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German Pages 228 Year 2014
Florian Niedlich (Hg.) Facetten der Popkultur
Florian Niedlich (Hg.)
Facetten der Popkultur Über die ästhetische und politische Kraft des Populären
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Danksagung
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Einleitung F LORIAN N IEDLICH
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1 I DENTITÄTEN UND LEBENSWELTEN You Can See Me Aging! Altersbilder im populären Film – The Wrestler M ARCUS S. K LEINER
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Pop Identities. Postmoderne Identität, Popkultur und Hanif Kureishis The Black Album F LORIAN N IEDLICH
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Der Cyborg als Archetyp des Posthumanen – Terminator I-IV A LEXANDER K LUGER
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2 SPIEL UND GELÄCHTER Inside Argument Clinic. Tiefendimensionen des Komischen in Monty Pythons Flying Circus R ALPH P ORDZIK Signifikante Körper – Humor als emergentes Phänomen in Little Britain W OLFGANG F UNK Pop, Parodie und Profanierung R OBERT F AJEN
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3 GESCHICHTE (N) Phantastik und Philosophie in Guillermo del Toros El laberinto del fauno C ORNELIA R UHE Spiel mit der Angst: Britischer Hip-Hop nach 9/11 L ARS E CKSTEIN
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Eschatologie in der amerikanischen Populärkultur: Eine politische Lesart der Left Behind-Serie P ASCAL F ISCHER
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Autorinnen und Autoren
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Register
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Danksagung
Der vorliegende Band ist aus einer im Sommersemester 2010 an der Universität Würzburg abgehaltenen Vortragsreihe hervorgegangen. Für die großzügige finanzielle Förderung dieser Veranstaltung danke ich der Hochschulleitung und dem Universitätsbund Würzburg. Darüber hinaus gilt mein großer Dank Stephan Kohl, der bis 2011 den Lehrstuhl für englische Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Würzburg inne hatte und ohne dessen Rückhalt und fortwährende Unterstützung in allen Phasen des Projekts dieses Buch nicht möglich gewesen wäre. Ganz besonders sei auch Thomas Schröter gedankt, der mir mit seinem unerschöpflichen Engagement, seiner Geduld und Sorgfalt eine unentbehrliche Hilfe bei den redaktionellen Arbeiten und der Erstellung des Typoskripts war. Für ihre Unterstützung, ihren Rat und ihre Anregungen danke ich außerdem ganz herzlich Anna Cord, Ralph Pordzik, Pascal Fischer und Elke Demant. Schließlich gilt mein Dank den Autorinnen und Autoren des Bandes, deren Bereitschaft, mit ihren Beiträgen verschiedenste Facetten der Popkultur näher zu beleuchten, mir die Realisation eines Projekts zur Kraft des Populären überhaupt erst ermöglichte. Würzburg, August 2011
F.N.
Einleitung F LORIAN N IEDLICH
Kommerzkitsch oder Kunst? Verblendung oder Verweigerung? Immer mehr entfaltet sich mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum der Trend zu einer stärker differenzierten Perspektive auf die ästhetischen und politischen Potentiale der Popkultur. Angestoßen unter anderem durch die Arbeiten von Susan Sontag, Umberto Eco und Roland Barthes sowie von den Theoretikern der anglo-amerikanischen Cultural Studies wird nun schon seit einiger Zeit auch hierzulande in akademischen Kontexten angeregt über das Populäre und Popkultur im Speziellen diskutiert. In wachsendem Maße schließen Wissenschaftler in der Nachfolge Leslie Fiedlers den hierarchischen Graben zwischen ‚E‘ und ‚U‘, werden die lange den Gütern der ‚Hochkultur‘ vorbehaltenen Betrachtungsweisen und Kategorien auf die popkulturellen Artefakte übertragen bzw. diese jenseits der dort legitimierten Maßstäbe untersucht. Zum einen geraten so nun die ästhetischen Strukturen von Popmusik, Videoclips und Kinofilmen in den Blick, zum anderen wird ihr diskursives Gefüge analytisch durchdrungen und ihre politisch-gesellschaftliche Dimension betont. Entgegen vorschnellen Verurteilungen des Populären als trivial, kunstlos und zwingend affirmativ wird gegenwärtig seine ästhetische und politische Kraft in ihr Recht gesetzt. Dieser Entwicklung ist der vorliegende Band verpflichtet. Anstatt sich dem Phänomen der Popkultur durch theoretische bzw. historische Reflexionen des Begriffs zu nähern, widmet sich das Buch seinen vielfältigen Facetten. Die hier versammelten Beiträge befassen sich mit der Popliteratur, dem Musikvideo, dem Film, dem Songtext, der TV-Serie und dem Sketch und bewegen sich dabei im Feld dreier aktueller Themenkreise: der im Kontext von Diskussionen um die Popkultur immer wieder gestellten Frage nach den in ihr repräsentierten und den im Zuge ihrer Rezeption ermöglichten Identitätskonstruktionen; der humoristischen, spielerisch-performativen Dimension des Pop; sowie schließlich der Beziehung von Popkultur und Historie. Im ersten, „Identitäten und Lebenswelten“ betitelten Abschnitt des Buches fragt zunächst der Beitrag von Marcus S. Kleiner nach der Kultur des Alter(n)s
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und dem Zusammenhang von Alter(n) und Pop. Durch eine Analyse der Darstellung des Alter(n)s in Darren Aronofskys Film The Wrestler weist Kleiner populäre Kultur als ein Bildungsmedium aus, das „einen konstitutiven Einfluss auf die Gestaltung individueller Lebenswelten und die sozialpolitische Debatte im Kontext der Auseinandersetzung mit der Marginalisierung der Kultur des Alter(n)s ausüben kann“. Mein eigener sich anschließender Aufsatz untersucht das Verhältnis von postmoderner Identität und Popkultur. Anhand einer genauen Analyse des Popromans The Black Album des britischen Schriftstellers Hanif Kureishi, gelesen als postmoderner Bildungsroman, wird beispielhaft gezeigt, dass die postmoderne Neukonzeption von Identität als offen und wandelbar und das ihr beigemessene freiheitliche Potential in den Diskursen der Popkultur mit besonderer Prägnanz hervortreten. Im letzten Beitrag des ersten Kapitels diskutiert Alexander Kluger die Figur des Cyborg in der erfolgreichen Terminator-Filmreihe. Ausgehend von posthumanistischen Theorien untersucht Kluger das kritische Potential der Reihe und fragt, in welchem Umfang die Filme der unheimlichen Grenzverwischung zwischen Mensch und Maschine wirklich Raum geben und mit welchen „Konsolidierungstechniken“ sie dieses beunruhigende Moment wieder zum Zwecke der Massentauglichkeit zu bändigen versuchen. „Spiel und Gelächter“, der zweite Abschnitt des Bandes, beleuchtet die humoristischen und parodistischen Facetten der Popkultur. So befasst sich Ralph Pordzik in seinem Beitrag mit den anarchisch-karnevalesken Filmarbeiten der englischen Monty Python-Gruppe. In seiner sorgfältigen Analyse der Strukturen und Techniken der Komik bei Monty Python weist Pordzik nach, dass das Komische in der Praxis des Ensembles kein Selbstzweck ist, sondern „Träger einer breit aufgestellten Kritik am gesellschaftlichen Establishment“ und an den Werten der bürgerlichen Mittelschichten in Großbritannien. Eine ähnlich widerständige und deterritorialisierende Kraft macht Wolfgang Funk in seinem Aufsatz in dem kontroversen Humor der britischen Sketchshow Little Britain aus. Funk versteht den Humor der Serie als emergentes Phänomen, „das seine Verortung im unaufhörlichen Eindringen des (grotesk und entgrenzt) Körperlichen in die Ordnung traditioneller Referenzrahmen und Diskurse hat“, auf diese Weise sozial dominante Kategorien und Identifikationen immer wieder aufs Neue zersetzt und so letztlich die vorherrschenden Strukturen der Macht angreift. Im abschließenden Beitrag des zweiten Kapitels geht Robert Fajen den parodistischen Verfahren der Popkultur nach. Eine genaue Untersuchung der parodistischen Strukturen des Beatles-Klassikers „Back in the USSR“ einerseits und der TV-Serie Switch Reloaded andererseits legt den entlarvenden, subversiven Impetus der Parodie frei und macht deutlich, dass solche popkulturellen Parodien in der Folge Giorgio Agambens als Profanierungen verstanden werden können, die die Verfahren und Sinnstrukturen der modernen Religion des Kapitalismus und Konsums „aufbrechen, sie freilegen, entstellen und zumindest vorübergehend einem neuen Gebrauch zugänglich machen“.
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Der dritte und letzte Abschnitt des Buches trägt den Titel „Geschichte(n)“ und thematisiert den Nexus von popkulturellen Geschichten und der Geschichte (deren bestimmter Singularartikel freilich eine Täuschung ist, da auch sie nur innerhalb der Grundmuster und des Plurals von Geschichten Form gewinnt). Die hier versammelten Texte widmen sich diversen Formen der popkulturellen Bearbeitung von historischen Ereignissen bzw. der Reaktion auf diese in den Medien der Popkultur: der Spanische Bürgerkrieg, die Terroranschläge vom 11. September 2001 und 7. Juli 2005 sowie schließlich das imaginierte Ende der Welt selbst. Cornelia Ruhes Beitrag über Guillermo del Toros Film El laberinto del fauno (Pans Labyrinth) analysiert die Elemente aus Mythologie und Phantastik, derer sich der Film in seiner Darstellung des spanischen Faschismus bedient. Ruhe diskutiert das ambivalente Verhältnis von historisch-realistischer Filmebene und „Anderswelt“ und zeigt, dass die phantastische Ebene eine kompensatorische Funktion erfüllt, da „es durch sie ermöglicht wird, Erklärungen für ansonsten Unerklärliches zu finden“. Diese Funktion wird jedoch nicht, wie in der Phantastikforschung üblich, über die Psychoanalyse, sondern die Philosophie begreiflich. Im darauf folgenden Aufsatz untersucht Lars Eckstein den Umgang von britischen Hip-Hop-Musikern mit (süd-)asiatischen Wurzeln mit der Reaktion Großbritanniens auf die Anschläge des 11. September und des 7. Juli. Auf komplexe Art und Weise liest er den Song „Cookbook D.I.Y.“ der Formation Fun^da^mental und M.I.A.s Erfolgssingle „Paper Planes“ sowie die dazugehörigen Videoclips gegeneinander und legt dar, wie sie mittels eines provokanten Spiels mit der Angst inner- und interethnische Spannungen nach 9/11 und 7/7 produktiv aufgreifen und künstlerisch kontrovers umsetzen. Pascal Fischers Beitrag zu Eschatologie und Populärkultur beschließt den Band. Fischer verknüpft die beiden Phänomene bei seiner Betrachtung des politischen Gehalts von Left Behind, einer millenaristischen Romanserie evangelikaler Christen in den USA. Er demonstriert, dass die Reihe mit ihrer antisemitisch geprägten Kapitalismuskritik – welche dem endzeitlichen Denken entspringt – zu illustrieren vermag, dass die häufig vollzogene Gleichsetzung von Subversion und Aufklärung zu kurz greift. Facetten der Popkultur, so die zentrale These dieses Buches, können sowohl ästhetisch aufregend als auch politisch bedeutungsvoll sein.1 So beschreiben die Beiträge die künstlerischen Strukturen und Semantiken der diskutierten Werke und erforschen ihr politisches Potential. Häufig ausgehend von Ansätzen der Critical Theory – unter anderem von Judith Butler, Gilles Deleuze und Félix Guattari, Michail Bachtin, Jacques Derrida und Giorgio Agamben – betrachten sie die untersuchten Artefakte als signifikante Elemente in der popkulturellen „Arena von Zustimmung und Widerstand“
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Es wäre keine Übertreibung, zu sagen, dass beispielsweise das Musikvideo mit seinen oftmals überaus kunstvollen visuellen Oberflächen und seinen hochgradig komplexen diskursiven Strukturen eine der gegenwärtig spannendsten Kunstformen darstellt.
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(Stuart Hall), als komplexe Interventionen in kulturelle Prozesse und gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Auf diese Weise belegen die hier durchgeführten kultur- und medienwissenschaftlichen Analysen eindrucksvoll die Kraft des Populären.
1 IDENTITÄTEN UND LEBENSWELTEN
You Can See Me Aging! Altersbilder im populären Film – The Wrestler M ARCUS S. K LEINER Some people think being a man is unmanly / And some people think that the whole concept’s a joke / But some people think, being a man is the whole point / And then some people wish they’d never grow old (LOU REED, „GROWING UP IN PUBLIC“ [1980])
1 E INLEITUNG In der (politischen, medialen und wissenschaftlichen) Auseinandersetzung mit Alter(n) als soziales Phänomen und Problem moderner Gesellschaften, den Themen Geburtenrückgang und Anstieg der Lebenserwartung bzw. des Anteils alter Menschen in der Gesellschaft sowie den sozialen Folgen beider Entwicklungen,1 spielt(e) bisher ein Aspekt kaum eine Rolle: die Frage nach der Kultur des Alter(n)s. Diese Frage fokussiere ich mit Blick auf einen zentralen Bereich kultureller Wirklichkeit: den populären Film.2 Diesen unterscheide ich unter
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Eine Bestandsaufnahme und Diskussion zu diesen Themen ist nicht Gegenstand meines Beitrags, ebenso wenig eine (kultur-)soziologische oder kulturwissenschaftliche Diskussion des Alter(n)s. Es sei daher exemplarisch unter anderem auf folgende Studien verwiesen: Gubrium/Holstein 2002; Schirrmacher 2005; Strange 2006; Saake 2006; Etzemüller 2007; Hondrich 2007; Thieme 2008; Amand/Kolland 2008; Amrhein 2008; Breinbauer et al. 2010; Aner/Karl 2010. Kino und Film unterscheide ich mit Sanders wie folgt: „Weil das Wort ,Kino‘ im deutschen Alltagssprachgebrauch stark auf Rezeptionsbedingungen verweist, die an Platos Höhle erinnern, spreche ich weiterhin von Film. Ich gebrauche Film in der Regel nicht in der Bedeutung einer Trägerschaft von Einzelbildern, sondern
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anderem vom ‚Autorenfilm‘ (vgl. Grob 2002) und ‚Avantgardefilm/ Experimentalfilm/Undergroundfilm‘ (vgl. Fuchs 2002). Populärer Film ist, als Bestandteil der Unterhaltungsindustrie, an ein Massenpublikum gerichtet, weil er populäre bzw. alltagsnahe Themen zumeist unmittelbar anschlussfähig vermittelt, ohne dabei banal oder ausschließlich stereotyp sein zu müssen, und wird hauptsächlich in Multiplex-Kinos vorgeführt. Die gebräuchliche Bezeichnung dieser Art von Film als Mainstreamfilm (vgl. hierzu Kiefer/Stiglegger 2003) ist für meine Auseinandersetzung mit populärer Kultur nicht differenziert genug, weil sie klassisch Filmkanon-fokussiert ist (vgl. Kleiner 2008). Weiterhin adressiert der Begriff Mainstreamfilm eine binäre Unterscheidung zwischen mehr oder weniger anspruchslosen Filmen und Filmen mit Anspruch, zwischen Unterhaltungskultur und Hochkultur, die für mich zu eingeschränkt ist (vgl. ebd.). Meine Filmanalyse baut auf Überlegungen zum Zusammenhang von Popmusik und Alter(n) auf, die ich an anderer Stelle präsentiert habe (vgl. Kleiner 2010).3 Die dort entwickelte Perspektive werde ich vertiefen und populäre Kultur im Kontext der Frage nach (populären) Bildungsprozessen diskutieren, weil sie einen konstitutiven Einfluss auf die Gestaltung individueller Lebenswelten und die sozial-politische Debatte im Kontext der Auseinandersetzung mit der Marginalisierung der Kultur des Alter(n)s ausüben kann.4 Ich fokussiere mich hierbei auf Darren Aronofskys Film The Wrestler (2008).5 In diesem Film macht die ästhetische Figur Randy „The Ram“ Robinson (Mickey Rourke) Erfahrungen, die einen Bildungsprozess auslösen.
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im Sinne von movie, das – zunächst als Slangwort – in amerikanischem Englisch moving picture abkürzt, was inzwischen häufig durch moving image ersetzt wird. Die deutsche Sprache sieht die Differenz zwischen Bildern, die wir ansehen, und Bildern, die wir uns machen, nicht vor […].“ (Sanders 2007: 200) Der populäre, vor allem westliche, Film hat seit den 2000er Jahren zahlreiche Altersbilder dargestellt, so unter anderem in Space Cowboys (2000), About Schmidt (2002), Something’s Gotta Give (2003), The World’s Fastest Indian (2005), Rocky Balboa (2006), Live Free or Die Hard (2007), No Country For Old Men (2007), Wolke 9 (2008), Crazy Heart (2009) und The Expendables (2010). Auch der Zusammenhang von populärem Film und Alter(n) wurde bisher nicht systematisch untersucht. Die Studie Filmreif von Küpper beschäftigt sich zwar mit dem „Alter in Kino und Fernsehen“, bezieht ihre Analysen aber nicht auf die Leitperspektive populär bzw. populärkulturell (vgl. Küpper 2010). Sanders hat, vor dem Hintergrund der Kinophilosophie von Gilles Deleuze, der Bildungsphilosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari sowie unter Bezugnahme auf den transformatorischen Bildungsbegriff von Rainer Kokemohr, eine eindrucksvolle Analyse von Bildungsprozessen älterer Männer in den Filmen Broken Flowers (2005) und Don’t Come Knocking (2005) vorgelegt (vgl. hierzu vertiefend Sanders 2009, 2010, 2011).
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Unter „Erfahrungen, die wir machen“, verstehe ich mit Seel „Veränderungen, die uns geschehen, indem wir sie vollziehen“ (Seel 1985: 79).6 Warum aber überhaupt über das Thema populäre Kultur und Alter(n) nachdenken im Kontext der Auseinandersetzung mit der Marginalisierung der Kultur des Alter(n)s? Populäre Kultur ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder zum Motor gesellschaftlichen und kulturellen Wandels geworden. Zudem nimmt sie einen konstitutiven Einfluss auf die Gestaltung individueller Lebenswelten. Nicht zuletzt gehört populäre Kultur zu den erfolgreichsten globalen Kulturindustrien. Insofern ist sie eine repräsentative Kultur, der eine fundamentale sozial-politische Bedeutung zukommt.7 Ich werde, ausschließlich fokussiert auf mein Erkenntnisinteresse, mit einer heuristischen Kontextualisierung der Leitthemen beginnen: populäre Kultur, Bildung und Alter(n) (Abschnitt 2). Dies schafft die Basis für meine Filmanalyse (Abschnitt 3). Das Erkenntnisinteresse meiner Filmanalyse8, die durch eine kurze Inhaltsangabe eingeleitet wird, ist darauf gerichtet, zu zeigen, wie Medienproduktionen soziale Bilder sowie Diskurse transportieren und artikulieren. Die Filmanalyse arbeitet die filmische Konstruktion von alternder Männlichkeit sowie deren Verhaltensregeln und Positionsrollen heraus. Der Begriff Mann bezeichnet „den männlichen Körper […] als den Ort, der Teile der sich im Umlauf befindenden Diskurse über Männlichkeit in sich vereinigt. Denn inwieweit ein bestimmtes Verhalten als zu einer Geschlechterkategorie zugehörig betrachtet wird, wird in der Regel in Bezug auf konventionalisierte Gender Prototypen beurteilt“ (Fenske 2008: 45),
also das, was als Geschlechtsentwurf historisch-kulturell variabel ist. Es geht bei meinem Untersuchungsgegenstand um eine filmische Geschichte geschlechtsspezifisch männlicher Erfahrung und männlicher Identitätsbildung, denn Wrestling gilt auch gegenwärtig immer noch primär als Männersache, bei der eine maskulin assoziierte Sprache und Symbolik domi-
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Elsaesser und Hagener betonen entsprechend: „Film ist immer Ausdruck einer Erfahrung, der seinerseits erfahren wird, also wiederum zur Erfahrung eines Ausdrucks wird: ,ein Ausdruck einer Erfahrung durch Erfahrung‘.“ (Elsaesser/Hagener 2007: 148) Siehe hierzu unter anderem den 5. Kulturwirtschaftsbericht NRW (vgl. Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen 2007) oder die Forschungsberichte Gesamtwirtschaftliche Perspektiven der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland (vgl. Söndermann et al. 2009a/b). Meine Filmanalyse fokussiert sich auf die drei Ebenen Sprache und Kommunikation, Figurenkonstellation sowie Alter(n) und Bildungsprozesse bzw. Kultur des Alter(n)s. Hiermit wende ich mich gegen die ontologische Ausschließlichkeit einer Filmanalyse, die sich gegen eine gleichberechtigte Analyse von Film als Bild und Text wendet, Film nur unter dem Aspekt der Filmsprache versteht.
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niert. In The Wrestler wird nicht gefragt, welche Konzepte von Männlichkeit sozial existieren, sondern es werden Männlichkeitskonzepte im Kontext von Wrestling gezeigt. Spielfilme lassen sich, wie Denzin betont, aufgrund der „fließenden Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen“ (Denzin 2000: 420) als audiovisuelle Dokumente lesen, die gesellschaftliche Erfahrung in verdichteter Form zur Darstellung bringen.9 Abschließen werde ich meine Überlegungen mit einem kurzen Ausblick auf kulturelle Möglichkeitsräume des Alterns im Bezugsrahmen populäre Kultur (Abschnitt 4).
2 K ONTEXTE 2.1 Populäre Kultur Pop, Popkultur und populäre Kultur dürfen nicht synonym verwendet werden, ebenso wenig wie populäre Kultur mit der Gesamtkultur gleichgesetzt werden kann. Pop und Popkultur sind Bestandteile populärer Kultur. Unter Pop verstehe ich im Wesentlichen einen weit gefassten musikzentrierten Traditionsbegriff, der sich seit den frühen 1950er Jahren, beginnend mit dem Rock’n’Roll, genetisch herleiten lässt (vgl. u.a. Urban 1979: 11; Ullmaier 1995: 9; Büsser 2000: 12ff., 2004; Büscher 2005: 7). Hiervon ausgehend kann Pop als offenes Feld bzw. als spezifische kulturelle Formation beschrieben werden, „die ein labiles Konglomerat aus Musik, Kleidung, Filmen, Medien, Konzernen, Ideologien, Politiken, Szenebildungen usw. darstellt. Und die so diffuse Inhalte wie Jungsein, Marginalisiertsein, alltägliche Machtkämpfe […], schließlich die ganze Palette von Pubertäts-, Jugend- und Lebensbewältigung bearbeitet.“ (Höller 1996: 56f.) Mit Popkultur bezeichne ich ausgehend hiervon alle Formen der Vergemeinschaftung, die von diesem Pop-Verständnis ausgehen. Programmatisch formuliert: Als es Pop und Popkultur noch nicht gab, gab es schon die populäre Kultur. Populäre Kultur kann, um eine Überlegung von Jacke aufzugreifen, „insgesamt als der kommerzialisierte, gesellschaftliche Bereich verstanden werden, der Themen industriell produziert, massenmedial vermittelt und durch zahlenmäßig überwiegende Bevölkerungsgruppen mit Vergnügen (als Informations- und Unterhaltungsangebote) genutzt und weiterverarbeitet wird“ (Jacke 2004: 21). Populäre Kultur wird hierbei wesentlich als Unter-
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Ergänzend hierzu betont Sanders: „Das Kino wird, weil es uns den Blick auf die Leinwand ermöglicht und unsere Bewegung reduziert, zu einem Labor zur Erforschung von Selbst- und Weltverhältnissen sowie ihrer Transformation in Werdensprozessen. Insofern sollte es Beiträge leisten können zu einer kulturwissenschaftlichen Altern(s)forschung [sic]. Es zeigt uns das Reale des Alter(n)s.“ (Sanders 2010: 293)
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haltungskultur aufgefasst, wobei zwischen Unterhaltung als Kommunikationsweise, als Funktion der Massenmedien, als soziale Institution und als ästhetische Kategorie unterschieden werden kann (vgl. Hügel 2003c: 74).10 Die Epoche des Populären beginnt ab Mitte des 19. Jahrhunderts, ist ein kultureller Zusammenhang moderner Gesellschaften und wird durch die Verbürgerlichung der Unterhaltung bestimmt: „Generell hatte die traditionale, die vormoderne Gesellschaft keine Möglichkeit, Populäre Kultur auszubilden. Solange feste soziale, kirchliche und ständische Ordnungen vorherrschen, geht den kulturellen Phänomenen jener Deutungsspielraum ab, der für Populäre Kultur charakteristisch ist. […] Ohne Rezeptionsfreiheit, verstanden sowohl als Freiheit, das zu Rezipierende auszuwählen, als auch den Bedeutungs- und Anwendungsprozess mitzubestimmen – also ohne ein bestimmtes Maß an bürgerlichen Freiheiten –, gibt es keine Populäre Kultur.“ (Ebd.: 3, 6; vgl. auch Hügel 2003c: 81)
2.2 Bildung Bildung verstehe ich mit Kokemohr grundsätzlich als einen Transformationsprozess: „Bildung [ist] der Prozess der Bezugnahme auf Fremdes jenseits der Ordnung […], in deren Denk- und Redefiguren mir meine ,Welt‘ je gegeben ist. Widerständige Erfahrungen können in Texten, Bildern oder anderen Formen auftreten. Von Bildung zu sprechen sehe ich dann als gerechtfertigt an, wenn der Prozess der Be- oder Verarbeitung subsumtionsresistenter Erfahrung eine Veränderung von Grund legenden Figuren meines je gegebenen Welt- und Selbstentwurfs einschließt.“ (Kokemohr 2007: 21)
Bildung als Transformationsprozess, der auf ein vom Subjekt ausgehendes Selbst- und Weltverhältnis bezogen ist, bedeutet eine eigensinnige Haltung zum und eine selbstbestimmte Modifikation des Bildungskanons der Dominanzkultur, bei der nichts außer Frage steht und nichts unbedingte Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen kann. Bildung als ein unabschließbarer Werdensprozess, der mehr Verunsicherung erzeugt, als Gewissheiten anbietet. Genau dies ist die Intention von The Wrestler, denn die ästhetische Figur
10 Eine differenziertere Eingrenzung der Begriffe populär, Pop, Popkultur und populäre Kultur kann ich an dieser Stelle nicht leisten. Ich verweise exemplarisch auf die folgenden Arbeiten: Hügel 2003a, 2007; Blaseio/Pompe/Ruchatz 2005; Kleiner 2008; Jacke 2009; und vor allem auf die aus meiner Perspektive bedeutendste (deutsche) Studie zur Begriffsbestimmung und zur Unterscheidung der unterschiedlichen Konzepte von populär, Pop, Popkultur und populärer Kultur, die Hecken vorgelegt hat (vgl. Hecken 2009 sowie auch 2007).
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Randy „The Ram“ Robinson wird vor allem im Kontext nicht gelingender Bildungsprozesse dargestellt. Ausgangspunkte für die Auffassung von Bildung als einem Transformationsbegriff sind vor allem Fremdheits- und Krisenerfahrungen. Hiermit werden die Krisenerfahrungen der Moderne (vgl. u.a. Giddens 1996; Heitmeyer 1997) bezeichnet, die unter anderem zu einer „Erosion tradierter Sinnbezüge“ (Jörissen/Marotzki 2009: 16), von Wert- und Weltorientierungen oder Rollenvorbildern beitragen, diese in ihrer Zeitlichkeit und Kontingenz sichtbar machen und Unsicherheit kultivieren. Das Unzeitgemäße der Figur Robinson ist Ausdruck dieser Kultivierung von Unsicherheit. Im von mir diskutierten Film ist Fremdheits- und Krisenerfahrung im Kontext des Alter(n)s das Grundthema.11 Fremdheits- und Krisenerfahrungen gibt es in The Wrestler mit Blick auf seinen männlichen Protagonisten, auf den ich mich fokussiere, wesentlich auf vier Ebenen: erstens, die Darstellung eines Sich-Selbst-Fremd-Seins und -Ablehnens. Daraus resultiert eine Krisensituation in der Selbstgestaltung. Zweitens, Selbstkrisen erzeugende Fremdheit gegenüber der Welt, die keinen Raum zur Selbstgestaltung und Anerkennung12 mehr bietet. Drittens, Fremdheit in den populärkulturellen Bezugssystemen, in denen er gelingende Selbstbildungsprozesse vollzog und aus denen er Anerkennung erhielt, d.h. aus der Welt des Wrestling und der Kultur der 1980er Jahre. Der hiermit verknüpfte Versuch, ein Anderer zu werden, d.h. zu seinem früheren (Star-)Sein zurückzukehren, verursacht eine umfassende individuelle Krisenerfahrung. Viertens existieren keine sozialen Bildungsangebote, durch die Robinson aus der alten Rolle als alternder Star, der keinen exklusiven Platz mehr in der Öffentlichkeit hat, in eine neue Rolle wechseln kann. Es herrscht eine Inszenierung der Kultur des Alter(n)s als soziale Leerstelle. Das Fremde, d.h. das Alter(n), kann nicht unter das Eigene, also den individuell internalisierten Wahrnehmungs- und Weltordnungsmustern, subsumiert werden. Genau dazu bietet The Wrestler, allerdings in der Negation, neue bzw. alternative Sinn- und Orientierungsangebote an. Diese sind bildungstheoretisch relevant, weil sie dazu anleiten, mit den nicht auflösbare Unbestimmtheiten erzeugenden Krisen- und Fremdheitserfahrungen produktiv umzugehen – indem der Zuschauer Stellung zum Film in der Filmaneignung bezieht. Unbestimmtheit wird hier nicht in Bestimmtheit überführt, „die Relativität und Vorläufigkeit der eige-
11 Mit Blick auf die drei Krisentypen der Moderne, die Heitmeyer unterscheidet – Struktur-, Regulations- und Kohäsionskrisen (vgl. Heitmeyer 1997: 636) –, sind es vor allem die letztgenannten Krisen, die in The Wrestler zum Ausdruck kommen: „Analog zur Pluralisierung von Werten und Normen zeigen sich die Sonnenseiten der Individualisierung in der Selbstgestaltung von Lebenswegen und -konzepten, während die Schattenseiten sich unter anderem in Vereinzelung und Vereinsamung dokumentieren können.“ (Ebd.) 12 Vgl. zum Zusammenhang von Bildungsprozessen und Anerkennungsproblematiken unter anderem Stojanov 2006.
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nen Weltsicht ist […] [hierbei] von Anfang an enthalten. Wir bezeichnen diese Art des suchenden, immer unter dem Vorbehalt des ‚AlsOb‘ agierenden Selbst- und Weltverhältnisses als Tentativität.“ (Jörissen/ Marotzki 2009: 19) Bildung erfordert vor diesem Hintergrund ein beständiges Aufs-Spiel-Setzen der eigenen Gewissheiten, ohne sich dabei selbst aufzugeben. The Wrestler kann als filmische Einladung aufgefasst werden, das Unbekannte, d.h. die Kultur des Alter(n)s, tentativ zu erkunden, Erfahrungen mit dem kulturell Anderen und Fremden zu machen. Gerade Filme besitzen, wie Jörissen und Marotzki hervorheben, ein stark reflexives Potential – daraus resultiert ihre Bildungsbedeutung –, weil sie Krisen- und Fremdheitserfahrung eindrucksvoll zur Darstellung bringen und nachvollziehbar machen können, gerade dann, wenn sie Biographisierungsweisen behandeln (vgl. ebd.: 30). Filme, wie Medien generell, sind Räume, um Bildungserfahrungen und Bildungsprozesse zu inszenieren sowie sich diese in der rezeptiven Auseinandersetzung potentiell anzueignen. Ich unterscheide in diesem Kontext drei grundlegende Bildungsdimensionen: erstens, Bildung als Prozess der Bezugnahme des Subjekts auf Welt (Sozialisation – Lebensprojekt); zweitens, Bildung, die sich am Subjekt vollzieht (eigensinnige Identitätsbildung); und drittens, das Krisenhafte bzw. Scheitern von Bildungsprozessen (Diffusion von Selbst- und Weltbezügen). The Wrestler ist vor allem im Kontext der letzten Bildungsdimension situiert. Zur Analyse der Bildungsprozesse im von mir untersuchten Film beziehe ich mich auf das Modell Strukturaler Medienbildung von Jörissen und Marotzki (vgl. Jörissen/Marotzki 2009: 30ff., 60ff.), konkret auf deren Unterscheidung in der medialen, hier filmischen, Darbietung von Wissensbezug (u.a. Reflexion auf Bedingungen und Grenzen von Wissensbeständen über bestimmte Wirklichkeitsgebiete), Handlungsbezug (z.B. Reflexion auf die Komplexität von Handlungs- und Entscheidungsoptionen in sozialen sowie individuellen Situationen), Grenzbezug (etwa Reflexion auf die Komplexität von Grenzen, Grenzsituationen und Grenzüberschreitungen der Selbst- und Weltorientierung), und Biographiebezug (vor allem Reflexion auf die eigenen Identitäts- und Biographisierungsprozesse). Nicht explizit hervorgehoben wird bei Jörissen und Marotzki der Medienbezug, also die Reflexion auf die spezifische Sinnlichkeit von Medien sowie des medienvermittelten Selbst- und Weltbezuges. Dies spielt in ihren Beispielanalysen zum Film auch kaum eine Rolle. Strukturale Medienbildung fokussiert sich auf die Formelemente der Medien, nicht auf konkrete Inhalte und ihre Vermittlung, und fragt, wie durch sie Reflexion ermöglicht werden kann, wie sie unsere Selbst- und Weltwahrnehmung formen. Dies korrespondiert mit McLuhans Diktum vom Medium als Botschaft (vgl. McLuhan 1992: 17ff.) und entspricht auch dem Bildungsverständnis von Kokemohr, weil das Ziel von Bildungsprozessen nicht primär Inhalte (konkretes Wissen, Leitbilder, Handlungsmaximen etc.), sondern Formen der Selbst- und Weltbeziehung (Wahrnehmung) sind.
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Bildung und Medienbildung sind vor diesem Hintergrund nicht voneinander zu trennen. In The Wrestler finden Bildungsprozesse auf zwei Ebenen bzw. in zwei Medialisierungsformen statt: einerseits durch die Filmästhetik bzw. Filmsprache, die zentraler ist als die kommunizierten Inhalte, andererseits durch den Mediengebrauch des männlichen Protagonisten sowie dessen Musikbezug.13 Darüber hinaus sind es im Film eine jüngere Frau und die aus der Begegnung mit ihr resultierende Bedeutung von interpersonalen Beziehungen, die einen Bildungsprozess auslösen – seine körperliche Krisensituation ist im Vergleich hierzu sekundär. Die weibliche Figur Cassidy wirkt lebensund reflexionsstiftend für Robinson. Andererseits jedoch werden in The Wrestler letztlich gender-Stereotype manifestiert: Ein älterer Mann und eine jüngere Frau können nur kurzzeitig für beide Seiten gewinnbringend miteinander interagieren. 2.3 Alter(n) Menschliches Dasein wird in separate, chronologische Lebensalter unterteilt: Kindheit (Geburt bis 15 Jahre), Jugend (15-25 Jahre), Mittleres Erwachsenenalter (25/30-65 Jahre), Alter (6514 bis zum Tod). Das Altern des menschlichen Organismus ist unabwendbar natürlich-biologisch bedingt, seine Deutung und Aneignung hingegen abhängig von historisch unterschiedlichen, soziokulturellen Deutungsprozessen; über „Institutionalisierungs- und Internalisierungsprozesse“ führen sie „zu altersspezifischen Differenzierungen und Typologisierungen. Was unter Alter zu verstehen ist, kann daher letztlich nicht objektiv und allgemeingültig bestimmt werden. Das Lebensalter wird dadurch zu einem wesentlichen Kriterium gesellschaftlicher Strukturierung, kollektiver Normierung und individueller Orientierung.“ (Stimmer 1997: 394) Das Verständnis von Alter(n) ist historisch variabel und damit potentiell kulturell gestaltbar – auch die gestiegene Lebenserwartung ist hierbei von Bedeutung. „Man ist so alt, wie man sich fühlt“ – diese viel zitierte Feststellung folgt entsprechend den historisch variablen Werten und Normen der Gesellschaft, die „den Alten“ soziale Verhaltensregeln und Positionsrollen vorgeben, aber auch zu einer permanenten
13 Den Zusammenhang von populärem Kino bzw. Pop-Kino und Bildung habe ich an anderer Stelle mit Blick auf den Film Control (2007) untersucht (vgl. Kleiner 2011). 14 Hierzu hebt Thieme mit Blick auf die deutschen Verhältnisse hervor: „Die Rentendiskussion der Gegenwart hat inzwischen zu einer stufenweisen Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters auf 67 geführt. Der erste betroffene Geburtenjahrgang wird 1947 sein. Angemessener – weil an den berufsbedingten Anforderungen und an der individuellen Leistungsfähigkeit orientiert – wäre ein flexibles Rentenalter […].“ (Thieme 2008: 33)
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Leistungsbilanz auffordern und soziale Angemessenheit beurteilen (vgl. Voigt/Meck 1989). Leitbild für diese Auffassung ist zumeist das soziale Verständnis von Jugend und Jugendlichkeit. Hiervon leben zahlreiche Industrien15 (etwa Kosmetik, Freizeit, Sport, Unterhaltung), die nur selten zu selbstbestimmten Kultivierungen des individuellen Lebensalters ermächtigen. Améry verdeutlicht die Widersprüche dieser Situation: „Die gleiche Gesellschaft, die den Alternden zunichte macht, indem sie ihm die Zwangsjacke eines unveränderlichen Seins anlegt oder gar ihn aus dem ökonomischen Prozess ausstößt, fordert ihn auf, sein Alter zu konsumieren, wie er einst seine Jugend konsumierte.“ (Améry 1997: 84) Eine Situation, die an der ästhetischen Figur Randy „The Ram“ Robinson eindrucksvoll beobachtet werden kann. Hierbei geht es nicht um die Kultur des individuellen Alter(n)s, sondern um die Massenproduktion von gesellschaftsfähigem Alter(n). Das soziale Alter, durch das das biologische Lebensalter einer ständigen Interpretation unterzogen wird, formuliert Erwartungen und fordert Handlungspraktiken mit Blick auf soziale Rollen, Positionen, Verhaltensweisen oder Einstellungen (vgl. Améry 1997: 68f.). Die Definition von Alter(n) ist hierbei einerseits an die gesellschaftliche Produktivität des Menschen und seine Arbeitskraft gebunden, andererseits wird der Prozess des Alterns vor allem als physische (und kognitive) Mangelerscheinung, als ein Nachlassen von Kräften und Fähigkeiten bezeichnet. Aber das Alter(n) wird auch als ein Prozess sozialer Stigmatisierung und Ausgrenzung sichtbar. Es wird häufig zum sozialen Problem und führt Alternde in die soziale Randständigkeit bzw. macht sie a-sozial, wenn man Sozialität an Produktivität und Funktionalität misst.16 Altern wird nur aus der Perspektive des Todes aufgefasst, al-
15 Dazu bemerkt Thieme: „Die von den Waren- und Dienstleistungsanbietern betriebene werbliche Verbreitung ,jugendlicher Werte‘ wie Unkonventionalität, Schönheit, Fitness, Spaß und Erleben, Tempo, Fernweh und Abenteuer hat geholfen, Jugend zum – altersunabhängigen – Lebensstil zu befördern. Eine vom Lebensalter abgekoppelte Jugendlichkeit gilt als attraktiv. Sie ist inzwischen weitgehend soziale Norm, die Konformität erwartet. […] Nicht nur der Kommerz, auch die Massenmedien sind ein starker Motor für die Ausbreitung des Jugendkults. Die Helden von Film und Fernsehen, von Sport und Unterhaltungsindustrie, der Werbung, selbst Nachrichtensprecher und ihre weiblichen Pendants, sie alle verkörpern (zumeist) eine jugendfrische Anmutung. […] Sie konservieren dank der Künste der Visagisten und anderer Jugendlichkeitsspezialisten den ewig jungen, oder besser: alterslosen Altersstatus.“ (Thieme 2008: 40f.; vgl. zur, wenn auch einseitigen, Kritik an dieser Position Améry 1997: 82f.). Im Film The Expendables (2010) wird andererseits das Alter(n) von Action-Stars, in Verbindung mit diesem sozialen Jugendwahn, stark ironisiert behandelt. 16 Améry schreibt dazu: „Der Mensch ist, was er gesellschaftlich vollbringt. Der alternde Mensch, dessen Vollbrachtes schon gezählt wurde und gewogen, ist verurteilt. Er hat verloren, auch wenn er gewonnen hat, will sagen: auch wenn sein ge-
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so als Sterbensprozess verstanden, produktiv dysfunktional, nur selten als zu lebendes Leben, das, abhängig von den physischen und psychischen Fähigkeiten, kulturell gestaltet werden kann. Andererseits wird das Alter als potentielle Produktivitätsstätte betrachtet, wenn man ihm Weisheit zuspricht, an der man partizipieren kann, also dem alten Menschen ein Mehr an sozialer Erfahrung zuspricht, die in der Produktivität des Lebens genutzt werden kann: eine Art virtueller Generationenvertrag im (Spät-)Kapitalismus bzw. ein sozialer Äquivalententausch. So bleibt das soziale Leitbild der Produktivität auch im Alter(n) relevant, denn Weisheit muss man besitzen, damit der soziale Austausch, als Leitbegriff sozialen Verhaltens, zwischen Jungen und Alten bzw. zwischen der Gesellschaft und den alten Menschen gelingt. Neben dieser Bedeutung als relative Produktivkraft wird zudem die Höhe des Alters und eine dabei dennoch vorhandene Form von sozialer Aktivität öffentlich goutiert, wie zuletzt etwa in der Laudatio auf den schwer von einem Schlaganfall gezeichneten Schauspieler Kirk Douglas bei der Oscar-Verleihung 2011. Mit Thieme könnte man hier von „,Ausnahmealte[n]‘ als Vorbilder“ (Thieme 2008: 163) sprechen. Es handelt sich hier dann aber um Vorbilder, die sich an den sozialen Leistungsnormen des Alter(n)s orientieren, letztlich nicht selbstbestimmt agieren. In The Wrestler ist Robinson vor diesem Hintergrund alt, weil er aus der Produktivität und Anerkennungsstruktur seines Bezugsrahmens gefallen ist. Als Wrestler ist er ein Auslaufmodell. Mit Améry kann man sein existentielles Dilemma so beschreiben: „Ich richtete mich ein in einer Welt, die ich anders gewollt hatte, aber die ihrerseits mich anders wollte und im sehr ungleichen Kampf den Sieg davontrug.“ (Améry 1997: 23) In meiner Analyse fokussiere ich die alternde Männerrolle von Robinson in ihrem Verhältnis zur Zeit, zu ihrem Körper und zur Gesellschaft. Meine Auseinandersetzung mit der Kultur des Alter(n)s in den Bezugssystemen des Populären versteht sich hierbei durchaus auch als ein Beitrag zur „Aktivitätstheorie“ (vgl. Rosenmayr 1983, 1990) des Alter(n)s, also der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der individuellen Gestaltbarkeit des Alter(n)s – weniger als eine Auseinandersetzung mit dem „guten Leben im Alter“ bzw. dem „Fitsein im Alter“17 (vgl. Thieme 2008: 159-206, 227-300). Die Kultur des Alter(n)s, die ich adressiere, ist die, die Améry als auszuhaltende und letztlich absurde Spannung zwischen Revolte und Resignation beschreibt (vgl. Améry 1997: 85f.). An der biologischen Faktizität des Alter(n)s kann man nichts ändern, auch nur selten daran, welchen Platz die Gesellschaft den Alt(ernd)en zuweist (Resignation). Sehr wohl kann das Alter(n) aber – solange dies physisch und psychisch möglich ist – selbstbe-
sellschaftliches Sein, das ganz und gar sein Bewusstsein ausmacht und aufbraucht, mit hohem Marktwert beziffert wird.“ (Améry 1997: 6) 17 Auf die hierzu relevanten Themen Gesundheit und Krankheit sowie Lebenslagen im Alter werde ich kurz in der Filmanalyse zurückkommen.
