluss: „It [Political Idealism] degenerates as soon as it attains its final goal; and in victory it dies.“81 Das Verhältnis von Realismus und Idealismus war also in der Herzschen Wahrnehmung ungefähr vergleichbar mit dem von Ebbe und Flut: Beide konnten gemeinsam nicht existieren, lösten sich aber im Verlauf der Geschichte immer wieder ab. „History thus offers a crazy picture of ever-repeated beginnings, followed by ever recurring frustrations, and again new beginnings.“82 In Realismus und Idealismus standen sich Realpolitik und Ethik, Sein und Sollen, somit unverbunden gegenüber – womit Herz wieder bei genau derjenigen Kernproblematik angekommen war, die ihn schon seit seiner Auseinandersetzung mit Kelsens „Reiner Rechtslehre“ nicht mehr hatte ruhen lassen. Im weiteren Verlauf des Buches untersuchte er die Erklärungskraft sowie die praktischen Auswirkungen beider Theorien auf dem Gebiet der Innenpolitik, der internationalen Beziehungen und der Wirtschaftspolitik. Hier soll jedoch allein das Feld der internationalen Beziehungen interessieren. c) Der Konflikt zwischen Realismus und Idealismus auf internationaler Ebene Wie bereits 1942 in „Power Politics and World Organization“ geschehen, widmete Herz sich auch in Political Realism and Political Idealism ausgie79 80 81 82

Ebd., S. 39. Ebd. Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 159. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 42.

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big der Analyse der Internationalen Beziehungen. Noch vor Erscheinen des Buches hatte er unter dem Titel „Idealist Internationalism and the Security Dilemma“ im Jahr 1950 außerdem einen entsprechenden Aufsatz in der Zeitschrift World Politics veröffentlicht, der weite Beachtung fand.83 Die in Buch und Aufsatz präsentierten Ideen spiegelten seine schon in Princeton vollzogene Hinwendung zum außenpolitischen Realismus deutlich wider und waren von dem Bemühen getragen, europäische „Realpolitik“ in den Vereinigten Staaten „salonfähig“ zu machen. Von der im Vorwort zum Buch artikulierten Distanzierung gegenüber ebendiesen realpolitischen Ideen ist in Buch und Aufsatz wenig zu spüren. Herz beklagte in Political Realism and Political Idealism eingangs, dass eine theoretische Analyse der internationalen Beziehungen insbesondere seitens der Idealisten in der Vergangenheit viel zu wenig erfolgt sei. Er führte dies darauf zurück, dass Idealisten davon ausgingen, durch die Lösung innenpolitischer Probleme den Anfang allen Übels in der Außenpolitik beseitigen zu können. Sie nähmen fälschlicherweise an, dass sich die Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren völlig automatisch friedlich gestalten würden, wenn alle Staaten erst einmal demokratisch organisiert seien. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts, so Herz, hätten sich die Idealisten überhaupt an die Formulierung eigener idealistischer Theorien zur Analyse der internationalen Beziehungen gemacht.84 Wie aus dieser Argumentation deutlich wird, gilt Herz heute nicht ohne Grund als ein Wegbereiter für die Etablierung einer eigenständigen Wissenschaft der internationalen Beziehungen, indem er deren Theoretisierung immer weiter angestoßen und vorangetrieben hat. In Buch und Aufsatz wandte er sich zunächst gegen den in der Zwischenkriegszeit entstandenen „Wilsonianism“ und ähnliche utopische, internationalistische und pazifistische „-isms“ des Politischen Idealismus auf internationaler Ebene.85 Seiner Meinung nach waren all diese Ausprägungen durch folgende Grundannahmen miteinander verbunden: Sie alle gingen von der Möglichkeit aus, den Machtkampf zwischen den Staaten überwinden und das internationale System so verändern zu können, dass Frieden auf Dauer gesichert sei. Sie wollten eine friedliche und „gute“ Weltordnung schaffen, die auf universal gültigen moralischen Prinzipien beruhte. Kriege und Machtpolitik galten ihnen als Anachronismus – die internationalen Bezie83 Tatsächlich erfuhr der Artikel bis heute größere Beachtung als das dazugehörige Buch, insbesondere weil hier der Begriff des „Security Dilemma“ durch Herz zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gebracht wurde. Vgl. Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 157–180. 84 Vgl. ebd., S. 160. 85 Herz spricht von „individualism, humanism, pacifism, anarchism, internationalism“. Vgl. ebd., S. 158.

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hungen sollten vielmehr verrechtlicht und mit dem Völkerbund sollte ein internationales Regime etabliert werden, das über Streitbeilegungsmechanismen und Mittel zur Implementierung von Sanktionen verfügte.86 All diese Theorien hatten nach Herz außerdem eines gemeinsam: Sie übersahen die Auswirkungen des Macht- und Sicherheitsdilemmas auf internationaler Ebene. Dies war in seinen Augen fatal. Denn auch wenn das „Sicherheitsdilemma“ jede soziale Beziehung prägte, waren seine Auswirkungen hier besonders augenfällig. Herz argumentierte: Während es auf regionaler oder nationaler Ebene noch die Möglichkeit gebe, das „Sicherheitsdilemma“ abzumildern, etwa durch eine zentrale Sanktionsinstanz, sei dies auf internationaler Ebene sehr viel schwieriger.87 In einem anarchischen System, in dem souveräne Nationalstaaten allein auf sich selbst gestellt seien, um sich gegen Übergriffe anderer Staaten zu schützen, bleibe auch friedlich gesonnenen Staatsoberhäuptern nichts anderes übrig, als sich für den Ernstfall zu wappnen: Si vis pacem, para bellum! Ein unvermeidlicher Kampf um Ressourcen, weltweites Auf- und Wettrüsten und eine sich ständig erhöhende Kriegsgefahr seien die logische Folge dieser Zwangslage. Herz kritisierte, dass all diejenigen idealistischen Strömungen diesen Punkt übersähen, die auf dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen aufbauten und davon ausgingen, dass gleichberechtigte, freie und selbstbestimmte Staaten im internationalen System einträchtig nebeneinander existieren könnten und harmonische Beziehungen zueinander pflegen würden.88 Das „Sicherheitsdilemma“ mache eine solche Hoffnung schlichtweg unmöglich. Es spielte für das außenpolitische Verhalten der Staaten also keine entscheidende Rolle, ob diese selbstbestimmt waren, oder auch nicht. Dies mag zu Recht verwundern. Denn während Herz zuvor den Politischen Realismus noch dafür kritisiert hatte, dass dieser den Machtkampf innerhalb der handelnden Einheiten vernachlässige und auch ideologische Faktoren nicht berücksichtige, argumentierte Herz jetzt ebenso, indem er das Sicherheitsdilemma als entscheidende Variable für das außenpolitische Verhalten von Staaten identifizierte. Seine eigene Argumentation ließ also wenig Raum für genau diejenigen Faktoren, deren mangelnde Berücksichtigung er dem Realismus zuvor noch vorgeworfen hatte. Dieser offensichtliche Widerspruch löst sich allerdings auf, wenn man folgendes Zitat von Kenneth N. Waltz auch auf Herz bezieht. Waltz schrieb zur Verteidigung seines eigenen strukturellen Ansatzes: „Under most circumstances, a theory of international politics is not sufficient, and 86 Vgl. die Zusammenfassung idealistischer Theorien internationaler Beziehungen durch Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 93 ff. 87 Vgl. Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 158. 88 Vgl. ebd., S. 160.

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cannot be made sufficient, for the explanation of foreign policy. [. . .] Obviously nobody, realist or otherwise, believes that foreign policy and international politics can be understood without considering what goes on inside states.“89 Dennoch haben sich beide, Waltz und Herz, gegen die Berücksichtigung innenpolitischer und ideologischer Faktoren und für eine Theorie der internationalen Politik entschieden, welche auf der Systemebene operiert. Herz steht an dieser Stelle Waltz’ Neorealismus wesentlich näher als dem klassischen Realismus Morgenthaus. Waltz und er waren sich darin einig, dass das internationale System Zwänge auf seine einzelnen Einheiten ausübt, die in ihrem Verhalten dadurch massiv beeinflusst werden. Beide erkannten, dass innenpolitische und ideologische Faktoren zwar auf staatliches Verhalten ebenfalls Einfluss nehmen,90 ließen diese aber zugunsten theoretischer Klarheit außen vor. Letztlich ist bei Herz und Waltz die Struktur der internationalen Beziehung ausschlaggebend: Das Sicherheitsdilemma zwingt alle Staaten gleichermaßen zu einem ihm konformen Verhalten – also de facto zu einer auf Sicherheitsmaximierung abzielenden Außenpolitik.91 Da sie diese einfache Tatsache nicht zur Kenntnis nahmen, erklärte Herz ferner all diejenigen idealistischen Theorien zum Scheitern verurteilt, die aufgrund der wachsenden Verflochtenheit und Interdependenz der Weltwirtschaft davon ausgingen, dass sich diese Verflochtenheit auch auf die politische Ebene übertragen ließe. Vertreter dieser Theorien deuteten die Geschichte gemeinhin als Prozess einer zunehmenden Demokratisierung, Verrechtlichung und Verschmelzung der einzelstaatlichen Gesellschaften zu einer einzigen globalen Community. Die moderne und globalisierte Welt bildete für sie keine Arena mehr für den Machtkampf von miteinander konkurrierenden Nationalstaaten; Krieg wurde daher Seitens der Idealisten für überflüssig erklärt.92 Dieser Auffassung trat Herz nun massiv entgegen. Schon in seinem Aufsatz von 1942 hatte er darauf verwiesen, dass in diesen idealistischen Überlegungen schlichtweg die Schattenseiten der wirtschaftlichen Verflochtenheit übersehen wurden. Auch er sah eine direkte Verbindung zwischen wachsender Interdependenz und der Interaktion von Staaten, das Argument funktionierte bei ihm jedoch in die entgegengesetzte Rich89

Vgl. Kenneth N. Waltz, Nachwort, in: Masala, S. 131–136, S. 133. Im Fall von Herz stellt Georg Sørensen fest: „Herz actually hinted . . . that domestic power relationships might be a serious security problem, but he doesn’t pursue the issue.“ Siehe Georg Sørensen, State Transformation and New Security Dilemmas, in: Mathias Albert/Bernhard Moltmann/Bruno Schoch/Lothar Brock, Die Entgrenzung der Politik. Internationale Beziehungen und Friedensforschung, Frankfurt a. M. 2004, S. 95–116, S. 97. 91 Vgl. Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 163. 92 Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 94. 90

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tung: Wachsenden Interdependenz laufe dem Wunsch der Staaten, ihre Unabhängigkeit zu wahren und mit Macht zu verteidigen, entgegen.93 Er schrieb: „Faced with this growing interdependence but also with the security dilemma, their [the states’] attempted way-out is to expand their individual power, economically (in order to be self-sufficient in war), strategically (in order to safeguard its defense requirements), etc.“94 Das Loblied, das die Vertreter eines Laissez-faire-Liberalismus auf den Freihandel sangen, klang in seinen Ohren insofern schief, als es die Absichten der Staaten außer Acht ließ, sich Monopolstellungen zu sichern und Protektionismus walten zu lassen, um die eigene Position zu stärken und – notfalls auch mit Gewalt – zu verteidigen.95 Auch im Bereich des Völkerrechts stellte Herz ein Scheitern idealistischer Theorieansätze fest. Den aussagekräftigsten Beweis für deren Misserfolg lieferten seiner Meinung nach seine ehemaligen Lehrer Hans Kelsen und Georges Scelle. Letzterem verdankte er das Vorwort zu seinem BristlerBuch. Als ehemaliger Kelsen-Schüler und Anhänger von dessen Theorien emanzipierte er sich hier noch einmal ganz deutlich von seinen intellektuellen Wurzeln. Er unterstellte Kelsen die Tendenz, diejenigen Tatsachen und Gegebenheiten zu „rationalisieren“, die andernfalls zu irrational erscheinen und nicht in seine „Reine Rechtslehre“ passen würden, wie z. B. das Phänomen des Krieges. Offenkundig, so Herz, wende die „Reine Rechtslehre“ rechtliche Kriterien auf Situationen an, die eine solche Anwendung nicht zuließen. Er, der einstmals ein großer Befürworter der Idee einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen war, schrieb nun: „[T]he tendency to interpret everything ‚legally‘, was the expression of an actual trend which existed during the period between 1918 and 1939, to legalize international relations. Kelsen’s ‚should-be’s‘ all correspond to what the League of Nations, the Permanent Court of International Justice, the Briand Kellog Pact, and other similar institutions and regulations of that period sought to bring to actual realization. But even his ‚are’s‘, in part, idealized existing conditions of international relations by considering as ‚law‘ what, to a large degree, always has been and still is pure, irrational fact.“96

Herz weitete seine Kritik auch auf die Völkerrechtstheorie von Georges Scelle aus.97 Im Kern hatte Scelle eine Theorie entwickelt, derzufolge eine 93

Vgl. Ebd., S. 95. Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 173. 95 Vgl. ebd., S. 175. 96 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 99. 97 Eine umfassende Darstellung der Völkerrechtstheorie von Scelle kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Es sei zu diesem Zweck verwiesen auf: Anja Wüst, Das völkerrechtliche Werk von Georges Scelle im Frankreich der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2007. 94

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weltweite, natürliche Solidarität die vorherrschende Gegebenheit und ein den Globus umspannendes internationales Recht die vorherrschende Norm war. Ausgehend von einer zunehmenden Internationalisierung aller Lebensbereiche plädierte Scelle dafür, nicht länger den souveränen Staat, sondern das Individuum in den Mittelpunkt des Völkerrechts zu stellen. Das Grundprinzip von Scelles Völkerrechtsverständnis war Föderalismus. Er nahm an, dass die Bedürfnisse der größeren Gruppen denen der kleineren immer vorangehen würden, so dass die Gesellschaft sich notwendigerweise in die Richtung eines sich immer mehr ausweitenden Kreises der wechselseitigen sozialen Abhängigkeit entwickele. Scelle war überzeugt, dass diese Entwicklung zu einer supranationalen Organisation der Menschheit auf föderaler Grundlage führen würde. Im Völkerbund sah er seine These erstmals bestätigt.98 Auch mit Scelle ging Herz hart ins Gericht: Die von Scelle gezogenen Schlüsse mussten jedem realistischen Beobachter des tatsächlichen Völkerrechts und der internationalen Beziehungen seiner Meinung nach wie eine Chimäre erscheinen.99 Bissig kommentierte Herz: „Since Scelle, in his treatise, is constantly obliged to refer in his footnotes to actual practices which deviate from the norms expounded in his text, one might rightly say that the real international law is found not in the text but in his annotations.“100 Sowohl Kelsen als auch Scelle begingen in Herz’ Augen den Fehler, Entwicklungstendenzen der internationalen Beziehungen herbeizuwünschen und als tatsächlich geltendes Recht zu beschreiben – was den daraus resultierenden Theorien den Charakter eines fast utopischen Idealismus verlieh:101 „These two theories of international law . . . are characterized by two main features. [. . .] One, primarily apparent in Scelle’s system, is the underlying assumption of necessary progress toward a law-ruled, pacified, and, structurally, statelike international society. The other feature, characterized primarily by Kelsen’s ‚Pure Theory of Law,‘ consists in the ‚legalization‘ . . . of existing, largely extralegal international relationships and institutions, such as war or conflicts between international and municipal law. The first-named feature is expressive of over-optimism, the second of rationalism.“102

Noch einmal wird deutlich, welchen weiten Weg Herz seit seiner Zeit als Kölner Doktorand zurückgelegt hatte, wie weit er sich von seinem Ausgangspunkt inzwischen entfernt hatte und wie einschneidend für ihn das Erlebnis des Scheiterns des Völkerbundes im Abessinien-Konflikt 1935 gewe98 Indem die größere Gruppe nach Scelle ihr Recht immer allen ihren Mitgliedern auferlege, teilte Scelle mit Kelsen die Auffassung, dass das überlegene Völkerrecht alle Eigenrechte der Staaten breche. 99 Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 101. 100 Ebd. 101 Vgl. ebd., S. 102. 102 Ebd.

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sen war. Der seitdem stetig gewachsene Zweifel an der Regulierungskraft des Völkerrechts und die ausdrückliche Betonung der realpolitischen Gegebenheiten waren inzwischen zum Leitmotiv des Herzschen Denkens geworden, wie nachfolgende Äußerung erneut zeigt: „Any rational and ‚legal‘ interpretation of international relations still governed by power politics, as well as any progress toward a more rational system, are alike hampered by the tendency of the existing units of international society, namely the states, to oppose limitations of their ‚sovereignty‘; a tendency which is expressive of the simple though fundamental fact of their mutual jealousy, and their competition for power and security.“103

Jede Analyse der internationalen Politik, die diesen ständigen Konkurrenzkampf der Staaten um Macht und Sicherheit nicht als Argumentationsgrundlage nahm, versprach in Herz’ Augen wenig Erfolg. Genau an dieser Stelle hatten jedoch alle Theorien des politischen Idealismus versagt, wie er in seinem Buch bewiesen hatte. Allerdings blieben auch die bislang entwickelten Ansätze eines außenpolitischen Realismus für Herz unbefriedigend und „zynisch“104. Herz gab zwar zu, dass realistische Ansätze den beständigen Kampf um Macht und Sicherheit korrekterweise als die treibende Kraft der internationalen Beziehungen identifizierten, kritisierte jedoch, dass sie keine Entwicklung hin zum „Besseren“ mehr zuließen und mancherorts sogar eine apologetische Machtpolitik im Namen der Staatsräson glorifizierten.105 Der außenpolitische Realismus forcierte seiner Meinung nach eine Außenpolitik, die alles auf Konfrontation, Überlegenheit und eine Schmittsche „Freund-Feind“-Dichotomie abstellte, und deren bestes Beispiel Herz in der amerikanischen Strategie des „Containment“ sah.106 Dies glich in Herz’ Augen einer groben und gefährlichen Fehleinschätzung. 103

Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 102. Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 177. 105 Hier nahm Herz Morgenthau allerdings explizit aus und berief sich auf die falsche Rezeption des Morgenthauschen Werks innerhalb der Disziplin. Morgenthau werde „oft fälschlicherweise als eine Art ‚Über-Machiavel‘ angesehen, der eine unbeschränkte Machtpolitik befürwortete, in Wirklichkeit betonte [er] Möglichkeiten des Ausgleichs der Interessen, des Gleichgewichts, der friedlichen diplomatischen Regelungen, gegen Kreuzzug-Geist auf beiden Seiten.“ Vgl. Herz, Die Wissenschaft von der Außenpolitik in den Vereinigten Staaten (unveröffentlichtes Manuskript), Juli 1959, Box 17, Theories of International Relations Lecture Notes [Ordner], Herz Papers. Wie Gert Krell richtigerweise betont, unterschied Morgenthau „ausdrücklich zwischen schrankenloser und zynischer Macht bzw. Gewalt auf der einen und einer sittlich gebundenen Machtpolitik auf der anderen Seite.“ So Krell, S. 147. Dennoch, „die Geister, die er gerufen hatte, wurde er [Morgenthau] nicht mehr los.“ So Herz, Vom Überleben, S. 161. 106 Auffällig ist an dieser Stelle das Herzsche Verständnis von „Containment“. Was dieser nämlich unter der amerikanischen Strategie verstand, hat auf den ersten 104

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Was also tun, angesichts der offensichtlichen Fehler und Versäumnisse beider Theorien, die sich wechselseitig ausschlossen? War jeder Idealismus tatsächlich nichts als Illusion und der Realismus demnach der Weisheit letzter Schluss? Herz gab sich mit dieser fatalistischen Erkenntnis nicht zufrieden und wollte einen dritten Weg propagieren, der dort weiterging, wo der klassische Realismus stehen geblieben war. Im zweiten Teil von Political Realism and Political Idealism versuchte er daher, eine Synthese aus zynischem Realismus und utopischen Idealismus – „mit gleichem Abstand zwischen beiden“107 – zu konstruieren. Er versah seine Position mit dem Begriff „Realist Liberalism“, auf Deutsch „Realliberalismus“108, „a term which sums up the work of someone who acknowledges all the empirical constraints identified by more traditional ‚realists‘, but who also affirms the need to transcend those constraints in search of a more human and just world order“109, um Martin Griffiths zu zitieren. Nicht nur sollte der „Realliberalismus“ eine theoretische Alternative zu den altbekannten großen Idealtypen politischen Denkens bilden, sondern er sollte vielmehr eine konkrete Handlungsanleitung geben. Betrachtet man das Herzsche Denken tatsächlich als den Versuch einer Symbiose zwischen europäischem und amerikanischem Gedankengut, wie dies in dieser Arbeit vorgeschlagen wurde, so befindet man sich an dieser Stelle am Ende des primär theoretisch-europäischen und am Anfang des amerikanischen, „policy“orientierten Teils. Hier ist die Bruchstelle der Zweiteilung des Herzschen Denkens zu verorten: Auf die Diagnose folgte nun sein Vorschlag einer Heilung versprechenden Therapie.

Blick viel mehr mit Eisenhowers offensivem „Roll Back“ gemein als mit Kennans defensivem „Containment“. Als Herz sein Buch verfasste, hatte jedoch der Nationale Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten in seinem Memorandum Nr. 68 (besser bekannt als NSC 68) am 14. April 1950 Truman bereits empfohlen, die Ausgaben für das Militär massiv zu erhöhen, um den weltweiten Einfluss des Kommunismus einzudämmen. Kennans „Containment“ wurde durch NSC 68 vielfach modifiziert – und militarisiert – schon bevor Eisenhower überhaupt ins Amt kam. Vgl. John Lewis Gaddis, Strategies of Containment. A Critical Appraisal of American National Security Policy During the Cold War, revised and expanded edition, New York et al. 2005, S. 89 ff. 107 Herz, Vom Überleben, S. 166. 108 „Liberalismus“ wurde von Herz mangels einer besseren Bezeichnung verwendet. Später zog Herz den Begriff „realistischer Idealismus“ oder „idealistischer Realismus“ vor. Vgl. Herz im Brief an Hacke am 1. Mai 1990. 109 Griffiths, S. 16.

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2. Vom Sein zum Sollen – Theorie und Praxis eines realisierbaren Ideals a) „Wedding of Paradoxes“110: Zur Konstruktion eines idealistischen Realismus Gemäß seinem Selbstverständnis als Wissenschaftler hatte Herz im ersten Teil seines Buches dafür gesorgt, die Ausgangslage so objektiv und realistisch wie möglich zu präsentieren und zu analysieren. Mit dem „Sicherheitsdilemma“ hatte er eine Theorie der internationalen Politik entwickelt, die auf dem Handlungszwang basierte, welches das Dilemma auf die Mitglieder des internationalen Systems ausübte. Diese Theorie war fatalistisch, denn das „Sicherheitsdilemma“ war nicht aus der Welt zu schaffen und stellte Hintergrund und Antriebsfaktor aller Handlungen dar. Herz hatte demzufolge eine Theorie internationaler Politik im Waltzschen Sinne entwickelt, welche die Struktur des Systems in ihren Mittelpunkt stellte, und keine Außenpolitiktheorie. Diese Unterscheidung ist insofern besonders wichtig, als Herz sich im zweiten Teil des Buches nun anschickte, mit dem „Realliberalismus“ die Grundzüge einer solchen Außenpolitiktheorie zu entwerfen, mit deren Hilfe man gegen die durch das Sicherheitsdilemma erzeugten Bedingungen angehen sollte. Auf die Theorie des Handlungszwanges folgte nun also die Handlungsempfehlung. Wie an dieser Stelle bereits deutlich wird, läuft ein solches Unterfangen naturgemäß Gefahr, sich in theoretische Widersprüche zu verstricken. Das Vorhandensein von logischen Brüchen innerhalb der Herzschen Argumentation ist sicherlich einer der Gründe, warum der „Realliberalismus“ so wenig rezipiert wurde, während Herz’ Unterscheidung von Realismus und Idealismus aus dem ersten Teil des Buches bis heute Aufmerksamkeit auf sich zieht.111 Herz wollte sich jedoch nicht auf eine reine Bestandaufnahme beschränken. Ihm ging es in einem zweiten Schritt vielmehr darum, von einer nüchternen Analyse der Gegebenheiten ausgehend auch das „Erstrebenswerte“ zu definieren, namentlich eine „gute“ Außenpolitik.112 Unter Anerkennung des Sicherheitsdilemmas und den damit verbundenen Handlungszwängen sollte der „Realliberalimus“ danach streben, die Wirklichkeit im Rahmen des Möglichen zu verbessern. Herz’ „Gebrauchsanweisung“ für einen solchen idealistischen Realismus liest sich wie folgt: 110 So der Titel der Rezension des Buches durch Morgenthau. Vgl. Hans J. Morgenthau, Wedding of Paradoxes, in: Saturday Review of Literature, 21. Juli 1951. 111 Diese Einschätzung teilt beispielsweise Schmidt, The Political Discourse of Anarchy, S. 234. 112 Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 131.

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„While all political action and endeavour should be based firmly on a sound foundation of ‚realist‘ facts and insights, the guiding star of all such action should be one that moves man to try to push developments in a different direction. They should be built, not on the sands of wishful thinking but on the rock of reality. On the other hand, they should not be left where the inertia of things would carry them.“113

Das Wünschenswerte und das Mögliche waren für Herz nicht identisch. Bei der Umsetzung des „Realliberalismus“ konnte es – wollte man das Abgleiten in einen utopischen Idealismus vermeiden – allein darum gehen, das Mögliche soweit an dem Wünschenswerten zu orientieren, wie es die Realität zuließ. Was Herz mit dem „Realliberalismus“ anstrebte, war somit die „wissenschaftlich-artistische Kunst, sich zwischen den extremen Polen von starrem Realismus und utopischem Idealismus auf das realisierbare Ideal zu konzentrieren“114. Wie Herz bei seiner Beschreibung des „Sicherheitsdilemmas“ bereits betont hatte, war es die grundlegende Sozialkonstellation, der alle Menschen von Geburt an ausgesetzt waren und aus der man nicht entkommen konnte. Dennoch bot dies seiner Meinung nach noch lange keinen Anlass zur Verzweifelung oder Resignation. Herz hielt es nämlich durchaus für möglich, die Auswüchse des Dilemmas abzumildern und einzudämmen: Machtkonkurrenz sei zwar die naheliegendste Konsequenz aus dem Sicherheitsdilemma, doch Kooperation und Solidarität seien gleichermaßen mögliche Handlungsweisen für den Menschen. Der Schlüssel zum Verständnis seiner Argumentation liegt an dieser Stelle erneut in Herz’ Verständnis menschlicher Vernunft. Einerseits bewegt die Vernunft den Menschen zu Machtakkumulation, da sie die Unsicherheit über die wahren Absichten des Gegners durch eine stete Vergrößerung des Selbstbehauptungspotentials und Strategien präventiver Gewaltanwendung zu überwinden sucht. Andererseits ist Herz’ Vorstellung von Rationalität nicht nur instrumentell: Die wichtigste Erkenntnis bestand für Herz zunächst in der Feststellung, dass der Mensch fähig sei, selbstbestimmt zu handeln. Er ist seiner Meinung nach eben kein bloßes Opfer realpolitischer Zwänge, die ihn willenlos in die eine oder andere Richtung trieben. In einem seiner letzten Aufsätze formulierte er dies wie folgt: „But Homo sapiens has been unique among all other species by being able to act consciously, by applying thought, reasoning, and evaluation to his problems.“115 Der Mensch sei trotz der Zwänge des „Sicherheitsdilemmas“ ein 113

Ebd. Christian Hacke, Ein Vordenker des 21. Jahrhunderts. Zum Tode des großen ‚realistischen Idealisten‘ John H. Herz, in: Internationale Politik, Nr. 2/2006, S. 95–97, S. 95. 114

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freies Wesen – wenn auch in den Grenzen, die die realistischen Gegebenheiten ihm auferlegten. Über das Wesen dieser Grenzen allerdings verlor Herz nicht viele Worte. Die Frage, die sich Herz stellte, war: „How shall he act? And – even more importantly – What can he do?“116 Herz gab zu, dass die erste Frage eine ethische sei und damit nicht in den Bereich einer eigentlichen „Wissenschaft von der Politik“ falle, da ihre Beantwortung nur relativ und subjektiv erfolgen könne. Allein die zweite Frage biete sich zu einer wissenschaftlichen Beantwortung an, da hier objektive und nachprüfbare Kriterien aufgestellt werden könnten. Soweit die Argumentation des Kelsen-Schülers. Dies genügte Herz jedoch schon lange nicht mehr. Politische Theorie bestand für ihn eben nur zur Hälfte aus reiner Wissenschaft. Die andere Hälfte sah er darin, Ideale für ein praktisches Handeln aufzuzeigen. Es ist daher wichtig, zu verstehen, dass der „Realliberalismus“ sich explizit zur Aufgabe machte, fundamentale ethische Voraussetzungen zu definieren. Es handelt sich um eine eindeutig normative Theorie. Doch welche Wertvorstellungen wurden nun im „Realliberalimus“ gehegt und auf welchen ethisch-moralischen Grundannahmen beruhte er? Hier hilft es, sich Herz’ Definition von „Liberalismus“ anzuschauen, die die Basis seiner politischen Theorie darstellen sollte: „Its basic assumption is derived from the ideal of ‚freedom‘ that underlies the major theories of Political Idealism. It thus accepts as ideal the age-old ideals of all kinds of liberal-democratic-humanitarian-socialist, etc., theories, schemes and utopias. Negatively, it denies the ethical value and moral justification of ‚power‘, insofar as such power is exercised for the sake of restricting the freedom of the many and to maintain or create privilege of the few; it affirms all that tends to limit, mitigate, or restrain such power, either of an individual or of a group over other individuals and groups. [. . .] Positively, the ‚liberal‘ ideal thus affirms the value of ‚freedom‘ of the human person in the broadest sense of this word, the free and untrammeled life of the individual.“117

Die grundlegende ethische Konstante im „Realliberalimus“ hieß also „Freiheit“ im weitesten Sinne. Maßstab aller Handlungen war das utilitaris115 John H. Herz, On Human Survival. Reflections on Survival Research and Survival Policies, in: Ervin Laszlo/Peter Seidel, Global Survival. The Challenge and its Implications for Thinking and Acting, New York 2006, S. 9–25, S. 19. Es handelt sich hierbei um eine überarbeitete und erweiterte Version des Aufsatzes, den Herz bereits 2003 unter gleichem Titel veröffentlichte: John H. Herz, On Human Survival: Reflections on Survival Research and Survival Policies, in: World Futures, Vol. 59, No. 3–4/2003, S. 135–143, S. 136. In den nachfolgenden Kurzzitaten wird durch die Jahreszahl deutlich gemacht, welche Version des Aufsatzes gemeint ist. 116 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 134. 117 Ebd., S. 135.

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tische Prinzip „the greatest freedom of the greatest possible number“118, ergo das Glück der Vielen, die Vermeidung von Gewalt und der Schutz von Minderheiten.119 An anderer Stelle verwies Herz auf den westlichen Wertekomplex, also auf das, „was seit den westlichen Revolutionen an liberal-demokratischen Errungenschaften bekannt ist.“120 Er gab jedoch zu bedenken, dass man diese Wertvorstellungen nicht, oder nicht ohne beträchtliche Änderungen, auf andere Kulturkreise übertragen könne. Diesem Problem müsse sich der „Realliberalismus“ stellen.121 Auf welche Weise er sich den unterschiedlichen Wertvorstellungen annehmen sollte, und ob es gar eine Hierarchie der Werte gab, blieb allerdings leider Herz’ Geheimnis. Herz wollte Abstand nehmen von moralischem Extremismus und Dogmatismus: Die janusköpfige Natur des „Realliberalismus“ bedinge, dass es ihm nicht gelingen könne, allgemeine, überall anwendbare Prinzipien zu befürworten, ohne in einen utopischen Idealismus oder in „Gesinnungsethik“122 abzugleiten, so seine Begründung. Herz verstand „Realliberalismus“ als politische, das hieß für ihn auf praktisches Handeln ausgerichtete Haltung.123 Als solche müsse er flexibel und wandelbar sein und seine Handlungsempfehlungen der jeweiligen konkreten Situation anpassen, um realistisch zu bleiben.124 Einen moralischen Absolutheitsanspruch könne sich der „Realliberalismus“ nicht leisten – um in der realen Welt zu bestehen, müsse er mit relativen, nicht mit absoluten Maßstäben arbeiten. „Realliberalismus“ lässt sich daher weniger als eine ganz konkrete Handlungsanweisung begreifen, sondern vielmehr als eine bestimmte Art des Denkens. In diesem Sinne ist er eher eine Geisteshaltung als eine politische Theorie. Herz war sich durchaus darüber im Klaren, dass es nicht genügte, einfach die eine Theorie zur anderen hinzuzuaddieren. Er selbst sah ein, dass jede Kombination aus realistischen Einsichten und idealistischer Zielsetzung widernatürlich sein muss.125 Dies galt in besonderem Maße für die ethische Grundlage des „Realliberalismus“: „The ideal of freedom . . . is indeed something ‚unnatural,‘ something against which all ‚natural‘ tendencies and forces of social and political life conspire, as long as they are uninfluenced 118

Ebd., S. 140. Vgl. ebd., S. 147. 120 Herz, Vom Überleben, S. 164. 121 Vgl. ebd., S. 165. 122 Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1917/1919) – Politik als Beruf (1919), Studienausgabe der Max-Weber-Gesamtausgabe Band I/17, herausgegeben von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter, Tübingen 1994, S. 79. 123 Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 137. 124 Vgl. ebd., S. 166. 125 Vgl. auch Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 14. 119

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by ethical consideration.“126 Herz „Realliberalismus“ bewegte sich also im Spannungsfeld zwischen ethischen Idealen und realistischer Natur, im Widerspruch von freiem Willen und Determinismus. Dennoch herrschte im „Realliberalismus“ kein der Macht als solcher feindlich gegenüber eingestellter Freiheitsbegriff. Obwohl Macht prinzipiell amoralisch und unethisch sei, könne eine auf Macht basierende Politik, die ein gewisses Maß an Gewalt und Unterdrückung mit sich bringe, dennoch durch ihre wahrscheinlichen Ergebnisse gerechtfertigt sein, wenn sie der Freiheit diene. Die Devise laute: „Political action must be ready to utilize power in the interest of the basically anti-power principle of freedom.“127 Infolgedessen verteufele oder verneine der „Realliberalismus“ Macht nicht, sondern wolle sie im eigenen Interesse und für eigene Zwecke anwendbar machen und nutzen, so Herz. Bis zu einem gewissen Grad war mithin auch im „Realliberalimus“ der alte realistische Grundsatz vom Zweck, der die Mittel heiligt, präsent.128 Doch wo sind hier die Grenzen zu ziehen? Und wer soll über diese wachen? In einem späteren Aufsatz schrieb Herz selbst zu diesem Thema: „It is true that means can easily turn into ends and where power is meant to be used for an indefinite national interest or security end, power tends to accumulate it on end.“129 Der „Realliberalist“ wandelte also auf einem mehr als schmalen Grad zwischen einer vernunftgeleiteten Machtpolitik und ihrem Ausufern in „excessive power games“130. Bedauerlicherweise sagte Herz in keinem seiner Texte etwas Konkretes zu der Ziel-Mittel-Problematik und den Grenzen der Machtpolitik. Dennoch kritisiert er selbst Morgenthau genau für dieses Versäumnis. Herz schrieb: „Der Handelnde muss ja nach Morgenthau unter Umständen moralische Erwägungen hintanstellen. Doch müssen wir dann immer noch fragen: Unter welchen Umständen und welche Moralprinzipien? Der . . . Satz Morgenthaus, dass ‚zwischen verschiedenen Handlungen die am wenigsten üble zu wählen . . . moralisches Urteil beweise‘, führt auch nicht immer weiter. Wer bestimmt, was mehr oder weniger ‚übel‘ ist? Was gilt, wenn keine verschiedenen Möglichkeiten vorhanden sind bzw. gesehen werden?“131

In diesem Zitat könnte man problemlos den Namen ‚Morgenthau‘ durch den Namen ‚Herz’ ersetzen, denn beide Denker winden sich um denselben 126

Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 137. Ebd., S. 138 f. 128 Vgl. ebd., S. 143. 129 Herz, Reflections on Hans Morgenthau’s Political Realism, S. 7. 130 Ebd. 131 John H. Herz, Der ‚Politische Realismus‘ Hans J. Morgenthaus, in: PVS, Heft 3/1978, S. 394–398, S. 397. 127

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Punkt. Die an Morgenthau geübte Kritik eignet sich vortrefflich, um auch bei Herz die offensichtlich wunde Stelle bloßzulegen, denn auch er lässt den geneigten Leser im Regen stehen. Wer bestimmt im „Realliberalismus“ die Regeln? Wer urteilt über das, was „mehr oder weniger ‚übel‘ ist“? Dies bemängelt auch Ken Booth, der schreibt: „Herz did not explore this problematique; he was light on detail on this and other practical matters, though practice remained his ultimate political challenge.“132 Auch aus diesem Grund stellt der Realliberalismus keine kohärente Außenpolitiktheorie dar, obwohl eben das sein Anspruch war, sondern bleibt ein Fragment. Trotz seiner eben zitierten Kritik versuchte Ken Booth, Herz’ fehlende konkrete Handlungsempfehlungen in zweifacher Weise zu verteidigen: Erstens, so Booth, sei das Buch als hoch abstraktes Werk konzipiert worden – eine Tatsache, aus der Herz nie einen Hehl gemacht habe. Booth vergleicht den Herzschen Ansatz in diesem Punkt mit demjenigen Carrs: „The comparison with Carr’s approach to writing The Twenty Years’ Crisis is striking, both in the way the two scholars conceived their arguments in relation to their conception of the bifurcated structure of thought – idealism/realism – and also how they intended their works to be philosophical investigations, not detailed contributions to contemporary political analysis.“133

Der Grad der Abstraktion werde besonders darin deutlich, dass in einem nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten Buch über die internationalen Beziehungen die Namen „Hitler“ und „Stalin“ jeweils nur drei Einträge im Index bekommen hätten. Zweitens verweist Booth zurecht darauf, dass Herz, wenn er der Operationalisierung seiner Theorie mehr Raum gewidmet hätte, damit das Risiko eingegangen wäre, ein „late-1940s how-to-do-foreign policy recipe book“134 zu schreiben. Stattdessen aber sei Herz’ Buch ein Klassiker, der auch heute noch nachfolgenden Generationen von Studenten der Internationalen Beziehungen wertvolle Erkenntnisse vermittle. Was kann der „Realliberalismus“ nun de facto erreichen? Herz warnte vor übertriebenen Hoffnungen: Anders als diejenigen Theorien des politischen Idealismus, die den Verlauf der Geschichte als teleologischen Prozess deuten, und eine Art „Heilszustand“ anstreben würden, verspreche der „Realliberalismus“ keine großen Umbrüche und keinen grenzenlosen Sieg der Freiheit. Im Gegenteil: Jedes Plus an Freiheit, jeder Triumph idealistischer 132

Booth, Navigating the ‚Absolute Novum‘, S. 516. Ebd., S. 516–517. Für eine detaillierte Beschreibung des Carr’schen Ansatzes vgl. Michael Cox, Introduction, in: Edward H. Carr, The Twenty Years’ Crisis 1919–1939. An Introduction to the Study of International Relations Houndmills 2001, S. ix–lix. 134 Booth, Navigating the ‚Absolute Novum‘, S. 517. 133

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Prinzipien, müsse der Natur gewaltsam und immer wieder aufs Neue abgetrotzt werden. Genau aus diesem Grund ist „Realliberalimus“ nicht als „Heilslehre“ misszuverstehen, sondern als der bescheidene Versuch, den politischen Realismus zu liberalisieren und zu humanisieren.135 Ihm haftet zudem etwas inhärent Tragisches an, denn es liegt in der Natur der Sache, dass der Realliberalist sich seinem Ideal immer nur annähern, es aber nie vollständig und endgültig erreichen kann. In seinem diesbezüglichen Bemühen gleicht er Sisyphos. b) Realliberalismus in den Internationalen Beziehungen Während oben die theoretischen und ethischen Grundlagen des Realliberalismus erläutert wurden, steht im nachfolgenden Teil seine praktische Anwendbarkeit auf den Bereich der internationalen Beziehungen im Mittelpunkt. Herz hatte ausführlich gezeigt, wie außerordentlich fatal die Kräfte des Sicherheitsdilemmas auf internationaler Ebene wirkten. Gleichzeitig war hier der von ihm identifizierte Kontrast zwischen Idealismus und Realismus besonders ausgeprägt. Herz nahm an, dass die Beziehungen zwischen den höchsten Einheiten des internationalen Systems anarchisch seien. Gleichzeitig, so führte er weiter aus, habe diese Anarchie im Lauf der Geschichte nicht immer vorhergeherrscht und das staatliche Zusammenleben dominiert. Von Zeit zu Zeit sei eine Abschwächung des Machtkampfes zu beobachten gewesen. Verhältnismäßige Ruhe habe immer dann geherrscht, wenn die Einheiten durch große Sicherheitsabstände voneinander getrennt gewesen seien, und somit das Gefühl der unmittelbaren Bedrohung ausgeblieben sei.136 Zu einer Abschwächung sei es ferner gekommen, wenn sie eine starke einigende Ideologie verbunden habe, welche den fremden Einheiten ihren feindlichen und aggressiven Charakter genommen und sie als Verbündete habe erscheinen lassen. Sobald sich die jeweiligen Einheiten jedoch 135

Vgl. Christian Hacke, Als Jude im Exil. Ein Sozialwissenschaftler für die internationale Politik, in: DIE ZEIT, 7. Dezember 1984. 136 Diesen Gedanken ließ Herz im weiteren Verlauf des Buches auf sich beruhen, ohne noch einmal näher darauf einzugehen. Es scheint aber hier schon kurz auf, was später im Neorealismus an prominenter Stelle durch Stephen M. Walt argumentiert wurde. Walt stellte seine gesamte Argumentation darauf ab, dass das außenpolitische Verhalten von Staaten viel mehr durch das Ausmaß der Bedrohung bestimmt sei, der sich ein Staat im internationalen System ausgesetzt sehe, als durch reine Gleichgewichtsüberlegungen. Walt modifizierte so die populäre und auch von Herz favorisierte Theorie der „Balance of Power“ durch die Theorie einer „Balance of Threat“. Vgl. Stephen M. Walt, Alliance Formation and the Balance of World Power, in: International Security, Vol. 9, No. 4 (Spring 1985), S. 3–43.

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vergrößert hätten, oder enger miteinander interagierten, ohne dem mäßigenden Einfluss einer Ideologie ausgesetzt zu sein, seien die Mechanismen des „Sicherheitsdilemmas“ mit voller Wucht zutage getreten. Zusätzlich zu diesen beiden Elementen der Machtabschwächung erkannte Herz noch ein drittes Element, nämlich die „Balance of Power“.137 Er griff hier erneut auf seine in „Power Politics and World Organization“ verarbeiteten Erkenntnisse über die europäische Gleichgewichtspolitik zurück und wiederholte im Wesentlichen noch einmal die damaligen Kernaussagen. Wie schon 1942 argumentierte er, dass ein funktionierendes Gleichgewichtssystem zwar Kriege nicht verhindere, es aber ein wichtiges Mittel sein könne, um das „Sicherheitsdilemma“ abzumildern. Sein Ziel war: „Nothing else than the preservation of the existence of at least the larger and more powerful states and nations from total subjugation at the hands of one hegemonial power.“138 Für den politischen Idealisten, der an einer weltweiten Herrschaft des Rechts interessiert war, mochte dies vielleicht kein besonders hehres Ziel sein, für Herz hingegen war es zumindest deutlich besser als uneingeschränkte Anarchie. An dieser Stelle ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Herz das Konzept des „gütigen Hegemons“, wie es in der Vergangenheit häufig in Bezug auf die USA verwendet wurde,139 fremd blieb. Die Theorie hegemonialer Stabilität erschien ihm nicht plausibel. Ein wie auch immer gearteter Hegemon garantierte keine friedliche Welt, sondern war in seinen Augen ein potentieller Unruheherd. In einer weltweit verfolgten Politik des Gleichgewichts sah er hingegen das individuelle Machtstreben der Staaten mit dem allgemeinen Interesse an einer stabilen Weltordnung auf positive Weise vereint. Staaten engagierten sich demnach für die Aufrechterhaltung einer stabilen „Balance of Power“, weil ihr eigener Sicherheitsinstinkt sie dazu animierte – und nicht, wie der Idealismus behauptete, um die Unabhängigkeit und das Selbstbestimmungsrecht fremder Nationen zu erkämpfen. Mit eben diesem Begründungsansatz führte Herz nachfolgend auch in Political Realism and Political Idealism die Idee eines verbesserten Kollektivsicherheitssystems ein, welche er schon 1942 in „Power Politics and World 137 Peter Stirk sieht richtigerweise in Herz wiederholtem Rückgriff auf das Gleichgewichtskonzept ein typisches Charakteristikum seiner frühen Arbeiten: „[H]is realism of the 1940s and 1950s was marked by a sense of nostalgia for a balance of power“. Stirk, Realism and the Fragility of the International Order, S. 287. 138 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 207. 139 Vgl. aus der Vielzahl der Veröffentlichungen Geir Lundestad, Empire by Invitation? The United States and Western Europe 1945–1952, in: Journal of Peace Research, Vol. 23, No. 3/1986, S. 263–277 und Robert Kagan, The Benevolent Empire, in: Foreign Policy, No. 111 (Summer 1998), S. 24–35.

II. Kernthesen von Political Realism and Political Idealism

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Organization“ propagiert hatte. Für Herz war „kollektive Sicherheit“ das Äquivalent für angewandten „Realliberalismus“ auf internationaler Ebene. Im Gegensatz zu den meisten Realisten, die das System der Kollektivsicherheit als utopisch abtaten, verstand Herz die Idee der kollektiven Sicherheit als „rationalisiertes“ Gleichgewichtssystem alten Stils.140 Die Verbesserung und Verfeinerung gegenüber einer klassischen „Balance of Power“ sah er dabei in der Institutionalisierung der Gegenmacht, die im klassischen System meist willkürlich und im Rahmen von ad-hoc-Koalitionen erfolgt war. Außerdem wurde das Lebensrecht eines Staates in einem Kollektivsicherheitssystem erstmals zum rechtlich geschützten Anspruch erhoben. Herz schrieb: „Collective Security thus brings about mitigation of power politics, not so much because of any diminution of force . . . but because of its ‚legalization‘ and its attempted use in the interest of the freedom and independence of states. A collective security system, by guaranteeing a certain status . . . to the member states also legalizes international relations by defining the basic units or ‚subjects‘ of international relations and their fundamental ‚property rights,‘ thus, for the first time, constituting a genuine basis for an effective ‚international law‘.“141

Dies ist bemerkenswert: Herz, dessen größte politische Enttäuschung 1935 das Scheitern des Völkerbundes darstellte, pries 1951 – wie schon neun Jahre zuvor – erneut das Mittel der kollektiven Sicherheit als Instrument der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, obwohl er auf den vorherigen Seiten von Political Realism and Political Idealism explizit seine Skepsis gegenüber solchen Verrechtlichungsversuchen ausgedrückt hatte. Obwohl er im Zuge des Abessinien-Konflikts selbst Zeuge davon geworden war, wie die individuellen Interessen einiger Staaten das Interesse aller an der Aufrechterhaltung des internationalen Friedens einfach ad absurdum geführt hatten, hielt er dennoch an der Idee fest, dass Staaten ihre eigenen kurzfristigen Interessen hinter die langfristigen Interessen aller stellen könnten. Kollektive Sicherheit hing für ihn maßgeblich davon ab, dass die Beteiligten ein Mindestmaß an Rationalisierung ihres Eigeninteresses aufbringen konnten – und wollten.142 Unterstellt man, dass Herz das Versagen des Völkerbundes in der Zwischenkriegszeit 1942 noch als unglücklichen und vermeidbaren „Betriebsunfall“ einschätzte,143 so konnte dies 1951 nicht mehr als Erklärung dienen. 140

Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 221. Ebd., S. 222 f. 142 Vgl. ebd., S. 224. 143 Als Beleg dafür mag die folgende Aussage dienen: „A system of collective security . . . perhaps came closer to practical realization in the interwar period than debunking of the League-of-Nations experiment would have us assume.“ Vgl. Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 180. 141

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E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

Denn hatte sich nicht auch die Nachfolgeorganisation des Völkerbundes, die UNO, in den Jahren nach ihrer Gründung im Jahr 1945 im Angesicht des Kalten Krieges als macht- und hilflos gegenüber einzelstaatlicher Machtpolitik erwiesen?144 Es ist daher erstaunlich, dass Herz, der die praktische Anwendbarkeit des „Realliberalismus“ anstrebte, im Bereich der internationalen Beziehungen auf ein sicherheitspolitisches Konzept zurückgriff, das zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches in der Praxis bereits veraltet erschien, wie dem Autor wohl bewusst gewesen sein muss.145 „Have we outlined another utopia?“146 – fragte sich Herz daher selbstkritisch, nur um es sogleich zu verneinen. De facto konnte aber weder das klassische Mehrmächtegleichgewicht alteuropäischen Stils noch ein System kollektiver Sicherheit unter den gewandelten internationalen Bedingungen Wirkung zeigen. Mit der Einteilung der Welt in zwei Machtblöcke, die in der Lage waren, sich wechselseitig zu vernichten, war die für jedes Gleichgewichtssystem so notwendige Bildung einer Übermacht zur Eindämmung eines potentiellen Aggressors unmöglich geworden.147 Auch wenn Herz den Verlauf der Geschichte nicht im Sinne Spenglers als prädeterminierte Abfolge historischer Zyklen interpretierte und in der Zukunft einen „offenen Horizont der Möglichkeiten“148 sah, erschien es doch bereits 1951 relativ unwahrscheinlich, dass dieser Prozess umkehrbar war und „kollektive Sicherheit“ in naher Zukunft die Chance auf eine Verwirklichung erfahren würde.149 Herz muss sich daher an dieser Stelle die Kritik gefallen lassen, dem praktischen Anspruch, den er an seinen „Realliberalismus“ erhob, zumindest im Bereich der internationalen Beziehungen 144

Herz interpretierte die Gründung der Vereinten Nationen unter Roosevelts Federführung zunächst als Beweis, dass man aus verpassten Gelegenheiten, sprich dem Versagen des Völkerbundes angesichts des aufkommenden Nationalsozialismus, gelernt habe. Schon bald aber sah er ein, dass die bipolare Struktur und die Entdeckung der neuen atomaren Waffentechnologie die Mechanismen der Vereinten Nationen aushebelten. Vgl. Herz, Reflections On My Century, S. 3. 145 Schon ein Jahr vor Erscheinen des Buches schrieb Herz: „Today, it is true, any such devices seem to incur even greater difficulties in view of the bipolarity of the present-power system, which, lacking the traditional balancing power or group of powers, renders the maintenance of the balance more precarious and excludes collective security.“ Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 180. 146 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 223. 147 Vgl. Herz, Macht, Mächtegleichgewicht, Machtorganisation im Atomzeitalter, S. 61. 148 Im englischen Originaltext spricht Herz von einem „open horizon of various possibilities“. Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 228. 149 Herz selbst gibt rückblickend in seiner Autobiographie zu, dass das Buch die großen Veränderungen nach 1945 noch nicht einbezogen habe. Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 160.