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stimmt gestaltet werden, verbunden mit der Empörung gegen das als unnatürlich empfundene Natürliche (Revolte). Es muss allerdings hervorgehoben werden, dass es sich bei Robinson um einen Exklusiven-Alten handelt, d.h. nicht um einen Alltagsmenschen, sondern um eine Person mit erhöhter öffentlicher Aufmerksamkeit aufgrund seiner, wenn auch vergangenen und nur noch punktuellen, Partizipation am Starsystem – im Unterschied etwa zu Filmen wie Harold and Maude (1971), The Straight Story (1999) oder About Schmidt (2002), in denen es um das Alter(n) von Alltagsmenschen geht. Mein Verständnis einer Kultur des Alter(n)s unter den Bedingungen populärer Kultur resultiert einerseits aus meiner Auseinandersetzung mit der Studie Über das Altern. Revolte und Resignation (1997 [1968]) von Jean Améry (vgl. dazu auch Kleiner 2000, 2010), andererseits, wie ich im Fazit kurz skizzieren werde, mit Foucaults Konzept der Selbstsorge (vgl. u.a. Foucault 1986, 1990, 1994, 1997). Améry versteht Alter(n) als ein fünffaches Selbst- und Weltverhältnis, das in deutlicher Nähe zu den von mir herausgestellten Bildungsdimensionen steht: erstens, ein Zeitverhältnis; zweitens, ein Selbstverhältnis; drittens, ein Fremdverhältnis; viertens, ein Kulturverhältnis bzw. Kulturlosigkeitsverhältnis; fünftens, ein Endlichkeitsverhältnis (vgl. Améry 1997). Das menschliche Verhältnis zur Zeit ist für Améry grundsätzlich aporetisch (Zeitverhältnis): „Die Zeit ist unser Erzfeind und unser innigster Freund, unser einziger totaler Alleinbesitz und das, was wir niemals zu fassen bekommen, unsere Pein und unsere Hoffnung.“ (Ebd.: 16f.) Zunehmender Zeitbesitz bei gleichzeitigem Welt- und Raumverlust zeichnet die Situation der Alt(ernd)en aus. Die Alt(ernd)en werden „ganz Zeit“ (ebd.: 25; vgl. ebd.: 49). Im Unterschied zu den jungen bzw. jüngeren Menschen, d.h. die der ersten drei Lebensalter, die nicht die Zeit, sondern das Leben, die Welt und den Raum vor sich haben, in die sie sich hinauswerfen, die sie in sich aufnehmen und von ihnen markiert werden, hat der Alt(ernd)e nur noch gelebtes Leben und die Erinnerung daran. Der Alt(ernd)e wird ganz und gar zu einem hermetischen Erinnerungskörper. Dieses Verhältnis zu Zeit und Raum, das in The Wrestler zum Ausgangspunkt der Filmhandlungen wird, führt zu verzweifelten Versuchen, sich neue-alte Räume – d.h. das Zurückerlangen der vergangen Starposition – in der neuen Zeit (Gegenwart) einzurichten. Diese Versuche stellen die Negation dieser Position dar: „Der Alte oder Alternde aber erfährt die Zukunft täglich als die Negation des Räumlichen und damit des wirklich Wirkenden.“ (Ebd.: 26) Gerade der Versuch von Robinson, die Irreversibilität des Alter(n)s umzukehren, sich nicht als ein Alt(ernd)er anzuerkennen (vgl. ebd.: 30), erzeugt die Dramatik des Films. Der Tod (Endlichkeitsverhältnis) als Ende des menschlichen Lebensund Zeitverhältnisses erscheint Robinson als Möglichkeit des Kampfes gegen die Zeit, denn sein vermeintlicher Ringtod wird im Film als imaginäres
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Etwas, als Wiedergewinnung der verlorenen Zeit und alten Subjektposition angedeutet, gerade durch die Vernichtung seines aktuellen Ichs und sein wahrscheinliches Weiterleben im Gedächtnis seiner Fans, gerade durch seinen spektakulären Tod – womit seine Figur implizit gegen Amérys Behauptung, dass vor dem Tode alle gleich sind (vgl. ebd.: 32), revoltiert. Für Améry ist das Verhältnis zur Zeit nicht nur ein interaktionistisch eingeschlossenes, sondern auch ein kommunikativ stummes bzw. monologisches: „Mit meiner Zeit aber bin ich allein, wie sehr es mich auch verlangt, sie mitzuteilen.“ (Ebd.: 33) Die Bestätigung dieser These in The Wrestler führt zum Scheitern von Bildungsprozessen. Nicht nur das Verhältnis zu Zeit und Raum sind im Kontext des Alter(n)s für Améry relevant (vgl. ebd.: 38-62), sondern auch das Selbstverhältnis, hier vor allem die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper. Dieses Verhältnis ist für Améry zunächst und zumeist ein negatives, das er als ein Sich-Fremd-Werden in der Wahrnehmung seiner selbst, vor allem seiner selbst als Körper, beschreibt. Hieraus resultiert zumeist eine Art „Selbstüberdruss“ (ebd.: 41), der immer auch ein Lebenswunsch nach dem Leben, was sich einem versagt, ist. Der eigene Körper wird wesentlich mit den Begriffen „Mühsal und Drangsal“ (ebd.: 48) beschrieben. Das SichSelbst-Betrachten des Alt(ernd)en im Spiegel beschreibt Améry als ein Nicht-Mehr-Eindeutig-Reflektiert-Werden und als eine verzweifelte Suche nach sich selbst auch in der Selbstbetrachtung (vgl. ebd.). In The Wrestler wird von Randy „The Ram“ Robinson ein Kampf gegen dieses Selbstverhältnis betrieben: Sein gestählter und gebräunter Körper, seine hellblond gefärbten, langen Haare sollen als Beweis für seine Jugend, seine Stärke, seine soziale Legitimität und Sichtbarkeit im Bezugsrahmen Wrestling dienen. Insofern werden seine körperlichen Gebrechen, etwa der Herzinfarkt, in das Innere des Körpers, in die öffentliche Unsichtbarkeit, verlegt. Mit Améry kann man diese Handlungsstrategie als „Verklammerung von Selbstentfremdung und Verselbstung“ (ebd.: 43) beschreiben. Es ist für Améry vor allem der alt(ernd)e Körper, der nicht mehr zwischen Selbst, Welt und Raum vermittelt, der das alt(ernd)e Ich in sich hermetisch einschließt und ihn ganz Zeit, ganz Erinnerung werden lässt, wodurch es zu einer „Symbiose von Ich-Zeit-Erinnerung und Ich-KörperGegenwart“ (ebd.: 50) kommt. In The Wrestler führt das Bestreben, ganz Körper zu bleiben, das Körper-Sein als Medium der Emanzipation vom Alter zu nutzen, zum Scheitern von Robinson. Nicht nur das Selbstverhältnis des Alt(ernd)en wird von Améry zumeist negativ konnotiert, sondern auch das Fremdverhältnis, die Reaktion der Gesellschaft auf ihn und ihr Umgang mit ihm. Selbst- und Fremdverhältnis stehen immer in einer großen Diskrepanz zueinander. In The Wrestler werden in bestimmten Teilen der Filmhandlung Versuche inszeniert, beide Ebenen möglichst konstruktiv miteinander zu verbinden. Die Diskrepanz zwischen beiden Ebenen beschreibt Améry als Kampf gegen „[das] Gefühl der Un-
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sichtbarkeit und Unscheinbarkeit“, das die Alt(ernd)en zumeist zu „Geschöpf[en] ohne Potentialität“ (ebd.: 64ff.) macht. In impliziter Anlehnung an die Blickanalyse von Sartre18 (vgl. Sartre 1994: 457-538) schreibt Améry, dass der Blick des Anderen den alten Menschen gegen seinen Willen in seinem So-Sein definiert. Auch Robinson braucht die Fremdwahrnehmung fundamental zur Selbstwahrnehmung. Sein Scheitern ist unter anderem in der Unvereinbarkeit dieser beiden Ebenen begründet. The Wrestler stellt aus dieser Perspektive ein „öffentliches Spektakel der Sichtbarkeit“ (Elsaesser/Hagener 2007: 138) dar, vor allem durch einen demonstrativen Körperexhibitionismus. Die einzige Alternative dazu ist, sich selbst komplett zu einem Erinnerungskörper zu machen, denn die Welt macht die Selbstüberschreitung der Altersrolle nicht mehr möglich. Robinson kämpft dagegen hoffnungslos an, denn er will eine „prospektive Persönlichkeit“ (Améry 1997: 70). Bildungsprozesse im Alter(n) können, das verdeutlichen die Überlegungen von Améry (vgl. ebd.: 74) in ihrer Negation, nur gelingen, wenn jeder Einzelne eine realistische Antwort auf die folgende Leitfrage einer Kultur des Alter(n)s geben kann und sich daraus Handlungsoptionen erschließt: „Wann habe ich eigentlich gelebt? Warum habe ich aufgehört, mein Leben als einen Prozess ständiger Erneuerung und permanenten Widerspruchs zu führen?“ Robinson kann diese nur defätistisch beantworten und führt dem Zuschauer daher ein notwendiges Scheitern von Bildungsprozessen vor. Damit aus dem Selbst- und Fremdverhältnis ein, soweit wie physisch, psychisch und mit Blick auf die Lebenslage möglich, selbstbestimmtes und anerkanntes soziales Leben werden kann, muss sich das Kulturverhältnis verändern; es darf nicht zu einem Kulturlosigkeitsverhältnis werden bzw. ein ebensolches bleiben. Wie jedes Kulturverhältnis hängt auch das des Alt(ernd)en von seinem Zeichengebrauch ab bzw. von der Kompetenz, die Zeichen der Zeit zu verstehen und adäquat zu gebrauchen, sie mit seinen Zeichensystemen zu verbinden, und von der Bereitschaft, diese durch jene auch verändern zu lassen (vgl. ebd.: 90). Ein Nicht-Zurechtfinden in den Zeichensystemen der Gegenwart bedeutet einen Ausschluss aus der kulturellen Wirklichkeit der Zeit, einen Abbruch des sozialen Bandes zwischen dem Ich und der Gesellschaft. An der Figur Robinson kann beobachtet werden, was das bedeutet und welche sozialen Folgen dieses Zeichenunverständnis hat. Ebenso wie der Körper im Alter abbaut, defizitär wird, gilt dies auch, wie Améry betont, für den Geist (vgl. ebd.: 100). Beide werden im zunehmenden Alter zu einer trägen, müden, ausgelebten Masse, sind nicht mehr energetisch, wodurch die „Chancen kultureller Selbstüberschreitung“ (ebd.) nicht mehr gegeben sind. Kultur wird in diesen Fällen zur „Lastkultur, die wir nicht mehr verstehen, die vielmehr uns zu verstehen gibt, dass wir als altes Eisen des Geistes
18 Vgl. zum Zusammenhang dieser Blickanalyse mit den Themen Alter(n), Sterben und Tod Kleiner 2000: 111-131.
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auf die Abfallhalden der Epoche gehören“ (ebd.: 134). Für Améry sind es vor allem die gesellschaftlichen Verhältnisse, die uns im Alter die Möglichkeiten, zu leben, nehmen, indem sie uns auf ein bestimmtes, defizitäres SoSein festlegen. Genau an dieser Stelle, dazu äußert sich Améry aber nicht mehr, müsste eine Auseinandersetzung mit der Kultur des Alter(n)s ansetzen. In der bisherigen Altersforschung, auch in der aktuellen zu Alter(n) im/und Film, ist nicht über den Möglichkeitsraum nachgedacht worden, der für eigensinnig, nicht peripher, populärkulturell Sozialisierte im Umgang mit dem Alter(n) besteht – gerade mit Blick auf das sensibilisierte Verstehen von sich beständig verändernden Zeichensystemen und die kulturelle Gestaltung sowie Veränderung bzw. Veränderbarkeit seiner selbst.19 Zahlreiche Beispiele hierzu habe ich in meiner Auseinandersetzung mit Popmusik und Alter(n) diskutiert (vgl. Kleiner 2010). Aus dieser Überlegung folgt die These, dass sich für die Generationen, die ab der Mitte der 1950er Jahre konstitutiv populärkulturell sozialisiert wurden, auch ihre Kultur des Alter(n)s ändern könnte, wenn diese eine populärkulturelle Sensibilität und Urteilskraft ausbilden, d.h. aktiv mit den kulturellen Wirklichkeiten der sich permanent verändernden Zeiten selbstbestimmt umgehen. Robinson ist hierfür allerdings ein negatives Beispiel.
3 F ILMANALYSE 3.1 Inhalt The Wrestler thematisiert die Geschichte des über 50-jährigen Wrestlers Robin Ramzinski, der den Ringnamen Randy „The Ram“ Robinson trägt. Von der Filmgegenwart ausgehend – der Film spielt in den 2000er Jahren –, war er vor langer Zeit, in den 80ern, ein gefeierter Star in der amerikanischen Wrestling-Community (Zeitverhältnis), sein Selbstverständnis und seine Kultursozialisation sind in dieser Zeit geprägt worden (Selbst-/ Kulturverhältnis). Zu Kultur, etwa hinsichtlich von Musik (Hip-Hop), Mode und Wrestling, hat er kaum noch einen Bezug (Kulturlosigkeitsverhältnis). Er ist immer noch als Wrestler aktiv, allerdings nicht mehr im Zentrum des Geschehens, sondern an der Peripherie. Schlecht bezahlte Matches in heruntergekommenen Sporthallen oder kaum frequentierte Fan-Conventions be-
19 Améry spricht zwar die Bedeutung der jugendkulturellen Sozialisation an, versteht dies allerdings nur als eine negative Kontrastfolie zu seinen Ausführungen bzw. als Grund für die kulturelle Ausgeschlossenheit älterer Menschen in der kulturellen Gegenwart: „Die Kernstücke eines jeden kulturellen Individualsystems formen sich in der Jugend, das liegt an der Vitalitäts- und Sensibilitätskurve.“ (Améry 1997: 105)
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stimmen seinen Alltag, neben einem Job im Supermarkt. Dennoch hat Robinson eine über Jahrzehnte hinweg treue Fangemeinde, die zu seinen Auftritten kommt (Fremdverhältnis). Er lebt allein in einem Wohnwagen, dessen Stellplatzmiete er nur selten bezahlen kann – Robinson verkörpert das Bild des armen Alten. Zur Entspannung besucht er einen Strip-Club – von anderen (Freizeit-)Interessen erfährt der Zuschauer nichts. Getragen wird sein Leben vom Traum, noch einmal an den Ruhm der Vergangenheit anzuknüpfen (Zeitverhältnis). Dafür ist er bereit, seinen Körper, der durch jahrzehntelangen Medikamentenmissbrauch und die Folgeschäden seiner Kämpfe gezeichnet ist, noch weiter zu malträtieren. Seine Gesundheit ist seinem Willen zu Ruhm, Erfolg und Anerkennung komplett untergeordnet. Sein Körper ist dazu da, um für diesen Zweck geformt zu werden. Nach einem extrem harten Wrestling-Kampf bekommt er einen Herzinfarkt. Der behandelnde Arzt legt ihm nahe, keinen Kampf mehr durchzuführen, denn sonst könnte er dabei sterben. Diesen Rat befolgt Robinson nur kurzfristig (Selbstverhältnis/Endlichkeitsverhältnis). Genauso irritierend wie die Actionfigur von Robinson, die er an seinem Rückspiegel befestigt hat, wirkt er auf seine Umwelt: ein Unzeitgemäßer, der der vergangenen Zeit – physisch und psychisch – hinterherläuft, sie in der Gegenwart wieder zu neuem Leben erwecken will. Nur im Bezugsrahmen Wrestling erhält er irgendeine Form von Anerkennung. Darüber hinaus wird er von seiner Umwelt nicht beachtet. Zu seiner Tochter Stephanie (Evan Rachel Wood) hat er ein mehr als schlechtes Verhältnis (Fremdverhältnis). Zwischenmenschliche Beziehungsstiftung und Beziehungspflege gehören nicht zu seinen sozialen Kompetenzen. Erst die Begegnung mit der viel jüngeren Stripperin und alleinerziehenden Mutter eines neunjährigen Jungen Cassidy (Marisa Tomei) bewirkt zeitweise eine Veränderung im Leben von Robinson, ein sehr kurzfristiges Einsetzen von Bildungsprozessen. 3.2 Interpretation 3.2.1 Sprache und Kommunikation Figuratives und kommunikatives Handeln sind miteinander verschränkt. Robinson redet in einer Mischung aus Jugendjargon und Kurzkommunikations- bzw. Telegrammstil. Sein Reden ist reduziert auf wenige Aussagen und wirkt häufig wie Sprachlosigkeit, weil er nicht zu wissen scheint, wie er sich ausdrücken soll. Kommunikativ ist Robinson auch nicht davon zu überzeugen, sein Leben zu ändern. Die Versuche von Cassidy, ihn vom letzten Kampf abzuhalten, scheitern genauso wie Versuche, mit seiner Tochter über ihr schlechtes
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Verhältnis20 zu reden, um Klarheit zwischen ihnen zu schaffen für einen Neuanfang. Zwischenmenschliche Beziehungsstiftung, wenn auch nur kurzfristig, gelingt Robinson zumeist durch Handlungen,21 z.B. in der Szene, als er Stephanie eine Winterjacke schenkt, sie durch ein Modell, das er ihr zuerst kaufen wollte – eine grüne Sportjacke mit dem weißen Aufdruck „S“ im 80erLook –, zum Lachen bringt und mit ihr an einen Ort geht, an dem sie früher häufig waren und dort mit ihr tanzt. In diesem Kontext öffnet er sich, gibt zu, große Fehler gemacht zu haben, an ihrem schlechten Verhältnis Schuld zu sein und Angst zu haben, einsam zu altern bzw. im Alter allein zu sein. Entschuldigungen und Erklärungen gelingen Robinson generell ebenso wenig, wie seine Versuche, Cassidy kommunikativ näherzukommen: „Verdammt Baby! Du bist ja echt ein heißes Teil, Süße. Ich werde aus dir eine ehrbare Frau machen.“ (0:19:54-0:19:59) Oder: „Verdammt, habe dich fast nicht erkannt. Du siehst so anständig aus. Nein, ich meine, fantastisch.“ (0:54:17-0:54:25) Und: „Weißt du, du siehst bei Tageslicht verdammt hübsch aus.“ (0:55:44-0:55:46) In Szenen wie diesen wirkt es so, als ob Robinson überhaupt keine sozial-kommunikative Kompetenz besitzt, keine Empathie, nicht weiß, wie er sich in der Öffentlichkeit und seinen Mitmenschen gegenüber verhalten, darstellen und reden soll. Nur im Wrestling wirkt er handlungs- und lebensfähig. Allerdings ist auch hier seine (große) Zeit schon lange vorbei. Kommunikatives Handeln im Wrestling ist genauso reduziert wie das Sprechen von Robinson. Hier wird generell non-verbal kommuniziert, d.h. durch die kämpfenden Körper und die Inszenierung von spektakulärer Härte. Als Cassidy ihn im Strip-Club bei der Arbeit zurückweist, weil sie kein Verhältnis mit einem Kunden anfangen will, kann er ihr nur entgegnen, dass er nicht zustimmt, aber nicht konkret erläutern, warum er eine andere Position als sie hat bzw. seine Gewissheit verdeutlichen, dass es zwischen ihnen doch funktionieren könnte. Nach dieser Zurückweisung, ebenso wie durch das Wissen der endgültigen Unmöglichkeit, mit seiner Tochter neu anzufangen, weil er sie erneut enttäuscht und ihr Vertrauen missbraucht hat, werden seine Versuche, sein Leben zu ändern und aus der Wrestling-Szene auszusteigen, von ihm aufgegeben. Durch die einzigen beiden realen Bezugspersonen hat er, selbstverschuldet, keinen Ausstieg aus dem alten und keinen Einstieg in ein neues Leben vollziehen können. Selbstbestimmt ist ihm dies nicht möglich. Nach der Zurückweisung durch Cassidy geht Robinson allein zu einem Wrestling-Kampf und anschließend auf eine After-Show-Party. Dort lernt er
20 Robinson hat sie – von einer Mutter ist hierbei nicht die Rede – für seine Wrestling-Karriere verlassen. Mehr erfährt der Zuschauer zum Hintergrund seiner Familienverhältnisse nicht. 21 (Körperliche) Nähe muss sich Robinson ansonsten erkaufen, indem er z.B. Cassidy für einen Lapdance bezahlt.
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einen viel jüngeren, weiblichen Fan von sich kennen, mit dem er Sex auf der Toilette hat, wobei die Initiative von ihr ausgeht – beide nehmen zuvor Kokain. Ein nostalgischer Eindruck von Sex, Drugs and Rock’n’Roll soll hierbei entstehen. Er verbringt die Nacht bei ihr und vergisst dadurch das Treffen mit seiner Tochter. Dies führt zum endgültigen Bruch mit ihr, weil sie nicht mehr daran glaubt, dass er sich ändern kann. Am Morgen vor dem finalen Kampf, dem Rückkampf mit dem Ayatollah (Ernest Miller) nach 20 Jahren, scheint es sich Cassidy anders überlegt zu haben; sie kommt zum Trailer Park, in dem Robinson lebt, und gesteht ihm, dass er mehr als nur ein Kunde für sie ist. Dieses Geständnis kommt für Robinson zu spät. Sie reist ihm zum Kampf nach und will ihn davon abhalten, ohne Erfolg. Passend dazu läuft vor seinem Betreten der Arena der Song „Balls to the Wall“ von ACCEPT: „Too many slaves in this world Die by torture and pain Too many people do not see They’re killing themselves – going insane Too many people do not know Bondage is over the human race They believe slaves always lose And this fear keeps them down Watch the damned (God bless ya) They’re gonna break their chains You can’t stop them (God bless ya) They’re coming to get you and then You’ll get your balls to the wall, man“ (ACCEPT 1983).
Ein passendes Leitmotiv für den finalen Kampf, für seine Selbstbefreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und für den damit verbundenen Versuch der Selbstverewigung im Gedächtnis der Zuschauer durch seinen (wahrscheinlichen) Freitod im Ring. Seine kommunikative Inkompetenz zeigt sich auch in seinem Reden mit Kundinnen in dem Supermarkt, in dem er arbeitet. Mit ihnen spricht er wie mit weiblichen Fans (z.B. „Süße“ [01:02:45]; „Was darf’s sein, mein Küken“ [01:03:47]) und flirtet platt (u.a. „Zwei große Brüste, sind in Arbeit. Wer will das nicht, zwei große Brüste“ [01:03:04-01:03:08]; „Was darf’s denn sein, schöner Mann“ [01:03:22]). Er inszeniert sich wie ein Star. Passend hierzu erklingen halluzinatorisch wirkende Anfeuerungsrufe aus dem Nirgendwo vor seinem Betreten des Supermarkts, die wie beim Einlaufen in die Wrestling-Arena klingen. Diese Szene wirkt grotesk und zynisch zugleich, weil sie die ganze Traurigkeit und Ausweglosigkeit seiner Person veranschaulicht; andererseits wirkt sie auch so, als ob Robinson sich beständig als auf einer Bühne befindend imaginiert. Hierzu passt sein langer Gang durch die Hinterräume des Supermarkts bis zu seinem Arbeitsplatz, weil er
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seinen Leidensweg symbolisch eindringlich veranschaulicht. Die Kamera filmt ihn hierbei von hinten, wie so oft im Film, ohne einen Blick auf sein Gesicht zu gewähren. Diese Szene, ebenso wie die Figur Robinson selbst, veranschaulicht eindringlich eine Überlegung von Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (Adorno 2008: 59) Sein potentieller Freitod ist insofern konsequent, als er die einzige Möglichkeit für Robinson zu sein scheint, seinen destruktiven Lebenskreislauf zu durchbrechen. Für gelingende Bildungsprozesse fehlen ihm das soziale Kapital und substantielle interpersonale Beziehungen. Sprache dient, neben der Darstellung von Sprachlosigkeit und der Ausstellung von kommunikativem Unvermögen, vor allem als Erinnerungsmedium bzw. als Medium des storytelling über Robinsons glorreiche Vergangenheit. Erinnerungen werden ebenso schnappschussartig präsentiert wie im Filmeinstieg, der eine Montage aus Bildern, Zeitschriftenartikeln und Plakaten aus den erfolgreichen Zeiten von Robinson in den 80ern ist. Das Sprechen wird Robinson zumeist durch die Bildeinstellungen und die Musikeinspielungen abgenommen. Die Filmsprache ist in The Wrestler die eigentliche Sprache, so etwa durch die Darstellung seiner Langsamkeit, Gebrechlichkeit und seines Schmerzes oder durch die Traurigkeit in seinem Blick – dies alles ist für ihn außerhalb des Rings typisch. Die Sprache im Film erzählt kaum etwas. Diskutiert werden könnte in diesem Kontext, ob durch die demonstrative Ausstellung von Sprachlosigkeit und dem Scheitern von zwischenmenschlichen Kommunikationen auf das Problem der gelingenden kommunikativen, interaktionistischen und verständnisvollen Sinnstiftung im Alter(n), vor allem hinsichtlich unterschiedlicher Altersstufen, hingedeutet werden soll. Auffallend ist darüber hinaus, dass es im Film, bis auf zwei Szenen, kaum rhetorische Alterdiskriminierung gibt: „Das war’s, alter Mann“ (0:14:25-0:14:30), wie ein Gegner von ihm beim Kampf sagt – allerdings eher als Kampfinszenierung, weil er Robinson zuvor in der Umkleidekabine seinen tiefen Respekt ausgedrückt hat. Und: „Er ist ein alter Sack“22 (0:42:13), wie eine Arbeitskollegin von Cassidy einen Stammkunden einer anderen Arbeitskollegin bezeichnet, weil sie ihr erzählt, dass sie sich aufgrund seines Geldes für ihn interessiert. Diese Szene verläuft parallel zum Zusammentreffen von Cassidy und ihrem Stammkunden Robinson, als er ihr von seinem Herzinfarkt berichtet und sie bittet, vor dem Club mit ihr unter vier Augen zu sprechen. Offen bleibt in dieser Situation, was Cassidy konkret an Robinson interessiert.
22 Auch Cassidy scheint für ihre Welt zu alt zu sein, denn sie wird von sehr jungen Kunden zurückgewiesen, weil sie sie für zu alt halten und sie auch nicht ihrem Schönheitsideal entspricht. Robinson agiert in dieser Situation als Gentleman, weist die jungen Männer zurecht und engagiert Cassidy an ihrer statt.
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3.2.2 Figurenkonstellation (Formen alternder Männlichkeit) Im Zentrum der Darstellung der Figur Robinson dominiert, neben der Ausstellung seiner Sprachlosigkeit, die Inszenierung seines Körpers bzw. das physische Aufeinanderprallen von Körpern während der Wrestling-Kämpfe. Dies kann als ein Versuch aufgefasst werden, die mangelnde zwischenmenschliche Kommunikation und Interaktion zu kompensieren – in deutlicher Opposition zur fast durchgehenden Körperdistanz im Film, die den Eindruck von dominanter Sprachlosigkeit verstärkt.23 Die Körperinszenierung hat in The Wrestler wesentlich fünf Dimensionen: Erstens ist Robinsons Körper sein einziges soziales Kapital, seine Ver-Ortung in der Welt zugleich eine Art Ich-Konserve bzw. Ich-Konservierung – ebenso wie Cassidy ihr Geld durch ihren Körper verdienen muss. Zweitens fungiert sein Körper in Form der Ausstellung von Narben, d.h. eindrücklicher Körpereinschnitte, als eine Art individuelles Gedächtnis und Medium zum Eindrucksmanagement bzw. als Hautschmuck.24 Die Haut erscheint hierbei als „Ausdrucksmittel und Einschreibefläche“ (Elasesser/Hagener 2007: 147) zugleich. Auffallend ist, dass in The Wrestler, bis auf Robinsons Introspektion am Ende des Films und mit Blick auf seine beiden Eingeständnisse der Existenzangst gegenüber Stephanie und Cassidy, Filmhandlung und Filmsprache an der Oberfläche verweilen und die demonstrative Oberflächlichkeit von Robinson dadurch verstärken. Insofern bleibt die Kamera des Leidens Oberflächenästhetik: Sie stellt seine körperlichen Narben und Gebrechen deutlich heraus, ohne tiefer zu gehen, seine seelischen bzw. psychischen Verletzungen (bis auf wenige Ausnahmen) zum Ausdruck zu bringen. Drittens wirkt der Körper von Robinson grotesk durch seine überzogene Bräune und die stark blondierten Haare. Andererseits wird sein durch die Kämpfe stark gezeichnetes Gesicht kontinuierlich von der Kamera in Nah-
23 Vgl. zum Verhältnis von Körper/Haut und Kino unter anderem Marks 2000, 2002; Robnik 2002; Connor 2004; Sobchack 2004; Shaviro 2006; Elsaesser/Hagener 2007: 137-162. Diese Thematik kann ich hier nicht vertiefen. Das Verhältnis von Männlichkeit, Körper und Populärkultur sowie Popkultur im audiovisuellen Kontext diskutiere ich an anderer Stelle (vgl. Kleiner 2011). Vgl. hierzu aber vor allem die instruktiven Studien Stiglegger 2006 und 2010. 24 Robinson führt Cassidy seine Narben vor, datiert diese („1986“, „1988“) und nennt die Kämpfe, bei denen er sie sich zugezogen hat. Dies soll ihn zugleich als einen harten Mann, einen richtigen Kämpfer, der alles wegsteckt, darstellen. Cassidy zitiert dabei eine Passage aus der Bibel („Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“ – Jesaja 53:5), die sie nicht aus der Bibel kennt, sondern, populärkulturell gebildet, aus dem Film Die Passion Christi (2004). Dabei vergleicht sie Robinson mit Jesus, weil er, wie dieser, alle Misshandlungen und Schmerzen erträgt – und, wie sie sagt, die gleichen Haare hat.
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aufnahmen hervorgehoben. Viertens ist wirklicher zwischenmenschlicher Kontakt für Robinson nur über seinen Körper im Kampf und durch seine Haut, also mit der Zurschaustellung der durch die Kämpfe zugezogenen Verletzungen, möglich. Im Strip-Club beim Lapdance ist er angezogen und Cassidy halbnackt – beim Sex auf der Toilette sind Robinson und sein weiblicher Fan halbnackt. Fünftens kommen diejenigen, die die Welt in The Wrestler bestimmen, ohne demonstrative Körperpolitik aus, sind untrainiert und werden als soziale Subjekte, nicht als Körpersubjekte wie Robinson, inszeniert. Beispiele hierfür sind etwa Robinsons Chef im Supermarkt Wayne (Todd Barry), der Trailer Park-Verwalter Lenny (Mark Margolis), der Wrestling-Promoter Nick Volpe (Wass Stevens) und einer der jungen Kunden (Michael Drayer) im Strip-Club, der Cassidy als alt und unsexy bezeichnet. Außerhalb der Wrestling-Kämpfe wird der Körper von Robinson nicht mehr als der eines harten Kämpfers bzw. als Panzer gezeigt. In den Umkleidekabinen vor den Kämpfen und danach, wenn Robinson allein mit sich gefilmt wird, aber auch durch den Versuch, seine Schmerzen und seinen versehrten Körper sowie die körperlichen Folge- bzw. Langzeitschäden der Kämpfe mit Medikamenten und Drogen zu lindern, wird die andere Seite seines Körpers in Szene gesetzt: kreatürlich, verletzt, blutend, schmerzvoll, alternd, leidend, abgenutzt. Hinzu kommt, dass er ein Hörgerät und eine Brille trägt. Die Kamera parzelliert oft seinen Körper in Schmerz- und Leidensregionen, zoomt diesen auf und ab, zeigt ihn in Nahaufnahmen. Hiermit werden Affektbilder des Leidens produziert, es wird kein glorreicher Held in Szene gesetzt, sondern die ganze (Selbst-)Verstümmelung eines gebrochenen und verlebten, alten Mannes. Der Film leugnet das Wesen des Alter(n)s, den körperlichen Verfall, nicht. Zudem wird durchgehend die Schnelligkeit der Kämpfe, die sich in raschen Schnittsequenzen zeigt, verbunden mit intensiven Nahaufnahmen, um dem Zuschauer das Gefühl des direkten Involviertseins25 zu vermitteln, mit langen Bildeinstellungen von Robinson
25 Populäre Kulturen können in Anlehnung an und Erweiterung von Williams häufig als ‚Körpergenre‘ aufgefasst werden (vgl. Williams 1989), weil sie kontinuierlich Körperkulturen adressieren und inszenieren (vgl. auch Klein 1999). Der Fokus auf den Körper intendiert einen Distanzverlust zwischen Betrachter und Gegenstand „durch die narrative Aktivierung von […] Phantasieszenarien“: „Die Direktheit, mit der diese Genres Körpersäfte fließen lassen (Tränen, Blut, Schweiß, Sperma), macht sie (kulturell, aber auch für die Zensur) verdächtig, weil sie eine Grundregel der modernen Ästhetik, die Distanz zwischen Betrachter und Objekt, verletzen.“ (Elsaesser/Hagener 2007: 154; vgl. Kristeva 1982; Creed 1993) Der Körper wird hier zu einem filmsprachlichen Narrationsmedium. Filmbild und Zuschauerkörper können nicht voneinander getrennt werden, wie Shaviro hervorhebt: „CINEMA’S GREATEST power may be its ability to evacuate meanings and identities, to proliferate resemblances without sense or origin. […] There is no structuring lack, no primordial division, but a continuity between the
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außerhalb des Kampfrings kontrastiert, um zu veranschaulichen, dass er zu langsam für die Geschwindigkeit seiner Sportgegenwart ist. Nach einem extrem harten Kampf, unter Verwendung von Klammertackern, Tischen, Rasierklingen zur Selbstverstümmelung, Stacheldraht, Glas, Krücken usw., erleidet Robinson einen Herzinfarkt. Das Einzige, was Robinson vom Arzt im Krankenhaus wissen will, ist, wann er weitermachen kann. Dieser antwortet daraufhin, dass der nächste Kampf sein letzter sein wird, denn sein Körper und sein Herz sind alt und verbraucht. Genauso trostlos, traurig und körperlich am Ende, wie Robinson fast durchgehend gezeigt wird, wenn er allein mit sich ist, ist eine FanConvention, an der Robinson teilnimmt und die ihm die Augen für die Absurdität und Ausweglosigkeit seiner Situation verdeutlichen müsste. Alte Kollegen von ihm sind mittlerweile im Rollstuhl, körperlich und lebensweltlich am Ende, schlafen ein, sind resigniert. Unter ihnen wirkt Robinson allerdings noch am Vitalsten. Auch dies verdeutlicht, dass er noch Möglichkeiten hätte, gelingende Bildungsprozesse zu vollziehen, d.h. sein Leben selbstbestimmt zu ändern. Er wird auf den Ebenen Kampf und Sex nicht als impotenter, alter Mann inszeniert. Die Convention wirkt wie ein Trödelmarkt im Altenheim und kein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Sie findet in einer alten Sporthalle statt und wird kaum von Fans besucht. Die Kamera lässt sich viel Zeit, diese Tristesse einzufangen. Die Körperinszenierung in The Wrestler zeigt den Körper vor allem auf zwei Ebenen – handlungstheoretisch und phänomenologisch: als dramaturgischen (vgl. Goffman 1971a/b, 1983) und kommunikativen (vgl. O’Neill 1989, 1990), als konstitutiven Bestandteil sozialen Handelns in Form der performativen Inszenierung bzw. Hervorbringung und als Kommunikationsmedium. Der Körper (nonverbal) spricht in der Interaktion zwischen Akteuren immer – Sprachhandlungen (verbal) müssen hierbei nicht dominant sein bzw. es muss überhaupt nicht gesprochen werden: „Ein Mensch kann aufhören zu sprechen, er kann aber nicht aufhören, mit seinem Körper zu kommunizieren; er muss damit entweder das Richtige oder das Falsche sagen; aber er kann nicht gar nichts sagen.“ (Goffman 1971a: 43) Robinson verstößt durch seine Erscheinung außerhalb des Wrestling-Kontextes gegen die soziale Erwartung (Norm) der Körperpräsentation im Alltag der Gegenwart und unterbricht damit die sozial festgelegte Interaktionsordnung. Dies
physiological and affective responses of my own body and the appearances and disappearances, the mutations and perdurances, of the bodies and images on screen. The important distinction is not the hierarchical, binary one between bodies and images, or between the real and its representations. It is rather a question of discerning multiple and continually varying interactions among what can be defined indifferently as bodies and as images: degrees of stillness and motion, of action and passion, of clutter and emptiness, of light and dark.“ (Shaviro 2006: 254f.)
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macht ihn randständig bzw. asozial, weil seine „Techniken der Imagepflege“ (Goffman 1971b: 10-51) und seine Körpersymbolik nicht sozialkonform sind. Verstärkt wird diese Situation dadurch, dass Robinson seine soziale Rolle nicht wechseln bzw. an die sozialen Situationen, in denen er außerhalb des Wrestling steht (Arbeitnehmer, Vater etc.), anpassen kann. Seine Körperdramaturgie kann er nicht mit der Alltagsdramaturgie vereinen, seine Definitionen der sozialen Situationen (vgl. Goffman 1983: 233) gelingen nicht. Er wird so zu einer stigmatisierten sozialen Person, weil er nur eine soziale Rolle verkörpern kann. Körper-Sein und Körper-Haben (vgl. Plessner 1975), biologischer und soziokultureller Körper, sind bei Robinson identisch und opak, ohne Gestaltungsmöglichkeiten, denn sein Körper-Haben ist Bildungsprozess-resistent. Fraglich ist in diesem Kontext auch, ob Robinson ein Selbstdarsteller im Sinne von Goffman ist (vgl. Goffman 1983) oder vielmehr ein statisches Selbstbild darstellt. Insofern gibt es im Film eigentlich auch keine Störungen seiner Selbstdarstellung, weil diese als Dauerstörung erscheint. In The Wrestler weicht Randy „The Ram“ Robinson von hegemonialen Männlichkeitsbildern ab (vgl. u.a. Dinges 2005). Er ist randständig zu diesen, defizitär, nicht im systemisch-legitimen und dominanten Mann-Sein, also im Wrestling-Mainstreamsystem der filmischen Gegenwart. Sein Bildungsprozess findet, vor seiner Begegnung mit der weiblichen Protagonistin Cassidy, in dieser Differenz statt bzw. im Versuch, in das Sein hegemonialer Männlichkeit, also des Wrestling-Stars, zurückzukehren, sich gesellschaftlich wieder zu (re-)situieren. Robinson scheitert dabei letztlich und bezahlt seinen Versuch mit einem selbst gewählten Tod im Ring. Der Film endet entsprechend in einem geschlossenen Raum und mit Neonlicht – buchstäblich sind die letzten Lichter vor dem Tod von Randy „The Ram“ Robinson genauso künstlich, wie sein Leben es war. 3.2.3 Alter(n) und Bildungsprozesse bzw. Kultur(en) des Alter(n)s Die Auseinandersetzung mit der Kultur des Alter(n)s fokussiert primär das Zeit- und Selbstverhältnis von Robinson. Der Film lässt die Kamera in die Tiefe der Vergangenheit zurückfahren, allerdings nur in Form von Sekundärmedien (Plakate etc.). Ansonsten wird die Vergangenheit filmgegenwärtig durch das Medium der Erzählung und durch die demonstrative Ausstellung von Körperinschriften. Der Film beginnt mit einer Kamerafahrt über Zeitungsartikel, Fotografien und Plakate aus der erfolgreichen Zeit von Robinson in den 1980er Jahren und erwähnt dabei seinen größten Erfolg, einen Kampf im Madison Square Garden in New York vor 20.000 Zuschauern
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und 500.000 am Fernseher,26 wie Robinson im weiteren Verlauf des Films erzählt. Dieser Kampf wird von einer Voice-Over-Stimme als „Kampf für die Ewigkeit“ beschrieben. Dazu läuft passend der Song „Bang Your Head (Metal Health)“ von Quiet Riot. Der Filmeinstieg führt Robinson als Star ein: „Ein großer Amerikaner. Ein wahrer Held: Randy „The Ram“ Robinson.“ (00:00:32-00:00:41) Alles wirkt mitreißend und der Zuschauer erwartet Großes. In der nächsten Einstellung sieht man Robinson 20 Jahre später in einem zur Umkleidekabine umfunktionierten Schulklassenzimmer: von hinten, hustend, stöhnend, schmerzvoll, nach einem Kampf, wie er ein nur kleines Honorar vom Veranstalter bekommt, weil zu wenig Zuschauer gekommen sind. Der Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart könnte nicht deutlicher veranschaulicht werden, ebenso wenig die kompromisslose Betonung des Themas Alter(n).27 Nach dem zweiten Kampf des Films vereinbaren der Promoter Nick Volpe und Robinson auf dem Fan-Festival Ring of Honour einen Rückkampf zum 20. Jahrestag des legendären Kampfes zwischen ihm und dem Ayatollah. Hierbei sprechen sie über die schnell vergehende Zeit und die lange zurückliegende Hochphase von Robinson. Das Fremdverhältnis von Robinson wird vor allem durch Ablehnung bestimmt. Nur im Wrestling-Kontext, in der Beziehung zu Cassidy und vom Türsteher des Strip-Clubs erfährt er Anerkennung und wird als signifikantes Subjekt wahrgenommen. Abgesehen von Cassidy hat er auch niemanden, dem er von seinem Herzinfarkt erzählen kann; bis auf seine Tochter Stephanie scheint Robinson keine Familie zu haben. Besonders deutlich wird die Ablehnung von seiner Umwelt durch zwei Kommentare seines Chefs im Supermarkt – beide Male fragt Robinson ihn, ob er mehr arbeiten könnte, weil er Geld braucht: „Was denn, haben die die Preise für Strumpfhosen erhöht?“ (00:08:18-00:08:20) Und: „Sitzt du da nicht anderen Typen auf’m Gesicht rum?“ (00:53:28-00:53:30) Sein Kulturverhältnis ist durch die Medien und Kultur der 1980er Jahre bestimmt – dies verbindet ihn mit Cassidy: „Die 80er, Mann, das waren die Besten“ (00:58:23-00:58:25), wie Cassidy betont. Beide lieben etwa die gleiche Musik, vor allem Hardrock und Hair Metal (Guns N’Roses, Def Leppard, Mötley Crüe); Cassidy tanzt im Strip-Club immer zu dieser Art von Musik. Für beide sind die 1990er Jahre „Schrott“ und mit Kurt Cobain (Nirvana) ist es aus ihrer Sicht vorbei mit guter Musik. Ihre zwischenmenschliche Verbundenheit kommt in der Szene zum Ausdruck, als sie in
26 Robinson kämpfte gegen den so genannten Ayatollah, der mit einer zum USAIran-Konflikt der 1980er Jahre passenden rassistischen Rhetorik diskreditiert und als Bestie aus dem Mittleren Osten bezeichnet wird, gegen die nur ein großer Amerikaner, wie Robinson, kämpfen kann. 27 Die aporetische Situation in The Wrestler ist, dass die Erinnerung an die Vergangenheit einerseits das Schlimmste am Altern ist, andererseits aber zugleich das ist, was jung hält, aber Bildungsprozesse verhindert. Darüber hinaus ist die Vergangenheit das einzige soziale Kapital von Robinson.
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einer Bar zusammen die Zeile „I knew right from the start / You’d put an arrow in my heart“ (Ratt 1984) aus dem Song „Round and Round“ von Ratt singen. Im Song heißt es weiter: „With love we’ll find a way just give it time“. Es muss offen bleiben, ob wechselseitige Liebe zur richtigen Zeit zu einem anderen Filmausgang geführt, also zwischenmenschliche Beziehungsstiftung einen nicht nur punktuellen Bildungsprozess ermöglicht hätte. Beide geben ihrer Liebe nicht zugleich die notwendige Zeit und verpassen dadurch eine gemeinsame Zeit. Sie leben in unterschiedlichen Zeit- und Selbstverhältnissen. Im Unterschied zu Robinson, dies zeigt z.B. die Szene im Second-HandLaden, in dem sie für seine Tochter eine Jacke kauft, ist Cassidy kulturell nicht in den 1980er Jahren stehengeblieben, sondern hat sich zeitgemäß weiterentwickelt, ohne sich um jeden Preis anzupassen. Die Inszenierung von Robinsons Alt-Sein in Form seiner kulturellen Abgeschiedenheit (Kulturlosigkeitsverhältnis) wird auch in der Szene vorgeführt, in der er mit einem Jungen aus dem Trailer Park Wrestle Jam spielt, ein Telespiel aus den 80ern. Bedeutsam ist hierbei, dass, während der Junge die Rolle des Ayatollah übernimmt, Robinson sich selbst spielt, also nicht in der Lage ist, von sich selbst in seiner Rolle als Wrestler Abstand zu nehmen, sich durch Fremdes außerhalb seiner Ordnung verändern zu lassen. Das Sein von Robinson bestimmt sein Bewusstsein. Dieses Spiel langweilt den Jungen, weil er in der PC-Spiele-Gegenwart aufwächst und als ein zeitgemäßes Spiel Call of Duty 4 nennt. Davon hat Robinson bezeichnenderweise noch nie etwas gehört. Sein Mediengebrauch ist insgesamt old school, wie diese Szene verdeutlicht. Bei der Fan-Convention verkauft er keine DVDs von sich, sondern alte VHS-Kassetten. Zuhause hat er auch nur einen VHS-Videorekorder und keinen DVD-Spieler, einen sehr alten Fernseher, keine moderne Stereoanlage und beim Autofahren hört er Musikkassetten. Dies nur als Zeichen seiner Armut zu deuten, wäre verfehlt, denn es ist ein Zeichen dafür, dass er mit allen Mitteln versucht, die 1980er Jahre für sich in der Gegenwart lebendig zu halten. Insofern erscheint er wie ein ewig Gestriger. Der Film endet mit zwei Einstellungen (Endlichkeitsverhältnis): einerseits mit einer Art kommunikativem Testament von Robinson, das aus seiner Erkenntnis resultiert, sein Leben nicht mehr ändern zu können, keine Zukunft außer seiner Vergangenheit zu besitzen und diese Vergangenheit in der Gegenwart, vielleicht zum letzten Mal, wieder aufleben zu lassen, sie für die Zuschauer des Kampfes und die anwesenden Medien zu verewigen bzw. zu konservieren. Sein Einzug in die Arena wirkt, im Unterschied zu allen anderen Kämpfen des Films, würdevoll, er wird vom Publikum gefeiert und erscheint souverän, wie ein richtiger Star – auch in der Gegenwart. In seinen Abschiedsworten erweist sich Robinson als relativ eloquent und so selbstreflexiv, wie sonst im gesamten Film nicht. Diese Ansprache könnte auch als eine Form von existentialistischer Altersweisheit aufgefasst werden. Für den Film ist dies bedeutsam, weil Rationalität nicht zu den sozialen Kompeten-
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zen von Robinson zu gehören scheint. Zudem artikuliert er hier deutlich, dass er gealtert ist und benennt seine altersbedingten Veränderungen. Er nimmt sich als alter Mann an. Zudem betont er, dass es für ihn nur in parasozialen Interaktionen möglich war, d.h. mit seinen Fans, eine Form von Familie aufzubauen. Die Einsicht in die eigene Ausweglosigkeit führt ihn zur endgültigen Annahme seines Schicksals und zu einem selbstbestimmten Umgang damit – auch, wenn hier nicht von einer Veränderung von grundlegenden Figuren seines Selbst- und Weltverhältnisses, also gelingenden Bildungsprozessen, gesprochen werden kann, weil er letztlich weiter fremdbestimmt agiert und sein Lebenssystem ein letztes Mal zu affirmieren scheint, wenngleich er sich dabei als der, der er ist, annimmt und nicht mehr seinem vergangenen Ich hinterherläuft: „Ich möchte euch allen heute Abend sagen, wie dankbar ich bin, dass ich hier sein kann. ’Ne Menge Leute haben mir gesagt, dass ich (Pause) dass ich nie wieder in den Ring steigen würde. Das ist aber alles, was ich kann. Ihr wisst, wenn man am Limit lebt, wenn man bis zum Äußersten geht und man die Kerze an beiden Enden anzündet, dann muss man den Preis bezahlen. In so einem Leben kannst du alles verlieren, was du liebst und alles, was dich geliebt hat. Also, ich hör’ nicht mehr so gut wie früher, und ich vergess’ auch manches und ich seh’ nicht mehr ganz so gut aus wie früher. Aber zum Teufel, ich steh’ immer noch hier. Ich bin The Ram.28 Gut, im Laufe der Zeit, wisst ihr, (Pause) im Laufe der Zeit, heißt es, er ist (Pause) er ist am Ende, er ist erledigt, er ist ein Loser, er ist ein Wrack. Aber wisst ihr was, die einzigen, die mir sagen dürfen, wann es für mich vorbei ist, das seid ihr hier. Ihr hier im Saal. Ihr dürft mir das sagen. Ihr seid diejenigen, für die wir das alles machen. O.K.? Ihr seid meine Familie. Ich tue das für euch. Ich liebe euch.“ (1:34:10-1:35:29)
Dieser Szene geht noch ein souveräner Abschluss mit Cassidy voraus, als sie ihm hinterherreist und ihn vom Kampf abhalten will. Er entgegnet ihr, dass er nur seinen Job macht, weiß, was er tut, sein Herz noch schlägt und nur die Welt außerhalb des Wrestling ihn verletzten kann, weil sie sich nicht für ihn interessiert. Danach erklingt als Auftrittssong „Sweet Child o’ Mine“ von Guns N’Roses, der ebenso gut als Sinnbild für die Wirkung von Cassidy auf Robinson aufgefasst werden kann:
28 Diese Aussage verdeutlicht nochmals die umfassende Identifikation mit seiner Rolle als Wrestler. Er ist das, was er zeigt, seine Subjektivität ist durch und durch Oberfläche, bestimmt in ihrem Wesen letztlich durch die Wahrnehmung seiner Außenwelt sowie durch sein Festhalten an einer ihm von der Außenwelt vor 20 Jahren zugewiesenen Subjektposition als Star. Seine Versuche, abseits des Wrestling eine alternative Subjektposition zu finden, scheitern.
40 | M ARCUS S. KLEINER „She’s got a smile that it seems to me Reminds me of childhood memories Where everything was as fresh as the bright blue sky Now and then when I see her face She takes me away to that special place And if I’d stare too long I’d probably break down and cry Sweet child o’ mine Sweet love of mine […] Where do we go Where do we go now Where do we go Sweet child o’ mine“ (Guns N’Roses 1987).
Robinson hat Cassidy sinnbildlich zu lange in die Augen gesehen, denn aus seiner Sicht auf sie ist eine Leidenschaft für sie entstanden. In der letzten Filmeinstellung springt Robinson in die Schwarzblende, höchstwahrscheinlich wissend, dass er in den Tod springt, weil er in der Kabine und im Ring starke Herzschmerzen hatte.29 Der Song „The Wrestler“ von Bruce Springsteen beginnt: „Then you’ve seen me, I come and stand at every door Then you’ve seen me, I always leave with less than I had before Then you’ve seen me, bet I can make you smile when the blood, it hits the floor […] These things that have comforted me I drive away […] This place that is my home I cannot stay […] My only faith’s in the broken bones and bruises I display“ (Bruce Springsteen 2009).
Der Tod, hier in Form eines mehr oder weniger vollzogenen Freitods als Befreiungsakt, wird einerseits als souveräne Wahl zur rechten Zeit inszeniert, andererseits als Bedingung der Möglichkeit von Leben bzw. Weiterleben in der Erinnerung der Fans angedeutet. Darüber hinaus wird Alter(n) in The Wrestler insgesamt mit (körperlichem) Leiden, kultureller Ausgeschlossenheit, Einsamkeit und Beziehungslosigkeit, Angst, Bitterkeit, Starrsinn, Entfremdung und Machtlosigkeit in Verbindung gebracht – nicht zuletzt aber, weil Robinson nicht in der Lage ist, seinen populärkulturellen Bezugsrahmen zu verändern, eine populärkulturelle Sensibilität oder ein entsprechendes Ethos der Lebensführung auszubilden.
29 Bevor Robinson zum Kampf geht, erklingt ein sehr hoher Ton, der so klingt, wie der Alarmton des Herzfrequenzmessers im Krankenhaus bei einem Herzstillstand – eine filmsprachliche Vorwegnahme des weiteren Geschehens.
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4 F AZIT : P OPULÄRES ALTERN ? Populäre Kulturen sind wesentlich storytelling, permanente Dialoge mit sich und ihrer Geschichte – The Wrestler stellt einen solchen narrativen Dialog dar. Von einer subjektiven Perspektive aus betrachtet sind populäre Kulturen daraus resultierende Imaginationsarsenale und Möglichkeitswelten von Identitätsangeboten – für Robinson sind sie dies auch, wenngleich sehr eindimensionale. Nicht zuletzt fungieren populäre Kulturen auch als Sozialisationsagenturen und Welterklärungs- bzw. Weltbewältigungsmodelle – wie durch die Figur Robinson veranschaulicht werden kann. Diese individuellen Bedeutungsdimensionen, die zugleich konstitutive soziale Funktionen der populären Kultur sind, brauchen, um kontinuierlich identifizierbar und kommunizierbar zu sein, Archive (etwa Musik, Lifestyles, Clubs, Mode, Fotografien, Zeitschriften, Literatur, Filme, Wissenschaft oder Kunst), Protagonisten und Kommunikatoren (z.B. Stars, Künstler oder Journalisten), damit populäre Kulturen für die Rezipienten immer wieder zu repräsentativen Kulturen (vgl. Tenbruck 1990; vgl. auch Göttlich/Gebhardt/Albrecht 2010) werden können. The Wrestler kann vor diesem Hintergrund als Archiv und Robinson als ästhetische Figur eines Protagonisten bzw. Kommunikators aufgefasst werden. Diese Auffassung wird einerseits von Simmels These, dass sich die soziale Wirklichkeit stets im Spannungsfeld von subjektiver und objektiver Kultur konstituiert, getragen (vgl. Simmel 1989), andererseits von der Annahme Bergers und Luckmanns, dass der Mensch stets Produkt und Produzent der Gesellschaft zugleich sei (vgl. Berger/Luckmann 1996). Mit Blick auf die Analyse populärer Kulturen betont Storey entsprechend: „We make history and we are made by history; we make culture and we are made by culture.“ (Storey 2003: 60) Die vorausgehenden Überlegungen haben verdeutlicht, dass in einem prominenten Feld repräsentativer Kultur, dem populären Film, die Auseinandersetzung mit der Kultur des Alter(n)s, im Unterschied zur PopmusikKultur (vgl. Kleiner 2010), explizit zum Thema wird. Im Gegensatz zum Tod ist Alter(n) erfahrbar und erlebbar – und auch gestaltbar. Hieraus sollte das produktive Potential der Auseinandersetzung mit dem Alter(n) gewonnen und eine populärkulturelle Kreativität des Handelns sowie Denkens erzeugt, Möglichkeitswelten und Imaginationsarsenale, soweit wie überhaupt realisierbar, eröffnet werden. Es ginge hierbei um ein, im Sinne Foucaults (vgl. u.a. Foucault 1986, 1990, 1994, 1997), Ethos der Lebensführung, durch das man versuchen könnte, der populärkulturellen Identitätspolitik seiner Jugend eine altersgerechte Form zu geben, um nicht, etwa mit Blick auf Mode, Arbeit und Freizeit, als prätentiöses Zitat seiner Selbst zu altern. Darüber hinaus könnten die enger werdenden Räume, in denen populäre Kultur noch gelebt und erlebt werden kann, sozial kompetent erschlossen und gestaltet, aber auch aus ihnen ein neues Leben und Erleben bezogen werden. Hierbei könnten populäre Kulturen weiterhin
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eine soziale und kulturelle Orientierungsfunktion für das Individuum besitzen. Genau diese Ausbildung eines populärkulturellen Ethos der Lebensführung gelingt Robinson. Er könnte insofern als ästhetische Figur eine Fremdheitserfahrung für die Zuschauer darstellen, von der aus konstruktive Bildungsprozesse ausgehen. Populäre Kulturen, hier am Beispiel des populären Films, als einflussreiche Felder kultureller Produktion und Rezeption, können als kulturelles Gedächtnis im Umgang mit dem Alter(n) fungieren bzw. als Altersbilder, die die Gestaltung von Altersrollen und Altersidentitäten (affirmativ und/oder kritisch) anregen, wie dies in The Wrestler der Fall ist. Zudem können populäre Kulturen zu Archiven, Aufschreibsystemen und Artikulationsinstanzen für individuelle Auseinandersetzungen mit dem Alter(n) bei den Zuschauern werden, wodurch verstärkt zur öffentlichen Thematisierung angeregt, also die Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der alternden Gesellschaft mitbestimmt, zumindest aber die individuelle Beschäftigung mit diesem Thema angereichert werden könnte. Kultur besteht – neben Repertoires an kulturellen Wissens-, Sinn- und Bedeutungsbeständen – vor allem aus Repertoires an praktischem Wissen und interpretativem Können, die erst die kulturellen Wissens- und Bedeutungsbestände in der Praxis zur Wirkung bringen. Genau an dieser Stelle müsste die Auseinandersetzung mit der Kultur des Alter(n)s ansetzen – ausgehend von Feldern (medien-)kultureller Produktion. Insofern versteht Foucault unter dem Begriff der Selbstsorge „nicht einfach, dass man an sich interessiert ist, auch nicht, dass man zur Selbstbezogenheit oder Selbstverliebtheit neigt“, sondern er „beschreibt eine Art von Arbeit, eine Tätigkeit, es umschließt Aufmerksamkeit und Wissen“ (Foucault 1994: 281). Hier wird eine Reformulierung der Selbst- und Weltverhältnisse in der Sorge um sich selbst intendiert – diese korrespondiert mit Kokemohrs Bildungsbegriff, dem Verständnis von Medienbildung von Jörissen und Marotzki sowie mit Amérys Auseinandersetzung mit dem Alter(n). Robinson ist nicht in der Lage, die Sorge um sich selbst selbstbestimmt zu realisieren. Unter Kultur können dementsprechend die Formen und Bedeutungsvielfalt symbolischer Ordnungen, Handlungen und Äußerungen, in denen sich Selbst- und Weltbilder, Wahrnehmungsweisen und Mentalitäten widerspiegeln und konstituieren, begriffen werden. Kultur ist eine Interpretationsgemeinschaft, deren Aufgabe im fortwährenden Aushandeln und Konstruieren von (instabilen) Bedeutungen, (Kontext-relativem) Sinn und (heterogenen) Identitätsangeboten sowie Weltbildern besteht. Populäre Kulturen sind in diesem Kontext wesentliche Motoren der Produktion von Bedeutungen und Handlungsformen. Es stellt sich hierbei auch die Frage, in welcher Art und Weise sich Alter(n) abspielt, wie Alter(n) selbst zur Kultur wird. Alter(n) ist eine eigene Methode des Verstehens und eine spezifische Handlungsform, die sich in vielen Fällen mit den traditionellen Kulturverständnissen und Handlungsweisen anderer Felder kultureller Kommunikation und kulturellen Handelns
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nicht deckt. Dennoch müssen sich die Mitglieder der Gesellschaften dieses Verständnis aneignen, um ihre Lebenswelten verstehend gestalten zu können. Denn Kulturaneignung vollzieht sich immer im Spannungsfeld von subjektiver und objektiver Kultur, indem sich Menschen den Produkten der Kultur – z.B. Symbolen, Wert- und Normsystemen, Traditionen – und zugleich die Kulturprodukte anpassen, wenn es etwa um Autos, Möbel, Hygienestandards oder Ausreisebestimmungen geht. Immer gleichen die Individuen diese Produkte der Kultur und die Kulturprodukte mit ihren Gewohnheiten, ihrer Umgebung und Kombinationsfreudigkeit ab und arbeiten sie in ein subjektiv konstituiertes Milieu ein (vgl. Soeffner 1988). Kultur ist allen Repressalien zum Trotz nicht umfassend standardisierbar – an der Figur Robinson ist zu beobachten, welch fatale Folgen es haben kann, wenn man versucht, Kultur zu standardisieren bzw. zu vereinheitlichen – gerade dadurch, dass sie stets von Menschen unterschiedlichster Herkunft geschaffen wird und gleichzeitig wiederum kulturelle Lebensstile und Lebenswelten schafft, an denen Menschen sich permanent abarbeiten müssen. Diese Diagnose darf aber nicht übersehen, dass die kulturelle Vielfalt keine Vielfalt für alle ist, bzw. einen gemeinsamen, handlungsleitenden Hintergrund für soziale und individuelle Welt- sowie Selbstentwürfe darstellt. Zudem kann auch nicht behauptet werden, dass kulturelle Vielfalt automatisch oder überhaupt zu wechselseitigem Verständnis und einem Zuwachs an Handlungsmöglichkeiten führe. Die Kultur(en) des Alter(n)s erfordern daher nicht nur Strategien individueller Aneignung, sondern sie ziehen auch neue Zusammenhänge verpflichtender Beziehungen nach sich. Beziehungsstiftung gelingt Robinson in The Wrestler nicht, wodurch sein Scheitern wesentlich bedingt ist. Populäre Kulturen als kulturelle Kommunikationsformen könnten diese Funktionen einerseits für die populärkulturell Sozialisierten übernehmen, andererseits als strategische Plattform dienen, kulturelle Themen bzw. Probleme aufmerksamkeitsökonomisch erfolgreich auf die soziale Agenda zu bringen. Die Ausbildung einer transformatorischen und sich somit für Fremdheitserfahrungen offen haltenden populärkulturellen Sensibilität, Urteilskraft und Handlungskompetenz ist hierfür entscheidend. Robinson veranschaulicht die Konsequenzen des Nichtvorhandenseins dieser populärkulturellen Grundkompetenzen. Populäre Kulturen fungieren als Sinnanbieter, die beziehungs- bzw. gemeinschaftsstiftend orientiert sind, Wertorientierung enthalten und zeigen, wie neue Lebensentwürfe sozial eingeordnet werden können. Das Erzählen von Geschichten besitzt eine hohe Bildungsrelevanz, etwa in Form von Erzählungen und Berichten von gelingenden Lebensgeschichten. Das Erinnern an die Möglichkeiten des gelingenden Lebens hilft, Sinn zu finden, speziell in Krisensituationen und Kontexten der Fremdheitserfahrung. Auch das Lernen aus der Diffusion von Selbst- und Weltbezügen, also aus dem Krisenhaften von Bildungsprozessen, wie in The Wrestler, ermöglicht in der Auseinandersetzung mit diesen Diffusionen emanzipatorische Handlungs-
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praxen. Die Bestimmtheit des Scheiterns von Robinson kann so zu einer produktiven Verunsicherung der Zuschauer im Umgang mit den filmischen Altersbildern beitragen, aus der ein Unbestimmtheitsmanagement im Umgang mit dem eigenen (populärkulturellen) Alter(n) resultieren kann. Hierzu trägt wesentlich bei, dass im Film „Alter(n)sstereotype durch Alter(n)sstereotype“ aufgelöst „und auf diese Weise dychotome [sic] Alterskonstruktionen“ ästhetisch überwunden werden. „Sie werden zu Singularitäten, die im Stereotyp nicht mehr aufgehen und so Nichtidentisches ausdrücken.“ (Sanders 2010: 310) In der ästhetischen Figur Randy „The Ram“ Robinson erweisen sich seine lebensweltlichen Grenzen als Sinngrenzen im Umgang mit sich und seiner Umwelt. Hierdurch wird der Blick auf die soziale und individuelle Konstruktion von Altersrollen sowie Altersbildern frei, ohne diese aber wiederum mit vermeintlich richtigen oder besseren Rollenbildern zu ersetzen. Insofern stellen diese Altersrollen und -bilder eine Perspektive dar, wie filmische Stereotype dazu beitragen können, soziale Stereotype zu transformieren. Allerdings verdeutlicht The Wrestler eindringlich, dass die Bedingung der Möglichkeit von transformatorischen Bildungsprozessen der Zusammenhang von Bildung und Anerkennung ist und dieses Verhältnis als soziale Voraussetzung von Selbstentwicklung und Welterschließung verstanden werden muss.
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Pop Identities Postmoderne Identität, Popkultur und Hanif Kureishis The Black Album F LORIAN N IEDLICH Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben. (MICHEL FOUCAULT)
Denkt man an die performative Selbstinszenierung und die zahlreichen Transformationen von Pop-Ikonen wie Prince, Madonna oder David Bowie, dann wird schnell klar, dass traditionelle Vorstellungen von Identität im Kontext der Popkultur keine Gültigkeit mehr haben. Wie lässt sich das neue Identitätsverständnis, das hier zum Ausdruck kommt, beschreiben und welche Implikationen sind damit verbunden? Ausgehend von diesen Fragen stellt der vorliegende Beitrag zunächst Überlegungen zur postmodernen Rekonzeptualisierung von Identität an und untersucht darauf aufbauend im Anschluss die Identitätskonstruktionen in Hanif Kureishis Poproman The Black Album. Die Kernthese ist, dass der postmodernen Neudefinition von Identität als offen und wandelbar ein emanzipatorisch-transformatives Potential zukommt und dies in den Werken der (anglo-amerikanischen) Popkultur, deren Herausbildung unmittelbar mit der Postmoderne verbunden ist, besonders deutlich zu Tage tritt.
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Identität kommt von dem lateinischen Wort idem, was „das-“ oder „derselbe“ bedeutet. Dementsprechend definiert das Oxford English Dictionary (OED) Identität wie folgt: „The sameness of a person or thing at all times or in all circumstances; the condition or fact that a person or thing is itself and not something else; individuality, personality“ (OED 1991: 620). Analog dazu wird der Begriff der personalen Identität bestimmt als „the condition
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or fact of remaining the same person throughout the various phases of existence; continuity of the personality“ (ebd.). Aus dieser Sicht bezeichnet Identität demnach die Kontinuität und Kohärenz – und damit auch die Einheit – der Person. Diese essentialistische Vorstellung hat jahrhundertelang das westliche Denken geprägt. Ihr Ursprung liegt in der Renaissance, in den tief greifenden Veränderungen des Übergangs vom Mittelalter zur frühen Neuzeit. Anders als noch im Mittelalter, in dem sich der Mensch „in irgendeiner Form des Allgemeinen“ (Burckhardt 1947: 123)1 erkannte und sich über den ihm zugewiesenen Platz in einer ewigen Ordnung definierte, beginnt er nun, sich als selbst-bewusstes, selbst-verantwortliches und potentiell selbstverwirklichendes Wesen zu setzen. Das, was man mit Charles Taylor als neuzeitliche Identität (modern identity) bezeichnen kann (vgl. Taylor 1989), bildet sich also in unmittelbarem Zusammenhang mit der Entstehung von (neuzeitlicher) Subjektivität und Individualität. Als zentrale Figur der philosophisch-theoretischen Fundierung des selbstidentischen Subjekts gilt gemeinhin der französische Philosoph René Descartes. So schreibt Fredric Jameson: „[W]ith Descartes, we […] witness the emergence of the subject, or in other words, of the Western subject, that is to say, the modern subject as such, the subject of modernity.“ (Jameson 2002: 43) Mit seinem durch die Methode des radikalen Zweifels gewonnenen Diktum des „Ich denke, also bin ich“ begründet Descartes philosophisch das sich selbst und seine Welt souverän konstituierende Subjekt, dessen Position besonders im 18. Jahrhundert durch die kantische Transzendentalphilosophie2 und im Zuge des Aufstiegs des Bürgertums weiter gefestigt wurde. Dieses Subjekt, sowie die damit einhergehende Vorstellung einer originären, fixen Identität, haben – wiewohl vielfach neu theoretisiert – bis in die heutige Zeit überdauert. Nun allerdings sieht sich das Subjekt bedroht. Bereits im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, insbesondere durch die Arbeiten von Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und die allgemeine Erfahrung der Moderne, war seine feste Stellung schwer erschüttert worden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stürzen es vor allem der Strukturalismus und der Poststrukturalismus dann endgültig in die Krise.3 So haben, laut Michel Foucault, „die [jüngeren] Untersuchungen der Psychoanalyse, der Linguistik, der Ethnologie das Subjekt im Verhältnis zu den Gesetzen seines
1 2
3
Im hier behandelten Kontext vgl. der gesamte zweite Abschnitt von Burckhardts wegweisendem, wenn auch nicht unumstrittenem, Werk. Michel Foucault sieht in der subjektzentrierten Erkenntnistheorie Kants, die – im Gegensatz zu der von Descartes – zur Begründung der Existenz der objektiven Wirklichkeit nicht mehr auf eine göttliche Instanz rekurriert, den eigentlichen Beginn der modernen Subjektphilosophie (vgl. Foucault 1974). Die Idee des selbstidentischen, autonomen Individuums wird daneben auch in vielen anderen Wissenschaften und Fachrichtungen problematisiert. Beispiele hierfür sind die Neurobiologie, die Gentechnik sowie der Trans- bzw. Posthumanismus (zu letzterem vgl. den Beitrag von Alexander Kluger in diesem Band).
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Verlangens, zu den Formen seiner Sprache, zu den Regeln seines Handelns oder zum Ziel seiner mythischen oder fabelartigen Diskurse dezentriert“ (Foucault 1981: 24, Hervorhebung F.N.). Theoretiker wie Foucault, Jacques Lacan, Jacques Derrida, Claude Lévi-Strauss und Judith Butler wenden sich gegen jede Art von metaphysischem Ursprungsdenken und betonen stattdessen die unhintergehbare Vorgängigkeit von diskursiven Strukturen, Machtverhältnissen und Sprachmechanismen, auf die das Dasein des Subjekts zurückgeführt wird. Es wird hervorgebracht im Zuge einer Subjektivation (assujettissement), d.h. in der Gleichzeitigkeit von Subjektwerdung und Unterwerfung (vgl. Foucault 1987: 247; Butler 1997b: 84). Diesen Prozess versteht Butler als „diskursive Identitätserzeugung“, als Prozess, in dessen Verlauf „der Diskurs Identität produziert, indem er ein Reglementierungsprinzip bereitstellt und durchsetzt, das das Individuum zutiefst durchdringt, totalisiert und vereinheitlicht“ (Butler 2001: 83). Es geht Butler darum, Identität zu deontologisieren und zu denaturalisieren und ihre Konstruktion im Feld von Machtprozessen zu untersuchen. Statt als natürlicher Ausdruck eines inneren Wesens muss sie Butler zufolge vielmehr als performativ erzeugtes Konstrukt, nicht als ein Sein, sondern als ein Tun, verstanden werden: „[I]dentity is performatively constituted by the very ‚expressions‘ that are said to be its results“ (Butler 1990: 25); „acts, gestures, enactments, generally construed, are performative in the sense that the essence or identity that they otherwise purport to express are fabrications manufactured and sustained through corporeal signs and other discursive means.“ (Ebd.: 136) Identität kann demnach nicht länger als unverrückbare Gegebenheit gelten, sondern muss als performative Praxis aufgefasst werden. Die althergebrachte, essentialistische Vorstellung vom ursprünglichen, einheitlichen, mit einer gegebenen, eindeutigen und unveränderlichen Identität ausgestatteten Subjekt ist so zu Grabe getragen: „[T]he subject as a self-identical entity is no more.“ (Butler 1993: 230) Trotz dieses Befundes werden jedoch auch in der Postmoderne die Konzepte „Subjekt“ und „Identität“ nicht preisgegeben. Stuart Hall stellt treffend fest: „[T]he decentring of the subject is not the destruction of the subject“ (Hall 2000: 26); und gewissermaßen analog dazu: „Identity is […] an idea which cannot be thought in the old way, but without which certain key questions cannot be thought at all.“ (Ebd.: 16) Statt eines Abschieds bedarf es daher vielmehr einer der Postmoderne angemessenen Rekonzeptualisierung. Aus der Asche der klassischen Identität des humanistischen Ursprungssubjekts erhebt sich so die postmoderne Identität des dezentrierten Subjekts: eine Identität, deren Merkmale nicht länger Einheit, Kohärenz und Kontinuität, sondern Fragmentarität, Heterogenität und Kontingenz sind. An die Stelle der „Moral des Personenstandes“ (Foucault 1981: 30) tritt damit die Möglichkeit zum Experiment und zur Neugestaltung von Identität. Zwar ist das Subjekt durch Diskurs- und Machtstrukturen konstituiert, aber, wie Butler und andere gezeigt haben, durch diese nicht vollkommen determiniert: „The culturally enmired subject negotiates its constructions, even
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when those constructions are the very predicates of its own identity.“ (Butler 1990: 143) Das von Butler beschriebene ‚postsouveräne Subjekt‘ (vgl. Butler 1997a: 139) ist ‚Subjekt der Macht‘ im doppelten Sinne: Es ist von Macht ermöglicht, übt aber seinerseits gleichzeitig auch Macht aus (vgl. Butler 1997b: 14f.). Wie weit diese Ausübung – die Handlungsfähigkeit (agency) des Subjekts – allerdings reicht, darüber herrscht Uneinigkeit. So betont beispielsweise Judith Butler, dass Zwang die ‚eigentliche Bedingung für Performativität‘ (vgl. Butler 1993: 94f.) sei und diese daher nicht im Sinne einer willentlichen Inszenierung oder eines frei gewählten Schauspiels missverstanden werden dürfe. Demgegenüber konstatiert Douglas Kellner: „Identity today […] becomes a freely chosen game, a theatrical presentation of the self, in which one is able to present oneself in a variety of roles, images, and activities, relatively unconcerned about shifts, transformations, and dramatic changes.“ (Kellner 1995: 246f.)
Trotz divergierender Positionen hinsichtlich Fragen wie der nach dem Ausmaß der Handlungsfähigkeit, gehen Butler, Kellner und zahlreiche andere Denker doch darin überein, dass sie der veränderten Konzeption von Identität ein freiheitliches Potential beimessen und folglich die Konstruktion postmoderner Identitäten als transformative Praxis begreifen. Dementsprechend sieht Butler ‚eine neue Konfiguration der Politik‘ (vgl. Butler 1990: 149) entstehen: „one that will take the variable construction of identity as both a methodological and normative prerequisite, if not a political goal“ (ebd.: 5). Ähnlich führt Douglas Kellner aus: „[P]ostmodern identities suggest that one can change, that one can remake oneself, that one can free oneself from whatever traps and restrictions one finds oneself ensconced in.“ (Kellner 1995: 259) Und weiter: „[T]here are emancipatory possibilities in the perpetual possibility of being able to change one’s self and identity, to move from one identity to another, to revel in the play of multiple and plural identities.“ (Ebd.: 247) Wie die folgende Analyse von Hanif Kureishis Roman The Black Album beispielhaft zeigt, lassen sich ähnliche Grundannahmen auch in den Diskursen der (anglo-amerikanischen) Popkultur nachweisen, in welcher die postmoderne Verflüssigung von Identität mit besonderer Prägnanz hervortritt.
I CH
UND ICH UND ICH UND ICH UND …
Versteht man unter Popliteratur „eine Literatur, die keine kulturkritische Anklage gegen die ausufernde Zeichenproduktion der populären Kultur erhebt, sondern diese als Ausgangsmaterial des literarischen Schreibens nutzt“ (Schäfer 1998: 26), Werke also, die „die Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur [auflösen] und damit auch Themen, Stile, Schreib- und Lebensweisen aus der Massen- und Alltagskultur in die Literatur [aufnehmen]“ (Ernst
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2005: 9), kann der britische Schriftsteller Hanif Kureishi zweifellos (auch) als Popliterat gelten. In verschiedenen Essays hat er wiederholt auf das gemeinschaftsbildende, befreiende und demokratisierende Potential des Pop – ihm zufolge „the richest cultural form of post-war Britain“ (Kureishi 1996: 117) – hingewiesen (vgl. Kureishi 1995, 1996) und in der Mehrzahl seiner literarischen Werke finden sich zahlreiche popkulturelle Verweise und Bezüge. Mehr noch: „[P]op music has permeated large parts of [his] characters’ lives, they are shaped by it and perceive the world through pop-musical perspectives.“ (Viol 2006: 128) Das gilt auch für den Roman The Black Album (1995). Shahid Hasan, der Protagonist des Textes, ist nach dem Tod seines Vaters von Kent nach London gezogen, um dort zu studieren. Er genießt seine neu gewonnene Freiheit und ist voll hoher Erwartungen hinsichtlich der Möglichkeiten, die das Leben in der großen Stadt ihm bietet. Eine elementare Rolle nimmt dabei sein Wunsch nach Zugehörigkeit ein: „Shahid wanted a new start with new people in a new place. The city would feel like this; he wouldn’t be excluded; there had to be ways in which he could belong.“ (Kureishi 2000: 16)4 Begründet ist dieser bei ihm sehr stark ausgeprägte Wunsch in Erfahrungen seiner Kindheit bzw. Jugend, in der Shahid – als in England geborenes und aufgewachsenes Kind pakistanischer Migranten – wiederholt Opfer von rassistischer Gewalt und Ausgrenzung wurde und auch innerhalb der eigenen Familie oftmals eine Außenseiterrolle einnahm. Die Frage des belonging kann als das zentrale Thema des Buches gelten: Der Text dokumentiert Shahids Suche nach Zugehörigkeit und Identität. Damit steht Kureishis Text dem Genre des Bildungsromans nahe. Denn, wie Bart Moore-Gilbert festhält: „[I]t is one which insistently presents identity as a developmental, unstable and shifting process, rather than a given and stable product.“ (Moore-Gilbert 2001: 127) Tatsächlich spricht vieles für eine solche Kategorisierung des Romans. Schon in den ersten Kapiteln werden die Leser in den die gesamte weitere Handlung bestimmenden Konflikt eingeführt: In seiner Suche sieht Shahid sich hin- und hergerissen zwischen zwei gegensätzlichen Parteien: der Gruppe muslimischer Jugendlicher um Riaz Al-Hussain auf der einen und seiner liberalen Universitätsdozentin und Liebhaberin Deedee Osgood auf der anderen Seite. Die Erzählung erhält so eine deutlich dichotome Struktur, die sich im Wesentlichen aus den binären Oppositionen von religiösem Fundamentalismus vs. hedonistischem Marxismus, Kollektivismus vs. Individualismus und ethnischem Isolationismus (Pakistan) vs. Assimilation (England) ergibt. Erst gegen Ende des Romans gelingt es Shahid, den Konflikt zu lösen, indem er sich von der Gruppe, deren Extremismus und Fanatismus im Laufe der Geschichte immer deutlicher zu Tage treten, trennt und sich für Deedee entscheidet. Auf diese Weise, so könnte man den Konventionen des klassischen Bildungsromans gemäß meinen, scheint Shahid nach einer Periode der Unsicherheit und verschiedener
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Im Folgenden zitiert als BA.
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Höhen und Tiefen schließlich seine ‚wahre‘, d.h. die seinem unveränderlichen Selbst entsprechende, Identität zu finden. Eine derartige Lektüre verkennt jedoch, dass Shahid am Ende gerade keine stabile Identität ausbildet, sondern vielmehr den essentialistischen Glauben an eine solche verwirft und durch ein postmodernes Identitätsverständnis ersetzt. Moore-Gilbert stellt treffend fest: „Whereas the genre [of the Bildungsroman] usually charts the protagonist’s eventual attainment of a stable personal and public identity, the lesson learned by Kureishi’s major character[…] is quite different in emphasis. For [him], maturity consists in accepting as an ethical principle the terminally polymorphous and unstable nature of selfhood.“ (Moore-Gilbert 2001: 130)
The Black Album kann daher als postmoderner Bildungsroman gelten, als ein der heutigen Zeit angemessenes re-writing des Genres. In diesem Lichte neu betrachtet, zeigt sich, dass der gesamte Roman unter dem Aspekt eines permanenten Transgredierens von Identitätsgrenzen und Experimentierens mit Identitäten gelesen werden kann bzw. muss. In einer Schlüsselszene des Buches, in der Deedee den nackten Shahid schminkt und feminisiert, wird dies besonders deutlich: „[H]e felt he were losing himself. What was she seeing? […] [H]e let her take over; it was a relief. For now she refused him a mirror, but he liked the feel of his new female face. He could be demure, flirtatious, teasing, a star; a burden went, a certain responsibility had been removed.“ (BA: 117) Um was handelt es sich bei dieser Verantwortung, die als Last empfunden wird, anderes als um den von Judith Butler beschriebenen gesellschaftlichen Zwang zur einheitlichen, eindeutigen und kohärenten (Geschlechts-)Identität? Und auf was ist Shahids Erleichterung zurückzuführen, wenn nicht auf die augenblickliche Befreiung von ebendiesem und die damit einhergehende Verflüssigung von Identität? In diesem Kontext ist die auffallend häufige Erwähnung des Blicks in dieser Szene äußerst aufschlussreich. Shahid fragt sich, was Deedee wohl sehe, diese jedoch verweigert ihm den Blick in den Spiegel. In seinem einflussreichen Aufsatz über das Spiegelstadium hat der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan die zwischen dem sechsten und dem 18. Lebensmonat einsetzende Identifikation des Kindes mit dem eigenen Spiegelbild als Entstehungsphase des psychischen Ichs beschrieben und diesen Vorgang zum Muster aller späteren Identifikationen und Projektionen und damit zur grundlegenden Matrix von Subjektivität bzw. Identität überhaupt erklärt (vgl. Lacan 1973). Entscheidend ist dabei, dass das Kind sich durch die vermittels des Spiegelbildes neu gegebene Erfahrung der ‚Außenperspektive‘ auf das eigene Selbst erstmals als vollkommene, autonome Einheit (‚Ideal-Ich‘) imaginiert und sich fortan nach diesem Ideal formt und
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orientiert.5 Die Verweise auf Deedees Blick und den fehlenden Spiegel – so ließe sich in einer Lacan’schen Lesart sagen – markieren metaphorisch die An- bzw. Abwesenheit des konstitutiven Blicks von außen auf das eigene Ich. Die Szene präsentiert also eine Art identity in the making, in dessen Verlauf zum Teil auch solche Elemente freigesetzt werden können, die – wie Lacan und im Anschluss an diesen Judith Butler und andere betonen – für die Errichtung eine kohärenten Identität ausgeschlossen bzw. verdrängt werden müssen und infolgedessen ins Unbewusste abwandern, um von dort diese Identität immer wieder in Frage zu stellen. In seiner subversiven Überschreitung der Grenzen vorgeschriebener Geschlechtsidentitäten beginnt Shahid erstmals, sich von der Fiktion einer geschlossenen und beständigen Identität zu lösen und seine innere Vielstimmigkeit sowie den performativen Charakter von Identität zu erkennen. Unterstrichen wird dies noch durch die Erwähnung Madonnas, die wie kaum ein(e) andere(r) die performative Selbstinszenierung und das postmoderne Spiel mit Identitäten verkörpert.6 Bezeichnenderweise ist es ihr Lied „Vogue“, zu dem sich die gesamte Szene abspielt.7 „Strike a pose!“, singt Madonna in diesem und fordert zur Selbsttransformation durch voguing als Alternative zu bzw. Flucht vor den Problemen und Enttäuschungen des Alltags auf. Shahid folgt gewissermaßen diesem intertextuellen Appell und ficht mit seiner temporären Transformation ebenso wie die Homosexuellen, die im voguing in Tanz und Travestie verschiedene Rollen und Identitäten zur Aufführung bringen, die bestehende Geschlechterordnung an. Für die Homosexuellen wie für Shahid, der sich in einer späteren Szene selbst erneut feminisiert (vgl. BA: 149f.), gilt: „Even if the moment is fleeting, the enticements of voguing rest in the ability to enter and leave the fantasy of multiple subjectivities at will, gaining sensual
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Slavoj Žižek, einer der heute wohl prominentesten Vertreter psychoanalytischer Theorien Lacan’scher Prägung, spricht vom „dringende[n] Bedürfnis nach dem phantasmatischen Blick des Anderen […], der als Garantie für das Sein des Subjekts dient“ (Žižek 2000: 21). Madonna kann als zentrale popkulturelle Wegbereiterin eines postmodernen Identitätsverständnisses gelten. So schreibt beispielsweise Susan McClary: „Madonna’s art […] repeatedly deconstructs the traditional notion of the unified subject with finite ego boundaries. Her pieces explore – sometimes playfully, sometimes seriously – various ways of constituting identities that refuse stability, that remain fluid, that resist definition.“ (McClary 1993: 103) Für eine hilfreiche Übersicht über die zahlreichen Wandlungen Madonnas vgl. Kellner 1995: 263296 sowie Volkmann 1999. Ein weiterer, impliziter Intertext dieser Szene ist auch das interessante, von David Fincher inszenierte Musikvideo zu Madonnas Stück, das die aus der homosexuellen Subkultur von Harlem stammende Praxis des voguing in den Mainstream einführte. Wie Shahids cross-dressing kann auch Madonnas Selbstinszenierung in dem Clip im Sinne der Ausführungen Judith Butlers zum drag als subversive Resignifikation von Geschlechtsnormen gedeutet werden.
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pleasure and self-expressive satisfaction.“ (Mandziuk 1993: 180)8 Ein solches Verhalten läuft dem gesellschaftlichen Druck, eine eindeutige Zugehörigkeit sowie eine feste Identität zu entwickeln, fundamental zuwider. Obwohl Shahid als Folge dieses Drucks fürchtet, allein in einem ‚Niemandsland‘ zu landen (vgl. BA: 92) und durch das Netz allgemein anerkannter Identitäten zu fallen, spürt er doch auch zunehmend den einschränkenden Charakter fixer Identitätspositionen: „These days everyone was insisting on their identity, coming out as a man, woman, gay, black, Jew – brandishing whichever features they could claim, as if without a tag they wouldn’t be human.“ (Ebd.) Die Unzulänglichkeit eines solchen tag angesichts der verstärkt erfahrenen eigenen Vielschichtigkeit wird ihm immer deutlicher bewusst: „His own self increasingly confounded him. One day he could passionately feel one thing, the next day the opposite. Other times provisional states would alternate from hour to hour; sometimes all crashed into chaos. He would wake up with this feeling: who would he turn out to be on this day? How many warring selves were there within him? Which was his real, natural self? Was there such a thing?“ (Ebd.: 147)
Die Erfahrung „der widersprüchlichen Wechselhaftigkeit und der vielstimmigen Heterogenität widerstreitender innerer Zustände, Empfindungen, Wünsche, Affekte und Triebe“ (Winkgens 2004: 189) führt hier zur Infragestellung des essentialistischen Konzepts vom inhärenten, ewigen Selbst. Shahid fühlt sich zunächst verloren: „[l]ost in […] a room of broken mirrors, with jagged reflections backing into eternity“ (BA: 147). Die in Scherben liegenden Spiegel bezeichnen dabei nicht nur den „infiniten Regress des Reflexionsparadigmas“ (Winkgens 2004: 189), d.h. die Unmöglichkeit, gemäß des Modells des autonomen Vernunftsubjekts Ordnung und Sinn in das Chaos der eigenen Heterogenität zu bringen. Die Spiegel sind zerbrochen auch im Lacan’schen Sinne: Die vormals monolithische Identität ist pluralisiert, das Kernselbst ersetzt durch eine Vielzahl von Ichs, die sich nicht auf eine unveränderliche Substanz zurückführen lassen (vgl. „jagged reflections backing into eternity“). Mit diesen Ichs experimentiert Shahid auf vielfache Weise. Neben der bereits diskutierten, die Grenzen vorgegebener (Geschlechts-)Identitäten auf eine polymorph-perverse Sexualität hin überschreitenden Dynamik erotischen Begehrens, verschiedenen Drogenexperimenten und der Binaritäten überwindenden Popmusik sind es vor allem das Reisen sowie die Literatur und das kreative Schreiben, durch die das Korsett einer eindeutigen, feststehenden Identität gesprengt wird. So überlässt sich Shahid in der soeben zitierten Szene, in der er über seine nicht zu harmonisierenden Geisteszustän-
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Es sollte jedoch festgehalten werden, dass zumindest für das postmoderne Subjekt Shahid die multiplen Subjektivitäten bzw. Identitäten nicht bloß eine ‚Phantasie‘, sondern gelebte Realität sind.
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de und Impulse sinniert und sich zunächst unsicher und orientierungslos fühlt, schließlich „seinem Empfindungszustand irritierender Vielstimmigkeit und transformiert diesen in Akte konstruktiver Kreativität“ (Winkgens 2004: 191), indem er schreibt. Die Lektüre und das eigene Verfassen von literarischen Texten eröffnen Shahid die Möglichkeit, neue Gemütszustände, Denk- und Seinsweisen zu erforschen (vgl. z.B. BA: 74: „He was discovering new emotions and new possibilities“ und 75: „[He was] brought to think and feel in new ways“) und, wie in seiner Kurzgeschichte „Paki Wog Fuck Off Home“, alternative Identitäten auszuprobieren. Darüber hinaus kommt seinem kreativen Schreiben auch metaphorische Bedeutung zu. Versteht man Identität als Effekt semiotischer, bedeutungsproduzierender Praxis (signifying practice), also als ‚Text‘, können Shahids diverse Schreibakte – das ‚Einschreiben‘ in bestehende (Kon-)Texte (das Briefpapier des Vaters, Riaz’ Gedichte, Deedees Papiere) (vgl. Stein 2000: 130), das spielerische re-writing von Texten (Klassiker der Weltliteratur, Riaz’ Gedichte) etc. – als Formen „experimentelle[r] Neukombination strukturell vorgegebener Identitätselemente“ (Winkgens 2004: 186) gelesen werden. So ist denn Shahids Transformation von Riaz’ Gedichten nicht nur als ein Dialogisieren monologischer Texte im Sinne Michail Bachtins zu verstehen (vgl. ebd.: 191; Holmes 2001), sondern bringt zudem metaphorisch die postmoderne Pluralisierung von Identität zum Ausdruck. So wie in den umgeschriebenen Gedichten die konträren Bereiche von Religion und Pornographie zusammengeführt werden, lebt Shahid multiple, zum Teil gegensätzliche Identitäten, ohne sich je endgültig festzulegen.9 Obwohl er sich schließlich gegen Riaz und für Deedee entscheidet, wird doch deutlich, dass auch dies nur eine vorübergehende Verbindung ist: Am Ende des Romans vereinbaren beide, nur so lange zusammenzubleiben, ‚bis es aufhört Spaß zu machen‘: „[u]ntil it stops being fun“ (BA: 276). Über den größten Teil des Romans hinweg pendelt Shahid hin und her zwischen Riaz und Deedee. Bewegung bzw. das Reisen kann somit als zentrales Motiv des Textes gelten. Shahid ist fast permanent in Bewegung und immer wieder wird spürbar, dass er den Zustand des Unterwegsseins als angenehm und beruhigend empfindet: „[A]t least he was in a London taxi“ (ebd.: 55, Hervorhebung F.N.); „when Shahid saw the blue and red tube sign he felt relieved “ (ebd.: 144, Hervorhebung F.N.). Mark Stein stellt fest: „Shahid, ironically, seems most at home when he is not in one particular place, but on the tube, in transit[.]“ (Stein 2000: 134) Dieses Gefühl ist nicht nur darin begründet, dass Unterwegssein für Shahid bedeutet, Konflikten zu entfliehen und für kurze Zeit keine Entscheidungen treffen zu müssen. Noch wichtiger ist, dass das Reisen von einem Ort zum anderen – wie von Riaz zu Deedee und zurück – eine stete Transformation von Identität bedeutet.10 In
9 Für eine ähnliche Interpretation vgl. Winkgens 2004: 192. 10 In diesem Kontext lassen sich auch das oben diskutierte subversive cross-/undressing mit Deedee und das spätere, diesem entsprechende Einkleiden von Sha-
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diesem Sinne kann man also sagen: „London Transport functions as a machine for identity transformation.“ (Stein 2000: 134) Metaphorisch lässt sich Shahids ständiges Oszillieren zwischen Riaz und Deedee dementsprechend als fortwährendes Transgredieren der Grenzen der externen Identitätszuschreibungen deuten, mit denen beide ihn fixieren wollen – als einen fundamentalistischen Muslim im Falle von Riaz, als einen ihren eigenen (westlichen) Vorstellungen entsprechenden transgressiven Charakter im Falle von Deedee. Shahid lässt sich nicht festlegen, seine Zugehörigkeit ist stets nur temporär, seine Identität in ständigem Wandel. Die Tatsache, dass der Roman mit einer weiteren Reise endet – Shahid verlässt London mit Deedee für einen Wochenendausflug an die Küste –, ist somit mehr als passend: „[T]here are no certainties here, no final destination“ (Thomas 2005: 101); keine finale Festlegung der eigenen Identität also, sondern Offenheit und Veränderlichkeit. Shahid, so lässt sich in Anlehnung an Paul Gilroy und Bruce Chatwin sowie Gilles Deleuze und Félix Guattari feststellen, ersetzt roots durch routes, die ‚Monade‘ (Leibniz) durch ein Dasein als ‚Nomade‘. Dieses wird dadurch befördert, dass seine Reisen an einem Ort stattfinden, der als ebenso ‚nomadisch‘ dargestellt wird wie er selbst: London. Die Stadt spielt eine wichtige Rolle in dem Roman. London wird beschrieben als ‚grenzenlos‘ und ohne ‚Form‘ (vgl. BA: 57) und die Leser erfahren: „London mingled with itself ceaselessly.“ (Ebd.: 198) Unaufhörlich kollidieren und verschmelzen hier unterschiedliche Räume und lassen so etwas Neues entstehen. Salman Rushdies berühmte Worte zu The Satanic Verses – einem klaren Intertext von Kureishis Roman (vgl. Holmes 2001) – gelten daher auch für The Black Album: „[It] celebrates hybridity, impurity, intermingling, the transformation that comes of new and unexpected combinations of human beings, cultures, ideas, politics, movies, songs. […] Mélange, hotchpotch, a bit of this and a bit of that is how newness enters the world.“ (Rushdie 1992: 394) Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius stellen zutreffend fest, dass Rushdie so „die ontologische Grundsituation des postmodernen Menschen“ beschreibt, der sich „in einer hybriden, heterotopischen, polykontexturalen Welt“ (Bronfen/Marius 1997: 29) zurechtfinden muss. Kureishis London ist Teil dieser Welt. Der Autor schildert die Stadt als fragmentierten, postmodernen und hybriden, postkolonialen Möglichkeitsraum, der, genau wie Shahid, keine feste Identität besitzt und in einem Prozess permanenter Transformation begriffen ist. „London is […] characterized by a rich liminality, and […] its ‚in-betweenness‘ is both racial and geographical, and both politically and performatively enabling.“ (Ball 1996:
hid in ein Salwar Kamiz durch den Riaz’ Gruppe zugehörigen Muslim Chad als Metaphern für Shahids dauernden Identitätswechsel lesen. Da er allerdings in beiden Szenen eine eher passive Rolle einnimmt, können diese Handlungen ebenso gut als Versuche, Shahid eine fixe Identität aufzuerlegen, verstanden werden (siehe unten).