III. „Sicherheitsdilemma“ und „Realliberalismus“ in der Rezeption

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nicht gerecht geworden zu sein. Er selbst war sich seines Versäumnisses offensichtlich bis zu einem gewissen Grad bewusst, wie auf den letzten Seiten des Buches deutlich wird: „Perhaps never in the history of mankind has a situation existed which so clearly and acutely illustrated the ‚security dilemma,‘ with its temptation to exercise power in a ‚preventive‘ way, to ‚kill in order not to be killed,‘ as we see it today, when the entire bloc is divided into two major blocs, its dominant powers armed with the most terrible weapons ever devised, and possessed of the most perfect organizations for the exercise of concentrated power ever brought about by human ingenuity.“150

Wie ein auch praktisch anwendbarer „Realliberalimus“ nach dem Ausbruch des Kalten Krieges aussehen konnte, sollte dann erst das große Thema von Herz’ zweiter wichtiger Monographie werden, welche die Organisation der internationalen Beziehungen im Atomzeitalter behandelte.

III. „Sicherheitsdilemma“ und „Realliberalismus“ in der Rezeption Der Erfolg des „Sicherheitsdilemmas“ als Analyseinstrument der Internationalen Beziehungen ist bis heute ungebrochen. In unzähligen Veröffentlichungen wurde es aufgegriffen, analysiert, erweitert und kritisiert,151 wobei allerdings der Begriffsschöpfer selbst manchmal in Vergessenheit geriet.152 Strukturelle Realisten wie Kenneth N. Waltz oder John J. Mearsheimer haben es zum Kern ihrer Theorien der internationalen Politik erhoben. Aber selbst Kritiker der realistischen Schule wie die britischen Politikwissenschaftler Ken Booth und Nicholas J. Wheeler widmeten dem Phänomen eine Monographie.153 Ob Herz die Früchte dieser Auseinandersetzung in jedem einzelnen Fall begrüßt hätte, erscheint allerdings fraglich und wird nachfolgend diskutiert. Betrachtet werden soll zunächst die Interpretation des „Sicherheitsdilemmas“ durch Kenneth Waltz, die er in seinem Buch Theory of International 150

Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 239. Der bekannteste Neu-Interpret des „Sicherheitsdilemmas“ ist mit Sicherheit Robert Jervis. Vgl. Robert Jervis, Cooperation Under the Security Dilemma, in: World Politics, Vol. 30, No. 2 (January 1978), S. 167–214. 152 Kennzeichnend für die mangelnde Beachtung, die die Disziplin dem Herzschen Werk oftmals entgegenbringt, ist beispielsweise, dass Herz bei der Erläuterung des „Sicherheitsdilemmas“ in einem so grundlegenden Buch wie Martin Griffith/Terry O’Callaghan, International Relations: The Key Concepts, London 2003, S. 291 f. überhaupt nicht erwähnt wird. 153 Booth/Wheeler, The Security Dilemma. Herz verfasste kurz vor seinem Tod noch das Vorwort zu diesem Buch. Es wurde seine letzte Veröffentlichung. 151

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E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

Politics ausgearbeitet hat.154 Waltz’ zentrales Anliegen war es, die Wirkung der anarchischen Struktur des internationalen Systems als „übergeordnetes Ganzes“ auf die Außenpolitik der einzelnen Staaten als „Systemeinheiten“ zu identifizieren und zu erklären. Waltz’ Prämisse: In einem anarchisch strukturierten System, in dem jeder Staat auf das Prinzip der „Selbsthilfe“ angewiesen sei, müsse es sein primäres außenpolitische Interesse sein, das eigene Überleben zu sichern. Waltz begründete dies wie folgt: „Beyond the survival motive, the aim of states may be endlessly varied; they may range from the ambition to conquer the world to the desire merely to be left alone. Survival is a prerequisite to achieving any goals that states may have, other than the goal of promoting their own disappearance as political entities.“155

Je mächtiger ein Staat im Vergleich zu anderen Staaten sei, desto sicherer und unabhängiger könne er sich fühlen und desto erfolgreicher sei er bei der Durchsetzung seiner Interessen. Sicherheit sei der Garant für Autonomie und Wohlfahrt, alle Staaten strebten daher nach möglichst viel Macht. Die Parallele zu Herz’ Denken ist unmittelbar ersichtlich.156 Das „Sicherheitsdilemma“ bot für Waltz keinen Ausweg: In der anarchischen Staatenwelt sähen Staaten ihre Existenz immer bedroht, weil ein heute noch befreundeter Staat morgen schon ein Feind sein könne. Jeder Staat müsse aus diesem Grunde zwingend danach streben, möglichst autonom zu bleiben, um seine Handlungsfähigkeit nicht durch andere Staaten und internationale Institutionen kontrollieren und beschränken zu lassen.157 Allerdings sah Waltz die Möglichkeit, die Gefahren des Sicherheitsdilemmas durch eine Politik des Gleichgewichts abzumildern, welche das anarchische System seiner Meinung nach automatisch begünstige, ob die Einzelstaaten dies nun wüssten und wollten oder nicht.158 Die Politik der Gleichgewichtsbildung schalte das Sicherheitsdilemma nicht aus; sie erkenne es vielmehr an, stelle sich ihm, trage ihm Rechnung. Unverkennbar befindet sich auch diese Sichtweise mit derjenigen von Herz im Einklang.159 154 Überraschenderweise erwähnte Waltz das „Sicherheitsdilemma“ nur in einem einzigen Absatz, in dem er auf Herz’ Beitrag verwies. Vgl. Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics, Reading, Mass. et al. 1979, S. 186. 155 Waltz, Theory of International Politics, S. 91. 156 Vgl. zu dieser Parallele Masala, S. 58–59. 157 Vgl. Waltz, Theory of International Politics, S. 104–107. 158 Zum Begriff der Balance of Power bei Waltz vgl. Masala, S. 55 ff. Masala verweist darauf, dass für Waltz eine Balance of Power-Politik kein Automatismus sei. Waltz erwarte jedoch eine starke Tendenz in diese Richtung, da das primäre Interesse der Staaten darin liege, ihre Position im internationalen System beizubehalten. Vgl. ebd., S. 57.

III. „Sicherheitsdilemma“ und „Realliberalismus“ in der Rezeption

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Im Unterschied zu Herz bewertete Waltz in seinem Buch die nach 1945 rasant entstandene bipolare Struktur des internationalen Systems allerdings positiv, während gerade die Bipolarität Herz’ Wunsch nach einem „kollektiven Sicherheitssystem“ unterminierte. Waltz argumentierte, dass wenn alle Staaten gleich stark oder in gleich starken Allianzen zusammengeschlossen wären, auf der jeweils anderen Seite eine relative Gewissheit über ihre Verteidigungsfähigkeit herrschen würde. Dies wiederum führte in seinen Augen zu Stabilität durch Abschreckung, bzw. einem Gleichgewicht des Schreckens.160 Herz hingegen betonte stets die Fragilität des bipolaren Systems und favorisierte schon in Political Realism and Political Idealism eindeutig eine multipolare Weltordnung. Er erhärtete seine Position noch einmal durch sein nachfolgendes Buch International Politics in the Atomic Age, wo er sich explizit mit der Bedeutung der Bipolarität für das internationale System auseinandersetzte. Von dieser unterschiedlichen Einschätzung einmal abgesehen scheint es, als sei Herz’ Nähe zu Waltz insgesamt größer als die zu Hans Morgenthau. Das „Sicherheitsdilemma“ stellt eine strukturelle Bedingung des internationalen Systems dar, die völlig losgelöst von der Natur der einzelnen Akteure ist, auf welche Morgenthau seine Theorie aufbaute. Genau wie Waltz schenkt Herz daher auch der Morgenthauschen Erklärungsvariable „nationales Interesse“ keine große Beachtung. Von einem objektiven „nationalen Interesse“ konnte man seiner Meinung nach sowieso nie ausgehen, stattdessen verwies er auf die subjektive Wahrnehmung durch das Auge des jeweiligen Betrachters.161 Das außenpolitische Verhalten von Staaten wurde für ihn entscheidend durch den sozialen Druck beeinflusst, den die anderen Akteure aufgrund ihrer bloßen Existenz und dem damit verbundenen Bedrohungspotential erzeugten.162 Herz verlagerte also den Fokus von der individuellen auf die strukturelle Analyseebene, noch bevor Waltz dieses Vorgehen in seinem Buch Man, the State, and War populär machte. Dies illustriert insbesondere eine Passage aus dem acht Jahre später veröffentlichten Buch International Politics in the Atomic Age: 159 Dies bestätigte Kenneth N. Waltz im Interview mit J. P. am 17. September 2008 in Aberystwyth, Wales. 160 Für eine detaillierte Zusammenfassung der Vorteile der Bipolarität bei Waltz vgl. Masala, S. 69–71. 161 Vgl. Herz, Relevancies and Irrelevancies in the Study of International Relations, S. 41: „[The national interest] is not something that presents itself ‚objectively‘ to the actor (as even the otherwise so perceptive Hans Morgenthau seems to assume).“ 162 Zur Erinnerung: Herz schrieb in „Power Politics and World Organization“, S. 1040: „Any proposal for a reform of the system has to start from a realization of the compulsion which the system exerts upon each member and the inescapability which it implies as far as the policies of each single unit are concerned.“

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E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

„I believe that in international politics it is relationships among basic units of international affairs, rather than behavior patterns of agents, that lend themselves most properly to theoretical investigation. I suggest, therefore, that the primary method of studying international politics should be one that deals with the ‚structures‘ and ‚systems‘ of international relations as the basic data.“163

Herz löst das „Agent-Structure Problem“164 also zugunsten der Struktur. In diesem Sinne ist Herz wie Waltz als struktureller Realist zu sehen. Während der klassische Realismus nach Morgenthau die Wissenschaft von der Politik im Schwerpunkt als Wissenschaft von der Macht betrachtete, setzten Herz und Waltz dieser Vorstellung den Begriff der Sicherheit entgegen.165 Sie grenzten ihre jeweiligen Machtbegriffe daher scharf von Morgenthaus Verständnis der Macht als in der menschlichen Natur triebhaft angelegtes expansives Streben nach Herrschaft und Dominanz ab, wie Fareed Zakaria ausführt: „The logic of this theory contrasts markedly with classical realism. While the latter implies that states expand out of confidence, or at least out of an awareness of increased resources, the former maintains that states expand out of nervousness.“166 Waltz ging davon aus, dass Staaten nicht danach strebten, ihre Macht zu maximieren, sondern es ihnen darauf ankam, ihre Position im internationalen System zu erhalten.167 Staaten waren seiner Ansicht nach in der Regel eher Status quo orientiert als revisionistisch. Wenn ein Staat nämlich versuchen würde, seine Machtposition im internationalen System zu vergrößern, müsste er immer damit rechnen, auf Gegenmacht zu stoßen und den Widerstand der sich bedroht fühlenden Staaten auf sich zu ziehen. Aus diesen Grundüberlegungen ergab sich für Waltz, „dass Staaten defensive Positionalisten sind, die – in ihrem eigenen Interesse – nicht nach übermäßiger Steigerung ihrer Macht streben, sondern eine übermäßige Machtakkumulation anderer verhindern wollen.“168 Wie oben gezeigt wurde, unterschied auch Herz deutlich zwischen defensivem Machtstreben und aggressivem Verhal163

Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 7. Vgl. Alexander Wendt, The Agent-Structure Problem in International Relations Theory, in: International Organization, Vol. 41, No. 3 (Summer 1987), S. 335–370. 165 Für Waltz ist Sicherheit „the highest end“. Vgl. Waltz, Theory of International Politics, S. 126. 166 Fareed Zakaria, From Wealth to Power. The Unusual Origins of America’s World Role, Princeton, NJ 1998, S. 21. 167 Vgl. Waltz, Theory of International Politics, S. 126. 168 Masala, S. 62. Masala verweist richtigerweise darauf, dass Waltz’ Theorie nicht ausschließe, dass es auch revisionistische Staaten gebe, „denn Sicherheit ist das Minimalziel und Machtmaximierung das Maximalziel staatlicher Politik“. Der Preis für das Erreichen des Maximalziels sei jedoch für eine weit überwiegende Zahl der Staaten zu hoch und rentiere sich nicht. 164

III. „Sicherheitsdilemma“ und „Realliberalismus“ in der Rezeption

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ten.169 Man kann ihn daher wie Waltz als Vertreter eines defensiven Realismus einstufen.170 Dem entgegen steht die vor allem von John J. Mearsheimer vorgebrachte These, Herz müsse als Vorreiter des offensiven Realismus verstanden werde, wie ihn Mearsheimer Anfang der 1990er Jahre begründete.171 Auch Mearsheimer argumentierte in seinem Buch The Tragedy of Great Power Politics auf einer strukturellen Ebene,172 entwickelte aber ausgehend von seinem Verständnis des „Sicherheitsdilemmas“ eine Theorie, die zwischenstaatliche Kooperation so gut wie ausschließt. Im Gegensatz zum defensiven Ansatz von Waltz geht offensiver Realismus davon aus, dass Staaten niemals saturierte Mächte seien, denen der vorhandene Status quo genüge. Stattdessen müssten sie aufgrund des „Sicherheitsdilemmas“ immer danach streben, das internationale System zu dominieren. Ihr oberstes Ziel heiße Hegemonie. Kein Staat, zumindest keine Großmacht, so argumentiert Mearsheimer, würde sich mit einer relativen Position zufrieden geben, sondern immer danach streben, absolute Macht zu erreichen: „Given the difficulty of determining how much power is enough for today and tomorrow, great powers recognize that the best way to ensure their security is to achieve hegemony now, thus eliminating any possibility of a challenge by another great power. Only a misguided state would pass up an opportunity to become hegemon in the system because it thought it already had sufficient power to survive.“173

In Mearsheimers Welt existieren daher keine das „Sicherheitsdilemma“ mäßigenden Kräfte. Seine Logik ist einfach: Staaten, die das Potential haben, anderen Staaten zu schaden, werden dieses Potential immer auch entsprechend ausnutzen. Mearsheimer ist hier gänzlich fatalistisch. Daher ist 169 Kritisch lässt sich an dieser Stelle jedoch anmerken, dass Waltz und Herz ein internationales Staatensystem beide als gegeben ansehen und nicht erklärten, wie Staaten überhaupt erst einmal zu ihrer jeweiligen Machtposition gekommen sind. Doch wenn Staaten wirklich kein Interesse an einer Änderung des Status quo hätten und allein ihre Position erhalten wollten, wären Veränderungen im internationalen System nicht erklärbar. 170 Dieser Meinung ist auch Robert Jervis, Realism, Neoliberalism, and Cooperation. Understanding the Debate, in: Colin Elman/Miriam Fendius Elman, Progress in International Relations Theory. Appraising the Field, Cambridge, Mass. 2003, S. 277–309, S. 289. Vgl. ferner Zakaria, S. 21 ff. 171 Die deutlichste Formulierung erfährt der „Offensive Realismus“ in Mearsheimers Buch The Tragedy of Great Power Politics. Wegbereitend waren insbesondere die Aufsätze: Back to the Future. Instability in Europe after the Cold War, in: International Security, Vol. 15, No. 1 (Summer 1990), S. 5–56; The False Promise of International Institutions, in: International Security, Vol. 19, No. 3 (Winter 1994/95), S. 5–49. 172 Vgl. Mearsheimer, The Tragedy of Great Power Politics, S. 21. 173 Ebd., S. 35.

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die einzig rationale Außenpolitik diejenige, die immer auf einen möglichen Angriff von außen vorbereitet ist – bzw. diesem Angriff, wenn möglich, sogar noch zuvorkommt. Das Sicherheitsdilemma stellt in seinen Augen weniger ein wirkliches Dilemma dar, als vielmehr eine strategische Herausforderung: Er hält sich also nicht mit einem Rätselraten über die Frage auf, welche Absichten die anderen Seite hegen könnte, sondern setzt per se voraus, dass diese Absichten feindselig sind, um eigenen Schaden zu vermeiden. Wichtig ist an dieser Stelle, dass der „offensive Realismus“ nicht davon ausgeht, dass alle Staaten de facto unheilvolle Absichten hegen. Dies ist ein Punkt, der von Mearsheimers Kritikern oft übersehen wird. Alles, was Mearsheimers Argumentation ins Rollen bringt, ist die Einsicht, dass Staaten niemals hundertprozentige Gewissheit über die Absichten der anderen Akteure erlangen können und sie daher vorsorglich vom Schlimmsten aller Szenarien ausgehen müssen – „[a]fter all, for every neck, there are two hands to choke it.“174 Obwohl Mearsheimer sich explizit auf Herz’ Überlegungen zum „Sicherheitsdilemma“ beruft,175 kann John Herz keinesfalls als der Anwalt eines „offensiven Realismus“ schlechthin gelten, wie Mearsheimer fälschlicherweise behauptet hat.176 Mearsheimer argumentiert: „The implication of Herz’s analysis is clear: the best way for a state to survive in anarchy is to take advantage of other states and gain power at their expense. The best defense is a good offense. Since this message is widely understood, ceaseless security competition ensues. Unfortunately, little can be done to ameliorate the security dilemma as long as states operate in anarchy.“177

An dieser Stelle hilft ein Blick in Herz’ erst 1959 veröffentlichtes Buch International Politics in the Atomic Age, um Mearsheimers Argumentation zu begegnen und Herz’ eigentliche Intention besser verstehen zu können: „Both sides might even profit from the security dilemma itself, or, rather, from facing and understanding it. For, if it is true . . . that inability to put oneself into the other fellow’s place and to realize his fears and distrust has always constituted one chief reason for the dilemma’s poignancy, it would then follow that elucidation of this fact might by itself enable one to do what so far has proved impossi174

Mearsheimer, The Tragedy of Great Power Politics, S. 31. „The ‚security dilemma‘ . . . reflects the basic logic of offensive realism.“ Vgl. ebd., S. 37. 176 Vgl. ebd., S. 36 und Glenn H. Snyder, Mearsheimer’s World. Offensive Realism and the Struggle for Security: A Review Essay, in: International Security, Vol. 27, No. 1, Summer 2002, S. 149–173, S. 156. Mearsheimer hat jüngst noch einmal insistiert, dass zwischen ihm und Herz keine grundsätzlichen Unterschiede bestünden. Vgl. Ken Booth/Nicholas J. Wheeler/Michael Williams, Conversations in International Relations: Interview with John J. Mearsheimer (Part I), in: International Relations, Vol. 20, No. 1, March 2006, S. 105–127, S. 122. 177 Mearsheimer, The Tragedy of Great Power Politics, S. 36. 175

III. „Sicherheitsdilemma“ und „Realliberalismus“ in der Rezeption

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ble – to put oneself into the other’s place, to understand that he, too, may be motivated by one’s own kind of fears, and thus to abate the fear. This would not resolve the dilemma entirely, of course, for one could never be entirely certain; but it might at least take some of the sting out of it and insert a wedge toward a more rational, less fear-ridden, less ideology-laden, and less emotion-beset attitude through a kind of psychoanalysis in the international field where lifting one factor into the realm of the conscious might become part of the healing process.“178

Hier zeigt sich, dass es Herz darum ging, zu zeigen, dass gerade die Empathie für den Feind und das Verständnis der Mechanismen des Sicherheitsdilemmas ein Schlüssel dafür sein können, ein außenpolitisches Verhalten zu entwickeln, dass andere eher in ihrem Sicherheitsbedürfnis stärkt, als ihre Angst zu schüren.179 Herz plädierte also ganz offensichtlich dafür, eine defensive Lehre aus dem Sicherheitsdilemma zu ziehen – und eben keine offensive. Er rief vielmehr dazu auf, sich in den „Gegner“ hineinzuversetzen und ohne ideologische Scheuklappen dessen Position nachzuvollziehen, um so gegenseitigen Ausgleich und gegenseitiges Verständnis zu erreichen.180 Während es im „offensiven Realismus“ Mearsheimers ausschließlich darum geht, seine eigene Macht zu maximieren, stellt Herz’ Theorie des außenpolitischen „Realliberalismus“ – bei allen offensichtlichen Mängeln dieses Ansatzes – ja gerade den Versuch dar, (nationale) Macht zu beschränken, zu schwächen und einzudämmen. Es scheint, als habe Mearsheimer allein den ersten Teil von Political Realism and Political Idealism gelesen. Schließlich war Herz nicht nur der erste Theoretiker, der das „Sicherheitsdilemma“ als solches benannt hat, sondern auch der erste, der seine „Abmilderung“ bzw. „Entschärfung“ für möglich hielt und der eine außenpolitische Theorie entwarf, die genau diesem Zwecke dienlich sein sollte. Damit habe Herz, wie Nicholas Wheeler schreibt, die Gedanken einer ganzen Reihe von Militärstrategen, beginnend mit Sun Tzu, aufgegriffen und den Weg für alle späteren Diskussionen über das Sicherheitsdilemma geebnet.181 Insbesondere Robert Jervis knüpfte an diesen Gedanken an, indem er 1978 schrieb: „The dilemma will operate much more strongly if statesmen do not understand it, and do not see that their arms – sought only to secure the status quo – may alarm others and that others may arm, not because they are contemplating aggression, but because they fear attack from the first state.“182 178

Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 249. Vgl. auch Herz, An Internationalist’ Journey through the Century, S. 251. So ebenfalls das Argument von Nicholas J. Wheeler, ‚To Put Oneself into the Other Fellow’s Place‘: John H. Herz, the Security Dilemma, and the Nuclear Age, in: International Relations, Vol. 22, No. 4 (December 2008), S. 493–509. 180 Vgl. Herz, Reflections on Hans Morgenthau’s Political Realism, S. 9. 181 Vgl. Wheeler, S. 496. 182 Jervis, Cooperation under the Security Dilemma, S. 181. 179

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E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

Realismus, so wie Herz ihn verstand, bedeutete zwar, das Sicherheitsdilemma als „inescapable backloth“183 anzuerkennen und sich bewusst zu machen, wie schwierig es ist, den beständigen Kampf um die Macht zu vermeiden, den eine anarchische Welt unweigerlich begünstigt. Er bedeutete hingegen nicht, diesen Kampf auch noch zur außenpolitischen Maxime zu erheben.184 Ein machtglorifizierender Realismus war für Herz nämlich eben nicht der Weisheit letzter Schluss.185 Denn indem ein Staat aggressiv vorgeht, um seine eigene Sicherheit zu gewährleisten, stellt er ja gerade eine potentiell größere Bedrohung für die anderen Staaten im System dar und fordert diese heraus, ebenfalls entsprechend aggressiv zu reagieren.186 Dadurch entsteht der von Herz beschriebene „vicious circle“187, der keinen Staat sicherer dastehen lässt als zuvor: Im Gegenteil, die Spirale des Wettrüstens führt die Welt in den Untergang. Herz wollte gerade das jedoch verhindern und dafür war eine offensive und aggressive Außenpolitik seiner Meinung nach eindeutig der falsche Weg. Wieder und wieder schrieb er, es sei möglich, die teuflische Natur dieses Kreislaufs zu durchbrechen und das Sicherheitsdilemma abzumildern.188 Peter Stirk ist somit zuzustimmen, wenn er an Herz schreibt: „Too often your idea of the security dilemma is interpreted in a way that ignores the normative aspect of your thought.“189 183 So die schöne Formulierung von Stirk, Twentieth-Century German Political Thought, S. 117. 184 Vgl. Herz, The Nation State and the Crisis of World Politics, S. 10. 185 Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 131. 186 Es ist dies auch die Argumentation der „defensiven Realisten“. Vgl. statt vieler: Charles L. Glaser, The Security Dilemma Revisited, in: World Politics, Vol. 50, No. 1 (October 1997), S. 171–201. Mearsheimer entgegnet auf diesen Einwand, dass, würde man den „defensiven Realisten“ folgen, überhaupt kein Wettstreit um Sicherheit zwischen den Staaten entstünde, da es kontraproduktiv wäre, einen Vorteil über den Gegner gewinnen zu wollen. Demnach sei es unverständlich, wieso Staaten, deren aggressives Vorgehen nur der Selbstverteidigung diene, überhaupt einem „Sicherheitsdilemma“ ausgesetzt seien. Stattdessen müssten sie das Kriegsbeil begraben und friedlich zusammenleben. Dies sei nun aber offensichtlich nicht der Fall. Vgl. Mearsheimer, Tragedy of Great Power Politics, S. 417, Endnote 27. Auch Randall Schweller argumentiert, dass es, wenn nur Sicherheit das Ziel staatlichen Handelns sei, überhaupt kein Sicherheitsdilemma geben dürfe. Denn wenn alle Staaten nur die Wahrung ihrer Position im internationalen System als Ziel ihres Handelns verfolgen würden, dann bräuchte sich kein Staat über die Politik eines anderen Staates zu sorgen. Vgl. Randall Schweller, Bandwagoning for Profit. Bringing the Revisionist State Back In, in: International Security, Vol. 19, No. 1 (Summer 1994), S. 72–107. 187 Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 157. 188 So argumentiert auch Stirk, Twentieth-Century German Political Thought, S. 117. 189 So Peter Stirk an Herz in einem Brief vom 9. September 2005, Brief im Besitz von J. P.

III. „Sicherheitsdilemma“ und „Realliberalismus“ in der Rezeption

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Ken Booth und Nicholas Wheeler verteidigten in ihrem 2008 erschienenen Buch The Security Dilemma Mearsheimers Position. Sie schrieben: „[O]ffensive realism is the true inheritor of the original version of the concept (the combination of ‚Hobbesian fear‘ and ‚kill or perish‘)“190, vertraten also die Auffassung, dass Mearsheimers Bezug auf Herz durchaus seine Berechtigung habe. Sie begründen dies jedoch wesentlich differenzierter, als Mearsheimer selbst. In The Security Dilemma führten die beiden Autoren ein zweigeteiltes Verständnis des Sicherheitsdilemmas in die Diskussion ein: Staaten seien demnach stets mit zwei Herausforderungen konfrontiert: Sie könnten nicht in die Köpfe ihrer Gegner schauen und wögen sich daher in ständiger Unsicherheit darüber, was die andere Seite plane. Gleichzeitig müssten sie für sich die Frage beantworten, wie sie auf diese Pläne reagieren könnten, ohne eine genaue Kenntnis von deren Inhalt zu haben. Booth und Wheeler definierten das „Sicherheitsdilemma“ wie folgt: „The security dilemma is a two-level strategic predicament in relations between states and other actors, with each level consisting of two related lemmas (or propositions that can be assumed to be valid) which force decision-makers to choose between them. The first and basic level consists of a dilemma of interpretation about the motives, intentions and capabilities of others; the second and derivate level consists of a dilemma of response about the most rational way of responding.“191

Gesetzt den Fall, dass Staaten das zweite Dilemma (der Antwort oder Reaktion) so lösten, dass eine Spirale gegenseitiger Aggression freigesetzt würde, obwohl beide Seiten dies eigentlich gar nicht wollten, entstehe eine Situation, die die beiden Autoren treffend als „security paradox“192 bezeichnen. Bezogen auf Herz argumentierten Booth und Wheeler nun, Herz habe den „offensiven Realismus“ insoweit vorweggenommen, als für ihn, genau wie später für Mearsheimer, das „dilemma of interpretation“ kein Dilemma im eigentlichen Sinn darstelle.193 Indem Herz argumentiere, dass das „Sicherheitsdilemma“ auch Status quo Staaten keine andere Wahl lasse, als das Verhalten der anderen aggressiv zu interpretieren, sei nach Herz logischerweise eine offensiv ausgerichteten Politik als Antwort auf das „dilemma of response“ zu erwarten, die das „security paradox“ in Kauf nehme. Booth und Wheeler gelangen daher zu dem Schluß: „In Herz’s conceptualization, therefore, the security dilemma had a fatalistic inevitability 190

Booth/Wheeler, The Security Dilemma, S. 35. Ebd., S. 4 (Hervorhebungen im Original). 192 Booth/Wheeler, S. 4. Wichtig ist, dass das „security paradox“ nur eine Möglichkeit von vielen ist. Booth und Wheeler halten ein solches Ergebnis nicht für zwingend. 193 Vgl. ebd., S. 23. 191

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E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

about it.“194 Tatsächlich unterschieden sich Herz und Mearsheimer jedoch darin, wie sie das zweite Dilemma, das „dilemma of response“ lösten bzw. darin, welche außenpolitische Strategie ihnen als rational beste Lösungen erschien. Während Mearsheimer als Antwort sinnbildlich gesprochen die Messer wetzte, schwenkte Herz lieber die Friedensfahne. Booth und Wheeler haben Recht in der Annahme, dass fatalistische Züge in Herz’ Werk durchaus vorhanden sind. Herz’ Überlegungen führten ihn zu dem Schluss, dass das „Sicherheitsdilemma“ unausweichlicher Bestandteil der internationalen Beziehungen sei und es eine notwenige Konsequenz sozialer Interaktion darstelle, dessen Kräfte sich letztlich irgendwo entladen müssten – und dessen Gesetze außerdem ewig gültig seien.195 Richtig ist auch, dass Herz durchaus zugestand, dass es nicht allen Akteuren stets allein um ihre Sicherheit ging, sondern dass manche sehr wohl auch nach Expansion und Revision strebten. Nazi-Deutschland war hier sein archetypisches Beispiel. Die Interpretation der Herzschen Überlegungen allein an diesen beiden Punkten festzumachen, hieße jedoch, wie Mearsheimer auf halbem Wege stehen zu bleiben. Wie oben ausführlich geschildert wurde, lag der Ursprung des „Sicherheitsdilemmas“ für Herz in der anarchischen Gesellschaft. Diese war für Herz jedoch nicht statisch, sondern – wenn auch in engen Grenzen – flexibel. Es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass der Mensch bei Herz ein handlungsfähiges Wesen ist – „within these limits men can act“196. Seine Entscheidungen sind daher nicht ausschließlich durch die Bedingungen des „Sicherheitsdilemmas“ determiniert, er kann diese Bedingungen auch abmildern, Wege des Ausgleichs finden und sich mit seinen Gegnern verständigen. Das Sicherheitsdilemma bei Herz hat also weniger determinierenden als vielmehr konditionierenden Einfluss auf staatliches Verhalten. Dennoch sind die Überlegungen von Booth und Wheeler, aber auch von Mearsheimer, insofern zentral, als sie auf ein fundamentales logisches Problem hinweisen, welches im Herzschen Werk immanent vorhanden ist: So argumentiert Herz auf der Akteursebene gegen seine eigenen strukturellen Grundannahmen. Indem sich alle drei Autoren allein auf die Formulierung des „Sicherheitsdilemmas“ im ersten Teil des Buches konzentrierten, arbeiteten sie den strukturbedingten Fatalismus seines Denkens deutlich heraus. Man rufe sich noch einmal ins Gedächtnis, was Herz ursprünglich in seinem 1950 erschienenen Artikel geschrieben hatte: „Groups or individuals living in such a constellation must be, and usually are, concerned about their security from being attacked, subjected, dominated, or anni194 195 196

Ebd. Vgl. Herz, Politcal Realism and Political Idealism, S. 3, 15, 239. Ebd., S. 134.

III. „Sicherheitsdilemma“ und „Realliberalismus“ in der Rezeption

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hilated by other groups and individuals. Striving to attain security from such attack, they are driven to acquire more and more power in order to escape the impact of the power of others. This, in turn, renders the others more insecure and compels them to prepare for the worst. Since none can ever feel entirely secure in such a world of competing units, power competition ensues, and the vicious circle of security and power accumulation is on.“197

Liest man diese Zeilen kann es rein logisch nach Herz’ Formulierung tatsächlich keinen Ausweg aus dem Dilemma geben. Das „Sicherheitsdilemma“ stellt nach Herz die entscheidende Konstante für das außenpolitische Verhalten von Staaten dar, wobei es zunächst egal ist, wie Staaten innenpolitisch verfasst sind oder welche Ideologie sie verfolgen. Dennoch behauptet er, dem Leser von Political Realism and Political Idealism einige hundert Seiten später genau diesen Ausweg anbieten zu können, indem er eine normative Handlungsanweisung ausgibt. Der Mensch ist also bei Herz gleichzeitig den Bedingungen des Sicherheitsdilemmas unterworfen und frei, das „Richtige“ zu tun. Er ist gleichzeitig soziales Wesen und selbstbestimmtes Individuum. Einerseits zwingt ihn das Sicherheitsdilemma zu einem aggressiven, offensiven Verhalten, andererseits verlangt Herz von ihm, an eben jenem Punkt nicht stehen zu bleiben, und sucht nach defensiven Wegen der Mäßigung und des Ausgleichs. Damit verstrickt sich Herz nach eigener Aussage in ein „unnatürliches“ – oder, wie man mit gutem Grund ebenfalls behaupten kann: unlogisches – Projekt und opfert damit seinen theoretischen Anspruch seinem Wunsch nach einer besseren Welt. Diese fundamentale Spannung, die sein Denken durchzog, löste er niemals auf. Im Gegenteil. Wie Richard Ashley schreibt, „[e]xactly this antinomy animates Herz’s writing. In his view, the contradiction is to be found ‚out there‘ in the reality that realists would study.“198 In diesem Sinne sind die theoretischen Bemühungen Herz’ in ihren Widersprüchen das Abbild einer widersprüchlichen Wirklichkeit. Die Widersprüchlichkeit innerhalb des „Realliberalismus“ blieb schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Political Realism and Political Idealism in der Disziplin nicht unbemerkt. So attestierte Hans Morgenthau dem Autor des Buches in seiner Besprechung, dieser habe sich wesentlich erfolgreicher beim Aufdecken der Schwächen von Realismus und Idealismus geschlagen, als bei der Entwicklung seiner eigenen Theorie: „Is it really enough to accept both the universality of power as an empirical fact and the concern for the individual and its free development as an ideal postulate? And is not the real problem, rather, how under the moral and material conditions 197

Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, S. 157 (Hervorhebungen durch J. P.). 198 Richard K. Ashley, Political Realism and Human Interest, in: International Studies Quarterly, Vol. 25, No. 2, June 1981, S. 204–226, S. 226.

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E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

of the contemporary world the liberal concern for the individual can be satisfied? The solution which the author has to offer amounts to little more than the common-sense advice to do the best you can under prevailing circumstances in approaching as far as possible the liberal ideal.“199

Einige Jahre zuvor hatte Morgenthau sich schon einmal gegen den Versuch ausgesprochen, eine Synthese aus „Utopia“ and „Reality“ zu wagen. Damals hatte sich seine Kritik noch gegen Edward H. Carr gerichtet: „It is a dangerous thing to be a Machiavelli. It is a disastrous thing to be a Machiavelli without virtù.“200 Ein Machiavelli ohne virtù, ein kraftloser Realist zu sein, diesen Vorwurf hätte Morgenthau auch gegen Herz erheben können, da er die Konsequenz seiner eigenen Entdeckungen offensichtlich nicht tragen wollte. Obwohl Morgenthau Herz’ grundsätzliches Anliegen im Wesentlichen teilte,201 erschien ihm der „Realliberalismus“ wenig Konkretes zu enthalten. Es war leicht gesagt, dass der Staatsmann sich immer nach dem realisierbaren Ideal richten müsse, doch wie sollte dies in der Praxis aussehen? Morgenthau stand mit seiner Kritik an Herz’ „Realliberalismus“ bei weitem nicht allein. Joseph Kraft hieb in seiner Rezension des Buches in die selbe Kerbe und bemängelte: „[U]naccompanied by detailed proposals for specific application, the statement of the general principle of moderation constitutes nothing more than an admonition to be ‚good‘.“202 Ein anderer Rezensent, F. M. Watkins, verglich Herz’ Ansatz mit demjenigen von Hobbes. Während Hobbes von den Menschen erwarte, ihr individuelles Streben nach Macht einzustellen, um – zugunsten der eigenen Sicherheit – stattdessen alle Macht auf den Leviathan zu übertragen, verlange der „Realliberalismus“ wesentlich moderater nur die Kanalisierung und Bändigung des individuellen Machtstrebens. Der Preis für diesen bescheidenen Anspruch bestehe allerdings in seiner mangelhaften Logik: „Whereas it is at least conceivable that men might be willing to accept complete frustration of their power-drives in the interest of complete peace, it is difficult to see why they would accept partial frustration in a society which still remains essentially bellicose and competitive.“203 199

Morgenthau, Wedding of Paradoxes, S. 3 Hans J. Morgenthau, The Political Science of E. H. Carr, in: World Politics, Vol. 1, No. 1/1948, S. 127–134, S. 134. 201 Wie Gert Krell richtigerweise betont, bestand auch Morgenthaus Absicht darin, die Machtgesetzlichkeit der Politik anzuerkennen und sie mit dem Ziel der Mäßigung, der Machtbändigung zu verbinden: „Überlegt und vorsichtig zu handeln, das ist die moralische Pflicht des Staatsmannes, der nicht das schlechthin Gute anstreben soll (das wäre unrealistisch), sondern sich auf das geringstmögliche Übel einzustellen hat. Die politische Pflicht des Staatsmannes besteht darin, erfolgreich zu handeln; und erfolgreich handeln kann er nur, wenn er die Gesetzmäßigkeiten der Macht kennt.“ Krell, S. 147. 202 Joseph Kraft, The Great Divide, in: The Nation, 7. Juli 1951, S. 15–16, S. 16. 200

III. „Sicherheitsdilemma“ und „Realliberalismus“ in der Rezeption

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Genau wie Watkins stieß sich auch Anders M. Myhrman in der Zeitschrift Phylon am mangelnden Realitätsbezug des „Realliberalismus“. Dieser schien ihm in der Praxis auf verlorenem Posten zu sein, denn zu irrational und extrem seien die Kräfte, die das Sicherheitsdilemma freisetze.204 Francis J. Grogan fühlte sich gar veranlasst zu fragen: „[I]s not his own philosophy of Realist Liberalism open to the same criticism which he heaps on Idealism, namely that its utopian aspirations must necessarily come to grief on the realities of power-craving human nature?“205 In der Tat erscheint zweifelhaft, ob der von Herz propagierte „Realliberalismus“ sich in der Vergangenheit als besonders praxistauglich erwiesen hat. Eine verbesserte Version kollektiver Sicherheit, wie sie Herz als Ausdruck des Realliberalismus auf internationaler Ebene vorschwebte, erfüllte dieses Kriterium offensichtlich bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches nicht. Insgesamt bleibt seltsam vage und offen, welche konkreten Handlungsempfehlungen für die Politik sich hinter dem Konzept des „Realliberalimus“ tatsächlich verbergen. Und so kann man wohl mit gutem Grund Herz’ Onkel Gustav Aschaffenburg zustimmen, wenn dieser im Brief an seinen Neffen schreibt: „Das Wertvollste an Deiner Idee sehe ich an der besseren Bewusstmachung des Konflikts oder Dilemmas, mit dem wir es zu tun haben. Das Wissen um dessen Art und Ausmaße fehlt den Handelnden dieser Welt.“206 Eine weit verbreitete Quelle für Kritik war insbesondere auch das erste Kapitel des Buches, welches die psychologischen Grundlagen der Politik behandelte. Herz hatte hier die Behauptung aufgestellt, dass die menschliche Natur in zwei wesentliche Grundzüge einzuteilen sei: den Selbsterhaltungstrieb und das Gefühl des Mitleids. Von diesen widerstreitenden inneren Einstellungen leitete Herz die beiden gegensätzlichen politischen Idealtypen politischen Handelns ab: Realismus und Idealismus. Während er das realistische „Sicherheitsdilemma“ jedoch als natürlichen Zustand bezeichnete, waren für ihn die Ziele des Idealismus, „‚unnatural‘, something against which all ‚natural‘ tendencies and forces of social and political life conspire“207. 203

Rezension von F. M. Watkins, in: The American Political Science Review, June 1952, S. 550–552, S. 551. 204 Vgl. Myhrman, S. 291: „[A]s a mode of action Realist Liberalism, with its high regard for personal values and its goal for ‚freedom‘, is not likely to prove effective in the modern world. The forces which the present ‚security and power dilemma‘ have set in motion are too irrational and extreme to be influenced by any liberal philosophy.“ 205 Francis J. Grogan, ohne Titel, in: Social Order, February 1952, S. 90. 206 Gustav Aschaffenburg im Brief an Herz, 20. September 1946, Box 1, „Book Reviews and Correspondence on Political Realism and Political Idealism“ [Ordner], Herz Papers.

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E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

Dies erschien den Rezensenten des Buches nicht sehr logisch zu sein. Im Philosophical Review konnte man lesen: „This derivation seems to me to be mysterious or else merely ad hoc. Professor Herz disclaims the intention of assuming anything about either psychology or anthropology, but in effect he assumes that egoism is ‚natural‘ and altruism is not.“208 Den selben Punkt betonte auch die Besprechung in The American Political Science Review: „Professor Herz is to be welcomed as the exponent of an ancient and ever-valuable tradition of religious and humanistic common sense. But this same common sense compels us to recognize that all the aspects of human nature are equally ‚real‘, that compassion is no more and no less a ‚fact‘ than fear itself.“209 Lewis A. Dexter gab seinen Lesern gar den Rat, das erste Kapitel einfach zu überblättern: „[I]t is earnestly recommended that this be skipped or omitted; it provides an unnecessary and dubious psychological underpinning to an argument which can more safely be considered in terms of the historic nature of political and social theory.“210 Die Kritik an seine psychologischen Grundlagen vermochte letztendlich Herz zu überzeugen – nicht zuletzt deshalb, weil sie von seiner Familie und seinen Freunden geteilt wurde.211 In seiner Autobiographie erklärte er seinen Versuch, die idealistische Einstellung auf das Urerlebnis des Mitleids zurückzuführen, dadurch, dass ein solches Gefühl ihm selbst immer eigen gewesen sei. Er distanzierte sich zugleich aber ausdrücklich davon, es zu einem Gemeinplatz zu machen: „Als Theorie halte ich diese Ableitung nicht mehr aufrecht.“212 Robert E. Osgood und Robert W. Tucker zeigten in ihrem Buch Force, Order, and Justice jedoch, dass es nicht damit getan war, einfach das erste Kapitel zu überblättern, um dem Problem der psychologischen Grundlagen zu entgehen.213 Herz hatte für sich in Anspruch genommen, mit dem „Sicherheitsdilemma“ ein Konzept entwickelt zu haben, dass keine biologi207

Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 137. Vgl. auch oben S. 183. Rezension von George H. Sabine, in: Philosophical Review, April 1952, S. 233–235, S. 235. 209 Watkins, S. 552. 210 Lewis A. Dexter, Reading for an Election Year: ‚Most Significant Book‘ on Politics since Burke, in: The Christian Register, No. 8, October 1952, S. 4. 211 Sowohl Gustav Aschaffenburg als auch Ossip Flechtheim äußerten sich negativ über die von Herz herausgearbeiteten psychologischen Grundlagen und bezeichneten sie als den schwächsten Teil der Arbeit. Vgl. Aschaffenburg an Herz am 20. September 1946, sowie Ossip Flechtheim an Herz, 24. Juni 1944, Box 1, „Book Reviews and Correspondence on Political Realism and Political Idealism“ [Ordner], Herz Papers. 212 Herz, Vom Überleben, S. 282, Endnote 6. Etwas salopp schrieb Herz in einem Brief an Christian Hacke: „Forget about the introductory chapter 1 – diese ‚psychological bases‘ halte ich heute für etwas naiv.“ Vgl. Herz an Hacke am 1. Mai 1990. 208

III. „Sicherheitsdilemma“ und „Realliberalismus“ in der Rezeption

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sche, sondern eine strukturelle Erklärung dafür liefere, warum es im menschlichen Zusammenleben immer wieder zu Konflikten komme.214 Osgood und Tucker warnten davor, diese scharfe Trennung zwischen einer biologischen und einer strukturellen Erklärung internationaler Konflikte vorschnell zu akzeptieren. Sie argumentierten, dass Herz’ These vom „Sicherheitsdilemma“ von gewissen universellen und unveränderbaren Schlüsselannahmen über die menschliche Natur abhängig und nicht allein als soziale Konstellation zu begreifen sei: „The thesis that international conflict arises from the security-power dilemma in which men find themselves cannot avoid postulating a certain ‚human nature,‘ though it may insist that fear and the urge for survival rather than selfishness and the lust for power are the dominant traits of this nature.“215

Osgood und Tucker argumentierten also, dass das „Sicherheitsdilemma“ auf einer speziellen Interpretation der menschlichen Natur aufbaue und sich der Herzsche Realismus insofern nicht groß von dem Morgenthaus unterscheide: „It makes little difference if we are told that international conflict arises primarily from a given environment rather than from man’s inherent selfishness or aggressiveness, so long as the one remains as apparently resistant to change as does the other.“216 Für Herz hingegen machte es einen gewaltigen Unterschied, weil er sein eigenes Konzept wesentlich flexibler und weniger statisch begriff als den biologischen Realismus Morgenthaus.

213 Vgl. Robert E. Osgood/Robert W. Tucker, Force, Order, and Justice, Baltimore und London 1967. 214 Diese verschiedenen Erklärungsebenen hat Waltz in seinem Buch Man, the State, and War besonders eindrucksvoll systematisiert. Waltz identifiziert drei verschiedene Ebenen bzw. „images“ auf denen man die internationalen Beziehungen analysieren kann: Auf der ersten Ebene betrachtet der Wissenschaftler das Individuum und versucht, aufgrund von dessen Natur Schlüsse auf das zwischenmenschliche Zusammenleben zu ziehen. Dies ist die von Morgenthau und Niebuhr gewählte Methode. Auf der zweiten Ebene betrachtet der Wissenschaftler die Verfasstheit der Einheiten des Systems, bewegt sich also auf dem „unit-level“. So gehen z. B. die Vertreter der Theorie des „Demokratischen Friedens“ davon aus, dass demokratisch verfasste Systeme untereinander keinen Krieg führten. Auf der dritten Ebene betrachtet der Wissenschaftler vornehmlich das System als Ganzes, um Schlüsse auf das Verhalten der einzelnen Systemeinheiten zu ziehen. Es ist dies der Ansatz von Herz und Waltz selbst. Vgl. Waltz, Man, the State, and War, S. 16 ff., S. 80 ff., S. 159 ff. 215 Osgood/Tucker, S. 256. 216 Ebd., S. 257.

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E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

IV. Zwischenfazit Am Anfang dieses Kapitels wurde die Frage gestellt, ob Political Realism and Political Idealism ein Standardwerk des außenpolitischen Realismus ist, oder ob man nicht doch lieber vorsichtig damit sein sollte, Herz allzu hastig auf das Etikett „Realist“ festzulegen. Jedenfalls erfasste das durch Morgenthaus Politics Among Nations hervorgerufene Interesse an einer realistischen Interpretation der internationalen Beziehungen nach und nach auch Herz’ Veröffentlichungen und führte in den USA zu einem Diskurs, der den Realismus als neue außenpolitische Denkschule begründete. Durch Political Realism and Political Idealism war Herz offiziell in den sich herausbildenden Kreis außenpolitischer Realisten aufgenommen worden und galt als einer der „founding fathers“217. Reinhold Niebuhr würdigte das Buch außerordentlich und betonte die vielen Gemeinsamkeiten, die er mit dem Autor teile.218 Herz und Morgenthau entwickelten sich in den darauf folgenden Jahren zu den Wortführern der so genannten „Great Debate“, die sich vor allem um die Alternativen Idealismus und Realismus drehte. Der britische Politikwissenschaftler Peter Stirk beobachtete, dass beide Denker sogar so sehr Teil des amerikanischen politischen Denkens wurden, dass ihre deutschen Wurzeln mitunter völlig in Vergessenheit gerieten und erst später wieder ausgegraben werden mussten.219 Kenneth Thompson kommt zu dem Schluss, dass Herz’ frühe Arbeiten seine Nähe zum klassischen Realismus eindeutig belegen: „The people he quoted most were Reinhold Niebuhr and Hans J. Morgenthau. He did not set out to overturn in any fundamental way the work they had begun.“220 217 Robert Jervis nannte Herz in einem Brief einen „founding father of ‚Political Realism‘“. Vgl. Jervis an Herz, 18. Januar 1979, Box 2, General Correspondence 1979–81 [Ordner], Herz Papers. 218 Vgl. Niebuhrs Brief an Herz: „While recovering from an illness I have had the chance to read your book Political Realism and Political Idealism. I don’t know why nobody called my attention to this book, until our mutual friend Kenneth Thompson told me about it in Chicago. I can see how much we have in common. You have documented the position we have in common with extraordinary skill. I appreciate this book very much and will make use of it constantly in the future.“ Niebuhr an Herz, 15. März 1952, Box 1, „Book Reviews and Correspondence on Political Realism and Political Idealism“ [Ordner], Herz Papers. 219 Vgl. Stirk, Twentieth-Century German Political Thought, S. 109. Der schulbildende Einfluss seines Werkes und seine starke Verwurzelung in der amerikanischen Academia trugen maßgeblich dazu bei, dass die USA für Herz mehr und mehr zur Heimat wurden: „Herz – so könnte man sagen – wurde in den Vereinigten Staaten dringend gebraucht. Er stand mitten in der Diskussion.“ So Düwell, „Ossip K. Flechtheim und John H. Herz – zwei fast parallele Lebensläufe“, S. 244. Vgl. auch Crohn, Wissenschaft im Exil, S. 87. 220 Thompson, Schools of Thought in International Relations, S. 91.