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9) Infolgedessen eröffnet die Metropole dem postmodernen Subjekt die Chance, eine Vielzahl von Identitäten zu konstruieren und zu leben. Obwohl Shahid im gesamten Romanverlauf diese Chance nutzt und seiner inneren Komplexität gemäß zwischen verschiedenen Identitätskonstrukten changiert, gelingt es ihm doch erst gegen Ende des Romans, sich vollends von der zunehmend in Frage gestellten gesellschaftlichen Doktrin, die die Notwendigkeit einer kohärenten und kontinuierlichen Identität suggeriert, zu befreien, die eigene Vielstimmigkeit zu bejahen und ein postmodernes Identitätskonzept zu entwickeln, das seiner Heterogenität und Hybridität11 sowie dem performativen Charakter von Identität Rechnung trägt. In einer weiteren Schlüsselszene des Textes fragt sich Shahid: „How could anyone confine themselves to one system or creed? Why should they feel they had to?“ und beschließt: „There was no fixed self; surely our several selves melted and mutated daily? There had to be innumerable ways of being in the world. He would spread himself out, […] following his curiosity.“ (BA: 274) An die Stelle des Wunsches nach Zugehörigkeit tritt so die Begrüßung von Offenheit und Ungewissheit (vgl. ebd.: 227: „[N]ow he would embrace uncertainty“), an die der Suche nach einem ‚wahren‘, ‚natürlichen‘ Selbst das Lob der wandelbaren, multiplen Identität und an die seines inneren Konflikts angesichts der scheinbaren Unvereinbarkeit unterschiedlicher Positionen die Erkenntnis, dass ein solcher im Grunde gar nicht existiert. Damit eifert Shahid seinem Idol Prince nach,12 der folgendermaßen beschrieben wird: „He’s half black and half white, half man, half woman, half size, feminine but macho too. His work contains and extends the history of black American music […]. He can play soul and funk and rock and rap[.]“ (Ebd.: 25) Prince fungiert hier als Inbegriff einer postmodernen Verflüssigung von Identität (vgl. seine zahlreichen Veränderungen im Laufe der Jahre sowie seinen späteren Namenswechsel bzw. die Aufgabe eines Namens überhaupt), von (ethnischer, geschlechtsidentitärer, sexueller und musikalischer) Hybridität sowie von subversiver Devianz und Transgression und kann daher als zentrale Symbolfigur des Romans, dessen Titel zudem auf eines seiner Alben verweist, gelten. Das Wort, das Shahid beim Anschauen der Prince-Videos nicht aus dem Kopf geht, beschreibt in angemessener Weise sowohl den Musiker als auch ihn selbst: „ ‚seamless‘ “ (ebd.: 48). Die ‚Nähte‘ bzw. Grenzen des geschlossenen und ganzheitlichen ‚Ichs‘ lösen sich auf mit dem fließenden Übergang des Individuums von Ich zu Ich, von einer konstruierten Identität zur nächsten. Damit nähert sich Shahid einer Seinsweise an, die (im Anschluss an Lacan) ursprünglich von Gilles Deleuze und Félix Guattari und später von
11 Hybridität muss hier natürlich im Sinne Homi Bhabhas verstanden werden, befreit von biologistischen Assoziationen sowie von Vorstellungen ursprünglicher ‚Reinheit‘ etc. (vgl. Bhabha 2006). 12 Shahids cross-dressing kann ebenfalls als Parallele zu Prince gelten. Vgl. BA: 50: „Prince clearly enjoyed wearing women’s underwear[.]“
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Wolfgang Welsch und – von einem kritischeren Standpunkt aus – Fredric Jameson als Schizophrenie bezeichnet wurde. Über die von ihnen entfaltete ‚Schizo-Analyse‘ schreiben Deleuze und Guattari, dass sie „neben ihren positiven Aufgaben die destruktive einer fortwährenden Auflösung des sogenannten normalen Ich“ auf sich nehmen müsse, denn, so die beiden Philosophen weiter, „jeder ist eine Kleinstgruppe und muß so leben“ (Deleuze/ Guattari 1977: 470). Ganz ähnlich kommt Wolfgang Welsch zu dem Schluss, „daß Gesundsein heute eigentlich nur noch in der Form der Schizophrenie – wenn nicht gar der Polyphrenie – möglich“ sei, was bedeutet, „daß die Identitätspluralisierung, die manche Kranke verkörpern, zunehmend zur Matrix heutiger Individuen“ (Welsch 1990: 171, 199) werde. In einer Passage, die hervorragend die Identitätsthematik in The Black Album auf den Punkt bringt, schreibt Welsch: „Identität ist immer weniger monolithisch, sondern nur noch plural möglich. Leben unter heutigen Bedingungen ist Leben im Plural, will sagen: Leben im Übergang zwischen unterschiedlichen Lebensformen.“ (Ebd.: 171) Kureishis Shahid mit seinem permanenten Wandel zwischen verschiedensten Identitäten und seinem Leitgedanken der ‚unzähligen Weisen des In-Der-Welt-Seins‘ (vgl. BA: 274) verkörpert wie kaum ein anderer eine solche postmoderne Identitätskonzeption. Denn was repräsentieren seine several selves, die täglich ‚(ver-)schmelzen und mutieren‘ (vgl. ebd.), anderes als „die reine, verstreute und anarchische Vielheit ohne Einheit noch Totalität, deren Elemente nur durch die wirkliche Distinktion oder das Fehlen eines Bandes zusammengeschmiedet, aneinandergeklebt sind“ (Deleuze/Guattari 1977: 418), von der Deleuze und Guattari träumen? Diese Aufsplitterung in viele Identitäten „hat nichts mit Mangel zu tun, sie konstituiert ihren Modus der Präsenz innerhalb der Vielheit, die sie ohne Vereinheitlichung und Totalisierung herstellen“ (ebd.: 419). Als schizo- bzw. polyphrenes Subjekt widersetzt sich Shahid erfolgreich der diskursiven Forderung einer kohärenten und kontinuierlichen Identität und trotzt einer gesellschaftlichen Macht, die, wie Foucault schreibt, „das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt“ (Foucault 1987: 246) und Devianz nicht gestattet.
F REIGESTELLT Die hier durchgeführte Analyse hat gezeigt, dass in Hanif Kureishis Poproman The Black Album, gelesen als ein postmodernes re-writing des Bildungsroman-Genres, in dem immer wieder Identitätsgrenzen überschritten werden, das gesellschaftlich legitimierte Ideal einer festen, einheitlichen und dauerhaften Identität als ein die Entfaltung des Individuums begrenzender Zwang zurückgewiesen und durch das Konzept einer polyphrenen Vervielfältigung der Identitäten ersetzt wird, die das freie Ausleben der inneren Heterogenität gestattet. Insgesamt liegt dem postmodernen Identitätsprojekt also ein fundamental emanzipatorischer und freiheitlicher Impetus zu Grun-
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de.13 Besonders in den Diskursen der Popkultur erscheint das veränderte Identitätsverständnis zumeist als Chance, gesellschaftliche Zwänge und Normierungen zu überwinden, einengende Grenzen zu überschreiten und neue Perspektiven und Möglichkeiten des Seins zu entwickeln. Der Mensch wird, in den Worten Markus Heufts, ‚freigestellt‘ (vgl. Heuft 2006: 146).
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13 Dabei bleibt freilich anzumerken, dass die diesem Projekt innewohnende Dynamik des permanenten Identitätswandels gerade im Kontext der Popkultur gleichzeitig häufig eng an die kapitalistische Warenlogik gekoppelt ist, was mitunter zu einer ambivalenten Stellung im Spannungsfeld zwischen Emanzipation und Affirmation führen kann.
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Der Cyborg als Archetyp des Posthumanen – Terminator I-IV A LEXANDER K LUGER
E INLEITUNG John Connor: Who are you? Marcus Wright: I don’t know. (Terminator Salvation)
Mit der äußerst heterogenen Strömung des Posthumanismus hat die alte Frage „Was ist der Mensch?“ (Kant) eine neue Dimension erreicht. Stefan Herbrechter unterscheidet in seiner gelungenen Einführung zu diesem Themenkomplex zwei wesentliche, recht gegensätzliche Tendenzen, die mit diesem Label versehen werden (vgl. Herbrechter 2009: 11ff., 25): Auf der einen Seite steht ein „affirmativer“ szientistisch-euphorischer Posthumanismus, der in modernen Technologien Möglichkeiten zu einer radikalen Überschreitung der Grenzen des Menschen sieht – sei es in Form der Genmanipulation, der kybernetischen Augmentation oder gar der Vision einer völligen Entkörperung des Menschen im Cyberspace. Dem gegenüber stellt Herbrechter den so genannten „kritischen Posthumanismus“, der zwar ebenfalls die modernen Technologien für seine Zwecke heranzieht, jedoch mit einem ganz anderen Ziel: Ihm geht es in erster Linie um eine fortwährende Dekonstruktion des in der humanistischen Tradition postulierten Menschenbildes. Das Dilemma des Humanismus bringt Peter Sloterdijk in seinen Regeln für den Menschenpark gut auf den Punkt: „Zum Credo des Humanismus gehört die Überzeugung, daß Menschen ‚Tiere unter Einfluß‘ sind und daß es deswegen unerläßlich sei, ihnen die richtige Art von Beeinflussung zukommen zu lassen. Das Etikett Humanismus erinnert – in falscher Harmlosigkeit – an die fortwährende Schlacht um den Menschen, die sich als Ringen zwischen bestialisierenden und zähmenden Tendenzen vollzieht.“ (Sloterdijk 1999: 17)
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Kurz gesagt: Der Humanismus geht davon aus, dass der Mensch Erziehung braucht, um nicht in die Bestialität zurückzufallen. Zu diesem Zweck grenzt er den Menschen vom Tier und von der Maschine ab, er unterscheidet zwischen normal und abnormal, zwischen gesund und krank. Damit ist aber von vornherein gesagt, dass der Mensch etwas in sich trägt, das ihn möglicherweise auch in diese negativen Zustände zurückfallen, ihn zum Tier, zum Monster oder zum Irren werden lässt. Paradoxerweise nimmt der Humanismus also an, dass im Menschen etwas Unmenschliches steckt, und er bemüht sich, es durch Grenzziehung von ihm abzusondern. Diese dem Humanismus innewohnende Spannung hat schließlich über die Jahrhunderte zu einer zunehmenden Infragestellung dieses zu Grunde gelegten Menschenbildes geführt, die gerne mit Sigmund Freuds „drei Kränkungen der Menschheit“ skizziert wird: Kopernikus rückt die Erde und damit den Menschen aus dem Zentrum des Universums, Darwin reißt mit seiner Evolutionstheorie die Grenze zwischen Mensch und Tier ein, Freud postuliert schließlich mit seiner Psychoanalyse, dass der Mensch vom Unbewussten beeinflusst und damit „nicht einmal Herr im eigenen Hause“ (Freud 1924: 295) ist. Eine weitere Welle der Humanismuskritik erfolgte im Poststrukturalismus. Man denke etwa an die Arbeiten Foucaults, die gezeigt haben, dass hinter der so harmlos scheinenden ‚Erziehung‘ des Humanismus ein enormer machtpolitischer Diskurs steht, der in der Vergangenheit nicht selten in Unterdrückung und Gewalt umgeschlagen ist, wo sich das ‚Inhumane‘ nicht mehr durch bloße Belehrung eindämmen ließ. Ein „kritischer Posthumanismus“ im Sinne Herbrechters versucht, diese Dekonstruktion des klassisch-humanistischen Menschenbildes weiterzutreiben, indem er die Grenzen des Menschen permanent hinterfragt, um sie so immer wieder zu aktualisieren und neu zu stecken. Das Konzept des Cyborg spielt in affirmativen wie in kritischen Posthumanismusansätzen eine zentrale Rolle. Der Begriff, eine Kurzform für cybernetic organism, wurde 1960 von Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline zunächst im Kontext der Raumfahrt eingeführt (vgl. Clynes/Kline 1995: 31). In ihrem Aufsatz „Cyborgs and Space“ argumentierten sie, dass es für die Erforschung des Alls weitaus sinnvoller sein könnte, den menschlichen Körper durch technische Modifikation an die Bedingungen im Weltraum anzupassen, als in einer Raumkapsel erdähnliche Bedingungen für ihn zu simulieren.1 Entsprechend definieren sie den Cyborg: „The Cyborg deliberately incorporates exogenous components extending the self-regulatory control function of the organism in order to adapt it to new environments.“
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„If man attempts partial adaption to space conditions, instead of insisting on carrying his whole environment along with him, a number of new possibilities appear. One is then led to think about the incorporation of integral exogenous devices to bring about the biological changes which might be necessary in man’s homeostatic mechanisms to allow him to live in space qua natura.“ (Clynes/ Kline 1995: 30)
D ER C YBORG
ALS
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(Ebd.) Das Konzept des Cyborg rückte danach zunächst in den Mittelpunkt militärischer Überlegungen und erhielt schließlich, besonders in den 80er und 90er Jahren, zunehmend Beachtung in der Kulturwissenschaft und der Popkultur. Mit der Zeit haben sich verschiedene, äußerst heterogene Definitionen des Begriffs entwickelt, wie sie etwa Gray, Mentor und FigueroaSarriera in ihrer Einleitung zum Cyborg Handbook umreißen: „Clearly, cyborgology is not simple. For one thing there is no consensus on what a cyborg is. […] The range of human-machine couplings almost defies definition: even existing human cyborgs range from the quadriplegic patient totally dependent on a vast array of high-tech equipment to a small child with one immunization. The patient on a kidney machine twice a week and the combat pilot attached to his warcraft with sensors and complex interfaces for flights are both intermittent cyborgs and yet between them is a tremendous difference. The patient uses cyborg technologies to maintain his or her human body; the pilot cyborg is an enhanced human, a man-plus. Other such distinctions become readily apparent and there is an incredible array of ways of categorizing cyborgs, and renaming them.“ (Gray/Mentor/Figueroa-Sarriera 1995: 3f.)
Die Schwierigkeit der Definition zeigt bereits den schillernden Charakter des Cyborg: Als Grenzgänger zwischen Mensch und Maschine, zwischen Belebtem und Unbelebtem, ist er nur schwer zu fassen und scheint sich jeglicher Festlegung sogleich wieder zu entziehen. In ihrem Cyborg Manifesto, einem der berühmtesten und einflussreichsten Texte der kulturwissenschaftlichen Cyborg-Theorie, hat Donna Haraway diese Ambiguität aufgegriffen. Für Haraway ist der Cyborg dabei in erster Linie nicht als technisch machbare Realität, sondern als Metapher interessant: Auf augenfällige Weise macht er nicht nur die Willkürlichkeit von Unterscheidungen wie der zwischen Mensch und Tier oder Mensch und Maschine deutlich (vgl. Haraway 1985: 68f.), sondern lässt zudem an Konzepten wie „Geschlecht“ und „Familie“ zweifeln, da der Cyborg sich auch als ein im Labor geschaffenes und potentiell geschlechtsloses oder geschlechtswandelndes Wesen vorstellen lässt (vgl. ebd.: 67f., 99). Der Cyborg – so könnte man sagen – ist somit eine posthumanistische Figur par excellence, ein Archetyp des Posthumanen. Affirmativen Posthumanismustheorien dient er als Paradebeispiel einer Überschreitung der biologischen Grenzen des Menschen durch technische ‚Verbesserung‘. Dem kritischen Posthumanismus hingegen wird er zur Figur der Grenzverwischung, deren reine Denkbarkeit bereits die althergebrachten Kategorien „Mensch“, „Tier“ und „Maschine“ in Frage stellt. Im Folgenden soll jene Filmreihe betrachtet werden, die entscheidend zur Popularisierung der Figur des Cyborg beigetragen hat: die TerminatorSaga. Dabei wird sich zeigen, wie in diesen Filmen das kritische, grenzverwirrende Potential des Cyborg immer wieder aufgegriffen wird, um schließlich durch verschiedene Konsolidierungstechniken doch wieder abgebaut und entschärft zu werden.
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S EMIOTIK DES M ASCHINENKÖRPERS – T HE T ERMINATOR Das erste Mensch-Maschine-Amalgam, das man in The Terminator, dem ersten Teil der Filmreihe, zu Gesicht bekommt, ist nicht der Terminator selbst – es ist der Müllwagenfahrer. Passiv sitzt er in seinem Vehikel; Bewegung geht allein von der Maschine aus, die er steuert. Selbst als diese ausfällt, entlockt ihm das zunächst nur ein müdes „What the hell“ (The Terminator: 00:04:06). Ganz anders der Terminator: Ironischerweise erscheint gerade er, die Maschine, nackt und setzt so einen Akzent der Natürlichkeit gegenüber dem auf seine Technik angewiesenen Müllfahrer. Die Nahaufnahme zeigt den Terminator schwitzend und macht so deutlich: Dieses Wesen besitzt alle äußerlichen Signifikanten der Menschlichkeit. Im Gegensatz zum Müllwagenfahrer, den sein Wagen im Stich lässt und der vor Angst flüchtet, erscheint der Cyborg2 unabhängig, athletisch und stark. Diese in der Eingangsszene eingeführte Dichotomie dominiert den gesamten Film: auf der einen Seite der autarke, unaufhaltsame Terminator, auf der anderen Seite die Menschen, die von ihrer eigenen Technologie, an die sie mittlerweile untrennbar gebunden sind, im Stich gelassen und verraten werden. The Terminator arbeitet mit einer doppelten Angst: Der Angst, die Kontrolle über die Maschinen zu verlieren, und der Angst, Mensch und Maschine nicht mehr unterscheiden zu können. Beide sind letztlich eng miteinander verwoben. Der Film zeichnet das Bild einer Welt, in der sich Maschinen immer mehr zwischen die Menschen drängen – ultimativ verkörpert in der Figur Ginger, die sogar beim Sex noch ihren Walkman trägt. Mit der Ankunft des Terminator scheint auch diese allgegenwärtige Technik auf einmal beunruhigend aktiv zu werden: „Walkmans, answering machines, and so on repeatedly subvert human communication and facilitate murder.“ (Larson 1997: 60) In seiner Jagd kann sich der Terminator so fast ausschließlich auf maschinelle Erfassungssysteme stützen. Das Telefonbuch, der Polizeifunk, der Anrufbeantworter sind seine Informationsquellen. Den direkten Kontakt zu Menschen scheint er gar nicht zu benötigen, da alles bereits anderweitig abrufbar ist. Diese Aktivität der Maschinen schlägt sich schließlich auch darin nieder, dass sie die Interaktionen der Menschen maßgeblich mitzugestalten scheinen. Nicht umsonst wird die Hauptfigur Sarah Connor mit einem Close-up auf ihre Stechkarte eingeführt (vgl. The Terminator: 00:11:47). Identität, so
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Der Terminator der ersten drei Teile ist genauer gesagt ein Android; nur Marcus Wright aus dem vierten Teil ist ein Cyborg im eigentlichen Sinne, ein Mensch, der durch technische Erweiterungen modifiziert wurde. Für die vorliegende Untersuchung, die den Cyborg vor allem unter dem Aspekt der Grenzverwischung betrachtet, kann der Begriff aber auch auf die Teile eins bis drei ausgeweitet werden.
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scheint es, bedarf zunächst der technischen Erfassung (vgl. Jancovich 1992: 8f.). Die Figuren in The Terminator sind beständig dem taxierenden Blick der Maschine ausgesetzt – und nehmen sich letztlich auch gegenseitig durch ein komplexes System medialer Vermittlung war. Augenfällig wird dies, als Kyle Reese, Sarahs Beschützer aus der Zukunft, auf der Polizeistation verhört wird (vgl. The Terminator: 00:50:49ff.). Die Beurteilung seiner Aussage erfolgt nicht im direkten Gespräch, sondern erst aus der zeitlichen Distanz, beim Betrachten des Videomitschnitts der Befragung. Noch zugespitzter wiederholt sich diese Situation in Terminator 2 bei Sarahs Therapiegespräch (vgl. Terminator 2: 00:21:51ff.). Zunächst muss sie sich selbst die Aufnahme einer früheren Sitzung ansehen, dann erfolgt ein Schwenk in einen durch Spiegelglas abgetrennten Nebenraum, in dem eine Kamera und mehrere Bildschirme deutlich machen, dass dieser Moment ebenfalls aufgezeichnet wird. Im Hintergrund sieht man, wie die Angestellten das Spektakel bei Kaffee und Pizza beobachten (Abb. 1). Beide Szenen führen nicht nur die Tatsache vor Augen, dass die Maschinen immer mehr zwischen den Menschen stehen – sie verweisen zugleich auf die Situation des Zuschauers, denn auch er sitzt vor seinem Bildschirm und betrachtet und beurteilt das Geschehen. Abbildung 1: Observationsszene
Quelle: Terminator 2: 00:24:55
Hinter der Angst vor einem Aufstand der Maschinen steht die Angst, der Mensch könne selbst im Umgang mit seiner Technik zunehmend zur Maschine werden und, deren Beurteilungs- und Reaktionsmustern folgend, den Mitmenschen auf das reduzieren, was an ihm erfassbar und kalkulierbar ist (vgl. Jancovich 1992: 6). Zum Zeitpunkt seines Erscheinens spielte The Terminator damit vor allem mit der allgegenwärtigen Furcht vor einer nuklearen Eskalation des Kalten Krieges. Skynet, das Computersystem, das im Film die atomare Katastrophe herbeiführt, ist auch eine Chiffre für die komplexen Reiz-Reaktions-Muster dieser Zeit, in der das kleinste Ereignis eine fatale Kettenreaktion auslösen konnte, wobei auch die in diesen Prozess eingebundenen Menschen mit der Folgerichtigkeit von Maschinen funktioniert hätten.
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Ein zentrales Thema des Films ist daher die Grenze des Menschen und damit verbunden die Frage, wie er sich von der Maschine unterscheidet. Diese Frage wird in The Terminator besonders auf der Ebene des Körpers verhandelt. Das Angstpotential des Terminators beruht vor allem auf der Tatsache, dass dieser äußerlich kaum als der zu erkennen ist, der er ist. Kyle Reese fasst Sarah gegenüber all jene Merkmale, die nicht zur Identifizierung des Cyborg ausreichen, zusammen: „[O]utside it’s living human tissue. Flesh, skin, hair, blood – grown for the cyborgs. […] They look human. Sweat, bad breath, everything. Very hard to spot. I had to wait till he moved on you before I could zero him.“ (The Terminator: 00:39:45ff.) Eine erste mögliche Grenzziehung offeriert Kyle kurz darauf, als Sarah ihm beim Versuch, zu fliehen, in die Hand beißt: „Cyborgs don’t feel pain. I do.“ (Ebd.: 00:40:56ff.) Der Schmerz, der als ‚Grenzwert‘ des Menschen schon in der Physiologie und Literatur um 1800 eine Rolle spielte (vgl. Bergengruen/Borgards/Lehmann 2001: 13), wird hier als Unterscheidungsmerkmal aufgeboten. Bei genauerer Betrachtung beginnt diese Differenzierung gleich am Anfang des Films, als die beiden Kontrahenten, Kyle und der Terminator, aus der Zukunft ankommen. Beide sind nackt und doch in sichtbar verschiedener Verfassung: Der Terminator erscheint unversehrt und mit dem hypermaskulin-übermenschlichen Körper eines vorherigen Mister Universum (Arnold Schwarzenegger; vgl. Larson 1997: 59). Bei seiner Ankunft ist er in der Hocke, eine Haltung, aus der er sogleich aufstehen und seinen Auftrag beginnen kann. Kyle hingegen wird regelrecht in die Gegenwart geworfen, er fällt zu Boden und krümmt sich schmerzverzerrt in embryonaler Haltung (vgl. ebd.). Als er aufsteht, zeigt die Kamera deutlich seinen mit Narben übersäten Rücken – die von ihm erlebten Leiden haben sich buchstäblich in seine Haut eingeschrieben. Immer wieder werden in The Terminator solche Signifikanten des Schmerzes in den Fokus gerückt, etwa wenn beim Polizeiverhör ein Close-up den Barcode zeigt, der Kyle im Gefangenenlager der Maschinen eingebrannt wurde (vgl. The Terminator: 00:50:46). Als deutlicher Kontrapunkt zu dieser Semiotik des Schmerzes ist die Szene konzipiert, in der der Terminator sich selbst repariert (vgl. ebd.: 00:49:50). Die drastischen Bilder sind geschickt gewählt, da sie beim Zuschauer genau das evozieren, was dem Cyborg ganz offensichtlich fehlt: Während jener mit großer Wahrscheinlichkeit mitleidet, wenn das Skalpell in den Unterarm oder das Auge eindringt, bleibt der Terminator ganz ungerührt. Es handelt sich daher im doppelten Sinne um eine Enthüllungsszene: Zum einen wird in der Operation die menschenähnliche Maske des Cyborg gelüftet und sein Maschinenskelett kommt zum Vorschein. Erstmals wird dem Zuschauer sichtbar, womit er es eigentlich zu tun hat. Zum anderen wird deutlich vorgeführt, dass der Terminator das von Kyle genannte Merkmal der Schmerzempfindlichkeit nicht besitzt. Eine eindeutige Unterscheidung von Mensch und Maschine scheint wieder möglich. Diese Grenzziehung wird jedoch sogleich wieder unterwandert. Durch Sonnenbrille und Bandage kann der Terminator den Schaden maskieren.
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Auch wenn der Zuschauer nun einen Blick hinter die Kulisse geworfen hat, bleibt doch kein Zweifel, dass die Figuren des Films es weiter schwer haben werden, den Cyborg als das zu erkennen, was er ist. Kurz darauf wird auch die scheinbar eindeutige Grenze des Schmerzes wieder fragwürdig. Als Sarah Kyles vernarbten Rücken betrachtet und nachdenklich „So much pain“ seufzt, entgegnet dieser: „Pain can be controlled. You just disconnect it.“ (Ebd.: 01:16:56ff.) Den Schmerz einfach abschalten zu können ist aber gerade eine Eigenschaft der Maschine. Dabei wird ein Motiv eingeführt, das auch in den Folgeteilen der Terminator-Reihe eine Rolle spielt: der Soldat als Analogon zur Maschine. Wie sie soll er emotions- und schmerzfrei sein, Kosten-Nutzen-effizient denken und Befehle ausführen, ohne sie zu hinterfragen. Sarahs unmittelbar darauf folgende Frage „So you feel nothing?“ (ebd: 01:17:04) lässt sich daher auch im Sinne dieser erneuten Grenzverwirrung verstehen. Kyles anschließendes Liebesgeständnis und den sich daraus ergebenden One-Night-Stand deutet Mark Jancovich dahingehend, dass nun, nachdem der Schmerz als Kriterium ausgeschieden ist, das Begehren und die Interaktion als Unterscheidungsmerkmale angeboten würden (vgl. Jancovich 1992: 10). Ergänzend muss man hinzufügen, dass in diesem Zusammenhang besonders die Körperlichkeit eine wichtige Rolle spielt. Von Beginn an werden sowohl Sarah als auch Kyle als Figuren präsentiert, die möglichst wenig auf Technik zurückgreifen – zumindest möglichst wenig auf solche, die die menschliche Interaktion beeinträchtigt.3 Ab dem Zeitpunkt ihrer Begegnung ist ihr Beisammensein von einer enorm physischen Intensität (Festhalten, Beißen, Umarmen etc.) geprägt, die in Kontrast zur weitgehend physischen Isolation der übrigen Filmfiguren steht. All dies gipfelt schließlich in jenem bereits erwähnten erotischen Akt, der nicht nur einen Gegenakzent zu dem vom Walkman gestörten Sex Gingers setzt, sondern auch eine deutliche Anspielung auf die Empfängnis der Jungfrau Maria enthält (vgl. Goscilo 1987: 48). Diese religiöse Aufladung unterstützt den Eindruck, dass hier für einen Moment ein Gegenentwurf zu der mittlerweile von Maschinen dominierten Umwelt des Films geboten wird. Einen Augenblick lang scheint die Grenze zwischen Mensch und Maschine eindeutig fixiert und im Begehren und in einer von Technik ungestörten, spezifisch körperlichen Interaktion verortet. Der abschließende Showdown stellt jedoch auch diese vermeintliche Konsolidierung wieder in Frage. Zunächst erfolgt ein regelrechter Exorzismus4, in dem das Furchtpotential des Cyborg schrittweise abgebaut wird. Das Verbrennen im Feuerball des Tanklasters reduziert den Terminator zunächst auf sein Chromskelett. Er ist nun als Maschine und als Feind eindeu-
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Die Telefonate, die Sarah führt, stehen zudem unter keinem guten Stern – entweder erreicht sie niemanden oder sie verrät dem Terminator ihren Aufenthaltsort. Herbrechter verwendet diesen Begriff in Bezug auf das Ende von Terminator 2 (vgl. Herbrechter 2009: 108).
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tig identifizierbar. Wie ein Stück Altmetall wird er dann zunächst in seine Teile zerlegt und schließlich von Sarah mit einer hydraulischen Presse zerquetscht. Einher geht das Ganze mit einer Wiederermächtigung der Menschen. Das erste Mal im Film werden Maschinen zu ihren Verbündeten: Die Roboterhalle, in der der Showdown stattfindet, dient ihnen als Deckung, da die vielen sich bewegenden Apparate die Sicht des Terminators behindern. Sarah besiegt ihn schließlich ebenfalls mithilfe einer Maschine (der bereits erwähnten Presse). Am Ende steht damit ein symbolischer Rückgewinn der Kontrolle über die eigene Technik. Und doch ist damit eine entscheidende Akzentverschiebung verbunden: Sarah, die noch zuvor mit ihrer Natürlichkeit einen deutlichen Kontrapunkt zu der sie umgebenden, von Technik dominierten Welt gesetzt hatte, tritt nun ihre Rolle als Mutter des zukünftigen Anführers des Aufstandes gegen die Maschinen an. Deutlich nähert sie sich dem militärischen Verhalten Kyles an und ist so dabei, genau das aufzugeben, was sie zuvor von den Maschinen unterschied. Wie sich im Folgenden zeigen soll, wird genau damit der Weg für eine Verschiebung der Frage nach dem Unterschied zwischen Mensch und Maschine von der Ebene des Körpers auf eine ethisch-moralische Ebene bereitet, die dann in den folgenden Terminator-Filmen eine Rolle spielt.
D IE B ÄNDIGUNG J UDGMENT D AY
DES
C YBORG – T ERMINATOR 2:
Die Grundstruktur von Terminator 2 ist ähnlich wie im ersten Teil: Wieder sind es zwei Kontrahenten aus der Zukunft, von denen einer den mittlerweile jugendlichen John Connor töten, der andere ihn beschützen will. Bekanntermaßen gibt es aber einen entscheidenden Unterschied: Der Held ist diesmal ebenfalls ein Terminator, nämlich der Widersacher aus Teil 1, erneut gespielt von Arnold Schwarzenegger. Sein Gegenspieler, der T-1000, verkörpert die Angst vor der Grenzverwischung auf einer neuen Stufe: Aus flüssigem Blei bestehend kann er sich in alles verwandeln – einen Polizisten, einen Fußboden, die eigene Mutter. So unrealistisch diese Figur rein technisch gesehen auch ist, sie ist doch eine hervorragende Personifikation der menschlichen Urangst vor dem Amorphen.5 Durch die Einführung des T-1000 spaltet Terminator 2 das Grenzverwirrende, Nicht-Einzuordnende vom Cyborg ab und verkörpert es in einer separaten Figur. Dem Cyborg wird hingegen von Anfang an eine konstante Identität zugestanden. Bereits die Tatsache, dass er erneut von Arnold Schwarz-
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Man denke etwa an Mircea Eliade, der in Das Heilige und das Profane eindrücklich gezeigt hat, wie in archaischen Schöpfungsmythen am Anfang meist das Chaos steht, repräsentiert durch das Flüssige, das Wasser, das keine feste Grenze hat. Dieses muss dann gebändigt und in eine Ordnung überführt werden.
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enegger gespielt wird, verleiht ihm eine gewisse Kontinuität. Mit verschiedenen Anspielungen werden ferner Parallelen zwischen ihm und Kyle Reese aus dem ersten Teil gezogen, etwa wenn der Terminator6 im Sanatorium Sarah mit dem Satz „Come with me if you want to live“ (Terminator 2: 00:59:27) die Hand reicht, eben jener Formel, die auch Kyle bei ihrer ersten Begegnung verwendete (vgl. The Terminator: 00:35:12). In einer späteren Szene belegt Sarah den Terminator vor allem mit dem Attribut der Verlässlichkeit: „Watching John with the machine it was suddenly so clear. The Terminator would never stop. It would never leave him. And it would never hurt him, never shout at him or get drunk and hit him or say it was too busy to spend time with him. It would always be there, and it would die to protect him. Of all the would-be fathers that came and went over the years this thing, this machine was the only one that measured up. In an insane world it was the sanest choice.“ (Terminator 2: 01:25:15ff.)
Dem Terminator wird auf diese Weise eine klare Kontur gegeben, die ihn deutlich von dem formwandelnden T-1000 absetzt. Mit dieser Konsolidierung geht eine schrittweise Humanisierung des Cyborg einher. John Connor lehrt ihn, nicht zu töten, zu lächeln und ‚menschlicher‘ zu reden. Der Terminator wird ihm aber auch zum Gesprächspartner, der sich geduldig die Geschichten aus seiner komplizierten Kindheit anhört. Selbst das scheinbare Differenzkriterium des ersten Teils, der Schmerz, trifft nun auch auf den Cyborg zu: „I sense injuries. The data could be called pain.“ (Ebd.: 01:06:40) Sein grenzverwischendes Potential scheint damit gebannt, er wird der menschlichen Ordnung einverleibt, was am Ende auch symbolisch durch den Handschlag zwischen ihm und Sarah zum Ausdruck kommt (Abb. 2). Terminator 2 führt auf diese Weise das am Ende des ersten Teils begonnene Narrativ von der Wiedererlangung der Kontrolle über die Maschinen fort. Dass es ein Kind ist, das diese Entwicklung vorantreibt, ist dabei kein Zufall. Wie Bruce Benett betont, wird in vielen Science-Fiction-Filmen die Figur des Kindes mit Vorurteilslosigkeit und Technikaffinität assoziiert (vgl. Benett 2008: 170). Der junge John Connor repräsentiert eine neue Generation, die sich auf den technischen Fortschritt einlässt und ihn dadurch für ihre Zwecke zu nutzen weiß. Durch seine Initiative wird der Cyborg wieder in die Dienste des Menschen gestellt und kann gegen die amorphe Bedrohung, den T-1000, aufgeboten werden.
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Im Folgenden wird der ‚gute‘ Terminator des zweiten Teils („T-800“ oder „Cyberdyne Systems Model 101“) mit Terminator oder Cyborg bezeichnet, sein Widersacher stets mit T-1000.
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Abbildung 2: Handschlag zwischen Sarah und dem Terminator
Quelle: Terminator 2: 02:20:39
Auch wenn an dieser Stelle keine Zeit für eine durchgehende Analyse der vielfältigen gender-Aspekte in den Terminator-Filmen ist, soll doch ein kurzer Blick auf die Figur der Sarah Connor geworfen werden. In Terminator 2 ist ihre Wandlung, die sich bereits am Ende von The Terminator andeutete, komplett. Aus der unbedarften jungen Frau ist eine zähe Kämpferin, um nicht zu sagen eine Kampfmaschine geworden: „In a way, she has technologized herself into the best human cyborg possible in order to cope with the menace posed by future’s real cyborg.“ (Telotte 1992: 31) Mit ihrem schlanken, muskulösen Körper, ihrem militärischen Auftreten und ihrem gnadenlos strategischen Denken entspricht sie nun dem Typus des Soldaten, der in The Terminator von der Maschine kaum noch zu unterscheiden war. Kontrovers diskutiert wurde in der Forschung besonders, ob diese Wandlung im Sinne einer Emanzipation von traditionellen Geschlechterrollen zu werten sei (vgl. Brown 1996: 52f.). Tatsächlich besitzt Sarah in Terminator 2 die zentralen Signifikanten männlicher Actionhelden der 80er und 90er Jahre: gestählter Körper, Muskelshirt, Zigarette und Gewehr (Abb. 3; vgl. Brown 1996: 57). Doch ist sie damit schon eine jener von Haraway prophezeiten Frauen, die, dem Vorbild des Cyborg folgend, die etablierten Geschlechterrollen in Frage stellen, wie etwa Jeffrey Brown behauptet: „Her performance, her narrative function, her very body emphasize the artificiality of gender roles“ (ebd.: 56)?
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Abbildung 3: Die gestählte Sarah Connor
Quelle: Terminator 2: 01:03:54
Zwar lässt sich die Figur der Sarah Connor in eine Reihe mit anderen Action-Heldinnen dieser Zeit stellen, die die Rolle und auch das Aussehen ihrer männlichen Gegenstücke übernehmen – hier wäre vor allem Ellen Ripley (gespielt von Sigourney Weaver) aus den Alien-Filmen zu nennen (vgl. ebd.: 57). Dennoch ist zu beachten, dass in Terminator 2 das Verhalten Sarah Connors deutlich stigmatisiert wird. Letztlich muss sie wie der Terminator durch ihren Sohn vom Töten abgehalten und ‚humanisiert‘ werden. Gemeinsam mit dem die Grenze zwischen Mensch und Maschine bedrohenden Cyborg wird damit im Verlauf des Films auch die Geschlechtergrenzen überschreitende Figur der Sarah Connor wieder in die alte (männlich dominierte) Ordnung überführt. Mit der Humanisierung des Terminator spielt auch der Körper für die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Frage nach der Unterscheidung verschiebt sich vielmehr auf eine ethisch-moralische Ebene. Im Kontrast zum Cyborg, der John Connors Anweisungen konsequent befolgt, sind es bald die Menschen, die ihrer eigenen Definition von Humanität nicht mehr genügen. An einer Raststätte sieht John zwei Kinder, die mit täuschend echten Spielzeugpistolen aufeinander schießen – eine Szene, die vor Augen führt, dass die Menschen selbst in ihrem scheinbar unschuldigsten Stadium das Gebot „Du sollst nicht Töten“, das der Terminator seit seiner ‚Erziehung‘ rigoros beachtet, nicht einhalten können. Damit findet im zweiten Teil der Terminator-Saga ein entscheidender Wandel der Cyborg-Figur statt. War er im ersten Teil noch der furchterregende Andere, der Grenzen und Kategorien in Frage stellte, so ist er nun, im zweiten Teil, das genaue Gegenteil: Wie bereits erwähnt, erscheint er als der Berechenbare, während der Mensch selbst derjenige ist, der ständig aus seinen eigenen Kategorien fällt. Im Spiegel der Maschine erkennen John und Sarah die ‚Unmenschlichkeit‘ ihrer eigenen Gattung. Implizit verweist dies auch auf den Grund des eingangs beschriebenen HumanismusDilemmas: Sein Ideal ist das des rationalen Menschen, der, einmal richtig erzogen, sich fortwährend an das Erlernte hält, da er es als das ‚Richtige‘ erkannt hat. Konsequent rational in diesem Sinne ist aber eigentlich nur die Maschine. Solange er die eigene Irrationalität aus seinem Selbstbild ver-
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drängt, muss der Mensch permanent seine selbst gesteckten Grenzen überschreiten und so zum Unmensch werden. Ähnlich dem ersten Teil endet auch Terminator 2 mit einer Art Exorzismus (vgl. Herbrechter 2009: 108): Der T-1000 wird zunächst in Flüssigstickstoff eingefroren, wodurch er zum ersten Mal verwundbar wird. Er kann sich zwar wieder neu manifestieren, behält aber den Defekt, dass nun unwillkürlich Teile seines Körpers Form und Farbe seiner Umgebung annehmen (vgl. Terminator 2: 02:07:15). Ihm haftet nun also ein Zeichen an, das ihn identifizierbar macht. Schließlich gelingt es den Protagonisten, den T-1000 mit vereinten Kräften in einen Schmelztiegel zu stoßen (Abb. 4). In seiner Vernichtung durchlebt der T-1000 erneut alle Manifestationen, die er während des Films angenommen hat, als sollten sie noch einmal einzeln stillgestellt und ausgetrieben werden. Dann zerfließt er in der abschließenden Maske eines menschlichen Gesichts. Die Gefahr des Amorphen scheint endgültig gebannt. Abbildung 4: Der Untergang des T-1000
Quelle: Terminator 2: 02:17:30
Im Kontrast dazu steht die finale Szene, in der der Terminator sich selbst opfert, um die Zukunft der Menschen zu retten. Er nimmt John Connor väterlich in den Arm, verabschiedet sich und lässt sich mit erhobenem Daumen in den Schmelztiegel senken. Sein würdevolles Ende steht im krassen Gegensatz zu dem animalischen Schreien des untergehenden T-1000 und unterstreicht so abschließend nochmals die ihm zugeschriebene Humanität. Festzuhalten ist jedoch, dass diese Integration des Cyborg in die menschliche Gesellschaft hier nur durch die radikale Abspaltung und Verneinung seines grenzverwischenden Potentials ermöglicht wird. In Terminator 2 hat der Cyborg damit eine eigentümliche Wandlung durchgemacht, durch die er nun gewissermaßen gegen sein eigenes subversives Potential aufgeboten werden kann. Geht man einen Schritt weiter, so kann man mit Doran Larson und Tom Cohen diese Wendung als einen Versuch deuten, die geballte Macht des Hollywood-Kinos gegen die grenzauflösenden Tendenzen der Postmoderne (vgl. Larson 1997: 62) und des Poststrukturalismus (vgl. Cohen 1994: 261) aufzubieten.
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„J UDGMENT D AY IS INEVITABLE “ – T ERMINATOR 3: R ISE OF THE M ACHINES Terminator 3: Rise of the Machines soll nur kurz angeschnitten werden, da dieser Film für die hier vorgenommene Betrachtung nicht viel Neues zu bieten hat. Im Wesentlichen wird die Struktur des zweiten Teils wiederholt, jedoch ohne die Problematisierungstendenzen der Vorgänger weiter zu vertiefen. Eine Erwähnung verdient jedoch David Martin-Jones’ Besprechung dieses Sequels in seinem Buch Deleuze, Cinema and National Identity (2006). In vielen Filmen nach den Ereignissen des 11. September 2001 beobachtet er ein wiederkehrendes Muster: Auf eine dezidiert als unausweichlich dargestellte Katastrophe folge eine anschließende Ermannung der Helden, die Martin-Jones als eine symbolisch inszenierte „rebirth of American national identity“ (Martin-Jones 2006: 158) nach 9/11 deutet. Besonders bei Terminator 3 sei dies auffällig: Der erste und besonders der zweite Teil verkündeten stets, dass die Zukunft nicht feststehe – Rise of the Machines werde indes nicht müde, die Unabwendbarkeit der Geschehnisse zu betonen (vgl. ebd.). Als geradezu programmatisch liest Martin-Jones daher die Belehrung des Terminators: „Judgment Day is inevitable.“ (Terminator 3: 00:38:40) Überzeugend bringt Martin-Jones diese Wende mit den jeweiligen politischen Kontexten der Terminator-Filme in Verbindung. Während die ersten beiden Teile in der Zeit des Kalten Krieges entstehen und entsprechend vor einem möglicherweise bevorstehenden Atomkrieg warnen (The Terminator) bzw. von dessen Verhinderung handeln (Terminator 2), erscheint der dritte Teil nach einem traumatischen Anschlag, auf den die amerikanische Nation nicht vorbereitet war. Aus dieser Perspektive lässt sich Rise of the Machines als ein bereits ans Propagandistische grenzendes Verarbeitungsnarrativ lesen, das die Unausweichlichkeit der Ereignisse betont und zu ihrer Bewältigung die Ideale der Reagan-Ära beschwört (vgl. Martin-Jones 2006: 159f.). Die Figur des John Connor in Terminator 3 erscheint dann als eine Allegorie der Generation des Kalten Krieges, deren Weltanschauung unter der Clinton-Administration zunehmend problematisch geworden war und die nun durch den Terminator als Relikt ihrer verlorenen, glorreichen Zeit wieder ermannt werden muss (vgl. ebd.). Interessant und daher erwähnenswert ist im hier diskutierten Zusammenhang vor allem, dass sich dabei zeigt, wie sehr sich die Figur des Terminator über die Jahre gewandelt hat: Aus dem Horrormonster des ersten Teils ist ein fester Bestandteil amerikanischer Kultur und Identität geworden. Der Cyborg scheint sein Irritationspotential endgültig verloren zu haben. Im vierten Teil wird sich dies jedoch noch einmal ändern.
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D ER C YBORG ALS HOMO SACER – T ERMINATOR S ALVATION Der bislang letzte Teil der Terminator-Saga wartet mit einer neuen Form von Cyborg auf. Er ist nicht mehr der klassische Terminator, die in die Vergangenheit zurückgeschickte Maschine. Stattdessen war er einst ein Mensch, Marcus Wright, der als zum Tode Verurteilter seinen Körper der Wissenschaft vermachte. Diese Genese sowie das weitere Schicksal des Cyborg Marcus lassen sich sehr gut mit Giorgio Agambens Konzept des homo sacer lesen. Im Kapitel „VP“ des ersten Homo Sacer-Bandes geht Agamben explizit auf die auch in US-Gefängnissen des 20. Jahrhunderts belegte Praxis ein, zum Tode verurteilten Häftlingen Straferlass in Aussicht zu stellen, wenn sie sich für riskante medizinische Experimente hergaben. Agamben geht es dabei vor allem um den biopolitischen Horizont dieser Vorgehensweise: „Genau darum, weil sie aller Rechte und aller Erwartungen, die wir gewöhnlich mit der menschlichen Existenz verbinden, beraubt und dennoch biologisch noch am Leben sind, halten sie sich in einer Grenzzone zwischen Leben und Tod, zwischen Innen und Außen auf, wo sie nichts weiter mehr waren als nacktes Leben. Mithin werden die zum Tod Verurteilten und die Lagerbewohner in gewisser Weise unbewußt den homini sacri angenähert, einem Leben, das getötet werden kann, ohne daß ein Mord begangen wird. Der Zeitraum zwischen dem Todesurteil und der Vollstreckung und das eingezäunte Gebiet des Lagers errichten eine extratemporale und extraterritoriale Schwelle, wo der menschliche Körper von seinem normalen politischen Status losgelöst ist und so in einem Ausnahmezustand den extremsten Wechselfällen überlassen wird […]. Hier interessiert uns im speziellen aber, daß im biopolitischen Horizont, der die Moderne kennzeichnet, der Arzt und der Wissenschaftler sich in einem Niemandsland bewegen, in das einst nur der Souverän vorstoßen konnte.“ (Agamben 2002: 168)
Auch Marcus Wright ist ein solcher zum Tode Verurteilter, dessen Körper als ‚nacktes Leben‘ der Wissenschaft ausgeliefert ist. Seine Wehrlosigkeit wird in der Operationsszene noch weiter unterstrichen, indem er als Gekreuzigter erscheint (Abb. 5).
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Abbildung 5: Kreuzigungsszene
Quelle: Terminator Salvation: 00:04:35
Deutlich wird dabei die biopolitische Dimension des Cyborg sichtbar: Der Gedanke, den Menschen durch technische Ergänzungen wiederherzustellen oder gar zu verbessern, gerät leicht in den Dienst souveräner Macht, die, wie Agamben betont, besonders seit der Moderne ihre Einflusssphäre zunehmend auch auf den menschlichen Körper ausdehnt. In der eingangs zitierten Definition von Clynes und Kline – „[t]he Cyborg deliberately incorporates exogenous components extending the self-regulatory control function of the organism in order to adapt it to new environments“ (Clynes/Kline 1995: 31) – wird somit besonders das „deliberately“ problematisch, nicht zuletzt, wenn man bedenkt, dass Clynes’ und Klines Studie letztlich im Kontext eines internationalen Wettrennens um die Erforschung und Erschließung des Alls steht. Mit seiner Umwandlung zum Cyborg hat der Weg des Marcus Wright durch das „Niemandsland“ des homo sacer jedoch erst begonnen. Das bei seiner Operation verlesene Fragment von Psalm 23 lässt sich daher als Vorausdeutung verstehen: „Yea, though I walk through the valley of the shadow of death, I will fear no evil, for thou art with me. Thy rod and thy staff, they comfort me.“ (Terminator Salvation: 00:04:08ff.) Zunächst findet Marcus zwar in Kyle Reese und anschließend in Blair Gefährten, die ihn für einen normalen Menschen halten und ihn als solchen behandeln, doch bald gerät er bei John Connor erneut in Gefangenschaft. Die reine Existenz des Cyborg stellt dabei Connors Freund-Feind-Konzept in Frage: „That thing in there … I thought I knew our enemy. But that thing … that makes me feel like I know nothing. I looked it in its eyes, and it believes, absolutely believes that it is human. It believes everything that it says.“ (Ebd.: 01:02:45ff.)
In Terminator Salvation scheint Connor die differenzierte Perspektive, die er noch in Terminator 2 auf die Maschinen hatte, zugunsten jenes binären Oppositionsdenkens aufgegeben zu haben, das im zweiten Teil noch seine Mutter kennzeichnete. Man vergleiche folgende Szene aus Terminator 2, in der Sarah den Chip des Terminator zerstören will:
82 | A LEXANDER KLUGER „John Connor: Don’t kill him. Sarah Connor: ‚It‘, John, not ‚him‘. It.“ (Terminator 2: 01:09:11)
Gerade jenes „it“, mit dem hier der Cyborg von Sarah abgewertet und aus dem Kreis der Menschen ausgeschlossen wird, kehrt in Terminator Salvation wieder. Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Verwirrung ist Connor sichtlich bemüht, Blair die ‚Unmenschlichkeit‘ des Cyborg Marcus klarzumachen: „Blair: He was the only one left. John Connor: Not ‚he‘ Blair, ‚it‘. It was the only one left. Don’t be naïve.“ (Terminator Salvation: 00:59:40ff.)
Erneut wird Marcus dem homo sacer angenähert und auf sein ‚bloßes Leben‘ reduziert. Schon die Szene, in der er nach der Minenexplosion in die Basis der Menschen getragen wird, macht dies klar, indem Flashbacks auf Momente unmittelbar vor der Operation am Anfang des Films erfolgen und erneut eine Passage aus Psalm 23 zu hören ist. Ein kurz darauf folgendes Gespräch zwischen Kate Connor und Blair macht Marcus’ Status noch einmal deutlich: „Blair: Kate, what’s gonna happen to him? Kate: Disassembled. Blair: You mean killed. Kate: It may have information on Skynet.“ (Ebd.: 00:59:48ff.)
Für Connor und seine Gefährten ist Marcus eine Maschine und darf daher getötet werden, ohne dass ein Mord geschieht. Kates Wortwahl – „[d]isassembled“ im Gegensatz zu Blairs „killed“ – macht dies klar. Interessant ist vor allem, dass der Film diesen Abschnitt, in dem in Connors Basis über das Schicksal des Cyborg beraten wird, immer wieder mit Szenen aus dem Gefangenenlager der Maschinen unterbricht (Abb. 6). Diese Lager werden in den Terminator-Filmen wiederholt mit den Konzentrationslagern der Nazis in Verbindung gebracht. Bereits in The Terminator erzählt Kyle, dass sie der systematischen Beseitigung („orderly disposal“ [The Terminator: 00:44:52]) der Menschen dienten und dass man ihn als Gefangenen zur Beseitigung der Leichen gehalten habe. Solche ‚Lager‘ – jene Orte, die Agamben bevorzugt heranzieht, um die Reduktion des Menschen auf sein bloßes Leben in der Moderne zu veranschaulichen – werden in Terminator Salvation in deutliche Nähe zum Umgang der Menschen mit dem Cyborg gerückt.
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Abbildung 6: Gefangenenlager
Quelle: Terminator Salvation: 01:00:17
Die Basis für ihre Unterscheidung zwischen Freund und Feind, Mensch und Maschine scheint dabei eine rein körperlich-materielle zu sein. Die Tatsache, dass Marcus technische Bauteile in sich trägt, scheint für seine Beurteilung und den damit verbundenen Ausschluss aus dem Kreis der Menschen ausschlaggebend. Seine absolute Überzeugung, Mensch zu sein, nagt jedoch an Connor und bringt ihn schließlich dazu, seine Position zu revidieren. Einen entscheidenden Impuls für seinen Wandel gibt die Tonbandaufnahme seiner Mutter, in der sie ihm den ans Klischeehafte grenzenden Rat gibt, seinem Herzen zu folgen (vgl. Terminator Salvation: 01:02:35). Das Herz, dessen Symbolik den gesamten Film durchzieht,7 wird in der Folge zum entscheidenden Kriterium für die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine stilisiert. Zunächst ruft Connor zur Missachtung des Befehls der Anführer der Widerstandsbewegung auf, die Skynet bombardieren wollen, obwohl dort Gefangene sind: „Listen carefully. If we attack tonight, our humanity is lost. Command wants us to fight like machines. They want us to make cold, calculated decisions. But we are not machines! And if we behave like them, then what is the point in winning?“ (Ebd.: 01:13:48ff.)
In dieser Begründung manifestiert sich erneut jene Verschiebung der Frage nach dem Unterschied zwischen Mensch und Maschine von der körperlichen auf die ethisch-moralische Ebene, die sich schon im Übergang von The Terminator zu Terminator 2 beobachten ließ. Dazu passt auch ein weiteres Unterscheidungsmerkmal, das Kyle Reese relativ zu Beginn von Terminator Salvation Marcus gegenüber äußert: „You wanna know the difference between us and the machines? We bury our dead.“ (Ebd.: 00:31:39ff.) Letztlich ist es also die Sorge um den Mitmenschen, die der Film zum besonde-
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Die Erkennungsfarbe der menschlichen Widerstandsbewegung, rot, steht für Blut (vgl. Terminator Salvation: 00:22:56); Marcus wird wiederholt ein „strong heart“ (ebd.: 00:50:50, 00:56:50) bescheinigt.
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ren Kriterium des Mensch-Seins erhebt. Die ultimative Symbolhandlung dafür wird schließlich Marcus’ Entscheidung, sein Herz dem sterbenden John Connor zu spenden. Zuvor wird er – erneut mit der Symbolik des Händedrucks (Abb. 7) – in den Kreis der Menschen aufgenommen. Dies ist auch insofern wichtig, als sein Opfer damit selbstlos erfolgen kann, im Gegensatz zu seinem anfänglichen Opfer für die Wissenschaft, das im „Ausnahmezustand“ (Agamben 2002: 168) des homo sacer erfolgte. Abbildung 7: Handschlag zwischen Star und dem Cyborg Marcus Wright
Quelle: Terminator Salvation: 01:41:02
Dem sterbenden Marcus obliegt es am Ende, die Frage nach dem Unterschied zwischen Mensch und Maschine noch einmal zu beantworten: „What is it that makes us human? It’s not something you can programme. You can’t put it into a chip. It’s the strength of the human heart. The difference between us and machines.“ (Terminator Salvation: 01:41:30ff.) Damit scheint die vom Cyborg ausgelöste Irritation aufgelöst. Durch die neue Definition kann auch er in den Kreis der Menschen integriert werden. Am Ende von Terminator Salvation steht damit aber wieder das alte Dilemma des Humanismus: Menschlich ist eben, wer sich ‚menschlich‘, d.h. achtend gegenüber seinen Mitmenschen verhält. Mit diesem Fazit wird das Problematisierungspotential des Cyborg erneut verschleiert. Denn was ist, wenn der Mensch selbst diesen Ansprüchen nicht mehr genügt, wenn er sich unmenschlich und kühl kalkulierend wie die Maschine verhält? Auch dafür gab es in Terminator Salvation genügend Beispiele. Allein die Tatsache, dass die Menschen in diesem Film einer Rückbesinnung auf ihre Menschlichkeit bedurften, lässt daher die abschließende Definition wieder problematisch erscheinen.
S CHLUSSBETRACHTUNG Die Terminator-Reihe ist, wenn man neuesten Verlautbarungen glauben darf, noch nicht am Ende. Ein neuer Teil soll erscheinen, in dem auch Arnold Schwarzenegger wieder mit von der Partie sein wird – diesmal jedoch
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nicht als Cyborg, sondern als skrupelloser narzisstischer Ingenieur, der den Terminator nach seinem Bilde entwirft. Wir dürfen also gespannt sein, wie es weiter geht. Die hier vorgenommene Analyse der bisherigen Terminator-Teile hat gezeigt, wie die Hybridität des Cyborg auf verschiedenste Weise geeignet ist, die Grenze zwischen Mensch und Maschine in Frage zu stellen. Die Irritation, die der Cyborg auslöst, wird in den Filmen wiederholt aufgegriffen, um anschließend wieder verdrängt oder symbolisch bewältigt zu werden. Dennoch enthüllt eine kritische Lesart die Bruchstellen und Risse, die bei diesen scheinbaren Auflösungen übrig bleiben. Bei aller Verharmlosungstendenz besitzt die Terminator-Reihe somit dennoch das Potential, uns mit der Frage nach der Definition des Mensch-Seins zu konfrontieren. Die Relevanz dieser Problematik tritt heute weitaus deutlicher zu Tage als noch 1984 beim Erscheinen des ersten Terminator: Der Cyborg ist mittlerweile in unserer Gesellschaft angekommen. Noch können solche Verbindungen von Mensch und Technik zwar meist nur alte Funktionen wiederherstellen, bald werden sie aber die Fähigkeiten des Menschen womöglich enorm steigern können. Schon jetzt sollte man sich daher Gedanken machen, inwiefern man in Zukunft derartige Cyborgs vor Diskriminierung schützen, aber auch den Zugang zu solchen potentiell auch gefährlichen Selbstverbesserungstechnologien regeln kann. Nicht umsonst gibt es bereits Bücher wie James Hughes’ Citizen Cyborg (2004), die versuchen, erste Grundrechte für Cyborgs in der künftigen Gesellschaft zu formulieren. So übertrieben früh solche Überlegungen manchem auch erscheinen mögen: Sie zeigen, dass die von uns gesetzten Grenzen zwischen Mensch und Tier oder Mensch und Maschine nichts Festes, allgemein und für alle Zeit Gültiges sind, sondern immer wieder überdacht werden müssen.
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2 SPIEL UND GELÄCHTER
Inside Argument Clinic Tiefendimensionen des Komischen in Monty Pythons Flying Circus R ALPH P ORDZIK
1 M ONTY P YTHONS F LYING C IRCUS : AUFSTAND DER Z EICHEN Manch ein Skeptiker möchte den Sprung ins kalte Wasser wagen und die Frage stellen: Sind Monty Python wirklich komisch? Ist es z.B. komisch, wenn ein schwergewichtiger Herr nach dem Genuss fast aller Angebote einer opulenten Speisekarte in einem französischen Restaurant explodiert und seine Innereien sich in Kaskaden rotbrauner Flüssigkeit über die anwesenden Gäste ergießen? Ist es vergnüglich, wenn die Ritter der Tafelrunde zu Opfern eines Furcht erregenden Ungeheuers werden, das sich am Ende als harmloses weißes Plüschkaninchen herausstellt und mithilfe einer heiligen Handgranate ins Jenseits befördert wird? Ohne jeden Zweifel würden die meisten Freunde des britischen Humors bestätigen, dass Szenen dieser Art in der Tat als amüsant gelten dürfen. Auch allgemein ist die Überzeugung verbreitet, dass die Sketche, mit denen Monty Python seit den frühen 70er Jahren ein ständig wachsendes Publikum in den Bann ziehen, ihren Erfolg in erster Linie der hintergründigen schwarzen Komik verdanken, die sie strukturiert. Trotz des wachsenden Erfolgs hat sich die Kritik aber bislang schwer getan, diese Komik auch in kritischen Begriffen zu beschreiben und in einen Begründungsrahmen einzubinden, der zum einen der menschlichen Abgründigkeit vieler Sketche gerecht wird, zum anderen ihre semantischen und medialen Besonderheiten würdigt, die sich in Form von markanten und eigensinnigen Filmschnitten zeigen, in der selbstbewussten Mischung unterschiedlicher Genres und künstlerischer Register sowie einer hohen Zahl selbstbezüglicher Anspielungen, in denen das Medium Fernsehen in seinen Wirkungen und Funktionen auf die Probe gestellt und distinktiv vernommen wird.
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Im Rückgriff auf provozierende postmoderne Techniken der Mehrfachkodierung und „Sinnkomplexion“ (Lachmann 1990: 7) erweist sich der populäre Stil Monty Pythons als eine treffsichere und zutiefst politische Praxis, als eine Strategie gezielter Zuschauer-Verunsicherung. Das Komische in der Arbeit des englischen Ensembles ist kein Selbstzweck, sondern Träger einer breit aufgestellten Kritik am gesellschaftlichen Establishment und an den Werten und Diskursformen einer bürgerlichen Kultur, die bereits Mitte der 60er Jahre Gegenstand der Frustrationen und des Zorns einer jungen Generation geworden war. Dieser Protest fand zunächst auf den Straßen statt. Anfang der 70er Jahre erkor sich zunehmend beißender Spott auch der Massenmedien die althergebrachte Lebensweise der englischen middle class zur Zielscheibe, wobei Kritiker ihre Axt nicht selten recht tief und gründlich anlegten – konkret im Denken und in den Diskursen selbst, die eine Gesellschaft in ihren Ausdrucksformen und Mentalitäten konstituieren. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichten diese Spottbilder und Sinnprovokationen in Monty Python’s Flying Circus, jener legendären Comedy-Serie, die von der BBC in insgesamt 45 Folgen erstmals zwischen 1969 und 1974 ausgestrahlt wurde – zunächst jedoch mit geringem kommerziellen Erfolg. Am Beispiel des in Episode 41 erschienenen Sketches „Poetry Reading (Ants)“ lassen sich Funktionen und Wirkungsweisen des ludisch-clownesken Humors und seiner ein neuartiges Fernseh-Subgenre begründenden Techniken karnevalesker Überschreitung beispielhaft erkunden und in ihren populären Dimensionen erschließen. Dem exotischen Phänomen Monty Python, seiner semantischen Promiskuität und Anagrammatik1 sowie den Verlaufsformen seines prononcierten Antistils, kann auf diese Weise gezielt zu Leibe gerückt werden. Viele Zuschauer haben die Aktivitäten des englischen Ensembles wiederholt als puren Nonsens und oberflächliches, zum Teil ins bloß Surrealistische abgleitendes Geplänkel bewertet, das hauptsächlich auf krude Wirkungseffekte, obszöne Sprachgesten und kurzweilige Erheiterung setzt. Ganz im Gegenteil jedoch stülpt sich in dieser burlesken und schwarzgalligen Form des Humors eine Haltung nach außen, die als Ganzes gegen den ideologischen und sprachlichen Zusammenhang der britischen Gesellschaft bzw. ihrer arrivierten Mittelschichten zielt; ohne jeden Zweifel ist sie dem Einfluss der 60er Jahre und ihrer Kultur des Protests gegen feste Strukturen und zementierte Wertbilder geschuldet. In der Auflösung geschlossener Formen des Spiels und der Bühnenillusion, in der anarchischen Sprengung
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Darunter soll hier konkret eine visuell diskontinuierliche und antiepische, mehrheitlich polyphone Präsentation fremder Stile, Sprachen und Diskurse verstanden werden, die sich im Film selbst in der Art und Weise eines Anagramms lesen lässt: Durch Ver- und Umstellung einzelner Figuren, Bilder und Motive, die stets in verfremdeter und überschriebener Form wiederkehren, bilden sich – in der fertigen Sequenz oder Episode – immer neue Figurationen von Sinn und Bedeutung. Zur Anagrammatik siehe allgemein auch Starobinski 1980.
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und Zersetzung kohärenter Szenen und Handlungsstränge, zeichnen sich die Grundmuster einer ästhetischen Technik ab, die unter der Bezeichnung des Karnevalesken mittlerweile ihren festen Platz im Begriffsinventar der Kulturwissenschaften gefunden hat. Dieser Begriff geht auf den russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin zurück, der noch unter den Bedingungen des Stalinismus eine alternative Sprache entwickelte, um die Artefakte der ‚wahren‘ Volkskulturen besser verstehen zu können – Artefakte, die stets im Schatten politischer Mächte und Institutionen gedeihen (vgl. Bachtin 1979, 1988). Seine Werke, die bereits in den 30er Jahren entstanden und seinerzeit verboten wurden, konnten erst seit den 60ern einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden und gelten seitdem als wissenschaftlich bahnbrechend. Dem von Bachtin entwickelten Paradigma des Karnevalesken wird in der folgenden Darstellung vorrangige Bedeutung zukommen, zumal sich viele seiner Elemente in der komisch-bunten Praxis des PythonEnsembles wiederfinden. Grundsätzlich zeichnet sich dabei der Sinnhorizont einer Negativ-Utopie ab, die als Gegendiskurs einer offiziellen und monologischen Geschichtsschreibung betrachtet werden kann, deren Bilder und Ideologeme sie durch Überschreitung, Vermischung und Dehierarchisierung zu unterwandern und zu sprengen bemüht ist. Monty Python gelingt es im Rahmen dieser ins Gegenteil verkehrten Utopie, Ästhetik und Politik in Überwindung der klassischen Moderne wieder zu versöhnen und dabei eine alternative Welt populärer oder verdrängter und marginalisierter Diskurse zu inszenieren, in der völlig andere, gegensätzliche Normen und eine perspektivische Vielfalt der Stimmen und Meinungen herrschen; in der „Antihierarchie, Relativität der Werte, Infragestellung der Autoritäten, Offenheit, fröhliche Anarchie [und] Verspottung aller Dogmen“ (Lachmann 1990: 225) sich gegen die zentripetalen Kräfte der Schließung und Vereindeutigung behaupten. Das Komische in Monty Pythons ästhetischer Wirkungstechnik hat demnach eine ganz eigene Tiefenstruktur – ihr Name lautet: Karneval.
2 D ER K ARNEVAL UND DIE SOZIALHYGIENISCHEN F UNKTIONEN DES K OMISCHEN Von der Komik wird allgemein behauptet, dass sie gewachsene Erwartungshaltungen durchbricht.2 Durch das laute und unkontrolliert herausplatzende Lachen, so die weit verbreitete Ansicht, wird eine sprachlich-soziale Norm oder Wahrheit gesprengt und in ihrer Geltung in Frage gestellt. Das Lachen kehrt reale Machtverhältnisse kurzzeitig um, indem es deren überhebliche Selbstprojektion von Kontinuität, Gerechtigkeit und Gnade wieder der sozialen Wirklichkeit angleicht und die Arroganz der Macht im Raum des Fikti-
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Hierzu nach wie vor unentbehrlich: Freud 1970.
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ven vorübergehend auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Im per se unkontrollierbaren Lachen äußert sich für einen unbewussten Moment jene tiefe Verachtung gegenüber den Herrschenden, die der Lachende im Alltag hinter spezifischen Verhaltensregeln und -codes gut zu verbergen weiß. Nun kann das Komische durch seine erheiternden, aufbauenden und vor allem kathartischen Effekte allerdings auch systemstabilisierend wirken, d.h. die Zuhörer agieren bereits über das Lachen selbst ihre angestauten Frustrationen und Enttäuschungen aus und sehen somit gar keinen Anlass, strukturelle gesellschaftliche oder politische Missstände für ihre Situation verantwortlich zu machen. Aus dieser Perspektive hat das Lachen – als ein Akt physischen Widerstandes gegen das Gesetz – einen bewahrenden und einschränkenden Charakter. Das Karnevaleske überwindet diesen Gegensatz jedoch, da es die Grenzen des Normativen und Wahren im Rahmen eines Paradigmas überschreitet, das per definitionem selbst transgressiv ist. Das bedeutet, dass die Grenzen und Linien, die abgesonderte kulturelle Wertbereiche markieren, ungehindert in alle möglichen Richtungen überschritten werden können; wirklich unveränderliche Positionen oder dauerhaft unverrückbare Grenzziehungen gibt es demnach nicht. So wie der romantische Diskurs nicht ein distinktives Objekt oder eine erwählte Person, sondern die Liebe an sich liebt und normativ verteidigt (vgl. de Rougemont 1956: 41), so verletzt auch der Karneval die Regeln und Normen um der Verletzung willen. Seine Gesetze sind die „Kontamination“ der Formen und Diskurse sowie der „Katastrophismus der Sujetfügung“ (Lachmann 1990: 261, 262); jeder übernommene Rollen- und Wertestandard wird als Täuschung oder soziale Erfindung gegeißelt. Im Karneval strebt die Suche nicht zu dem Kern des Wahren und Ganzen, sondern treibt ihn vor sich her (vgl. ebd.: 262). Zitate, in denen gängige und akzeptierte Muster des Sprechens parodiert und absorbiert werden, und so genannte ‚niedere‘ Formen des Sprechens spielen in der Praxis des Kulturtyps Karneval eine maßgebliche Rolle. Dazu zählen unter anderem Flüche, Beleidigungen schwerster Art und skatologische, d.h. fäkalsprachliche, Einwürfe. Jede Kritik, auch die trivialster Vorgänge, wird hypertroph gesteigert, der Bogen permanent überspannt. Der Inszenierung von menschlichen Verhaltensanomalien werden große Freiheiten eingeräumt. Und dies aus einem einfachen Grund: Bekanntlich gehört es zur gepflegten und reserviert-höflichen Lebensart der Mittelschichten, ihrem eigenen Drang nach verbaler Vergeltung nicht unmittelbar nachzugeben, den Gegenüber nicht über die Grenzen des Anstands hinaus zu beschimpfen oder zu beleidigen. Wenn Monty Python genau an dieser Schnittstelle immer wieder das gebotene Maß überschreiten, so liegt dieser Regelverletzung der offensichtliche Wunsch zu Grunde, das Beil an den akkreditierten Sprechformen der Mittelschichten selbst anzulegen. Mit anderen Worten: Schwappt die Schmäh- und Schimpftirade bisweilen über die Grenze des
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Akzeptablen hinaus in den Bereich der Koprolalie3, so verrät sich darin der Wunsch der Komiker, in möglichst derber und polemischer Form den Geltungsbereich bürgerlicher Rede aufzusprengen und den ansonsten unterdrückten Schichten des spontanen Fühlens und Erlebens ihr verlorenes Recht auf Mitsprache zurückzugeben. Die viel zitierte ‚Einstimmigkeit‘ des bürgerlichen Diskurses, der – so seine Verteidiger – mit der ‚einen‘ Stimme der Vernunft spricht, wird hierbei zugunsten der Zwei- oder Vielstimmigkeit karnevalesker Lachkultur ausgehebelt: Im Lachen werden soziale und strukturelle Grenzbefestigungen eingerissen und Hierarchien zerbröselt, der Witz lugt immer wieder mit verschmiertem Gesicht durch die Hintertür hinein. Doch eignen ihm weder die Subtilität und Tiefe, noch der Pointenreichtum und die geistreiche Eleganz des traditionellen englischen wit: Im Gegenteil, er kommt profan daher, meist als obszöner practical joke, unerschrocken, derb und handgreiflich, und erreicht gerade auf diesem Wege sein Ziel, mit der Kritik am gesellschaftlichen Status quo auch dessen schützende Außenmauern einzureißen – d.h. jene des jeweils arrivierten und gültigen Diskurses, der ‚Herrschaftssprache‘, die zu allen Zeiten und überall auf der Welt die Normen der Durchschnittlichkeit, die Weltbilder, Denkarten und Ideologien stützt.
3 I NSIDE M ONTY P YTHON : D IE V IKTORIANER G EGENSTAND MENIPPEISCHER S ATIRE
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In den Szenen, die dem populären Sketch „Poetry Reading (Ants)“ aus Episode 41 (Michael Ellis) vorausgehen, durchlebt die Hauptfigur als Besucher eines englischen Kaufhauses eine Reihe unsagbar kafkaesker Situationen, die einen zunächst an das vertraute I-got-lost-in-the-super-market-Schema denken lassen: eine heiter-humorvolle Kritik an der technisch-kommerziellen Moderne, die den Menschen mit ihren Sinnesreizen und Warenangeboten verführt und überfordert. Der Protagonist erwirbt hier unter anderem eine Ameise nebst Käfig und Utensilien zur Aufzucht,4 reicht eine Beschwerde ein (der Raum und seine Insassen gehen dabei teilweise in Flammen auf, Kundinnen werden unentwegt sexuell belästigt), stattet der Abteilung für Herrentoupets einen Besuch ab (hier tragen alle Verkäufer unsagbar schlecht sitzende Perücken) und verirrt sich am Ende hoffnungslos in einem Labyrinth von Hintertürchen, Fahrstühlen und Kaufhausetagen, die in Aus-
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D.h. in den theatralisch-pathologischen Gebrauch der Fäkalsprache. Das karnevaleske Phänomen der Doppelung, Um- und Neuschrift rekurrierender Motive wird an dieser Stelle recht einprägsam verdeutlicht: Wenn die Moderatorin der Dichterlesung den Inhalt der vorgetragenen Gedichte später summarisch in der Wendung „It’s all about ants“ zusammenfasst, lässt sich diese Aussage problemlos auch auf die vorausgegangenen Abschnitte der Episode beziehen.
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stattung und Angebot keiner vertrauten und sinnvollen, wohl aber einer albtraumhaft-surrealen Taxonomie erfundener Objekte folgen. Die bloße Existenz des Warenhauses ist darin karnevalesk, dass sie eine Architektur und Hierarchie von Gegenständen begründet, die sich jeder rationalen Ordnung des Denkens gegenüber verschließt. Das kapitalistische Gesetz des Erwerbs oder Tauschs materieller Güter findet sich auf den Kopf gestellt; kaufmännische und praktisch-technische Nutzlosigkeiten (z.B. Ameisen aller Arten und Größen, überdimensionierte Flammenwerfer, Utensilien für den Bergbau) erfreuen sich größter Wertschätzung, alles normativ Hochgestellte und Edle (das gebildete Gespräch über Belange der Kultur, die geübte und höfliche Beratung des Kunden) wird dagegen abgewertet und der Lächerlichkeit preisgegeben.5 Monty Pythons „Poetry Reading“ möchte aber mehr sein als nur eine chaplineske Kritik des Jochs moderner Zeiten. Der Sketch ist auch interessant mit Blick auf die radikale Brechung und Überkreuzung etablierter Raum- und Zeitsemantiken, die er vornimmt. In der gezeigten Episode überlagern sich mindestens zwei unterschiedliche Zeitstufen, um nicht zu sagen: Epochen, in kontra-intuitiver Form. Das viktorianische Zeitalter wird wiederbelebt im Kontext einer Spätmoderne, die in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts überwiegend als Bedrohung wahrgenommen wird. Charaktere, aus dem Rahmen ihrer soziokulturellen Eigenzeit verstoßen, tauchen in einem anderen temporalen Zusammenhang wieder auf, und man könnte hieraus schließen, dass der Sketch inhaltlich auf den Habitus mancher Lyriker des 19. Jahrhunderts hinweisen möchte, die Anstoß genommen haben am schrankenlosen Materialismus und Individualismus ihrer Gesellschaft. Im übertragenen Sinne tritt der Poet hier noch einmal als Kaufhauskritiker auf, der die mondänen Wonnen des Konsums an den Pranger stellen möchte, sich dabei aber selbst – als käufliches Bildungsgut – an den Schauplatz seiner Systemkritik versetzt sieht. Passend dazu sind die üblichen Verdächtigen in einem Ensemble vereint: Percy B. Shelley, Lord Tennyson, John Keats und William Wordsworth – Dichter, in deren Werk sich die zentralen Reformdebatten der Zeit spiegeln. Mit den beiden großen Moralisten Thomas Carlyle und John Ruskin wäre das Bild zweifellos vollständig. Wordsworth war noch in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts eine respektierte Dichterpersönlichkeit, die spätere Generation um John Keats in den langen Jahren
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So finden sich in einer im vierten Stock gelegenen Abteilung des Kaufhauses etwa folgende Bereiche wortreich beworben: Granite Hall-Rocks, Shales Alluvial Deposits, Andes Urals, Mining Requisites, Atom Splitting Service etc. – Ausdruck der metonymischen Kontiguität willkürlicher Serien im Karnevalstext. Roman Jakobson zufolge kann in allen fiktiven Diskursen eine „beliebige Kontiguität“ als „kausale Reihe“ (Jakobson 1989: 203) aufgefasst werden. Die damit einhergehende Juxtaposition ungewöhnlicher und bizarrer oder semantisch entlegener Objekte und Zeichen gestattet zugleich die kreative Überschreitung fest gefügter Ordnungen des Verstandesdenkens.
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der Regierungszeit Königin Viktorias (1837-1901) hingegen nicht unumstritten; Keats, Byron und Shelley galten vielen Viktorianern als überspannt und mondän (vgl. Armstrong 2006: 169), ihre Lyrik als schillernd und ausgefallen. Ihren radikalen politischen Positionen begegnete man in der Öffentlichkeit mit großem Misstrauen und ihre schroffe Verteidigung des poetischen Genius- und Einsamkeitskults schied sich in erheblichem Maße von den sittlichen Vorstellungen der Viktorianer, die sich in Anlehnung an die Ideen Jeremy Benthams für eine Literatur einsetzten, die ‚nützlich‘ und sozial engagiert sein sollte. Der Rückzug der Romantiker ins Private und Imaginäre stand dieser Konzeption von Kunst und Literatur als einer pädagogischen Praxis diametral entgegen. Den populären Tennyson schließlich erkor die alternde Königin zu ihrem Lieblingsdichter, was sowohl im Zusammenhang mit dem frühen Tod ihres Gatten zu sehen ist als auch mit der Veröffentlichung seines episch langen Gedichts In Memoriam; in ihm nahm Tennyson 1850 vordergründig den Tod seines Intimus Arthur Hallam zum Anlass, eine umfassende Inventur seines Jahrhunderts vorzulegen. Bis heute ist das Werk ein Klassiker der englischen Literatur geblieben (vgl. Tennyson 2004). Der Trost, den das Gedicht der trauernden Königin angeblich spendete, Tennysons Anwesenheit im Raum sowie das spätere persönliche Erscheinen der Königin in der reading hall dürfen also durchaus in einem kulturellen Zusammenhang gesehen werden, der einmal existiert hat und sich jetzt sinnund phasenverschoben auf der zeitgeschichtlichen Achse wiederholt. Die karnevaleske Filmtechnik der Python-Truppe, die Epochen, Zeiten und Themen in grotesker Form schneidet, überlagert und mischt, wird hier deutlich erkennbar: Die notorisch antimaterialistischen Viktorianer finden sich überraschend als eigene ‚Abteilung‘ eines modernen Konsumtempels wieder – eine höchst gelungene und pikante karnevaleske Verdrehung, in der sich nicht zuletzt die Erkenntnis spiegelt, dass jeder künstlerische Akt, und sei er noch so subversiv, vom kapitalistischen Betrieb vereinnahmt werden kann.
4 H OW TO ‚R EAD ‘ A NTS : D AS LYRISCHE G EDICHT ALS P ALIMPSEST UND G EGENTEXT In „Poetry Reading“ tragen Monty Python die grelle und ludisch-verspielte Seite ihrer Komik unverhohlen nach außen. Über die populäre und unterhaltende Dimension hinaus eignet den überzeichneten Figurenporträts jedoch auch ein spezifischer Umgang mit viktorianischen Themen und Referenzen, der genauer betrachtet werden muss. Seine Besonderheit liegt in der auffällig monströsen Fügung des hier bearbeiteten Sujets – in den unheimlichen und von den anwesenden Figuren selbst mehrfach angstvoll beschworenen ants oder Ameisen.
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Abbildung 1: Wordsworth liest „Daffodils“
Quelle: © 2006 Python (Monty) Pictures Limited
Einen Erklärungsansatz für diese Sujetfügung liefert die hier ausgeübte Kunst des falschen oder verstümmelten Zitats: die Replik der menippeischen Satire, die „aufnimmt, verwirft, polemisiert oder weiterspricht, ergänzt, die vorgefundene Äußerung in eine neue mögliche öffnet“ (Lachmann 1990: 127). In William Wordsworths Rezitation seines berühmten Gedichts „Daffodils“ (1807) etwa wird die fehlerhafte Ankündigung des Titels – „I wandered lonely as a crab“ – gleich zu Beginn gerade gerückt. Rügenden Blickes korrigiert der Dichter zunächst den Titel seines kleinen Werkes. Daraufhin folgt aber dennoch ein falsches Zitat: „I wandered lonely as a cloud That floats on high o’er vales and hills When all at once I saw a crowd A host of golden worker ants.“
Richtig müsste es heißen: „a host of golden daffodils“, doch auf eine Erklärung für die entstandene Verwechslung wartet man vergebens. Die Zuhörer lassen dem Gesagten höflich murmelnd ihre Wertschätzung und ihren Beifall zuteilwerden; der Vortragende selbst macht ein zufriedenes Gesicht, als sei er sich des Fehlers gar nicht bewusst. Unentwegt verspricht sich auch die Gastgeberin bei ihren Ankündigungen der einzelnen Dichter und ihrer Texte – ein Aspekt, der besondere Beachtung verdient, denn wo immer sie eine falsche Silbe verwendet, spricht sie auch eine verdrängte Erkenntnis oder Kritik aus, macht sich mit anderen Worten die „Verdichtungsleistung“ (Freud 1970: 24) des Witzes zu Nutze. In der ersten Szene wird so aus Wordsworth kurzerhand „Wadsworth“: Wad bedeutet so viel wie Wattebausch, womit recht zutreffend die Stimmung bezeichnet ist, die noch heute viele Leser mit Wordsworths Arbeit verbinden. Dessen Dichtungen sind zart, kommen wie geflüstert und auf leisen Sohlen daher und verbreiten in Anmut und ästhetischer Bescheidenheit ihr kulturelles Programm, welches in erster Linie vom Wunsch einer Wiedervereinigung des Menschen mit der Natur kündet. Nicht wenigen Lesern erscheinen Wordsworths Dichtungen häufig allzu konziliant, gehoben aber weltfremd; die bloßen Worte eines Jongleurs und damit leicht verdauliche poetische Kost. Wordsworth unter-
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scheidet sich in dieser Hinsicht maßgeblich von seinen romantischen Zeitgenossen, die einem anderen Geist und einer anderen Dichtungstradition anhingen. Zu den Zeitgenossen, die Wordsworths Leidenschaft für die Natur teilten, sich ihr aber in einer differenzierten Form zuwandten, gehörte unter anderem John Clare (1793-1864). Er ist bei dieser Lesung nicht zugegen und seine Abwesenheit markiert gerade deshalb ein ‚beredtes Schweigen‘. Seine Werke scheinen sich nicht nur weniger gut zur Vermarktung zu eignen, er ist auch der einzige romantische Dichter, der ausführlich über Insekten geschrieben und sie genau beobachtet hat. John Clare ist damit das eigentliche, verdrängte Objekt des hier geführten Diskurses, wie sein Sonett „The Ants“ zeigt: „What wonder strikes the curious, while he views The black ant’s city, by a rotten tree, Or woodland bank! In ignorance we muse: Pausing, annoy’d, – we know not what we see, Such government and thought there seem to be; Some looking on, and urging some to toil, Dragging their loads of bent-stalks slavishly: And what’s more wonderful, when big loads foil One ant or two to carry, quickly then A swarm flock round to help their fellow-men. Surely they speak a language whisperingly, Too fine for us to hear; and sure their ways Prove they have kings and laws, and that they be Deformed remnants of the Fairy-days.“ (Clare 1821: 174)
Der Dichter entwirft hier zunächst ein Bild der Natur als geschlossenes und gesundes, in seinen Abläufen ruhendes System. Alles verhält sich zueinander in geplanter, sinnvoller Analogie. Selbst eine Ameise leistet der anderen Hilfe zum Wohl des ganzen Organismus. Man würde dieses Denken heute wohl als ökologisch bezeichnen, und in der Tat wurden in den vergangenen Jahren mehrfach Arbeiten veröffentlicht, in denen die romantischen Dichter als die ersten Grünen gefeiert wurden (vgl. Bate 1991; Strachan 2008). Diese Einschätzung mag zutreffen, aufschlussreicher ist im gegebenen Kontext jedoch Clares Anverwandlung eines allegorischen Sinnmusters, auf das sich gleichzeitig auch der ‚falsche‘ Wordsworth im Sketch beziehen dürfte. Denn die „worker ants“ sind einem Bild bzw. Thema geschuldet, das die Viktorianer beschäftigt hat wie kein zweites: das allmähliche Entstehen eines urbanen Proletariats in und um London und in den Industriestädten des Nordens von England. Dem Hervortreten einer neuen sozialen Schicht folgten Armut und Ausbeutung und in kurzer Folge Unruhen und Aufstände in den Metropolen sowie die Gründung von Verbänden und Parteien, die sich der Interessenvertretung dieser neuen Bevölkerungsgruppe annahmen. Um ein langes und bereits aufwändig dokumentiertes Kapitel der Sozialgeschichte
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kurz zu fassen: Das englische Bürgertum erstarrte in Furcht vor einem neuen Gegner, dessen Reihen sich mit ungeahnter, kaum zu kontrollierender Geschwindigkeit füllten. Zahlreiche Begriffe aus der Welt der Industriearbeit, wie „toil“, „big loads“, „slavishly“ usw., scheinen diesen Befund zu bestärken.6 Clares ‚Arbeiterameisen‘ tauschen untereinander geheimnisvolle Nachrichten aus, die den Außenstehenden unverständlich bleiben; sie folgen scheinbar ihrem eigenen Reglement, doch stehen sie auch unter der Herrschaft von Königen und Gesetzen, die ihnen wie entstellte Relikte aus alten Zeiten noch immer anhängig sind. Zweifellos äußert sich hier die geschickt verschleierte Kritik eines Romantikers an den herrschenden Zuständen im Großbritannien der Königin Viktoria, die allegorisch anhand eines prägnanten Beispiels illustriert werden soll. Ein jeder weiß um die strikten Regeln, Abläufe und festen Strukturen, die dem viel zitierten Ameisenstaat seine Macht und Faszination verleihen. Äußerst gewandt und vorsichtig bringt Clare damit zum Ausdruck, was besonnene Geister jener Zeit im Stillen bereits gedacht haben mögen: Noch vegetiert der alte Staat aus den Zeiten der Feen und Ammenmärchen („remnants of the Fairy-days“) vor sich hin, das Inselkönigreich Albion des legendären König Artus mit seiner Tafelrunde, seinem Ehrenkodex und väterlich-zopfigem Inselpatriotismus. Seine Tage aber sind längst gezählt; in der Bevölkerung entsteht eine neue Form kommunal ausgeprägter Solidarität, in deren Rahmen sogar die Stärkeren ihre ins Straucheln geratenen „fellow-men“ stützen. Ein neues und gemeinschaftlich orientiertes Denken macht sich daran, die alte Ordnung zum Teufel zu schicken. Sein Sonett „The Ants“ verfasste John Clare vermutlich in der kritischen Absicht, die innere Bedrohung Großbritanniens in eine Allegorie zu bannen. Indem Monty Python diesen Prätext unerwähnt, die Repliken jedoch wiederholt darauf rekurrieren lassen, eröffnen sie dem Zuschauer die Möglichkeit, die im Zwischenspiel der Zeichen und Diskurse wirksamen Codes auf-
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Pascal Fischer verdanke ich den Hinweis, dass sich die „black ant’s city“ in Clares Sonett in einem „rotten tree“ ausgebreitet hat. Angesichts der Tatsache, dass die britische Eiche traditionell die Stärke der organisch gewachsenen Inselnation repräsentiert, kann die rottenness des Gewächses an dieser Stelle eigentlich nur das Fortschreiten des Zerfalls und seine Nähe zu einer Tradition des Umbruchs durch neue Technologien und Lebensweisen symbolisieren. Der Schmutz und Qualm der Industrieschlote des Nordens hingegen spiegeln sich markant in der „black […] city“ wider. Zur Funktion der Baumsymbolik in der englischen Romantik allgemein vgl. auch Fulford 2001: Abs. 8: „Both radical opponents and conservative defenders of Britain’s unreformed constitution employed nature-imagery to render their arguments appealing. Trees figured prominently in that imagery after John Locke had used the oak to illustrate organic unity. Oaks’ longevity, rootedness and strength made them suitable emblems for writers who portrayed an ancient constitution secured in the heritable property of land and capable of gradual change as a growth of English soil.“
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zuschlüsseln und zu deuten. Auf eine profunde Art erweisen sie sich damit als politisch im dialogisch-karnevalesken Sinne. Ihr Witz und ihre Komik bedienen die regressiven Tendenzen des Zuschauers und reaktivieren einen Affekt, mit dem Widerstand gegen die eigenen Triebwünsche durch sprachliche Mittel wie Reime, Mischworte, Doppelungen und andere verbale Ersatzbildungen zum Ausdruck gebracht wird. Es ist diese verdrängte Schicht der menschlichen Psyche – jene, in der das Aufbegehren gegen die altvorderen Autoritäten seinen Anfang nimmt –, die der literarische Karneval reaktiviert. Die Teilnahme des Zuschauers erweist sich dabei in seinem Lachen; es gestaltet sich als Abwehrreaktion gegen die eigene (korrekte, bürgerliche) Erziehung. Das karnevaleske Prinzip verwirklicht sich, wo das einzelne Individuum unbewusst gegen Anstand und Etikette zu Felde zieht und das Derbe und Blasphemische lustvoll und in vernichtender Absicht gegen die alten Mentoren zu wenden wünscht. Monty Python machen ihre Zuschauer auf diese Weise zu Verbündeten und Eingeweihten dieses Vorgangs. In der Anwendung ihrer Techniken sind sie nicht auf sokratische und würdevolle Art und Weise ironisch, sondern vielmehr karnevalesk-menippeisch; sie schaffen Raum für das Tolldreiste, für die Parodie und die Erniedrigung des erhabenen Gefühls. Gerade damit lassen sie die Zuschauer zu Mitwirkenden jener mysteriösen Erregung werden, die sich unter den Anwesenden im Raum verbreitet. Sie werden zu einem im unerlaubten Gefühl geeinten Mob, der sich nach dem narzisstischen Prinzip der Ähnlichkeit und Übereinstimmung im spontanen Affekt zusammenrottet. Die Wirkungen dieser Präsentationstechnik könnten stärker nicht sein; die Gastgeberin spricht bereits nach der ersten Präsentation einen bösen Gedanken aus, mit dem Kenner der englischen Romantik die ganze Zeit gespielt haben dürften. Sie wiederholt den Namen „Wadsworth“ nicht noch einmal, sondern geht einen Schritt weiter und vernichtet den Dichter des Lake District nun endgültig, indem sie ihn mit Mr. „Bradlaugh“ verwechselt – ohne jeden Zweifel als Hinweis auf Charles Bradlaugh (1833-1891) zu lesen, der als prominenter Freigeist, Atheist und Mäzen im letzten Drittel des Jahrhunderts wirkte und einem liberalen und freizügigen Diskurs in Großbritannien das Wort geredet hat.7 Die Anspielung auf Bradlaughs gesellschaftliches Wirken dürfte zudem einer gedanklichen Verbindung geschuldet sein, die einen Zusammenhang zwischen den Ameisen als Symbol der Arbeiterbewegung und des aufkeimenden Marxismus und Bradlaugh als einem Verfechter des Atheismus und Verteidiger der politisch Entrechteten in den Großstädten herzustellen gestattet. Ermöglicht werden all diese Verknüpfungen durch die bereits zu Beginn der Szene sichtlich angetrunkene Gastgeberin, der nach jeder neuen Erwähnung des Namens Shelley ein weiteres Glas Sherry nachgeschenkt wird
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So hat er etwa in seinem eigenen Journal, dem National Reformer, ungeschminkt die Vorzüge der Empfängnisverhütung zu loben gewagt und sich für den Atheismus und ein baldiges Ende der kirchlich organisierten Religion eingesetzt.