IV. Zwischenfazit

205

Herz selbst schrieb einmal, sein Ausgangspunkt sei „political realism of the Hobbesian, Machiavellian, or Schmittian variety“221 gewesen. Seinen „eigenen, bescheidenen Beitrag zum ‚klassischen‘ politischen Realismus“222 sah er vor allem in der Formulierung des „Sicherheitsdilemmas“. Mit diesem Analysemodel entwickelte er einen alternativen realistischen Ansatz zur Interpretation staatlichen Verhaltens auf internationaler Ebene, indem er „Macht“ durch „Sicherheit“ ersetzte. So gelang es ihm, die Analyse von der individuellen auf die strukturelle Ebene zu verschieben. Insbesondere konnte er das immer wiederkehrende Ausbrechen von Konflikten erklären, auch wenn kein Expansionsdrang der beteiligten Staaten vorlag, ohne dafür auf Morgenthaus „human nature realism“223 zurückgreifen zu müssen. Robert Jervis bringt diesen Unterschied auf eine kurze Formel: „From this perspective, the central theme of international relations is not evil but tragedy.“224 Mit guten Gründen kann man Herz daher als defensiven Vertreter eines strukturellen Realismus sehen. In der Literatur wird Herz’ Ansatz mitunter auch als „freundliche Variante“ des Realismus beschrieben.225 Dennoch ist diese Interpretation nur zu einem Teil gerechtfertigt. Richard Ashley hat zu Recht darauf verwiesen, dass es Herz auch darum gegangen sei, die Erklärungsgrenzen des Realismus aufzuzeigen.226 Wie Herz in seinem Buch selbst immer wieder betonte, ist Realismus eben nur ein Teil des „Realliberalismus“, der andere Teil besteht aus liberalem Ideengut: „Realist Liberalism is a kind of ‚second liberalism‘, coming as a synthesis after the ‚thesis‘ of utopian idealism and the ‚antithesis‘ of cynical realism.“227 Ihn allein auf das Label „Realist“ zu reduzieren, ist aus diesem Grund bereits an dieser Stelle zu einseitig. Herz wollte sich explizit nicht mit seinen realistischen Einsichten abfinden, sondern über sie hinausgehen.228 Carr und Herz sind sich insofern sehr ähnlich, als beide ein Gleichgewicht zwischen 221

Herz, Looking at Carl Schmitt, S. 311. Dies schrieb Herz in seinen Vortragsnotizen, vermutlich zu einem Vortrag über die Entwicklung der außenpolitischen Ideen in den USA, ohne Ortsangabe, ohne Datum, Box 17, „Lecture Notes and Lectures in Germany 1981“ [Ordner], Herz Papers. 223 So die schöne Formulierung von Mearsheimer, The Tragedy of Great Power Politics, S. 18. 224 Robert Jervis, Perception and Misperception in International Politics, Princeton, N.J. 1976, S. 66. 225 So Krell, S. 159. 226 Vgl. Ashley, S. 206. 227 Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 146 (Hervorhebung durch J. P.). 228 Er kritisierte Morgenthau explizit dafür, dass dieser über seine grundsätzlichen Einsichten eben nicht hinausgegangen sei. Vgl. John H. Herz, Hans J. Morgenthau (1904–1980), in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 4/1980, S. 414–415, S. 414. 222

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E. Auf der Suche nach einem liberalen Realismus

Realismus und Idealismus schaffen wollten, auch in der Wissenschaft selbst. Es ging ihnen immer um Balance – zwischen Utopie und Realität und zwischen Macht und Moral.229 Herz’ Beiträge zum außenpolitischen Realismus wurden deshalb von ihm niemals so radikal und absolut formuliert wie die von Hans Morgenthau. Stets versuchte er, seine realistischen Erkenntnisse durch idealistische Methoden und Ziele abzumildern. „Realpolitik“ akzeptierte er als Tatsache, aber nicht als Norm. Bei seinem Versuch, Idealismus und Realismus miteinander zu versöhnen, ging er sogar so weit, Brüche in der logischen Stringenz seiner Argumentation in Kauf zu nehmen. Weil er sich mit den Folgen des „Sicherheitsdilemmas“ nicht abfinden konnte, entwickelte er eine Handlungsempfehlung für die praktische Außenpolitik, die sich den Zwängen des internationalen Systems widersetzen sollte. Er argumentierte also auf der Akteursebene bewusst gegen seine eigenen strukturellen Grundannahmen, wohl wissend, dass ein solches Verhalten gegen die natürlichen Kräfte internationaler Politik gerichtet war. Der Schlüssel zum Verständnis seiner Argumentation ist in hohem Maße idealistisch und liegt in der Rolle, die er der menschlichen Vernunft zubilligte. Zwar beruft sich auch der politische Realist auf die Fähigkeit des Menschen zu rationalem Handeln, die ihn sogar zur Zusammenarbeit und Friedfertigkeit bewegen kann. Auch bei Hobbes kann aus dem rationalen Egoisten ein Kooperationsstratege werden.230 Dennoch bleibt die realistische Vernunft immer instrumentell und der Mensch wird „weiterhin nur durch selbstbezogene Interessen geleitet“231. Herz traut dem Menschen jedoch mehr zu, seine Zuversicht in die Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft ist größer als bei den Realisten üblich. Die wichtigste Erkenntnis bestand für ihn in der Feststellung, dass der Mensch fähig ist, selbstbestimmt zu handeln. Er ist damit eben kein bloßes Opfer realpolitischer Zwänge, sondern frei, um seine Handlungen an den ethischen Voraussetzungen des Idealismus auszurichten, die Maßstab und Zielvorstellung des „Realliberalismus“ bilden sollten.232 Nur weil die vom Idealismus behauptete Rationalität den Dingen an sich nicht anhaftete, hieß dies für Herz nicht, dass Ideen und Ideale keine Wirkung auf die Realität entfalteten und so eine Veränderung im positiven Sinne herbeiführen könnten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Political Realism and Political Idealism auf Herz’ Wegstrecke in Richtung des außenpolitischen Realismus mit Sicherheit den Höhepunkt markiert. Niemals wieder sollte er realistische Thesen mit einer solchen Schärfe vortragen wie in der ersten Hälfte 229 230 231 232

Auf diese Ähnlichkeit weist auch Krell, S. 148 hin. Vgl. Kersting, S. 138–140. Ebd., S. 139. Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 133.

IV. Zwischenfazit

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des Buches, wo er gegen die Auswüchse eines utopischen Idealismus anschrieb. Doch schon zum Zeitpunkt der verzögerten Veröffentlichung 1951 war das Pendel zwischen Idealismus und Realismus auf die idealistische Seite geschwungen.233 Im Vorwort des Buches machte er dies bereits deutlich. Herz’ realistischer „Zenit“ war erreicht und gleichzeitig überschritten. Er, der es sich seit Hitlers Machtübernahme zur Aufgabe gemacht hatte, vor einer machtvergessenen Interpretation der internationalen Beziehungen zu warnen, sollte den Rest seines Lebens damit verbringen, sich gegen eine allzu machtversessene Interpretation auszusprechen.234

233 Vgl. auch Herz’ Selbsteinschätzung in „An Internationalist’s Journey through the Century“, S. 251. 234 Das Wortspiel von Machtvergessenheit und Machtversessenheit geht zurück auf Hans-Peter Schwarz, Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit, Stuttgart 1985.

Eine revolutionäre Umwälzung lässt sich erst dann meistern, wenn sie denjenigen Modus des Denkens hervorgebracht hat, der ihr gemäß ist. So verhält es sich auch mit dem Druck, den die Kernwaffen auf die auswärtige Politik ausüben. Das Heimweh nach der Vergangenheit, die von so viel mehr Sicherheit und so viel weniger Unruhe erfüllt war, ist zwar verständlich, aber Tatsachen lassen sich nicht ändern; sie lassen sich nur nutzen. Viele vertraute Vorstellungen über den Krieg, die Diplomatie und die Wesenszüge des Friedens müssen sich wandeln, um der Entwicklung einer Theorie Platz zu machen, die den Gefahren und Möglichkeiten des Atomzeitalters Rechnung trägt.“1 (Henry A. Kissinger)

F. Vom „Realliberalismus“ zum „Universalismus“ Obwohl Political Realism and Political Idealism erst 1951 auf den Markt kam, war dem Buch deutlich anzumerken, dass seine Prämissen bereits während des Zweiten Weltkriegs entwickelt worden waren. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges wirkte Herz’ Idee eines verbesserten Systems kollektiver Sicherheit gleichermaßen unrealistisch wie antiquiert. Erst in International Politics in the Atomic Age (1956) und einigen in den 1950er und 1960er Jahren veröffentlichten Aufsätzen versuchte er, seinen Realliberalismus an die gewandelten Ausgangsbedingungen anzupassen und ihn für das Atomzeitalter anwendbar zu machen. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dieser Weiterentwicklung seines Denkens. Es greift vor allem Herz’ These vom Ende des „hartschaligen Territorialstaates“ auf und analysiert die Auswirkungen des „Sicherheitsdilemmas“ in einer atomaren und bipolaren Welt. Als Reaktion auf diese Auswirkungen entwickelte Herz seine Theorie des „Universalismus“, die nachfolgend auf ihre theoretische Stringenz und praktische Anwendbarkeit überprüft wird. Wie schon im fünften Kapitel stellt sich dabei die Frage, inwieweit Herz’ Überlegungen dem außenpolitischen Realismus entsprechen.

1 Henry A. Kissinger, Kernwaffen und Auswärtige Politik, 2. Auflage, München/ Wien 1974 [New York 1957], S. xiii.

I. „Territorialität“ als Bestimmungsfaktor des Westfälischen Staatensystems

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I. „Territorialität“ als zentraler Bestimmungsfaktor des Westfälischen Staatensystems Um den Wandel des internationalen Systems im Atomzeitalter klarer herausarbeiten zu können, warf Herz zunächst einen Blick zurück auf das moderne Westfälische Staatensystem, welches bis dato die Grundlage seiner theoretischen Überlegungen gebildet hatte.2 Das Wesen dieses Systems sah er in der „Schutzfunktion“ der einzelnen Staaten gegenüber jeder Art von Angriffen und Gefahren. In Anlehnung an Hobbes „Leviathan“3 argumentierte er, dass Menschen dazu tendierten, diejenige Macht als legitim zu empfinden, die Frieden nach innen und Sicherheit nach außen garantieren könne.4 Um aber in der Lage zu sein, diesen Schutz wirkungsvoll zu gewährleisten, müsse der Machthabende über Mittel der Gewaltausübung, namentlich Waffen, verfügen. Im Mittelalter hätten Burgen und Städte diese Funktion erfüllt. Doch mit der Entdeckung des Schießpulvers seien Burgund Stadtmauern gegenüber Angriffen von außen durchlässig geworden, so dass sich schließlich etwa zur Zeit des Westfälischen Friedens die modernen Territorialstaaten zu den zentralen Sicherheitsgaranten entwickelt hätten.5 Herz stellte mithin einen kausalen Zusammenhang zwischen dem technologischen Fortschritt im Rüstungsbereich und der Entwicklung politischer Einheiten im Verlauf der Geschichte her.6 Diesen Zusammenhang nannte er „strategischen Determinismus“7. In seiner Autobiographie schrieb er: „Wie Marx alles auf die Entwicklung der wirtschaftlichen Produktionsmittel zu2 Beim modernen Staatensystem handelte es sich zuvorderst um ein europäisches System, dessen Regeln auf die Überseegebiete nicht anwendbar waren. Vgl. Herz, Rise and Demise of the Territorial State, S. 482. 3 „Borrowing from Hobbes . . .“, wie Herz in seinem Aufsatz „An Internationalist’s Journey through the Century“, S. 253 schrieb. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. Herz, Rise and Demise of the Territorial State, S. 476 f. Die Details dieser Entwicklung, die sich weder gradlinig noch schnell vollzog, mögen an dieser Stelle dahinstehen, da sie für die weitere Argumentation nicht wesentlich sind. Der Leser sei auf oben zitierten Aufsatz verwiesen. 6 Vgl. insbesondere John H. Herz, Balance System and Balance Policies in a Nuclear and Bipolar Age, in: Journal of International Affairs, No. 14/1960, S. 35–48. 7 Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 16. An anderer Stelle relativierte er diesen Begriff allerdings und wies darauf hin, dass „Determinismus“ ein zu fatalistischer Begriff sei. Dennoch hielt er an seiner grundsätzlichen Aussage fest: „But whoever studies how weapon developments and military technique have affected the structure of states and governments cannot help recognizing in how large a degree identity, structure, and interrelations of political units are determined by their capacity to defend themselves.“ Vgl. John H. Herz, International Politics and the Nuclear Dilemma, in: John C. Bennett (Hrsg.), Nuclear Weapons and the Conflict of Conscience, London 1962, S. 15–38, S. 17.

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F. Vom „Realliberalismus“ zum „Universalismus“

rückgeführt hatte, hatte ich . . . vieles, vor allem die Herausbildung der politischen Grundeinheiten, der Staaten, auf die Entwicklung der Destruktionsmittel, der Waffen, zurückgeführt.“8 Die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Ebene verstand Herz in diesem Sinne als „Überbau“ über die technischen Errungenschaften der Waffenindustrie. Seit dem ausgehenden Mittelalter, so Herz’ Argument, habe eine harte Schale der „Undurchdringbarkeit“ die territorialen Grenzen des modernen Staates umgeben, dessen Aufgabe es gewesen sei, die Unverletzbarkeit von Gebiet und Volk zu schützen. Diese „Undurchdringbarkeit“, die Herz auch „Undurchlässigkeit“ oder „Territorialität“ nannte,9 habe das Wesen des Territorialstaates ausgemacht und dessen Existenz legitimiert. Sie habe die Grundlage für seine faktische Unabhängigkeit, seine äußere Macht und seine souveräne Gewalt gebildet. Allein dank ihrer „Territorialität“ sei es den Staaten immer wieder gelungen, ein multipolares System verschiedenster Machteinheiten aufrecht zu erhalten. Nur in Ausnahmefällen sei es vorgekommen, dass eine dieser Einheiten völlig vom Erdboden verschwunden sei.10 Der begrenzte und mit konventionellen Waffen geführte Krieg habe es nicht vermocht, diese Struktur zu verändern – das Prinzip der „Territorialität“ sei unangetastet geblieben. Herz nannte diese Periode daher auch das „territoriale Zeitalter“. Erst durch „Territorialität“ als entscheidenden Bestimmungsfaktor wusste Herz die Begriffe „Macht“ und „Souveränität“ sinnvoll zu definieren. „Macht“ begriff er als „Ausdruck der Gesamtwirkung der territorialen Einheit auf die Außenwelt, die Summe der Kräfte, die von einer Einheit auf andere Einheiten offensiv und defensiv ausstrahlen.“11 Auch Souveränität verstand Herz als Resultat von „Territorialität“, da der Herrschende juristische Undurchdringbarkeit nur deshalb beanspruchen könne, weil sein Gebiet reale Undurchdringbarkeit besitze.12 Herz entwickelte seinen Souverä8

Herz, Vom Überleben, S. 171. Vgl. John H. Herz, Aufstieg und Niedergang des Territorialstaates, in: Ders., Staatenwelt und Weltpolitik. Aufsätze zur internationalen Politik im Nuklearzeitalter, Hamburg 1974, S. 63–81, hier S. 64. Es handelt sich hier um die vom Autor autorisierte deutsche Fassung von Herz, Rise and Demise of the Territorial State, S. 473–493. Im Englischen verwendet Herz die Begriffe „impenetrability“, „impermeability“ und „territoriality“. 10 Vgl. Herz, Rise and Demise of the Territorial State, S. 473. Eine Ausnahme sieht Herz im Regime Napoleons, das als Hegemonialsystem darauf ausgelegt war, das Territorialsystem und das Mächtegleichgewicht zu zerstören, und in der Teilung Polens. Vgl. ebd., S. 482 f. 11 John H. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, Stuttgart 1961, S. 32. Es handelt sich hier um die deutsche Übersetzung von International Politics in the Atomic Age durch Lilli Faktor-Flechtheim, die Herz persönlich autorisiert hat. 12 Vgl. ebd. 9

I. „Territorialität“ als Bestimmungsfaktor des Westfälischen Staatensystems

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nitätsbegriff an dieser Stelle in expliziter Anlehnung an Gottfried Wilhelm Leibnitz, der das entscheidende Kriterium der Souveränität in der militärischen Gewalt über ein Gebiet gesehen hatte, – konkret also in der Möglichkeit, ein gegebenes Territorium durch eigene Streitkräfte zu befrieden.13 Herz genügte es nicht, dass ein Herrscher die Hoheitsrechte besaß, solange dies nicht mit der Fähigkeit einherging, seine Untergebenen einer Zwangshandlung zu unterwerfen. Souverän zu sein bedeutete, die Fähigkeit zu besitzen, seine Untergebenen unter seine Gewalt zu zwingen, ohne selbst von einer höheren Gewalt zu etwas gezwungen werden zu können. In Machtpolitik und Souveränität sah Herz die beiden entscheidenden Konzepte, die die Beziehungen der Staaten im Territorialzeitalter untereinander definierten: „Solange das Staatensystem ein System ‚souveräner‘, keiner höheren Autorität unterworfener Einheiten ist, ist die Macht, die diese Einheiten, die Staaten, im Verhältnis untereinander besitzen, das regulative Prinzip, das die Grundlage aller ihrer außenpolitischen Beziehungen abgibt; ja abgeben muss, da Prinzipien anderer, etwa moralischer oder rechtlicher Art, in diesem Bereich bisher nicht effektiv sind.“14

Auch das moderne Völkerrecht hatte sich laut Herz nur im Territorialzeitalter herausbilden können. Denn dessen Funktion bestand in erster Linie darin, die Zuständigkeiten und den Einflussbereich der einzelnen Länder zu begrenzen und damit ihre „Territorialität“ zu definieren. Völkerrecht stand also nicht im Gegensatz zur souveränen Unabhängigkeit der Staaten, sondern machte diese erst möglich.15 Seine Regulierungsfähigkeit reichte allerdings wiederum nur so weit, wie die territorialen Grenzen und die staatliche Souveränität unangetastet blieben. Trotz – oder gerade wegen – der herrschenden Anarchie erschien Herz das Zeitalter der „Territorialität“ beständig und berechenbar.16 Statt primär die im internationalen System herrschende Unsicherheit bzw. Anarchie zu betonen, interpretierte er die Errichtung des Territorialstaates konsequent als „wenigstens teilweise geglückten Versuch“17, außenpolitische Sicherheit herzustellen. Wie er schon in Political Realism and Political Idealism gezeigt hatte, sah er Machtpolitik, verstanden als das eherne Gesetz des Terri13

Herz, Aufstieg und Niedergang des Territorialstaates, S. 68 f. Herz, Macht, Mächtegleichgewicht, Machtorganisation im Atomzeitalter, S. 59. 15 Herz, Rise and Demise of the Territorial State, S. 480 f. 16 Herz betonte jedoch, dass diese Stabilität nur in Europa herrsche. Jenseits der „zivilisierten“ Welt nutzten die europäischen Staaten jede Gelegenheit, „ihre expansionistischen und kriegerischen Triebe in den riesigen, neu entdeckten Gebieten außerhalb Europas auszutoben.“ Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 41. 17 Herz, Aufstieg und Niedergang des Territorialstaates, S. 65. 14

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torialstaates, als ursächlich für die Herausbildung eines stabilen Gleichgewichts in Europa an. Gerade auf der Basis von Macht sei es gelungen, die andernfalls gänzlich unbeschränkte und willkürliche Machtausübung seitens einzelner Mächte zu limitieren, zu regulieren und zu beschränken. Im europäischen Gleichgewichtssystem mit dem „Balancer“ England identifizierte Herz das beste Beispiel seiner Theorie: Es habe die hegemonialen Bestrebungen Frankreichs, Preußens, Österreichs und Russlands immer wieder unterbinden können.18 Der begrenzt geführte Krieg habe als Mittel einer wirksamen Gleichgewichtspolitik daher zu dieser Beständigkeit und Berechenbarkeit beigetragen und die Aufrechterhaltung eines stabilen Gleichgewichts unabhängiger Nationalstaaten garantiert.19 Er habe als Mittel zur Austarierung gedient und so „die schutzgewährende und damit stabilisierende Funktion der Territorialität“20 widergespiegelt: „Er setzte keinen Prozess physischer oder politischer Vernichtung der Einheiten in Gang, sondern es handelte sich um eine Kraft- und Willensprobe, in der es um die Interessen, nicht aber um die Existenz der Gegner ging.“21 Mit dieser Argumentation bewegte sich Herz auf klassisch realistischem Boden.

II. Wandel der Ausgangslage durch Atomwaffen und Bipolarität Nachdem Herz mit der „Territorialität“ die Grundlage des modernen Staatensystems identifiziert hatte, beschäftigte er sich mit der Frage, welche Neuerungen das Atomzeitalter mit sich brachte und welche Folgen sich daraus für die Stabilität des internationalen Systems ergaben. Er entwickelte die These vom „Niedergang des Territorialstaates“22, die ihm den Spitznamen „Hard-Shell Herz“23 einbrachte.24 Herz argumentierte, die Ent18

„This proved to be even so when the European balance turned into a world balance with the entrance upon the scene of ‚world politics‘ and of such ‚world powers‘ as Japan and the United States.“ Vgl. Herz, Balance System and Balance Policies in a Nuclear and Bipolar Age, S. 38. Die USA, so Herz, hätten im Ersten und Zweiten Weltkrieg die Rolle des „Balancers“ übernommen, als 1917 klar geworden sei, dass es einer außereuropäischen Macht bedurfte, um das Gleichgewicht in Europa zu gewährleisten. 19 In einem fast zwanzig Jahre später erschienenen Aufsatz modifizierte Herz jedoch diese „vielleicht zu idyllische Schilderung“ des Krieges und betonte die Grausamkeiten, die selbst die gehegten Kriege des 18. Jahrhunderts mit sich brachten. Vgl. Herz, Power Politics or Ideology? The Nazi Experience, S. 28 ff. 20 Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 38. 21 Herz, Aufstieg und Niedergang des Territorialstaates, S. 70. 22 So der Titel des viel beachteten Aufsatzes, der 1957 im Vorfeld von International Politics in the Atomic Age erschien. 23 Herz, Vom Überleben, S. 169.

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deckung der nuklearen Waffentechnologie vollende eine Entwicklung, die die staatliche „Territorialität“ schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts Schritt für Schritt infrage gestellt habe. Zu den voratomaren Faktoren der Kriegsführung, die für diese Entwicklung ausschlaggebend gewesen seien, zählte er den Wirtschaftskrieg, die psychologische Kriegsführung und den Luftkrieg. Im Unterschied zu den althergebrachten Kriegstechniken hätten sie es nach und nach möglich gemacht, die „‚harte‘ Schale des Gegners zu überspringen oder zu umgehen.“25 Insbesondere der Luftkrieg habe die „Territorialität“ der Staaten am deutlichsten unterwandert, da es nun mit einem Mal möglich geworden sei, ganze Städte aus der Luft auszulöschen und das Risiko eigener Verluste gleichzeitig zu minimieren.26 Insgesamt sei die ehemals „harte Schale“ der Territorialstaaten immer poröser geworden. Die nun entdeckte Atombombe schließlich durchschlage diese „harte Schale“ ganz einfach. Staaten, die über die Atombombe verfügten, seien mit einem Mal in der Lage, nicht nur räumlich begrenzte Gebiete, sondern die Welt in ihrer Ganzheit zu zerstören. Man könne die neuen Waffen daher nicht einfach nur zu dem bereits existenten Rüstungspotential eines Staates addieren, sondern müsse sich vor Augen führen, dass hier ein grundsätzlich neuer Bestimmungsfaktor hinzugetreten sei, dessen Einfluss auf die Struktur des internationalen Systems einer Revolution gleiche. Die Schutzfunktion des Staates, auf die sich letztlich auch die Staatstreue der Bürger gründe, werde nun plötzlich ausgehebelt und der Staat in seiner Legitimität erschüttert. Während das moderne Staatensystem sich bis zu diesem Zeitpunkt immer wieder an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst habe und das Prinzip der „Territorialität“ erhalten geblieben sei, stehe nun das Prinzip als solches zur Disposition. Herz übersah er an dieser Stelle jedoch einen wichtigen Punkt. Wie er selbst schrieb, hatte sich die harte Schale des Staates in Kriegszeiten schon immer als verletzbar erwiesen, aber die Staaten hatten der Zerstörungskraft ihrer Gegner etwas entgegensetzen können. Eine Waffe ist ergo immer nur so zerstörerisch, wie die Defensive des anderen schwach ist. Das eigentli24 Herz’ These von der „Territorialität“ bzw. deren Ende ist in der Literatur bis heute vielfach aufgegriffen worden und hat Eingang in die Lehrbücher der Disziplin gefunden. Vgl. u. a. Ursula Lehmkuhl, Theorien Internationaler Politik. Einführung und Texte, 3. erg. Auflage, München/Wien 2001, S. 348 f.; Eckart Conze, Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt. Die gesellschaftliche Dimension in der Internationalen Geschichte, in: Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten, München 2000, S. 117–140, S. 117; Matthias Zimmer, Moderne, Staat und internationale Politik, Wiesbaden 2008, S. 44. 25 Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 58. 26 Vgl. Herz, Aufstieg und Niedergang des Territorialstaates, S. 76 f.

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che Problem ist also hier nicht die Durchlässigkeit des territorialen Schutzschildes, sondern das Verhältnis offensiver und defensiver Mittel. Dies hat Herz nicht erkannt. Neben der neuen atomaren Waffentechnik sah dieser den zweiten entscheidenden Faktor für den Niedergang des Territorialstaates in der Bipolarität des Systems. Aus dem Mächtepluralismus des modernen Staatensystems habe sich mit Ausbruch des Kalten Krieges eine Machtverteilung auf nur noch zwei Blöcke entwickelt, die sich ideologisch unversöhnlich gegenüberstünden. In diesen beiden Blöcken, so Herz, seien die meisten Nationalstaaten, bis auf wenige so genannte „blockfreie“ Staaten, aufgegangen. Die wenigen noch verbliebenen unabhängigen Territorialstaaten alten Stils hätten auf die Gestaltung der internationalen Beziehungen allerdings keinerlei Einfluss. Herz interpretierte diese Verschiebung im internationalen System als Versuch, „die Peripherie der harten Schale zu erweitern, so dass der Schutzgürtel, der einst territoriale Einheiten umgab, nunmehr . . . je eine Hälfte der Welt umspannt.“27 Die NATO übernehme die Schutzfunktion für die transatlantischen Verbündeten. Im Osten garantiere der Warschauer Pakt die Unverletzbarkeit des sowjetischen Blocks. Dort, wo beide Antagonisten aufeinander träfen, habe sich die neue „harte Schale“ herausgebildet – der Blockwall, der mitunter ganze Nationen, wie Deutschland oder Korea, einfach in zwei Hälften teile. Die Schutz- und Verteidigungsfunktion – traditionelle Aufgabe der Territorialstaaten – sei somit auf die jeweiligen Blöcke übergegangen.28 Da Herz nun aber, wie oben gezeigt, das Prinzip der „Souveränität“ direkt aus der „Territorialität“ und damit aus der Schutzfunktion ableitete, verloren die Staaten de facto ihre Unabhängigkeit, da diese auf die den Block dominierende Macht überging, obwohl die einzelnen Einheiten de jure weiterhin souverän blieben.29 In der Konsequenz, so Herz, bedeute dies eine gravierende Abhängigkeit der Blockstaaten von Washington oder Moskau, die sich auf weit mehr als nur die Gestaltung ihrer Außenpolitik erstrecke.30 Auch wenn sich der Grad der Abhängigkeit von der jeweiligen Supermacht innerhalb eines Blocks von Staat zu Staat unterscheide – nach außen hin sei man auf das Verteidigungssystem des jeweiligen Blocks angewiesen und könne sich nicht mehr allein auf seine eigene nationale Verteidigungskraft verlassen. Es gebe jeweils nur „ein integriertes Verteidigungssystem, das gegen das einzige außerdem noch vorhandene andere gerichtet war.“31 27 28 29 30 31

Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 68. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 75. Vgl. ebd. Ebd., S. 71.

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An dieser Stelle kann man beobachten, wie sehr Herz in einem damals typischen, amerikanischen „Schwarz-Weiß-Denken“ verhaftet war.32 Von der Volksrepublik China ist in seinem Buch nie als dritte Kraft die Rede. China und die Sowjetunion erschienen ihm als sine-sowjetischer monolithischer Block. Erst unter der Administration Nixon-Kissinger setzte diesbezüglich ab 1972 in den USA ein Umdenken ein und China wurde als von der Sowjetunion unabhängiger Akteur wahrgenommen.33 Herz dachte jedoch damals noch in den Kategorien von zwei geschlossenen Blöcken, die seiner Meinung nach langsam zu einer jeweils eigenen Territorialeinheit verschmölzen: „Wenn sich also die beiden Blöcke im einzelnen auch stark unterscheiden, so ist ihnen doch beiden das Bestreben, unter der Führung (oder Herrschaft) der jeweiligen Übermacht zu einer umfassenden, undurchdringbaren Gebietseinheit zu werden, gemein.“34 Herz argumentierte ferner, die enge Verflechtung der jeweiligen Blockstaaten untereinander und deren Abhängigkeit von der den Block dominierenden Supermacht würden auch durch den ökonomischen Faktor begünstigt, der neben dem politischen und militärischen Faktor eine entscheidende Rolle spiele. Im Westen hätten die Vereinigten Staaten mittels Marshallplan enorme Aufbauhilfe für die westeuropäische Wirtschaft geleistet und sich so auch den Einfluss auf die Gestaltung der Wirtschaftssysteme gesichert. Die USA würden darum nicht nur das außenpolitische Verhalten der Westblockstaaten bestimmen, sie könnten auch auf deren innenpolitische Entscheidungsprozesse einwirken, wenn sie z. B. Aufbauhilfe an Konditionen knüpften.35 Ähnliche ökonomische Abhängigkeiten würden auch im Osten entstehen. Herz kam daher zu dem Schluss: „Da jede Übermacht und jeder ihr entsprechende Block ein ganz bestimmtes wirtschaftliches, soziales und politisches System verkörpert und da jeder Block den Gegner nicht nur als Macht, sondern auch als System bekämpft, werden 32

Selbst Henry Kissinger, der später gemeinsam mit Nixon eine Öffnung nach China propagierte, ging in den 1950er Jahren noch von einem sine-sowjetischen Block aus, der eine einheitliche Bedrohung für die USA darstellte. Vgl. Gregory D. Cleva, Henry Kissinger and the American Approach to Foreign Policy, Cranbury, NJ et al. 1989, S. 121. 33 Vgl. Christian Hacke, Zur Weltmacht verdammt. Die amerikanische Außenpolitik von J. F. Kennedy bis G. W. Bush, 3., erweiterte und aktualisierte Auflage, Berlin 2005, S. 149 ff. 34 Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 74. Herz hielt diesen „Verschmelzungsprozess“ zum Zeitpunkt der Niederschrift 1959 noch lange nicht für abgeschlossen. Er ging davon aus, dass sich das internationale System in einem Übergangsstadium befinde und das neue bipolare System die alten Verteidigungseinheiten und Systeme noch nicht ganz beseitigt habe. Die langfristige Tendenz gehe jedoch klar in die oben skizzierte Richtung. 35 Vgl. ebd., S. 79–82.

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dem einen System entsprechende Arten von Politik, politischen Bewegungen, Parteien, Institutionen und Ideologien . . . verdächtig . . ., während es vormals den einzelnen Staaten freistand, sich im Rahmen ihrer Innenpolitik pro oder contra zu entscheiden.“36

Dies alles deutete für Herz auf eine „Gleichschaltung“ der Blöcke.37 Es werde immer schwerer, die Innenpolitik von der Blockpolitik zu trennen, da im Zweifelsfall Letztere immer Vorrang vor Ersterer haben müsse. Dieser Verlust nationaler Kontrolle führe die Staaten in eine doppelt schwierige Situation: Zum einen seien sie abhängig vom Schutzschild der „großen Brudermacht“, zum anderen müssten sie ständig fürchten, zur Zielscheibe des gegnerischen Blocks zu werden. Diese Situation lasse nur einen sehr engen Bewegungsraum für die nationale Gestaltung von Außenpolitik zu. Herz beschäftigte sich nun mit der Frage, welche Art von System sich aus dieser atomaren, militärischen, politischen, ideologischen und ökonomischen Zweiteilung der Welt ergebe. Seine Antwort: „It is a rigid balance, which in the absence of other comparable ‚weights‘ and, in particular, of an effective ‚third force‘ that might perform the function of ‚balancer‘, cannot be re-balanced or restored in the classical manner of shifting and rearrangement once it goes out of order.“38 Die für jedes multipolare Gleichgewichtssystem so notwendige Bildung einer Übermacht zur Eindämmung eines potentiellen Aggressors hielt er nicht länger für möglich.39 Ein System kollektiver Sicherheit war aus den gleichen Gründen ebenso wenig anwendbar.40 Aus seiner Perspektive war durch den Kalten Krieg daher eine höchst unsichere, fragile Weltordnung entstanden, deren Aufrechterhaltung auf lange Sicht einem ständigen Balancieren am Abgrund eines Vulkans glich. Zwar könne man auch dieses System als Gleichgewicht interpretieren, allein dadurch definiert, dass kein Staat im System vorherrschend sei oder dominiere.41 Unter einem Gleichgewichtssystem verstehe er allerdings weit mehr als nur eine Pattsituation: „Was bleibt ist ein Gleichgewicht, das nicht 36

Ebd., S. 80. „Vormals“ bezieht sich auf die Zeit seit Beginn des modernen Staatensystems 1648. 37 Vgl. Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 18. 38 Herz, Balance System and Balance Policies in a Nuclear and Bipolar Age, S. 40. 39 Vgl. Herz, Macht, Mächtegleichgewicht, Machtorganisation im Atomzeitalter, S. 61. 40 Wie schon zuvor in Political Realism and Political Idealism interpretierte Herz auch in International Politics in the Atomic Age das Prinzip der Kollektivsicherheit als modifiziertes Balance-of-Power-System, das dazu dienen sollte, das „Territorialsystem“ aufrecht zu erhalten. Vgl. Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 78. 41 Vgl. Herz, Balance System and Balance Policies in a Nuclear and Bipolar Age, S. 35.

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mehr System sein kann: zu starr, um die Ausgleichsmöglichkeiten zu haben, die es in klassischer Zeit funktionieren ließ, zu prekär, um Dauer zu versprechen.“42 Insbesondere die ideologische Spaltung der Welt verhindere eine erfolgreiche Gleichgewichtspolitik. Jede Konfrontation der beiden Supermächte müsse entweder im einseitigen Sieg und damit in hegemonialer Weltherrschaft, oder – für Herz wahrscheinlicher – im globalen Untergang münden:43 „So verstärkt die ideologische Bipolarität noch die Gefahren, die dem bipolaren ‚Gleichgewicht‘ drohen; neben der Erhaltung eines prekären Gleichgewichts rückt die andere in der Bipolarität liegende Möglichkeit in den Vordergrund: das Abgleiten in eine Lage, in der Krieg unvermeidbar wird.“44 Der im Zwischenfazit des vorherigen Kapitels angedeutete Unterschied zwischen Waltz und Herz tritt hier nun in aller Deutlichkeit zutage.45 Von den Vorteilen der Bipolarität, der gegenseitigen nuklearen Abschreckung und eines Gleichgewichts des Schreckens, die Waltz betonte, ist bei Herz nichts zu lesen. Im Gegensatz zu den vielen Befürwortern einer „Deterrence Theory“ war gegenseitige Abschreckung für ihn keine erfolgsversprechende Friedensstrategie, sondern in höchstem Maße gefährlich. Ihr Scheitern war gleichzusetzen mit einem Armageddon. Dies unterschied ihn nicht nur deutlich von Kenneth Waltz, sondern auch von Theoretikern wie Hermann Kahn oder Henry Kissinger. Kahns 1960 erschienenes Buch On Thermonuclear War46 ist das genaue Gegenstück zu Herz’ International Politics in the Atomic Age. Hier postulierte Kahn zwei Grundannahmen: Erstens sei ein Atomkrieg möglich, ohne dass die Welt in den Abgrund gestürzt werde. Zweitens sei ein solcher Atomkrieg für die USA gewinnbar. Kahn schrieb: „[D]espite a widespread belief to the contrary, objective studies indicate that even though the amount of human tragedy would be greatly increased in the postwar world, the increase would not preclude normal and happy lives for the majority of survivors and their descendants.“47 Kahn argumentierte, die Entwicklung von Atomwaffen bedeute noch lange nicht das Ende 42 Herz, Macht, Mächtegleichgewicht, Machtorganisation im Atomzeitalter, S. 61. 43 Vgl. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 92. 44 Ebd., S. 96. 45 Interessanterweise war Waltz einer der Gutachter, die der Verlag mit der Begutachtung von International Politics in the Atomic Age herangezogen hatte, bevor er das Manuskript zur Veröffentlichung annahm. Wie zu erwarten war, teilte Waltz die Herz’sche Besorgnis ob der Fragilität des bipolaren atomaren Systems nicht, empfahl aber dennoch, das Buch – nach einigen Änderungen – zur Veröffentlichung anzunehmen. So äußerte sich Waltz im Interview mit der Verfasserin am 17. September 2008 in Aberystwyth. 46 Herman Kahn, On Thermonuclear War, Princeton 1960. 47 Ebd., S. 21.

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der Welt, wie sie bis dato existiert habe. Er ging davon aus, dass die Eskalation beherrscht werden könne, d.h., dass die USA in jedem Moment eines Krieges die Macht habe, zu entscheiden, ob die nächsthöhere Stufe der Eskalationsleiter betreten werden solle oder nicht.48 Durch eine rationale Handhabung militärischer Machtanwendung könnten die Auswirkungen und Folgen eines Atomkrieges entweder verhindert oder – sollte dies nicht gelingen – zumindest eingegrenzt werden. Auch Henry Kissinger war ein Anhänger der Idee einer begrenzten atomaren Kriegsführung.49 In seinem bereits 1957 erschienenen Buch Nuclear Weapons and Foreign Policy50 analysierte er den veränderten Charakter von Außenpolitik im Atomzeitalter und forderte, die USA müssten die Fähigkeit erwerben, einen begrenzten atomaren Krieg führen zu können, der allerdings unter dem Niveau eines totalen Krieges bleiben sollte. Der begrenzte Atomkrieg, so Kissinger, bedeute „unsere wirksamste Strategie gegen Atommächte sowie gegen eine Großmacht, die imstande ist, die Technik durch Menschenmaterial zu ersetzen.“51 Alle Abschreckungstheoretiker hatten also gemein, dass sie die Atombombe als friedensstiftendes Machtmittel sahen, wie Kenneth Waltz auf den Punkt brachte: „[N]uclear weapons are in fact a tremendous force for peace and afford nations that possess them the possibility of security at reasonable cost.“52 Herz war diesbezüglich jedoch anderer Auffassung. Das Konzept der „Abschreckung“ beruhte ja vor allem auf der „territorialen Beziehbarkeit und Verortbarkeit von Akteuren und Bedrohung.“53 Wie Hartmut Behr richtigerweise herausgearbeitet hat, vermag insbesondere der englische Begriff der „Deterrence“ dies zu verdeutlichen, „enthält dieser etymologisch doch lat. ‚terra‘, was die Vorstellung belegt, dass der Gegner davon abgeschreckt werden kann, gewisse offensive Schritte aus seinem Territorium heraus zu unternehmen, sei dies im Sinne konventioneller oder ‚aircraft‘ – und raketengestützter Kriegsführung“54. Herz vertrat aber gerade die These vom 48 Die Sprossen dieser Eskalationsleiter führte er aus in: Herman Kahn, Eskalation. Die Politik mit der Vernichtungsspirale, Berlin 1966, insbesondere Kapitel II–IX. 49 Vgl. Kissinger, Kernwaffen und Auswärtige Politik, S. 158: „Unter . . . Umständen ist es möglich, sich das Muster eines begrenzten Atomkrieges mit einer ihm gemäßen eigenen Taktik und mit Begrenzungen der Ziele und Gebiete sowie der Größe der Waffen vorzustellen.“ 50 Kissinger, Nuclear Weapons and Foreign Policy, New York 1957 [deutsche Ausgabe: Kernwaffen und Auswärtige Politik]. 51 Kissinger, Kernwaffen und Auswärtige Politik, S. 170. 52 Kenneth N. Waltz, Nuclear Myths and Political Realities, in: American Political Science Review, Vol. 84, No. 3/1990, S. 731–745, S. 731. 53 Hartmut Behr, Entterritoriale Politik. Von den Internationalen Beziehungen zur Netzwerkanalyse, Wiesbaden 2004, S. 109, Fn. 31. 54 Ebd.

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Niedergang des Territorialstaates und dem Ende der „Territorialität“. Schon vor diesem Hintergrund schien „Deterrence“ keinen rechten Sinn zu machen. Von der Begrenzbarkeit eines atomaren Krieges hielt er nichts. In einem Vortrag an der Bundeswehruniversität in Hamburg sagte er zu dieser Thematik: „Abgesehen vom Irrtum (der bekannte, falsch interpretierte Blick auf den Radarschirm, wenn nur noch wenige Minuten Zeit bleiben), besteht die Gefahr der Eskalation von konventionellen oder vom ‚kleinen‘ Nuklearkrieg in den allgemeinen, sowie des irrationalen Verhaltens in Krisensituationen.“55 Eine besonders große Gefahr sah er in der unkontrollierbaren Proliferation von Atomwaffen. Auch wenn die Nukleargarantie der Supermächte keinen letztendlichen Schutz gegen Vernichtung mehr bieten könne, so argumentierte Herz, käme erst recht kein Land ohne eine solche Garantie aus.56 Je mehr sich die Staaten jedoch über ihre nukleare Abhängigkeit bewusst seien, desto eher würden sie danach drängen, selbst in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen. Und je mehr Staaten über Atomwaffen verfügen könnten, desto instabiler und gefährdeter werde das internationale System. Herz glaubte nicht daran, dass Bipolarität die weitere Verbreitung von Atomwaffen erfolgreich verhindern könne. Einmal mehr zeigte er hier einen Teufelskreis auf, aus dem es kein Entrinnen gab. Denn im Gegensatz zum Territorialzeitalter, wo Multipolarität Gleichgewicht zur Folge gehabt habe, würde eine atomare Multipolarität seiner Meinung nach keine stabilisierende Wirkung ausüben, sondern wäre die „schlimmste“ aller möglichen Entwicklungen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein irrationaler Diktator vom Kaliber Hitlers eine Waffe mit nuklearem Vernichtungspotential in die Hände bekäme, würde sich vervielfachen. Außerdem würde man bei einer Vielzahl von Nuklearmächten überhaupt nicht mehr wissen können, „wer wen blufft, erpresst oder terrorisiert.“57 Eine Politik rationaler Abschreckung war deshalb für Herz in einem solchen Szenario kaum noch vorstellbar.58 Herz unterschied sich an dieser Stelle also deutlich von den Befürwortern einer wie auch immer gearteten nuklearen Proliferation, wie sie heute noch von den Neorealisten Kenneth Waltz und John Mearsheimer vertreten wird.59 55 Herz’ unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, „Außenpolitik im Zeitalter des bedrohten Menschheitsüberlebens“, vom 1. März 1989. 56 Vgl. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 100. 57 Ebd., S. 106. 58 Vgl. Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 18. 59 Waltz vertritt die Auffassung, dass „Mutual Assured Destruction“ (MAD) im Kalten Krieg eine Eskalation verhindert habe. Es gebe keinen Grund zu der Annahme, dass dieser friedensstiftende Effekt sich nicht auch nach dem Ende der Blockkonfrontation auswirken würde. Vgl. Scott Sagan/Kenneth N. Waltz, The

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III. Das Sicherheitsdilemma im Atomzeitalter Herz ging davon aus, dass das seit jeher vorhandene Sicherheitsdilemma unter den oben skizzierten Bedingungen eine nicht mehr zu überbietende Brisanz erreicht hatte. Die traditionellen Faktoren, die im Territorialzeitalter noch für dessen Abmilderung und Eingrenzung gesorgt hätten, seien im Atomzeitalter entweder unwichtiger oder obsolet geworden. Während Kriege im Territorialzeitalter noch „gehegt“ und folglich „in Kriegsführung wie Kriegszielen begrenzt“60 gewesen seien, gebe es nun keine Region auf Erden mehr, in der beide Blöcke ihre Sicherheitsinteressen nicht gefährdet sehen würden. Schlimmer: Was auch immer die Sicherheit der einen Seite erhöhe, müsse die Sicherheitsinteressen der anderen Seite zwangsläufig verletzen. Die Mechanismen des Sicherheitsdilemmas, die Angst vor Vernichtung und das Misstrauen gegenüber dem Gegner, würden im Kalten Krieg zu einem permanenten Wettrüsten führen. Die Brisanz des Sicherheitsdilemmas lag ja gerade darin, dass es keinem der beiden Protagonisten möglich war, die Gedanken des anderen zu lesen und dessen wahre Absichten zu erkennen. Es kam also darauf an, wie man die Handlungen des Gegners wahrnahm und interpretierte – aber was man wahr nahm musste nicht zwangsläufig auch wahr sein! Stärker als noch in Political Realism and Political Idealism betonte Herz in International Politics in the Atomic Age, dass das Sicherheitsdilemma nicht unabhängig von Wahrnehmungen und Interpretationen existieren konnte. Herz argumentierte hier ähnlich wie Stephen Walt einige Jahre später. Denn auch nach Walts „Balance of Threat“-Theorie ist das Bündnisverhalten von Staaten abhängig davon, wie sehr sie sich von einem anderen Staat bedroht fühlen, nicht, wie sehr sie dieser Staat de facto bedroht.61 Auf die konkrete Situation im Kalten Krieg angewandt bedeutete dies Folgendes: Selbst wenn die Sowjetunion nicht auf kriegerische Erweiterung des sowjetischen Einflussbereichs bedacht war, sondern nur auf die Erhaltung des Status Quo, änderte dies nichts am Sicherheitsdilemma, so lange die Amerikaner weiterhin glaubten, dass die weltweite Verbreitung des Kommunismus dem sowjetischen Handeln zugrunde lag. Umgekehrt galt, dass es keine Rolle spielte, ob die US-amerikanische Außenpolitik tatsächSpread of Nuclear Weapons: A Debate Renewed, 2. Auflage, New York 2002. Mearsheimer sprach sich 1990 für selektive Proliferation in Europa aus, die einen erneuten Weltkrieg nach 1989/90 verhindern sollte. Vgl. Mearsheimer, Back to the Future, S. 5–56. 60 Beide Zitate entnommen aus Herz, Vom Überleben, S. 172. 61 Walt identifizierte vier Faktoren, die das Bedrohungspotenzial eines Staates bestimmten: strength (size, population, and economic capabilities), geographical proximity, offensive capabilities, offensive intentions. Vgl. Walt, S. 3–43.

III. Das Sicherheitsdilemma im Atomzeitalter

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lich von einem imperialistischen Expansionsdrang getrieben war, solange dies der sowjetischen Interpretation entsprach. Herz argumentierte, dass sich die Gemüter im Kalten Krieg angesichts der ungeheuren Bedrohung und der widerstreitenden Ideologien gegenseitig so hochgeschaukelt hätten, dass jedwede Handlung der anderen Seite immer als aggressiver Akt ausgelegt werde. Für die mögliche Entschärfung oder Abmilderung des Dilemmas hatte dies weit reichende Folgen. In International Politics in the Atomic Age stellte Herz daher fest: „[B]ipolarity has given the security dilemma its utmost poignancy. So far as the two blocs are concerned, little mitigates it.“62 Die Logik des Sicherheitsdilemmas legte für Herz eigentlich nur zwei denkbare Lösungen nahe: Globale Hegemonie oder Untergang. Da das Sicherheitsbedürfnis beider Supermächte nur durch den Untergang der jeweils anderen Macht befriedigt werden konnte, argumentierte Herz, dass beide Mächte zwangsläufig nach globaler Hegemonie durch einen Präventivkrieg streben müssten. Einen Krieg zu riskieren sei im Atomzeitalter jedoch weniger logisch als jemals zuvor, da die eigene Existenz unmittelbar auf dem Spiel stehe. Bei einem großen Schlagabtausch würde es keine Sieger und Besiegte, sondern nur noch Verlierer geben. Man sei also zwei Paradoxien gleichzeitig ausgesetzt: Einmal würden die Mittel zur Erreichung des Zwecks den eigentlichen Zweck gleichfalls vernichten. Zum anderen gehe maximale Machtfülle einher mit maximaler Machtlosigkeit. Aus dieser Irrationalität allerdings ableiten zu wollen, dass ein Atomkrieg nun gänzlich ausgeschlossen sei, eben weil er logisch keinen Sinn mache, hielt Herz für fatal: „Logical preclusion, of course, offers no guarantee against actual resort to all-out war in disregard of rationality.“63 Herz widersprach damit erneut all denjenigen „Deterrence“-Theoretikern, die in der entstandenen Bipolarität und dem Prinzip gegenseitiger Abschreckung eine neue stabile Form eines Gleichgewichtssystems sahen – und die ihre Theorie insbesondere auf die Annahme der Rationalität der beteiligten Akteure stützten.64 Ihre Überlegungen hinsichtlich einer von der Vernunft diktierten Kontrolle und Begrenzung der Eskalation vermochten Herz nicht zu überzeugen. Insbesondere das deduktive, rein rationale Vorgehen Herman Kahns, dessen Werkzeuge Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung waren, blieb Herz fremd. Er vertraute nicht auf eine Art „unsichtbare Hand“, die garantierte, dass der beidseitige Besitz von Nuklearwaffen und das Wissen 62

Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 241. Ebd., S. 243. 64 So schrieb z. B. Helmut Schmidt über Kahn: „Die Denkschule Herman Kahns ist die Schule der Anwendung reiner Rationalität auf Politik und Strategie.“ Siehe Helmut Schmidt in seiner Einleitung zu Kahn, Eskalation, S. 14. 63

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um die jeweilige Zweitschlagsgarantie allein ausreichten, um den Einsatz dieser Waffen zu verhindern. Anders als Waltz wurde Herz niemals müde, vor der Zerbrechlichkeit des Systems zu warnen. Das Gefühl der Unsicherheit war in dieser zwischen Krieg und Frieden „schwebenden Ungewissheit“65, jener „seltsam unsichere[n] waffenstillstandsähnliche[n] Zwischenlage“66, allgegenwärtig und erinnerte ihn fatal an die 1920er und 1930er Jahre.67 Peter Stirk kommt daher zu dem Schluss: „[I]t is an awareness of the fragility of the international order and the challenges to it that ultimately marks out Herz’s brand of realism.“ Die entstandene Pax atomica war für Herz aus vielerlei Gründen alles andere als eine wirkungsvolle Sicherheitsgarantie: Ein Atomkrieg konnte sozusagen als „Unglücksfall“ durch Fehlkalkulationen, technische Fehler oder andere Formen menschlichen Versagens jederzeit ausbrechen. Darüber hinaus war nicht ausgeschlossen, dass die eine oder andere Seite durch neue technologische Errungenschaften zu der Überzeugung gelangen konnte, ein überraschender Präventivschlag, bei dem man den Gegner überwältigte, ohne dass dieser eine Chance zur Gegenwehr hatte, hätte Aussicht auf Erfolg. Außerdem waren Missverständnisse darüber denkbar, welche Art des Angriffs auf der anderen Seite einen massiven Vergeltungsschlag hervorrufen würde. Nicht zuletzt gab es immer das Moment der Irrationalität und Unberechenbarkeit, welches einen zukünftigen Hitler dazu veranlassen konnte, die Menschheit in den Abgrund zu stoßen.68 Herz schätzte die Gefahr eines globalen Exitus durch Nuklearwaffen als so eklatant ein, dass man sich nicht auf „Deterrence“ verlassen durfte. Stattdessen erschien es ihm dringend geboten, neue außenpolitische Strategien für das Atomzeitalter zu entwickeln.

IV. Eine neue Theorie der Internationalen Beziehungen für das Atomzeitalter Nachdem Herz die Bestandsaufnahme abgeschlossen hatte, ging es nun darum, eine normative Theorie abzuleiten, die sich als Wegweiser für den 65

Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 155. Ebd. 67 Vgl. Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 273. Peter Stirk betont, wie sehr die Erfahrungen der Zwischenkriegszeit die damaligen Zeitzeugen geprägt und beschäftigt hatten: „The idea of inhabiting a precarious no-man’s land between war and peace had occurred to others too, including Carl Schmitt, though he used it for radically different purposes.“ Vgl. Stirk, Realism and the Fragility of the International Order, S. 298. 68 Alle Argumente finden sich in John H. Herz, unveröffentlichtes Manuskript ohne Titel, Box 4, Berkely Lectures 1959 [Ordner], Herz Papers. 66

IV. Eine neue Theorie der Internationalen Beziehungen

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Umgang mit den neuen Herausforderungen verstand. Angesichts der Unbestimmtheit der neuen Situation, in der nicht abzusehen war, wie sich das internationale System weiter entwickeln würde,69 war es allerdings nicht leicht, verlässliche Handlungsempfehlungen für die Gestaltung von internationaler Politik im Atomzeitalter zu geben. Herz sah es als die überragende Aufgabe einer solchen Theorie an, das Überleben der Menschheit angesichts der nuklearen Bedrohung zu garantieren. Mittlerweile war das zuvor schon erkennbare „Überlebensmotiv“ ganz in den Vordergrund seines Denkens gerückt. Die Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen betrachtete Herz fortan als eine Überlebensdisziplin. Dies illustriert das von Herz stammende Zitat, welches als Klappentext der deutschen Ausgabe von International Politics in the Atomic Age verwendet wurde: „Das Studium von Fakten, Problemen und Lösungsvorschlägen auf dem Gebiet der internationalen Politik darf heute nicht mehr als Basis zum Theoretisieren abgetan werden; es ist lebensnotwendige Bemühung um eben jenes Leben, das heute auf dem Spiel steht.“70 Der durch Bipolarität und Nuklearwaffen herbeigeführte Wandel musste in seinen Augen jeden Wissenschaftler, der sich mit den Internationalen Beziehungen beschäftigte, dazu veranlassen, neue Denkansätze zu entwickeln – nicht allein um der abstrakten intellektuellen Herausforderung Willen, sondern ganz konkret, um eine Möglichkeit des Ausgleiches und der friedlichen Koexistenz der Blöcke zu finden. Der Sieg eines Blocks ohne einen alles vernichtenden Nuklearkrieg und die Rückkehr zur alten Multipoliarität waren für Herz zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr vorstellbar. Es konnte nur noch darum gehen, die Situation weitestgehend zu entschärfen. Die normative Komponente, die seine Theorie schon zuvor enthalten hatte, nahm immer größeren Raum ein. Herz sprach von einer „ganz neuen Dimension politischer Verantwortung“71. Er verglich die Disziplin der Internationalen Beziehungen mit der klassischen Physik, deren Regeln und Gesetze durch die Entdeckung der Quanten- und Relativitätstheorie veraltet erschienen und einer grundlegenden Revision bedurften.72 Im folgenden Teil der Arbeit steht Herz’ Versuch einer solchen Revision im Mittelpunkt.