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(„Just a little one, medium dry, please…“). Fortwährend verwechselt sie Kunstwerke („poems“) mit trivialen Gegenständen aus den Niederungen der Alltagswelt und -kultur, die ebenfalls mit „P“ beginnen („plums“, „prams“, „psalms“, „problems“ etc.). Über diese Wortreihungen wird dem lyrischen Diskurs sein ausgegrenztes, profanes Anderes wieder eingeschrieben, wird – unfreiwillig – jene Gegenrede verlautbart, die sich dem karnevalesken Kult der Verspottung und Erniedrigung des Hohen andient. Ohne es zu ahnen, ebnet die Lady damit die Grenzen zwischen den feinen Unterschieden ein, die gerade den Viktorianern so am Herzen gelegen haben. Aus dem kapriziösen Keats wird auf diese Weise ein merkwürdiger Kauz (coot) bzw. ein junges, unerfahrenes Huhn (keat); Tennyson, der international wohl angesehenste englische Poet der Zeit, scheint ihr gänzlich unbekannt zu sein. In erster Linie dem Alkohol zugetan, hat sie vor den Poeten und ihren Werken keine wirkliche Achtung, doch ist sie wachsam genug, den armen „Koots“ sofort der reading hall zu verweisen, als dieser für die im Raum schwebenden diffusen Ängste ein geeignetes Bild findet und sich mit seinem anschaulichen Vortrag über die Grenzen des guten Geschmacks hinauswagt. Alles bis dahin Gehörte erinnert sie nur an „filth“ (Schmutz), womit Keats auch im Sketch jener schlechte Leumund unterstellt wird, der die viktorianischen Kritiker seinerzeit zu immer neuen Angriffen auf seine Person, sein Denken und sein Werk motiviert hat. Damit geraten schließlich die Eskalation der Dichterlesung und ihre Bedeutung im Zusammenhang der Karnevalstechnik ins Zentrum des Interesses. In der nächsten Einstellung wird Shelley aufgefordert, seinen Text vorzutragen; dieser weiß sein Publikum mit einer kunstvoll abgewandelten Variante des romantischen Sonetts „Ozymandias“ zu unterhalten: „My name is Ozymandias, King of Ants Look on my feelers, termites, and despair I am the biggest ant you’ll ever see The ants of old weren’t half as bold and big And fierce as me.“
Das anwesende Publikum ergötzt sich sichtlich an seiner eigenen Wonneangst vor dieser mythisch überhöhten Gestalt, die – erneut im Rückgriff auf John Clare – einen Zusammenhang herstellt zwischen dem Untergang einer Kultur und der im Raum stehenden Drohung des gesellschaftlichen Wandels ‚von unten‘, der Revolution des verarmten, ‚schwärmenden‘ und ‚wimmelnden‘ Fußvolks. „Feelers“ und „termites“ – Termiten und ihre Arbeitswerkzeuge, welche die protestierenden Massen in Erinnerung rufen – behaupten eine Relation zwischen der Furcht vor dem eigenen Niedergang und einer politischen Gefahr, die alle vorhergegangenen Bedrohungen zu über-
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treffen scheint.8 Gezielt nimmt sich der Sketch an dieser Stelle die Furcht der Viktorianer vor dem Sozialismus und die ihn begleitende Massenrevolte vor; am Ende ist es der arme John Keats alias Koots, der das Fass endgültig zum Überlaufen bringt und die kleine reading hall in den Hexenkessel eines slam poetry event verwandelt. Die vormals harmlosen und ‚goldenen‘ Ameisen werden jetzt zu Opfern einer meuchelnden, „long-nosed“ Kreatur, die einem amerikanischen Horrorschocker zu entstammen scheint. Sie springt dem armen Dichter an die Kehle und zerfetzt seine Gurgel – wodurch sie ihn, was im Übrigen einer gewissen Ironie nicht entbehrt, mundtot macht.9 Verkörpert dieser hässliche „ant-eater“ möglicherweise die Rache der öffentlichen Meinung an den Wortführern der politischen Revolte? Ist es jetzt an den Ameisen, im Rahmen eines reaktionären Rachefeldzugs vernichtet zu werden? Sicher ist: Das Publikum im Saal hat sich gegen den Dichter und gegen alles, für das er einsteht, solidarisiert; umgekehrt identifizieren sich die Zuschauer im Lachen mit dem Spott, der diese aufrechten Bürger und ihre Erregung so respektlos aufs Korn nimmt. Die Revolution ist erstickt, die Ameisen sind verspeist, der Spuk hat ein Ende. Geschickt haben Monty Python in den vergangenen Repliken die Kunst der menippeischen Gegenrede wiederaufleben lassen; mit den für die Schreibweise des Karnevals typischen Techniken der Verdichtung und Mischbildung, der exzentrischen Replik und Parodie auf das ursprüngliche, ‚hohe‘ dichterische Wort haben sie dabei eine ganze Kaskade an lautlichen Sinneffekten und Verfremdungen erzeugt, die im doppelten und gegenreferentiellen Sprechen jene Furcht vor Herrschaft, Ordnung und Autorität verhöhnen und bannen, die das Zusammentreffen von Öffentlichkeit und politisch-kultureller Institution so häufig provoziert.10 Den eigentlichen Höhepunkt der Szene bildet der Auftritt der Queen. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits klar, in welchem Ausmaß die tugendhafte, aber auch zweideutige Moral und Lebensart der Viktorianer hier zum Gespött
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So stellt sich der Zuschauer an dieser Stelle etwa die Frage, ob mit der „biggest ant“ eventuell einer der politischen Führer der internationalen Arbeiterbewegung, z.B. Karl Marx oder Friedrich Engels, gemeint sein könnte. 9 Byron zufolge waren es die Kritiker der Tories, allen voran J.W. Croker, die Keats durch ihre aggressive Schelte zum Schweigen brachten. In Don Juan deutete Byron 1823 an, dass eine kämpferische Rezension Keats intellektuell vernichtet habe („snuff’d out by an article“ [Byron 1957: XI.60]). 10 Dieser Vorgang ist umso bemerkenswerter, als der Dichtung traditionell ein monologischer, die soziale Redevielfalt ausschließender Charakter unterstellt wird (vgl. etwa Bachtin 1979: 168-191). Als konzentrierter Ausdruck subjektiver Gestimmtheit sei sie Text/Rede ohne äußeren Verweischarakter, bringe Subjekt und Diskurs scheinbar referenzlogisch zur Deckung. Distinkte Genres wie der politische Vers, die humoristische Lyrik, Limerick und Kalauer etc. relativieren allerdings die Gültigkeit dieses Urteils. Zum Problem der Dialogizität in der Lyrik siehe allgemein Pordzik 1996: 46-52.
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werden. Den Gipfel der Satire vorbereitet haben kurz zuvor Tennysons Auftaktzeilen aus seinem berühmten Kriegsgedicht „Charge of the Light Brigade“ (1854). Ausgerechnet der ausschweifendste unter den Dichtern des 19. Jahrhunderts wird gleich zu Beginn harsch unterbrochen, noch bevor er die ersten zwei Verse hinter sich bringt. Und wo im Originaltext die Soldaten stolz für ihr Land und die Krone in den Krimkrieg marschierten („half a league, / half a league, onward“), schleichen sie jetzt nur noch „half an inch“ auf ihrem Weg voran. Da die traditionelle league einer Wegstunde entspricht (4,83 km), ein inch sich aber auf schmale 2,54 cm beläuft, sind damit recht eindringlich die bescheidenen Erfolge des englischen Militärs im Krimkrieg (1853-1856) benannt. Nicht weit ausholenden Schrittes marschieren sie dem Feind entgegen, sondern mit den trippelnden Bewegungen einer – Ameise. Damit liegt eine weitere Assoziation vor, die auf den Gegensinn der ursprünglichen Referenz verweist und so höchst einprägsam die patriotische Geste des Ursprungstexts entstellt und als ideologisch entlarvt! Auch in diesem frech abgewandelten Zitat, das sich als Replik auf bzw. Parodie eines der großen militaristischen Gedichte der Zeit zu erkennen gibt, steht mit dem Krimkrieg ein Ereignis am Pranger, das längst zu einer Anekdote des schleichenden Untergangs der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert metamorphosiert ist: ein nachwirkendes historisches Trauma der Briten und die wahrscheinlich erste mit modernen taktischen Mitteln geführte Materialschlacht, in der die Horrorszenarien und Monstrositäten des 20. Jahrhunderts sich schemenhaft andeuteten (vgl. Markovits 2009: 15). Die Parodie wendet damit ein weiteres Merkmal des karnevalesken Diskurses nach außen: seine ungeschminkte und leibhafte Zurschaustellung des Hässlichen und Verdorbenen sowie sein spürbar beißender Hohn gegenüber allem Unrecht und politisch sanktionierter Dummheit. Abbildung 2: Viktoria und ‚Prinz Albert‘
Quelle: © 2006 Python (Monty) Pictures Limited
Blickt man auf die Königin und ihren treuen Prinzgemahl, der den Anwesenden im Sarg ruhend einen Besuch abstattet, zeigt sich, dass hier ein besonders derber Spaß getrieben wird mit der Tatsache, dass die Queen ihre Trauer über den frühen Tod ihres Gatten täglich aufs Neue bühnenreif zu inszenieren verstand. Angeblich bewahrte sie sein Schlafgemach in genau der Form, in der er es zum letzten Mal betreten hatte, und wies die Hausange-
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stellten an, jeden Morgen das Waschwasser und die Bettbezüge zu erneuern (vgl. Darby/Smith 1983: 1-4; Weintraub 1997: 436). Berücksichtigt man zudem, dass Albert von Sachsen-Coburg, Herzog zu Sachsen, und seine Gattin Viktoria, Tochter des Herzogs von Kent und der Viktoria von Sachsen-Coburg-Saalfeld, zum alteingesessenen deutschen Adel zählten, löst sich der hier getriebene Spuk weiter auf: Auch die im Sketch von Michael Palin gespielte Monarchin hat ihre Probleme mit Insekten und ist sichtlich – wenn auch wenig überzeugend – bemüht, die Ameise (ant) nicht mit dem Endsieg (ent/end) zu verwechseln; England und das Deutsche Reich sind für sie offenbar schwer zu unterscheiden, der Eine des Anderen Untertan: „My loyal subjects, we are here today on a matter of national import. My late husband and we are […] disturbed by recent developments in literary style […] that have taken place here in Germany … err England. There seems to be an increasing tendency for ze ent… the ent… the ant… to become the dominant […] theme […] of modern poetry here in Germany. […] From now on, ants iss verboten. Instead it’s skylarks, daffodils, nightingales, light brigades […].“
In ihrer bizarren und burlesk verdrehten Ansprache nimmt die Queen jene fröhliche Relativität der Werte vorweg, mit deren Verkündung schon bald das Ende der bürgerlichen Epoche eingeläutet werden wird: Die Regentin spricht ein Machtwort und untersagt den englischen Poeten die Verwendung ihrer gebräuchlichen Bilder und Metaphern. In einem wunderbar komischen Schachzug wird dabei angedeutet, dass die Briten aufgrund ihres Hangs zur Empirie gar nicht in der Lage sind, schwärmerische Lyrik zu schreiben. Insofern sie überhaupt eine Passion für die Natur besitzen, beschränkt diese sich auf das Diesseitige, Profane und Unsentimentale. Die Natur wird – ganz britisch-pragmatischer common sense – stets von ihrer bedrohlichen Seite wahrgenommen und erkundet. Es bedarf schon des fachlichen Eingreifens ihrer (deutschen) Majestät, um die Dichter zu den sensiblen Themen finden zu lassen, die ihrer Version der Romantik schließlich zu Ruhm verhelfen sollten: Shelleys „Ode to a Skylark“, Wordsworths „Daffodils“ oder Keats’ „Ode to a Nightingale“, die in der Ansprache Viktorias anzitiert werden, verdeutlichen noch einmal die Quintessenz der Scharade, die hier zur Aufführung gelangt: Erst muss eine deutschstämmige Königin auf den Plan treten, um den barbarischen Engländern die Poesie beizubringen! Es fällt schwer, sich eine größere Provokation der englischen Öffentlichkeit in den 70er Jahren vorzustellen – einer Öffentlichkeit, die nach der Erniedrigung des Angriffskrieges auch noch die Schmach des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs Deutschlands bei gleichzeitigem Niedergang der eigenen Industrien mit ansehen musste. Der Stachel gegenseitiger Nichtanerkennung sitzt tief und die radikale Zuspitzung der kulturellen Gegensätze trägt in der Umkehrung ihren Teil dazu bei, die Pointen besonders schmerzhaft ausfallen zu lassen. Die leichtfüßig dahin gemurmelte Abschiedsfloskel „God bless you alles“ etwa ruft den Slogan „Deutschland über alles“ in Erinnerung, mit dem
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seit dem 19. Jahrhundert patriotische Gefühle bedient und verstärkt werden; und wenn die Königin sich am Ende wortreich verabschiedet – „Well, we must away now or we shall be late for the races“ –, dann rufen auch diese doppelt-kodierten Worte zum Abschluss noch einmal unbequeme Erinnerungen an großdeutschen Rassismus und Herrschaftswahn wach.
5 K ARNEVAL DER S TIMMEN : D ER F ILM /T EXT ALS SEMIOTISCHES F EST Mit Blick auf die kulturelle Grammatik des Karnevals, die immer neue Techniken der Umkehrung, Unterminierung und Profanation zur Anwendung bringt (vgl. Lachmann 1990: 226), sind die Zuspitzungen dieser starken Pointen allerdings unproblematisch; gerade in der Ausreizung und Überstrapazierung der gewählten Themen besteht ja die besondere Kunst des in den „Text versenkten Karnevals“ (ebd.: 257). Seine Macht als Schreib- und Schöpfungsakt gewinnt er aus dem Umstand, dass er Niederes und Hochstehendes im Komischen einander anzunähern und zu verknüpfen weiß, dass er das Schändliche und Miserable adelt, alles Vornehme und Erlesene im selben Atemzug aber erniedrigt. Dabei produziert er unentwegt ‚Lachtexte‘, die sich der ernsten und feierlichen Gebrauchs- und Verstandessprache der gesellschaftlichen Norm widersetzen. Er stemmt sich gegen die Agelasten – die Feinde des Lachens –, um das therapeutische, die Grenzen und Normen sprengende und Menschen verbindende Lachen in seinen Wirkungen und Effekten zu stärken. Noch in der Bekräftigung des Trivialen und Niedrigen liegt somit die Erwartung einer universalen utopischen Botschaft, denn mit der Zote verbindet sich auch das Moment der Entlastung und Entspannung, das die etablierten Denkmuster sprengt, das Individuum vorübergehend von seinen Pflichten und Auferlegungen befreit,11 durch Mehrstimmigkeit und innere Überlagerung der Wörter (Shelley/Sherry, ant/ent etc.) zum Dialog anregt und in psychologischer Hinsicht eine Tendenz aufweist, durch den spontanen Witz, durch das Spiel mit dem Wortzeichen, seinem Klang und seiner materiellen Lautdimension, einen regressiven Trieb im Zuschauer zu befriedigen, der sonst unterdrückt werden müsste. Schon Freud wies darauf hin, dass der Mensch die Sprache spielerisch „durch Anhängsel verunstaltet“ (Freud 1970: 119) und „Dingassoziationen durch Wortassoziationen“ (ebd.: 121) ersetzt, um „sich über die erlernten Einschränkungen im Gebrauch der Worte hinwegzusetzen“ (ebd.: 119). In
11 Damit ist konkret die von Julia Kristeva formulierte Einsicht gemeint, der Karneval hebe die offizielle Ordnung der Symbole, Gesetze und Handlungen nur vorübergehend, im Sinne einer „Pseudo-Überschreitung“ (Lachmann 1990: 233), auf, die das gültige soziale Gesetz noch im Zuge seiner Überschreitung bestätigt, ja ihm sogar in negativer Weise verhaftet bleibt.
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der Sprache des Karnevals ließe sich diese den Status quo negierende Arbeit am ‚lebendigen‘ Begriff auch als eine spezifische kulturelle Praxis verstehen, die letztlich dem ästhetischen Diskurs vorbehalten ist: „Und so reicht die Lachkultur die Petrifikate der Institutionen in einem gleichsam aufgefrischten, erneuerten Zustand an diese zurück.“ (Lachmann 1990: 237) Die genannten Aspekte treten in „Poetry Reading (Ants)“ (und darüber hinaus in zahlreichen anderen Sketchen Monty Pythons) deutlich erkennbar zu Tage und ihre Spuren und Mechanismen lassen sich bis in die kapillaren Details der Umsetzung hinein verfolgen.12 Als unzweideutig karnevalesk disponiertes Ensemble trachten Monty Python nicht danach, gesellschaftliche bzw. politische Fraktionen gegeneinander auszuspielen oder sich mit einschlägiger Kritik an Ereignissen und Problemen zu begnügen, die Menschen zu irgendeiner Zeit beschäftigt haben mögen. Ihre Stoßrichtung ist vielmehr universeller Natur, denn ihre Kritik setzt an den Diskursen selbst an, die im Rahmen der gesellschaftlich-symbolischen Gesetze Kontrolle ausüben und bestehende Machtverhältnisse sichern. Ihre permanente Konzentration auf die Sprache selbst, auf die Materialdimension des Lauts, die Ähnlichkeit und Wortassoziation, das niedere und spontane Sprechen – all dies weckt im Zuschauer das Bedürfnis, sich mit der Rede selbst, mit den Strukturen und Ursachen des Diskurses, der Denken überhaupt erst generiert, auseinanderzusetzen. Der Zuschauer findet sich so eingebunden in ein Denkmodell fröhlich-anarchischen Ausstandes und ideologischer Relativität, das außerhalb der offiziell akkreditierten Strukturen von Sinn, Kohärenz und Repräsentation angesiedelt ist und gerade deshalb jede Möglichkeit der Erfahrung von Vollständigkeit und Einheit – Einheit im Denken, in der Kritik, im Sprechen und Fühlen – in Abrede stellt. Damit ist zugleich die Tiefendimension der Komik bei Monty Python markiert: Sie gibt sich zu erkennen als eine unvollendete und „unendliche Praxis“ (Kristeva 1978: 110) des linguistisch-ästhetischen Spiels, die das Leben des Heteromorphen und Vielstimmigen gegen das Eine und Monologische zu verteidigen und damit gegen jede einsinnige und hierarchische Form diskursiver Herrschaft überhaupt zu behaupten weiß. Dieses vielgestaltige, auf das Lachen, auf die Exzentrik, auf das Profane und Theatralische abzielende Verfahren im Sinne einer spezifischen, dem geeigneten Objekt zugewandten Kritik zurechtzurücken, muss sich der kritische Zuschauer deshalb versagen. Monty Python erweisen ihrem Publikum darin eine Ehre, dass sie den repressed signifier, das aus den Diskursen an den Rand gedrängte und zensierte Sprechen, in den öffentlichen Bereich und damit in die diskursive Mitte zurückholen. Ih-
12 Zur zentralen, hier jedoch nur am Rande beachteten Rolle des Körpers und seiner Ausdrucksformen im Rahmen des Karnevalsparadigmas, zum Zusammenspiel von Physis und Zeichen, von sõma (ı ޒȝĮ) und sͅma (ı ݨȝĮ), Trieb und Gesetz vgl. insb. Pordzik 2010. Bachtin selbst, so Renate Lachmann, liest die Karnevalspraxis „wie die Realisierung eines Mythos, dessen Fokus der Körper ist“ (Lachmann 1990: 249).
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re Totalverausgabung im grotesken Sketch, ihr ‚schwarzes Fest‘, ist aufgeschobenes Ende und letztes Wort zugleich, ist ein immer neu gefundener, aufgeführter und unvollendeter Text, der sich als vorübergehende Unterbrechung der täglichen Norm und Monotonie gegen die Wiederholung, gegen das Althergebrachte stemmt und sich in seinem Drang nach Wallung und Phrenesie, nach Überwindung gültiger sozialer Normen und Einschränkungen, immer wieder selbst überbietet.13
L ITERATUR Armstrong, Isobel (2006): Victorian Poetry: Poetry, Poetics and Politics, London: Routledge. Bachtin, Michail (1979): Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bachtin, Michail (1988): Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bate, Jonathan (1991): Romantic Ecology: Wordsworth and the Environmental Tradition, London: Routledge. Byron, George Gordon (1957): Byron’s Don Juan, Vol. III: A Variorum Edition: Cantos VI-XVII (hg. von Truman Guy Steffan/Willis W. Pratt), Austin: U of Texas P/Edinburgh: Thomas Nelson & Sons. Caillois, Roger (1988 [1950]): Der Mensch und das Heilige, München: Hanser. Clare, John (1821): The Village Minstrel, and Other Poems, Vol. 2, London: Taylor and Hessey/Stamford: E. Drury. Darby, Elizabeth/Smith, Nicola (1983): The Cult of the Prince Consort, New Haven: Yale UP. De Rougemont, Denis (1956): Passion and Society, London: Faber & Faber. Freud, Sigmund (1970 [1905]): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, in: Studienausgabe, Bd. 4: Psychologische Schriften, Frankfurt a.M.: Fischer. Freud, Sigmund (1974 [1912-1913]): Totem und Tabu, in: Studienausgabe, Bd. 9: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt a.M.: Fischer. Fulford, Tim (2001): „Wordsworth’s ‚The Haunted Tree‘ and the Sexual Politics of Landscape“, in: James McKusick (Hg.), Romantic Circles Praxis Series: Romanticism & Ecology, http://www.rc.umd.edu/praxis/ ecology/fulford/fulford.html vom 22.02.2011. Jakobson, Roman (1989): Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
13 Zum Fest als Exzess und Überschreitung eines Verbots sowie zu seinen kulturellen Verbindungen mit dem Karneval vgl. Freud 1974: 425; Lachmann 1990: 247250; Caillois 1988: 127-130.
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Kristeva, Julia (1978): Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lachmann, Renate (1990): Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Markovits, Stefanie (2009): The Crimean War in the British Imagination, Cambridge: Cambridge UP. Pordzik, Ralph (1996): Signaturen der Postmoderne. Lyrik als Paradigma postmoderner Literatur, Essen: Die blaue Eule. Pordzik, Ralph (2010): „Affective Performatives: Monty Python’s Comic Deconstruction of Post-Imperial Discourse“, in: Anglistik: International Journal of English Studies 21.1, S. 141-157. Starobinski, Jean (1980): Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, Frankfurt a.M.: Ullstein. Strachan, Gordon (2008): Prophets of Nature: Green Spirituality in Romantic Poetry and Painting, Edinburgh: Floris Books. Tennyson, Alfred Lord (2004 [1850]): In Memoriam (hg. von Erik Gray), New York: Norton. Weintraub, Stanley (1997): Albert: Uncrowned King, London: John Murray.
F ILM Monty Python’s Flying Circus, Season 4 (2006) (GB, R: Ian MacNaughton/ John Howard Davies)
Signifikante Körper Humor als emergentes Phänomen in Little Britain W OLFGANG F UNK Le rire est une affaire trop sérieuse pour être laissée aux comiques. (GEORGES MINOIS)
E INFÜHRUNG : D IE S CHLACHT
UM
L ITTLE B RITAIN
Die Bewohner Großbritanniens werden vor allem aus deutscher Perspektive gerne wegen ihres Humors bewundert und beneidet. Die Fähigkeit, verwunderliche Eigenheiten (oft auch mit dem englischen Lehnwort ‚Spleen‘ bezeichnet) zu nationalen Identifikationsmerkmalen zu stilisieren, sich mittels augenzwinkernder Selbstironie über eigene Schwächen (hier sei die mittlerweile beide Geschlechter betreffende Unfähigkeit genannt, aus elf Metern ein Fußballtor zu treffen) und Beeinträchtigungen (z.B. klimatischer Art) zu erheben, nötigt ‚kontinentalen‘ Besuchern seit jeher kopfschüttelnden Respekt ab. Doch die Fähigkeit, auch in der größten Bedrängnis den Humor nicht zu verlieren, speist nicht nur heterostereotype Sichtweisen auf das Vereinigte Königreich, sondern ist auch ein unverrückbarer Bestandteil des Eigenbildes der Inselbewohner. Alan Bennett, der wie kaum ein anderer diese leicht schrullige aber doch liebenswerte und immer ironisch gebrochene Britishness verkörpert, erklärt diese Selbstdistanzierung sogar zum nationalen Erbe1 und in ihrer gründlichen und lesenswerten soziologischen Betrachtung erhebt Kate Fox den (in diesem Fall speziell) englischen2 Humor gar in
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„An ironic attitude towards one’s country and a scepticism about one’s heritage is a part of that heritage.“ (In Milsted 2001: 81) Obwohl schon der Titel Little Britain die begrifflichen Grenzen in Unordnung bringt, wird in diesem Aufsatz versucht, zwischen England, Großbritannien (England + Schottland + Wales), dem Vereinigten Königreich (Großbritannien + Nordirland) und den britischen Inseln (Vereinigtes Königreich + Republik Ir-
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den Rang eines Naturgesetzes: „For the English, the rules of humour are the cultural equivalent of natural laws – we obey them automatically, rather in the way that we obey the law of gravity.“ (Fox 2004: 62) Vor einigen Jahren entbrannte nun jedoch eine hitzige Debatte darüber, wie diese Regeln denn genau auszulegen seien; eine Debatte, die sich nicht überraschend vor allem an Fragen von sozialer Klasse und nationaler Identität entzündete. Auslöser dieser streckenweise nicht gerade mit der wohlbekannten britischen Zurückhaltung (understatement) geführten Auseinandersetzung war die TV-Sketchshow Little Britain (2003-2006) der beiden Komiker Matt Lucas und David Walliams, die ihr Dasein 2001 als Radioprogramm auf BBC Radio 4 begann, zwei Jahre später den medialen Wechsel zum Fernsehen vollzog (Staffeln 1 und 2 gezeigt auf BBC Three, Staffel 3 auf BBC One) und dort schnell zu einem der erfolgreichsten Formate in der Geschichte der ehrwürdigen British Broadcasting Company aufstieg, ausgezeichnet mit drei BAFTA Awards (British Academy for Film and Television Art) und mit einem Rekordpublikum von zehn Millionen Zuschauern zu Spitzenzeiten (vgl. Barrell 2006). Die immense Popularität einzelner Charaktere (Vicky Pollard, Andy Pipkin, Daffyd Thomas) und deren catchphrases führte sogar dazu, dass die Show „one of the most publicly recognised brand images of the twenty-first century“ (Lockyer 2010b: 3) wurde. Die kritischen Reaktionen auf Little Britain fielen ungewöhnlich heftig aus: Während die einen die Show als willkommen unkorrekten, parodistischen und ultimativ dekonstruktivistischen Angriff auf die Selbstgerechtigkeit britischer Identitätskonstruktionen feierten,3 sahen andere in der einseitigen und oftmals extremen Dar- und Zurschaustellung gesellschaftlich vermeintlich benachteiligter Individuen die Grenzen des guten Geschmacks massiv überschritten und attackierten Lucas und Walliams für ihre erbarmungslose Ausbeutung und Weiterschreibung kollektiver Vorurteile durch die groteske Verunglimpfung und Pauschalisierung von sozial (weiße Arbeiterklasse), körperlich und psychisch (Behinderte, Übergewichtige) sowie sexuell (Homosexuelle, Transvestiten) marginalisierten Identitäten.4
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land) zu unterscheiden. George Mikes schreibt dazu: „When people say England, they sometimes mean Great Britain, sometimes the United Kingdom, sometimes the British Isles – but never England.“ (Mikes 1946: 14) Teeman beispielsweise nennt Little Britain „a seaside postcard featuring seagull poo rather than sandy beaches [which] takes on British foibles and stereotypes and colours them in with a highlighter“ (Teeman 2005). Sedlmayr hebt in ähnlicher Weise den ikonoklastischen Wert der Serie hervor, wenn er erklärt, Litle Britain ermögliche „a peep underneath Britannia’s cloak, disarming her of shield, helmet and trident, depriving her of her symbolic value“ (Sedlmayr 2008: 17). So bezeichnet der vielfach preisgekrönte, jüngst jedoch durch Plagiatsvorwürfe ins Gespräch gekommene Journalist Johann Hari Little Britain als „vehicle for two rich kids to make themselves into multimillionaires by mocking the weakest
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Ich möchte mich im vorliegenden Artikel einer moralischen Bewertung des Phänomens Little Britain weitgehend enthalten und mich stattdessen einer funktionalen und ästhetischen Analyse des Humors widmen, an dem sich die kritischen Geister so spektakulär scheiden. Die Repräsentation und Bewertung von Humor fungiert nach Pfister immer schon als Maßstab für die inneren Spannungen und Ängste einer Kulturgemeinschaft (vgl. Pfister 2002: vii),5 in ihm spiegeln sich Identifikations- wie Ausgrenzungsprozesse, er hält die Gesellschaft zusammen und offenbart ihre internen Machtstrukturen (vgl. Berger 1997: 57). Es wird deutlich werden, dass die zur Verfügung stehenden Begrifflichkeiten und Erklärungsmodelle allerdings nicht hinreichen, um dem Humor in Little Britain Rechnung zu tragen. Daher wird in diesem Aufsatz versucht, Humor als emergentes Phänomen zu verstehen, das seine Verortung im unaufhörlichen Eindringen des (grotesk und entgrenzt) Körperlichen in die Ordnung traditioneller Referenzrahmen und Diskurse hat. Dieser Primat des Körperlichen offenbart traditionelle Identifikationskategorien wie „Geschlecht“, „Nation“ und „Normalität“ als diskursiv konstruierte Fiktionen und eröffnet gleichzeitig Strategien zu deren Zersetzung.
E MERGENZ , H UMOR
UND
K ÖRPERLICHKEIT
Den meisten theoretischen Abhandlungen, die sich mit dem Thema Humor beschäftigen, ist ein einführendes caveat vorangestellt, das die Flüchtigkeit und Ungreifbarkeit des Untersuchungsgegenstandes hervorhebt. Dennoch mangelt es nicht an Versuchen, die mannigfaltigen Erscheinungsformen des Komischen in Typologien zu zwängen, wobei stets die Erkenntnis zu Grunde gelegt wird, dass es sich bei Humor zwar um eine unabänderliche anthro-
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people in Britain“ (Hari 2005), sucht die Schuld für diesen Erfolg jedoch letztlich in der voyeuristischen und überheblichen Haltung der britischen Fernsehöffentlichkeit, für die Little Britain einen willkommenen „excuse to mock the vulnerable“ (ebd.) darstelle. Finding erkennt in den grotesken Darstellungen speziell des weiblichen Körpers einen post-feministischen Ansatz, der den Deckmantel postmoderner Ironie dazu nutzt, in höchstem Maße reaktionäre gender-Rollen und Körperbilder aufzuwerten (vgl. Finding 2010: 133). Pfister hebt dabei hervor, dass die jeweiligen Machtstrukturen, die sich in den humoristischen Formen äußern, sehr unterschiedlich sein können: „[I]n one society, the predominant form of laughter can be that which aims from the site of the ideological or power centre at that which is to be marginalised or excluded altogether; in another, the most significant form of laughter can arise from the margins, challenging and subverting the established orthodoxies, authorities and hierarchies.“ (Pfister 2002: vi)
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pologische Größe handelt,6 die aber in immer neuen historischen und gesellschaftlichen Kontexten verhandelt wird (vgl. z.B. Berger 1997: x; Horlacher 2009: 22). Eine der wirkmächtigsten Typologien geht von der phänomenologischen Erscheinung des Lachens als konkreter Manifestation von Humor aus und arbeitet drei Haupttypen heraus, denen jeweils einschlägige Theorien zugeordnet werden können (vgl. hierzu Morreall 1987: 129-131): • • •
Lachen als Geste der Überlegenheit (Superioritäts-Hypothese): Platon, Hobbes, Bergson u.a. Lachen als Reaktion auf epistemologische Unvereinbarkeit (Inkongruenz-Hypothese): Hutcheson, Kant, Peter L. Berger u.a. Lachen als kontrollierter Abbau überschüssiger emotioneller Energie (Befreiungs-Hypothese): Freud.
Mit Anton Zijderveld, der seine Typologie explizit auf den Humor ausrichtet, lässt sich hier noch Lachen/Humor als Ergebnis des menschlichen Spieltriebs im Sinne Huizingas (homo ludens) ergänzen (vgl. Zijderveld 1983: 8). Eine solche Typologie trägt nun tatsächlich den allermeisten Erscheinungsformen menschlichen Lachens und somit den zu Grunde liegenden Humorstrategien Rechnung und ließe sich auch problemlos auf eine Analyse von Little Britain anwenden. Doch damit ist meines Erachtens der ästhetische Anspruch und auch der große Erfolg dieser Serie nicht vollständig zu erklären. Daher möchte ich in diesem Aufsatz versuchen, den Humor in Little Britain als emergentes Phänomen zu formulieren. Mit dem Begriff Emergenz wird in der Systemtheorie die Erscheinung beschrieben, dass in komplexen Systemen häufig unerwartete Neukombinationen und Entwicklungen zu beobachten sind, die sich nicht aus der Betrachtung der einzelnen Komponenten dieses Systems erschließen lassen (vgl. Goldstein 1999: 49)7. Im Falle von Little Britain lässt sich diese Emergenz, verstanden als Missverhältnis von symbolischen Interaktionen und deren Interpretation, auf einen unberechenbaren Einfluss des Körperlichen zurückführen, das immer wieder in die symbolische Ordnung des Diskurses eindringt und diese zerrüttet und als absurd enttarnt. Helmuth Plessner stellt in seiner epochalen Untersuchung über Lachen und Weinen diese Verhaltensweisen als beispielhafte Manifestation eines typisch menschlichen Dualismus dar, da in ihnen gleichzeitig das Körper-Sein und das Körper-Haben erfahrbar wird (vgl. Plessner 1941: 37) und sie ihren Ausdruckswert somit in einem „Verlust der
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Vgl. hierzu Aristoteles’ Bemerkung in De partibus animalium: „Als einziges der Lebewesen lacht der Mensch.“ (In Horlacher 2009: 24) „Emergence refers to the arising of novel and coherent structures, patterns, and properties during the process of self-organization in complex systems.“ Beispiele für emergente Strukturen und Prozesse sind unter anderem die Evolution (vgl. Blitz 1992) und die menschliche Sprache (vgl. Logan 2007).
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Beherrschung im Ganzen“ (ebd.: 74) erhalten.8 Ich möchte diese Erkenntnis von der phänomenologischen Kategorie des Lachens auf die ästhetische Kategorie des Humors ausweiten und anhand der nun folgenden Analysen nachweisen, dass der Humor in Little Britain eben genau dieser wesentlichen Paradoxie des menschlichen Daseins als zugleich geistig-symbolisch und körperlich entspringt. Es wird deutlich werden, dass eine letztgültige Interpretation (und damit auch moralische Bewertung) dieses emergenten Humors dadurch strukturell unmöglich wird, dass die Irreduzibilität und Entgrenztheit des (z.T. höchst grotesken) menschlichen Körpers sich dem Positivismus diskursiver Wahrheiten entgegenstemmt. Die Diskussion um die Interpretationshoheit über Little Britain ist weit mehr als nur die Frage, über was und wen man heute lachen darf. Die Bestimmung, was warum als humorvoll gelten kann, beinhaltet in diesem Fall eine grundsätzlichere epistemologische Dimension, die letztendlich mit der nach-postmodernen Neuordnung diskursiver Kategorien zusammenfällt. Die Heftigkeit der Auseinandersetzung ist in diesem Zusammenhang Anzeichen dafür, wie fundamental die zu verhandelnde Sache ist – und wie konträr die Sichtweisen. Während Matt Lucas selbst die Vielfältigkeit und Integrativität der Identitäten preist, die in Little Britain unter der nationalen Klammer (Klein-)Britanniens zusammengefügt sind (vgl. Barrell 2006),9 bezeichnet die Fabian Society die Serie und insbesondere die Darstellung von Vicky Pollard als „middle class hatred of the white working class, pure and simple“ (Fabian Society). Es steht also einiges auf dem Spiel, und nicht nur weil viele der catch-phrases aus Little Britain – Vicky Pollards „Yeahbutnobutyeah“, Daffyd Thomas’ „I’m the only gay in the village“ oder Emily Howards „I’m a lady“, um nur einige zu nennen – mittlerweile fester Bestandteil der britischen Alltagssprache geworden sind.10 Es geht um eine allgemeine Sicht auf die Welt, um die Frage, mit welchen Kategorien, wenn überhaupt, sich die menschliche Existenz im 21. Jahrhundert beschreiben lässt. Bevor ich mich auf diese ontologischen Fragen einlassen kann, möchte ich zuerst anhand ausgewählter Beispiele aufzeigen, wie Little Britain klassische Kategorien menschlicher Identifikation systematisch dekonstruiert und ad absurdum führt.
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Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kampers und Wulfs Konzept vom Lachen als ‚unerschöpflichem Ausdruck‘: „Im Lachen wird das Ich vom Ich befreit.“ (Kamper/Wulf 1986: 8) 9 Barrell zitiert Lucas mit den Worten: „The concept of the show is that we’re everybody – tall, short, fat, thin, black, white, straight, gay, man, woman, whatever.“ (Barrell 2006) 10 Barrell weiß sogar von einer Grundschule zu berichten, in der der Unterricht zeitweise unterbrochen wurde, weil die Schüler auf jede Frage des Lehrkörpers mit Carol Beers Standardantwort „Computer says no“ antworteten (vgl. Barrell 2006).
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K ÖRPERSPRACHEN : L ITTLE B RITAIN G RENZEN DER R EFERENZ
UND DIE
Das Funktionieren sprachlicher Konventionen, d.h. die Übereinkunft, dass ein gewisses Sprachzeichen mit einer klar benannten außersprachlichen Wirklichkeit korreliert, ist die Grundvoraussetzung für jede Form von Kategorisierung und Identifikation, da – wie Lacan überzeugend nachgewiesen hat – die Subjektwerdung (also die Bewusstwerdung des eigenen Ichs) des Kindes sich in der ‚Ordnung des Symbolischen‘, und somit in einer durch sprachliche Mechanismen vorgegebenen Struktur, vollzieht. Es wundert daher kaum, dass in zahlreichen Sketchen Sprache als sinnstiftendes Medium menschlicher Interaktion als bestenfalls inadäquat und oftmals als vollständig sinnlos entlarvt wird. Man könnte sagen, dass die Enthüllung (oft im wörtlichen Sinn) der jeder Kommunikation inhärenten Absurdität ein essentielles Leitmotiv der Komik in Little Britain darstellt. Aus dem Off leitet die Stimme des als Darsteller des legendären Dr. Who berühmt gewordenen Tom Baker jede Episode ein und schlägt narrative Brücken zwischen den einzelnen Sketchen. Narratologisch gesehen fungiert Baker damit als auktorialer Erzähler und bürgt in dieser Rolle eigentlich für die Wahrhaftigkeit des Geschilderten. Doch er nutzt diesen quasisystemischen Vertrauensvorschuss nicht nur dazu, nationale Stereotype zu demontieren (siehe unten), sondern dekonstruiert häufig das referentielle System Sprache an sich. Die Zeit- und Ortsangaben, die die einzelnen Sketche scheinbar in Zeit und Raum verankern, garantieren hier keineswegs dokumentarische Exaktheit, sondern entpuppen sich als absurde und somit positivistisch völlig unbrauchbare Zeichen: „[O]ne two o’clock“ (I, 5; 2004: 141)11, „early late afternoon morning“ (III, 3; 2006: 94) oder „a crisp Octember morning in Bruise“ (III, 3; 2006: 140) sind nur einige Beispiele dafür, wie sprachliche Genauigkeit (die ja gerade für Zeitangaben normalerweise ein unabdingbares Kriterium ist) mit den eigenen Mitteln auf der Ebene der narration desavouiert wird, was das Geschehen der histoire (Genettes Terminologie) gleichsam der Einmaligkeit in Zeit und Raum entreißt und ihm dadurch eine universelle Gültigkeit verleiht. Bakers Interventionen entlarven jedoch nicht nur den referentiellen Wert von Sprache als Illusion; seine oftmals tautologischen ‚Sprachphilosophien‘ können als Exempel für Derridas Erkenntnis der ewig iterativen Natur jedes Sprachzeichens und der daraus abgeleiteten unhintergehbaren différance zwischen Referenz und Wirklichkeit dienen: Die Aussagen „[o]nly last week I found an old bonfire I never use and put that on the bonfire“ (I, 8; 2004: 232) und „[i]f people in Britain want to buy a pet, they go to a pet shop. If they want
11 Die Quellenbezeichnungen für Little Britain beziehen sich jeweils auf (in dieser Reihenfolge): Staffel, Episode; Erscheinungsjahr der Drehbücher (siehe Literaturverzeichnis unter Lucas und Walliams): Seitenzahl dort.
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to buy a pet shop, they go to a pet shop shop. If they want to buy a pet shop shop, they’re just being silly“ (I, 5; 2004: 135) mögen als Beispiele genügen. Sir Norman Fry, MP, in der dritten Staffel eingeführt als Karikatur des scheinbar grundsoliden Familienmenschen und Politikers, muss wiederholt die Erfahrung machen, dass sprachliche Genauigkeit als diskurslenkendes Mittel versagt, wenn der kontextuelle Rahmen gesprengt ist. So tritt er z.B. begleitet von seiner Familie mit folgendem Statement vor die Presse: „On Monday night, following a long meeting with the Chancellor, I needed to go to the toilet, so I went to one that I knew would be open at three in the morning on Hampstead Heath. Upon my arrival I met two men – Carlos and Eduardo – who invited me into their cubicle to talk to them about government policy. Unfortunately, I slipped on the wet floor and became sandwiched between the two men in a position that the arresting officer informed me is known as a spit roast.“ (III, 3; 2006: 108)
Hinsichtlich des kontextuellen Hintergrundes (Familienidyll, gekieste Auffahrt zu Fachwerkanwesen) sind es weniger die offenkundigen Lügen Sir Normans (das Gespräch über Politik mit Carlos und Eduardo) als die formale Akkuratesse seines Berichts (gewährleistet durch in diesem Fall ‚korrekte‘ Raum-, Zeit- und Positionsangaben), die den kommunikativen Erwartungsrahmen sprengen. Dies ist nicht nur eine zynische Betrachtung des zeitgenössischen Politikbetriebs (wo die Lüge als Kommunikationsmodus vorgegeben scheint), sondern offenbart darüber hinaus die Untauglichkeit von Sprache, ontologisch zwischen Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden. Auch die Kommunikation zwischen einzelnen Charakteren in Little Britain implodiert regelmäßig. Dies ist zum Teil der Doppeldeutigkeit von Sprachzeichen geschuldet, wie in folgender Szene: „MATTHEW: I come in (PAUSE. WATERHOUSE THINKS.) Bear with me. PAUSE JOAN: Well? MATTHEW: I just told you. I come in and there’s a bear with me.“ (I, 4; 2004: 108)
Ein weiteres Beispiel für die Unzulänglichkeit von referentieller Sprache sind die Verkaufsgespräche zwischen Roy und Mr. Mann (dem Namen und der Erscheinung nach ein klassischer ‚Jedermann‘), die deutlich Zeugnis davon ablegen, dass auch die akkuratesten Sprachzeichen angesichts der Vielschichtigkeit der Realität kapitulieren müssen und (wieder im Sinne Derridas) niemals die différance zur außersprachlichen Wirklichkeit überbrücken können: „MR MANN: I am looking to buy a picture of a disappointed horse. […] ROY: How about this one?
116 | W OLFGANG F UNK MR MANN: That horse looks more perturbed than disappointed. ROY: Right. (HE SELECTS ANOTHER) This one? MR MANN: The horse looks disappointed but not because it received bad news. It looks more like it was disappointed because it had high expectations in life that had remained unfulfilled. ROY: Now you say it, yes. (HE REVEALS A THIRD PAINTING) How about this one? MR MANN: I can see the disappointment. I can see the frustration but I can also sense a flicker of hope that things may get better for this horse and that really isn’t what I’m looking for.“ (III, 2; 2006: 77f.)
Oft ist es der Einbruch einer radikalen Körperlichkeit, der den Zusammenbruch der Kommunikation bewirkt; im Sinne Lacans könnte man vom Einbruch des Realen in die Ordnung des Symbolischen sprechen. Hier wäre insbesondere Harvey Pincher zu nennen, ein ca. 30-jähriger Spross aus gutbürgerlichem Hause, der sein Hungergefühl durch die Verlautbarung „Bitty!“ kundtut, um dann sofort an die Brust der Mutter gelegt zu werden, was regelmäßig zur Desintegration des laufenden Gesprächs führt (vgl. z.B. II, 1; 2005: 34f.). Auch Mrs. Emery (die in der dritten Staffel eingeführt und häufig als ultimative Verletzung jeden guten Geschmacks zitiert wird) fällt in diese Kategorie. Die ansonsten offenbar körperlich und geistig fitte Rentnerin wird an den unterschiedlichsten Orten von exorbitanten Anfällen von Inkontinenz überrascht, was es für ihre jeweiligen Gesprächspartner unmöglich macht, die Kommunikation sinnvoll fortzuführen: „AT THIS MOMENT, WITHOUT BATTING AN EYELID, MRS EMERY STARTS PEEING HEAVILY ON THE FLOOR, AS IF SOMEBODY WAS POURING A BUCKET OUT FROM BETWEEN HER LEGS.
SHE MAINTAINS EYE CONTACT, WHILE JUNE LOOKS
PERTURBED.
MRS EMERY: Did you meet the new vicar that day? JUNE: (STARING DOWN) Y-yes. Yes. MRS EMERY: Very nice, isn’t he? Young for a vicar but very very nice. Lovely smile. JUNE STARTS TO BACK OFF, AS MRS EMERY’S SEEMINGLY ENDLESS PEE CONTINUES TO FLOW. JUNE: Yes, he was nice.“ (III, 1; 2006: 24)
Mrs. Emery wird häufig zusammen mit Bubbles DeVere (samt ihrer in Staffel 3 eingeführten Rivalin Desiree) als offenkundigste Illustration für die latente (und manchmal vielleicht auch gar nicht so latente) Misogynie von Little Britain angeführt.12 Möglicherweise ist dies jedoch – legt man Lacan
12 Vgl. hierzu Johann Hari, der schreibt: „Dozens of sketches hinge upon the ugliness of female flesh, and barely a woman is shown without the actors playing her being padded into monstrous fat-suits. It’s hard to escape the conclusion this is a gay man’s woman-hatred with a laughter track, a sketch-long recoil from breasts
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und die von ihm beeinflussten Feministinnen Luce Irigaray und Hélène Cixous zu Grunde – ein etwas vorschnelles Urteil, da es doch gerade die weibliche Körperlichkeit und das Abjekte (im Sinne Kristevas) ist, das als einzig möglicher Gegenentwurf zu dem auf dem ‚Gesetz des Vaters‘ (nom du père) basierenden patriarchalen Diskurs verstanden wird. Der Einsatz von exzessiver Körperlichkeit und weiblichen Körperflüssigkeiten wäre demnach ein Mittel, die Sprache als patriarchal geprägtes Referenzsystem außer Kraft zu setzen und Bubbles und Mrs. Emery ließen sich unerwartet als Vorkämpferinnen eines feministischen Diskurses konstruieren.13 Welch paradoxe Welt Little Britain doch ist.
G RO SS BRITANNIENS KLEINE G ESCHICHTE ( N ): M AGGIE & J UDY , T OM B AKER UND DER NATIONALE D ISKURS Schon allein durch seinen Titel verweist Little Britain zweideutig auf die komplexe Fragestellung um eine wie auch immer geartete Britishness und deutet durch die implizierte Vermischung von Great Britain und Little England14 schon deren Zersetzung an. Während zahlreiche nicht-verbale Signifikanten (häufige Verwendung des Union Jack im Vorspann jeder Episode, Aufmachung der DVDs und Drehbücher in den Farben Großbritanniens, traditionelle Symbole für Britishness wie Tee, grüne Landschaften etc.) diesen nationalen Diskurs bewusst evozieren (vgl. Sedlmayr 2008: 12), konterkariert Tom Bakers begleitender Kommentar diese Bilder mit abstrusen Behauptungen wie „[d]iscovered by Sir Henry Britain in 16010 [sic]. Sold to Germany a year later for a Pfennig and the promise of a kiss. Destroyed in
and vaginas“ (Hari 2005), oder Deborah Findings oben erwähnte Einordnung von Little Britain in den Diskurs des Post-Feminismus (vgl. Finding 2010: 126). 13 In diesem Zusammenhang lohnt es sich auch zu erwähnen, dass es Bubbles durchaus gelingt, materielle Vorteile aus ihrer grotesken Körperlichkeit zu ziehen. Konfrontiert mit den nackten Fleischbergen und den eindeutigen Angeboten zum Vollzug des ultimativen körperlichen Aktes, verzichtet Mr. Hutton, der Manager des Luxusresorts, das Bubbles schon monatelang bewohnt, auf die eben noch so wesentlich scheinende Begleichung ihrer Schulden (vgl. II, 1; 2005: 17f.). Als verheirateter Mann in korrekt geschnittenem Anzug und Krawatte geradezu das Sinnbild patriarchalischer Ordnung hat Mr. Hutton der entgrenzten Körperlichkeit der selbstverständlich geschiedenen Bubbles weder körperlich noch symbolisch etwas entgegenzusetzen. 14 Während Great Britain die imperiale, multikulturelle Geschichte des Vereinigten Königreichs konnotiert, bezeichnet der Begriff Little England ein autochthones, insulares (vielleicht sogar fremdenfeindliches), auf merry old England abzielendes nationales Selbstbild.