69

Vgl. Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 24. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, hinterer Klappentext. 71 Auf englisch spricht Herz von „new dimensions of responsibility for policy“, vgl. Herz, unveröffentlichtes Manuskript, ohne Titel, Berkely Lectures 1959 [Ordner], Herz Papers. 72 Vgl. Herz, Rise and Demise of the Territorial State, S. 474. 70

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1. Die Unanwendbarkeit klassischer Analysekategorien im Atomzeitalter Herz ging davon aus, dass das Ende des Territorialzeitalters sich gravierend auf die Anwendbarkeit von Kategorien wie „Macht“, „Unabhängigkeit“ und „Souveränität“ auswirke, die traditionell bis heute vor allem im Realismus zur Analyse der internationalen Beziehungen verwendet werden. Herz argumentierte, man sei fälschlicherweise davon ausgegangen, dass diese Kategorien zeit- und raumlose Gültigkeit besäßen. Stattdessen seien sie alle jedoch eng mit dem Begriff der „Territorialität“ verwoben:73 „Closer analysis reveals that categories like ‚sovereignty‘ and ‚independence,‘ national interest and national power, and even ‚nation‘ itself, have all been closely tied to the specific conditions of a particular period, emerging with these conditions and now becoming inapplicable with the change of times and conditions.“74

Herz erschien es nur sinnvoll, Machteinheiten als politisch unabhängig und rechtlich souverän zu betrachten, solange diese Einheiten tatsächlich „undurchdringbar“ seien. Unter den Bedingungen der „Territorialität“ habe „Macht die strategische, Unabhängigkeit die politische und Souveränität die juristische Komponente jener Undurchdringbarkeit“75 dargestellt. Mit dem sich zum Ende neigenden Territorialzeitalter sei nun aber auch die Anwendbarkeit dieser Begriffe als Analysekriterien einer Theorie Internationaler Beziehungen im Schwinden begriffen.76 Er machte dies am Beispiel des Begriffs „Macht“ deutlich: Im Territorialzeitalter sei die Macht eines Staates traditionell durch die Faktoren Größe, Lage und Beschaffenheit des Staatsgebiets, Bevölkerungszahl, Grad der industriellen Entwicklung und vor allem militärische Stärke definiert worden. Macht sei demnach eine klar mess- und kalkulierbare Kategorie gewesen. Herz argumentierte, all diese Faktoren spielten unter den gewandelten nuklearen Bedingungen nur noch eine untergeordnete, und vor allem zweideutige und widersprüchliche Rolle. Wo Langstreckenraketen von Kontinent zu Kontinent flögen, stelle beispielsweise eine traditionell geopolitisch vorteilhafte Insellage keinen wirksamen Schutz mehr gegen einen Angriff dar.77 In diesem Punkt widerspricht er den gängigen Grundannahmen vieler Realisten, die militärische und geopolitische Faktoren bis heute als ausschlaggebend für die Beziehungen von Staaten ansehen. So argumentiert beispielsweise John Mearsheimer in seinem Buch The Tragedy 73 74 75 76 77

Vgl. Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 49. Herz, International Politics and the Nuclear Dilemma, S. 18. Herz, Aufstieg und Niedergang des Territorialstaates, S. 64. Vgl. Herz, Rise and Demise of the Territorial State, S. 475. Vgl. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 99.

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of Great Power Politics von 2001, „the stopping power of water“ sei einer der Hauptgründe, warum Staaten nicht in solchen Gebieten nach Hegemonie strebten, von denen sie durch Ozeane getrennt seien.78 Herz distanzierte sich jedoch von einem solchen militärischen und geopolitischen Verständnis von Macht. Da beide Seiten durch die Möglichkeit eines nuklearen Zweitschlags in der Lage seien, sich gegenseitig zu vernichten („who strikes first dies second“), spiele es keine Rolle mehr, über wie viel mehr atomare Sprengköpfe, Mittelstreckenraketen, etc. der Gegner verfüge. Er zog den Schluss, das Atomzeitalter stelle den bedeutendsten Wandel im Wesen der Macht dar, den es seit dem Entstehen des modernen Staates, vielleicht sogar dem Beginn der Menschheit selbst, gegeben habe.79 „Macht“, bisher regulatives Prinzip der internationalen Beziehungen, könne deshalb nicht länger als Basis einer neu formulierten Theorie dienen. Wo das Überleben der gesamten Menschheit auf dem Spiel stehe, sei nur ein radikales Umdenken aller Beteiligten, insbesondere eine Abkehr von der traditionellen Machtpolitik, ein geeignetes Instrument, um zu verhindern, dass die Mechanismen des Sicherheitsdilemmas in die globale Vernichtung führten. An dieser Stelle lassen sich jedoch zwei gravierende Einwände gegen Herz’ allzu vereinfachende Sicht der Dinge erheben. Erstens kann man – entgegen Herz’ Behauptung – wohl nicht davon ausgehen, dass Macht jemals eine klar mess- und kalkulierbare Kategorie war. Dies gilt auch für die Westfälische Staatenwelt. Zweitens ignoriert Herz, dass der von ihm diagnostizierte Wandel des Wesens von Macht nicht gleichzeitig ihre Abschaffung bedeutet, zumal sich diese Veränderung für verschiedene Staaten verschieden gestaltet. Die unterschiedlichen Machtkapazitäten der Staaten sind somit auch im Atomzeitalter weiterhin ein ausschlaggebender Faktor für die Gestaltung internationaler Politik, selbst wenn man annimmt, dass sich Macht nicht mehr hauptsächlich militärisch oder geopolitisch bestimmen lässt. Herz jedoch wandte sich an dieser Stelle von einer realistischen, auf Macht und Staatsinteressen im herkömmlichen Sinne ausgerichteten Außenpolitik ab. Eine solche Politik konnte seiner Meinung nach im Atomzeitalter keine Lösungen für die neuen Probleme mehr bieten. Stattdessen orientierte er seine Handlungsempfehlungen fortan an seinem „Überlebensargument“.

78 Daneben erwähnt Mearsheimer auch die „primacy of land power“. Vgl. Mearsheimer, Tragedy of Great Power Politics, S. 27. 79 Vgl. Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 22.

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2. Die Zweiteilung des realisierbaren Ideals Die Frage, wie das Überleben der Menschheit im Nuklearzeitalter gesichert werden konnte, beantwortete Herz „im Sinne eines auf die Weltsituation angewandten Realliberalismus‘“ durch eine „Zweiteilung des realisierbaren Ideals“80. Als kurz- bzw. mittelfristige Maßnahme befürwortete er eine Art „Stillhalteaktion“81, bzw. „holding operation“, die die ideologische und strategische Starre, in der sich die beiden Supermächte verfangen hatten, erst einmal lösen und die Mechanismen des Sicherheitsdilemmas entschärfen sollte. Langfristig gesehen war er der Meinung, dass nur ein grundlegender Wandel in der Einstellung der politischen Entscheidungsträger das Überleben der Menschen garantieren könne. Er plädierte daher in einem zweiten Schritt für einen angewandten „Universalismus“82, der dem langfristigen universalen Interesse am Fortbestand der Menschheit den Vorrang gegenüber allen kurzfristigen Partikularinteressen der Staaten, Gruppen und Individuen einräumen sollte. a) Entwurf einer „Stillhalteaktion“ Herz erwartete keine radikale Änderung über Nacht.83 Bevor eine völlige Neuausrichtung der internationalen Politik in seinem Sinne überhaupt nur denkbar sei, bedürfe es einer langwierigen Vorbereitungsphase. Angesichts einer Situation, in der die Welt mehr als jemals zuvor in Sicherheitsdilemmata verstrickt sei, bestehe das primäre Interesse zunächst einmal darin, einen auch noch so labilen Friedenszustand, namentlich die friedliche Koexistenz der Blöcke, aufrechtzuerhalten. Koexistenz sei der Nicht-Existenz immerhin vorzuziehen.84 Um ein Eskalieren der Situation zu verhindern, gelte es daher zunächst, die politische, ideologische und strategische Verhärtung der Fronten aufzuweichen und eine Annäherung zu erzielen. Herz hielt dies nicht für ausgeschlossen, da beide Seiten ein gemeinsames Interesse daran verbinde, den Untergang zu vermeiden. Rational betrachtet könne weder der Sowjetunion noch den Vereinigten Staaten daran gelegen sein, einen Krieg zu riskieren. An diese Rationalität wollte Herz anknüpfen. Seiner Meinung nach seien beide Konfliktparteien primär an der Sicherung der eigenen Existenz und des eigenen Einflussgebietes interessiert. Er plädierte 80

Beide Zitate aus Herz, Vom Überleben, S. 180. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 137. 82 Ebd., S. 171. 83 Vgl. ebd., S. 138. 84 Vgl. John H. Herz, Foreign Policy in the Framework of an Open-Society Bloc, in: American Foreign Policy Newsletter, Vol. 5, No. 4 (August 1982), S. 2–7, S. 3. 81

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daher für eine Politik, die das gegenseitige Misstrauen abbauen und die Gemüter abkühlen sollte. Die konkreten Vorschläge, die Herz bereits 1959 machte, als Dwight D. Eisenhowers Begriff des „Roll Back“ die offizielle amerikanische Außenpolitikstrategie umschrieb, lassen ihn im Rückblick als Vorreiter der Entspannungspolitik der 1970er Jahre erscheinen. Zunächst forderte er ausgehend von den gegebenen Machtverhältnissen eine klare Abgrenzung von Interessenssphären, „d.h. eine gegenseitige Anerkennung de facto (nicht de jure) dessen, was jede Seite zur Zeit besitzt und das, da es ihr ja jeweils nur durch Gewalt abgenommen werden könnte, als Ausgangspunkt der Verhandlungen dienen muss.“85 Er wollte mit seinem Plädoyer nicht die dauerhafte Festschreibung von Grenzen erreichen oder die Herrschaftsbereiche der Supermächte langfristig festigen. Es ging ihm schon gar nicht darum, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren. Sein Ziel war es allein, die Spannungen zwischen den Supermächten abzubauen, um Raum für weitere Schritte zu schaffen. Begriffe wie „modus vivendi“86 und „Entspannung“87 lassen sich bei Herz bereits damals finden. Vor allem eine Entideologisierung der Außenpolitik erschien ihm dringend geboten: „Viel wäre schon geholfen, träte die Ideologie ein wenig in den Hintergrund“88. Wenn es beiden Seiten gelänge, so argumentierte Herz, sich von den ideologischen Vorgaben ein Stück weit zu befreien und einzusehen, „dass es sich bei der Weltlage in erster Linie um Sicherheits- und Machtinteressen und die Vermeidung des großen Krieges handelt“89, dann könnten viele Fehleinschätzungen und Missverständnisse vermieden werden. Ganz im realistischen Sinne forderte Herz eine Rückbesinnung auf die eigenen Interessen, die es gegeneinander abzuwägen galt, und plädierte für bilaterale Verhandlungen auf der Basis von Rationalität, nicht von Ideologien.90 An 85 Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 139. Auch wenn „Containment“ seit 1947 genau diese Eingrenzung von Interessenssphären propagiert hatte, die Herz hier forderte, so hatte die amerikanische Außenpolitik mit Beginn der 1950er Jahre und dem Amtsantritt Eisenhowers deutlich aggressivere Untertöne bekommen. 86 Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 140. 87 Ebd., S. 145. 88 Ebd., S. 139. 89 Ebd., S. 140. 90 Später wurde er für eben diese Ausklammerung des ideologischen Faktors, insbesondere mit Blick auf die totalitäre Sowjetunion, harsch kritisiert. Auf einer Konferenz der City University, auf der Herz seine Ansichten präsentierte, fragte Paul Riebenfield in der anschließenden Diskussion: „Can you really write off, as Professor Herz has done, the issue of ideology to which a totalitarian society is tuned, when talking about policy?“ Vgl. „Discussion-Oct. 25“, in: George Schwab/Henry Friedlander (Hrsg.), Détente in Historical Perspective, New York 1975, S. 41–63, S. 47.

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die Stelle eines ideologischen Kreuzzuges sollte nüchterne (Friedens-)Politik treten: „With the dusk of ideology we might eventually witness the dawn of a true theory and practice of peace.“91 Die große Priorität einer „Stillhaltepolitik“ sollte für Herz auf Abrüstungsbemühungen und Mechanismen der Waffenkontrolle liegen. Schon 1950, mehr als zehn Jahre vor der Kubakrise und mehr als 15 Jahre vor dem Harmel-Bericht der NATO, hatte Herz in einem Leserbrief an die New York Times vorgeschlagen, die Strategie der „massiven Vergeltung“ zu modifizieren und auf einen nuklearen Erstschlag zu verzichten: „It should be made explicit that the only instance in which use of an atomic weapon would be permissible would be in retaliation for the other side’s using such weapon first. That is, it would be used not in retaliation for any other attack nor, in the absence of an atomic attack, as a means of ‚self-defense‘ – whether genuine or alleged, individual or ‚collective‘.“92

Weitere Forderungen von Herz waren eine klare Definition von Angriffskriterien, ein Atomwaffenteststopp-Abkommen, ein Atomwaffensperrvertrag und eine klare internationale Regulierung der militärischen Nutzung des Weltraums.93 Um das Aufkommen weiterer Atommächte zumindest im Westen zu vermeiden, schlug er ganz konkret eine Arbeitsteilung zwischen den USA und dem Rest des westlichen Blocks vor: Die USA sollten einzig im Besitz von Atomwaffen sein, die anderen westlichen Mächte sollten konventionelle Kräfte zur Verteidigung beisteuern und als Juniorpartner der USA fungieren. Zu dieser Art Entspannung, so schrieb Herz, gebe es keine Alternative: „Es muss geduldig und immer wieder versucht werden, Kontakt zu gewinnen und zu erhalten, Kompromisslösungen zu finden, neutrale oder atomfreie Regionen zu schaffen, Demarkationslinien auch in der Dritten Welt zu ziehen, kurz, sich aller traditionellen und womöglich auch neu zu erfindenden diplomatischen Methoden zur Verminderung von Spannungen und Lösung von Konfliktsituationen zu bedienen.“94

Herz schätzte die Verbesserungen, die man mithilfe einer solchen „Stillhalteaktion“ erreichen konnte, pragmatisch ein. Man könne nicht erwarten, 91

Herz, Ideological Aspects, S. 75. John H. Herz, Leserbrief an die New York Times, ohne Titel, 12. Februar 1950. 93 Nach der Kubakrise kam es tatsächlich zu ersten Verhandlungen über die Rüstungskontrolle. So wurde z. B. am 5. August 1963 in Moskau ein Vertrag zum Verbot von Nuklearwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser (mit Ausnahme unterirdischer Tests) unterzeichnet. Ab 1969 wurden auch die Verhandlungen zu SALT I begonnen, die eine Begrenzung der Interkontinentalraketen beider Länder vorsahen. 94 John H. Herz, Amerikanische Außenpolitik im Wandel. Zwischen Vernunft und Irrationalität, in: Gewaltfreie Aktion, Band 49/50, 1981, S. 1–11, S. 7. 92

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dass sich die neu entstandene Grundstruktur des internationalen Systems kurzfristig verändere. Die Vorstellung, durch eine „Stillhalteaktion“ einen langfristigen „echten Frieden“ herbeiführen zu wollen, bezeichnete Herz als utopisch.95 Man könne und müsse jedoch jede mögliche Aggression sowohl örtlich als auch in ihren Zielen begrenzt und in einem konventionellen Rahmen halten.96 An die Stelle des großen Krieges der beiden Blöcke sollten fernab der Supermächte geführte, „periphere Kriege“ als kleinere Übel treten. Herz war sich dabei sehr wohl darüber im Klaren, was seine Politik einer „Stillhalteaktion“ für Folgen haben könnte. Die 1960er und 1970er Jahre mit ihren vielen direkten oder indirekten Stellvertreterkriegen in Vietnam, Israel oder Afghanistan sollte ihm Recht geben. Er rechtfertigte seinen Standpunkt ausgehend von einer relativistischen Gerechtigkeitsphilosophie, wie sie auch schon sein Lehrer Kelsen vertreten hatte:97 Zwar sei es vielleicht nicht gerecht, die Aggressionen zwischen den Supermächten auf Kosten von Drittstaaten und deren Zivilisten auszutragen, aber immerhin gerechter, als die ganze Welt mit in den Abgrund zu reißen. Wolle man einem universellen Krieg entgehen, habe man oft nur die Wahl zwischen schlimmen Alternativen und müsse manchmal aus Gründen der Notwendigkeit zu Methoden greifen, die nicht wünschenswert oder moralisch richtig seien. Neben den oben erwähnten Stellvertreterkriegen bezog sich Herz vor allem auf die staatlichen Teilungen von Deutschland, Korea und Vietnam, die es seiner Meinung nach zu akzeptieren galt.98 Zur Problematik von Moral und Außenpolitik äußerte er sich in diesem Zusammenhang wie folgt: „Ich glaube nicht, dass Außenpolitik – die bisher immer ‚Machtpolitik‘ war – sich stets davon leiten lassen kann oder auch nur sollte, was man zum jeweiligen Zeitpunkt für ‚moralisch‘ hält.“99 Oberstes Ziel sollte es sein, eine Eskalation des Kalten Krieges zu verhindern. Um dieses Ziel zu erreichen, waren Herz auch unpopuläre Maßnahmen recht. Insofern deckte sich seine Argumentation mit der Verantwortungsethik des außenpolitischen Realismus.100 95

Vgl. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 157. Vgl. ebd., S. 158. 97 Zum Gerechtigkeitsbegriff von Kelsen vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, Ditzingen 2000. Absolute Gerechtigkeit blieb für Kelsen ein irrationales Ideal. Die Frage nach Gerechtigkeit bestand für ihn deshalb zunächst in der Frage nach Interessen und Interessenkonflikten. Für die Lösung eines solchen Konfliktes sah er nur zwei Möglichkeiten: Die Befriedigung des einen auf Kosten des anderen oder der Weg des Kompromisses. Letzteren ging Kelsen. Er plädierte für eine relativistische Gerechtigkeitsphilosophie. Dem Vorwurf, eine relativistische Wertlehre negiere jegliche Werte, verneine Gerechtigkeit, trat er entschieden entgegen. 98 Vgl. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 160. 99 Ebd., S. 164. 96

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Herz wäre jedoch nicht Herz, wenn er diese realistische Erkenntnis nicht im gleichen Atemzug durch die Bemerkung einschränken würde, dass der liberale Realist stets darum bemüht sein müsse, „soweit wie möglich im Rahmen des Ethischen zu bleiben“101 und nicht nur die Mindestanforderungen für den Erhalt der Sicherheit oder die Erfüllung nationaler Interessen in den Mittelpunkt seines Denkens zu stellen. Wieder beschränkt er sich allerdings auf die Mahnung zur Mäßigung, ohne konkrete Auskunft darüber zu geben, wie er sich die Grenzen einer solchen realliberalen Außenpolitik vorstellte und ohne sein oben zitiertes „soweit wie möglich“ mit Inhalt zu versehen. Hier zeigt sich ein Problem, dass bereits in Political Realism and Political Idealism deutlich wurde. Herz scheiterte daran, den Realliberalismus mit aussagekräftigem Inhalt zu füllen. Es scheint, als sei er hier zu einer klassisch verantwortungsethischen Position zurückkehrt, ohne jedoch deren Konsequenzen tragen zu wollen. Als langfristiges Resultat der „Stillhalteaktion“ erhoffte sich Herz, dass die Spannungen zwischen Washington und Moskau nach einer dauerhaften Phase der friedlichen Koexistenz nachlassen würden. Ein erhöhtes Sicherheitsgefühl auf beiden Seiten und wachsendes Vertrauen in die Kalkulierbarkeit der gegnerischen Absichten sollten dann dazu führen, das Sicherheitsdilemma abzumildern und das Bewusstsein für eine neue internationale Ordnung zu schaffen, wie sie Herz in seinem zweiten Schritt vorsah. b) „Universalismus“ als „Überlebenstheorie“ Nach der erfolgreichen Umsetzung von Entspannungs- und Abrüstungspolitik erhoffte sich Herz eine völlige Neuordnung des internationalen Systems. Im Schlusskapitel von International Politics in the Atomic Age skizzierte er „Universalismus“ als eine Theorie, die auf allgemeingültigen Grundprinzipien beruhen und eine Alternative zur traditionellen Machtpolitik alten Stils darstellen sollte.102 In einem solchen angewandten „Universalismus“ sah er die einzige Möglichkeit, das Überleben der Menschheit dauerhaft zu sichern. „Universalismus“ könnte man nach Herz folglich definieren als „die Sorge – im Sinne der Verantwortung – um das Überleben der Menschheit, die aus der Einsicht in die Möglichkeit der universellen Vernichtung erwächst.“103 Doch was genau steckt hinter dieser Definition und auf welchen Grundannahmen baute Herz seine Überlebenstheorie auf? 100 Zur Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik siehe Weber, Politik als Beruf, S. 79 ff. 101 Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 165. 102 Vgl. Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 300. 103 Herz, Vom Überleben, S. 183.

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Der Begriff „Verantwortung“ ist hier zentral. Herz argumentierte, kein Mensch könne die völlige Vernichtung seiner Spezies gleichgültig hinnehmen, weil „alles bisherige menschliche Leben“ und „alle bisherige menschliche Leistung“ dadurch rückwirkend ihren Sinn verlören.104 Wie oben bereits geschildert, sah er es als Aufgabe von Wissenschaft und Politik an, nach neuen Wegen und sachgerechten Verhaltensweisen zu suchen, die das Überleben der Menschheit unter den Bedingungen des bipolaren Atomzeitalters sichern sollten. Unverkennbar ähnelt Herz’ Prämisse von der Überlebensverantwortung dem Kerngedanken, den auch Hans Jonas 1979 in seinem berühmten Buch Das Prinzip Verantwortung105 ausgeführt hat. Die Übernahme der Verantwortung für die Fortexistenz der Menschheit sah Jonas als unteilbare Verpflichtung, die für jedes vernunft- und handlungsfähige Wesen ausnahmslos verbindlich sei. Er wollte die Kantsche Idee einer Grundlegung der Ethik durch Vertragscharakter zwischen autonomen Subjekten erweitern und postulierte „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“106 Dieser Imperativ erstreckte sich auch auf künftige Generationen und bildete den Kern seiner neuen Zukunftsethik. Auch Herz’ Theorie lag sowohl die Überzeugung zugrunde, dass der Mensch universalistische Verhaltensweisen mittels seiner Vernunft erkennen kann, als auch die Hoffnung, dass der Mensch sein Handeln danach ausrichten wird. Er steht damit, wie Jonas, in der rationalistischen Tradition Kants. Aufgrund der menschlichen Vernunftbegabung und Fähigkeit zur Einsicht hielt er einen radikalen Wandel in den menschlichen Einstellungen und Verhaltensweisen, der sich dann auch auf die internationale Politik auswirken würde, grundsätzlich für möglich. Alles kam seiner Meinung nach darauf an, die Menschen anzuleiten und ihnen zu vermitteln, dass es in ihrem eigenen Interesse liege, das gemeinsame Interesse am Überleben zum bestimmenden Motiv jeder einzelnen Handlung zu erheben. Denn, so Herz, die kurzfristige Befriedigung individueller Bedürfnisse könne das langfristige Weiterexistieren aller nicht garantieren, im Gegenteil. Er schrieb: „What matters is the realization that the pursuance of broader purposes may serve the long-range interest of nations and people as much as that of national interest narrowly defined (and even more so).“107 Dem universalen Überlebensinteresse sollten demzufolge alle anderen Interessen – etwa per104

Beide Zitate Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 176. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979. 106 Ebd., S. 36. 107 So Herz in seinem später entstandenen Aufsatz „Political Realism Revisited“, S. 191. 105

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sönliche, innenpolitische oder nationale – und alle anderen denkbaren Handlungsmotive untergeordnet werden. Herz benutzte hier erneut realistisches Vokabular, namentlich den Interessenbegriff, um seine eindeutig idealistische Argumentation zu untermauern. Gleichzeitig beinhaltet seine Argumentation wieder eine konstruktivistische Komponente, indem er auf die soziale Identität einging, die die Akteure miteinander verband: Die historisch beispiellose Bedrohungslage, in der sich jedes einzelne Individuum befinde, führe dazu, dass die gesamte Menschheit zu einer Art „fundamentaler Schicksalsgemeinschaft atomarer Vernichtbarkeit“108 werde. Angesichts der Gefahr eines globalen Exitus verschmölzen alle Menschen zu einer einzigen Gruppe – jenseits jeder religiösen, ethnischen, kulturellen oder nationalen Identität. Dieses Gemeinschaftsgefühl sollte dann eine neue Geisteshaltung erzeugen – „das Gefühl universaler Verantwortlichkeit für die Welt“109. Herz berief sich an dieser Stelle darauf, dass ein solches Gefühl den Menschen keineswegs fremd sei. Im Gegenteil, ein „Sinn für Verantwortung“ und ein „Gefühl für überpersönliche Belange“ sei dem Menschen „von jeher eigen“110, seine Sorge um die Zukunft reiche „eine beträchtliche Zeit über sein individuelles Leben hinaus“111. Ruft man sich an dieser Stelle Herz’ Ausführungen zum Sicherheitsdilemma ins Gedächtnis, so ist allerdings nicht ganz klar, worauf Herz sein positives Menschenbild begründet – und wie der um überpersönliche Belange besorgte Mensch mit jenem übereinstimmt, der seinen Mitmenschen als potentiellen „mortal enemy“112 begreift. Mit diesem eindeutig positiven Menschenbild verlässt Herz hier jedenfalls ganz augenfällig den Boden des außenpolitischen Realismus. Im Sinne der neuen universalistischen Geisteshaltung kam es Herz nun bei jeder Handlung darauf an, deren kurz- und langfristige Folgen für alle Betroffenen zu bedenken. „Wir müssen selbst in den Kategorien des Gegners denken lernen und uns in seine Lage versetzen, denn wir können nicht zulassen, dass er Schritte riskiert, die ihn und damit uns alle ins Verderben 108 So die Formulierung von Reinhold Niebuhr, die Herz in seinem Buch zitiert. Vgl. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 173. 109 Herz, Vom Überleben, S. 183. 110 Alle drei Zitate Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 176. Später führt Herz sein Argument noch etwas weiter aus, vgl. insbesondere S. 189 f. 111 Ebd., S. 190. 112 Noch in Political Realism and Political Idealism hatte Herz auf S. 3 geschrieben: „This very realization that his own brother may play the role of Cain makes his fellow men appear to him as potential foes. Realization of this fact by others, in turn, makes him appear to them as potential mortal enemy.“ Allerdings attestierte Herz dem Menschen schon damals ein Gefühl des Mitleids, das er im ersten Kapitel des Buches umschrieb.

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stürzen könnten.“113 Einen eigentlichen „Gegner“ gab es damit im Herzschen Weltverständnis überhaupt nicht mehr, sondern alle Menschen saßen im selben Boot und waren Mitglied einer einzigen „Überlebensmannschaft“. Dieser „Eine-Welt-Gedanke“ stellte für sich genommen keine neue Überlegung dar. Er war stets Bestandteil einer Vielzahl idealistischer Strömungen und Religionen, worauf Herz selbst auch ausdrücklich verwies: „Hier wird der von den großen Weltreligionen seit Urzeiten gepredigte ‚Altruismus‘ zur Verhaltensweise der neuen Humanisten.“114 Doch während genau dieser Gedanke von den Realisten bis dato als idealistische Schwärmerei verworfen wurde, bestand Herz nun darauf, dass nur noch eine Politik, die die Weltgemeinschaft als Bezugsgröße annahm, im Atomzeitalter „realistisch“ genannt werden könne. Interessanterweise ist dieser Gedanke auch anderen Realisten tatsächlich nicht fern. Morgenthau argumentierte in eine ähnliche Richtung, wenn auch nicht in extenso, indem auch er im Jahr 1970 schrieb: „Threatened by the unsolved political problems of the day, we have come to think more and more in terms of a supranational community and a world-government, a political organization and structure that transcends the nation-state.“115 Schon in Macht und Frieden hatte Morgenthau der Untersuchung des Weltstaats ein ganzes Kapitel gewidmet und war zu dem Schluss gekommen, dass ohne ihn „der Fortbestand der Welt unmöglich ist.“116 Gleichzeitig hatte er damals allerdings festgestellt, dass „unter den moralischen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen, die in der Welt von heute vorherrschen, die Erhaltung des Weltfriedens durch Umgestaltung der Gesellschaft souveräner Nationen in einen Weltstaat unerreichbar scheint.“117 Die auch von Herz gewonnene Einsicht, nämlich dass die nukleare Revolution die staatenzentrierte realistische Herangehensweise infrage stellte, verstärkte im Laufe der Zeit Morgenthaus Ruf nach einem Weltstaat.118 Campbell Craig zeigt jedoch auf, wie viel 113 Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 173. Vgl. auch John H. Herz, Political Aspects of the Armament Issue, Background Memorandum No. 2, Doc. PC/4, 11 August 1959, Preparatory Committee on Factors Influencing International Peace, Box 5, Herz Papers. 114 Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 173. 115 Hans J. Morgenthau, The Intellectual and Political Functions of Theory, in: James Der Derian (Hrsg.), International Theory. Critical Investigations, Basingstoke/London 1995, S. 36–52, S. 52. 116 Morgenthau, Macht und Frieden, S. 450. 117 Ebd. 1942 hatte Herz noch ebenso argumentiert: Herz, Power Politics and World Organization, S. 1045 f. 118 So argumentiert zumindest Campbell Craig, Hans J. Morgenthau and the World State Revisited, in: Michael C. Williams, Realism Reconsidered. The Legacy of Hans J. Morgenthau in International Relations, Oxford et al. 2007, S. 195–215, S. 202.

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F. Vom „Realliberalismus“ zum „Universalismus“

schwerer es Morgenthau gefallen sein muss, seine Grundposition auf diese Weise zu modifizieren: „As an American Scholar with an immense, hardearned intellectual influence by the middle of the 1950s, however, Morgenthau was not in an easy position to renounce the foreign policy worldview that defined his international reputation.“119 Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass Morgenthau seine Überlegungen hinsichtlich einer Weltregierung sehr viel zögerlicher preisgab als Herz, und dass seine Position diesbezüglich heute nur wenigen bekannt ist. „Universalismus“ fand seine Basis dem Herzschen Verständnis nach gerade nicht in einem übergeordneten moralischen Prinzip, sondern wurzelte im menschlichen Eigennutz.120 Das folgende Zitat vermag dies zu illustrieren: „Prior to our age of radical newness, advocacy of a policy substituting the observance of universal interests for national interests was correctly considered utopian, because national interests could still and only be safeguarded by nations as units of power, and internationalist ideals run counter to what nations could afford. But now the former dichotomy of interests and ideals has become one of two sets of interests, with the former ideal now a compelling interest itself.“121

Der Gegensatz zwischen „nationalen Interessen“ auf der einen Seite und „überstaatlichen Idealen“ auf der anderen Seite – und somit auch der Gegensatz zwischen Realismus und Idealismus – ließ sich nach Herz nicht länger aufrechterhalten. Die Rettung des Weltfriedens war demnach nicht nur ein Gebot der Moral, sondern lag im ureigensten Interesse aller. Diese Argumentation ist wiederum nicht originell, sondern bildete bereits den Ausgangspunkt für Kants Reflektionen zum ewigen Frieden. Kant hatte auf die menschliche Vernunft verwiesen, mit deren Hilfe die Menschen imstande seien, einzusehen, dass Krieg langfristig mehr Kosten als Nutzen einbringen würde.122 Herz glaubte jedoch, dass sich diese Argumentation unter den Menschen nicht habe durchsetzen können, solange die Nationalstaaten als Sicherheitsgaranten für Leben und Freiheit ihrer Bürger einstanden. Mit dem Verlust der staatlichen Schutzfunktion und der damit einhergehenden direkten Bedrohungslage jedes einzelnen Staatsbürgers bliebe den Menschen nun allerdings gar nichts mehr anderes übrig als einzusehen, dass sie die Verantwortung für ihr eigenes Schicksal in Händen hielten, und dass 119

Craig, Hans J. Morgenthau and the World State Revisited, S. 195 f. Dies betonte Herz noch einmal besonders nachdrücklich in „Comment“, S. 238. 121 John H. Herz, Unveröffentlichtes Manuskript ohne Titel, ohne Datum, Berkeley Lectures 1959 [Ordner], Box 4, Herz Papers. 122 Vgl. Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Ditzingen 1986 (1795). Eine aktuelle Interpretation der Schrift unter Berücksichtigung der Theorie des demokratischen Friedens liefert Ernst-Otto Czempiel, Kants Theorem. Oder: Warum sind Demokratien (noch immer) nicht friedlich?, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Band 3/1996, S. 79–101. 120

IV. Eine neue Theorie der Internationalen Beziehungen

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dieses Schicksal ein gemeinsames sei. Herz hoffte folglich darauf, dass, je bewusster sich die Menschen ihre eigene Bedrohungslage machten, desto eher sie alles andere zugunsten des eigenen Überlebens zurückstellten: „It is my conviction that only a grasp of the fundamental nature of the change caused by the nuclear development can provide a public interested in problems of world peace with a realization of the true dimensions of the new problems. If these problems are considered as mere continuations – in a somewhat altered but not basically new environment – of the age-old problem of war and peace, it seems doubtful whether public concern will acquire that sense of urgency which the new situation requires.“123

Die Chancen auf eine universalistische Wende der internationalen Politik wurden also entscheidend durch die Wahrnehmung der Menschen beeinflusst. Wieder maß Herz dem Faktor „Perzeption“ einen ganz maßgeblichen Stellenwert zu. Die Bedrohungslage wurde in Herz’ Augen noch dadurch gestärkt, dass nicht nur das Zerstörungspotential der Nuklearwaffen, sondern auch die zunehmende Umweltzerstörung, versiegende Rohstoffe und eine rapide steigende Bevölkerungszahl in der Dritten Welt zu Problemen heranwuchsen, die kein Staat mehr im Alleingang lösen konnte. Als einer der ersten Theoretiker der Internationalen Beziehungen analysierte er die von ihm so genannten „neuen globalen Probleme“, die die internationale Politik heute so sehr beschäftigen. Bereits 1943 hatte Herz ein Stipendium für ein Forschungsprojekt zu demographischen Problemen in der internationalen Politik beantragt, das er dann allerdings zugunsten seiner Arbeit am OSS abgelehnt hatte. In einem ersten Aufsatz hatte er schon 1949 betont, dass die neuen globalen Probleme seines Erachtens die Stabilität des internationalen Systems ebenso bedrohten wie Atom- oder andere Massenvernichtungswaffen.124 Zu einem Zeitpunkt, als das Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge, den Nord-Süd-Konflikt und die Endlichkeit von Ressourcen in der internationalen Politik noch keine dominierenden Themen waren, hatte Herz deren Bedeutung für die zukünftigen internationalen Beziehungen herausgestellt. Nun griff er 1959 seine Argumentation von damals wieder auf und wurde damit, lange bevor die neuen sozialen Bewegungen in Westeuropa und den USA in Erscheinung traten, zu einem Pionier in diesem Bereich. Gleichzeitig beobachtete Herz eine stetig voranschreitende Vernetzung der Welt – ein Phänomen, das heute unter dem Begriff „Globalisierung“ be123 Herz, Political Aspects of the Armament Issue, Background Memorandum No. 2, Doc. PC/4, 11. August 1959, Preparatory Committee on Factors Influencing International Peace, Box 5, Herz Papers. 124 Vgl. Herz, Neo-Malthusianismus: Modeschlagwort oder Weltproblem?, in: Die Brücke zur Welt, Sonntagsbeilage zur Stuttgarter Zeitung vom 2. Juli 1949.

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kannt ist.125 In International Politics in the Atomic Age argumentierte er, dass während sich die Welt den Menschen in den zurückliegenden Epochen immer nur Stück für Stück erschlossen habe, sich nun zunehmend die Möglichkeit biete, sie in ihrer Ganzheit zu erfassen und zu deuten. Angesichts der Vielzahl von Problemen, die vor keiner Landesgrenze Halt machten und nur grenzüberschreitend und auf der Basis von Kooperation zu lösen waren, hoffte Herz darauf, dass das Handeln der Menschen zunehmend von einem „planetarischen Geist“126 geleitet werden würde: Ländergrenzen würden in Zukunft immer unwichtiger werden und die Menschen dazu veranlassen, sich nicht mehr als Einwohner eines bestimmten Landes, sondern als Weltbürger zu sehen.127 Ein in diesem Sinne „planetarisch“ oder universalistisch denkender Mensch würde auftretende Probleme, beispielsweise das Versiegen einer Rohstoffquelle oder die Überfischung von Teilen des Meeres, daher nie lokal begrenzt verstehen, sondern immer in einen globalen Zusammenhang setzen: „Dem Universalisten geht es somit nicht darum, ob und inwiefern ein bestimmtes Ereignis, eine bestimmte Einstellung oder Politik den Vereinigten Staaten oder Indien oder China nützt, sondern wie sich diese Dinge heute und in Zukunft für die gesamte Menschheit auswirken.“128 Herz’ Hoffnung richtete sich also auf den Bewusstseinswandel einer Vielzahl von Individuen auf der ganzen Welt. Nach und nach würde sich so eine „universalistische Klasse“ herausbilden, die im Namen aller Menschen sprechen und aktiven Einfluss auf die Gestaltung der Politik nehmen sollte. Diese Erwartungshaltung ist in der politischen Ideengeschichte bereits früher vertreten worden. Im Marxismus nahm das Proletariat eine solche Funktion war, da es anders als alle früheren Klassen in der Geschichte kein egoistisches Klasseninteresse mehr verfocht und so schon vor der sozialistischen Revolution für die Interessen aller stand. Auch Hegel hatte zuvor angenommen, das Beamtentum verkörpere diejenige Klasse, die das Anliegen der überindividuellen und über Interessengruppen erhabenen Organisation „Staat“ gegen persönliche, ständische oder klassenspezifische Interessen durchzusetzen vermochte und somit die „universale Klasse“ darstellte. Herz verwies ausdrücklich auf beide Denker, stellte jedoch gleichzeitig fest, dass die Tatsachen in beiden Fällen nicht den Behauptungen entsprachen.129 Er gestand ein, dass es nicht nur bei Marx und Hegel, sondern auch in vielen 125

Vgl. Hacke, Ein Vordenker des 21. Jahrhunderts, S. 97. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 181. 127 In einer späteren Veröffentlichung spricht Herz von der „truly interdependent, planetary world“. Vgl. Herz, Political Realism Revisited, S. 192. 128 Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 180. 129 Vgl. Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 320–323. 126

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anderen religiösen, ideologischen und politischen Strömungen irrtümlich immer wieder zu einer Gleichsetzung von Partikularinteressen mit den Interessen aller gekommen sei. Eine „wahre“ universalistische Klasse würde im Gegensatz dazu aber tatsächlich die Interessen der Menschheit als Gruppe im Blick haben: „Only those who are ready to care and plan for the needs – both present and future – of humanity’s one collective entity are ‚universalists‘ in the broader sense.“130 Der Unterschied zwischen damaligen Theorien und seiner eigenen Universalismustheorie bestand aus seiner Sicht in der Dringlichkeit seines Anliegens. Das Interesse am Überleben sah er als fundamentales Interesse überhaupt an. An dieser Stelle kann man allerdings kritisch anmerken, dass Marx und Hegel so wie alle Ideologen von der Dringlichkeit ihrer Anliegen überzeugt waren und der Meinung waren, das einzig wahre „Interesse aller“ identifiziert zu haben. Denn dies ist ja gerade das Kennzeichen einer jeden Ideologie. Herz’ Überlebenstheorie steht und fällt mit der Prämisse, dass jeder Mensch das von ihm entworfene Bedrohungsszenario gleichermaßen empfand.131 Wie oben gezeigt wurde, waren jedoch bei weitem nicht alle Nukleartheoretiker der Meinung, ein Armageddon stünde kurz bevor. Doch nicht nur das: Damit Herz’ Argumentation tatsächlich plausibel ist, musste er zunächst annehmen, dass allen Menschen das Überleben der gesamten Menschheit so sehr am Herzen lag wie ihm selbst – und dies auch wenn ihre eigene Zukunft noch nicht direkt bedroht war, sondern erst die Zukunft ihrer Enkel oder Urenkel. Herz hatte ja argumentiert, dass kein Mensch die völlige Vernichtung seiner Spezies gleichgültig hinnehmen könne, weil alles dadurch rückwirkend seinen Sinn verlöre.132 Damit ignorierte Herz die Möglichkeit, dass einige Menschen vielleicht unbeirrt nach dem Motto leben, nach ihnen könne gerne die sprichwörtliche Sintflut eintreten. Gesetzt aber den Fall, es gäbe solche Menschen, würde Herz’ erste Prämisse, dass das Überleben der Spezies das fundamentale Interesse aller ist, in sich zusammenbrechen und damit auch seiner Überlebenstheorie die Grundlage entziehen. Selbstmordattentäter, die ihr eigenes Überleben bereitwillig einem für sie höheren Ziel opfern, handeln somit beispielsweise konträr zur Herzschen Logik. Es dürfte sie eigentlich gar nicht geben. Herz jedenfalls hoffte unbeirrt auf die Durchsetzungskraft des „planetarischen Geistes“ und das Heranwachsen einer „universalistischen Klasse“. Er130

Ebd., S. 323. Über den individuellen Wunsch nach Unsterblichkeit, der seiner Meinung nach jedem Menschen innewohnte, schrieb er einmal einen ganzen Artikel. Vgl. Herz, ‚Unsterblichkeit‘ – Gedanken über Glanz und Elend des Sterblichen, in: Futurum, Vol. II, No. 1, 1969, S. 89–101. Dies zeigt, wie sehr ihn das Thema „Überleben“ auch jenseits der Internationalen Beziehungen beschäftigte. 132 Vgl. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 176. 131

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F. Vom „Realliberalismus“ zum „Universalismus“

neut Hegel als Leumund zitierend, berief er sich auf die Kraft der Vorstellung: „‚Die theoretische Arbeit bringt mehr in der Welt zustande als die praktische; ist das Reich der Vorstellungen revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht stand.‘ Wenn dem wirklich so ist, wenn Gedanke und Vorstellung tatsächlich so revolutionierend wirken können, so käme alles darauf an, dass sich eine universalistische ‚Grundwelle‘ entwickelt, von der her sich den Menschen das Gefühl für gemeinsames Handeln im Interesse aller mit zwingender Notwendigkeit aufdrängt“.133

Obwohl Herz im Sinne eines „Realliberalismus“ vor einem übertriebenen Optimismus warnte, sah er einen Wandel des internationalen Systems im Sinne des Universalismus durchaus als „bescheiden realistische“134 Option an. Er glaubte fest an die tatsächlich befriedende Wirkungskraft pazifistischer Ideologien.135 Er stellte jedoch klar, dass sich eine universalistische Grundeinstellung nicht wie eine revolutionäre Bewegung über die ganze Welt verbreiten würde. Sie müsste sich vielmehr Schritt für Schritt durch Revolutionierung von Einstellungen und Verhaltensweisen und unter Anerkennung der Mechanismen des Sicherheitsdilemmas vollziehen, die auch der Universalismus nicht gänzlich überwinden konnte:136 „In der Tat wäre Universalismus nichts als unrealistische Utopie, würden seine Vertreter vor dem Sicherheitsdilemma und dessen Folgen die Augen verschließen. Aber genauso unrealistisch wäre es, die sich innerhalb der Grenzen der Machtpolitik bietenden Möglichkeiten zu übersehen.“137

Ganz eindeutig argumentiert Herz hier wieder im Sinne des Konstruktivismus eines Alexander Wendt – The Security Dilemma is what states make of it!138 Angewandter „Universalismus“ äußerte sich für Herz also in der Staatskunst, jene Möglichkeiten zu nutzen und das Interesse der Welt mit den ei133

Ebd., S. 189. Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 330. Er spricht hier von „cautious optimism“. 135 Vgl. insbesondere Herz, Ideological Aspects, S. 72. 136 Das größte Hindernis für eine erfolgreiche Umsetzung sah Herz im Festhalten an einem Nationalismus, den er in Ermangelung der staatlichen Schutzfunktion ohnehin als veraltet einschätzte. Das Loyalitätsgefühl gegenüber dem eigenen „Vaterland“ sei für viele Menschen immer noch ein entscheidendes Identifikationsmerkmal, das sie nicht so einfach zugunsten eines abstrakten „Eine-Welt-Gedankens“ aufgeben mochten. Vgl. Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 338–349. 137 Ebd., S. 200. 138 In Anlehnung an den bis jetzt wohl berühmtesten Artikel eines Konstruktivisten überhaupt: Alexander Wendt, Anarchy is what States Make of it: The Social Construction of Power Politics, in: International Organization, Vol. 46, No. 2 (Spring 1992), S. 391–425. 134

V. „The Territorial State Revisited“

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genen nationalen Interessen zu verbinden. Auf seiner Wahlheimat, den Vereinigten Staaten von Amerika, ruhte dabei seine größte Hoffnung: „Amerika hat die erste Atomwaffe hergestellt und angewandt und damit den Schlussstrich unter das Zeitalter territorialen Schutzes und territorialer Sicherheit gezogen. Es sollte deshalb sein höchstes Anliegen sein, der Welt das Minimum jener Sicherheit zurückzugewinnen, ohne die die Menschen nicht menschenwürdig leben können.“139

Herz’ in die amerikanische Außenpolitik gesteckten Hoffnungen sollten nur wenig später auf die härteste Probe seit Beginn des Kalten Krieges gestellt werden. Drei Jahre nach der Veröffentlichung von International Politics in the Atomic Age stand die Welt für 13 Tage dichter am Rand eines atomaren Krieges als jemals zuvor. Erst als der Abzug der sowjetischen Raketen aus Kuba über Radio Moskau durch Chruschtschow bekannt gegeben wurde, sollten die beiden Supermächte sich bereit für die von Herz skizzierte Stillhalteaktion erweisen.

V. „The Territorial State Revisited“140 Obwohl Herz’ Prognose vom Niedergang des Territorialstaates aus der Perspektive der 1950er Jahre denkbar erschien, sollten die nachfolgenden Jahrzehnte zeigen, dass die Nationalstaaten keinesfalls von der Bildfläche verschwanden, sondern stattdessen – wie vom Realismus angenommen – nach wie vor die zentralen Akteure des internationalen Systems blieben. Insbesondere sein viel gelesener und oft abgedruckter Aufsatz „Rise and Demise of the Territorial State“ aus dem Jahre 1957 erschien im Rückblick daher angreifbar. Herz selbst gestand in seiner Autobiographie ein: „Also zwar ‚Niedergang‘ des Territorialstaates, wenn man sich das Verhältnis der im Block eingeschlossenen Staaten zur ‚Führungsmacht‘ ansah, aber doch nicht in dem Ausmaß oder der Richtung, wie ich es in meinem Buch angenommen hatte.“141

Rückblickend stellte er fest, dass die Territorialstaaten faktisch immer die primären Schutzeinheiten für ihre Einwohner geblieben waren und sich als Nationen fest im internationalen System etabliert hatten.142 Er fühlte sich daher aufgefordert, seine Gedanken bezüglich des Schicksals des Nationalstaates noch einmal in Form eines weiteren Aufsatzes dar139

Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 204–205. So der Titel von John H. Herz, The Territorial State Revisited. Reflections on the Future of the Nation-state, in: Polity, Vol. 1, No. 1 (1968), S. 12–34. 141 Herz, Vom Überleben, S. 176. 142 Vgl. ebd. 140

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zulegen, um einer eventuellen „Fehlinterpretation“143 seiner Aussagen zu begegnen. 1968 erschien daraufhin sein Aufsatz „The Territorial State Revisited“ in der amerikanischen Zeitschrift Polity.144 Hatte er noch 1957 geschrieben, der Trend gehe in Richtung zunehmender Interdependenz, wenn nicht gar globaler Integration, so lenkte er 1968 ein: „There are indicators pointing in another direction: not to ‚universalism‘ but to retrenchment, not to interdependence but to a new self-sufficiency: toward area not losing its impact but regaining it; in short, trends toward a ‚new territoriality.‘“145

Nationalstaaten und Nationalismus, die Bedeutung von Territorium und der Drang nach Unabhängigkeit und Souveränität hatten in all den Dekaden des Nuklearzeitalters eine bemerkenswerte Resistenz bewiesen – und Herz hatte ihre Kraft eindeutig unterschätzt. In den Jahren nach der Veröffentlichung seines Artikels 1957 hatte er beobachten können, wie die Mitgliedstaaten beider Blöcke gegen ihren bloßen Satellitenstatus aufbegehrt hatten, sei es im Osten durch Autonomiebestrebungen wie 1968 in Prag, sei es im Westen durch de Gaulles Ausscheren aus der transatlantischen Verteidigungsgemeinschaft und die Entwicklung der Force de Frappe. Wie aber war so eine Entwicklung möglich gewesen, obwohl doch 1957 für Herz alles darauf hingedeutet hatte, dass die territorialen Grenzen innerhalb der Blöcke sich gänzlich auflösen würden? Als Hauptgrund identifizierte Herz das atomare Patt, das sich aus der nuklearen Abschreckung ergab. Aufgrund der doppelten Zweitschlagskapazität war unausgesprochen klar, dass die Atombombe im außenpolitischen Kalkül beider Supermächte keine Rolle mehr spielen konnte – außer natürlich als Verteidigungsinstrument. Die Waffe, die Sowjets und Amerikaner hatte beinahe allmächtig werden lassen, band beiden Ländern de facto die Hände. Das Gleichgewicht des Schreckens schützte aber nicht nur die Blöcke, sondern auch die territorialen Einheiten in ihrem Inneren.146 Herz musste letztlich zugeben, dass Waltz und die anderen Advokaten von „Deterrence“ mit ihrem Argument eines stabilen Gleichgewichts des Schreckens Recht gehabt hatten. In einem Brief an Waltz aus dem Jahre 1967 schrieb er: „I quite agree that even absolute nuclear power has its vital function, namely of deterrence and all that follows from it: and also that ‚power in being‘ is different from actual use of force and has its great impact on relations of nations. Still I believe that something new has come into existence with absolute nuclear force, a paradox maybe but something not merely comparable to conventional force, police force, etc.“147 143 144 145 146

Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 19. Herz, The Territorial State Revisited, S. 12–34. Ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 23.