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1830 42 [sic] and rebuilt a week later by a man“ (I, 6; 2004: 168) oder sprachlich entstellten Slogans wie „Land of tradition. Fish and fries. The changing of the garden. Trooping the coloureds.“ (I, 2; 2004: 44) Sarita Malik erklärt, dass durch diese Divergenz ein Spannungsverhältnis von traditionellen nationalen Stereotypen und den zeitgenössisch tatsächlich relevanten Themen britischer Identität erzeugt wird,15 das sie als „post-multiculturalism“ (Malik 2010: 92) bezeichnet. Obwohl dem sicher zuzustimmen ist, würde ich darüber hinaus argumentieren, dass sich hier nicht nur zum wiederholten Male die Unzuverlässigkeit von bildlichen und sprachlichen Signifikanten offenbart, sondern auch die Beliebigkeit jeder Form nationaler Mythenbildung und Selbstdarstellung aufgedeckt wird, die immer schon in einer willkürlichen Konstruktion, Vermischung und Weitergabe von geschichtlichen (‚Mutterland der Demokratie‘), geographischen (splendid isolation) und kulturellen (siehe einführende Bemerkungen zum britischen Humor) ‚Fakten‘ bestand. Folgende Prüfungssituation an der Kelsey Grammar School persifliert dies (un)sinnfällig: „TEACHER: So Edward the Second divided by Henry the Fifth equals…anybody? (THE CLASS ARE SILENT.) No? THE TEACHER LOOKS AROUND BEFORE RETURNING TO THE BOARD. TEACHER: …equals Hydrogen Peroxide. Question six. Determine the square root of Popeye.“ (I, 4; 2004: 110)
Little Britain betreibt die Entmythologisierung und Relativierung nationaler Identifikationsmuster jedoch nicht nur auf der Ebene der Geschichte. Durch die schon erwähnte Lokalisierung des Geschehens in Orten wie Llandewi Breffi, Darkley Noone oder Sneddy, die zwar auf den ersten Blick britisch anmuten, sich aber bald als Phantasiekonstrukte durchschauen lassen, macht die Serie auch eine geographische Verortung nationaler Identifikationskategorien unmöglich. Dass auch hier viele Namen eindeutig eine augenfällig körperliche (oft tabuisierte) Konnotation aufweisen (Sphincter-on-Sea, Little Bentcock, Pox), lässt sich wiederum als Hinweis auf das subversive Primat des Körperlichen verstehen.
15 „These stereotypical signifiers of quintessential ‚Englishness‘ function as a backdrop against which more updated themes of contemporary Britain – such as multiculturalism, liberalism, ‚urban‘ culture, anti-racism, political correctness, cultural difference and immigration – are transferred.“ (Malik 2010: 82f.)
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E INE Ü BERDOSIS T RAVESTIE : D AFFYD T HOMAS , E MILY H OWARD UND DIE S EXUALITÄT Nachdem ich eingangs versucht habe darzustellen, wie Little Britain die symbolischen Grundvoraussetzungen für jede Form von Begriffsbildung außer Kraft setzt, will ich nun anhand zweier spezifischer Kategorien (Sexualität und soziale Klasse)16 untersuchen, wie dies in der Praxis Anwendung findet. Daffyd Thomas’ in jeder Episode wiederholte Aussage „I’m the only gay in the village“ sowie Emily Howards typischer Satz „I’m a lady“ stellen phänomenologisch eindeutige Identifikationen im Rahmen einer binär geordneten Ökonomie der Geschlechter (Emily) und der sexuellen Orientierung (Daffyd) dar. Es überrascht jedoch sicher nicht, dass diese Selbstzeugnisse nur sehr oberflächig als eindeutige Zuordnungen verstanden werden können und bei genauerem Hinsehen die Bande zwischen sprachlichem Zeichen und dessen Referenzobjekt bis zur Undurchdringlichkeit verwirrt sind. Daffyds Erscheinungsbild (von Kleidung über Getränkewahl bis Sprachduktus) scheint seine Identifikation als Homosexueller nachhaltig zu bestätigen; sobald es jedoch darum geht, die Selbstkategorisierung performativ (durchaus im Sinne Butlers) in die Tat umzusetzen, bricht sein Theoriegerüst immer wieder in sich zusammen und Daffyd muss, um sich und sein (nur in der verbalen Theorie vorhandenes) Alleinstellungsmerkmal im wahrsten Sinne des Wortes unangetastet zu lassen, selbst auf die homophoben Klischees zurückgreifen, die er seiner Umwelt gleichzeitig vorhält: „DAFFYD: Anyway, what do lesbians do exactly, I mean, I don’t get it. DAFFYD MIMES HOLES WITH HIS INDEX FINGERS AND THUMBS, AND LOOKS CONFUSED. AN ATTRACTIVE LADY WHO HAS BEEN LISTENING STANDS UP. LADY IN PUB: We do all sorts of things. DAFFYD: Sorry, I was talking to the lesbians. LADY IN PUB: I am a lesbian. DAFFYD: What? You can’t be, you’re far too good looking. LADY IN PUB: What are you talking about? DAFFYD: Well I just thought it was the ones that couldn’t get boyfriends. RHIANNON: Oh piss off, you stupid little poof! DAFFYD: Oh, how dare you! I will not tolerate homophobia in this village, good day! (CALLING BACK OVER HIS SHOULDERS) Dirty fat lezzers!“ (II, 5; 2005: 194f.)
16 Ethnische Zugehörigkeit, die dritte Kategorie im Triumvirat der Intersektionalität, würde sich hier ebenso gut als Untersuchungsgegenstand eignen, da vor allem in den Ting-Tong-Sketchen konventionelle Hierarchien systematisch untergraben werden. Eine ausführliche Darstellung kann angesichts des Umfangs dieses Artikels leider nicht erfolgen; verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die oben schon zitierte Untersuchung Malik 2010.
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Die theoretischen Kategorien, durch die Daffyd sich definiert, zerbrechen wiederum an der Realität des Körperlichen, wobei es von untergeordneter Bedeutung ist, ob der Körper der des epistemologisch Anderen ist (wie im obigen Beispiel) oder der eigene: Daffyd gibt ein Inserat auf, in dem er seine Dienste als Callboy feilbietet, und schlägt dann seinem ersten Kunden auf dessen Frage, wohin man sich denn ungestört zurückziehen könne, vor: „[W]ell I thought we’d go to Mrs. Evans’ tearooms and have a scone, and then I thought we could have a wander round some of the charity shops.“ (II, 1; 2006: 35) Wiederum stehen das Körperliche (der sexuelle Akt als Essenz der Identität), die individuelle (Daffyds angebliche Homosexualität) und die nationale Identifikation (tea, scones, charity shops als Substitutiv für das Körperliche) in einem unauflöslichen und paradoxen Interdependenzverhältnis zueinander, das im Endeffekt alle drei Standpunkte als valide Identitätskategorien aufhebt. Im Falle Emily Howards ist Ähnliches zu konstatieren. Auch hier dienen nationale Identitätsstereotype (ihre Aufmachung als viktorianische Dame, das Setting in ehedem feinen Seebädern, die soziale Distinktion durch den Gebrauch gedrechselter oder gar französischer Phrasen) als Rückzugsraum für die Darstellung unhaltbarer Geschlechtsidentitäten (vgl. hierzu auch Kennedy 2009: 264): „DOCTOR: So, Eddie Howard… EMILY: Emily Howard. I’m a lady, Emily Howard, yes. DOCTOR: Right, er, what happened? EMILY: Well, I was disembarking a motor coach when I took a tumble. DOCTOR: You fell off the bus? EMILY: Quite. DOCTOR: Right, well, I’m going to need to do an X-ray of the whole leg. So if you’d just like to place this over your testicles. THE DOCTOR HANDS EMILY A SMALL PILLOW. SHE IS QUITE ALARMED. EMILY: Ooh, doctor, you do amuse! DOCTOR: No, it’s not a joke. It’s got a sheet of lead in it. It deflects the radiation. EMILY: But I’m a lady. I don’t have testiclés (PRONOUNCED ‘TESTICLAY’). Well, perhaps little ladies’ testiclés.“ (I, 4; 2004: 101)
Emily und später ihre ‚Freundin‘ Florence stellen ihre Geschlechtsidentität nicht performativ dar, sie stellen sie im Sinne eines re-enactment nach und werfen dadurch die Frage auf, auf welcher Basis diese Inszenierung überhaupt legitimiert sein kann. Die Antwort – wenig überraschend – ist: gar nicht. Die Travestie muss notwendig immer wieder scheitern, sei es wieder am Primat des Körperlichen (Emilys Erinnerung an Florence: „[D]on’t forget to sit down when you piss“ [II, 1; 2005: 16]) oder am exzessiven Einsatz des Verhaltenskodex, der mit den angeblichen Geschlechteridentitäten verbunden ist: So insistieren sowohl Emily wie Florence darauf, dass sich der/die andere zuerst setze (vgl. ebd.) und dekuvrieren folglich durch das
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Bestehen auf der Geschlechteretikette als Stehaufmännchen/-weibchen die Lächerlichkeit derselben.17 Auch Tom Bakers einleitender Kommentar der Szene trägt wenig zur Erhellung der kategorialen Verwirrung bei, erklärt er doch: „I myself am happy in both male and female clothing, as I was born without genitals.“ (Ebd.: 15)
Y EAHBUTNOBUTWESSENDISKURSFÜHRENWIR ÜBERHAUPT ?: V ICKY P OLLARD UND DIE K LASSENFRAGE Die Figur aus Little Britain, die mit Abstand am meisten Diskursmasse gezeitigt hat, ist ohne Frage Vicky Pollard. Einerseits ist ihr Name mittlerweile als Synonym eines vermeintlich identifizierbaren Bevölkerungssegments der weißen britischen Arbeiterklasse in den Alltagswortschatz der englischen Sprache eingegangen,18 andererseits (oder wohl eher als Konsequenz dessen) hat sich an keiner anderen Figur die Kritik an Little Britain als elitärer, zutiefst unmoralischer Verunglimpfung sozial benachteiligter Gruppen stärker entzündet als an dieser in grellem Pink gekleideten allein erziehenden Mutter von 12 Kindern (am Ende der dritten Staffel), die ihr erstes Baby gegen eine Westlife-CD eintauscht (vgl. I, 7; 2004: 200). Dass sich gerade an Vicky Pollard die Geister scheiden, liegt wohl auch daran, dass die soziale Segmentierung der Bevölkerung in Großbritannien immer noch eines der primären Statussymbole darstellt, wobei nicht das tatsächlich verfügbare Einkommen als Kriterium dient, sondern ein schwer zu objektivierendes Gemisch aus Geschmack (The X Factor Ù Downton Abbey), Traditionsbewusstsein (alcopops Ù real ale), Sprache (non-U Ù U) und Konsumverhalten.19 Wieder ist es Tom Bakers Stimme aus dem Off, die das Thema explizit auf der Ebene des Körperlichen verankert: „If you’re not sure which class you are, simply pull back your foreskin, where you’ll find the word ‚lower‘, ‚middle‘ or ‚upper‘.“ (II, 4; 2005: 148) In diesem Zusammenhang beschreibt Sharon Lockyer Vickys überbordende Sexualität als Fortschreibung eines kultur-elitären Standesdünkels
17 Ellie Kennedy arbeitet gerade diese Unflexibilität der einzelnen Charaktere (in Anlehnung an Bergsons Auffassung von Humor als sozialem Korrektiv) als ein Hauptmotiv von Little Britain heraus (vgl. Kennedy 2009: 263). 18 Dieses Segment wird im britischen Kontext auch als chav bezeichnet und entspricht in etwa dem US-amerikanischen white trash und dem deutschen ‚Prekariat‘. Für die Entwicklung der Bezeichnung chav vgl. Emig 2008 und Tyler 2008. 19 Für eine detaillierte Betrachtung der zeitgenössischen Implikationen dieses Dauerthemas britischer Identifikation vgl. Skeggs 2004.
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(vgl. Lockyer 2010c: 98)20, während Imogen Tyler die Darstellung dieser angeblich typischen chav mum als diskursive Heraufbeschwörung einer nahezu archetypischen Gestalt sieht, basierend auf einer vermeintlich der Bourgeoisie inhärenten Abneigung gegen und Furcht vor einem zu direkten Zugang zur Sexualität, und somit als „a heightened class antagonism that marks a new episode in the dirty ontology of the class struggle in Britain“ (Tyler 2008: 18). Dem gegenüber stehen Kritiker wie Julie Burchill, die versucht, sowohl dem Bild als auch dem Begriff des chav dadurch seine Schärfe zu nehmen, dass sie ihn zuerst seiner klassenspezifischen Konnotationen beraubt („perhaps we are a nation of chavs“ [Burchill 2005]), um diese Entwicklung dann als zwangsläufiges Resultat gesamtgesellschaftlicher Prozesse zu konstruieren: „The very things that chavs stand accused of – aspiration, love of material goods, lack of communal values – are the very things that have not just been fetishised by institutions such as the main political parties and the Daily Mail for the past 30 years, but forced on the British people as surely as the Industrial Revolution was.“ (Ebd.)
Die Bewertung der Figur Vicky Pollard ist weitgehend davon abhängig, ob sie als Opfer eines diffamierenden Kastengeistes gesehen wird, der – im Sinne Tylers – stereotype Verhaltensmuster aufgedrückt werden, oder ob man ihr selbst eine Form diskursiver Wirkmächtigkeit zugesteht. In letzterem Sinne argumentieren Emig und Sedlmayr und berufen sich dabei insbesondere auf den allerersten Sketch der Serie, der Vicky im Gespräch mit ihrem Geschichtslehrer, Mr. Collier, zeigt (vgl. Emig 2008; Sedlmayr 2008). Die Diskussion um Vickys Aufsatz über Lord Kitchener gibt – wie es dem Eröffnungssketch geziemt – ein Leitmotiv der gesamten Serie vor, nämlich wie nationale Identifikationsmuster angesichts der Inkommensurabilität gegenwärtiger Diskursformen und -kategorien ihre Signifikanz verlieren (vgl. Sedlmayr 2008: 13). Das Gespräch steigert sich dann aber zu einem dialektischen Antagonismus von Ordnung und Anarchie, Bildungsidiom und Straßenjargon, von gutbürgerlichem Wissenskanon und Vickys regelloser, existentieller Lebenswirklichkeit, in dem Mr. Collier zusehends die Interpretationshoheit verliert und auch sein ultimatives Druckmittel, die Abschlussprüfung, letztlich wirkungslos an Vicky abprallt: „MR COLLIER: Vicky, have you even started this essay? VICKY: No but yeah but no but yeah but no but yeah but no because I’m not even going on the pill because Nadine reckons they stop you from getting pregnant.
20 „Vicky’s interest in sex […] serves to strengthen the stereotype that due to their limited cultural capital and inability to enjoy other activities or interests, chavs are preoccupied with sex and sexual activities.“
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MR COLLIER: You know if you don’t get this essay by the end of the week you do know I’m going to have to fail you? VICKY: Yeah but Louise Farren emptied a whole bottle of Fanta into Shannon’s bag but anyway Luke reckons he fingered Emma Bacon in the language lab. MR COLLIER: Vicky, do you want to pass your GCSE? VICKY: GCS what?“ (I, 1; 2004: 12)
Vicky gelingt es nicht nur, Emma Bacon und Louise Farren auf einer Diskursebene mit Lord Kitchener zu etablieren; sie verortet sich und ihre Themen (Teenagerschwangerschaften, Sexualität unter Jugendlichen) damit in einem nationalen Diskurs von scheinbar historischer Relevanz – eine Einordnung, die durchaus den medial inszenierten Gegebenheiten entspricht –,21 nicht ohne dabei durchaus subtil darauf hinzuweisen, dass sie die gesellschaftlichen Mechanismen durchschaut und in ihrem Sinne zu nutzen weiß: Als alleinerziehende Mutter von 12 Kindern würde sie in einem nicht unerheblichen Maße staatliche Förderung erhalten und wäre damit tatsächlich auch ohne GCSE finanziell abgesichert. In ähnlicher Weise zeigt sich Vickys subversive Fähigkeit, konventionelle Diskursformen zu ihrem Vorteil zu untergraben, wie z.B. in Episode 4 der ersten Staffel, wo sie, des Ladendiebstahls angeklagt, die Fragen und Drohungen des Staatsanwalts systematisch ins Leere laufen lässt, bis dessen Diskurs in sich zusammenbricht und er entnervt aufgibt: „LAWYER: Vicky, were you at Superdrug at that time? VICKY: No but yeah but no but yeah but no but yeah but no because I wasn’t even with Amber. LAWYER: Amber? Who’s Amber? VICKY: Yeah exactly. I wasn’t even with her and anyway I didn’t even know who she is so you’d better ask her. […] LAWYER: You’ll have a criminal record. VICKY: No but I’m allergic to cat hair so I don’t have to go into lessons. LAWYER: This is a court of law you have…are you going to keep interrupting me? VICKY: No no no no no no I’m not, I’m going to let you speak. LAWYER: Oh. Now we’ve heard from the social workers… VICKY: Oh my God! Right. There was this whole other thing I completely forgot to tell you about… LAWYER: Oh I give up.“ (I, 4; 2005: 106)
Vicky legt jedoch nicht nur die konventionellen Diskurswaffen der konservativ-staatstragenden Autoritäten lahm und beweist so deren essentielle
21 Vgl. hierzu Burchill: „The Mail gripes about their sex drive, their money and their laziness (go figure) but is particularly obsessed with what it sees as the skyhigh chav birthrate, mostly to unwed teenage mothers.“ (Burchill 2005)
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Machtlosigkeit; sie offenbart außerdem die inhärente Zerrüttung und Scheinheiligkeit des Normativen. Schon allein ihr Lebensstil stellt einen Angriff auf die heile Scheinwelt der gutbürgerlichen Kernfamilie dar; sie nutzt jedoch darüber hinaus die ihr zur Verfügung stehenden Kommunikationsformen, um diese Konstruktion entweder humorvoll zu zersetzen22 oder schonungslos ihre Unaufrichtigkeit aufzudecken: So verwandelt sie das schicke Haus des Ehepaars Richard und Jennifer, auf deren Sohn sie aufpassen soll, nicht nur in eine abrissreife Bruchbude, sondern eröffnet dem pater familias obendrein: „I found your porno, you dirty bastard.“ (III, 5; 2006: 192) Es gibt also sicherlich gute Gründe, Vicky als diskurszersetzende Instanz zu verstehen, die in Emigs Worten „gegen jeden Anspruch von gesellschaftlicher Norm (die immer durch Autoritätsfiguren verkörpert wird, die als Experten Wissen und Macht vereinen) auf ihren eigenen Interpretationsrahmen und Wertemustern insistiert“ (Emig 2008: 157). Sie entlarvt und entwertet die Strukturen der Macht, indem sie die vorgeblich so stabilen Wertekategorien, auf denen sie basiert (Wissen, Recht und Ordnung, Familie), ihrem eigenen diskursiven Diktat unterwirft, dessen Autorität sich wiederum auf ihre eigene entgrenzte Körperlichkeit zurückführen lässt.
„E H
EH EH “: ANDY P IPKIN , UND DIE N ORMALITÄT
ANNE
Ich möchte mich abschließend mit einem Themenkomplex beschäftigen, an dem die subversive Wirkungsfähigkeit des körperlichen Diskurses und seine zersetzende Kraft am klarsten zu Tage tritt – die Behinderung. Ähnlich wie in Falle Vicky Pollards wurden die Sketche um den Psychologen Dr. Lawrence und seine ‚Musterpatientin‘ Anne sowie die Darstellung des im Rollstuhl sitzenden Andy Pipkin hinlänglich als Beispiele dafür ins Feld geführt, wie sich die Macher von Little Britain benachteiligte Bevölkerungsgruppen als Zielscheibe ihrer derben, teils sogar diffamierenden Späße auserkoren haben (vgl. u.a. Mowatt 2010: 32). Und obwohl auf den ersten Blick viel für
22 Wie in dieser denkwürdigen Szene, als der Arzt Vicky fragt, wer sie zur Schwangerschaftsberatung begleiten könne: „VICKY: Well I’m not asking Shelley because she’s a slag. DOCTOR: OK. Is there someone else you can go with? Perhaps your mother? VICKY: That is my mother.“ (I, 6; 2004: 174) In diesen Zusammenhang lässt sich auch die Demontage des scheinbar so harmonischen Kernfamilienlebens von Sir Norman Fry einordnen.
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diese Sichtweise zu sprechen scheint, eröffnet sich auch hier bei genauerem Hinsehen eine weitaus differenziertere Dimension des Humors, die es erlaubt, die im Vorhergehenden skizzierten Mechanismen noch einmal exemplarisch vor Augen zu führen. Anne, dem Namen nach eine Frau, die jedoch von einem männlichen Schauspieler dargestellt wird und ihrerseits stark männlich konnotierte Geschlechtsmarkierungen (Kleidung, Frisur) aufweist, macht jede stabile Zuordnung zu einer Geschlechtskategorie unmöglich (vgl. Montgomerie 2010: 121) und liefert damit ein anschauliches Beispiel für deren Kontingenz im Sinne Judith Butlers. Doch auch ihre geistige ‚Abnormität‘, die wiederholt als Eindringen körperlicher Tabus in den symbolischen Diskurs in Erscheinung tritt,23 scheint performativer Natur zu sein, kann sie auf diese doch scheinbar nach Bedarf zurückgreifen und damit ihre Teilnahme am oder Verweigerung des herrschenden Diskurses (personifiziert hier durch Dr. Lawrence und insbesondere den namentlich nicht genannten Prüfer, der von Dr. Lawrence durch die Klinik geführt wird) lenken: „DR LAWRENCE: Anne there has decided those flowers might look better …, where are you going to put them, Anne? ANNE RUBS THEM ON HER BOTTOM. SHE LETS THEM FALL TO THE GROUND THEN STAMPS ON THEM, SHOUTING GIBBERISH. DR LAWRENCE: Just there. Visitors often say ‚Do we have a team of professional gardeners?‘ ANNE RETURNS WITH A SMALL TREE, SCREECHING. DR LAWRENCE: Oh yes, Anne is particularly fond of this tree. ANNE WAVES A BRANCH AROUND. AS SHE DOES, WE HEAR A MOBILE PHONE RING. ANNE PUTS THE BRANCH DOWN, PULLS OUT A MOBILE FROM HER POCKET, AND ANSWERS IT COMPLETELY NORMALLY. ANNE: Hello, I’m just in the middle of something at the moment. Can I call you back? OK. Bye bye.“ (I, 2; 2004: 52)
Die (Über-)Betonung des Körperlichen stellt also auch hier eine Ermächtigungsstrategie scheinbar marginalisierter Identifikationskategorien dar, indem sie den diskursiven Machtanspruch dieser Kategorisierungen in der parodistischen Hyperbel ad absurdum führt. In der Beziehung von Andy Pipkin zu seinem Pfleger Lou begegnet diese implizite Hierarchisierung von normaler und abnormer Körperlichkeit in besonders deutlicher Form. Lous scheinbare Fürsorglichkeit wird wiederholt als Ergebnis der strukturell selbstgerechten Position des Normativen enttarnt: So rechtfertigt er den Kauf einer pornographischen Zeitschrift mit den Worten: „It’s not for me. It’s for a disabled man.“ (III, 3; 2006: 96) Folglich lässt sich in der Tatsache, dass Andy fortwährend sehr erfolgreich versucht,
23 Beispielhaft sei hier auf Annes Vorliebe verwiesen, Bilder aus den eigenen Exkrementen zu kreieren (vgl. I, 6; 2004: 180).
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aus seinem scheinbaren Sonderstatus Kapital zu schlagen („I want that one“), nur um dann Lous gut gemeinte Wohltaten gnadenlos zu enttäuschen („I don’t like it“), eine Strategie zur Bloßstellung der Arroganz der normativen Macht erkennen. Margaret Montgomerie weist in diesem Zusammenhang schlüssig nach, dass Andys Rollstuhl als Metapher für die herablassende Art zu sehen ist, mit der er von seinen Betreuern herumgeschubst wird (vgl. Montgomerie 2010: 119), und so ist es ein anschauliches Beispiel für die Funktionsweise des subversiven Humors in Little Britain, wenn Andy eben diese Metapher explizit als Waffe gegen das ‚Regime der Normalität‘24 einsetzt: Als Lou ihm seine neue Freundin vorstellt, steht er auf, kippt den Rollstuhl auf die Seite, legt sich daneben und behauptet: „ANDY: She pushed me. LOU: No! (SNARLING MALEVOLENTLY AT ANYA) You evil Pole.“ (II, 2; 2005: 57)
Z USAMMENFASSUNG : E INE Ö KONOMIE DES H UMORS
ALTERNATIVE
Im Humorempfinden des Menschen, so stellt Peter L. Berger fest, drückt sich ein Bedürfnis aus, ordnende Strukturen in die Kontingenz der Wirklichkeit einzuführen (vgl. Berger 1997: 32)25. Gleichzeitig äußert sich darin aber auch eine jede Wirklichkeit überschreitende Transzendenz, in der Regeln des täglichen, wirklichen Lebens wenigstens zeitweise aufgehoben sind (vgl. ebd.: 205)26. Dieses Eindringen des Transzendenten in die erfahrbare Wirklichkeit, das bei Berger wie bei Zijderveld durchaus religiösen Charakter haben kann (Bergers Studie trägt nicht von ungefähr den Titel Redeeming Laughter), durchdringt auch die Ästhetik von Little Britain. In den bizarren Fleischbergen und fratzenhaften Freaks, die dieses absurde Paralleluniversum bevölkern, deutet sich uns ein epistemologischer Gegenentwurf zu vorherrschenden Diskursstrukturen an. Das Kleinbritannien der Serie erscheint im Hamlet’schen Sinn aus den Fugen geraten und die gespensterhaften Erscheinungen, die diesen Unfug angezettelt haben, lassen eine alternative Ökonomie des Wissens im Sinne Derridas erahnen (vgl. Derrida 1994: passim, u.a. 34), die man, wieder pace Derrida, als
24 In dieser Hinsicht ließe sich Little Britain auch als gutes Beispiel für queer thinking interpretieren, dem laut Michael Warner immer „a thorough resistance to regimes of the normal“ (Warner 1993: xxiv) zu Grunde liegt. 25 „[T]he perception of the comic depends upon (if you will, is parasitical upon) the basic human urge to order reality.“ 26 „[T]he comic transcends the reality of ordinary, everyday existence; it posits, however temporarily, a different reality in which the assumptions and rules of ordinary life are suspended.“
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somatozentrisch bezeichnen könnte, da sie auf einer unhintergehbaren und nicht-diskursivierbaren Priorität der Körperlichkeit basiert. Man muss Sedlmayr deshalb widersprechen, wenn er behauptet, „a large portion of Little Britain’s shock value stems from attacks against the dignity of the body“ (Sedlmayr 2008: 16), denn diese angebliche Würde des menschlichen Körpers ist in sich selbst immer schon ein Produkt diskursiver Kategorien. Der emergente, in jeder Beziehung bodenlose, Humor von Little Britain entstammt hingegen einer Welt, in der exzessive Körperlichkeit jede Art von Kategorisierung und Identifikation unmöglich zu machen scheint.
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Pop, Parodie und Profanierung R OBERT F AJEN
P ARODIE UND P OP (T HE B EATLES , „B ACK
IN THE
USSR“)
Im November 1968 brachten die Beatles eine Doppel-LP heraus, die als The White Album in die Geschichte des Pop eingegangen ist. Der wirkliche Name des Werks, das unter anderem die Songs „Back in the USSR“, „Ob-LaDi, Ob-La-Da“ und „Revolution“ enthält, ist weniger bekannt, obwohl man ihn in schlichten, grauen Schriftzügen auf dem weißen, ursprünglich nummerierten Cover lesen kann: Es handelt sich um den Namen der Band selbst, der mit Großbuchstaben auffällig hervorgehoben ist. The BEATLES von The Beatles: Allein an dieser Doppelung, die die Band und ihr Produkt nicht unterscheidet, lässt sich erkennen, in welchem Maße die Popmusik zu diesem Zeitpunkt selbstreferentiell geworden war und ihre eigenen schöpferischen Mechanismen mit romantischer Ironie reflektierte. Die Beatles orientierten sich dabei in spielerischer Weise an den alten Gesten der Avantgarde. Das Cover, das sein Cover-Sein zum Thema macht, indem es dieses durch die Nicht-Farbe Weiß verneint, stammte von Richard Hamilton, der in den 60er Jahren mit der greisen Künstlerlegende Marcel Duchamp zusammengearbeitet hatte (vgl. Harry 1993: 282f.). Man kann die quadratische weiße Fläche mit dem Namen der Band als halb ernste, halb spöttische Hommage an eine der Ikonen der Moderne deuten, Kasimir Malewitschs Gemälde Weißes Quadrat auf weißem Grund aus dem Jahr 1918, das heute im Museum of Modern Art in New York zu sehen ist. Spielerisch-ironisch sind auch eine Reihe von Liedern, die die Beatles auf den beiden Platten versammelt haben, allen voran das erste, welches das Album eröffnet: „Back in the USSR“: „Flew in from Miami Beach BOAC. Didn’t get to bed last night. On the way the paper bag was on my knee.
132 | R OBERT F AJEN Man I had a dreadful flight. I’m back in the USSR. You don’t know how lucky you are boy Back in the USSR. Been away so long I hardly knew the place. Gee it’s good to be back home Leave it till tomorrow to unpack my case. Honey disconnect the phone I’m back in the USSR You don’t know how lucky you are boy Back in the US. Back in the US. Back in the USSR. Well the Ukraine girls really knock me out. They leave the west behind. And Moscow girls make me sing and shout That Georgia’s always on my mind. I’m back in the USSR. You don’t know how lucky you are boys Back in the USSR. Show me round your snow peaked mountains way down south Take me to your daddy’s farm Let me hear your balalaikas ringing out Come and keep your comrade warm. I’m back in the USSR. Hey, you don’t know how lucky you are boys Back in the USSR.“ (Aldridge 2000: 157; The Beatles 1968)
Die Beatles nahmen diesen Song am 22. und 23. August 1968 im Studio der Abbey Road auf, unmittelbar nachdem sowjetische Truppen in die Tschechoslowakei einmarschiert waren, um dem Prager Frühling ein gewaltsames Ende zu bereiten (vgl. MacDonald 1997: 271). Als das Album wenige Monate später veröffentlicht wurde, warf in den USA die rechtsextreme John Birch Society den Beatles vor, sie seien verkappte Kommunisten, die die Sowjetunion verklärten (vgl. ebd.). „I’m back in the USSR“, sang Paul McCartney, „You don’t know how lucky you are, boys“ – in ihrer Borniertheit verstanden die amerikanischen Fundamentalisten diese Textzeilen wörtlich und leugneten das Rollenspiel des Songs, obwohl sie ohne Zweifel wussten, dass die Beatles aus Manchester kamen und irgendwo zwischen Großbritannien, Indien, den USA und dem Rest der westlichen Welt lebten. Eine oberflächliche Analyse von „Back in the USSR“ hätte freilich genügt, um die allgegenwärtige Ironie in diesem Song zu erkennen. Paul McCartney, der das Lied allein geschrieben hat (vgl. Turner 1994: 150), wählt die Mittel der Verstellung, der Übertreibung, des Klischees und des Kontrasts: Der Beatle tut so, als sei er immer schon ein begeisterter Bürger der UdSSR gewesen; ausgerechnet die Sowjetunion, in der Popmusik als Ausdruck westlicher Dekadenz galt und Platten der Beatles nur illegal zu
P OP, P ARODIE UND P ROFANIERUNG | 133
beschaffen waren (vgl. ebd.: 151), wird zum frivolen und hedonistischen Paradies stilisiert; McCartney schwärmt von den sowjetischen Mädchen, die ihm den Verstand raubten; seine als „honey“ titulierte Geliebte fordert er zweideutig auf, ihre Balalaika zum Erklingen zu bringen und so ihren „comrade“ (Genossen) zu wärmen, während in Widerspruch dazu Gitarre und Klavier in einem sehr amerikanisch lärmenden Rocksound jaulen und hämmern. Eigentlich hätte der John Birch Society, die in ihrer Paranoia überall kommunistische Verschwörungen witterte, diese lustvolle Verspottung der Freudlosigkeit des Erzfeindes durchaus gefallen können – aber um das zu begreifen, hätte sie wohl selbst etwas weniger freudlos sein müssen. Vielleicht waren die amerikanischen Kommunistenhasser aber auch sehr viel klüger als sie hier dargestellt werden. Vielleicht hatten sie verstanden, dass die eben skizzierte Deutungsmöglichkeit des Songs nur seine Oberfläche berührt, dass nicht die Welt hinter dem Eisernen Vorhang die Zielscheibe von McCartneys Ironie ist, sondern ihr eigenes Land, die Vereinigten Staaten von Amerika. Als heimliche Kenner der heimischen Popmusik hatten die Mitglieder der John Birch Society womöglich sogleich erkannt, was „Back in the USSR“ tatsächlich ist: eine Parodie auf bestimmte Aspekte der US-Kultur, d.h. eine kulturelle Praktik, die eine andere kulturelle Praktik in bissiger, polemischer Weise aufgreift, sie zitiert, imitiert und verformt (vgl. Dentith 2000: 9). Der Text von „Back in the USSR“ gibt klare Hinweise darauf, dass der Song etwas mit dem Geburtsland des Pop zu tun hat. Der titelgebende Refrain leidet gewissermaßen unter einer Art Ladehemmung: „Back in the US. Back in the US“, wiederholt McCartney zweimal und nennt damit das Kürzel US für „United States“. Einen Augenblick lang bleibt in der Schwebe, ob er nicht vielleicht doch in der folgenden Zeile „USA“ statt „USSR“ singen wird. Titel und Refrain führen so zu einer ersten Ebene der Parodie, die der oben erwähnten Definition zufolge nicht für sich bestehen kann, sondern eines konkreten Objekts bedarf, welches sie nachahmt. Dies ist auch hier der Fall. „Back in the USSR“ ist die Parodie eines Songs von Chuck Berry, den die Beatles sehr schätzten: „Back in the USA“ aus dem Jahr 1959: „Oh well, oh well, I feel so good today, I just touched ground on an international runway, Jet-propelled back home, from over the seas to the USA. New York, Los Angeles, oh, how I yearned for you! Detroit, Chicago, Chattanooga, Baton Rouge, Let alone just to be at my home back in ol’ St. Lou. Did I miss the skyscrapers, did I miss the long freeway From the coast of California to the shores of Delaware Bay? You can bet your life I did, till I got back to the USA.
134 | R OBERT F AJEN Looking hard for a drive-in, searching for a corner café Where hamburgers sizzle on an open grill night and day, Yeah, and a jukebox jumping with records like in the USA. Well, I’m so glad I’m livin’ in the USA, Yes, I’m so glad I’m livin’ in the USA, Anything you want, we got right here in the USA.“ (Chuck Berry 1962)
In Chuck Berrys Rock’n’Roll-Stück, das 1962 auch auf der LP More Chuck Berry veröffentlicht wurde, begegnen eine Reihe Textelemente, die Paul McCartney in „Back in the USSR“ aufgenommen hat. In „Back in the USA“ ist Chuck Berry gerade mit dem Flugzeug aus der Fremde in seine Heimat zurückgekehrt; er preist begeistert das Glück, wieder zu Hause zu sein, und zählt eine Reihe von mythischen Orten auf, die Ende der 50er Jahre Teil des American Dream waren: New York, Los Angeles, Detroit, Chicago und Berrys Geburtsstadt St. Louis; er singt von Wolkenkratzern, Freeways, brutzelnden Hamburgern und Jukebox-Musik und verklärt die Vereinigten Staaten zuletzt zu einer Art kapitalistischem Schlaraffenland, wo man alles bekommen kann: „Yes, I’m so glad I’m livin’ in the USA / Anything you want, we got right here in the USA.“ Im Beatles-Song ist Paul McCartneys Sänger-Ich soeben mit einer Maschine der britischen Fluggesellschaft BOAC, aus Miami kommend, in der heimischen Sowjetunion gelandet (1968 gab es gewiss keine Direktverbindungen von Miami nach Moskau, genauso wenig wie es sie heute gibt); die Reise war schlimm und nur mit einer Papiertüte auf dem Schoß zu überstehen; umso mehr freut sich der Sänger, wieder daheim auf der richtigen Seite des Eisernen Vorhangs zu sein, auch wenn er die geliebte UdSSR fast nicht wiedererkennt. Und so singt er im Refrain anstelle von „I’m so glad I’m livin’ in the USA“ vom Glück derer, die bereits da sind: „You don’t know how lucky you are, boys“. Ausgehend von diesem kurzen Vergleich kann man den Schluss ziehen, dass die Parodie der Beatles den amerikanischen Patriotismus des Chuck Berry-Songs dadurch auf den Kopf stellt, dass sie „USA“ durch „USSR“ ersetzt. Das bissig-polemische Moment, das die Parodie kennzeichnet, liegt in dieser Perspektive in erster Linie darin, dass „Back in the USSR“ den Ausschließlichkeitsanspruch von „Back in the USA“ in Zweifel zieht: Alles, was man will, bekommt man in keinem Land der Welt, auch nicht im kapitalistischen Wunderland, das der Amerikaner Chuck Berry feiert. Was allerdings bei genauerer Betrachtung auffällt, ist die anders geartete inhaltliche Ausrichtung des Beatles-Textes. Bei allen offenkundigen Parallelen weicht Paul McCartney teilweise immer wieder stark von Chuck Berry ab. Anstelle der mythischen Orte der US-Kultur hätte der Beatle ja einfach einige ebenso mythische sowjetische Städte nennen können, anstelle der Hamburger vielleicht Pelmeni, anstelle der Wolkenkratzer endlose Birkenwäldchen, überproduktive Kolchosen oder riesenhafte Kombinate. Zwar kommen immerhin Moskau, die Ukraine und Georgien vor, aber in einem
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ganz anderen Kontext. In „Back in the USSR“ geht es unüberseh- und unüberhörbar primär nur um das Eine: Mädchen. Diese Abweichung erklärt sich dadurch, dass Paul McCartney mit seinem Lied auf einer weiteren Ebene noch einen anderen, aktuelleren Song parodierte, der von einer amerikanischen Band stammt, die ähnlich erfolgreich war wie die Beatles selbst: Gemeint sind die Beach Boys und ihr Lied „California Girls“ aus dem 1965 publizierten Album Summer Days (And Summer Nights!!). Tatsächlich hat Paul McCartney „Back in the USSR“ im Frühjahr 1968 in der nordindischen Pilgerstadt Rishikesh geschrieben, wo er auf den Beach Boys-Sänger Mike Love traf, ja der Song soll sogar in engem Austausch mit Love komponiert worden sein (vgl. Turner 1994: 150f.). Wie auch immer die Entstehungsgeschichte selbst verlaufen sein mag: Ein aufmerksamer Hörer konnte diesen Bezug sofort erkennen, nicht nur an den letzten Zeilen des ersten Verses, „Beach BOAC“, einer Wortkombination, die wie eine Verballhornung von „Beach Boys“ klingt, sondern noch offensichtlicher an der Musik des Lieds, an seiner Harmonik und vor allem an den Falsett-Vokalsätzen im Refrain, in denen Paul McCartney, John Lennon und George Harrison den Sound des Surf-Rock imitierten. „California Girls“ (1965) hört sich dagegen etwas getragener, ja geradezu behäbig an. Zwischen der langsamen Musik und dem exaltierten Text besteht ein merkwürdiger Kontrast: „Well East coast girls are hip I really dig those styles they wear And the Southern girls with the way they talk They knock me out when I’m down there The Mid-West farmer’s daughters really make you feel alright And the Northern girls with the way they kiss They keep their boyfriends warm at night I wish they all could be California I wish they all could be California I wish they all could be California girls The West coast has the sunshine And the girls all get so tanned I dig a French bikini on Hawaii island Dolls by a palm tree in the sand I been all around this great big world And I seen all kinds of girls Yeah, but I couldn’t wait to get back in the States Back to the cutest girls in the world
136 | R OBERT F AJEN I wish they all could be California I wish they all could be California I wish they all could be California girls I wish they all could be California (Girls, girls, girls yeah I dig the) I wish they all could be California (Girls, girls, girls yeah I dig the) I wish they all could be California (Girls, girls, girls yeah I dig the) I wish they all could be California (Girls, girls, girls yeah I dig the)“ (The Beach Boys 1965).
Ein kursorischer Vergleich der beiden Songtexte genügt, um zu erkennen, wie dicht gewebt die Anspielungen in Paul McCartneys Parodie sind: „Well the Ukraine girls really knock me out“, heißt es bei den Beatles im Refrain, „they leave the west behind“. Das Lied der Beach Boys beginnt ebenfalls mit einem lässigen „Well“ (so wie im Übrigen auch Chuck Berrys Song); wenig später wird über die „Southern girls“ und ihren Südstaatenakzent dann das folgende Urteil verkündet: „They knock me out, when I’m down there“. Und während Mike Love ein Loblied auf die Farmertöchter des Mittleren Westens und die Mädchen aus den nördlichen Bundesstaaten singt, die mit ihren Küssen ihre Freunde wärmen, fordert Paul McCartney seine Liebste auf, ihn „to your daddy’s farm“ in den schneebedeckten Bergen des Südens zu führen, um ihn dort, wie bereits erwähnt, mithilfe der Balalaika nicht länger frieren zu lassen. Wo aber liegt hier das polemische Moment der Parodie? Ähnlich wie im Falle von Chuck Berrys „Back in the USA“ zielt der intertextuelle Bezug des Beatles-Songs auf den Chauvinismus ab, den die Beach Boys ganz ungeniert als Teil des hedonistischen Kalifornien-Mythos in Szene setzen. „California Girls“ ist ein Katalog amerikanischer Männerphantasien, der den nationalen und den erotischen Diskurs verknüpft: eine Bestandsaufnahme der Verschiedenartigkeit und der besonderen Qualitäten junger amerikanischer Frauen, die in jeder Hinsicht verfügbar scheinen. Die Beach Boys entwerfen so eine imaginäre Geographie, in deren Zentrum die braungebrannten Schönheiten des „Golden State“ im äußersten Westen stehen. Wie jedes Phantasma neigt auch das von den „California Girls“ zur repressiven Verabsolutierung. „I wish they all could be California girls“ – alle Mädchen sollen Kalifornierinnen werden, alle in den entspannten Traum von Strand, Palmen und knappen Bikinis integriert werden. Die Parodie der Beatles macht die problematische Struktur ebendieses Traumes sichtbar, indem sie ihn verfälscht, verformt und verzerrt. An die Stelle der Amerikanerinnen, die das Eigene bezeichnen, treten die SowjetGirls, die im Westen keiner kennt. Im Kontext der späten 60er Jahre des letzten Jahrhunderts ist das mehr als eine bloße Relativierung des amerika-
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nischen Allmachtsmythos. Die Mädchen, die Paul McCartney in „Back in the USSR“ aufzählt – „they leave the west behind“ – sind Fremdkörper in der Popkultur. Sie verweisen auf einen fernen, unpassenden und gegenläufigen Kontext, der gewissermaßen die andere Seite des Pop bezeichnet: die Welt jenseits der Mauer, die von der eigenen Musik nicht erreicht wird. Während die Beach Boys von einer totalen Amerikanisierung im Zeichen der Verfügbarkeit singen, evozieren die Beatles in ihrer Parodie das, was sich dem Westen und seinem allumfassenden Ausdrucksmittel, der Popmusik, entzieht. „Back in the USSR“ ist in diesem Sinne ein Song der Negationen: Niemals – besonders im blutigen Sommer 1968 – würde man in das Land zurückkehren, in dem man nie gewesen war.
F ACETTEN
DER
P ARODIE
Die Parodie, so heißt es in Simon Dentiths Buch Parody aus dem Jahr 2000, ist eine kulturelle Praktik, die eine andere kulturelle Praktik in bissigpolemischer Weise zitiert, nachahmt und verformt (vgl. Dentith 2000: 9). Um das Verhältnis zwischen Parodie und Popkultur noch genauer bestimmen zu können, bedarf diese allgemein gehaltene Definition einer weiteren Präzisierung. Die Parodie lässt sich wie jeder andere Begriff zunächst negativ fassen: Parodien sind keine Gattungen; sie bilden keine autonomen Textgruppen, folgen keinen allgemeinen Ordnungsmustern. Stattdessen sind sie als sekundäre, nachträgliche Verfahren anzusehen, die immer individuell auf das bezogen sind, was sie jeweils imitieren. Parodien begegnen folglich in ganz unterschiedlichen medialen Kontexten (vgl. Rose 2006): in der Literatur genauso wie in der Popmusik, in den bildenden Künsten genauso wie im Spielfilm, im Fernsehen genauso wie im Alltag, z.B. wenn man jemanden ‚nachäfft‘ (vgl. Dentith 2000: 3). Parodien sind parasitär: Sie bedürfen eines Modells, so wie ein Parasit auf seinen Wirt angewiesen ist. Das Attribut ‚bissig‘, das häufig im Zusammenhang mit Parodien verwendet wird, ist dementsprechend ganz plastisch und konkret zu verstehen. Mehr noch: So wie ein Parasit in jeder Hinsicht dem Wirt angepasst ist, übernimmt auch die Parodie die Strukturen ihres Modells, doch bewahrt sie dabei immer einen gewissen Abstand, realisiert sie eine überzeichnende Abweichung, durch die das Modell entstellt wird. Die Verformung, die die Parodie bewirkt, und der Abstand, den sie bewahrt, haben eine doppelte Konsequenz: Zum einen ist jede Parodie offenkundig oder zumindest latent aggressiv (so wie jeder Parasit seinem Wirt schadet, ohne ihn zu vernichten). Dies zeigt selbst ein scheinbar harmloses Lied wie das der Beatles, die ‚im wirklichen Leben‘ durchaus in einem freundschaftlichen Verhältnis zu den parodierten Modellen Chuck Berry und den Beach Boys standen. Zum anderen hat die Parodie eine aufdeckende Funktion, d.h. sie bringt die Strukturen des imitierten Modells an den Tag, sie macht sie bewusst und ermöglicht es so, über sie nachzudenken.