V. „The Territorial State Revisited“

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Anstatt des vorhergesagten Niedergangs der Nationalstaaten beobachtete Herz „eine Art Neo-Territorialität“, eine Rückkehr „zur Welt multipolarer eigenständiger Territorialeinheiten“.148 Er fragte sich daraufhin: „Must we thus admit the continued validity of the national interest and the policies based on it, and the illusory nature of anything going beyond it in the direction of internationalist ideals (or interests) and global controls?“149

Seiner Meinung nach war eine solche Schlussfolgerung verfehlt. Denn er hielt auch 1968 an seiner Beobachtung fest, dass Staaten die ihnen übertragenen Aufgaben nur dann erfolgreich lösen könnten, wenn sie sich in internationalen Institutionen zusammenschlössen, um wieder handlungsfähig zu sein.150 Hier ähnelte seine Argumentation derjenigen der Institutionalisten, wie Robert Keohane selbst feststellte.151 Auch wenn Herz insbesondere in International Politics in the Atomic Age immer wieder die Rede von einer „Weltgemeinschaft“ und einer „universalistischen Klasse“ pflegte, so legte er später großen Wert darauf, dass es nicht der Auflösung des Staatensystems bedurfte, um eine „planetarische“ Politik zu betreiben.152 Herz hob vielmehr hervor, dass insbesondere internationale Institutionen bzw. „agencies“ hier eine große Rolle spielen könnten, um das gemeinsame Wohl aller Menschen zu verwirklichen. Die anarchische Struktur des internationalen Systems stand dem nicht entgegen, wie er unter Bezugnahme auf Kenneth Waltz ausdrücklich erläuterte.153 Denn obwohl diese Struktur nach wie vor vorhanden sei, argumentierte Herz, dass Staaten gerade angesichts der nach wie vor eklatanten Gefahr atomarer Vernichtung auf gegenseitige Kooperation angewiesen seien. Wie schon in International Politics in the Atomic Age argumentierte Herz erneut, die Interdependenz aller Menschen vereine sie zu einer globalen Schicksalsgemeinschaft.154

147 Herz an Kenneth Waltz, 14. Oktober 1967, Box 2, General Correspondence 66–68 [Ordner], Herz Papers. 148 Beide Zitate aus Staatenwelt und Weltpolitik, S. 19 f. 149 Herz, Technology, Ethics, and International Relations, S. 105. 150 Vgl. auch Herz, Legitimacy. Can We Retrieve It?, in: Comparative Politics, Vol. 19, No. 3 (April 1978), S. 317–343, S. 317, wo Herz darauf verweist, dass Staaten so auch ihre Legitimität zurückgewinnen könnten. 151 Vgl. Robert O. Keohane an Herz, 27. Juli 1976, Box 2, General Correspondence 75–77 [Ordner], Herz Papers. 152 Vgl. Herz, Comment, S. 239. 153 Vgl. ebd., S. 240. 154 Vgl. Herz, The Territorial State Revisited, S. 34.

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F. Vom „Realliberalismus“ zum „Universalismus“

VI. Zwischenfazit International Politics in the Atomic Age, das Herz selbst als sein bestes Buch bezeichnete,155 wurde in den 1950er Jahren und somit auf dem Höhepunkt der Blockkonfrontation geschrieben und zählt zu den großen Klassikern der Literatur über den Kalten Krieg. Es gehört zu den weithin anerkannten Verdiensten des Buches und der in diesem Kontext veröffentlichten Aufsätze, den Einfluss der Schutz- und Verteidigungsmittel auf die Entstehung von Akteurseinheiten im internationalen Systems herausgearbeitet und so die These vom „hartschaligen“ Territorialstaat entwickelt zu haben, die Herz weithin in der Disziplin bekannt machte. Herz selbst zählte diese Theorie neben der Formulierung des „Sicherheitsdialemmas“ zu seinem „eigenen, bescheidenen Beitrag zum ‚klassischen‘ politischen Realismus“156. Durch die angenommene Durchlässigkeit dieser harten Schale im Atomzeitalter stellte er als einer der ersten realistischen Denker die unangefochtene Bedeutung des Nationalstaats infrage, wenn auch aus anderen Gründen als die Interdependenztheoretiker der 1960er und 1970er Jahre.157 Er verwies darauf, dass die Staaten ihre ursprüngliche Schutzfunktion angesichts des Vernichtungspotentials der Nuklearwaffen nicht mehr aufrechterhalten könnten und selbst ganze Machtblöcke nicht mehr dazu in der Lage seien, Sicherheit zu garantieren. Auf diese Argumentation gründete er seine These vom Niedergang des National- bzw. Territorialstaats und vom Ende des territorialen Zeitalters. John Gerald Ruggie preist Herz’ Gedanken als „epochal thought“158. Auch wenn sich diese These als voreilig erwiesen hat, waren Bestandsaufnahme und Analyse der gewandelten Ausgangsbedingungen von der Einsicht geprägt, dass die Vorstellung geschlossener staatlicher Räume heute eine Illusion ist.159 Detailliert untersuchte Herz die Auswirkungen von Bipolarität und Nuklearwaffen auf die Struktur der internationalen Beziehungen und erfasste die Quintessenz des Wandels. Ein Rezensent des Buches charakterisierte den Herzschen Argumentationsstil dann auch äußerst treffend, als er schrieb: 155

Herz im Interview mit J. P. am 24. März 2008 in Scarsdale, NY, Kassette 9. So schreibt Herz in seinen Vortragsnotizen, vermutlich zu einem Vortrag über die Entwicklung der außenpolitischen Ideen in den USA, ohne Ortsangabe, ohne Datum, „Lecture Notes and Lectures in Germany 1981“ [Ordner], Box 17, Herz Papers. 157 Vgl. vor allem Robert O. Keohane/Joseph S. Nye, Power and Interdependence. World Politics in Transition, Boston und Toronto 1977. 158 John Gerald Ruggie, Territoriality and Beyond, in: International Organization, Vol. 47, No. 1 (Winter 1993), S. 139–174, S. 143. 159 Eckart Conze verweist darauf, dass die Theorieentwicklung im Bereich Internationale Beziehungen Herz’ Befund nicht zuletzt durch das Konzept der „transnationalen Politik“ umgesetzt habe. Vgl. Conze, S. 117. 156

VI. Zwischenfazit

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„Mr. Herz . . . worries away at his problems – which are our problems – like a dog with a bone, patiently analyzing until in the end we get down to rock bottom. In particular, he meticulously sorts out, against a background of historical change, the new factors in the world situation which so many writers on current affairs jumble together.“160

Insbesondere gelang es Herz, den außenpolitischen Handlungsrahmen der Blockstaaten im Kalten Krieg adäquat zu beschreiben und deren „Souveränitätsdilemma“ herauszuarbeiten: So waren sie in ihrer Handlungsfähigkeit in doppelter Weise eingeschränkt – zum einen durch die Abhängigkeit von der sie beschützenden Macht, zum anderen durch die Gefahr, zur Zielscheibe des gegnerischen Blocks zu werden. Im Rahmen der Diskussion um die Wirksamkeit nuklearer Abschreckung positionierte sich Herz auf Seiten der Abschreckungskritiker und propagierte stattdessen Rüstungskontrolle bzw. Abrüstung. Hatte er noch bei der Ausarbeitung des Sicherheitsdilemmas argumentiert: Si vis pacem, para bellum, so forderte er nun: Si vis pacem, para pacem. Er widersprach damit allen Abschreckungstheoretikern, die argumentierten, dass Nuklearwaffen nicht eingesetzt werden, sobald einem Angreifer glaubhaft die Vergeltung mit gleichen Mitteln angedroht werden kann. Dennoch konnte er im Nachhinein die stabilisierende Wirkung eines Gleichgewichts des Schreckens nicht von der Hand weisen. Wendet man den Blick nun von der Anamnese und lenkt ihn auf die von Herz verordnete Kur muss man sich fragen, wie praxistauglich die Herzschen Ideen waren. Hier fällt die Bilanz zweischneidig aus: Als Herz zum Zeitpunkt des Erscheinens von International Politics in the Atomic Age die Logik des Wettrüstens infrage stellte, war diese Erkenntnis im Umfeld der außenpolitischen amerikanischen Entscheidungsträger nicht populär. Seiner Meinung nach ließ die besondere Situation des Kalten Krieges den USA im Grunde nur zwei außenpolitische Strategien offen, nämlich den Kampf gegen die Sowjetunion einzustellen, also „Cold War Surrender“ zu begehen, oder eben die Entstehung eines universalistischen Weltstaates zu verfolgen. Beide Strategien waren in der praktischen Politik undenkbar – und ein Intellektueller machte sich nicht gerade Freunde, indem er eine von beiden Strategien vertrat, wie Campbell Craig zurecht herausstellt: „Yet, to advocate either of these solutions was, for an intellectual in Cold War America, to follow a sure path to political marginalization, an end to any chance of influence.“161 Erst die vorläufige Entspannung des Kalten Krieges nach der Kubakrise und dem Beginn von Détente bestätigen rückblickend Herz’ Empfehlung ei160 Geoffrey Barraclough, Geneva: Pre-Nuclear Diplomacy, in: The National, 20. Juni 1959, S. 551–552. 161 Craig, Hans J. Morgenthau and the World State Revisited, S. 202.

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F. Vom „Realliberalismus“ zum „Universalismus“

ner „Stillhalteaktion“ und ließen ihn als Pionier entspannungspolitischer Ideen erscheinen. Seine Ausführungen nahmen viel von dem vorweg, was im Rahmen der Neuen Ostpolitik und unter der amerikanischen Administration Nixon-Kissinger später tatsächlich umgesetzt wurde. Herz begrüßte dann auch konsequenterweise zunächst beide Ansätze und verteidigte die Détente gegen den damals verbreiteten Vorwurf des Appeasements.162 Doch obwohl er der Außenpolitik von Nixon und Kissinger eine „more enlightened attitude“163 bestätigte, gingen ihm die Maßnahmen nicht weit genug und er kritisierte die Détente-Politik letztlich für ihre mangelnde Effizienz: „I am critical of Mr. Kissinger’s efforts not because of his detente policies toward Moscow and Peking or his efforts to arrive at Near Eastern detente through establishing some sort of peace, or at least mutual toleration, between Israel and the Arabs, but because of his insufficient efforts in the area of weapons control, as well as continued non-detente policies in South-East Asia and even open intervention in countries like Chile.“164

Spätestens der Amtsantritt Ronald Reagans bereitete allen weiteren Entspannungsbemühungen dann ein vorläufiges und unsanftes Ende. Reagans aggressive Rhetorik des „Evil Empire“ und seine Strategic Defense Initiative (SDI) standen so gar nicht im Einklang mit dem, was Herz sich für die amerikanische Außenpolitik vorgestellt hatte.165 Herz war ein klarer Befürworter von Abrüstung, bezeichnete sich sogar einmal als „abrüstungsbesessen“166, und war der Ansicht, die für Rüstung verwandten Ausgaben 162 Vgl. zum Beispiel John H. Herz, The Relevancy and Irrelevancy of Appeasement, in: Social Research, Vol. 31, No. 3 (Autumn 1964), S. 296–320; Ders., Detente and Appeasement from a Political Scientist‘s Vantage-Point, in: George Schwab/Henry Friedlander (Hrsg.), Détente in Historical Perspective, New York 1975, S. 26–40; Ders. Sinn und Sinnlosigkeit der Beschwichtigungspolitik. Zur Problematik des ‚Appeasement‘–Begriffes, in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 5/1964, S. 370–389. Bei der Bewertung der Neuen Ostpolitik unterschied er sich insbesondere auch von Hans J. Morgenthau, der zunächst ein neues Rapallo befürchtete. Vgl. Hans J. Morgenthau, The United States and Europe in a Decade of Detente, in: Wolfram F. Hanrieder (Hrsg.), The United States and Western Europe, Cambridge, Mass. 1974, S. 1–7, S. 7. Bereits ein Jahr später bezeichnete er die Ostpolitik jedoch als „enormous achievemnet“. Vgl. Hans J. Morgenthau, Detente: Reality and Illusion, in: Schwab/Friedlander, Détente in Historical Perspective, S. 75. 163 John H. Herz, Political Realism – Can it Survive the Global Survival Threats? Reflections on Realism, old or neo-, and its applicability to a post-cold war ‚new world order‘ (unveröffentlichtes Manuskript), datiert auf März 1992, Scarsdale, NY, S. 1–11, Herz Papers. 164 Herz, Detente and Appeasement from a Political Scientist’s Vantage-Point, S. 38. 165 Vgl. John H. Herz, Mit Reagan am Wendepunkt? Aufzeichnungen zur Südwestfunk-Sendung „Die Aula“ am 19.07.1981, Box 17, Lecture Notes and Lectures in Germany 1981 [Ordner], Herz Papers.

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könne man wesentlich besser in solche Projekte stecken, die ein Überleben der Menschheit garantierten und nicht zu ihrer Vernichtung beitrugen. Während Herz sich für Abrüstung aussprach, auf konventionellem Gebiet die Streitkräfte auf reine Verteidigungsfunktion umstellen wollte und die Limitierung des Waffenhandels insbesondere mit Staaten der Dritten Welt anstrebte,167 begann Reagan einen aggressiven atomaren Rüstungswettlauf, betrieb die konventionelle Modernisierung der amerikanischen Armee und verkaufte Waffen an den Iran, um mit diesen Einnahmen den Contra-Krieg der sandinistischen Regierung in Nicaragua zu unterstützen. Angesichts dessen blieb Herz nichts anderes übrig, als eine negative Gesamtbilanz hinsichtlich des Erfolgs seiner Vorschläge zu ziehen:168 „Der Rüstungswettlauf ist praktisch ungehemmt weitergegangen, und man kann deshalb kaum behaupten, dass die Stillhalteaktion wesentliche Früchte getragen habe“.169 Zusätzlich hatte sich Herz’ These von einer am Status quo orientierten Sowjetunion mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und der unter sowjetischem Druck erfolgten Erklärung des Kriegsrechts im Dezember 1981 in Polen als voreilig erwiesen.170 Der Ost-West-Konflikt hatte sich erneut verschärft. Besonders ablehnend stand Herz dem amerikanischen Neokonservatismus gegenüber, der unter Reagan seine erste Blütezeit erlebte171: „Am übelsten 166 Herz an Christian Hacke, 14. Juni 1987, Box 3, General Correspondence [Ordner], Herz Papers. Herz und Hacke waren sich uneinig darüber, wie weit man abrüsten könne, ohne dass die Abschreckung verloren ginge. Anders als Hacke glaubte Herz, dass eine Null-Lösung in Europa nicht nur mit weiterer gegenseitiger Abschreckung vereinbar sei, sondern sogar Europa, insbesondere natürlich Deutschland, davor beschützen könne, zum nuklearen Gefechtsfeld zu werden. Vgl. ebd. 167 Außenpolitik im Zeitalter des bedrohten Menschheitsüberlebens (unveröffentlichtes Manuskript), 1. März 1989. 168 Vgl. exemplarisch Herz, Amerikanische Außenpolitik im Wandel, Vorlesung an der Freien Universität Berlin, abgedruckt als Occasional Paper, Juli 1981. 169 Herz, Vom Überleben, S. 182. 170 Noch 1964 hatte er geschrieben: „Spätestens seit Korea hat der Sowjet-Kommunismus keinen Versuch mehr unternommen, seine Herrschaft durch offene Gewaltanwendung oder militärische Expansion über seine Grenzen hinaus auszudehnen. Und spätestens seit Prag hat es keinen Versuch mehr gegeben, im Bereich der ‚stabilen Welt‘ durch Machtergreifung ‚von innen‘ die Herrschaft an sich zu reißen.“ Vgl. „Sinn und Sinnlosigkeit von Beschwichtigungspolitik“, S. 385. 171 Zum Neokonservatismus unter Reagan vergleiche Patrick Keller, Neokonservatismus und amerikanische Außenpolitik. Ideen, Krieg und Strategie von Ronald Reagan bis George W. Bush, Paderborn et al. 2008, Kapitel III. Ein Beleg der Herzschen Ablehnung ist das unveröffentlichte Vortragsmanuskript „Role of the United States in International Relations“, anlässlich der „Conference on Political Culture in the U.S.“ in Königstein vom 15.–20. Juni 1981, Box 17, Lecture Notes and Lectures in Germany 1981 [Ordner], Herz Papers, S. 9.

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F. Vom „Realliberalismus“ zum „Universalismus“

sind die neo-konservativen Juden um den ‚Commentary‘ herum (die sich noch Democrats nennen – Democrats der traditionellen, liberal-progressiven Sorte gibt’s kaum noch).“172 Eine Politik, die auf der Mischung aus „old missionary ideology“ einerseits und „super-realism“ andererseits basiere – und die den Neokonservatismus bis heute auszeichnet – schien für Herz eine tickende Zeitbombe zu sein, die minütlich explodieren könne.173 Entgegen jeder Vernunft sei Détente plötzlich diskreditiert und weiche einer zweiten Hochphase des Kalten Krieges, von der niemand wissen könne, welches Elend sie mit sich bringen würde. In mehreren Veröffentlichungen beklagte Herz die Irrationalität und das fehlgeleitete Freund-Feind-Denken Reagans. Statt die Umsetzung universalistischer Ideen voranzutreiben, habe Amerika sich wieder auf Rüstungswettläufe mit der Sowjetunion eingelassen und war damit in Herz’ Augen an den neuen Herausforderungen des Atomzeitalters gescheitert. Um die Durchsetzungskraft einer „universalistischen“ Politik war es somit noch viel schlechter bestellt, als um den Erfolg der Stillhalteaktion. Zum Zeitpunkt der Niederschrift von International Politics in the Atomic Age meinte Herz noch, beobachten zu können, „wie die Anteilnahme des Menschen an der gesamten Menschheit langsam wächst.“174 1961 hieß es in der deutschen Übersetzung von International Politics in the Atomic Age: „Dass dieses Sorgebedürfnis dabei ist, sich zu einem universalistischen, weltumfassenden Gefühl der Verantwortung auszuweiten, dafür gibt es gewisse Anzeichen.“175 1982 ist der Tenor seiner Autobiographie dann ein ganz anderer: „Wenn ich mir, rückblickend, die Weltinterpretation von ‚Weltpolitik im Atomzeitalter‘ vor Augen halte, muss ich mich, den alten Pessimisten, wohl eines damaligen relativen Optimismus zeihen.“176 Die vollständige Kapitulation erfolgte dann 1989: „Looking back toward the 1950s, one must in honesty admit that even the ‚holding operation‘ has failed so far.“177 „Universalismus“ war in weite Ferne gerückt. Der radikale Umschwung in der Haltung der Menschen, den sich Herz erhofft hatte, ist bis heute ausgeblieben. Es bleibt die Frage zu beantworten, inwieweit Herz’ Interpretation der internationalen Beziehungen zu diesem Zeitpunkt noch realistisch zu nennen ist. Herz war nicht der Einzige, auch nicht der einzige Realist, der ange172 Herz an Flechtheim, 24. Februar 1985, NL Ossip Flechtheim (131), EB 98/179, Deutsches Exilarchiv. 173 Vgl. das unveröffentlichte Manuskript „Role of the United States in International Relations“, S. 8. Dort finden sich auch die beiden wörtlichen Zitate. 174 Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, S. 190. 175 Ebd. 176 Herz, Vom Überleben, s. 184. 177 Herz, An Internationalist’s Journey through the Century, S. 253.

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sichts von Hiroshima und Nagasaki zu dem Schluss kam, dass ein gänzlich neues Zeitalter angebrochen sei. Auch Morgenthau hat die Nuklearwaffen als einzige wirkliche Revolution in der Geschichte der internationalen Beziehungen bezeichnet, weil sie das Verhältnis zwischen Zielen und Mitteln in der Außenpolitik außer Kraft gesetzt hätten.178 Herz’ Schlussfolgerungen gingen jedoch weiter als bei allen anderen Realisten und wurden von ihnen meist nicht geteilt. Zwar schrieb Campbell Craig in seinem Buch über Niebuhr, Morgenthau und Waltz, Herz’ International Politics in the Atomic Age „articulated the Realist nuclear dilemma more comprehensively than any contemporary writing by my three authors“179. Dennoch widersprach das Buch schon allein durch seine These vom Niedergang des Territorialstaates den realistischen Grundannahmen. Für Herz veränderte sich durch die neue Waffentechnologie die Struktur des Systems, namentlich durch die Abschaffung ihres strukturgebenden Prinzips – der „Territorialität“. Aber während Nuklearwaffen auch andernorts einen signifikanten, sogar revolutionären Einfluss auf die theoretische Wahrnehmung der internationalen Beziehungen hatten, wurden sie doch von keinem anderen prominenten Realisten als etwas angesehen, dass die Struktur der internationalen Beziehungen grundsätzlich infrage stellte. So war beispielsweise Kenneth Waltz mit Herz’ These vom Ende des Territorialstaates und eines strukturell gewandelten Systems ganz und gar nicht einverstanden.180 Für ihn blieb das Organisationsprinzip des internationalen Systems auch im Atomzeitalter die Anarchie, wobei er immer wieder deutlich machte, dass er als zentrale Akteure (units) allein die Staaten betrachtete.181 Auch Arnold Wolfers hielt an der nationalen Perspektive fest. Von einem grundsätzlichen Systemwandel ist bei ihm keine Rede.182 „It is that difference that marks out Herz’s kind of realism“183, wie Peter Stirk richtig bemerkt. Aus realistischer Perspektive nimmt es nicht Wunder, dass Herz gerade für seine universalistischen Ideen die meiste Kritik entgegenschlug. Jedem 178

Vgl. Morgenthau, The Intellectual and Political Functions of Theory, S. 36–52. 179 Campbell Craig, Glimmer of a New Leviathan: Total War in the Realism of Niebuhr, Morgenthau and Waltz, New York et al. 2003, S. xv. 180 So Kenneth Waltz im Interview mit der Verfasserin am 17. September 2008 in Aberystwyth. 181 Vgl. Waltz, Theory of International Politics, S. 88, 96 f. und 104. 182 So begann Wolfers 1966 einen Aufsatz mit den Worten: „There is no serious quarrel about the principle that national governments shall be guided in their policies by the national interest.“ Siehe Arnold Wolfers, Disarmament, Peacekeeping, and the National Interest, in: Ders. et al. (Hrsg.), The United States in a Disarmed World. A Study of the U.S. Outline for General and Complete Disarmament, Baltimore 1966, S. 3–32, S. 3. 183 Stirk, Realism and the Fragility of the International Order, S. 299.

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F. Vom „Realliberalismus“ zum „Universalismus“

Vertreter realistischen Gedankenguts musste Herz’ Vorschlag, an die Stelle der herkömmlichen nationalen Interessen das Interesse der gesamten Menschheit am Überleben zu setzen, wie die Phantasie eines Utopisten erscheinen. Insbesondere, weil Herz dieses Interesse einfach als gegeben voraussetzte, und sein eigenes „Überlebensmotiv“ auf die gesamte Menschheit übertrug. Arnold Wolfers brachte die realistische Kritik auf den Punkt, als er schrieb: „One may doubt whether Herz, who calls himself a ‚liberal realist‘, has escaped the pitfalls of utopianism which he has so ably criticized in the past, particularly when he suggests that the ‚planetary mind‘ may win out, not as a result of some powerful ‚world sweeping movements‘ or universalist revolution, but through a kind of ‚self-selection on the part of those who are gripped by a sense of responsibility . . . and . . . possess the broadness of vision which is required to grasp the common survival interest of mankind.“184

Für Herz, dem es – wie auch Wolfers betonte – in seinem bisherigen Leben immer explizit darum gegangen war, gegen einen utopischen Idealismus anzuschreiben, beinhaltete Wolfers Kritik einen sehr schwerwiegenden Vorwurf. Die Annahme, in die eigene Falle getappt zu sein, konnte und wollte er für sich nicht gelten lassen. Herz selbst beharrte darauf, dass sein Ansatz nach wie vor ein realistischer sei. Wollte Realismus sich nicht selbst diskreditieren, müsse man ihn an die neuen Bedingungen anpassen, insbesondere an die Gefahr atomarer Auslöschung, aber auch an die Gefahr der Zerstörung des Habitats durch den Menschen. In einem Brief an Kenneth Thompson, der ihn mit einem ähnlichen Vorwurf bedacht hatte wie Wolfers, wehrte er sich folgendermaßen: „That the application of my realism to the present global issues is ‚utopian‘ I cannot accept, but, again, the line is difficult to draw. I believe that, rather, the tendency to perpetuate the present economic and political, corporate and sovereignstate system will prove utopian, while groping for a more universalist way-out is the realistic approach.“185

Während Vertreter des Realismus sich nach wie vor auf die nationalen Interessen einzelner Staaten beriefen, erachtete Herz einen solchen Analyseansatz als „unrealistisch“, weil er eben nicht von der Realität, wie sie sich ihm darstellte, ausgehe. Eine rein realistische Betrachtungsweise verschließe vor den neuen Herausforderungen die Augen. Herz rief daher dazu auf, über den Realismus hinauszugehen, und ihn dort zu erweitern, wo er an seine Grenzen stieß.186 184 Arnold Wolfers in seiner Besprechung des Buches International Politics in the Atomic Age, in: Political Science Quarterly, Vol. LXXIV, No. 3/1959, S. 438. 185 Vgl. Herz an Kenneth W. Thompson am 25. Oktober 1979. 186 Vgl. Herz, Reflections on Hans Morgenthau’s Political Realism, S. 9.

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Auch wenn er sich selbst weiterhin als außenpolitischen Realisten bezeichnete,187 bleibt festzuhalten, dass sich Herz mittlerweile von den „klassisch“ realistischen Grundannahmen, wie sie in der Einleitung dieser Arbeit beschrieben wurden, sehr weit entfernt hatte. Der grundsätzliche Pessimismus bezüglich internationaler Kooperation und globalem Fortschritt, den er sich in den 1930er und 1940er Jahren angeeignet hatte, war dem Glauben an eine universalistische Bewegung gewichen, die die internationalen Beziehungen nach und nach reformieren sollte. Kritisch anmerken lässt sich, dass seine Beschreibung dieser universalistischen Politik vage und unkonkret blieb. Es ist klar erkennbar, dass sein „Universalismus“ – wie schon sein „Realliberalismus“ – eher einer Geisteshaltung denn einer praktischen Handlungsempfehlung glich, die sich seiner Meinung nach in einem globalen „Aufklärungsprozess“ immer weiter durchsetzen sollte. In diesem Sinne war Herz weniger ein Realist als vielmehr ein „Kantianer“, der davon ausging, durch Einsicht eine Veränderung praktischer Politik erzielen zu können.188 Seine Hoffnung ging dahin, dass sich die universalistische Geisteshaltung in tatsächlichen Handlungen widerspiegeln würde, wenn sie sich einmal in den Köpfen der Menschen etabliert hatte. Besonders widersprüchlich ist an dieser Stelle, dass Herz einerseits so sehr an der menschlichen Fähigkeit zum rationalen Handeln zweifelte, wenn es sich um die Einhaltung eines Gleichgewichts des Schreckens handelte, und andererseits ein so großes Vertrauen in eben diese Rationalität hegte, wenn es um die Erkenntnis universalistischer Ideen ging. Anders ausgedrückt: Warum glaubte er, dass staatliche Entscheidungsträger rational genug agieren könnten, um nationale Interessen zugunsten des „Universalismus“ zurückzustellen, aber nicht rational genug, um eine Politik der Abschreckung zu kontrollieren, zumal beide Verhaltensweisen letztlich das menschliche Überleben garantieren sollten? An dieser Stelle steht der Leser vor einem unauflösbaren Rätsel. Wie Robert Jervis aufzeigt, war die „Deterrence Theory“ außerdem mit dem außenpolitischen Realismus geistesverwandt, ja sie hatte diesem sogar einen neuen Impetus gegeben.189 Nichts hätte also näher gelegen, als dass Herz sich das Argument der Abschreckung angeeignet hätte. Sein Misstrauen gegenüber diesem Ansatz zeugt 187 Sich selbst sah Herz in einer Reihe neben den grand old men des Realismus Hans Morgenthau und George Kennan, wenn er auch betonte, er halte sich nicht für einen der „Meister des Realismus“ wie beide dies seien. Vgl. Herz an Kenneth W. Thompson, 25. Oktober 1979, Box 2, General Correspondence 79–81 [Ordner], Herz Papers. 188 Auch Richard Ashley schreibt, Herz widme sich mehr Kant’schen als Hobbes’schen Themen. Vgl. Ashley, Political Realism and Human Interests, S. 205. 189 Vgl. Robert Jervis, Deterrence Theory Revisited, in: World Politics, Vol. 21., No. 2 (January 1979), S. 289–324, S. 289 f.

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F. Vom „Realliberalismus“ zum „Universalismus“

zusätzlich von seiner Abkehr vom Realismus und seiner Hinwendung zum Idealismus. Herz jedenfalls sah in einem gelebten „Universalismus“ die einzige Überlebensgarantie. Dieser schien ihm umso dringender geboten, als Bipolarität und Atombombe nicht die einzigen wesentlichen Bedrohungen für den Fortbestand der Menschheit waren. Mehr und mehr weitete er seinen universalistischen Ansatz auch auf die neuen globalen Probleme des 20. und 21. Jahrhunderts aus, womit sich das folgende Kapitel beschäftigt.

„[T]he environmental and the nuclear crises will brook no delay. The need to give priority to the averting of these two overriding dangers has a purely rational basis – a basis in national interest – quite aside from morality.“1 George F. Kennan

G. Die Wissenschaft vom Überleben Wie schon im letzten Kapitel deutlich wurde, war die Frage nach dem menschlichen Überleben im Laufe der 1950er Jahre zunehmend in den Vordergrund des Herzschen Forschungsinteresses gerückt. Beginnend mit den 1960er Jahren wuchs seine Befürchtung, dass die Menschheit in naher Zukunft durch eine Gesamtkatastrophe vernichtet werden würde, exponentiell.2 Die Nuklearwaffe stellte für ihn nur die augenfälligste der neuen Gefahren dar. Mindestens ebenso gravierend erschien ihm die Zerstörung des Lebensraums durch den Menschen selbst zu sein. Probleme wie globale Umweltzerstörung, Rohstoff- und Energieknappheit, Klimawandel und die Explosion der Weltbevölkerung standen im Zentrum seines akademischen Spätwerks3 Herz, der sein Denken bereits in der Vergangenheit unter dem Eindruck neuer Einflüsse und historischer Gegebenheiten mehrfach modifiziert hatte, wollte nun noch einmal seinen theoretischen Ansatz erweitern, um auch diese globalen Probleme analytisch erfassen zu können. Zu seinem eigenen großen Bedauern sollte es ihm jedoch bis zum Ende seines Lebens nicht mehr gelingen, seine diesbezüglichen Gedanken in Form einer Monographie vorzulegen. Die Gründe dafür sind überwiegend persönlicher Natur, weshalb dieses Kapitel zunächst mit einem biographischen Teil beginnt. Später litt er zudem unter einer massive Sehschwäche, die ihm das Abfassen längerer Manuskripte unmöglich machte. Die Darstellung und Analyse des Herzschen Spätwerkes im folgenden Kapitel stützt sich daher auf die wissenschaftlichen Artikel, die Herz in den Jahren 1960 bis zu seinem Tod 2005 verfasste. Darüber hinaus greift die Arbeit in diesem Teil vermehrt auf bislang unveröffentlichtes Material zurück, wie seine Korrespondenz, seine Notizen und seine zahlreichen unveröffentlichten Leserbriefe, die in den „John H. Herz Papers“ der „German and Jewish Intellectual Émigré Collection“ in Albany archiviert wurden. 1 George F. Kennan, Morality and Foreign Policy, in: Foreign Affairs, Vol. 64, No. 2 (Winter 1985/86), S. 205–218, S. 216. 2 Vgl. Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 25. 3 Vgl. ebd., S. 20.

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G. Die Wissenschaft vom Überleben „Man muss das Überleben lernen“4 (John H. Herz)

I. Persönliches Leben und Überleben 1952 war Herz an das New Yorker City College berufen worden. So wie Howard als „Black Harvard“ galt, hatte das öffentliche City College den Ruf, „the poor man’s Harvard“ zu sein. In einer Zeit, in der die Aufnahme an eine private Eliteschule der Ostküste den Kindern des protestantischen Establishments vorbehalten war, wurden hier die Begabtesten der Einwanderer, in der Hauptsache Juden, ausgebildet. Die Jahre zwischen 1930 bis 1969 waren „years of glory“, viele der Absolventen erlangten später große Berühmtheit.5 Unter Herz’ Kollegen befanden sich viele „originelle, selbständige Denker und herausragende Dozenten“6: „City was, against all odds, one of America’s great colleges.“7 Nachdem Howard sich für Herz als intellektuelle Sackgasse erwiesen hatte, umgab ihn in New York endlich wieder jene Atmosphäre des angeregten geistigen Austauschs, die er aus Genf und Princeton kannte. Er hatte eine größere Herausforderung und höhere akademische Standards gesucht und auch gefunden. Dafür nahm er sogar in Kauf, dass er zunächst anders als in Howard bis 1960 nur „associate professor“ war. Seine akademische Reputation wuchs in den 1950er Jahren stetig. Während Political Realism and Political Idealism unter seinen Kollegen zwar respektvolle Beachtung gefunden, in der Öffentlichkeit jedoch keine größere Aufmerksamkeit erregt hatte, erlangte Herz durch International Politics in the Atomic Age einige Berühmtheit. Im Zuge des erwachenden Interesses am außenpolitischen Realismus und den Nachwehen der ersten „großen Debatte“ wurden auch Herz’ Arbeiten diskutiert. Als Gastdozent an den anderen New Yorker Universitäten war er immer wieder gefragt: 1952, 1957 und 1966 übernahm er Veranstaltungen an der Columbia University, 1953 und 1958 an der New School for Social Research sowie 1963 an der 4

Herz, Vom Überleben, S. 207. Vgl. James Traub, City on a Hill: Testing the American Dream at City College, Reading, Mass. 1994, S. 9: „Between 1920 and 1970 more of its graduates went on to receive Ph.D. degrees than those of any other college except Berkeley, despite the fact that City had no graduate program of its own, no research facilities, nor even a very distinguished faculty.“ Insbesondere war das City College auch die Ausbildungsstätte vieler, die später den Neokonservatismus begründeten. Vgl. Keller, S. 48 und S. 56. Keller verweist auf die besonders spannungsgeladene Atmosphäre, die zur Politisierung Irving Kristols und Nathan Glazers beitrug. 6 Herz, Vom Überleben, S. 146. 7 Traub, S. 9. 5

I. Persönliches Leben und Überleben

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Fletcher School der Tufts University in Massachusetts. Weitere Kreise wollte er jedoch nur ungern ziehen: Die Universität von Berkeley bot ihm Anfang der 1960er Jahre zweimal eine Gastprofessur an, ebenso wie die Claremont Graduate School im Jahr 1961.8 Vergeblich. Mit der Begründung, den Sohn nicht entwurzeln zu wollen, folgte die Absage an das OttoSuhr-Institut der Freien Universität Berlin, wo ihm 1960 der Lehrstuhl für Außenpolitik angeboten wurde, wie auch die Absage der eventuellen Nachfolge von Carlo Schmid an der Universität Frankfurt im Jahre 1966.9 Die einzigen längeren Aufenthalte jenseits des Einzugsgebietes von New York führten ihn im Sommersemester der Jahre 1960 und 1968 sowie 1981 nach Deutschland, wo er 1960 und 1981 an der FU in Berlin und 1968 an der Philipps-Universität in Marburg eine Gastprofessur annahm. Rückblickend begründete Herz diese vielen Absagen mit einer ihm eigentümlichen „Entscheidungsschwäche und Trägheit, was Veränderungen einmal eingewöhnter Lebenszustände betrifft.“10 Seit dem Zeitpunkt seiner Ausreise aus Deutschland ins Schweizer Exil war seine Situation immer prekär gewesen. Es scheint, als habe er, in New York sesshaft geworden, der Dynamik und der Ungewissheit jener Tage entfliehen wollen und die Ruhe und Sicherheit eines geregelten Lebens gesucht. Dies lag allerdings weniger daran, dass er sich in New York besonders wohl fühlte. Die Arbeit am City College erfüllte ihn zwar fachlich, aber sein berufliches Glück erstreckte sich nicht auf sein Privatleben. In seiner Autobiographie beklagte er, seine Frau und er hätten sich in die „sehr geschlossene Gesellschaft“11 von Scarsdale, einem New Yorker Vorort, in dem die Familie inzwischen lebte, nie hineinfinden können. Auch ihre übrigen Kontakte seien eher beschränkt gewesen. Herz aber hatte Zeit seines Lebens ein großes Kommunikations- und Mitteilungsbedürfnis.12 Das Gefühl von Isolation und die Furcht vor Vereinsamung machten sich nun zunehmend breit.13 Dazu kam die Sorge um den einzigen Sohn, der während 8 Seine erste Absage an die Universität von Berkeley bezeugt der Briefwechsel zwischen Ernst B. Haas, dessen Vertretung Herz übernehmen sollte, und Herz zwischen den Jahren 1959 bis 1960, Box 2, General Correspondence 1959–63 [Ordner], Herz Papers. Am selben Ort befinden sich auch der Brief an Paul Seabury vom 6. März 1961, in dem er eine dortige Gastprofessur zum zweiten Mal ablehnt, und der Brief an Fred Warner Neal vom 17. März 1961, in dem er eine Gastprofessur an der Claremont Graduate School in Kalifornien abgelehnt. 9 Den Frankfurter Fall belegt der Brief von Herz an Irving Fetscher vom 9. Juni 1966, Box 2, General Correspondence 1966–68 [Ordner], Herz Papers. 10 Herz, Vom Überleben, S. 147. 11 Ebd. 12 Davon zeugt zumindest die umfassende Korrespondenz in seinem Nachlass. 13 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 147 f. und S. 187 f.

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G. Die Wissenschaft vom Überleben

seiner College-Zeit gesundheitliche Probleme entwickelte. Es folgten Jahre der Odyssee, in denen die Eltern primär um die Gesundheit und das Glück des Kindes besorgt waren, wie aus der zeitgenössichen Korrespondenz ersichtlich wird. Unter diesen Bedingungen konnte Herz sich immer weniger auf seine Arbeit konzentrieren. Er verfiel in eine Art Lethargie, seine Stimmung verfinsterte sich. In einem Brief an Gwendolen Carter, die ihn an die Northwestern Universität holen wollte, lehnte er auch ihr Angebot aus privaten Gründen ab: „I cannot visualize myself making a decisive change right now. I would come under false pretenses. I know I used to be a good scholar – or, at least, a highly motivated one. I am no longer – at least not as long as this business with Stephen is weighing on me. He is not, or not yet, improving, and it affects me in such a way that I can just get myself to do the more or less routine job of teaching the courses I am used to here, keeping in touch with German affairs for revising the textbook, and such. At Northwestern or elsewhere (I had an offer from Frankfurt the other day which I declined, and also one from the Maxwell School at Syracuse) they could and would expect more from me. As soon as there is a glimpse of improvement in Stephen I am sure it would change me too, but the time has not come yet (if ever).“14

Für Herz wurden die 1960er Jahre zu den düsteren seines Lebens. In seiner Autobiographie sprach er davon, dass das Älterwerden ihm „vierfachen ‚terror‘“15 brachte: „den des Todes (Vernichtungsangst) und der Isolation (Furcht vor Vereinsamung); und die Sorge um das Heil der Nächststehenden wie schließlich die um das Überleben künftiger Generationen.“16 Wie aus oben zitiertem Brief bereits deutlich hervorgeht, wirkte sich seine depressive Stimmung erkennbar auf seine wissenschaftliche Schaffenskraft aus und schuf eine Schreibblockade, die Herz für viele Jahre nicht überwinden sollte. An Flechtheim schrieb er 1970: „Ich [bin] ja leider so ‚unmotivated‘ geworden, dass ich mich zu fast nichts mehr in Bezug auf ‚creative writing‘ zwingen kann (bringe mich kaum dazu, die Revision des textbooks heranzugehen, zu dem ich mich verpflichtet habe)“17. Schlaflosigkeit und Magenprobleme quälten ihn. Er wurde sukzessive frustrierter. Wiederholt beschwerte er sich in seinen Briefen über die fehlende Anerkennung, die seine Bücher in der breiten Öffentlichkeit, aber auch seitens seiner Kollegen in seiner Wahrnehmung erfuhren.18 Er beklagte sich in diesem Zusammenhang auch bitter bei seinen verschiedenen Verlagen und warf ihnen vor, seine 14 Herz im Brief an Gwendolen Carter, 30. November 1966, Box 1, Correspondence with Gwen Cater, Louise Holborn and Harcourt-Brace 1964–68 [Ordner], Herz Papers. 15 Herz, Vom Überleben, S. 187. 16 Ebd. 17 Herz an Ossip Flechtheim, 19. Juli 1970, Box 2, General Correspondence 1970/71 [Ordner], Herz Papers.

I. Persönliches Leben und Überleben

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Bücher nicht ausreichend oder falsch vermarktet zu haben.19 Obwohl er Morgenthau stets bewunderte, litt er darunter, immer im Schatten des „Stars“ zu stehen, besonders als Morgenthau ebenfalls ans City College wechselte, um dort zu lehren.20 Eine tagbuchähnliche Aufzeichnung aus dieser Zeit gibt ein erschütterndes Zeugnis von Herz’ Seelenzustand: „Whatever time is left stretches into a landscape without figures, darkling, barren, scorched, solitaire à la Beckett. Auch in dem, was meine Interessen ausmachte . . . ist alles erstorben, one goes through the motions mechanically; but what has to be done is being done (mehr schlecht als recht), but no new initiatives, no ‚creative efforts‘ anymore.“21

Nur vor diesem persönlichen Hintergrund kann man verstehen, warum Herz an den Erfolg seiner ersten beiden Bücher nicht anknüpfen konnte und keine vollständige systematische Ausarbeitung der von ihm damals entwickelten Thesen vorlegte.22 Erst im Laufe der 1970er Jahre hellte sich sein Gemüt langsam auf. 1977 wurde er emeritiert und verließ das City College. 18 Beispielsweise nahm Herz seine ursprüngliche Zusage, ein Buch für die Zeitschrift World Politics zu rezensieren, mit der Begründung wieder zurück, dass World Politics nicht bereit gewesen sei, sein eigenes Buch International Politics in the Atomic Age zu besprechen: „I just cannot get myself to write for a review which has not seen fit to bring a review of my own book, despite the fact that it is a publication which has been generally considered an important contribution to thought in international politics, and the fact that a kind of preview of it originally appeared in World Politics itself.“ Vgl. Herz an Klaus Knorr, 16. November 1960, Box 2, Ordner General Correspondence 1959–63, Herz Papers. Dass dies kein einmaliger Vorgang war, illustriert Herz’ Brief an George Schwab, 8. Dezember 1975, Box 2, General Correspondence 75–77 [Ordner], Herz Papers. 19 Besonders aufschlussreich ist die Korrespondenz mit dem Droste-Verlag, in dem seine Autobiographie Vom Überleben erschien. Vgl. Box 2, „Vom Überleben. Correspondence with Droste etc . . .“ [Ordner] Herz Papers. 20 Darauf verweist beispielsweise folgender Satz aus einem Brief an Lilli Flechtheim: „Dem Morgenthau, der jetzt abgeht, hat man nie soviel zugemutet, dafür war er ‚distinguished prof.‘ mit $5000.– mehr.“ Herz an Lilli Flechtheim, 9. März 1974, Box 2, General Correspondence 1973–1974 [Ordner], Herz Papers. 21 John H. Herz, „Zu Protokoll gegeben“ (unveröffentlichtes Manuskript), ohne Ortsangabe [vermutlich Scarsdale], ohne Datum [vermutlich in den frühen 1970er Jahren geschrieben], Box 6, Herz Papers. 22 Kenneth W. Thompson hatte Herz in der Rezension seiner Aufsatzsammlung The Nation-State and the Crisis of Word Politics implizit vorgeworfen, die Versprechen seiner ersten beiden Bücher nicht gehalten und keine stringente Erklärung seines „planetary humanism“ vorgelegt zu haben. In einem persönlichen Brief an Thompson führte Herz die obenstehenden persönlichen Gründe an, um dieses „Versagen“ zu erklären. Vgl. Kenneth W. Thompsons Rezension des Buches in: The American Political Science Review, Vol. 73, No. 3. (Sep., 1979), S. 941–942 und Herz’ Brief an Thompson, 25. Oktober 1979, Box 2, General Correspondence 1979–81 [Ordner], Herz Papers.

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G. Die Wissenschaft vom Überleben

Es kann nicht belegt werden, woher Herz’ Sorge um das Überleben der Menschheit und die Angst vor einem globalen Untergang, die sein Denken nun fast vollständig dominierten, letztendlich rührten. Er selbst fragte sich, ob es „an besserer Einsicht in Fakten und Trends, am Pessimismus des Alters, an gescheiterten persönlichen Hoffnungen“23 liege, und fand doch keine Antwort. Seine Sorge blieb immer eine abstrakte, die der Erde und der Menschheit als solcher galt. Angesichts seiner Biographie liegt es allerdings nahe, die fast vollständige Vernichtung des europäischen Judentums durch Adolf Hitler und Herz’ Flucht ins Exil als Ursache zu identifizieren.24 Auch wenn Herz Deutschland bereits 1935 verlassen hatte, und er selbst anders als Morgenthau bis 1933 nie unter antisemitischer Hetze seitens seiner deutschen Mitbürger litt, ist offensichtlich, welchen starken Eindruck der Holocaust auf ihn gemacht haben muss. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1962 findet sich zudem folgende Stelle, die auf den engen Zusammenhang von Holocaust und Herz’ Angst vor physischer Vernichtung durch Atomkrieg schließen lässt: „Exactly as technology enabled the Nazis to dispose neatly, efficiently, and expeditiously of such masses of people [. . .] the new weapon enables us to destroy at one blow millions of lives in similarly streamlined fashion.“25

Wurzelt Herz’ Überlebenssorge also vor allem in seinem Entsetzen über den Zusammenbruch einer gebildeten, kultivierten und modernen Gesellschaft, die es schließlich zuließ, dass Millionen ihrer Bürger verfolgt, verjagt oder ermordet wurden? Herz selbst verwehrte sich explizit gegen diese Interpretation, wie aus einem Brief an M. Benjamin Mollow aus dem Jahre 1992 hervorgeht. Hier schrieb Herz: „[A]s far as my ideas on global survival issues etc. are concerned, they began to be formed already prior to the holocaust, indeed prior to the outbreak of the war.“26 Ein Jahr zuvor hatte er – ebenfalls in einem Brief an Mollow – darauf verwiesen, dass seine theoretischen Überlegungen niemals von seiner Zugehörigkeit zum jüdischen Volk beeinflusst worden waren: „[A]s a scholar, that is, a political theorist, I cannot discover anything that could be characterized as ‚Jewish‘; to do so, indeed, would seem to me to smack of ‚racism‘.“27 Dennoch schreibt Mollov wohl nicht ganz 23

Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 25 f. So schrieb auch Peter Stirk: „There is, of course, a simple biographical logic to that“. Stirk, Realism and the Fragility of the International Order, S. 287. 25 Herz, International Politics and the Nuclear Dilemma, S. 15. 26 Herz an M. Benjamin Mollow, 17. Februar 1992, Box 3, Correspondence 1991–1993 [Ordner], Herz Papers. 27 Dies schrieb Herz als Antwort auf die These, der außenpolitische Realismus sei eine jüdische Denkschule. Zuvor hieß es in ebendiesem Brief: „When I told you 24

I. Persönliches Leben und Überleben

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zu Unrecht in seinem 2002 veröffentlichten Buch Power and Transcendence: „Indeed, other Jewish realist thinkers, including John Herz and Henry Kissinger, were . . . strongly affected by the Jewish experience of anti-Semitism in Germany.“28 Herz selbst gab zu, dass die Dringlichkeit seiner Mahnungen und Warnungen sehr wohl durch diese Erfahrung beeinflusst worden sein könnte: „It may be that the holocaust, or better: the experience of Nazism as such, contributed to the sense of urgency which has imbued my ideas and writings ever since, because the Nazi phenomenon showed how easily people become victims of propaganda and ‚mind-control‘.“29

Letztlich wird wohl nie ganz zu klären sein, ob und in welcher Weise die Ereignisse der Jahre 1933–1945 sich diesbezüglich ausgewirkt haben. Es ist allerdings deutlich feststellbar, dass Herz’ Denken in seinem letzten Lebensdrittel stetig pessimistischer wurde und immer apokalyptischere Züge annahm – bis sogar seine engsten Freunde nicht umhin konnten, ihren Überdruss zu äußern. Lilli Flechtheim bezeichnete die Briefe, die Herz regelmäßig sendete, nur halb im Scherz als „Katastrophen-Missiles“30. Die Frage nach der Zukunft beantwortete Herz 1974: „Ende der Geschichte. Exeunt omnes. Finis.“31 Immer stärker wuchs seine Besorgnis, dass die neuen globalen Probleme letztendlich zum Untergang führen würden, insbesondere da niemand sie ausreichend ernst zu nehmen schien. Immer lauter wurden dementsprechend auch seine Warnungen und immer größer seine Verzweifelung, je öfter diese ungehört verhallten. „Als ob die Zeit knapp würde“32, wie er an Lilli schrieb. in our phone conversation that I didn’t believe my Jewish experience had an influence on my political thought I did not mean to say that it had no influence on my feelings and interests in general. I merely meant (and still maintain) that my (or Morgenthau’s) specific theories of international relations had any reference to our being Jews. But as far as interests and feelings are concerned, like Morgenthau in regard to the Soviet Jews, I had much interest in problems involving Jews. [. . .] There is a big difference between one’s general political theories and one’s more specific interests in particular political problems.“ Vgl. Herz an Mollow am 24. Oktober 1991. 28 Vgl. Mollow, S. 213. 29 Herz an Mollow am 17. Februar 1992. 30 Lilli Flechtheim schrieb an Herz, ihre Tochter Marion wolle „nunmehr, dass ich Deine Briefe von Jahr zu Jahr on file tue, und falls ich mal über so ein doomGejaule neu erschrecke, es mit früheren vergleiche, um mich wieder zu beruhigen.“ Dieses und obenstehendes Zitat finden sich in Lilli Flechtheim an Herz, 13. Juni 1975, Box 2, General Correspondence 1957–1977, Herz Papers. 31 Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 37. 32 Vgl. Herz an Lilli Flechtheim, 27. November 1974, Box 2, General Correspondence 74/75 [Ordner], Herz Papers.

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G. Die Wissenschaft vom Überleben

II. Internationale Politik im Technologiezeitalter An einer Depression, wie sie sich in Herz’ persönlichem Leben gezeigt hatte, krankte seiner Meinung nach in wachsendem Ausmaß auch sein zweites Heimatland, wenn nicht gar die gesamte westliche Welt. Schon seit den 1950er Jahren hatte sich sein ursprünglich positives Amerikabild gewandelt und einem wachsenden, schließlich sogar radikalen Kulturpessimismus Platz gemacht. „Des Nachts werde ich melancholisch und wache deprimiert auf. Dieses Land, auf das man früher noch einige Hoffnung setzen konnte, wird mir immer widerlicher“33, schrieb er 1985 an seinen Freund Flechtheim. Seine Kulturkritik beschränkte sich indes nicht auf die USA allein, sondern erstreckte sich zunehmend auch auf den Westen insgesamt. Was er in dieser Hinsicht in seinem Aufsatz „Amerika – Land ohne Alternativen“34 aus dem Jahr 1969 über die gesellschaftliche und politische Krise in den USA feststellte, wollte er modellhaft für die Lage aller entwickelten Länder und der Weltpolitik überhaupt verstanden wissen.35 Herz schilderte hier, wie im Gefolge der technisch-ökonomischen Entwicklung auf der Grundlage riesigen gesellschaftlichen Reichtums Massenarmut, Rassenprobleme, soziale Desintegration und Verwüstung der Städte zunahmen, ohne dass das demokratische System dies zu steuern vermochte. Seine (neue) Heimatstadt New York erschien ihm mehr und mehr als „Calcuttaon-the-Hudson“36. Es überrascht daher nicht, dass Herz sich früh zu einem Globalisierungsskeptiker entwickelte,37 der hinter Begriffen wie „free market economy“ und „‚opening up‘ backward countries, modernizing and globalizing them“38 nichts weiter als westliche Parolen vermutete, die er als Deckmantel für die Ausbeutung der Dritten Welt durch den Westen verstand. Insbesondere gegen den Freihandel wetterte er: „Present-day ‚free trade‘ slogans . . . do not help as long as they only imply, in practice, continuing the old, colonial system of economic imperialism with now ‚free,‘ usually corrupt, indigenous groups, acquiring what remains of ingenious wealth (oil, minerals, etc.) and leaving the regions depleted, polluted, and poor.“39

Konsequenterweise fand die konservative Revolution der 1980er Jahre nicht seine Zustimmung. Thatcherism in Großbritannien und Reaganomics 33

Herz an Flechtheim am 24. Februar 1985. Herz, Amerika – Land ohne Alternativen?, S. 170–190. 35 Vgl. Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 23. 36 Herz, Außenpolitik im Zeitalter des bedrohten Menschheitsüberlebens (unveröffentlichtes Manuskript), 1. März 1989. 37 Vgl. Christian Hacke, Ein Rückblick auf John Herz, in: Neue Züricher Zeitung, 14. Februar 2006, S. 5. 38 Beide Zitate aus Herz, Reflections on My Century, S. 12. 39 Ebd. 34

II. Internationale Politik im Technologiezeitalter

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in den Vereinigten Staaten erschienen ihm extremer Ausdruck jenes Trends zu sein, der sich in vermeintlich zunehmender Brutalisierung der westlichen Gesellschaften in Richtung eines ungebremsten Sozialdarwinismus’ und der Ausrichtung allen Handels auf das eigene kurzfristige Wohl zeige.40 Dem sich ausweitenden Konsumgeist der westlichen Bevölkerung, den er zu beobachten meinte, begegnete er mit Ekel und bezeichnete ihn als „great dictator of fashion and change“41. Seine Kritik an diesen Formen des westlichen Zeitgeistes verband sich schon in den späten 1960er Jahren mit einer weiterführenden Kritik am wissenschaftlich-technologischen Fortschritt allgemein. In seinem Aufsatz „Amerika – Land ohne Alternativen“ findet sich folgender Satz: „Die wachsende Bevölkerung . . . hat sich ein Gebilde geschaffen – oder besser, lässt sich von der Technik ein Gebilde schaffen –, das man selbst äußerlich nicht mehr mit dem Land und der Utopie von früher vergleichen kann: einen synthetischen Kosmos, eine technologisch erstellte Umwelt, bestehend aus einer Anzahl Natur und Landschaft auffressender Überstädte, Metropolballungen, deren eine sich die halbe Ostküste lang erstreckt, der andere an der Westküste und im Inneren des Landes entsprechen, verbunden durch die sich in die Landschaft hineinfressenden, immer zahlreicheren Straßensysteme, die das Land mit Gestank erfüllen und die Luft verpesten, sowie durch die Luftfahrsysteme, die es mit Gedröhn erfüllen.“42

Herz machte den wissenschaftlich-technologischen Fortschrittsprozess nicht nur für den politischen und sozialen Verfall der USA verantwortlich, sondern er war auch der Ansicht, einen Zusammenhang zwischen Fortschritt und internationalen Beziehungen feststellen zu können. Obwohl er seine diesbezüglichen Gedanken bereits in einem Manuskript ausgearbeitet hatte, gelang es ihm nicht, das angefangene Buch mit dem Arbeitstitel International Politics in the Technological Age – An Analysis of the Role of Acceleration and Petrification in World Affairs zu beenden. Er verarbeitete sein Material daher zuerst in Form eines längeren Aufsatzes, der unter dem Titel „Auswirkungen des wissenschaftlich-technischen Prozesses auf die internationalen Beziehungen“ im Jahr 1967 von der Politischen Vierteljahresschrift veröffentlicht wurde.43 Diesem ersten Aufsatz folgten dann eine Reihe weiterer Veröffentlichungen zum selben Thema.44 40

Vgl. ebd., S. 11. Herz, The Civilizational Process and Its Reversal, in: Ders. (Hrsg), The Nation-State and the Crisis of World Politics. Essays on International Politics in the Twentieth Century, New York 1976, S. 195–225, S. 202. 42 Herz, Amerika – Land ohne Alternativen?, S. 172. 43 John H. Herz, Auswirkungen des wissenschaftlich-technischen Prozesses auf die internationalen Beziehungen, in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 3/1967, S. 391–411. Im Jahr darauf erschien der Aufsatz in etwas längerer Form auch auf Englisch: John H. Herz, The Impact of the Technological-Scientific Process on the 41

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Herz, der bislang primär die Struktur des internationalen Systems und seiner Einheiten untersucht hatte, und mit dem „Sicherheitsdilemma“ ein seiner Meinung nach überhistorisches Phänomen identifiziert hatte, wollte nun seinen Blick weniger auf das Statische als vielmehr auf das Dynamische des Systems richten. Nachdem er die Frage nach Kontinuität jenseits von Zeit und Raum für sich beantwortet hatte, ging es ihm jetzt darum, Wandel im System zu erklären.45 Im Entstehen des Ost-West-Blocks und der damit einhergehenden bipolaren Struktur sah er gemeinsam mit der Vernichtungskraft der Atombombe nach wie vor die wichtigsten Entwicklungen in der internationalen Politik seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Dies hatte er in International Politics in the Atomic Age theoretisiert und verarbeitet. Beide Entwicklungen waren jedoch seiner Meinung nach gleichzeitig nur augenfälligster Teil eines wesentlich umfassenderen Prozesses. Herz’ Ziel war es, den wissenschaftlich-technologischen Fortschrittsprozess im Rahmen einer geschichtsphilosophischen Betrachtung zu analysieren. Sein Erkenntnisinteresse richtete sich insbesondere auf die Frage, inwieweit die Errungenschaften der Moderne die internationalen Beziehungen zukünftig prägen würden. In vorherigen Studien hatte sich die Richtung schon angekündigt, in die Herz sich künftig orientierte: In seiner Analyse des nuklearen Zeitalters hatte er den Einfluss der Waffentechnologie auf die Frage von Krieg und Frieden betont. Nun ging es ihm nicht mehr nur allein um die Entwicklungen neuer Waffen, sondern um den technischen Fortschritt allgemein. Als Ausgangsmodell für seine Beschleunigungstheorie nahm Herz das Modell der drei historischen „Prozesse“ von Alfred Weber,46 den Herz immer verehrt hatte.47 Nach Weber konnte man die Entwicklungsgeschichte der Menschheit in einen Gesellschafts-, Kultur- und Zivilisationsprozess unInternational System, in: Abdul A. Said, Theory of International Relations. The Crisis of Relevance, Englewood Cliffs, NJ, 1968, S. 107–126. 44 Vgl. z. B. Herz, Technology, Ethics, and International Relations, S. 98–113. 45 Vgl. Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 21 f. 46 Vgl. Alfred Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie, München 1963 [1950], S. 26 f. 47 Herz war beeindruckt von Person und Werk Alfred Webers, wie aus einem Brief an Christian Hacke deutlich hervorgeht: „[I]m Schatten seines großen Bruders meines Erachtens sehr zu Unrecht vernachlässigt. Von Spengler ausgehend, d.h. von dessen Kulturkreislehre (nicht seinen nationalistischen politischen Schriften), hat A.W. die meines Erachtens überzeugendste Kultur- und Zivilisationsphilosophie dieses Jahrhunderts geliefert, die u. a. das Abweichen unserer ‚faustischen‘ Kultur ins ‚Globale‘, die ganze Menschheit Umgreifende, darstellt, im Gegensatz zu allen anderen Zivilisationen der Geschichte.“ Vgl. Herz an Hacke, 10. Mai 1998, Box 3, Correspondence with Colleagues [Ordner], Herz Papers.

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terteilen. Weber ging davon aus, dass die beiden ersten Prozesse meist zyklisch verlaufen und von Aufstieg und Fall gekennzeichnet seien, wie dies etwa auch den Ideen von Spengler und Toynbee entsprach.48 Der Zivilisationsprozess aber, der die wissenschaftlich-technischen Entwicklungen umfasse und begleite, schreite stets linear fort und bleibe von veränderten Kulturzyklen, Gesellschaftsstrukturen oder politischen Ordnungsformen weitgehend unberührt. Herz überzeugten diese Grundannahmen Webers, er erweiterte sie jedoch um den Begriff der „Beschleunigung“. Dies hieß für ihn Folgendes: „Wendet man diesen Begriff auf die gegenwärtige Welt an, so ergibt sich das gänzlich Neue, dass der Zivilisationsprozess dabei ist, die anderen sozusagen in sich aufzusaugen. Der ungeheure Beschleunigungsprozess wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Erfindungen beschleunigt alles andere – Bevölkerungsbewegungen, Nutzung und Erschöpfung von Rohstoffquellen, Verbreitung von Ideen und Ideologien – derartig, dass er die bisher unabhängig voneinander bestehenden Kulturen und Entwicklungen in einen einheitlichen Weltprozess hineinreißt, in dem alle diversen Phänomene in einen uniformen Zivilisationskosmos aufzugehen tendieren.“49

Herz interpretierte die Geschichte so, dass die kulturellen und sozialen Strukturen der Gesellschaften in der Vergangenheit durch den Zivilisationsprozess relativ wenig beeinflusst worden seien. Alle drei Prozesse seien mehr oder weniger unabhängig voneinander abgelaufen. Ganz anders, so der Tenor seiner Aussagen, zeige sich die Situation heute im Westen, wo der wissenschaftlich-technologische Fortschrittsprozess zunehmend die beiden anderen Prozesse überlagere und bestimme. Dadurch werde mit der Zeit alles „den Charakter einer Maschinenwelt“ annehmen, in der die „natürliche Umwelt des Menschen . . . durch eine weitgehend synthetische Umwelt ersetzt“ werde.50 Die einstige Vielfalt an Kulturen, Lebensformen und Wertesystemen werde hingegen ausgelöscht und gleichgeschaltet.51 Während er noch in Political Realism and Political Idealism von einem offenen Horizont der Möglichkeiten gesprochen hatte, 48 Spenglers Geschichtsinterpretation im Sinne von Kulturkreisen hatte auf Herz schon als Jugendlicher großen Eindruck gemacht. Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 78 f. 49 John H. Herz, Weltpolitik zwischen Konflikt und Ausgleich – Internationale Beziehungen im Atomzeitalter (unveröffentlichtes Manuskript). Vorlesungsnotizen zu einer Vorlesung an der FU Berlin im Sommersemester 1981, Box 17, Lecture Notes FU Berlin 1981 [Ordner], Herz Papers. 50 Beide Zitate Herz, Vom Überleben, S. 190. 51 Von dieser Vereinheitlichung ist auch das Individuum in hohem Maße betroffen. Herz spricht in einem seiner Aufsätze vom Ende des „individualistischen Zeitalters“. Vgl. Herz, ‚Unsterblichkeit‘ – Gedanken über Glanz und Elend des Sterblichen, S. 99.

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welcher die Zukunft gestaltbar ließ,52 erschien ihm nun alles vorbestimmt zu sein: „Thus the future seems fatalistically closed, no longer a universe of diverse possibilities.“53 An anderer Stelle nannte er das Endergebnis dieses Prozesses „the one accelerating, upward-sweeping uniformity of a manmade, machine-controlled universe.“54 Der „oft kindlich-rührende, naive Glaube an das durch Modernisierung zu erreichende ‚gute Leben‘“55 erschien ihm die grundlegende Ideologie des homo faber der modernen Welt zu sein, eine Art Universalreligion, an die sowohl der kapitalistische Westen als auch der kommunistische Osten glaubte und zu der sich auch die aufstrebenden Entwicklungsländer bekannten. Die internationalen Beziehungen sah Herz durch diesen Trend in Richtung Gleichschaltung und Egalisierung in vielfacher Weise beeinflusst: Seine Auswirkungen betrafen außenpolitische Einstellungen und Haltungen, Verfahrensweisen und Systeme, einzelne Akteure und die politischen Einheiten oder Organisationen, in denen sie sich zusammenfanden.56 Erstmals, so Herz, könne in der Moderne überhaupt von einer tatsächlichen Weltpolitik die Rede sein. Während die internationalen Beziehungen in der Vergangenheit in der Hauptsache durch westliche Mächte bestimmt worden seien, die das System nach einem westlichen Modell geformt hätten, erwiesen sie sich mit dem Ende des Kolonialzeitalters und der Souveränität von immer mehr Staaten als wirklich global.57 Zunehmend sei Frieden unteilbar. Selbst die entfernteste Gefahr mache vor der eigenen Haustür nicht halt, egal, ob sich der Brandherd in der Nähe der chinesischen Küste, im Nahen Osten, in Kuba oder auf der Autobahn nach Berlin befinde. Aufgrund der Zweiteilung der Welt in konkurrierende Bündnissysteme der Verteidigung und der ungeheuren Zerstörungskraft der Atomwaffe bleibe kein Land der Erde verschont, sollte der Kalte Krieg einmal eskalieren. Herz führte aus, Staaten seien allein schon deshalb keine Inseln mehr, weil in der modernen Welt Verkehr, Information und Kommunikation in 52 Wenn auch natürlich nur innerhalb der Grenzen und unter Berücksichtigung der Zwänge des Sicherheitsdilemmas. Vgl. Herz, Political Realism and Political Idealism, S. 228. 53 Herz, The Impact of the Technological-Scientific Process, S. 109. 54 Herz, The Civilizational Process and Its Reversal, S. 195. 55 Herz, Vom Überleben, S. 191. 56 Vgl. Herz, The Impact of the Technological-Scientific Process, S. 109. 57 Herz nahm allerdings nicht an, dass dies automatisch auch mit einer Änderung in der tatsächlichen Machtverteilung im internationalen System korrespondierte. Er wies jedoch darauf hin, dass die Existenz so vieler verschiedener Länder nicht nur einen rein formellen, sondern durchaus auch einen praktischen Einfluss auf das internationale System bedeutete. Vgl. ebd., S. 109.

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Windeseile den Erdball umkreisten und Landesgrenzen so zunehmend verwischten.58 Aber nicht nur Nachrichtenbilder verbreiteten sich rund um den Erdball. Auch Schadstoffwolken oder verseuchte Abwässer hielten sich nicht an Ländergrenzen.59 Ungewöhnlich früh hatte Herz die Gefahren, die durch die Zerstörung des menschlichen Habitats durch den Menschen selbst entstanden, erkannt und analysiert. Der technische Fortschritt befördere seiner Meinung nach nun diese weltweit voranschreitende Zerstörung der Umwelt in einem verheerenden Ausmaß – schon allein dadurch, dass sich der Mensch von seinem natürlichen Lebensraum immer weiter entfernt habe und keine Verbindung mehr zu ihm verspüre.60 Immer raffiniertere Fangmethoden würden zu einer Überfischung der Ozeane führen, der immer größerer Energiebedarf der Menschen zur Ausbeutung der Rohstoffquellen der Welt. Auch die Bevölkerungsexplosion war für Herz in gewisser Weise ein Produkt des technischen Fortschritts, da die Menschen mit Hilfe der modernen Medizin immer älter würden, Epidemien durch moderne Medizin erfolgreich bekämpft werden könnten und die Kindersterblichkeit sinke. Der wissenschaftlich-technologische Fortschritt führe aber nicht nur zu einem Vereinheitlichungsprozess, so argumentierte Herz weiter, sondern aufgrund des Sicherheitsdilemmas auch zu nationalistischen Tendenzen, da jeder Staat seine Unabhängigkeit bewahren wolle. Denn das „Sicherheitsdilemma“ dominiere auch in der Moderne nach wie vor die Geschicke der internationalen Politik und zwinge die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, sich entsprechend zu verhalten. Ja, es trete sogar noch deutlicher als zuvor zutage. „Indeed“, schrieb Herz, „what I have called the security dilemma of international units . . . has never been more painfully experienced than in an age where the least neglect in security arrangements and policies may spell doom.“61 Die Folgen eines ausufernden Nationalismus für die Stabilität des internationalen Systems seien verheerend. Denn während der aus den Unabhängigkeitsbestrebungen der Staaten entstehende Nationalismus dazu führe, dass Staaten nicht willig seien, miteinander zu kooperieren, könne man die neuen globalen Probleme nur gemeinsam lösen. Wie sollte man als einzelner Staat den Klimawandel oder die Verschmutzung der Weltmeere stoppen? Wie der Bevölkerungsexplosion begegnen? Das Problem sah Herz nicht darin, dass die Staaten die Folgen dieser Probleme nicht am eigenen Leib spürten: Sie zeigten sich ja sehr deutlich auch auf nationaler Ebene, etwa in Form von Ressourcenknappheit oder ins Land 58 59 60 61

Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 113. Vgl. ebd., S. 114. Vgl. Herz, The Civilizational Process and Its Reversal, S. 197. Herz, The Impact of the Technological-Scientific Process, S. 110.

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strömender Flüchtlinge. Den Staaten würde die Dringlichkeit der Probleme also sehr deutlich vor Augen geführt – und die Notwendigkeit, gemeinsam zu handeln, um sich selbst zu retten. Das Problem sei leider, dass das „Sicherheitsdilemma“ genau diese Kooperation verhindere und die Probleme daraufhin unbekämpft blieben. Weil Herz also sowohl im Sicherheitsdilemma als auch im wissenschaftlich-technologischen Fortschrittsprozess bestimmende Faktoren der internationalen Beziehungen sah und er beiden Phänomenen eine Eigendynamik zuschrieb, waren Konflikte unabwendbar. Er argumentierte, beide Phänomene stünden in einem scheinbar unauflösbaren Spannungsverhältnis zueinander: Der Fortschrittsprozess zwinge zu Vereinheitlichung und Gleichschaltung, das Sicherheitsdilemma aber hindere die Staaten daran, miteinander zu kooperieren und verstärke nationalistische Tendenzen. Dabei potenziere der Fortschrittsprozess das Sicherheitsdilemma gleichzeitig noch um ein Vielfaches, nicht nur mit Blick auf die Zerstörungskraft der Atombombe. Die immer schnellere Übermittlung von Nachrichten und Informationen zwinge Staatsmänner dazu, schnell zu reagieren und ad-hoc Entscheidungen zu treffen, deren Konsequenzen in dem Moment der Krise oftmals gar nicht abzusehen seien. Der Druck auf die politischen Entscheidungsträger steige ständig, die Gefahr einer Kurzschlussreaktion wachse parallel dazu an.62 In der Gesamtschau überwogen für Herz daher deutlich die Gefahren, die der wissenschaftlich-technologische Fortschritt mit sich brachte, obwohl er durchaus anerkannte, dass dieser nicht nur negative Folgen hatte.63 Er verwarte sich gegen den Vorwurf der Technikfeindlichkeit, wollte aber umfangreiche Kontrollmaßnahmen einführen, damit der technologische Prozess den Menschen nicht überwältige – und forderte „technology with a human face“64. Wie diese Kontrollmaßnahmen konkret auszusehen hatten und wer sie wiederum überwachen sollte, ließ er in seinen Betrachtungen jedoch unberücksichtigt. Wie so oft in seinen Schriften finden sich keine konkreten Handlungsanweisungen, bleibt das „Wie“ des Wandels im Dunkeln. Angetreten, um als Arzt der internationalen Beziehungen auf die Diagnose eine passende Medizin zu verschreiben, beschränkte er sich stattdessen wieder einmal auf den Appell nach einem Bewusstseinswandel: „Like the early atomic scientists, who, flabbergasted at what their science had wrought, became imbued with a sense of responsibility for the results of applied science, everybody working in the field of science and technology must realize 62

Vgl. Herz, The Impact of the Technological-Scientific Process, S. 112 f. So Herz explizit in seinem Aufsatz „Reflections on My Century“, S. 9. 64 Herz, Relevancies and Irrelevancies in the Study of International Relations, S. 44. 63

III. Wahrnehmung, Weltbilder und „Survival Research“

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that he cannot escape moral responsibility for what his inventions, discoveries, and work are used for.“65

Die Verantwortung erstreckte sich nach Herz auch auf die Sozialwissenschaften, deren Aufgabe er darin sah, immer wieder auf die neuen Probleme und ihren Zusammenhang mit dem technologischen Fortschrittsprozess hinzuweisen. Aus diesem Grund schwebte ihm vor, eine eigene Wissenschaft zu begründen, die sich genau mit diesen Themen beschäftigen und das Überleben der Menschheit sichern sollte. „We must not forget that futures, too, can be preempted: he who does the studying of futures, or controls it, may determine which future will be planned and, therewith, the outcome or, at least, the direction.“66 (John H. Herz)

III. Wahrnehmung, Weltbilder und „Survival Research“ Die neuen globalen Probleme, von Herz auch „survival issues“ genannt, standen in den 1970er und 1980er Jahren im Zentrum seines Denkens.67 Herz konnte sich nicht vorstellen, wie die Erde als räumlich begrenzter Planet mit endlichen Ressourcen und einem zerbrechlichen Ökosystem dazu fähig sein sollte, die explosionsartig anwachsende Zahl von Bewohnern aufzunehmen. Wenn die Menschen nicht endlich die bereits in International Politics in the Atomic Age angemahnte große Kehrtwende unternähmen und anfingen, eine auf universalistischen Prinzipien beruhende Lebensweise zu pflegen, prophezeite Herz ihnen eine düstere Zukunft. Die Zeit dafür wurde allerdings zunehmend knapper. Herz äußerte sich daher immer dringlicher, sein Ton wurde mahnender, seine Prognosen apokalyptisch. Nicht zuletzt wurden auch seine Lösungsansätze immer radikaler. Denn obwohl er befriedigt feststellen konnte, dass die Aufmerksamkeit für diese Problematiken seit den 1960er Jahren immer weiter angestiegen war und in vielen Ländern in den nachfolgenden Jahrzehnten zur Entstehung von neuen Sozial- und Umweltbewegungen geführt hatte, musste er 65

Herz, Technology, Ethics, and International Relations, S. 111. Herz, Relevancies and Irrelevancies in the Study of International Relations, S. 47. 67 Vgl. Herz an Ernst-Otto Czempiel, 29. September 1986, Box 3, General Correspondence 1985–86 [Ordner], Herz Papers. Dort verwendet Herz auch den Begriff „Survival issues“. 66

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resigniert zur Kenntnis nehmen, dass der radikale universalistische Wandel in der praktischen Politik – trotz des angewachsenen öffentlichen Bewusstseins – auf breiter Ebene ausblieb. 1972 hatte der Club of Rome unter dem Titel The Limits of Growth68 erstmals einen Bericht zur Weltlage veröffentlicht, der in seiner Dringlichkeit keine Fragen mehr offen ließ und zu sofortigen Maßnahmen im Bereich Umweltschutz und Geburtenkontrolle aufrief. Der Brandt-Report69 und Jimmy Carters Studie Global Future70 hatten in eine ähnliche Richtung verwiesen. Und doch hatten all diese Studien zu Herz’ Bedauern keine umfangreiche politische Umsetzung gefunden. Herz beklagte, anstatt wirklich durchschlagskräftige und konsequente Maßnahmen einzuleiten, bleibe die internationale Gemeinschaft tatenlos – ja, handelten die meisten Menschen selbst achtlos und heiteren Gemüts den elementarsten Überlebensstrategien entgegen.71 Gerade den amerikanischen Eliten warf Herz vor, sich hauptsächlich um sich selbst zu drehen und ihre eigenen kurzfristigen Interessen zu verfolgen, ohne auf die langfristigen negativen Folgen zu schauen, die sich daraus für die Menschheit ergaben. Von Bitterkeit gezeichnet schrieb er in einem Brief an Flechtheim: „Was die großen Weltprobleme, d.h. das was wir die Menschheitsüberlebensprobleme zu nennen pflegten, angeht, so werden sie hier nicht nur vernachlässigt, sondern überhaupt noch kaum wahrgenommen. Dieses Nicht-Wahrnehmenwollen oder -können scheint mir ein noch schwerwiegenderes Problem zu sein als die Überlebensgefahren selber, denn, wenn die Menschen die Gefahren nicht einmal mehr sehen, kann ja nichts zu ihrer Vermeidung geschehen. Hier in den USA erscheint mir dieses Nicht-Wahrnehmen ganz bewusste Politik derer, die mit dem, d.h. ihrem, Status quo zufrieden sind.“72

Doch obwohl Herz einerseits ein tief pessimistisches Menschen- bzw. Zivilisationsbild entwickelt hatte, glaubte er andererseits noch immer an die Möglichkeit, das menschliche Verhalten in die richtige, auf Nachhaltigkeit zielende Richtung zu lenken.73 Gerade der Wissenschaft wies Herz dabei eine 68

Deutsche Ausgabe: Dennis L. Meadows et al. (Hrsg.), Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Reinbek bei Hamburg 1973. 69 Offizieller lautete der Titel der Studie „Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer“, Bericht der Nord-Süd-Kommission, Köln 1980. 70 Global Future: Time to Act. Report to the President on Global Resources, Environment and Population, Washington. D. C. 1981. 71 Vgl. Herz, An Internationalist’s Journey through the Century, S. 255. 72 Herz an Ossip K. Flechtheim, 23. Januar 1998, NL Ossip Flechtheim (131), Deutsches Exilarchiv. 73 Vgl. Herz, On Human Survival (2006), S. 20: „Beginning three or four centuries ago, Enlightement ideas and movements have managed to create real progress in system and societies. [. . .] And this trend could well become the basis for an effective approach to the solution of survival threats.“

III. Wahrnehmung, Weltbilder und „Survival Research“

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zentrale Rolle zu. Seit seiner Abkehr von der „Reinen Rechtslehre“ hatte er deren Aufgabe immer auch darin gesehen, normativ zu wirken und eine klare Position hinsichtlich des „Sollens“ zu beziehen. Der Wissenschaftler sei ein „image maker“74, der das Bewusstsein derjenigen, die weniger spezialisiert seien, aktiv gestalten müsse. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1978 schrieb er: „Because in today’s world, for the first time, the survival of all is in jeopardy, even those who like myself are value relativists (i. e. believe that, in principle, no „ought“ can be derived from an „is“) can agree that, if certain values became so overwhelmingly important that their non-recognition appears absurd to practically everybody engaging in human discourse, those values can be posited as certain, or undeniable. Where the alternative to the „ought“ denotes physical extinction of the entire human race, survival, not of individuals or specific groups but of mankind as such, becomes an absolute value.“75

An anderer Stelle hieß es: „I venture to assume that even Max Weber, faced with today’s vanishing protective capability of the state, would have defined his ethics of responsibility as one of universal rather than national concern.“76 Auch ein Werterelativist müsse, so Herz, den Wert des Überlebens als vorrangig einschätzen, da ohne ihn alle anderen Werte bedeutungslos würden. Wie bereits in International Politics in the Atomic Age, wo er seine Universalismus-Theorie erstmals entwickelt hatte, setzte er also voraus, dass das Überleben der Menschheit einen absoluten Wert darstellt, der sich allen Menschen unmittelbar erschließt. Zunehmend stellte sich Herz in dieser Periode allerdings die Frage, ob es so etwas wie objektive Realität und ideologiefreie Wissenschaft überhaupt geben könne. Er selbst sprach in den späten 1970ern davon, seine eigenen theoretischen Grundauffassungen im letzten Jahrzehnt erneut verändert und vertieft zu haben. Tatsächlich betonte er die Bedeutung der individuellen Wahrnehmung immer stärker und stellte alles unter einen Relativitätsvorbehalt. Konstruktivisten, die Herz als einen der ihren deklarieren möchten, knüpfen meist an Texte aus dieser Zeit an.77 De facto griff Herz auf Über74

Herz, An Internationalist’s Journey through the Century, S. 247. Herz, Technology, Ethics, and International Relations, in: Social Research, Vol. 43, No. 1, Spring 1976, S. 98–113, S. 107. 76 So Herz in einem unveröffentlichten Manuskript mit dem Titel „The Responsibility of a Political Scientist in an Age of Threatened Survival“. Das Manuskript, im Jahr 1984 entstanden, wurde bezeichnenderweise von Political Science & Politics (PS) mit der Begrünung abgelehnt, es handle sich um ein „opinion piece“, das zu starke Werturteile vertreten würde. Eine Kopie des Manuskripts wie auch die Korrespondenz zwischen PS und Herz findet sich im NL Ossip K. Flechtheim (131), Deutsches Exilarchiv. 77 Diesen Interpretationsansatz verfolgt vor allem Casper Sylvest, John H. Herz and the Resurrection of Classical Realism, in: International Relations, Vol. 22, No. 4 (2008), S. 441–55. 75

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legungen zurück, die ihn schon in den späten dreißiger Jahren in Princeton beschäftigt hatten, als er erstmals über die Rolle von Wahrnehmung und Weltbildern sinnierte. Ein Absatz aus einem Brief an Christian Hacke macht seine Position sehr anschaulich: „Immer mehr erscheint mir, dass es zum wissenschaftlichen Studium der internationalen Beziehungen einer Art ‚kantischer‘ Revolution in der Frage ‚Was ist Realität‘ bedarf. Die Welt ist ‚wirklich‘ so wie sie uns, d.h. vor allem, den Handelnden erscheint. Diese Erscheinungswelt ist es, die den Grund angibt dafür, welche Welt-Vorstellungen und Welt-Anschauungen die Akteure (sowie die ‚attentive publics‘) sich bilden, in diesem Sinne sind alle Vor- und Einstellungen ‚Ideologien‘. Dazu gehören auch die Vorstellungen (Begriffe), die, mehr oder weniger unbewusst, die Grundstruktur der Welt (wie sie jeweils den Menschen erscheint) ausmachen, wie System (Gleichgewichte, ‚imperiales‘ System etc.), Macht, Nation, Staatsinteresse, etc. Der Realismus Morgenthaus z. B. ist eine der möglichen ‚realistischen‘ Einstellungen (meine eigene betreffend das Sicherheitsdilemma ebenfalls). Es erscheint mir daher jetzt als eine der Hauptaufgaben einer Theorie der int. Beziehungen, die verschiedenen, realistischen wie idealistischen ‚Schulen‘ einer solchen ‚Ideologiekritik‘ zu unterwerfen.“78

Genau diese „Ideologiekritik“ erfolgte in den 1980er Jahren durch die ersten Arbeiten von Nicolas Onuf und Alexander Wendt, aus denen sich die konstruktivistische Schule der Internationalen Beziehungen entwickelte.79 Obwohl die Betonung der Relativität der menschlichen Wahrnehmung auch schon in Herz’ früheren Schaffensphasen vorhanden war und seinem Denken ein „konstruktivistisches“ Element stets innewohnte, gewann beides nun eine neue Dimension. Realität war nach Herz nunmehr alleiniges Ergebnis der Wahrnehmung, wobei unterschiedliche Weltbilder jegliche Wahrnehmung formten.80 Eine Tatsache, die gerade für die internationalen Beziehungen und die Außenpolitik der Nationalstaaten eine zentrale Rolle spielte: „As for perception, its role in foreign-policy making can hardly be exaggerated“81. Die Vorstellungen, die man sich von der Welt machte, hatten nach Herz entscheidende Auswirkungen auf das praktische Handeln. Er bemängelte, dass die Rolle von Weltbildern bei der wissenschaftlichen Ana78

Herz an Christian Hacke, 2. Februar 1979, Box 2, General Correspondence 1977–1979 [Ordner], Herz Papers. 79 Mit dem Buch World of Our Making führte Nicholas Onuf den Begriff des „Konstruktivismus“ in die Diskussion ein. Während auf diese Pionierleistung meist nur kurz Bezug genommen wird, gilt Alexander Wendt als derjenige, der den Begriff prominent gemacht hat. Vgl. Nicholas Onuf, World of Our Making: Rules and Rule in Social Theory and International Relations, Columbia 1989. 80 Vgl. auch das unveröffentlichte Vortragsmanuskript „Role of the United States in International Relations“, insbesondere S. 1. 81 Herz, Relevancies and Irrelevancies in the Study of International Relations, S. 40.

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lyse meist vernachlässigt werde und wollte selbst dafür Sorge tragen, hier Abhilfe zu schaffen. In seinen späteren Aufsätzen kam er immer wieder auf die „Bewusstwerdung“ von Weltbildern zurück. 1980 argumentierte er in eine ähnliche Richtung wie Alexander Wendt in seinem berühmt gewordenen Aufsatz von 1992, „Anarchy is what States Make of it: The Social Construction of Power Politics“,82 der schulbildend für den Konstruktivismus wurde. Herz schrieb, Staaten, Nationen, das Mächtegleichgewicht, etc. seien nur deshalb „solche ‚Realitäten‘, weil wir gewohnt sind, sie als ‚Gegebenheiten‘ anzusehen. Für den kritischen Betrachter ergibt sich die Welt der internationalen Beziehungen mit ihren ‚Systemen‘ und ‚Akteuren‘, ‚Gruppierungen‘ und ‚Konflikten‘ aus der Struktur oder Gestalt, die wir, die Beobachter und Teilnehmenden, der Welt durch unsere Art und Weise, sie zu betrachten, verleihen.“83

Wendt drückte den gleichen Gedanken Jahre später wie folgt aus: „There is no ‚logic‘ of anarchy apart from the practices that create and instantiate one structure of identities and interests rather than another; structure has no existence or causal powers apart from process.“84 Wie aus beiden Zitaten deutlich hervorgeht, sehen ihre Verfasser Realität als durch die individuelle Wahrnehmung konstruiert an. Beide nehmen von der rationalistischen Annahme Abstand, Interessen und Identitäten seien exogen vorgegeben. Struktur wird verliehen, sie ist nicht a priori vorhanden. Herz geht jedoch nicht so weit, alles als subjektiv oder relativ zu bewerten. Dennoch sei es ein entscheidendes Charakteristikum der Realität der internationalen Beziehungen, dass die Aktionen und Reaktionen der Handelnden, die sich aus Wahrnehmung und Interpretation ergäben, „die reale Welt verändern, aus ihr etwas anderes machen als das, was sie vorher war.“85 Auch in dieser Beziehung hatte er zu diesem Zeitpunkt längst den Boden des außenpolitischen Realismus verlassen. Nur wenn man sich dieses konstruktivistische Element des Herzschen Denkens vor Augen führt, kann man verstehen, warum er so fest an die Möglichkeit glaubte, durch eine veränderte Wahrnehmung der neuen globalen Probleme und ihrer Folgen die konkrete Politik zu verändern. Nur so kann man auch verstehen, warum seine Darstellung der Problematik mitunter ins Apokalyptische abglitt. Er wollte sicher gehen, dass die Dringlichkeit der Situation auch wirklich ins Bewusstsein seiner Leser eindrang. Je 82 In diesem Aufsatz bezeichnete er seinen theoretischen Ansatz erstmalig in Anlehnung an die Begriffsprägung, die Nicholas Onuf vorgenommen hatte, als „konstruktivistisch“. Vgl. Wendt, Anarchy is What States Make of It, S. 393. 83 Herz, Weltbilder und Bewusstwerdung, S. 4. 84 Wendt, Anarchy is What States Make of It, S. 394 f. 85 Herz, Weltbilder und Bewusstwerdung, S. 5.

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dramatischer er die Situation schilderte, so seine Annahme, desto eher würden die Menschen verstehen: „Wenn es aber um das Ganze geht, so muss auch ein unwahrscheinlicher worst case, Schlimmstfall, für das abwendende Handeln in Betracht gezogen werden. Wie Hans Jonas jüngst aufgeführt hat, gehört in einer Menschheitsüberlebenssituation ‚der Vorrang der schlechten vor der guten Prognose‘. Ein realistisch bleibender Pessimismus kann dann klarmachen, woran wir sind, und dann das Nötige, das Tun, veranlassen.“86

Dieser Pessimismus entsprach der Herzschen Natur, war aber auch der besonderen Bedrohungslage geschuldet, die er identifizierte. Allein die Möglichkeit, dass nur wenig dazu ausreichte, Armageddon herbeizuführen, war ihm Anlass genug, ausgehend von einem „Worst Case“-Szenario zu argumentieren. Da Weltbilder auf der Grundlage von Information und Kommunikation geformt wurden, sah er es als Aufgabe seiner Zunft an, hier erzieherisch tätig zu werden und das richtige (für ihn gleichzusetzen mit „universalistische“) Bewusstsein zu schaffen. Herz nahm an, dass jeder Wissenschaftler eine konkrete Verantwortung gegenüber der menschlichen Gemeinschaft hatte, in der er lebte. Dies gelte in besonderem Maße für die Internationalen Beziehungen und verwandte Disziplinen: „Perhaps more than in any other field of scholarship and research, those engaged in international affairs must substitute for the ideal of the uncommitted, ivory-tower researcher that of homme engagé if not homme révolté.“87 Dabei setzte er große Hoffnungen in die junge Generation.88 Als zukünftige politische Entscheidungsträger oder Meinungsmacher konnten sie als Leitfiguren der universalistischen Bewegung dienen, wie er dies bereits in International Politics in the Atomic Age angedacht hatte89: „Students of international affairs, first of all, must become aware and then make decision makers aware of the world trends and crises in all their com86

Herz, unveröffentlichtes Manuskript einer Rede anlässlich des Erscheinens von „Vom Überleben“ am 26.9.1984 in Düsseldorf, Box 14, Herz Papers. Herz bezieht sich hier auf Jonas’ Buch Das Prinzip Verantwortung. 87 Herz, Relevancies and Irrelevancies in the Study of International Relations, S. 30. 88 Vgl. Herz, The Security Dilemma in International Relations: Background and Present Problems, S. 413: „[S]tudents of international relations have an obligation, so I believe, to search for improvement.“ 89 In International Politics in the Atomic Age hatte Herz vorgeschlagen, eine Art internationalen „Civil Service“ als Vorreiter einer universellen Klasse im Sinne Hegels zu gründen. Herz erwartete, dass sich universelle Haltung einstellen würde, bei denjenigen, „who are gripped by a sense of responsibility and concern for the future and who, at the same time, possess the broadness of vision which is required to grasp the common survival interest of mankind.“ Vgl. Herz, International Politics in the Atomic Age, S. 327.

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plexity.“90 „Awareness“ wurde für Herz zum zentralen Schlüsselbegriff.91 Umso größer war seine Enttäuschung, als er mit seinen Ideen in der praktischen Politik auf wenig Rückhalt stieß. Herz glaubte, dass es den meisten Menschen schwer falle, zu erkennen, dass auch globale Interessen langfristig nichts anderes seien als die ureigensten Interessen eines jeden.92 Dennoch war er der Meinung, dass sich hier Abhilfe schaffen ließe. Vielleicht sei das Bewusstsein der Menschen für das Ausmaß der neuen Probleme einfach noch nicht weit genug entwickelt, und es sei deshalb noch nicht zu einer großen Wende in der internationalen Politik gekommen, spekulierte er. Mit Besorgnis wies Herz auf den „Gewöhnungseffekt“ hin, der dazu geführt habe, dass die Menschen mit den neuen Gefahren lebten, ohne sie tatsächlich als bedrohlich zu empfinden. Hier sei es die Aufgabe der Wissenschaft, jenes Bewusstsein wieder wach zu rufen.93 Wenn die politischen Entscheidungsträger erst einmal erkannten, dass niemand verschont bliebe, sollten die neuen globalen Probleme überhand nehmen, würden sie endlich aktiv werden. Weitere Aufklärung war also dringend vonnöten, und Herz wollte seinen Teil dazu beitragen. Dazu opferte er sogar erhebliche eigene finanzielle Mittel und veranstaltete am 28. März 1988 an der New Yorker City University ein Symposium mit dem Thema „Global Survival“. Die kleine Anekdote, mit der Herz die Teilnehmer seines Symposiums begrüßte, verrät einiges über den Veranstalter. Herz witzelte: „You may perhaps ask why should an oldster like me be so worried about survival? Actually I am so worried that my dear friend Professor Rivlin suggested the other day I make myself a sandwich-man and work 42nd street and have one board proclaiming: ‚Prepare, the world is coming to an ending‘, the other board saying ‚If you want to survive, come to our symposium‘. Anyway, the weather was so bad I didn’t go.“94

Die Beschäftigung mit den neuen globalen Problemen und ihren Folgen für die Menschheit war Herz inzwischen zum Lebensinhalt, aus Beruf war Berufung geworden. 90

Herz, An Internationalist’s Journey through the Century, S. 257. Vgl. z. B. Herz, Weltbilder und Bewusstwerdung, S. 3 und Political Realism Revisited, S. 196. Ferner Herz, Reflections on My Century, S. 10. 92 Vgl. Herz, On Human Survival (2003), S. 137. 93 Vgl. ebd. 94 Vgl. die einführenden Bemerkungen von John H. Herz mit dem Titel „The Academy and Human Survival“ (unveröffentlichtes Manuskript), anlässlich des auf seine Initiative veranstalteten Global Survival Symposiums, 28. März 1988, City University of New York. Die Vorträge wurden auf Kassetten festgehalten, die sich in Box 6 der Herz Papers befinden. 91

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Vielen seiner Kollegen erschienen seine Sorgen exzessiv und übertrieben zu sein. Herz’ Antipode war, wie schon bei der Debatte um die Nuklearstrategie, erneut Herman Kahn. 1976 hatte Kahn mit zwei Mitarbeitern das Buch The Next 200 Years95 veröffentlicht, welches er als Reaktion auf die „doomsday literature“96 der Neo-Malthusianer verstand, zu der er The Limits of Growth, The Population Bomb97 und ähnliche Bücher zählte, deren Tenor genau den Herzschen Veröffentlichungen entsprach. Den Anhängern der „Limits of Growth“-Auffassung hielt Kahn entgegen, das Potential von Kapitalismus und Technologie sei grenzenlos: „Any limits of growth are more likely to arise from psychological, cultural or social limits to demand, or from incompetence, bad luck and/or monopolistic practices interfering with supply, rather than from fundamental physical limits on available resources.“98 Schon die bestehende Technologie reiche aus, um einer Bevölkerung von 20 Milliarden Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Mit Hilfe der Technik gelänge es außerdem, die Umweltprobleme in den Griff zu bekommen. „In twenty-five years you can fix every problem in America – pollution, growth, traffic, housing – you name it.“99 Der Zukunftsoptimismus und die Fortschrittsgläubigkeit Kahns und Herz’ düstere Untergangsszenarien stehen stellvertretend für die beiden Extreme in der Bewertung des technologischen Fortschritts durch die amerikanische Politikwissenschaft. Herz jedenfalls sah in der Verbreitung und Veröffentlichung seiner Mahnungen seinen eigenen bescheidenen Beitrag im menschlichen Überlebenskampf. Sein Symposium nahm sich insbesondere der Frage an, warum es – trotz der Vielzahl warnender Veröffentlichungen – bisher nicht gelungen war, einen entscheidenden Politikwandel herbeizuführen und wie die Wissenschaft einen solchen Wandel befördern konnte. Das größte Problem bestand für Herz in der Komplexität der neuen globalen Probleme. Er argumentierte, dass man ihre Auswirkungen eigentlich nur richtig verstehen könne, wenn man sie von verschiedenen Seiten betrachte. Weil sich jeder Wissenschaftler dem Problem immer nur aus dem ihm eigenen Blickwinkel nähere und l’art pour l’art betreibe, fehle ihm das Gesamtbild – und damit das Verständnis für die wirkliche Bedrohung.100 95 Herman Kahn/William Morle Brown/Leon Martel, The Next 200 Years: A Scenario for America and the World, New York 1976. 96 Ebd, S. viii. 97 Paul R. Ehrlich, The Population Bomb, New York 1968. 98 Kahn et al., The Next 200 Years, S. 181. 99 Herman Kahn, On Economic Growth, Energy and the Meaning of Life, in: Robert Bundy, Images of the Future. The Twenty-First Century and Beyond, Buffalo 1976, S. 96–114, S. 110. 100 Vgl. Herz, Relevancies and Irrelevancies in the Study of International Relations, S. 29.

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Herz schlug daher Mitte der 1980er Jahre anlässlich der jährlichen Konferenz der City University im Bereich Politikwissenschaft erstmals vor, einen neuen, interdisziplinären wissenschaftlichen Zweig unter dem Namen „Survival Reserach“ ins Leben zu rufen, der sich ganz den Überlebensfragen widmen sollte.101 Survival Research“ sollte dabei eindeutig an der praktischen Politik orientiert sein und klare Handlungsanweisungen vorgeben. In einem Artikel mit dem Titel „On Human Survival“, der zwei Jahre vor seinem Tod erschien, führte er seine Vorstellungen eines solchen interdisziplinären Studienfaches weiter aus: „Survival Research must rise above the specific concerns, interests, even expertise, of any particular discipline, such as political science. It must be interdisciplinary, requiring the cooperation of any and all the social sciences with other scientific disciplines, such as psychologists, demographers, agronomists, biologists, climatologists, physicists, medical sciences, and so forth, even theologians. In doing so, it must mobilize experts in the various fields so as to make them recognize the superdisciplinary concerns of global survival to which priority must be given over and above (and, possibly, in contrast to) the more parochial concerns of this or that national, economic, religious, or similar grouping.“102

Herz sah „Survival Research“ als Teil der universalistischen Bewegung, wobei er „Universalismus“ inzwischen ausdrücklich auch als „neue Ethik des sozialen und politischen Handelns“ verstand.103 Wie bereits angeklungen ist, befand sich Herz mit seinen Überlegungen in geistiger Nähe zu Hans Jonas, den er persönlich sehr schätzte104 und der im Prinzip Verantwortung ebenfalls versucht hatte, eine Ethik für die technologische Generation zu entwickeln. Eine solche Überlebensethik sollte nach Herz dazu dienen, den Menschen ein Gefühl dafür zu vermitteln, dass ihre eigenen Handlungen tatsächlich einen Unterschied auf globaler Ebene machten. Jeder sollte sich als Teil der internationalen Gemeinschaft begreifen, bei dem das Schicksal aller anderen Menschen untrennbar mit dem eigenen verbunden sei. In diesem Sinne gab es für Herz keinen Anlass mehr für ein realistisches Freund-Feind-Denken im Sinne Carl Schmitts. Veraltete 101

Vgl. Herz, On Human Survival (2003), S. 136. Herz argumentierte hier, dass sich „Survival Research“ an der sich gerade herausbildenden Holocaust-Forschung orientieren sollte: „If a holocaust that cost the life of six millions deserves a special scholarly approach (and it certainly does deserve it), the threat of a universal holocaust should cause on the part of professionals – political scientists and others – special effort to study ways and means to prevent it.“ Schon 1971 hatte er dafür plädiert, zukünftig nur noch zukunftsorientierte und zukunftssichernde Forschung zu betreiben, ohne diesen Ansatz allerdings explizit „Survival Research“ zu nennen. Vgl. Herz, Relevancies and Irrelevancies in the Study of International Relations, S. 29. 102 Herz, On Human Survival (2003), S. 140. 103 Alle drei Zitate Herz, Vom Überleben, S. 183. 104 Vgl. ebd., S. 136.

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Feindbilder sollten stattdessen aufgegeben und durch Gemeinsamkeiten ersetzt werden. Hinsichtlich der praktischen Umsetzbarkeit seiner Vorschläge gab Herz allerdings zu, dass „considerable pessimism“105 angemessen sei. Ob die Menschen letztendlich tatsächlich den Geboten der Vernunft gehorchen, die nötigen Opfer erbringen und einen radikalen Wandel ihrer Lebensweisen in Kauf nehmen würden, sei nicht gesagt. Die Chancen dafür stünden zunehmend schlechter. Diese Erkenntnis hielt Herz allerdings nicht davon ab, seine Warnungen und Aufforderungen unvermindert zu verbreiten, im Gegenteil.

IV. Zwischenfazit Als überzeugter Völkerrechtler hatte Herz in jungen Jahren begonnen, die internationalen Beziehungen zu erforschen. Im Genfer Exil hatte er am eigenen Leib die Auswüchse der Machtpolitik kennen gelernt und sich daraufhin zum desillusionierten Realliberalisten gewandelt. Mit Beginn des Atomzeitalters hatte er aufgrund des neuen atomaren Zerstörungspotenzials und der bipolaren Struktur des internationalen Systems seine Position neu überdacht und war zu einem „Universalisten“ geworden. Nun sah er sich mehr und mehr als Überlebensforscher, der sich völlig dem „Survival Research“, der Wissenschaft vom Überleben, verschrieb. Bis zu seinem Lebensende beschäftigte ihn die Frage, wie man die Zukunft der Menschheit angesichts neuer Bedrohungen sicherstellen und den Kampf um die letzten Krumen vermeiden konnte. Herz sah dafür nur einen Ausweg, den er bereits in International Politics in the Atomic Age aufgezeigt hatte: Universalismus, verbunden mit einer globalen Überlebensethik – also die weltweite Einsicht in die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens und ein damit verbundener tiefgreifender Wandel des menschlichen Bewusstseins und des Lebensstils in allen Aspekten. In diesem Zusammenhang plädierte er früher als die meisten, insbesondere die meisten Realisten,106 für einen erweiterten Sicherheitsbegriff unter Berücksichtigung der so genannten „soft security issues“107 und für 105

Herz, Technology, Ethics, and International Relations, S. 109. Ein typisches Kennzeichen des Realismus ist es, sich auf die militärischen Aspekte von Sicherheit zu beschränken. Dies liegt daran, dass die militärischen Potentiale von Staaten für die Frage der systemweiten Machtverteilung einen höheren Stellenwert einnehmen, als die anderen Potentiale, über die Staaten verfügen. Vgl. z. B. die Argumentation von Kenneth N. Waltz, The New World Order, in: Millenium: Journal of International Studies, Vol. 22, No. 2/1993, S. 187–195, S. 192. 107 Die Abkehr von einem rein staatszentrierten Sicherheitsbegriff, der sich ausschließlich um militärische Sicherheit bzw. „hard security“ dreht, wurde in den In106

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eine Aufwertung von „low politics“108. Wie er schon in International Politics in the Atomic geschlussfolgert hatte, schienen ihm die Instrumente des traditionellen Realismus nicht mehr auszureichen, um eine tatsächlich realistische, im Sinne von „an der Wirklichkeit orientierte“, Analyse der internationalen Beziehungen vorzunehmen. In dem Maße, in dem die Bedrohung des menschlichen Habitats seinem Empfinden nach wuchs, nahm auch die normative Dimension seiner Arbeit immer ausgeprägtere Züge an. Seit den 1960er Jahren betonte er die Notwendigkeit einer aufgeklärten Politik unter Berufung auf die menschliche Vernunft zunehmend stärker.109 Je größer die Gefahr war, desto lauter erhob er die Stimme, und desto radikaler wurden seine Forderungen. Ein erster Blick auf sein Denken könnte Herz aufgrund der besonderen Flexibilität, mit der er auf Veränderungen im internationalen System gedanklich reagierte, den Vorwurf der Beliebigkeit einbringen. So verwies beispielsweise Kenneth Thompson darauf, dass Herz’ Anpassungsfähigkeit seine Stärke, gleichzeitig aber auch seine Verwundbarkeit sei.110 Schaut man sich die Entwicklung des Herzschen Denkens allerdings genauer an, so fällt auf, dass der Kern seiner Argumentation sich im Laufe der Zeit nicht veränderte. Das Ziel, eine an den Idealen des Liberalismus orientierte Theorie zu entwickeln, die von einer realistischen Weltsicht ausgeht, behielt er zeitlebens bei. Herz beschwor stets das „realisierbare Ideal“, welches er indes nie wirklich konkret ausgestaltete. Allerdings wurden die Anforderungen, die er an ein solches „realisierbares Ideal“ stellte, immer höher und das Maß an Veränderung, das er anstrebte, wuchs ständig. Dabei betonte er stets, dass allein der unverstellte Blick auf die eigenen Interessen den Menschen deutlich zu erkennen geben müsse, dass „Universalismus“ der einzig gangbare Weg sei, wolle man das eigene Fortbestehen garantieren.111 Obwohl er, wie oben gezeigt, auch ethisch argumentierte, versuchte er, „Universalismus“ in erster Linie mit Hilfe des Interessenbegriffs zu begründen. Dies begegnete dem Leser bereits in Herz’ ersten Ausführungen zur internationalen Politik, als er 1942 das Prinzip der kollektiven Sicherheit mit Hilfe des aufgeklärten Eigeninteresses und eines reaternationalen Beziehungen erst nach dem Ende des Kalten Krieges auf breiter Basis diskutiert. 108 Herz an John Weltman, 12. Dezember 1975, Box 2, General Correspondence 75–77 [Ordner], Herz Papers: „As a matter of fact, I tend more and more to believe that the problems of ‚low‘ politics (especially in their global range) now have (or should have) priority over ‚power politics‘ and considerations of force.“ 109 Zu diesem Schluss kommt auch Griffiths, S. 16. 110 Vgl. Thompson, Masters of International Thought, S. 111. 111 Vgl. Herz, Relevancies and Irrelevancies in the Study of International Relations, S. 45.

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listischen Vokabulars rekonstruierte. „I did not preach becoming ‚altruistic‘ and basing policy on ‚moral principles‘, but pleaded for substituting enlightened long-range interest for the immediate parochial one“112, bekräftigte er 1981. Realpolitik im Überlebenszeitalter bedeutete für Herz einfach, „das Staatsinteresse im überkommenen Sinne den universalen Interessen am gemeinschaftlichen Überleben unterzuordnen, oder, anders formuliert, Staatsinteressen nicht mehr als Gegensatz zu internationalistischen Idealen zu sehen, sondern als mit ihnen verflochten.“113

Daher bezeichnete er seine Position bis zum Ende seines Lebens noch als realistisch und verglich sich mit George F. Kennan, der im Alter eine ähnliche Position wie er selbst vertrat.114 Indem er die Begründung seiner Theorie durch den Interessenbegriff als alleiniges Indiz für die realistische Qualität seines Ansatzes nahm, machte er es sich jedoch deutlich zu einfach. Der Begriff steht bei ihm ausschließlich synonym für „wirklichkeitsgerecht“, nicht bezogen auf die theoretische Tradition der realistischen Denkschule. Diese umfasst jedoch weitaus mehr als nur „Interessen“ – und selbst Interessen sind dort nicht einheitlich definiert. Während „nationale Interessen“ beispielsweise im klassischen Realismus als Grundbedürfnisse eines bestimmten Staates verstanden werden, die zugleich Maßstab für den Erfolg der Bedürfnisbefriedigung sind, ergeben sich Interessen im strukturellen Realismus grundsätzlich aus der Position eines Staates im internationalen System.115 Ihn auf Basis all seiner späteren Überlegungen noch einen Realisten nennen zu wollen, ist insgesamt sicherlich nicht zu rechtfertigen, auch wenn er selbst sich noch als solcher verstand. Dies bemerkte auch Richard Ashley: „Realists will decry as idealistic, dangerous, or dangerously idealistic those programs and practices, as advocated by ‚ecological holists‘ and others, that would transcend the fragmented world of power politics.“116 Herz konzentrierte sich zunehmend auf die Frage, wie die Wirklichkeit beschaffen sein sollte, um das globale Überleben zu sichern. Dabei verlor er aus den Augen, wie die internationalen Beziehungen tatsächlich beschaffen waren. Mehr und mehr tat sich zwischen der Realpolitik und Herz’ Anspruch eine breite Kluft auf. 112 John H. Herz, Political Realism and Human Interests, in: International Studies Quarterly, Vol. 25, No. 2, 1981, S. 237–241. 113 Herz, Amerikanische Außenpolitik im Wandel, S. 8. 114 Herz berief sich dabei auf Kennans Aufsatz „Morality and Foreig Policy“, der in der Winterausgabe 1985/86 in Foreign Affairs erschienen war. 115 Vgl. Alexander Siedschlag, Internationale Politik als skeptische Gegenwartswissenschaft und die Münchner Schule des Neorealismus, in: Ders. (Hrsg.), Realistische Perspektiven internationaler Politik. Festschrift für Gottfried-Karl Kindermann zum 75. Geburtstag, Opladen 2001, S. 13–66, S. 47. 116 Vgl. Ashley, S. 205.

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Mit zunehmendem Alter entwickelte er sich zu einem Radikalen, dessen Ansichten den Grundprinzipien der amerikanischen Demokratie bisweilen entgegenstanden. So forderte er unter anderem eine Regulierung und Begrenzung des freien Marktes und argumentierte, die „ungeheure Verschwendung, die der kapitalistischen Wirtschaft und insb. ihren multinationalen Unternehmungen und Riesenkonglomeraten eigen“ sei, müsse „haushälterischer Beschränkung“ weichen.117 Eine auf das Überleben abzielende globale Politik sah aus seiner Sicht den Aufbau eines rationalen Planungssystems vor, welches umfassende Eingriffe in die individuellen Lebenssphären und Lebensweisen und in alles, was gemeinhin als privat angesehen werde, umfasse. Dies mache ein Anwachsen der öffentlichen Gewalt gerade auch im Westen unabdingbar.118 Herz, der sich sein Leben lang als Liberaler verstanden hatte, vertrat hier Positionen, die der kommunistischen Ideologie sehr viel näher standen, als den Werten der Aufklärung. Er selbst jedoch lehnte jedwede Klassifizierung in diese Richtung ab. Denn in der Zukunft, so schrieb Herz im Jahr 1974, würden „selbst solche elementaren Alternativen wie ‚Kommunismus‘ und ‚Kapitalismus‘, ‚Imperialismus‘ und ‚Sozialismus‘ durch das Umweltproblem (im weitesten Sinne verstanden) relativiert.“119 Dass der kommunistische Block allerdings friedlich implodieren würde, war zu dieser Zeit völlig außerhalb seiner Vorstellungskraft.

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Alle Zitate aus Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 30. Ebd., S. 33. Ebd., S. 30.

„Für einen Alten wie mich ist es geradezu dramatisch, mitzuerleben wie sich ein System und eine Weltanschauung wie der Kommunismus erst, 1917, zu einem Weltereignis ersten Ranges entwickelte, dann die Welt in unerhörte Hoffnungen und Gefahren verwickelte, um dann, so plötzlich wie es entstand, in die Versenkung zu verschwinden.“1 (John H. Herz)

H. John Herz und die „Zeitenwende“ von 1989/90 Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, war Herz 81 Jahre alt. Noch im Deutschen Kaiserreich geboren, hatte er Aufstieg und Fall der Weimarer Republik sowie die Machtergreifung Adolf Hitlers persönlich erlebt und den Untergang des Dritten Reiches und die anschließende deutsche Teilung aus der Emigration verfolgen können. Die „Wende“ kam für ihn nun völlig überraschend: „Und plötzlich fällt die Bipolarität sozusagen von selber weg.“2 Am Abend des Mauerfalls befand er sich im Zentrum der Ereignisse, in West-Berlin, wo er gerade seinen Freund Flechtheim besuchte, und wo er alsbald mitgerissen wurde vom Strudel der Ereignisse. Sein Zeitzeugenbericht dieser bewegten Tage ist voller widersprüchlicher Emotionen. Über den 9. November 1989 schrieb er: „It was like the opening of a bottle of champagne, with the masses of the imprisoned people streaming out through the wall (as they did at all other points of access to the West, i. e. West-Berlin and West-Germany). . . . That night we simply shared the general emotion and the feeling of relief over a revolution that, for once, meant gaining real freedom.“3

Wenige Tage später, am 18. November, verblasste diese Anfangseuphorie über die Befreiung des Ostblocks und wich einer zunehmenden Besorgnis über den Weg, den Osteuropa und besonders Ostdeutschland von nun an einschlagen würden. 1 Herz an Uwe Prell, 2. September 1991, Box 3, Correspondence 1991–1993 [Ordner], Herz Papers. 2 So äußerte er sich im Interview mit der Verfasserin am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 1. Weiter hieß es: „Die wenigsten Spezialisten auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen haben zur Zeit der Bipolarität gedacht, dass es so kommen würde, dass nämlich die eine Seite sozusagen von selber zusammenbrechen würde.“ 3 John H. Herz, Report on my trip to Germany (Frankfurt-Berlin). November 5–20, 1989, unterzeichnet am 30.11.1989, unveröffentlichtes Manuskript, Box 6, Herz Papers.

H. John Herz und die „Zeitenwende“ von 1989/90

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„[W]hile we ‚liberal democrats‘ might greet with enthusiasm the new era of freedom in Eastern Europe, we may well worry about the system that will replace the more or less totalitarian, more or less Stalinist one in those countries? Do the ‚people‘ who make the revolution know what they want (except for the negative aim of destroying the communist authoritarianism)?“4

In den oben stehenden Zeilen ist die große Unsicherheit dieser Tage deutlich zu spüren. Niemand wusste, wie es mit Europa und insbesondere den Deutschen nun weitergehen würde. Alles schien denkbar zu sein. Durch den Zusammenbruch des Ostblocks eröffneten sich aber in Herz’ Augen vor allem neue Gelegenheiten, das internationale System positiv zu verändern, und er warnte davor, diese ungenutzt verstreichen zu lassen. Seiner Meinung nach hatte sich plötzlich genau dasjenige Fenster geöffnet, das die universalistische Bewegung in einem ungeahnten Maße vorantreiben könnte. Wenn es nur gelänge, die Transformation des Ostblocks friedlich, demokratisch und vor allem nachhaltig zu vollziehen, und von Anfang an ein Bewusstsein für die neuen globalen Probleme zu vermitteln, dann wäre man der Lösung der Probleme deutlich näher, so Herz’ Hoffnung dieser Tage.5 Zunächst galt es jedoch, die im Mittelpunkt stehende deutsche Frage zu lösen. Aufgrund eines Rests an „jugendlich deutschem Patriotismus“6, den er immer noch verspürte, fiel es Herz nicht schwer, die Wiedervereinigung grundlegend zu begrüßen. Die westdeutsche Nachkriegsgeschichte symbolisierte für ihn den Triumph der Demokratie. Die Deutschen hatten offensichtlich aus ihren Fehlern gelernt und sollten nun das Recht haben, sich friedlich zu vereinigen: „Und so darf ich gestehen, dass mich das Ereignis gefühlsmäßig recht bewegt, denn das Heimatgefühl, das das ganze Deutschland, vom Rhein bis jenseits der Elbe, umschließt, hat mich selbst als jetzigen Amerikaner nie ganz verlassen; das was wertvoll war (und ist) an einer Kultur, in der man aufwuchs, bleibt ja, Gott sei Dank, bis zum Lebensende erhalten.“7

Dennoch konnte er sich beim Anblick enthusiastischer Deutscher, die „Deutschland einig Vaterland“ schmetterten und dabei die schwarz-rotgoldene Fahne schwenkten, auch eines beklemmenden Gefühls nicht erwehren.8 4

Ebd. Vgl. Herz an Christian Hacke, 6. Februar 1990, Box 1, Correspondence 1989–1991 [Ordner], Herz Papers. 6 Ebd. 7 Herz an Christian Hacke, 9. März 1990, Box 1, Correspondence 1989–1991 [Ordner], Herz Papers. 8 „I cannot help remembering crowds marching with swastika flags and shouting ‚Germany awake, Jews perish‘.“ Vgl. Herz, unveröffentlichtes Manuskript ohne Titel, ohne Datum [vermutlich Ende 1989 oder Anfang 1990 verfasst], Box 18, „Text 5

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Herz war sich sicher, dass der Wandel des internationalen Systems nach den Ereignissen von 1989/90 tiefgreifend sein würde. Über das tatsächliche Ausmaß der Veränderungen war er sich jedoch nicht im Klaren. Sein gesamtes Weltbild geriet dadurch ins Wanken. Vor allem erschien es ihm kompliziert, das neue internationale System in eine kohärente Theorie zu fassen: „Wie überhaupt soll man als Theoretiker der Internationalen Politik den neuen Zustand interpretieren? Was ich seinerzeit in International Politics in the Atomic Age von mir gegeben habe, kann ich heute nicht mehr als richtig, zumindest nicht mehr als ausreichend empfinden. Das ‚Sicherheitsdilemma‘ als Grundmotiv im Handeln der ‚international units‘: gewiss; aber was bedeutet es jetzt, wo . . . das traditionelle Machtsystem, d.h., das Machtgleichgewicht, gar nicht mehr besteht? Und welche Rolle spielt dann noch das Strategische der Einzelstaaten, das Element ihrer ‚Sicherheit‘, etc. etc.? Ein Königreich für einen neuen Morgenthau.“9

Als am 21. November 1990 der Kalte Krieg offiziell beigelegt wurde, begann für Herz daher – wieder einmal – eine völlig neue Ära in der internationalen Geschichte, die er als „era of uncertainty“10 bezeichnete. In einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Jahr 1992 schrieb er, im Wirrwarr der Ereignisse wisse niemand genau, welche neuen Herausforderungen die Zeitenwende mit sich bringe, geschweige denn, dass jemand die passenden Antworten und außenpolitischen Strategien bereithielte.11 Francis Fukuyamas Gedanke der „End of History“12 jedenfalls schien ihm damals ein zu simplizistischer Ansatz zu sein, um die tatsächlichen Entwicklungen Anfang der 1990er Jahre zu beschreiben.13 Statt zunehmender Demokratisierung und wachsender Stabilität,14 wie Fukuyama dies vorhergesagt hatte, erwartete Herz gerade die Destabilisierung des internationalen Systems. of and Material on Papers at CUNY Political Science Conferences, 1986, 1989, 1990 and other CUNY conferences and other Essays“ [Ordner], Herz Papers. 9 Herz an Christian Hacke, 5. April 1990, Box 1, Correspondence 1989–1991 [Ordner], Herz Papers. 10 Herz’ unveröffentlichtes Manuskript „Political Realism – Can it Survive the Global Survival Threats?“, S. 1. 11 Vgl. ebd. S. 2. 12 Vgl. Francis Fukuyama, The End of History?, in: The National Interest, No. 16, Summer 1989, S. 3–18. 13 Vielleicht, so spekulierte Herz, sei es in Wahrheit genau umgekehrt. Statt wie Fukuyama automatisch von einem Umschlagen des Kommunismus in eine liberaldemokratische Wirklichkeit auszugehen, könne am Ende auch Faschismus oder ethnischer Autokratismus stehen. Dies geht aus Herz’ unveröffentlichten Aufzeichnungen hervor, die vermutlich auf November 1989 zu datieren sind. Vgl. „Notes (Hacke)“ (unveröffentlichtes Manuskript), ohne Ort, ohne Datum, Box 17, Lectures at Bundeswehrhochschule Hamburg (March 1989) and at Frankfurt University (November 1989) (and related material) [Ordner], Herz Papers. 14 Hier ist jedoch anzumerken, dass auch Fukuyama nicht davon ausging, das Ende der Geschichte ziehe unverzüglich das Ende aller Konflikte nach sich. Er un-

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Diese Destabilisierung musste allerdings nicht unbedingt negative Konsequenzen haben – im Gegenteil. Herz sah nun endlich die historische Chance für die Verwirklichung der universalistischen Wende in den internationalen Beziehungen gekommen. Während die Erfindung der Atombombe und die entstehende Bipolarität seine Idee eines verbesserten kollektiven Sicherheitssystems nach dem Zweiten Weltkrieg überholt hatten, sah er 1989/90 plötzlich eine reale Chance zur Umsetzung seines ursprünglichen Vorschlags. Mit der Auflösung des Warschauer Paktsystems bestehe für eine andauernde Militarisierung des Westens kein Grund mehr.15 Dementsprechend sah er auch die NATO als marginalisiert an und betonte stattdessen die neue Rolle der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen.16 Er hielt es für unerlässlich, dass die Nationalstaaten zukünftig weite Teile ihrer Souveränität abgeben mussten, um ihre Sicherheit weiterhin erfolgreich zu garantieren. Denn selbst die USA als mächtigstes Land der Erde, so führte Herz damals aus, könnten die Rolle einer globalen Ordnungsmacht nicht alleine übernehmen. Dafür seien die Sicherheitsbedrohungen, beispielsweise durch unkontrollierte Proliferation von Nuklearwaffen, zu überwältigend. Durch die Abwesenheit einer zweiten Supermacht ergebe sich für die USA stattdessen die einmalige Chance, die Sicherheitsbedenken der anderen Mitgliedstaaten durch eine kooperative Politik zu minimieren und das „Sicherheitsdilemma“ durch einen institutionellen Rahmen zu bändigen.17 George H. W. Bushs Überlegungen bezüglich einer neuen Weltordnung schienen Herz Recht zu geben. Nach dem Ende der Blockkonfrontation sah er nun endlich Raum für internationale Abrüstung, einschließlich einer Reduktion der Atomwaffen, um finanzielle Mittel für die Bekämpfung von Umweltzerstörung und Klimawandel freizumachen. In diesem Sinne schlug er vor, eine Art zweiten Marshall-Plan des Westens zu entwickeln, um den Aufbau terschied stattdessen zwischen post-historischen Staaten, die den Demokratisierungsprozess bereits bewältigt hätten, und den historischen Staaten, die erst im Begriff seien, diesen Prozess zu vollziehen. Solange es noch historische Staaten gebe, sei Konflikt ein unerlässlicher Bestandteil der internationalen Beziehungen. Vgl. Fukuyama, S. 18. 15 Davon zeugt beispielsweise Herz, Nuclear Weapons, Environmental Decay, and the Vitality of Nations, in: Institute for European and International Studies Luxembourg (Hrsg.), Transcription of the Presentations and Discussions of „The Vitality of Nations: Western Europe, Eastern Europe, The United States of America and Japan in the Contemporary World“, 2nd preparatory meeting, Harvard, 27.–28. September 1990, S. 25–28, S. 26. 16 Vgl. Herz’ unveröffentlichtes Manuskript „Political Realism – Can it Survive the Global Survival Threats“, S. 2. 17 Vgl. Herz, Nuclear Weapons, Environmental Decay, and the Vitality of Nations, S. 26.

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der Dritten Welt voranzutreiben.18 Abstrakt gesprochen sollte Kooperation an Stelle von Konfrontation treten und auf allen Ebenen zum Leitmotiv für den Umgang der Staaten miteinander werden, wie dies seiner Meinung nach im neuen Denken von Hans-Dietrich Genscher und Michail Gorbatschow bereits zum Ausdruck kam, die er als außenpolitische Vorbilder betrachtete.19 Im Nachhinein galten ihm die Wendejahre als „greatest turning point“20. Am 3. Oktober 1990 schrieb er enthusiastisch an Hacke: „[Ich glaube], dass die Irak-Krise die einmalige Gelegenheit gibt, das beim Völkerbund gescheiterte und bei den Vereinten Nationen während des Kalten Krieges nicht durchführbare Experiment der Kollektivsicherheit durchzuführen, womit das Zusammenleben der Völker auf eine neue und höhere Ebene gehoben würde . . . Einen Hoffnungsstreifen sieht hier selbst der alte Pessimist und Skeptiker John Herz.“21

Die von den USA angeführte UN-Mission gegen das Regime Saddam Husseins, die auf breitem internationalen Konsens beruhte, schien diese Hoffnung zunächst zu bestätigen. Doch schon wenige Monate später erfuhr der Herzsche Optimismus durch den Ausbruch des Krieges auf dem Balkan einen herben Dämpfer. Wieder einmal hatte Herz die nationalistischen Kräfte in der Weltpolitik unterschätzt. Nicht stetig voranschreitende Vergemeinschaftung, sondern vielmehr ein umfassendes Streben nach Unabhängigkeit und Souveränität war die Folge des Aufbrechens der bipolaren Blockstruktur. In den nachfolgenden Jahren beklagte Herz nicht nur den nicht enden wollenden Krieg auf dem Balkan, sondern auch die Osterweiterung der NATO, die das russische Sicherheitsbedürfnis seiner Meinung nach noch vergrößerte. Diese Faktoren, gemeinsam mit dem Aufkommen neuer Nuklearmächte wie Indien und Pakistan, zeigten zu seiner Enttäuschung überdeutlich, dass die Staaten immer noch jenen Verhaltensmustern verhaftet waren, die er im Sicherheitsdilemma offen gelegt hatte.22 Schlimmer noch: Während des Kalten Krieges hätten sich die Nuklearwaffen in den Händen zweier Blöcke befunden, die sich gegenseitig kontrollierten und in Schach hielten. Nach dem Ende des Kalten Krieges steige die Gefahr einer unkontrollierten Proliferation dieser Waffen um ein Vielfaches an. Wie schon während des Kalten Krieges erwies sich Herz als großer 18

Vgl. Herz, Reflections on My Century, S. 13. Vgl. Herz, Nuclear Weapons, Environmental Decay, and the Vitality of Nations, S. 26. 20 Herz, The Security Dilemma in International Relations: Background and Present Problems, S. 414. 21 Herz an Christian Hacke, 03. Oktober 1990, Box 1, Correspondence 1989–1991 [Ordner], Herz Papers. 22 Vgl. Herz, The Security Dilemma in International Relations: Background and Present Problems, S. 414. 19

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Skeptiker der defensiven Funktion nuklearer Abschreckung. Anders als Waltz und Mearsheimer glaubte er nicht, dass sich die These der stabilisierenden Wirkung von Nuklearwaffen auf die neue Weltordnung anwenden lasse.23 Das Zerstörungspotential dieser Waffen sei so groß, dass man ihre weitere Verbreitung unbedingt verhindern müsse. Allein durch die erhöhte Zahl machtpolitisch relevanter Akteure steigere sich die Zahl möglicher Gefahrenherde, so dass eine Eskalation immer wahrscheinlicher werde. Durch den Besitz von Nuklearwaffen gewinne ein Staat enorme Angriffsfähigkeit, welche enthemmende Wirkung habe und diesen dazu verleiten könne, eine Nichtnuklearmacht bedenkenloser anzugreifen. Die Gefahr sei umso größer, wenn sich die Waffe in den Händen skrupelloser Diktatoren befände, deren Bereitschaft zu rationalem Handeln man in Zweifeln ziehen müsse. Ein konsequentes Handeln der internationalen Gemeinschaft im Sinne des „Universalismus“ sei folglich dringlicher geboten denn je.24 Doch stattdessen dominierten überall nationale Unabhängigkeitsbestrebungen. Konflikte wurden nach wie vor durch Machtpolitik und unter Anwendung von Gewalt gelöst, wie Herz beobachten musste. Die Akteure des internationalen Systems erwiesen sich ganz offensichtlich als unfähig, in anderen Kategorien als der Freund-Feind-Dichotomie zu denken.25 Das Ende des Kalten Krieges war also kein Indikator dafür, dass die politischen Entscheidungsträger das universale Interesse über das nationale Interesse stellten, wie Herz zunächst gehofft hatte. Im Versäumnis insbesondere der amerikanischen Außenpolitik, die Zeitenwende von 1989/90 dazu zu nutzen, tatsächlich eine „neue Weltordnung“ zu etablieren, globale Sicherheit kollektiv zu garantieren und so das Sicherheitsdilemma zu überwinden, sah Herz eine der großen verpassten Chancen des letzten Jahrhunderts.26 Am 7. Juni 1992 schreibt er an Hacke: „Ja, es steht schlimm mit diesem Land, das mir wie so vielen anderen, als wir hierher kamen, so hoffnungsvoll und wegweisend schien, zu einer führenden Rolle für die ganze Welt bestimmt. Aber in einer entscheidenden Weltenstunde scheint Amerika zu versagen, wie schon einmal 1919/20, als es ebenfalls um eine ‚new world order‘ . . . ging. Damals schlug das Parlament einen Präsidenten mit ‚vision‘. Heute fehlt es nicht nur dem Präsidenten, sondern auch den Führenden in beiden Parteien an ‚vision‘.“27 23 Zu den Standpunkten von Waltz und Mearsheimer vgl. Mearsheimer, Back to the Future, insbesondere S. 19 ff. und Kenneth N. Waltz, The Spread of Nuclear Weapons: More May Be Better, in: Adelphi Papers, No. 171, Autumn 1981, S. 1–32. 24 Vgl. Herz, On Human Survival (2003), S. 135. 25 Vgl. Herz, The Security Dilemma in International Relations: Background and Present Problems, S. 414. 26 Vgl. Herz, Reflections On My Century, S. 4 f.

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Insbesondere kritisierte Herz den angeblichen Unilateralismus der Vereinigten Staaten, der sich in tiefer Skepsis gegenüber den Vereinten Nationen niederschlage, die sich unter anderem in säumigen Mitgliedsbeiträgen oder der mangelnden Bereitschaft zu Blauhelmeinsätzen in Krisengebieten wie Ruanda äußere.28 Ferner argumentierte er, es sei kein Wunder, dass der atomare Nonproliferationsvertrag keine Wirkung zeige, da die Vereinigten Staaten selbst nicht mit guten Beispiel vorangegangen seien, indem sie nach einer Abrüstungsphase unter Reagan den Ausbau ihres Atomwaffenarsenals weiter vorangetrieben hätten.29 Diese negative Beurteilung der US-Außenpolitik setzte sich im Verlauf der 1990er Jahre fort und fand ihren Höhepunkt während der neokonservativen Außenpolitik von George W. Bush und seiner Administration. Im „Krieg gegen den Terror“, der von der US-Regierung als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 ausgerufen wurde, sah Herz einen revolutionären Wandel in der außenpolitischen Strategie, der als Vorwand diene, die globale Hegemonie der USA weiter auszubauen. Im Interview erklärte er: „Meiner Ansicht nach ist das nur ein ideologisches Verdecken dessen, was man wirklich vorhat, nämlich die Suprematie Amerikas als Hauptmacht der Welt, als ‚Superpower‘ zu erhalten und zu erweitern.“30 Schon während der Amtszeit Bill Clintons hatte er die amerikanischen Reaktionen auf die terroristischen Attentate in Kenia und Tansania verurteilt, da sie seiner Meinung nach im Widerspruch zur Grundregel des modernen Völkerrechts standen, namentlich dem Recht auf die Unversehrtheit der staatlichen Souveränität.31 Der Gedanke eines weltweiten „Krieges gegen den Terror“ löste bei Herz Entsetzen aus. Denn da die Anschläge auf das World Trade Center und das 27 Herz an Christian Hacke, 6. Juli 1992, Box 3. Box 3, Correspondence 1991–93 [Ordner], Herz Papers. 28 Vgl. Herz, Reflections On My Century, S. 5. Herz übersieht in seiner sehr einseitigen Beurteilung jedoch, wie sehr die vielen neuen Krisen und Konflikte in der Dritten Welt und in Europa die amerikanische Außenpolitik an ihre Grenzen brachten. Als in den USA die Bilder eines getöteten amerikanischen UN-Soldaten, der unter dem Jubel der somalischen Bevölkerung durch die Straßen von Mogadischu geschleift wurde, über die Fernsehbildschirme liefen, zweifelten viele Amerikaner – wohl nicht zu Unrecht – an der Wirkungskraft solcher Blauhelmeinsätze, die zunächst die Unterstützung Bill Clintons gefunden hatten. Vgl. Steven Hook/John Spanier, American Foreign Policy since World War II, 16. Auflage, Washington, D. C. 2004, S. 284–287. 29 Vgl. Herz, Reflections On My Century, S. 6. 30 John H. Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 2. In diesem Sinne äußerte er sich auch in seinem Aufsatz „Letter to the Morgenthau Conference“, S. 26. 31 Vgl. Herz, Reflections On My Century, S. 7.

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Pentagon in seinen Augen keinen Krieg im herkömmlichen Sinne darstellten, konnten sie auch nicht dazu herhalten, einen solchen zu rechtfertigen: „The 9/11 attack, of course, was no ‚war‘ in any legal or traditional sense. It was a crime, like earlier terror acts, global, but to be dealt with by means of dealing with international criminality.“32 Dies bestätigte er auch noch einmal im Interview: „Natürlich“, so Herz, „musste man etwas tun, um diesem Angriff zu begegnen, aber es war wichtig, zu erkennen, dass dies kein Krieg im Sinne des Völkerrechts war.“33 Seine Interpretation stand somit in klarem Widerspruch zur gängigen Völkerrechtslehre und dem UN-Sicherheitsrat, der in den amerikanischen Luftschlägen gegen Afghanistan einen Fall von Art. 51 UN-Charta sah und den Vereinigten Staaten das Recht auf Selbstverteidigung unverzüglich zusprach. Durch seine Überzeugung positionierte er sich am linken Rand der amerikanischen Intellektuellen und argumentierte ähnlich wie Noam Chomsky, der sich nach 9/11 zu einem der größten Kritiker von Bushs „War On Terror“ entwickelt hatte und die Legitimität des Afghanistan-Einsatzes ebenso wie Herz infrage stellte.34 An seinen Freund Enno Bartels schrieb Herz am 2. Oktober 2001: „[D]as auf Globalhegemonie abgestellte Bush-Regime hat es verstanden, daraus einen Kreuzzug zu machen, bei der sich alle anderen Länder, sowie NATO und die Vereinten Nationen ‚geschlossen‘ hinter die Führungsmacht zu stellen haben. Und nach ‚innen‘ ist es willkommener Anlass, jegliche Opposition und freie Meinungsäußerung zum Schweigen zu bringen, da sich jeder um die Fahne in ‚unity‘ scharen muss, alle Abweichung wäre ‚unpatriotisch‘.“35

Herz bezeichnete die Luftschläge gegen Afghanistan als einen „großen Fehlschritt“.36 Ein Blick in die Geschichte hätte seiner Meinung nach zweifellos ausgereicht, um zu erkennen, dass man drohte, den Fehler der Russen aus dem Jahr 1979 zu wiederholen und sich in einen Konflikt zu verstricken, den man nicht gewinnen könne.37 In einem weiteren Brief an Bartels hieß es: „[K]einer kümmert sich noch um anderes als die Bekämpfung des ‚global terrorism‘. Aber dazu reicht Bombardieren von Ländern wie Afghanistan nicht aus [. . .]. Selbst wenn, was ja wünschenswert ist, das Talibanregime gestürzt werden könnte und man Herrn bin Laden kriegte, würde damit doch nur Märtyrertum ge32

Herz, Letter to the Morgenthau Conference, S. 26. So Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 1. 34 Vgl. insbesondere Noam Chomsky, The Attack. Hintergründe und Folgen, 4. Auflage, Hamburg 2003. 35 Herz an Enno Bartels am 2. Oktober 2001, Brief im Besitz von Hildegard Bartels. 36 Ebd. 37 So der Tenor des Briefes von John H. Herz an Uwe Prell, 26. September 2001, Box 3, ohne Ordner, Herz Papers. 33

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schaffen und verstärkte Sympathie mit dem islamischen Fundamentalismus in den islamischen Ländern.“38

Konsequenterweise war auch der Irakkrieg für ihn ein klarer Fall eines eindeutigen völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, den er aufs Schärfste verurteilte: „[T]he Bush regime’s refutation of even basic rules of international law surpasses the era of Hugo Grotius (pacta sunt servanda). The invasion of Iraq was in violation of the United Nations charter rules permitting use of force only in self-defense or by permission of the Security Council. Its treatment of prisoners of war (‚hostile detainees‘) disregards the Geneva Convention and the treaty forbidding torture. And the jurisdiction of international courts is opposed or disregarded.“39

In einem Leserbrief prophezeite er: Sollte das Beispiel des Irakkriegs Schule machen und die amerikanische Regierung auch zukünftig Ländern ohne Rücksicht auf internationales Recht den Krieg erklären, werde das internationale System sich binnen kurzer Zeit in einen Dschungel verwandeln.40 Bushs neokonservative Berater, er nannte sie „extra hard-line group of power ideologues“41, waren für ihn Kriegstreiber, die im Namen angeblicher amerikanischer Sicherheitsinteressen vorgingen, und dabei übersahen, dass sie die USA gerade dadurch in größte Unsicherheit stürzten. Man habe überhaupt nicht davon auszugehen brauchen, dass der Irak unter Hussein kriegerische Absichten gegen die USA gehegt habe, so Herz im Interview.42 Die Politik der „preemptive strikes“ hielt er für „ungeheuer gefährlich“43. Seiner Ansicht nach bewirkte das amerikanische Vorgehen das genaue Gegenteil dessen, was eigentlich das erklärte Ziel der Neokonservativen war: „Instead of ‚regime change‘ to increase ‚democracy‘, they seem to simply create more chances for terrorists, bringing chaos instead of liberal democracy.“44 Zy38 Herz an Enno Bartels am 25. Oktober 2001, Brief im Besitz von Hildegard Bartels. 39 Herz, On Human Survival (2006), S. 21. 40 Vgl. Herz in einem Leserbrief, an den Aufbau, No. 7, 3. April 2003, S. 11. 41 Ebd. Herz hatte den Neocons, zu denen ja viele jüdische Emigranten zählten, immer schon skeptisch gegenüber gestanden. 1983 äußerte er sich im Interview mit Alfons Söllner folgendermaßen: „Was . . . die jüdischen Emigranten betrifft, so kann ich eine Enttäuschung nicht verschweigen, nämlich darüber, dass sich wenn nicht die Mehrheit, so doch viele auf die Seite des Neo-Konservatismus geschlagen haben . . . Sammelpunkt ist da seit 10 Jahren der ‚Commentary‘, der einmal eine ganz liberale Zeitschrift war. Jeane Kirkpatrick, die die ultrarechte Linie in den Vereinten Nationen vertritt, war eine Schülerin von Franz Neumann! Wie es dazu kam, weiß ich nicht. Aber es gibt ja Fälle, in denen ein überstarker intellektueller Einfluss in sein genaues Gegenteil umkippt.“ Herz im Interview mit Alfons Söllner am 30. November 1983. 42 Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 2. 43 Ebd. 44 Herz, On Human Survival (2006), S. 22.

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nisch verwies Herz darauf, dass die angeblichen Ziele der Neocons, „peace“ and „freedom“, in Wahrheit eher „law and order“ heißen müssten – „but not so much in the interest of the respective countries as in that of investors (American and multinational) in making sure that their economic interests are protected in a stable political climate, with laws and courts protecting property.“45 An dieser Stelle ist allerdings anzumerken, dass Herz, so berechtigt seine Kritik an der amerikanischen Irakpolitik auch sein mag, mit diesem Argument außer acht ließ, dass die Sicherung von persönlichen Eigentumsrechten und die Verbreitung des Kapitalismus in der historischen Regel Frieden und Freiheit nicht entgegenstanden, sondern diese im Gegenteil beförderten.46 Selbst wenn man davon ausgeht, dass amerikanische ökonomische Interessen in der Region durch ein stabiles politisches Klima und gesetzlich geschütztes Eigentum garantiert werden, so trifft dies auch auf das Eigentum der lokalen Bevölkerung selbst zu. Demokratie, so argumentierte Herz weiter, werde nur dort erlaubt, wo man sicher sein könne, dass die Freunde Amerikas an die Macht kämen.47 Islamistischer Terrorismus sei so jedenfalls nicht erfolgreich zu bekämpfen. Schon 1981 hatte er dessen Ursachen an ganz anderer Stelle vermutet: „For it is the abject poverty created by overpopulation, underdevelopment, lack or waste of resources, and so on, which leads to social, economic, and political instability and turns the expectations of masses towards communist utopias or, as in Iran, to promises of religious fanaticism.“48

Noch deutlicher wurde er 1998: „I am of the conviction that the increasing incidence of ethnic strife, of genocides, of the terrorism of fundamentalist groups, etc. has something to do with the great frustration which ever more crowded populations in the third world – especially in Africa and Asia – experience under their squalid poverty conditions.“49

Angesichts der Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon befürwortete er die weit verbreitete These, dass Ungerechtigkeit und Armut im Nahen Osten die Attentäter motiviert hätten. Er argumentierte, man könne die Terroristen nicht einfach wegbomben, sondern höchstens die 45

Vgl. Ebd. Den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Frieden/Freiheit hat insbesondere Erich Weede auf eindrucksvolle Art und Weise immer wieder untersucht. Er weist darauf hin, dass es gerade für Länder wie den Irak zunächst mehr Erfolg versprechen könnte, Kapitalismus einzuführen, als die Demokratie mit dem Schwert verbreiten zu wollen. Vgl. Erich Weede, Capitalism, Democracy, and the War in Iraq, in: Global Society, Vol. 21, No. 2, April 2007, S. 219–227. 47 Herz im Interview mit J. P. am 21. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 2. 48 Herz, Political Realism Revisited, S. 191. 49 Herz, Reflections on My Century, S. 8. 46

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Lage in ihren Herkunftsländern soweit verbessern, dass niemand mehr den Wunsch entwickeln würde, sich selbst im Dienste Allahs in die Luft zu sprengen.50 Der „Krieg gegen den Terror“ werde niemals ein Ende finden, wenn es nicht gelänge, seine wahren Ursachen zu bekämpfen. Wesentlich hilfreichere Instrumente in diesem Kampf seien beispielsweise groß angelegte Entwicklungspläne seitens der reichsten Nationen der Erde,51 die diese durch eine Kürzung ihres jeweiligen Verteidigungsetats finanzieren sollten. Damit wendete er sich explizit gegen die Interpretation der amerikanischen Neokonservativen, die in erster Linie das Demokratiedefizit in der Region für den islamistischen Terrorismus verantwortlich gemacht hatten, sowie gegen die prominente These eines „Clash of Civilizations“.52 Ein schlagkräftiges Argument gegen Herz’ These bringt Walter Laqueur vor: „Some European terrorists and some Islamists have claimed to act on behalf and in the interest of the poorest of the poor. But in that forty-nine countries currently designated by the United Nations as the least developed hardly any terrorist activity occurs.“53 Laqueur führt weiter aus, dass sich die Führungsriegen von Hamas und Hisbollah fast ausschließlich aus dem Mittelstand rekrutierten, ebenso wie die meisten der ägyptischen oder saudischen Selbstmordattentäter: „This applies in particular to the Bin Laden network, many of whose members were graduates of universities or technical high schools or military academies.“54 Die Konzentration von immer mehr Macht in den Händen George W. Bushs durch einen „war congress“55, der sich zumindest anfänglich ohne wenn und aber hinter seinen Präsidenten stellte, barg für Herz die Gefahr, dass das System der „checks and balances“ deutlichen Schaden nahm.56 Die Einschränkung der Bürgerrechte durch den „National Security Act“ betrachtete er mit großer Sorge. Die Bush-Doktrin bedeutete für Herz „die totale Auslöschung von Grundprinzipien der traditionellen internationalen Be50 Vgl. Herz, The Security Dilemma in International Relations: Background and Present Problems, S. 415. 51 Vgl. ebd. 52 Vgl. Samuel Huntington, The Clash of Civilizations, in: Foreign Affairs, Vol. 72, No. 3, Summer 1993, S. 22–49. 53 Walter Laqueur, No End to War. Terrorism in the 21st Century, New York 2003, S. 15. 54 Ebd., S. 16. Laqueurs Argumente werden unterstützt durch die Untersuchungen von Jitka Maleèková, Impoverished Terrorists. Stereotype or Reality?, in: Tore Bjørgo, Root Causes of Terrorism: Myths, Reality, and Ways Forward, Oxon et al. 2005, S. 33–43, S. 35 ff. 55 Jürgen Wilzewski, Die Bush-Doktrin, der Irakkrieg und die amerikanische Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 45/2004, S. 24–32, S. 29. 56 Vgl. Herz, On Human Survival (2006), S. 23.

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ziehungen“, durch die man „auf reinen unbewiesenen Verdacht hin ‚global‘ antiterroristischen Krieg erklären [kann], wobei ‚Terrorismus‘ undefiniert bleibt.“57 Dadurch, so Herz, werde auch anderen Staaten Tür und Tor geöffnet, im Namen des Kampfes gegen den Terror gegen Aufständische und Rebellengruppen aggressiv vorzugehen. Wieder argumentierte er analog zu Chomsky.58 Unmittelbare Folge dieser US-amerikanischen Politik sei eine weltweite Verschärfung von Sicherheitsdilemmata auf einen neuen Höhepunkt. Sollte die unter Bush eingeschlagene Strategie der „pre-emptive strikes“ für andere Länder Vorbildcharakter annehmen, war für Herz eine atomare Eskalation nur noch eine Frage der Zeit. Diese Gefahr werde durch Bushs einseitige Aufkündigung des ABM-Vertrages („Anti-Ballistic-Missile-Treaty“) noch verstärkt, da sie die Ängste der übrigen Staaten schüre. Nach der Logik des Sicherheitsdilemmas sei ein erhöhtes Angstaufkommen im internationalen System fatal, da es die Abwehrimpulse der Staaten stärke, die Rüstungsspirale ankurbele und die sich bedroht fühlenden Staaten (analog etwa der „Balance of Threat“-Theorie von Stephen Walt)59 zu einem offensiven Verhalten zwinge. Herz empfand aus diesem Grund die im Zuge der Irakkrise auftretenden Bemühungen Deutschlands, Frankreichs und Russlands, eine Gegenmacht zu den USA zu bilden, als logische Konsequenz aus der amerikanischen Politik. Er begrüßte das Vorgehen der europäischen Mächte sogar ausdrücklich, so lange sich diese Gegengewichtsbildung nicht auch militärisch manifestieren würde. Im Brief an Hacke schrieb er: „Nach dem Wegfall der bipolaren balance of power bestand für die verbleibende superpower die Wahl zwischen globaler Zusammenarbeit und Aufbau eines globalen Imperiums. Seit sich Bush II für den Versuch des letzteren entschieden hat, liegt m. A. nach die einzige Hoffnung für das Weiterbestehen einer Welt ‚unabhängiger‘ Staaten in der Bildung einer counter-balance, von Paris und Berlin über Moskau und Tokio, nicht militärisch, sondern ökonomisch und ‚ideologisch‘.“60

In dieser Hinsicht vertraute Herz offensichtlich einmal mehr auf das alte Rezept der Balance of Power, um internationale Stabilität aufrecht zu halten. 57

Beide Zitate aus Herz an Christian Hacke, 2. Januar 2002, Brief im Besitz von Christian Hacke. 58 Auch Chomsky sah im „Krieg gegen den Terror“ eine gute Gelegenheit für andere Staaten, repressive Maßnahmen einzuleiten oder zu verstärken. Als Beispiel nannte er Russland und Israel. Russland sehe sich noch bestärkt, seinen Feldzug gegen Tschetschenien fortzusetzen, Israel sehe sich in der Lage, die Palästinenser noch heftiger zu bekämpfen. Vgl. Chomsky, S. 13 ff. 59 Im Zuge dieser Arbeit wurde bereits argumentiert, dass Herz einen defensiven Realismus vertrat. Wieder zeigt sich an dieser Stelle die Nähe zu Walt. Vgl. Walt, S. 3–43. 60 Herz an Christian Hacke, 7. Juni 2003, Brief im Besitz von Christian Hacke.

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Aber auch seine eigenen Mitbürger forderte Herz in einem Leserbrief an den Aufbau zum Widerstand gegen die Regierung auf: „We in America must join the global outcry against hegemonial unilateralism and try to stem the pursuance of the Bush doctrine of ‚the law of the stronger‘ until, hopefully, another president returns to the tradition of Wilsonian and Rooseveltian policies of peace and international cooperation for peace.“61

Dies galt umso mehr, als die Bush-Administration auch beim Umgang mit den neuen globalen Problemen keinerlei Bewegungsbereitschaft signalisierte. Stattdessen verzeichnete Herz einen klaren Rückschritt, der sich insbesondere in der Ablehnung des Kyoto-Protokolls zeige.62 Herz kam bilanzierend zu dem Schluss, dass die „Zeitenwende“ von 1989/90 mitnichten ein neues Zeitalter der internationalen Beziehungen, geschweige denn ein neues internationales Bewusstsein in den Köpfen der Machthaber, eingeläutet habe. Statt die einmalige historische Chance zu nutzen, um einen wirklichen Wandel innerhalb des Systems herbeizuführen, beispielsweise durch ein funktionierendes kollektives Sicherheitssystem, sei der Moment verstrichen. Inzwischen schätzte Herz die Situation pessimistischer denn je ein. „I have come to even more pessimistic conclusions regarding global survival chances than ever before.“63 Die Aussichten auf eine erfolgreiche internationale Zusammenarbeit seien durch den 11. September 2001 marginalisiert worden, da die USA aus den Anschlägen die Lektion gezogen habe, sich nicht mehr durch internationale Abkommen, Organisationen, einen internationalen Gerichtshof oder das Völkerrecht einbinden zu lassen. Und ohne die Kooperationsbereitschaft der einzig verbleibenden Supermacht sei eine globale Zusammenarbeit, zum Beispiel im Rahmen der Vereinten Nationen, von vornherein unmöglich. Anstatt zu erkennen, dass es angesichts der globalen Probleme keine nationalen Interessen mehr geben konnte, würden eben diese nationalen Interessen eine blühende Renaissance erleben. Zwei Jahre nach den Anschlägen am „Ground Zero“ kam es Herz so vor, als hätten die außenpolitischen Entscheidungsträger, insbesondere in den USA, eine Art kollektiven Gedächtnisverlust erlitten. Er beklagte, es scheine niemanden mehr zu interessieren, dass die Weltbevölkerung jährlich um fast einhundert Millionen Menschen ansteige. Niemand kümmere sich um die Auswirkungen dieses Anstiegs auf die Lebensbedingungen in den Entwicklungsländern und die globale Ressourcenversorgung. Und wer beschäftige sich noch mit der Erderwärmung und dem damit verbundenen 61

Herz in einem Leserbrief an den Aufbau, No. 7, 3. April 2003, S. 11. Vgl. Herz, The Security Dilemma in International Relations: Background and Present Problems, S. 416. 63 Herz, On Human Survival (2003), S. 141. 62

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Klimawandel? Stattdessen seien die politischen Entscheidungsträger völlig eingenommen vom internationalen Terrorismus und dem Ausbau der „American Primacy“. Im Alter von 97 Jahren blickte Herz daher auf das 20. Jahrhundert zurück, das er fast vollständig durchlebt hatte, und erkannte ein Jahrhundert der verpassten Gelegenheiten, dessen letzte und größte das Misslingen einer Umwandlung des internationalen Systems nach 1989/90 war. „It is with great sadness that, toward the end of a life devoted to teaching the policies and goals of a social democracy and peaceful international relations, I must conclude that these ideals have given way to ones that foreshadow a truly Hobbesian 21st century“64. Er kritisierte den Vormarsch eines unbegrenzten Kapitalismus65, betonte die Schattenseiten der Globalisierung, hatte sich zum Kulturpessimisten gewandelt, haderte insbesondere mit seiner neuen Heimat, sah generell wenig Grund, um auf eine Besserung der Lage zu hoffen – und blieb bei allem Pessimismus dennoch ein unermüdlicher Optimist, der einen seiner letzten Aufsätze mit den Worten schließen ließ: „And thus, at the end stage of my life, I refuse to give up hope for human survival on this beautiful, challenging planet.“66

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Herz im Leserbrief an den The Scarsdale Inquirer, 9. August 1996. So klagte er beispielsweise in einem Brief an Ossip Flechtheim: „Die Ideologie, dass der ungezügelte Kapitalismus alles zum Besten wendet, wird vor allem den Jüngeren auf Schulen und Universitäten beigebracht, sodass es denen nur noch darauf ankommt, zu lernen wie man am Besten Geld macht. Liberale (von Sozialisten ganz zu schweigen) gibt es unter den Jüngeren . . . kaum noch, und wir Älteren oder ganz Alten sterben aus.“ Vgl. Herz an Flechtheim, 23. Januar 1998. In die gleiche Richtung geht seine Argumentation in „On Human Survival“ (2006), S. 20 f. 66 Herz, On Human Survival (2003), S. 143. 65

I. Schlussbetrachtung Das Ziel dieser Arbeit war es, Leben und Werk des amerikanischen Politikwissenschaftlers deutsch-jüdischen Ursprungs John H. Herz nachzuzeichnen und zu analysieren. Dieses Unterfangen glich einer intellektuellen Reise beinahe durch das gesamte 20. Jahrhundert und endete nur wenige Jahre nach dem Anbruch des neuen Jahrtausends. Herz’ Jugend war geprägt durch die Weimarer Jahre und das Aufwachsen in einer assimilierten, wohlhabenden und bürgerlichen jüdischen Familie und in einem kunst- und geistfreundlichen Milieu. Er war einer der letzten Repräsentanten einer mit der Weimarer Republik untergegangenen Epoche deutscher intellektueller und kultureller Blütezeit. Die Machtergreifung der Nazis zerstörte die heile Welt seiner frühen Jahre und zwang ihn in die Emigration, erst in die Schweiz, dann in die Vereinigten Staaten. Dort wurde er zu einem amerikanischen Gelehrten, der im Krieg im amerikanischen Staatsdienst an der Konzeption für ein besiegtes Deutschland mitwirkte; der 1945 als Berater des amerikanischen Anklägers im Hauptkriegsverbrecherprozess nach Nürnberg kam; der ein Weltbild entwickelte, das amerikanisches und europäisches Gedankengut widerspiegelte. Er lernte die USA zunächst aus der Perspektive der amerikanischen Bildungselite kennen, die ihn in Princeton umgab, und begeisterte sich entgegen seiner anfänglichen Erwartungen für die politischen, geistigen und kulturellen Erträge seines neuen Heimatlandes. Gleichzeitig kam er durch seine Anstellung an dem wohl berühmtesten Black College, der Howard University, frühzeitig auch mit der amerikanischen Rassenproblematik und den Schattenseiten des amerikanischen Traumes in Berührung und entwickelte sich im Laufe seines Lebens sukzessive zu einem Kritiker des amerikanischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Richtig „zuhause“ war er nach seiner Emigration weder in Deutschland noch in den Vereinigten Staaten und wanderte zwischen beiden Welten hin und her – um diese Spannung schließlich dadurch aufzulösen, als „praeceptor mundi“1 die ganze Welt seine Heimat zu nennen. Die Schrecken des Holocausts und Hiroshimas blieben ihm stets gegenwärtig,2 die Fragilität allen Lebens und Lebensraumes wurden zu einem Leitmotiv all seiner Arbeiten; sei es durch die Grundzüge einer Außenpoli1

Herz, Vom Überleben, S. 159. Im Brief an Lilli und Ossip Flechtheim heißt es: „Wenn man mich fragte, was die zerstörerischsten Ereignisse nicht nur dieses Jahrhunderts, sondern vielleicht der 2

I. Schlussbetrachtung

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tik, die er in den 1950er Jahren zeichnete und die die ultimative Vernichtung der Menschheit durch globalen Atomkrieg verhindern sollte; sei es durch die frühe Beschäftigung mit Ressourcenknappheit, unkontrolliertem Bevölkerungswachstum oder Umweltzerstörung. Im Alter war aus dem jungen Schüler, der im Kreise seiner kommunistischen, zionistischen und kapitalistischen Freunde die liberale Vermittlerposition eingenommen hatte, ein „Radikaler“3 geworden – wofür er selbst weniger seine charakterliche Veranlagung, als vielmehr die seine Lebensstufen begleitenden Weltereignisse verantwortlich machte. Gleichzeitig hatte sich der frühere Werterelativist im Sinne Max Webers zu einem Wissenschaftler entwickelt, der sich durch das gelebte Bekenntnis zu einer Politikwissenschaft auszeichnete, deren Verantwortung für die Zukunft in seinen Augen auch eine ethische war.4 Im Laufe seines Lebens haben sich seine Kernthesen und Einstellungen immer wieder verändert. Er machte es sich zum Prinzip, seine Annahmen regelmäßig zu hinterfragen und seine Ideen und Konzepte dementsprechend zu überarbeiten, wenn er meinte, dass ihn die sich verändernden Realitäten eines Besseren belehrten. Sein Denken war nicht statisch, sondern bewegte sich immer am Puls der Zeit. Nie war er imstande, sich ganz einem Dogma, einer abgerundeten Weltanschauung anzuschließen. Seine Gedanken überspannten den Atlantik und vereinten eine deutsche und eine amerikanische Wissenschaftsphilosophie. Trotz dieser enormen intellektuellen Anpassungsund Adaptionsfähigkeit, die ihm den Vorwurf der Beliebigkeit einbrachte, veränderte er seine Positionen nie willkürlich, sondern blieb einigen Grundüberzeugungen ein Leben lang treu. Immer bemühte er sich, die gegebenen Fakten, die Wirklichkeit, die grundlegenden Bedingungen menschlichen Handelns möglichst objektiv zu erkennen. Gleichwohl kann man argumentieren, dass es ihm, insbesondere im Alter, nicht immer gelang, die gewünschte Objektivität auch tatsächlich zu bewahren. In der Tradition Machiavellis wollte er das analysieren, was ist, ohne sich zunächst von dem, was sein soll ablenken zu lassen. Gleichzeitig konnte er an diesem Punkt nicht stehen bleiben und sich mit dem Gegebenen anfreunden. Er versuchte stattdessen, die Gegebenheiten zum Positiven zu verändern und bekannte sich offensiv zu einem normativen Theorieansatz, der ein nicht-utopisches Sollen zum Inhalt hatte.5 Diese ganzen Geschichte seien, würde ich zwei nennen: Hiroshima und den Holocaust.“ Vgl. Herz an Lilli und Ossip Flechtheim, 16. Juni 1995, Brief im Besitz von J. P. 3 Vgl. Herz an Christian Hacke, 1. Juli 2003, Brief im Besitz von Christian Hacke. 4 Vgl. Herz, From Geneva 1935 to Geneva 1985, S. 30. 5 So beispielsweise in seinem Aufsatz „The Security Dilemma in International Relations: Background and Present Problems“, S. 413: „My own approach went in a normative direction.“

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I. Schlussbetrachtung

Zweiteilung, die sich in fast allen seinen wissenschaftlichen Arbeiten finden lässt, ist Ausdruck der grundsätzlichen Spannung zwischen Sein und Sollen, die sich wie ein roter Faden durch alle seine Texte zieht:6 Nicht nur war er ein rastloser Wanderer zwischen zwei Welten, sondern seine Analysen der internationalen Beziehungen wanderten auch zwischen diesen beiden Zielsetzungen hin und her. Dass dies oftmals nicht ohne Widersprüche und logische Brüche möglich war, hat diese Arbeit gezeigt. Ossip Flechtheim sprach anlässlich des 70. Geburtstages des Freundes davon, Herz sei im Glauben an „eine heile Welt des Wahren, Guten und Schönen“7 aufgewachsen. Diesen Glauben bewahrte er sich trotz der Vertreibung aus seinem Heimatland, trotz des Aufstiegs totalitärer Diktaturen in Europa und trotz des Grauens zweier Weltkriege. Zwar wurde sein Optimismus im Laufe der Jahre von einem immer weiter ausufernden Pessimismus überlagert, der zuletzt apokalyptische Formen annahm, doch seine Analysen endeten oft in einem optimistischen „und dennoch“ oder einem „trotz alledem“. Selbst in seinen späten Lebensjahren, als er ein unerbittlicher Kritiker des 20. Jahrhunderts geworden war, blieb er im Kern immer noch der „romantische Jüngling“8 seiner Jugendzeit. Dies veranlasste Kenneth Thompson dazu, ihm „inborn idealism“ und „indestructible romanticism“9 zu bescheinigen. Herz war und blieb ein Anhänger der Aufklärung, der an die Kraft der Vernunft glaubte und die Welt durch einen Bewusstseinswandel ihrer Bewohner verändern wollte. Er hielt Kant, dem Helden seiner Schulzeit, und Kelsen, dem akademischen Lehrer seiner Studienjahre, im Grunde sein Leben lang die Treue. Es ist daher nachzuvollziehen, dass Richard Ashley den roten Faden des Herzschen Denkens vor allem in dem Versuch erkennt, „to anchor realism, above all, in reflective reason“10. Ihn vor diesem Hintergrund einen Optimisten zu nennen, wäre jedoch falsch. Sein Grundgefühl, zumindest nach der Emigration, lässt sich als „das Wahrnehmen grollenden Erdbebens in der Tiefe“11 beschreiben. Kurz nach seiner Ankunft in den USA tauchte das „Überlebensmotiv“ erstmals in 6 „[O]ne discovers a strong thread of continuity“ – wie Richard Ashley dies ausdrückt. Vgl. Ashley, S. 226. 7 Flechtheim, S. 3. 8 Ebd. 9 Beide Zitate Thompson, Masters of International Thinking, S. 110. 10 Ashley, S. 226. Ferner sieht Ashley im Herzschen Denken ein idealistisches Moment, „that strains always for the ultimate, the absolute, the universally good and true.“ Vgl. ebd., S. 228. 11 Auch wenn dieses Bild nicht auf Herz persönlich gemünzt war, ist es überaus treffend. Vgl. Marion Gräfin Dönhoff, Denker der Weltinnenpolitik, in: DIE ZEIT, Nr. 27/1997.

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seinen Arbeiten auf, das zu einem immer stärkeren Charakteristikum seines Denkens wurde. Seine Sorge um den globalen Exitus trat erstmals schon vor der Entwicklung der Atombombe zutage und nahm danach immer größeren Raum ein, bis sie sein Denken in den späten Lebensjahren fast vollständig dominierte. Sie äußerte sich in beständigen Warnungen, deren Ton immer apokalyptischer wurde. Gleichzeitig stiegen seine Anforderungen an das Sollen proportional an – bei einem stets vorhandenen Bewusstsein über die geringe Wahrscheinlichkeit, mit der sich seine Hoffnungen erfüllen würden.12 Diese eigenartige Kombination aus negativer Bestandsaufnahme und positiven Zukunftsvisionen, die Herz selbst als „strange“13 bezeichnet hat und die man mit dem Oxymoron „optimistischer Pessimist“ nur unzureichend erfassen kann, ist elementares Kennzeichen all seiner Arbeiten. Wenige Jahre vor seinem Tod schrieb er selbst darüber: „[I]ch war ein Pessimist, der insgeheim erwartete, angenehm enttäuscht zu werden – also realiter ein Optimist. Heute allerdings bin ich ein echter Pessimist, da ich kaum noch je angenehm enttäuscht werde und das auch kaum noch erwarte. Dennoch bringe ich es nicht fertig, mich . . . im Uralter von der Welt, d.h. dem gegenwärtig Vorgehenden, zu lösen. [. . .] Je älter ich werde, desto mehr ‚urgently‘ berühren mich die Ereignisse, und obwohl ich nur noch schwer lesen kann, verbringe ich meine Tage damit, sie zu verfolgen.“14

Trotz dieses Überhand nehmenden Pessimismus behauptete Herz, sich nie dem Fatalismus hingegeben zu haben.15 Dies zeigt sich in seinem akademischen Werk insbesondere im Umgang mit dem Sicherheitsdilemma, das er entgegen seines strukturellen Determinismus‘ zu überwinden bzw. zumindest abzumildern suchte. Dass Herz’ Werk dennoch fatalistische Komponenten aufwies, legen Booth und Wheeler hingegen glaubhaft nahe.16 12 Dies illustriert besonders deutlich das folgende Zitat: „I consider the chances that ‚what has to happen if we are to survive‘ will actually happen very small – and growing smaller the longer we hesitate or even turn in the other direction. [. . .] Yet, as one of the atomic scientists directly involved with making ‚the bomb‘ once remarked: Even if there were only 1% or 2% chance of mankind escaping the nuclear holocaust, we have to work for this chance materializing.“ Vgl. Herz, Comment, S. 240 f. 13 Das genaue Zitat lautet: „Again, and perhaps strangely, I find myself combining the two opposites: temperamentally a pessimist . . . I still believe that salvation is possible, however small the changes, and this, perhaps, makes me an optimist of sorts.“ Vgl. John H. Herz, Response, in: International Studies Quarterly, Vol. 25, No. 2, June 1981, S. 201–203, S. 202 f. 14 Herz an Hilde Grüters, 11. November 1998, Box 3, Correspondence with old colleagues [Ordner], Herz Papers. 15 Herz äußerte sich in einem Vortrag an der Bundeswehruniversität in Hamburg: „Ich gestehe, dass ich pessimistisch bin. Ich bin aber kein Fatalist.“ Vgl. Herz, Außenpolitik im Zeitalter des bedrohten Menschheitsüberlebens (unveröffentlichtes Manuskript), 1. März 1989. 16 Vgl. Booth und Wheeler, The Security Dilemma, S. 23.

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I. Schlussbetrachtung

Die stete Weigerung, sich den realistischen Kräften zu ergeben, ist Ausdruck seiner persönlichen Lebensauffassung. Die Betroffenheit, die in obenstehendem Zitat deutlich wurde, begleitete ihn sein Leben lang. In frühester Jugend entwickelte er die Überzeugung, dass man etwas dazu beitragen müsse, die Welt zu verbessern. Bis in ein hohes Alter hinein schrieb er immer wieder Leserbriefe an die New York Times, in denen er auf Missstände hinzuweisen suchte. Sein Leben und Wirken wird daher, wie er selbst dies einmal über Flechtheim sagte, „vielleicht am besten mit dem Ausdruck ‚Engagement‘ gekennzeichnet“17 – ein Engagement geboren aus dem Gefühl heraus, dass eine andere, bessere Welt möglich sei.18 Mit Verständnislosigkeit begegnete er jenen, die sich nicht um die großen sozialen und politischen Probleme ihrer Zeit kümmerten, die keine Partei ergriffen, nicht über den Tellerrand schauten, die nur um ihr eigenes Wohl besorgt waren.19 In einem Brief schrieb der damals 82jährige: „Obwohl man sich in meinem Alter doch sagen könnte: ‚Macht Euren Dreck aleene!‘ Gerade das ist mir, vielleicht seltsamerweise, nicht möglich. Ich habe immer an eine Art kategorischen Imperativ geglaubt, der jedem Erdenbürger sagt, er solle sich bemühen, sei es auch zum winzigsten Teil, dazu beizutragen, dass er die Welt in besserem Zustand verlässt als er sie aufgefunden hat. Irgendwie ist mir dieses (vielleicht ‚preußische‘) Pflichtgefühl seit meiner Jugend gegenwärtig geblieben.“20

Durch seine wissenschaftliche Arbeit wollte er – „if ever so little“21 – dazu beitragen, die allgemeinen Lebensbedingungen zum Besseren zu verändern und für die Menschheit etwas Wertvolles zu schaffen.22 Von einem Wissenschaftler forderte er, ein homme engagé zu sein.23 Dennoch war er – bis auf seine kurze Zeit am OSS – nie ein Praktiker im eigentlichen Sinne, sondern ein zutiefst vergeistigter Mensch, der die 17

Herz, Ossip K. Flechtheim (1909–1998), S. 158. Dies zeigt z. B. auch sein Engagement für Amnesty International, welches durch eine Vielzahl von Briefen aus seinem Nachlass belegt ist. Vgl. Box 1, „Amnesty International, Letters and Material 1981 ff.“ [Ordner], Herz Papers. 19 Er beendete einmal eine zuvor enge Freundschaft aus genau diesen Gründen. An den ehemaligen Freund schrieb er: „Certainly I would not deny anybody’s right to enjoy life, to lead the ‚good life‘ (in the sense of the Greek philosophers), to enjoy the world’s beautiful things (as, in my own case, especially music). But I consider it ‚elitist‘ to do so without concern for the ‚cost‘, without a feeling that fighting for more ‚justice‘, for less suffering, squalor, ugliness if necessary.“ Vgl. Herz an Clifford Truesdell, 8. Januar 1990, Box 1, Correspondence 1989–1991 [Ordner], Herz Papers. 20 Herz an Hacke am 5. April 1990. 21 Herz, Reflections on My Century, S. 1. 22 Vgl. Herz, Vom Überleben, S. 88. 23 Vgl. Herz, Relevancies and Irrelevancies in the Study of International Relations, S. 30. 18

I. Schlussbetrachtung

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Welt gerne in Systemen dachte und kategorisierte. Auch dies ist ein konstantes Charakteristikum seiner Arbeiten. Als junger Schüler wollte er, sich auf Goethes Faust berufend, wissen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ und obwohl im Heranwachsenden die Einsicht reifte, dass eine solch umfassende Erkenntnis nicht erreichbar war, verließ ihn niemals der Drang danach. Konsequent beschäftigte er sich in seinen akademischen Werken fast nie mit Einzelfragen. Es ging ihm darum, philosophische Zusammenhänge aufzudecken und allgemeine Theorien zu entwickeln. Ein Hauptanliegen dieser Arbeit war, die Frage zu beantworten, ob man Herz aus guten Gründen der realistischen Schule zurechnen kann, als einer deren Gründungsväter er heute noch gilt. Fest steht, dass Herz, bevor ihn Nationalsozialismus und Faschismus auf brutalste Weise desillusionierten, entschlossen an die Regulierungskraft völkerrechtlicher Normen glaubte. Er bezeichnete sich selbst als glühender Anhänger des Völkerbundes und der ihm zugrunde liegenden Ideen.24 Dies lässt ihn zunächst nicht als originären Realisten erscheinen. Anders als Morgenthau erachtete Herz anfangs nicht „Macht“ sondern „Recht“ als bestimmendes Element der internationalen Beziehungen. Am Prinzip der „kollektiven Sicherheit“ hielt er auch nach dem Scheitern des League-Systems noch fest, versuchte allerdings, es als realistisches Konstrukt zu verteidigen. Mit Kelsen teilte er den Wunsch nach einer durchgehend verrechtlichten, kosmopolitischen, internationalen Ordnung mit handlungsfähigen internationalen Organisationen, auch wenn er Kelsens „Reine Rechtslehre“ im Bereich des Völkerrechts aufgrund der weltpolitischen Entwicklungen der 1930er und 1940er Jahre als ganz und gar diskreditiert ansah. Aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen, die er als Zeitzeuge jener Jahre sammelte, näherte er sich erst nach und nach einer realistischen Weltsicht an. Insbesondere die „falsche utopische Appeasement-Politik“25 der europäischen Mächte hatte daran wesentlichen Anteil. Wichtig für das Verständnis der Herzschen Denkweise ist jedoch, dass diese Annäherung eben keine natürliche war, sondern unter dem Druck der Ereignisse stattfand. In seiner Brust schlug das Herz eines Liberalen, nicht dasjenige eines Realisten. Zum Realisten wurde er allein, weil in einer Welt, in der Adolf Hitler an die Macht gekommen war, nichts so deutlich erschien, wie die Tatsache, dass Macht das regulative Prinzip des internationalen Systems war. Schrittweise reifte in ihm die Erkenntnis, dass man dieser Macht nur mit Gegenmacht begegnen könne.26 Im Interview rückte er seinen Ansatz in die Nähe 24 Herz benutzt den Begriff „Fervant adherent“. Herz, Letter to the Morgenthau Conference, S. 23. 25 So Herz im Interview mit J. P. am 22. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 4. 26 Vgl. Herz, Letter to the Morgenthau Conference, S. 23.

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I. Schlussbetrachtung

Morgenthaus: „Die Basis für meinen Realismus ist zunächst einmal die Anerkennung der Machtgegebenheiten. Da stimme ich mit Morgenthau überein, obwohl wir da auseinander gehen in Bezug auf die anthropologische Frage.“27 An anderer Stelle hieß es: „The jolt that drove me out of my European environment healed me forever of utopianism“28. Von Mitte der 1930er Jahre bis Anfang der 1950er Jahre dominierte konsequenterweise die realistische Weltsicht das Herzsche Denken. Seine frühen in den USA verfassten Aufsätze sowie sein Buch Political Realism and Political Idealism geben davon ein eindeutiges Zeugnis. Mit dem Sicherheitsdilemma gelang es ihm, ein Konzept zu entwickeln, „das mittlerweile zum Grundinventar realistischen Denkens gezählt werden muss und dafür gesorgt hat, dass Herz . . . üblicherweise zu den Realisten gezählt wird“29, wie es in einem deutschen Lehrbuch heißt. Im Gegensatz zum Kantschen Idealismus, der auf die Vernunft und die Lernfähigkeit des Menschen baut, basiert das Sicherheitsdilemma auf der Vorstellung, dass die internationale Staatenwelt durch unveränderbare Kräfte bestimmt wird, deren Regentin die Macht ist. „Nicht das hehre Ziel Frieden, sondern das bescheidene Ziel, Sicherheit anzustreben“30 war Herz’ Richtungspunkt. Schon in seiner realistischsten Phase war Herz jedoch nie so radikal wie Morgenthau, „der seinen außenpolitischen Realismus sehr viel stärker auf Konfrontation abstellte.“31 Herz gab seine liberalen Grundüberzeugungen nie auf, sondern versuchte immer, sie mit dem Realismus zu vereinen. Sein Ziel war es, einen anderen Realismus „unter Abgrenzung von den übrigen realistischen Schulen jener Zeit“32 zu begründen. Die Entwicklung seines außenpolitischen Denkens liest sich daher wie die Geschichte einer permanenten Auseinandersetzung zwischen Idealismus und Realismus, wobei ein Gleichgewicht zwischen beiden Idealtypen das Ziel seiner Bemühungen war. Hierin ähnelt sein Ansatz demjenigen Edward H. Carrs, dessen „positive theory of IR“33 ebenfalls eine Synthese zwischen beiden Extremen an27

Herz im Interview mit J. P. am 22. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 4. Herz, The Nation-State and the Crisis of World Politics, S. 52. 29 Jacobs, S. 55. 30 Ulrich Menzel/Katharina Varga, Theorie und Geschichte der Lehre von den Internationalen Beziehungen. Einführung und systematische Bibliographie, Schriften des Deutschen Übersee-Instituts Hamburg, Nummer 45, Hamburg 1999, S. 13. 31 Hacke, Ein Rückblick auf John Herz, S. 5. 32 Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 12. Mit den „übrigen Schulen“ meint er den anthropologisch begründeten Realismus Morgenthaus und den theologisch begründeten Realismus Niebuhrs. 33 Sean Molloy, The Hidden History of Realism. A Genealogy of Power Politics, Basingstoke/New York 2006, S. 56. Molloy argumentiert jedoch zu Recht, dass Carr dem Realismus letztlich wesentlich näher stand als dem Idealismus. Vgl. ebd., S. 57. Diese Aussage trifft auf Herz nicht zu. 28

I. Schlussbetrachtung

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strebte. Je mehr die Nachkriegsrealität Herz’ Meinung nach analog der realistischen Prinzipien funktionierte, desto mehr betonte er idealistische Werte als deren Gegengewicht. Stets verstand er sich als Korrektiv.34 Immer weiter öffnete sich dabei die Kluft, bis er am Ende seines Lebens ein radikaler „Universalist“ geworden war, für den eine allein auf „Macht“ und „nationalen Interessen“ basierende Analyse der internationalen Beziehungen an den wirklichen Problemen vorbeiging und der sich weit von seinen ursprünglichen realistischen Grundannahmen entfernt hatte. Von Morgenthaus Konzept des „nationalen Interesses“ war er von Anfang an nicht recht überzeugt gewesen und hatte Morgenthau an vielen Stellen dafür kritisiert, dass dieser nie klar definiert habe, was unter seinem Konzept eigentlich zu verstehen sei.35 Gleiches gilt allerdings für Herz’ „Universalinteresse“, wie diese Arbeit gezeigt hat. Herz warf Morgenthau vor, dieser erforsche nicht, was hinter dem außenpolitischen Entscheidungsprozess stehe,36 übersehe er doch die subnationalen Interessen, beispielsweise wirtschaftlicher oder religiöser Gruppen, die ebenfalls einen enormen Einfluss auf die Außenpolitiken ihrer Ländern nähmen. Das Gleiche gelte mit Blick auf die Bürokratie oder die Gesetzgeber, sowie andere an der Regierung beteiligte Partikularkräfte. Lange bevor der neoklassische Realismus diesen Punkt aufgriff, maß Herz den innenpolitischen Faktoren für den außenpolitischen Entscheidungsprozess also massive Bedeutung zu – entschied sich allerdings, indem er das Sicherheitsdilemma als entscheidende strukturelle Konstante für das außenpolitische Verhalten von Staaten identifizierte, zunächst ebenfalls gegen deren Berücksichtigung. Seine eigene Argumentation ließ also ebenso wenig Raum für die Faktoren, deren mangelnde Berücksichtigung er Morgenthau und dem Realismus vorgeworfen hatte. Mit seiner Kritik nahm er Abstand von der realistischen Vorstellung eines „rational actor“, der die Geschicke der Außenpolitik alleine bestimmte.37 In einer Zeit, in der die Entscheidungsprozesse in der Außenpolitik nicht mehr in einer Hand lägen, könne Morgenthaus Bild des klugen Staatsmannes die Wirklichkeit nicht mehr modellhaft widerspiegeln, so Herz.38 34

Vgl. Hacke, Ein Rückblick auf John Herz, S. 5. Vgl. exemplarisch Herz, Letter to the Morgenthau Conference, S. 25. 36 Vgl. Herz, Der ‚Politische Realismus‘ Hans J. Morgenthaus, S. 396. 37 Später sollte Graham T. Allison genau diesen Punkt in seinem berühmt gewordenen Buch Essence of Decision: Explaining the Cuban Missile Crisis aus dem Jahre 1971 aufgreifen. Graham entwickelte hier zwei Analysemodelle, die das bis dato herrschende Rational Actor Model herausforderten und genau um die Punkte kreisten, die Herz in seiner Kritik an Morgenthau angesprochen hatte: Organizational Process Model und Bureaucratic Politics Model. Vgl. Graham T. Allison/Philip Zelikow, Essence of Decision: Explaining the Cuban Missile Crisis, 2. Auflage, New York 1999. 38 Vgl. Herz, Political Realism Revisited, S. 189 f. 35

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I. Schlussbetrachtung

Das zweite realistische Kernkonzept „Macht“ erschien ihm spätestens seit der Veröffentlichung von International Politics in the Atomic Age ein zunehmend relativer Begriff zu sein, von „Macht“ im traditionellen Sinne jedenfalls könne man nicht mehr sprechen. Ursächlich für die schwindende Aussagekraft des Machtbegriffes war das von ihm prognostizierte Ende des Territorialstaats. Herz, der das Machtpotential eines Staates im Westfälischen Staatensystem von der territorialen Einheit herleitete, auf die sie sich stützte, beobachtete im Nuklearzeitalter, dass Staaten durch die ungeheure Zerstörungskraft der neuen Waffe permeabel, also durchlässig geworden waren. Dies versetze sie nicht mehr in die Lage, ihre Schutzfunktion autark zu erfüllen. Er argumentierte, während Macht im Territorialzeitalter hauptsächlich durch geopolitische und militärische Faktoren definiert worden sei, spielten diese Faktoren unter den gewandelten nuklearen Bedingungen nur noch eine untergeordnete Rolle. Da beide Seiten durch die Möglichkeit eines nuklearen Zweitschlags in der Lage seien, sich gegenseitig zu vernichten, sei es bedeutungslos, über wie viel mehr atomare Sprengköpfe, Mittelstreckenraketen, etc. der Gegner verfüge. Herz verabschiedete sich an dieser Stelle von einem realistischen Verständnis von Macht und zog den Schluss, sie könne nicht länger als Basis einer aussagekräftigen Theorie für das Nuklearzeitalter dienen. Er übersah dabei, dass der von ihm diagnostizierte Wandel des Wesens von Macht nicht gleichzeitig die Abschaffung derselben bedeutete, zumal sich diese Veränderung für verschiedene Staaten verschieden gestaltete. Die unterschiedlichen Machtkapazitäten der Staaten sind somit auch heute noch ein ausschlaggebender Faktor für die Gestaltung internationaler Politik, selbst wenn man annimmt, dass sich Macht nicht mehr hauptsächlich militärisch oder geopolitisch bestimmen lässt. Sein gewandeltes Machtverständnis öffnete Herz schon früh den Blick für die so genannten „soft security issues“. Schon Ende der 1940er Jahre, als viele seiner Zeitgenossen die neuen Sicherheitsbedrohungen noch nicht einmal erahnten, erkannte er die Gefahren von Umweltzerstörung, Ressourcenausbeutung und Überbevölkerung für die ganze Welt und wurde so zu einem intellektuellen Pionier der neuen sozialen Bewegungen, die dann in den 1970er Jahren in Nordamerika und Europa entstanden. Dies unterschied ihn von Morgenthau, der von diesen Überlebensproblemen „in keiner der vielen Auflagen seines Hauptwerks Politics Among Nations“39 und auch in keiner seiner Einzelstudien Kenntnis nehme, wie Herz kritisch bemerkte.40 Schon früh warnte Herz davor, dass kein Staat die neuen globalen Probleme alleine lösen könne. Zum Zusammenschluss der Betroffenen in internationa39 40

Herz, Der ‚Politische Realismus‘ Hans Morgenthaus, S. 369. Vgl. ebd.

I. Schlussbetrachtung

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len Organisationen gab es für ihn schlichtweg keine Alternative. Das Beharren der Staaten auf ihrer „nationalen Souveränität“ erschien ihm daher anachronistisch. Sollte der Realismus tatsächlich Recht mit seinem grundsätzlichen Pessimismus bezüglich internationaler Kooperation und Fortschritt im internationalen System behalten, war für ihn die „Überlebenswelt“ dem Untergang geweiht. Er wurde daher nicht müde, einen konsequenten Bewusstseinswandel zu fordern, eine „planetarische“ Geisteshaltung, die er „Universalismus“ taufte und die in einer veränderten internationalen Politik ihren Niederschlag finden sollte. Damit hatte sein Ansatz mit den Grundannahmen des Realismus, die am Anfang dieser Arbeit stehen, nicht mehr viel gemein. Von einigen Vertretern der realistischen Schule wurde er daraufhin nicht, oder nicht mehr, als vollwertiges Mitglied anerkannt und hart kritisiert. Kenneth Thompson schrieb: „[T]he evolution of his thoughts reflects this tendency to embrace utopian liberal attitudes . . ., not self-critically or dialectically as did Reinhold Niebuhr but with his own brand of romantic enthusiasm.“41 Arnold Wolfers warf Herz nach der Lektüre von International Politics in the Atomic Age vor, genau in diejenige utopistische Fallgrube gestolpert zu sein, die Herz selbst immer wieder so entschieden habe vermeiden wollen.42 Beide, Thompson wie Wolfers, zielten in ihrer Kritik darauf ab, dass Herz in seinem Versuch einer Synthese zu weit gegangen sei und die Grundannahmen des Realismus damit letztlich preisgegeben habe. Der Vorwurf, ein Utopist zu sein, traf Herz tief. Immerhin hatte er seine gesamte akademische Laufbahn damit verbracht, einen utopischen Idealismus anzuprangern und immer wieder seine Distanz zu einem solchen Ansatz betont.43 In seinen späteren Schriften tauchte daraufhin wiederkehrend die Frage auf, ob seine Erwartungen tatsächlich utopisch seien – nur um die Frage jedes Mal selbst klar zu verneinen. „I have always been fighting utopian visions, but considered realizable agendas to be in conformity with political realism. A realistic liberalism can promote progressive and humanitarian ideals as well as survival aims. On this, my long-held theoretical basis, I still, at the end of my long life, consider survival agendas as realizable.“44 41

Thompson, Masters of International Thinking, S. 111. Vgl. Wolfers in seiner Besprechung des Buches International Politics in the Atomic Age, in: Political Science Quarterly, Vol. LXXIV, No. 3/1959, S. 438. 43 Dies betont auch Booth, Navigating the ‚Absolute Novum‘, S. 515: „Writing at a time when the Cold War was intensifying, and the disciplinary grip of realism was strengthening, Herz was undoubtedly more concerned about being attacked for being too idealistic or utopian rather than for being tentative or over-general. Like Carr, he seemed above all to be anxious to avoid being simply labelled ‚utopian‘; and this was a label he continued vigorously to resist until the end of his life.“ 44 Herz, On Human Survival (2006), S. 25. 42

302

I. Schlussbetrachtung

Ob man Herz angesichts der klar erkennbaren idealistischen und optimistischen Komponente in seinem Werk tatsächlich noch zu den außenpolitischen Realisten zählen kann, ist indes tatsächlich zweifelhaft. Sein primäres Ziel war nicht, sein Denken einer geschlossenen realistischen Logik zu unterwerfen, um Stringenz zu bewahren. Realismus verstand er nie als starres Konzept: „I didn’t mean to stop there all my life.“45 Ihm ging es vielmehr darum, unter dem Eindruck einer sich stetig wandelnden Welt immer wieder zu überprüfen, welche realistischen Konzepte ungebrochene Geltung besaßen und welche Argumente die Wirklichkeit am besten abbildeten.46 Er forderte dazu auf, die Gegebenheiten immer wieder neu analysieren, „in einer Weise, die nur dann relevant bleibt, wenn sie zukunftsorientiert ist.“47 Er wollte den Realismus in Frage stellen, erweitern und verbessern – buchstäblich über ihn hinausgehen. Dessen größte Schwäche sah Herz in der mangelnden Berücksichtigung liberaler Ideale. Seinen Realliberalismus wollte er nicht einfach in den Dienst einer apologetischen Machtpolitik stellen, sondern dazu beitragen, die zwischenstaatlichen Beziehungen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zum Bessern zu verändern. Sein theoretischer Ansatz weist daher von Anfang an konsequent eine stark normative Komponente auf, die weiter führte, als bei anderen Realisten. Während er mit dem „Sicherheitsdilemma“ eine Theorie der internationalen Politik entwickelt hatte, ging es im „Realliberalismus“ darum, eine konkrete Außenpolitiktheorie zu entwickeln, um das Sicherheitsdilemma abzumildern und den außenpolitischen Entscheidungsträgern Leitlinien an die Hand zu geben, wie sie sich unter den realpolitischen Zwängen am besten zu verhalten hätten. Wie diese Arbeit gezeigt hat, ist es Herz nicht gelungen, seinen eigenen Anspruch an dieser Stelle zu erfüllen. So bleibt seltsam vage und offen, welche konkreten Handlungsempfehlungen für die Politik sich hinter Herz’ „Realliberalimus“ tatsächlich verbergen. Dieser Vorwurf gilt gleichermaßen für die mangelnde inhaltliche Ausgestaltung des „Universalismus“. Beide Konzepte zielen vielmehr auf einen Wandel in der Geisteshaltung ab, der dann zu einer gewandelten Politik führen sollte. Das Bewusstsein bestimmte bei Herz also das Sein. Diese Annahme steht allerdings in logischem Widerspruch zu der Prämisse, die dem Sicherheitsdilemma zugrunde liegt. Denn dieses stellt ja einen strukturellen Zwang dar; es ist die entscheidende Konstante für das außenpolitische Verhalten von Staaten. Gleichzeitig suchte Herz diesen Zwang durch das individuelle Verhalten der Akteure im Sinne eines angewandten „Realliberalismus“ oder „Universalismus“ zu überwin45 46 47

Herz, Political Realism Revisited, S. 184. Vgl. Ashley, S. 228. Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 35.

I. Schlussbetrachtung

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den. Er argumentierte folglich auf der Akteursebene gegen seine eigenen strukturellen Grundannahmen Damit verstrickt er sich, wie er selbst erkannte, in ein „unnatürliches“ – oder, wie man mit gutem Grund ebenfalls behaupten kann: unlogisches – Projekt und opferte die theoretischen Geschlossenheit seines Werks bewusst seinem Wunsch nach einer besseren Welt. Dadurch, dass Herz dem Bewusstsein einen so großen Stellenwert beimaß, hatte er die Grenzen des Realismus schon früh deutlich überschritten.48 Gleichzeitig bot der Rückgriff auf den Faktor „Perzeption“ den einzig möglichen Ausweg aus dem soeben aufgezeigten theoretischen Widerspruch. Denn Wahrnehmung bestimmte laut Herz das Bewusstsein und dieses bestimmte wiederum das Sein. Eine Textpassage aus dem Jahre 1981 vermag dieses Argument zu illustrieren: „Uncritically, we are inclined to think of states, nations, classes, their power relations, balances of power or international systems, as givens possessing the same reality. But these are realities because we are accustomed to view them as givens. To the critical mind, the world of international relations, with its systems and actors, its grouping and conflicts, results from the perceptual and conceptual structures that we, observers or actors, bestow on the world.“49

Indem er postulierte, das Sicherheitsdilemma sei das, was die Menschen daraus machten, und eben nicht objektiv gegeben, verlor der strukturelle Zwang seine Bedeutung und ließ Raum für Wandel. Konsequenterweise gewann „Perzeption“ in seinen theoretischen Überlegungen immer größere Bedeutung, je älter er wurde und je radikaler seine universalistischen Handlungsempfehlungen dem Sicherheitsdilemma zuwiderliefen. Obwohl man dieses Element, dass man mit der heutigen Theoriesprache als „konstruktivistisch“ bezeichnen würde, auch schon in seinen frühen Schriften finden kann, blieb es dort eher eine Randerscheinung und gewann erst nach der Veröffentlichung von International Politics in the Atomic Age an Bedeutung. Dennoch soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, dass Herz in Wahrheit ein Konstruktivist war. Stattdessen wird argumentiert, dass sein Sozialidealismus ihn als denjenigen „Erben eines deutschen Idealismus“ ausweist, zu dem Christian Hacke ihn einmal in einem Brief erklärte.50 Der 48 Morgenthau beispielsweise kritisierte er dafür, dass dieser in Politics Among Nations diesem Faktor zu wenig Beachtung geschenkt habe und regte an, dies in einer Neuauflage des Buches zu verbessern. Vgl. Herz, Some Observations and Suggestions Concerning Hans J. Morgenthau’s Politics Among Nations (4th edition) (unveröffentlichtes Manuskript), ohne Ort, ohne Datum (wahrscheinlich im Zeitraum 1966–1967 entstanden), Box 11, ohne Ordner, Herz Papers. 49 Herz, Political Realism Revisited, S. 184 f. 50 Dies geht aus einem Brief von Herz an Hacke hervor, 30. Dezember 1998, Box 3, Correspondence with Colleagues [Ordner], Herz Papers.

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I. Schlussbetrachtung

Glaube an die menschliche Vernunft, an die Möglichkeit, sich Kraft eigenen Denkens aus den Mechanismen des „Sicherheitsdilemmas“ zu befreien, ist die große Konstante in seinem Gesamtwerk. Richard Ashley hat daher eindeutig Recht, wenn er schreibt: „Herz advances a position that departs radically from the imagery we usually associate with realism.“51 Der Widerspruch zwischen dem, was gemeinhin als „realistisch“ bezeichnet wird und Herz’ Werk lässt sich nun auf verschiedene Weise auflösen: Ein Weg ist es, Herz, zumindest mit Blick auf alle Veröffentlichungen nach 1959, ganz einfach den Status eines wahren Realisten zu versagen. Mit Kenneth Thompson kann man darin übereinstimmen, Herz habe letztlich die Essenz des politischen Realismus aufgegeben. Eine andere Möglichkeit der Auflösung besteht darin, seinen Versuch, realistische Prämissen mit einer idealistischen Zielsetzung zu kombinieren, als positive Erweiterung des Realismus dort zu sehen, wo er an seine Erklärungsgrenzen stößt. In diesem Sinne argumentiert Christian Hacke,52 der Herz große Leistung darin sieht, frühzeitig erkannt zu haben, „dass die neuen globalen Fragen mit dem klassisch realistischen Instrumentarium von Machtgleichgewicht und nationalem Interesse allein nicht mehr zu bewältigen sind“53. Es ist zumindest eindeutig, dass Herz’ Werk auch realistische Züge trägt und dabei geholfen hat, dem Realismus Form und Substanz zu geben. Dies gesteht auch Ashley zu: „To say that Herz’s contribution to the realist dialogue is an important one is a gross understatement.“54 Insbesondere die Bedeutung seines „Sicherheitsdilemmas“ für die Internationalen Beziehungen kann dabei kaum überschätzt werden, da es für die Etablierung des Faches als eigenständige Disziplin maßgeblich mitverantwortlich war, wie Stefano Guzzini richtigerweise anmerkt.55 Wissenschaftlich zu beanstanden ist, dass heute weitgehend unbekannt ist, wer der Namensgeber dieses Konzepts war. Jack Donelly nennt Herz aufgrund seiner Verdienste für den Realismus in einem Atemzug mit E. H. Carr einen „hedged realist“56, der Anarchie als Grundproblem internationaler Politik akzeptiert habe, aber sich gleichzeitig weigere, Machtpolitik als dessen Lösung anzuerkennen. Dennoch zweifelt auch er an der Sinnhaftigkeit, „hedged realists“ tatsäch51

Ashley, S. 205. Vgl. Hacke, Ein Rückblick auf John Herz, S. 5. 53 Hacke, Ein Vordenker des 21. Jahrhunderts, S. 97. 54 Ashley, S. 232. 55 Vgl. Guzzini, S. 35. Außerdem, so Guzzini, habe das Sicherheitsdilemma dazu beigetragen, die Disziplin der Internationalen Beziehungen wissenschaftlich zu unterfüttern, da der eher unwissenschaftliche, weil auf dem Menschenbild basierende, Erklärungsversuch Morgenthaus hier wenig dienlich gewesen sei. Vgl. ebd. 56 Donnelly, S. 12. 52

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lich „realistisch“ zu nennen: „At some point, (non-realist) ‚hedges‘ become as important as the (realist) ‚core‘, making it misleading to label the resulting position or argument ‚realist‘.“57 Es ist fraglich, ob es angesichts der Breite und Tiefe des Herzschen Denkens überhaupt sinnvoll ist, ihn auf ein exaktes Label festlegen zu wollen, wie insbesondere Ken Booth anmerkt: „[T]he categorisation of Herz simply as a ‚realist‘ is to indulge in the disciplinary predilection of categorising people instead of ideas. Herz’s thinking about the world was too complex to be described by one (contentious) label such as ‚realist‘, but analysts seem to love to label, and in so doing are prone to tie themselves into knots.“58

In dieser Arbeit ist deutlich geworden, dass die unterschiedlichsten Denkschulen Herz für sich reklamieren könnten: Struktureller, offensiver, defensiver und neoklassischer Realismus, Idealismus, Institutionalismus, Englische Schule und Konstruktivismus. Dennoch eignet sich sein Denken nicht für eine eindimensionale Vereinnahmung, es ist weder klar noch einfach zuzuordnen, es ist voller widerstrebender Annahmen, Erkenntnisse, Einflüsse. Vor allem aber ist es gezeichnet durch den Versuch, einen Dialog zwischen diesen unterschiedlichen Elementen zu schaffen, mit der Intention, den geschlossenen Kreislauf der Realisten zu durchbrechen. Für dieses Ziel stand Herz ein Leben lang ein, unbeschadet der Kritik, die ihm dafür aus dem realistischen Lager entgegenschlug. Dass sein Weg des Kompromisses zwischen zwei widerstreitenden Kräften weder einfach, noch widerspruchsfrei, noch ruhmreich war, darüber war er sich bewusst. Booth bemerkt dazu treffend: „Herz recognised these potential downsides of his approach, though he continued to fly its flag.“59 Er erkannte, dass sein Ansatz logische Brüche aufwies und weniger stringent war als die realistischen Gedankengebäude eines Hans Morgenthau oder gar eines Kenneth Waltz. In einem Brief an Christian Hacke sann er darüber nach und schrieb: „Es ist wohl weniger eindrucksvoll als eine Einstellung, die, wie bei Morgenthau, ein Leben hindurch konsequent die gleiche geblieben ist. Aber ich kann von mir nur sagen ‚Nur wer sich wandelt, ist mit mir verwandt‘.“60 Herz blieb ein wissenschaftlicher Einzelgänger. Nicht viele Theoretiker der Internationalen Beziehungen haben seine Gedanken aufgegriffen.61 Es 57

Ebd., S. 13. Booth, Navigating the ‚Absolute Novum‘, S. 518. 59 Ebd., S. 521. 60 Herz an Christian Hacke am 2. Februar 1979. 61 Einer der wenigen, der Herz’ Verdienste anerkennt und sich explizit auf dessen theoretische Überlegungen beruft, ist Ken Booth. Zusammen mit E. H. Carr stellt Herz insofern ein akademisches Vorbild für Booth dar, als beide Denker einen Mittelweg zwischen Realismus und Idealismus anstrebten. Anfang der 1980er Jahre 58

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ist jedoch kritikwürdig, dass sein Werk so sehr in Vergessenheit geraten ist, gerade weil die Mehrdimensionalität seiner Überlegungen auch heute noch Modell für eine zeitgemäße Analyse der internationalen Beziehungen stehen kann. Einer Disziplin, in der sich die Theorielandschaft in einem Stadium ständiger Ausdifferenzierung befindet, täte es gut, das Nebeneinander verschiedener und zum großen Teil miteinander konkurrierender Theorien, Ansätze, Perspektiven und Konzepte zugunsten des Herzschen Blicks auf das „große Ganze“ zu relativieren.62 Die Spannungen innerhalb seines Werkes spiegeln in paradigmatischer Weise die Widersprüchlichkeiten der realen Welt. Seine Überlegungen liefern viele Antworten, werfen aber noch mehr Fragen auf, die zu stellen auch heute noch angebracht ist. Fest steht, dass Herz’ „population-resources-environment-nuclear arms crisis“63 mit einiger Sicherheit eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist. Die Frage, wie man mit dem Energiehunger einer stetig wachsenden Bevölkerung umgeht, ist immer noch ungelöst, bei gleichzeitig gestiegener Bedrohung und wachsendem Eskalationspotenzial. Fest steht allerdings auch, dass seine „universalistische“ Kur bisher wenig Anhänger und noch weniger praktische Umsetzung gefunden hat. Einige mögen dies als Beweis ihres utopischen Charakters sehen. Vielleicht ist es aber vielmehr so, dass die Welt sich noch immer weigert, diejenigen Konsequenzen zu ziehen, die Herz so dringend angemahnt hat, und damit vor den größten Probleme die Augen verschließt, die sie momentan zu bewältigen hat. Herz selbst hat einmal über sich gesagt: „Manchmal habe ich Dinge vorweggenommen in meinem Leben und Schreiben, die dann später eintraten oder später anerkannt wurden.“64 Abzuwarten, ob dies auch für seine Weltuntergangsszenarien gilt, könnte sich als gefährliche Taktik erweisen.

nannte Booth seinen eigenen theoretischen Ansatz „utopian realism“ (vgl. Booth, Security in Anarchy: Utopian Realism in Theory and Practice, S. 527–545). Er hat von dieser Bezeichnung jüngst allerdings Abstand genommen und angemerkt, er ziehe die Bezeichnung „emancipatory realism“ vor (vgl. Ken Booth, Theory of World Security, Cambridge et al. 2007, S. 90–91). Letzterer Begriff stammt aus der Diskussion zwischen Richard Ashley und John Herz in der Zeitschrift International Studies Quarterly (vgl. Ashley, S. 204–236 und Herz, Comment, S. 237–241.) 62 Zum Theorienpluralismus innerhalb der Internationalen Beziehungen vgl. Manuela Spindler/Siegfried Schieder, Theorie(n) in der Lehre von den internationalen Beziehungen, in: Dies. (Hrsg.), Theorien der Internationalen Beziehungen, 2. Auflage, Opladen/Farmington Hills 2006, S. 9–37. 63 Diese schöne Wortschöpfung stammt von Herz, Relevancies and Irrelevancies in the Study of International Relations, S. 28. 64 Herz im Interview mit J. P. am 22. März 2005 in Scarsdale, NY, Kassette 4.

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Unveröffentlichte Manuskripte und andere Materialien (nach Datum) Handschriftliches Dokument ohne Adressaten, geschrieben in Genf am 12. März 1938, Box 28, Herz Papers. Statement of Work and Activities in OSS, ohne Ort, ohne Datum [wahrscheinlich Washington, D. C. 1948], Box 15, Herz Papers. Die Wissenschaft von der Außenpolitik in den Vereinigten Staaten, ohne Ort, Juli 1959, Box 17, Theories of International Relations Lecture Notes [Ordner], Herz Papers. Manuskript, ohne Titel, ohne Ort, ohne Datum, Box 4, Berkely Lectures 1959 [Ordner], Herz Papers. Vortragsskript, ohne Titel, ohne Ort, ohne Datum [vermutlich Marburg 1968], Box 4, Herz Papers. Some Observations and Suggestions concerning Hans J. Morgenthau’s Politics Among Nations (4th edition), ohne Ort, ohne Datum [wahrscheinlich im Zeitraum 1966–1967 entstanden], Box 11, ohne Ordner, Herz Papers. Zu Protokoll gegeben, Manuskript ohne Ort [vermutlich Scarsdale], ohne Datum [vermutlich in den frühen 1970er Jahren geschrieben], Box 6, Herz Papers. German Government and Politics from the Textbook author’s viewpoint, Prepared for Delivery at the German Studies Conference at Indiana University, Bloomington, Indiana, March 24/25, 1972, Box 4, Herz Papers. Manuskript der Rede anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes im Jahre 1975, ohne Titel, ohne Ort, ohne Datum [vermutlich 1975], Herz Papers. Vortragsskript, ohne Titel, ohne Ort, ohne Datum, vermutlich Berlin 1981, Box 17, „Lecture Notes and Lectures in Germany 1981“ [Ordner], Herz Papers. Role of the United States in International Relations, Vortragsskript, Box 17, Lecture Notes and Lectures in Germany 1981 [Ordner], Herz Papers. Weltpolitik zwischen Konflikt und Ausgleich – Internationale Beziehungen im Atomzeitalter, Vorlesungsnotizen zu einer Vorlesung an der FU Berlin im Sommersemester 1981, Box 17, Lecture Notes FU Berlin 1981 [Ordner], Herz Papers.

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Leserbriefe Leserbrief an die New York Times, ohne Titel, 12. Februar 1950. Democrats Have Abandoned Ideals, in: The Scarsdale Inquirer, 9. August 1996. Leserbrief an den Aufbau, ohne Titel, 14. Oktober 1994, S. 8. Leserbrief an den Aufbau, ohne Titel, 3. April 2003, S. 11.

Interviews Herz im Interview mit John Spalek am 19. September 1980 und am 3. Oktober 1980 in Scarsdale, N.Y., USA. Die vier Kassetten, auf denen das Interview aufgezeichnet wurde, sind Teil der German Intellectual Émigré Tape Recordings

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Personenregister Arendt, Hannah 15, 325 Booth, Ken 9, 12, 24, 85, 161, 184, 189, 194, 197 f., 295, 301, 305 f., 318 f., 325 f., 331, 333 Bull, Hedley 18 f., 163, 319, 326 Carr, Edward H. 11 f., 14, 20, 127 f., 154, 157, 159, 184, 200, 205, 298, 301, 305, 319, 326, 330 Ferrero, Guglielmo 70, 85, 116, 161, 319 Flechtheim, Lilli 210, 255, 257, 292 f., 308 f., 310, 313–315 Flechtheim, Ossip 25, 30 f., 75, 78, 83, 94, 125, 129, 140, 146, 158, 202, 204, 246, 254, 258, 266 f., 278, 291–294, 296, 308, 311, 313–315, 317, 327 Gilpin, Robert 19, 20, 77, 327 Hartmann, Nicolai 35, 49, 54–57, 68, 125, 307, 320 Hobbes, Thomas 39, 64, 85, 99, 114, 161 f., 197, 200, 205 f., 209, 249, 291, 321 Kahn, Hermann 217 f., 221, 272, 320, 328 Kelsen, Hans 10, 14, 22 f., 35–52, 54, 56–65, 67–70, 74, 78, 81, 84, 99, 100, 109, 121, 123, 158, 171, 175 f., 181, 229, 294, 297, 309, 313, 318 f., 321 f., 327–331 Kirchheimer, Otto 10, 134–136, 140, 146

Kissinger, Henry A. 11 f., 107, 119, 208, 215, 217 f., 244, 257, 319, 321, 324 Marcuse, Herbert 10, 15, 134 f., 137 Mayer, Hans 30, 35, 43, 74, 316, 322 Mearsheimer, John J. 19 f., 109, 189, 193, 196, 198, 205, 219 f., 224 f., 283, 322, 326, 330 f. Morgenthau, Hans J. 9, 11 f., 15, 17–19, 21, 36, 41, 51–54, 59–61, 64, 68–70, 78, 84, 86, 91, 93, 96, 106 f., 109, 111–115, 119, 123, 126 f., 138, 154 f., 157, 160, 162 f., 165 f., 168, 174, 183 f., 191 f., 199 f., 203–206, 233 f., 247, 255 f., 268, 280, 297–300, 305, 310, 315 f., 319, 323, 326, 330 f. Neumann, Franz L. 10, 95 f., 98, 101, 103, 111, 113, 134 f., 137, 140, 142, 286, 319, 328, 330 Niebuhr, Reinhold 11, 21, 163, 204, 247, 301, 315, 319 Scelle, George 75, 175 f., 325 Schmitt, Carl 38 f., 52–54, 59, 62 f., 69, 80, 110, 112 f., 127, 177, 205, 273, 311, 319–321, 323, 326, 330 f., 333 Schwab, George 53, 255, 313, 328 Spengler, Oswald 28, 111, 121, 188, 260 f., 324 Strauss, Leo 15, 161 Thompson, Kenneth W. 11, 14, 24, 149, 169, 204, 248 f., 255, 275, 294, 301, 304, 313, 324, 332

Personenregister Waever, Ole 14, 20, 333 Waltz, Kenneth N. 19, 118, 165, 173 f., 179, 184, 190–193, 217–219, 222, 240, 241, 247, 283, 305, 313, 318 f., 322 f., 325, 332, 333 Weber, Alfred 260 f., 325

335

Weber, Max 42, 58 f., 68, 100, 110, 113, 267, 293, 324, 325 Wheeler, Nicholas J. 24, 85, 161, 189, 194 f., 197 f., 295, 319, 326, 333 Wolfers, Arnold 109, 115, 247 f., 301, 333

Die intellektuelle Biographie widmet sich Leben und Werk des deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftlers John H. Herz. Als Hans Hermann Herz 1908 in Düsseldorf geboren, emigrierte der Deutsche jüdischen Glaubens während des Dritten Reiches in die Vereinigten Staaten. Dort wurde er zu einem führenden Gelehrten seiner Zeit und gilt als einer der Gründungsväter des Realismus. Seine Veröffentlichungen zählen bis heute zu Schlüsseltexten der IB-Theorie. Die Untersuchung nähert sich Herz auf drei Ebenen: Auf der biographischen Ebene widmet sie sich dem Mann hinter dem Werk. Auf der zeitgeschichtlichen Ebene untersucht sie den Einfluss, den die Weltereignisse im letzten Jahrhundert auf die Entwicklung seines Denkens genommen haben. Auf der theoretischen Ebene steht das Werk im Vordergrund; die Untersuchung analysiert hier die Rolle, die Herz innerhalb der Theorieentwicklung der Disziplin gespielt hat, und versucht, sein Denken zu kategorisieren.

Jana Puglierin ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag. Zuvor war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V., am Lehrstuhl für Politik und Zeitgeschichte sowie am Nordamerikastudienprogramm der Universität Bonn und hatte einen Lehrauftrag an der Universität Chemnitz. Frau Puglierin studierte Politikwissenschaft, Völker- und Europarecht sowie Soziologie an der Universität Bonn, der Sorbonne, der Venice International University und der University of Albany.

ISBN 978-3-428-13356-7

9 783428 133567