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Die Parodie ist also, wenn man sie ernst nimmt (und das sollte man tun), ein Instrument der Beobachtung, welches helfen kann, die Mechanismen und Implikationen dominanter kultureller Praktiken zu analysieren und kritisch zu betrachten. Als intertextuelle, interikonische und intermediale Verfahren signalisieren Parodien die Selbstreflexivität der Systeme, in denen sie operieren, ganz gleich ob man nun vom System der Kunst, der Massenmedien oder der Popkultur sprechen möchte. So kann, weniger abstrakt ausgedrückt, „Back in the USSR“ als eine Reflexion über die Grenze des Pop um 1968 gedeutet werden, nicht nur weil der Song die problematische Ideologie der Popmusik mit deren eigenen Mitteln spiegelt, sondern auch, weil er auf einen anderen kulturellen Raum verweist, der aus politischen Gründen unerreichbar ist. In welchem historischen Verhältnis stehen nun Pop und Parodie? Die Parodie, die eine ehrwürdige Geschichte hat, ist ohne Zweifel ein wesentliches Ausdrucksmittel der Postmoderne, die, historisch betrachtet, untrennbar mit der Ausdifferenzierung der Popkultur verknüpft ist. Ein schlagwortartiger Überblick mag dies verdeutlichen: Parodien tragen zur „Überbrückung der Kluft zwischen Elite- und Massenkultur“ (Fiedler 1988: 62) bei; sie fügen sich in die typisch postmoderne Ästhetik des (historischen) Zitats ein (vgl. Rose 1993: 195-274); sie haben Anteil am schnellen Rhythmus von sich abwechselnden Moden, die selbst auf Imitationen gründen und ältere Modestufen wiederverwenden; sie beschleunigen diese Moden, indem sie darauf hinweisen, dass die Modelle, die sie imitieren, verbraucht und erneuerungsbedürftig sind. Und natürlich haben Parodien auch die grundlegende Funktion, zu amüsieren und zu unterhalten, denn sie stehen nicht außerhalb des Systems der postmodernen Popkultur, sondern sind ihr fester, wenn auch etwas anarchischer Bestandteil. An dieser Stelle wird ein innerer Widerspruch sichtbar: Auf der einen Seite sind Parodien, wie oben dargelegt wurde, gleichsam als reflexive Organe anzusehen, welche die Popkultur mehr oder weniger kritisch aus der Innensicht beleuchten. Auf der anderen Seite aber gehören Parodien als sekundäre kulturelle Praktiken selbst der konsumorientierten Sphäre der Massenmedien an, d.h. sie können sich den Mechanismen und Zwängen ihrer Modelle gar nicht entziehen, da sie diese wiederholen (vgl. Hutcheon 2000: 76-78). Im Falle von „Back in the USSR“ ist diese Ambivalenz der Parodie zwischen Affirmation und Kritik leicht zu erkennen: Paul McCartney parodierte zwar seine Musikerkollegen Chuck Berry und die Beach Boys, doch schrieb er zugleich einen kommerziell äußerst erfolgreichen Popsong. Wenn man „Back in the USSR“ nicht als Parodie erkennt und wenn man die Beatles mag, ist das Lied bis heute einfach nur ein mitreißender Klassiker, den man gerne anhört und der einen weniger dazu animiert, mit dem Kopf zu denken als mit ebendiesem gedankenverloren zu wippen. Die problematische Stellung der Parodie, die sich hier andeutet, lässt sich besser verstehen, wenn man sie aus der Perspektive der Kulturkritik betrachtet. In seinem 2005 erschienenen Buch Profanierungen hat der italieni-
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sche Philosoph Giorgio Agamben einige bedenkenswerte Überlegungen zum Begriff der Parodie angestellt. Zwar beschränkt er sich in seinem kurzen Essay ausschließlich auf die Parodie als literarisches Verfahren, doch können seine Ausführungen ohne Weiteres auch auf Parodien in anderen medialen Zusammenhängen übertragen werden. Agamben zufolge ist die Parodie eine Form, die immer schon einen Riss in der Welt bezeichnet. Darauf deutet zunächst die Etymologie des Begriffs hin; denn das Wort lässt sich auf den griechischen Ausdruck „para ten oden“ (ʌĮȡ`Į IJ`ȘȞ ݠȦįȒȞ) zurückführen, den man mit „neben dem Gesang“ oder „gegen den Gesang“ (Agamben 2005a: 32f.) übersetzen kann. Was ist damit gemeint? Wie Agamben im Anschluss an Aristoteles erklärt, war die Rezitation der homerischen Gesänge in frühen Zeiten von einer grundsätzlichen Einheit von Melodie und Wort geprägt; die Melodie folgte stets dem Rhythmus der Worte. Als sich jedoch im Laufe der Zeit das Griechische wandelte und die Aussprache der Wörter und die Melodien immer stärker auseinandertraten, begannen die Rhapsoden, welche die alten Lieder vortrugen, „neben“ oder „gegen“ den Gesang zu singen; die Lieder klangen nun misstönend, falsch, verformt – eben parodistisch (vgl. ebd.). Diese Spur einer Trennung, einer unüberbrückbaren Differenz, auf die die wörtliche Bedeutung des Begriffs verweist, lässt sich Agamben zufolge in jedem parodistischen Werk beobachten, denn dieses sei per definitionem ein Text neben einem anderen Text, ein Text also, der sich dadurch auszeichne, dass er zwar „ein pará, einen Raum nebenan frei[setzt]“, selbst aber „keinen eigenen Ort“ (ebd.: 33) hat. Aus diesem Grund ist die Parodie nach Agamben ein Grenzfall der Literatur – und, so darf man ergänzen, generell ein Grenzfall einer jeden kulturellen Praktik. Parodien stehen in einer eigentümlichen Beziehung zu ihren Objekten: „[D]ie Parodie [fällt] nicht nur nicht mit der Fiktion zusammen, sondern bildet deren symmetrischen Gegensatz. Denn die Parodie zieht nicht, wie die Fiktion, die Wirklichkeit ihres Gegenstands in Zweifel – der ist im Gegenteil so unerträglich wirklich, daß es eben darum geht, ihn fernzuhalten. Dem ‚als ob‘ der Fiktion stellt die Parodie ihr drastisches ‚so ist es zuviel‘ (oder ‚als ob nicht‘) entgegen. Wenn also die Fiktion das Wesen der Literatur definiert, dann steht die Parodie gewissermaßen auf der Schwelle zu dieser: beharrlich ausgespannt zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Wort und Ding.“ (Ebd.: 41f.; leicht abgeänderte Übersetzung)
Die Randstellung der Parodie, ihr prinzipielles ‚Fehl-am-Platze-Sein‘ oder, wenn man so will, ihr ‚Neben-der-Spur-Sein‘, erklärt demnach ihre Widersprüchlichkeit. Agamben findet gegen Ende seines Essays für die Ortlosigkeit der Parodie ein anschauliches und einprägsames Bild: Sie sei „ein notorisch unbegehbares Gelände, wo der Gehende in einem fort an Grenzen und Aporien stößt, denen er nicht ausweichen kann, aber aus denen sich auch kein Ausweg finden lässt“ (ebd.: 43).
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Was bedeuten diese Gedanken, die sozusagen den tragischen Kern der Parodie bloßlegen, für die nähere Bestimmung ihrer Rolle in der Popkultur? Im Folgenden soll vor allem ein Aspekt herausgestellt werden, den Agamben nennt, nämlich das Verhältnis der Distanzierung, ja der Abstoßung, das die Parodie vom parodierten Modell trennt. Es geht, genauer gesagt, darum, zu bestimmen, auf welche unerträgliche Wirklichkeit des Gegenstandes, auf welches „so ist es zuviel“ die Parodie in der heutigen Zeit genau bezogen ist. Dafür soll ein weiteres Beispiel analysiert werden, das diesmal der unmittelbaren Gegenwart entnommen ist. Es entstammt den Niederungen des deutschen Fernsehens, eines Bereichs, in dem das Denken gewöhnlich einen schweren Stand hat und auch Schockierendes oft gleichmütig als gegeben hingenommen wird. So wie die Popmusik wird das Fernsehen indessen immer dann interessant, wenn es anfängt, sich selbst zu beobachten – wenn es das eigene Tun darstellt, wenn es die Bedingungen, Verfahren und Mechanismen benennt, mit denen es auf die Zuschauer einwirkt, und die Strukturen sichtbar macht, mit denen es seine eigene, bisweilen schwer erträgliche Wirklichkeit schafft.
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Eine solche Selbstdistanzierung und -beobachtung leistet in ihren besten Folgen die parodistische Serie Switch Reloaded, die erstmals 1997 auf Pro7 ausgestrahlt wurde (damals noch unter dem einfachen Titel Switch). Das Prinzip dieser Sendung, von der bisher in größeren Zeitabständen mehrere Staffeln produziert wurden, ist ebenso einfach wie effektiv; es folgt im Wesentlichen der Darstellungsweise der australischen Kultserie Fast Forward aus den frühen 1990er Jahren (vgl. Wikipedia). Jede Folge besteht aus einer Kette von einzelnen Sketchen, die andere Sendungen des deutschsprachigen Fernsehens parodieren: seien es nun Nachrichtenformate (z.B. RTL Aktuell mit Peter Kloeppel), Musikshows (z.B. diverse Volksmusik-Sendungen mit Florian Silbereisen), Krimiserien (z.B. CSI Miami mit David Caruso) oder (Pseudo-)Wissensmagazine (z.B. Galileo und Galileo Mystery mit Aiman Abdallah). Die Regisseure von Switch Reloaded gehen soweit, dass sie auch andere Serien parodieren, die selbst parodistische Züge tragen, etwa die Kultserie Stromberg, die bei Switch Reloaded „Obersalzberg“ heißt und in der nicht nur die Sendung an sich, sondern auch der Darsteller Christoph Maria Herbst, die Nazis und nicht zuletzt die vielen Hitler-Mimen imitiert werden (vgl. Thomann 2008), die in letzter Zeit den Film und das Fernsehen bevölkern und sich vor allem durch wässrig-trübe Blicke und stark rollende „R“s auszeichnen. Wie der Name andeutet, spiegelt Switch Reloaded in seiner Darbietungsform eine wesentliche Rezeptionsweise des Fernsehens wider. Jede Folge simuliert durch ein kurzes Rauschen und Flimmern (so als hätte man es mit einem besonders alten und langsamen Fernseher zu tun) den Vorgang des
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desinteressierten und ungeduldigen Umschaltens. Jeder einzelne Sketch – jede parodierte Sendung – wird also beständig durch andere Sketche bzw. Sendungen unterbrochen. Immer wieder jedoch kehrt der imaginäre Zuschauer, dessen Finger die Tasten der Fernbedienung mechanisch drücken, zu einzelnen bereits begonnenen Sketchen bzw. Sendungen zurück. Dabei wird die Zeit, die seit dem letzten „Umschalten“ vergangen ist, mit einberechnet: Die Sendung bzw. der Sketch wird dann zum jeweils späteren Zeitpunkt gezeigt, Informationslücken, die so entstehen, werden nicht geschlossen. Switch Reloaded folgt mit anderen Worten dem für die Rezeption des Fernsehens wesentlichen Prinzip der Echtzeit, die in Widerspruch zu den Zeitstrukturen der jeweiligen Sendungen steht – jeder, der in Werbepausen anfängt, von Kanal zu Kanal zu springen, und hofft, rechtzeitig zum angefangenen Film zurückzukehren, kennt das Phänomen. Schon diese parodistische Inszenierung eines unaufmerksamen, zur Differenzierung unfähigen Blicks, der den Akt des Fernsehens gewöhnlich kennzeichnet, schafft einen reflexiven Abstand zum Medium selbst. Der Zuschauer wird auf die Unzulänglichkeit seiner Position hingewiesen, auf sein mangelndes Bewusstsein dafür, was er beim Zuschauen tut; gleichzeitig wird ihm aber auch vor Augen gehalten, wie das sinnlose Zappen mit der Sinnlosigkeit dessen zusammenhängt, was er im Fernsehen sieht. Auf geradezu schmerzhafte Weise konfrontieren die Schauspieler und Regisseure von Switch Reloaded das Publikum mit den Abgründen, die sich auf allen Kanälen öffnen. An einem bekannten Beispiel lässt sich dies näher erläutern. Seit einigen Jahren produziert der Sender Pro7 mit zunächst großem, inzwischen aber nachlassendem Erfolg die so genannte Reality-Casting-Show Germany’s Next Topmodel, in der das selbsternannte Ex-Topmodel Heidi Klum, unterstützt von einer Jury, so tut, als wollte es die neue Claudia Schiffer entdecken, tatsächlich aber – und alle Beteiligten spielen dieses Spiel mit – vor allem sich selbst und das um ihre Person kreisende Marken-, Produkt- und Image-Imperium in den Mittelpunkt rückt (vgl. Fellmann 2009). Alles, was von den Feuilletonisten der Republik je gegen diese Sendung vorgebracht wurde, erscheint in weniger als eineinhalb Minuten Switch Reloaded auf das Wesentliche konzentriert. In einer Sequenz aus dem Jahr 2007, die sich auf die zweite Staffel der Casting-Show bezieht, begutachtet Heidi Klum gemeinsam mit dem amerikanischen Choreographen Bruce Darnell die Darbietung eines „Models“ namens Hana (vgl. Switch Reloaded 2007). Die Komik und Polemik dieser Parodie erschöpft sich nicht allein in der schrillen Piepsstimme der Klum-Imitatorin Martina Hill. Sehr genau ahmt die wandlungsfähige Darstellerin die artifizielle Sprechweise und Rhetorik nach, mit der Heidi Klum sich selbst zur strengen Richterin über die „Mädchen“ stilisiert: eine Sprechweise, die vor allem durch lange, Spannung, Überlegung und Überlegenheit suggerierende Pausen und gedehnte „ähm“s charakterisiert ist, und eine Rhetorik, in der sich die gönnerhafte Anrede des „Mädchens“ mit „meine Liebe“ mit der ostentativen Verwen-
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dung angeblicher Fachbegriffe der Modewelt wie editorial posing abwechselt, ein Ausdruck, der in einem Artikel über Klums Sprache ironisch als „Posier-Stil für anspruchsvolle Jobs“ definiert wurde, „die die Kandidatinnen nie bekommen“ (Buß/Pilarczyk 2010). Die Parodie macht sichtbar, in welchem Maße Klums Casting-Show als ein Spiel von Macht und Unterwerfung, Anmaßung und Verachtung, Kontrolle und Entblößung konzipiert ist, an dem sich die – vorwiegend weiblichen – Zuschauer voyeuristisch weiden können. Fast schon überdeutlich wird dies im „Foto-Shooting“ mit dem Titel „Der perverse Spanner auf dem Damenklo“ vor Augen geführt. Die Situation ist die gleiche wie in der Originalsendung: Das potentielle Topmodel Hana, dargestellt von Mona Sharma, muss vor der sitzenden Jury stehen, die Gericht über es hält, indem sie ein Foto beurteilt. Was bei der Bewertung interessiert, ist vor allem das intime Detail. Als Heidi Klum/Martina Hill das Bild als „supertoll“ bezeichnet, lächelt Hana Nitsche/Mona Sharma stolz und ein wenig verlegen angesichts des übergroßen Lobs, während sie auf dem Foto selbst die einzig angemessene Reaktion auf diese erzwungene Exhibition zeigt, nämlich das blanke Entsetzen. Bernhard Hoëcker, der Bruce Darnell spielt, zitiert mit seiner karnevalesk-skatologischen Anspielung „Da siehst du, was in dir steckt“ die in Germany’s Next Topmodel und anderen Casting-Shows ubiquitäre Rede von der Entdeckung schlummernder Talente und der dadurch ermöglichten Selbstverwirklichung der „Gecasteten“. Präziser lässt sich nicht ausdrücken, was hinter diesem Diskurs tatsächlich steckt. Noch drastischer und bösartiger ist die anschließende Laufsteg-Sequenz, in der Hana/Mona Sharma aufgefordert wird, sich der Jury und dem Publikum im weißen Kapuzengewand des Ku-Klux-Klans darzubieten. Zwar wird man Germany’s Next Topmodel offenen Rassismus nicht vorwerfen können, als menschenverachtend und zynisch lässt sich eine Sendung aber durchaus bezeichnen, in der die mitunter minderjährigen Teilnehmerinnen mit Salatsauce übergossen werden und die Kamera immer dann besonders lange auf ihren Gesichtern verweilt, wenn sie in Tränen ausbrechen (vgl. Böhnisch 2008). Auch hier spielt das Ensemble von Switch Reloaded wieder mit Doppeldeutigkeiten, etwa wenn Bruce Darnell/Bernhard Hoëcker beim Anblick der kostümierten Hana/Mona Sharma ganz warm wird und er nicht weiß, warum, oder wenn Heidi Klum/Martina Hill mit anzüglichem Augenbrauenhochziehen ankündigt, sie wolle abends nach der Sendung ihr „Schatzilein“ mit dem lustigen „Gespensterkostüm“ überraschen – Klum ist mit dem englischen Sänger Seal verheiratet, der nigerianisch-brasilianischer Abstammung ist und dessen Karriere durch Germany’s Next Topmodel auf direktem oder indirektem Wege tatkräftig unterstützt wird. Das polemische Moment der Parodie liegt hierbei zum einen in der obszönen Zurschaustellung des eigenen Privatlebens, zum anderen aber auch – und dies ist vielleicht noch wesentlicher – in der offensichtlichen Verharmlosung und Banalisierung dessen, was als strukturelle Gewalt und latentes Grauen in der Show selbst präsent ist. Denn die brutale Intoleranz des Geheimbunds aus
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den Südstaaten, die hier auf dem Laufsteg spazieren geht, verweist metaphorisch auf die kaum weniger brutale Intoleranz, mit der in Germany’s Next Topmodel jeder scheinbare Fehler, jede Abweichung, jede Eigenheit der Kandidatinnen von der Jury verfolgt wird. Als Zuschauer von Switch Reloaded lacht man über Heidi Klum/Martina Hill, die es „total süß“ findet, dass sich „der Bruce“ über das weiße Kapuzengewand „total gefreut hat“. Aber wie so oft bei Parodien mischt sich in das Amüsement auch eine Spur von Entsetzen, weil man sich zu fragen beginnt, wie eine Sendung wie Germany’s Next Topmodel überhaupt möglich sein kann. Die „unerträgliche Wirklichkeit“ des parodierten Gegenstandes, von der Agamben spricht – hier wird sie einen Moment lang spürbar. Und gleichzeitig wird klar, dass die parodistische Umformung, die es ohne Modell nicht geben kann, diese Wirklichkeit niemals aufzuheben vermag. Sie ermöglicht nur eine kurze Atempause: einen Augenblick der Neutralisierung, eine ortlose Zone temporärer Freiheit, die es erlaubt, innerhalb des Mediums Fernsehen das Dispositiv des Mediums Fernsehen selbst einige Minuten lang zu beobachten (vgl. Agamben 2008). Parodien wie die von Switch Reloaded nähern sich damit dem an, was Agamben in einem weiteren Essay als Profanierung beschrieben hat (vgl. Agamben 2005b). Die Verwendung dieses Begriffs mag im vorliegenden Kontext überraschen, lässt er sich doch ohne den Begriff der Religion nicht denken – und zwischen Switch Reloaded, Germany’s Next Topmodel und dem Bereich des Religiösen liegen auf den ersten Blick Welten. Der Ausdruck Profanierung, so wie ihn Agamben versteht, bedarf deshalb abschließend einer genaueren Erläuterung. Für den italienischen Philosophen sind Profanierungen Akte, mit deren Hilfe die Dinge der Sphäre der Religion entrissen und „dem freien Gebrauch der Menschen zurück[ge]geben werden“ (ebd.: 70). Diese Definition impliziert eine besondere Sicht der Religion, die Agamben nicht im geläufigen etymologischen Sinne als Sphäre der Rückbindung an das Göttliche oder Heilige begreift, sondern als Sphäre der „Absonderung“, in der „die Dinge, Orte, Tiere oder Menschen dem allgemeinen Gebrauch“ (ebd.: 71) entzogen werden. Profanierungen haben in dieser Deutung also die Funktion, ebendiese Trennung aufzuheben und dem Menschlichen einen eigenen Freiraum zu schaffen. Das zentrale Werkzeug der Profanierung ist dabei laut Agamben das Spiel, das man als eine Umkehrung sakraler Handlungen verstehen kann. Als performativer Akt ist die Profanierung dabei niemals harmlos, sondern, ähnlich wie die Parodie, aggressiv, ja gewaltsam: Religiöses lässt sich nur in die Sphäre des Gebrauchs überführen, wenn Grenzen verletzt, Regeln gebrochen und Gewohnheiten in Frage gestellt werden. Entscheidend für den hier interessierenden Zusammenhang von Parodie und Popkultur ist die geschichtsphilosophische Pointe, auf die Agamben seine Deutung der Profanierung zulaufen lässt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, so erklärt er im Anschluss an ein nachgelassenes Fragment Walter Benjamins, dominiere eine einzige Religion alle Bereiche des Lebens, auch
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wenn sie als solche nicht erkannt werde: die Religion des Kapitalismus, der einen „Kultus von permanenter Dauer“ (ebd.: 78) zelebriere und, mehr noch als jede andere Religion, von einer scheinbar unprofanierbaren „Struktur der Absonderung“ (ebd.: 79) geprägt sei: Im Zeitalter des globalen Kapitalismus, schreibt Agamben, „wird […] alles, was getan, produziert und gelebt wird – auch der menschliche Körper, auch die Sexualität, auch die Sprache –, von sich selbst abgesondert und in eine abgesonderte Sphäre verschoben, die von keinerlei substantieller Trennung mehr definiert wird und in der jeglicher Gebrauch auf […] Dauer unmöglich wird. Diese Sphäre ist der Konsum.“ (Ebd.)
Auch wenn der Kapitalismus zur Verabsolutierung und Vernichtung tendiert, gibt es Agamben zufolge jedoch noch letzte Möglichkeiten der Profanierung, die dieser Totalität des Konsums zuwiderlaufen: zweck- und sinnfreie, imitatorische Praktiken (vgl. ebd.: 84), welche die Absonderungen, die die kapitalistische Religion bewirkt, zwar weder abschaffen noch auslöschen können, die aber helfen, zu lernen, „einen neuen Gebrauch von ihnen zu machen, mit ihnen zu spielen“ (ebd.: 85). In der Popkultur, die mit den Gesetzen des Marktes und des Konsums aufs Engste verflochten ist, stellt die Parodie die Möglichkeit einer solchen temporären Profanierung dar, eines spielerischen Gebrauchs mit den Absonderungen, welche die Popkultur selbst vollzieht. In diesem Sinne lassen sich auch die hier betrachteten Beispiele – das eine am Anfang der Geschichte des Pop, das andere in unserer unmittelbaren populärkulturellen Gegenwart – als Profanierungen verstehen, und zwar insofern, als sie die Verfahren und Sinnstrukturen ihrer Gegenstände aufbrechen, sie freilegen, entstellen und zumindest vorübergehend einem neuen Gebrauch zugänglich machen: „Back in the USSR“, indem die nationalen und erotischen Mythen des amerikanischen Pop als leere Gesten entlarvt, Switch Reloaded, indem die indifferenten Obszönitäten deutscher Casting-Shows bloßgestellt werden. Das Reflexionspotential, das so eröffnet wird, ist Mahnung und Trost zugleich: Mahnung, weil deutlich wird, dass die Mechanismen der Popkultur häufig weniger harmlos sind, als es den Anschein hat, und Trost, weil auf diesem Wege die manchmal unerträgliche Wirklichkeit, die die Popkultur erzeugt, wenn nicht zerstört, so doch mit ihren eigenen Mitteln auf Distanz gehalten wird und damit etwas weniger unerträglich erscheint.
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L ITERATUR Agamben, Giorgio (2005a): „Die Parodie“, in: Profanierungen (übers. von Marianne Schneider), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 33-44 [Agamben, Giorgio (2005): „Parodia“, in: Profanazioni, Roma: nottetempo, S. 3956]. Agamben, Giorgio (2005b): „Lob der Profanierung“, in: Profanierungen (übers. von Marianne Schneider), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 70-91 [Agamben, Giorgio (2005): „Elogio della profanazione“, in: Profanazioni, Roma: nottetempo, S. 83-106]. Agamben, Giorgio (2008): Was ist ein Dispositiv? (übers. von Andreas Hiepko), Zürich: Diaphanes [Agamben, Giorgio (2006): Che cos’è un dispositivo?, Roma: nottetempo]. Aldridge, Alan (Hg.) (1990): The Beatles. Das illustrierte Songbook, München: Goldmann. Böhnisch, Julia (2008): „Wir übergießen unsere Models nicht mit Salatsauce. Interview mit Agentur-Chefin Louisa von Minckwitz“, in: Süddeutsche Zeitung vom 05.06.2008, http://www.sueddeutsche.de/karriere/ agentur-chefin-louisa-von-minckwitz-im-interview-wir-uebergiessenunsere-models-nicht-mit-salatsauce-1.202116 vom 26.05.2010. Buß, Christian/Pilarczyk, Hannah (2010): „Sprechen Sie Klum?“, in: Spiegel Online vom 04.03.2010, http://www.spiegel.de/kultur/tv/0,1518,681 484,00.html vom 26.05.2010. Dentith, Simon (2000): Parody, London: Routledge. Fellmann, Max (2009): „Der Kettenhund von Bergisch Gladbach“, in: Süddeutsche Zeitung Magazin 13, http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/ anzeigen/28778 vom 26.05.2010. Fiedler, Leslie A. (1988 [1969]): „Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne“, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim: VCH, S. 57-74. Harry, Bill (1993): The Ultimate Beatles Encyclopedia, Zürich: Olms. Hutcheon, Linda (2000 [1985]): A Theory of Parody: The Teachings of Twentieth-Century Art Forms, Urbana, IL: U of Illinois P. MacDonald, Ian (1997): Revolution in the Head: The Beatles’ Records and the Sixties, London: Fourth Estate. Rose, Margaret A. (1993): Parody: Ancient, Modern, and Post-modern, Cambridge: Cambridge UP. Rose, Margaret A. (2006): Parodie, Intertextualität, Interbildlichkeit, Bielefeld: Aisthesis. Thomann, Jörg (2008): „Ich habe im Internet retschertschiert“, in: FAZ.net vom 20.08.2008, http://www.faz.net/s/Rub475F682E3FC24868A8A527 6D4FB916D7/Doc~EA39654DB045F441A8DCC09829659A081~ATpl ~Ecommon~Scontent.html vom 26.05.2010.
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3 GESCHICHTE(N)
Phantastik und Philosophie in Guillermo del Toros El laberinto del fauno C ORNELIA R UHE La guerre s’est assoupie, un oeil toujours ouvert. (NUIT ET BROUILLARD [1955])
1 Z WISCHEN G ROSSPROJEKTEN UND PERSÖNLICHEN A RBEITEN Guillermo del Toro ist ein Multitalent. Als Regisseur, Produzent, Drehbuchund seit kurzem auch Romanautor1 feiert er international Erfolge. Mit seinem ersten Film La invención de Cronos (1993) ist er zunächst vor allem Fans von Genrefilmen ein Begriff. Er schafft allerdings bereits mit dem nächsten Film den Sprung nach Hollywood, wo er mit internationalen Stars Filme mit großem Budget dreht (Mimic [1997], Blade II [2002], Hellboy [2004], Hellboy – The Golden Army [2008]). Sie gehören den Genres des Horror- oder Actionfilms an, darunter sind aber auch Comic-Verfilmungen. Die Kritiker heben stets hervor, dass sich diese Filme durch eine originelle Handschrift auszeichnen.2 Del Toro selbst betont gerne, dass er diese Groß-
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2
Der Roman von Guillermo del Toro und Chuck Hogan mit dem Titel Nocturna bzw. The Strain wurde im Juni 2009 gleichzeitig auf Englisch und auf Spanisch publiziert, ebenso der zweite Teil, Oscura/The Fall, der im September 2010 erschien. Der dritte Teil der Trilogie, Eterna/The Night Eternal, soll im Oktober 2011 veröffentlicht werden. So z.B. Michael Althen: „Den Fans des Horror- und Fantasy-Genres ist del Toro schon seit längerem bekannt als Mann, der im Einerlei von Blut und Gewalt immer wieder ungewöhnliche Poesie und enorm nachhaltige Bilder entdeckt.“ (Althen 2007: 35)
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projekte für Hollywood-Studios gemacht habe, um Geld für kleinere, europäische Filme zu sammeln, die ihm persönlich am Herzen liegen.3 Der zweite dieser persönlichen Filme, El laberinto del fauno,4 oder, um den homonymen deutschen und internationalen Titel zu nennen, Pans Labyrinth (2006), hatte zwar ein relativ bescheidenes Budget von nur 19 Millionen US-Dollar, entwickelte sich aber zum kommerziell erfolgreichsten spanischsprachigen Film aller Zeiten mit einem Einspielergebnis von 83 Millionen US-Dollar. Der Film lief im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes, wo der Regisseur und seine Crew mit 22 Minuten stehender Ovationen gefeiert wurden (vgl. Wikipedia), gewann drei Oscars und zahlreiche weitere Preise,5 ein Ausweis der Anerkennung auch durch die Kritiker. Pans Labyrinth verarbeitet Elemente aus Phantastik, Mythologie und aus dem del Toro vertrauten Genre des Horrorfilms und thematisiert nicht zuletzt Aspekte der jüngeren Geschichte Spaniens. Die Handlung spielt 1944 im spanischen Hinterland, wo eine Truppe von Partisanen ungeachtet des seit 1939 offiziell beendeten Krieges weiterhin versucht, sich den siegreichen Franquisten zu widersetzen. Am Ende des Films steht der Sieg der Partisanen über Kapitän Vidal und seine Truppen.
2 „AN
ANTI - FASCIST FAIRY TALE SET IN
1944“ 6
Für den aufmerksamen Zuschauer verweist bereits der Titel des Films explizit nicht nur auf einen möglichen magisch-phantastischen Kontext, sondern auch auf den Spanischen Bürgerkrieg. Max Aubs Romanzyklus über die Guerra Civil (1943-1967) trug den Titel El laberinto mágico. Die Metapher
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„Since the early 1990s, del Toro has divided his film-making between personal European projects (the modern vampiric chiller Cronos in 1993; the ghostly Spanish Civil War fable The Devil’s Backbone in 2001) and big-budget Hollywood hits (ongoing comic-book franchises Blade II in 2002, and Hellboy in 2004).“ (Kermode 2006) Der erste persönliche Film ist El espinazo del diablo (2001), der ebenso wie El laberinto del fauno zur Zeit des spanischen Bürgerkriegs bzw. unmittelbar danach spielt. Beide Filme werden von del Toro als Teil einer noch nicht abgeschlossenen Trilogie betrachtet. Darunter sieben Goyas (Beste Nachwuchsdarstellerin, Bestes Originaldrehbuch, Beste Kamera, Bester Schnitt, Beste Maske, Bester Ton und Beste Spezialeffekte), neun Ariels (Bester Film, Beste Regie, Beste Schauspielerin, Beste Fotografie, Beste künstlerische Leitung, Bestes Kostüm, Bestes Make-up, Beste Effeke, Beste Originalmusik) und drei Preise der British Academy of Film and Television Arts (BAFTA; für den besten nicht englischsprachigen Film, für Kostüm und für Make-up). Die Oscars erhielt der Film für Beste Kamera, Bestes Szenenbild und Bestes Make-up. Interview mit Guillermo del Toro in UGO.
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wurde von Gerald Brenan aufgenommen, der seinen bekannten historischen Text über den Spanischen Bürgerkrieg Spanish Labyrinth (1943) nennt. Noch vor dem ersten Bild ertönt ein offensichtlich erschwertes Atemgeräusch. Man sieht sodann das sterbende Mädchen Ofelia, deren Atem der Zuschauer vorher bereits gehört hat, am Rande des titelgebenden Labyrinths liegen. Ihr Blut tropft allerdings nicht nach unten, sondern fließt zu ihr zurück – die Zeit wird zurückgedreht, damit der Film beginnen kann. Einerseits könnte man hier ein konventionelles Signal für die nun erfolgende Rückblende sehen, die den ganzen Film über andauert und die in dem für die Partisanen optimistischen Ende des Films gipfelt, das zum ambivalenten Charakter des Films passt. Im Gegensatz zu anderen filmischen Darstellungen, die den historischen Kampf der Partisanen ins Zentrum rücken, überleben sie hier nicht nur, sondern schlagen sogar die gegnerischen Truppen vernichtend. Ihr Sieg hat allerdings einen hohen Preis: Ofelia muss sterben, damit er möglich wird. Das rückwärts fließende Blut dreht folglich nicht nur für Ofelia die Zeit zurück, sondern ermöglicht es auch den eigentlich bereits geschlagenen Partisanen, ihren Kampf noch einmal mit neuer Hoffnung aufzunehmen. Andererseits, so die hier vertretene These, handelt es sich nicht allein um eine Rückblende; vielmehr ist der Film von seinem Anfang wie von seinem Ende her um ein Zentrum organisiert, das um die Themen Wahrnehmung und Kontrolle kreist. Die Protagonistin des Films, Ofelia (Ivana Baquero), befindet sich mit ihren elf Jahren in der Übergangsphase von der Kindheit zur Jugend. Transitorische Zustände sind darüber hinaus für den Film auf verschiedenen Ebenen kennzeichnend:7 Die historische Situation ist eine des Übergangs von der Kriegs- zur Nachkriegszeit, in der noch Kämpfe zwischen Partisanen und Franquisten ausgetragen werden; Carmen (Ariadna Gil), Ofelias Mutter, ist hochschwanger und befindet sich damit physisch in einem Übergangsstadium, das in ihrem Fall die ganze Spannbreite von Geburt und Tod umfassen wird. Zentral für den Film ist insbesondere die Transition zwischen realistischer, historisch klar situierter Welt und der phantastischen Ebene, die hier parallel zueinander etabliert werden und ständig ineinander fließen. Ofelia ist die einzige Person, der es möglich ist, zwischen beiden Welten hin- und herzuwechseln. Sie kann umso besser als Mittlerin zwischen den Welten agieren, als sie sich selbst noch in einem Übergangsstadium befindet. Obwohl sie bereits elf Jahre alt ist, hat sie, so scheint es, das magische
7
Das Labyrinth selbst ist für del Toro ein Symbol für transitorische Zustände: „Then, as time goes by, I think the labyrinth becomes a symbol of transition, of a trip. In many cases during the Holy Wars, the labyrinth becomes a transit that is supposed to allow you to walk along a path while you are meditating or praying. Inevitably, you will end up in the center. […] As Borges, Greek mythology, and oral folklore will tell you, the labyrinth reflects the values of its time.“ (In Fuchs 2007)
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Alter noch nicht gänzlich hinter sich gelassen. Dieser scheinbare Entwicklungsrückstand wird immer wieder von ihrer Mutter, aber auch von ihrem Stiefvater, dem Hauptmann Vidal (Sergi López), moniert. Beide sehen den Grund für dieses Defizit in Ofelias übermäßiger Lektüre von Märchen. In den ersten Szenen des Films wird dieser Aspekt der kindlichen Protagonistin offensichtlich: Eine Stimme aus dem Off erzählt eine Geschichte von einer Prinzessin namens Moana aus dem „reino subterraneo“, die von der Welt der Menschen träumte, der der Aufstieg ans Tageslicht gelang und die dort, geblendet vom Licht, ihre Herkunft vergaß und daher unfähig zur Rückkehr war. Es gelte nun, diese Prinzessin wiederzufinden und in die ‚Unterwelt‘ zurückzubringen. Die Geschichte bricht ab, die nächste Einstellung zeigt Ofelia, die in einem Märchenbuch blättert, sehr zum Unwillen ihrer Mutter, die sie dafür tadelt („Ya eres muy mayor para llenarte la cabeza con tantas zarandajas“ [00:03:03]). Aus dem Zusammenspiel der Off-Stimme mit dem Bild des lesenden Mädchens könnte man schließen, dass die vorgetragene Geschichte Ofelias Buch entstamme. Sie selbst habe es soeben gelesen, passe im Folgenden ihre Welt der des Märchens an und träume sich selbst in die Rolle der verschollenen Prinzessin Moana. Die Geschichte entstammt aber nicht dem Text des Märchenbuchs, das somit zum Auslöser für die Handlung wird, sondern seiner Illustration – also dem zum Film passenden Bildmedium. Diesem Bild in ihrem Buch – einem von vier Feen umschwärmten Mädchen – wird Ofelia sich im Verlauf des Films anverwandeln.
3 D OPPELTE P RÜFUNGEN Das Thema der Wahrnehmung und das der Kontrolle werden gleich zu Beginn des Films in einer Szene eingeführt, die sich metapoetisch als Reflexion über die Arbeit des Interpreten lesen lässt: Die Autofahrt von Ofelia und ihrer Mutter zur Mühle, in der Hauptmann Vidal, ihr zweiter Ehemann, sie erwartet, wird unterbrochen, da die hochschwangere Carmen sich übergeben muss. Ofelia steigt aus und findet auf der Straße einen eigenartigen Stein, der so bearbeitet ist, dass er wie ein Auge aussieht. Als sie den Weg verlässt und einige Schritte in den Wald hineinläuft, entdeckt sie eine moosüberwachsene, steinerne Statue mit einem riesigen, wie zum Schrei geöffneten Mund. Der Statue, die der Zuschauer retrospektiv als eine Darstellung der für den Film zentralen Figur des Fauns erkennen wird, fehlt ein Auge. Ofelia setzt den Stein, den sie gefunden hat, an der entsprechenden Stelle ein, vervollständigt so die Statue und befähigt sie wieder zur vollständigen Wahrnehmung und zur Kontrolle ihrer Umwelt. Als habe sie damit einen Mechanismus betätigt, entschlüpft dem Mund der Statue nun eine große Stabheuschrecke, die als Ofelias Führerin in die Geschichte dienen wird. Ofelia meint bereits jetzt, darin eine Fee zu erkennen, was sie auch ihrer
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Mutter mitteilt, die daran allerdings keinerlei Interesse zeigt, sondern nur Augen für Ofelias schmutzig gewordene Schuhe hat. Aus einer metapoetischen Perspektive liest sich die Passage als ein Hinweis auf die Arbeit des Interpreten des Films – ein Element wird gefunden, an der richtigen Stelle eingesetzt und bringt so die Handlung wie auch die weitere Interpretation in Gang. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass man, anders als die pragmatische Mutter, zur Wahrnehmung der gleichsam poetischen Implikationen des Alltags befähigt ist und sich den Blick darauf nicht durch prosaische Details wie schmutzige Schuhe verstellen lässt. Das Auge, das Ofelia der Statue einsetzt, um ihr so neues Leben bzw. neue Wahrnehmung einzuhauchen, korrespondiert mit einem anderen Auge, das sich am Ende des Films für immer schließen wird: Ofelias Stiefvater, der faschistische Hauptmann Vidal, dessen Wahrnehmung in scharfem Kontrast zu ihrer eigenen steht, wird am Ende des Films von den Partisanen gestellt und erschossen. Der Schuss trifft ihn dabei unterhalb des Auges, das in der Folge bricht. Dieses ‚blinde‘ Auge Vidals spiegelt das fehlende Auge der Statue. Ebenso wie Ofelia am Anfang durch den Fund des Augen-Steins die Handlung in Gang setzt, so ist sie es auch, die sie zu Ende führt, indem sie am Ende den Tod ihres Stiefvaters mit verantwortet. Ofelia sieht in der Stabheuschrecke, die sie später zu dem Faun führen wird, bereits bei ihrer ersten Begegnung eine Fee. Als die Heuschrecke in der ersten Nacht in der alten Mühle in ihrem Zimmer erscheint, zeigt Ofelia ihr in ihrem Märchenbuch ein Bild von einer Fee, und das Insekt gleicht sich vor ihren Augen diesem Bild an. Die Wirklichkeit ist mit den Augen Ofelias gesehen wandelbar, Dinge wie Lebewesen können mehr als eine Gestalt haben, können poetischen Charakter annehmen. Zuvor, bei Ofelias und Carmens Ankunft in der alten Mühle, macht Ofelia zum ersten Mal Bekanntschaft mit ihrem Stiefvater. Der Film charakterisiert Vidal als einen Technokraten und durch seine Uniform als Faschisten, der selbst gefangen ist in dem von ihm vertretenen System und nicht zulassen kann, dass in seiner Umgebung dagegen verstoßen wird. Sein Fetisch ist die Uhr. Während Ofelia noch vor ihrem ersten Erscheinen im Film durch ihr schweres Atmen präsent war, wird Vidal durch ein weniger natürliches Geräusch charakterisiert: Der Zuschauer hört auf der Tonspur ein überlautes Ticken, noch bevor er die dazugehörige Uhr in der Hand Vidals sieht. In Erwartung des Eintreffens von Ofelia und Carmen blickt Vidal auf die Uhr und konstatiert ungehalten 15 Minuten Verspätung des Konvois. Die Kontrolle über die Zeit, die er mittels der Uhr zu haben meint, spiegelt Vidals manischen Kontrollwahn auf allen anderen Ebenen. Er ist stets darauf bedacht, sich jeden und alles untertan zu machen. Der Rückzugsort des Hauptmanns in der Mühle ist konsequenterweise das Räderwerk. Mehrmals wird gezeigt, wie er sich in diesem Zimmer rasiert, während im Hintergrund das bedrohliche und übermächtige Mahlwerk mit seinen Zahnrädern zu sehen ist (Abb. 1). Er wird damit als Teil des Räderwerks des Faschismus eingeführt.
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In einer für die Charakterisierung der Figur wichtigen Szene wird Vidal gezeigt, wie er in diesem Raum, der in mehrfacher Hinsicht das Zentrum der Mühle ist, mit den geisterhaften Schatten der Mühlenräder im Hintergrund, seine Taschenuhr reinigt. Er hat dabei eine Uhrmacherlupe ins Auge geklemmt und betrachtet ehrfürchtig die Zahnräder der Uhr, bevor er den Deckel wieder schließt. Vidals nahezu fetischistische Fixierung auf Räderwerke und Uhren wird so auf der Bildebene mehrfach überdeutlich markiert. Abbildung 1: Vidal rasiert sich, im Hintergrund das Mahlwerk der Mühle
Quelle: © Senator Film Verleih GmbH 2007
Bei einem Bankett Vidals mit den Honoratioren des Dorfes erzählt ein Gast, er habe Vidals Vater gekannt, der ebenfalls Offizier gewesen sei. Als er sich in einer ausweglosen Lage befunden habe, habe er, den Tod vor Augen, seine Taschenuhr zerschmettert, „para que su hijo supiera como muere un valiente“ (00:40:52). Vidal bestreitet verärgert diese Geschichte. Am Ende des Films wird er dennoch diese von ihm geleugnete Geste seines Vaters zu wiederholen versuchen. Er, der mit dem beständigen Blick auf die Uhr lebt, verlangt von den Partisanen, die ihn töten werden, dass sie seinem eigenen Sohn später mitteilen mögen, wann und wie er gestorben sei. Seine Bitte wird ihm von der mit den Partisanen verbündeten Dienerin Mercedes verweigert: „Ni siquiera sabrá tu nombre.“ (01:43:32) Die genealogische Linie, die Vidal über drei Generationen zu bewahren sucht, ja die er als Tradition etablieren möchte, wird unterbrochen. Bereits in diesem Bruch deutet sich an, dass der Film eine Loslösung von der spanischen Tradition, die in den Krieg geführt hat, sucht, hin zu einem Neuanfang. Del Toros filmisches Universum weist eine Reihe von Konstanten auf, die seinen Filmen einen hohen Wiedererkennungswert verleihen. Der Regisseur ist fasziniert von mechanischen Apparaturen,8 allen voran Zahnrädern
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Siehe dazu del Toros Aussagen in einem Interview: „Frage: Ihre Vorliebe für Mechanik zieht sich durch all ihre Filme hindurch, hier gibt es am Ende beim Auftauchen der Goldenen Armee wieder das von Ihnen so geschätzte Räderwerk zu sehen. Sie sammeln ja auch mechanisches Spielzeug. – Antwort del Toro: […] Maschinen faszinieren mich, als Kind war das vor allem das Interesse an Auto-
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und Uhren, ebenso von Labyrinthen.9 Es ist aber nicht nur der Vorliebe des Regisseurs zu verdanken, dass El laberinto del fauno so stark von diesen Aspekten geprägt ist. Dies hat, wie im Folgenden gezeigt werden soll, darüber hinaus einen philosophischen Hintergrund, der insbesondere für die Charakterisierung der Figur des Vidal zentral ist.
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Die konventionelle Interpretation des Zusammenspiels von historischrealistischer und phantastischer Ebene im Film ist eine kompensatorische. Diese Deutung weist der phantastischen Welt des Films einen klar umgrenzten Rahmen zu, innerhalb dessen sie eine ebenso begrenzte Funktion zu erfüllen hat: Ofelia flüchte sich in die phantastische Welt, um die Schrecknisse ihres Alltags zu vergessen. Sie schaffe sich ein phantastisches Universum zur Kompensation ihrer Ängste. Damit würde die Phantastik dem Bereich des Irrealen zugewiesen, sie diente lediglich der Defizitbilanzierung.10 Dies generell als die Funktion des Phantastischen zu sehen, ist für Renate Lachmann eine reduktionistische Sicht: „In neueren Untersuchungen wird die Phantastik als eine Literatur der Kompensation gelesen, die den Zwängen der Aufklärung und der Unterdrückung des aufklärerisch nicht Zulässigen entgegenwirkt, die Beschränkungen aufhebt und das Begehren nach dem Anderen zu artikulieren wagt. Doch greift die Reduktion der Phantastik auf pure Defizitbilanzierung, wie sie für etliche Phantastiktheorien gilt, zu kurz. Denn sie läßt die Ambivalenzen ebenso außer acht wie die ludistische Dimension phantastischer Texte und ihre Tendenz zu semantischer Verschwendung, zu Sinnüberschuß.“ (Lachmann 2002: 25f.)
maten, mir gefiel die Idee, dass ein analoger Mechanismus die Funktionen des Lebens reproduzieren kann. Es gibt wunderbare Geschichten über die europäischen Hersteller von Automaten, Menschen, die kleine Figuren bauten, die gehen und sprechen konnten – oder auch E.T.A. Hoffmanns ‚Der Sandmann‘. Räderwerke liebte ich als Symbole des Fortschritts.“ (Arnold 2008: 37) 9 Insbesondere in den beiden Hellboy-Filmen spielen diese Aspekte eine zentrale Rolle: Protagonisten werden immer wieder auf leichte Verspätungen hingewiesen; Rasputin, der Schurke in Hellboy, wird aus einem Labyrinth wiedergeboren, das durch das Blut eines Mannes aktiviert wurde und genauso aussieht wie das des Fauns; Rasputin verfügt über eine Marionette im doppelten Wortsinn, den Maschinen-Nazi Kroenen, der anstelle eines Herzens ein Uhrwerk hat, das aufgezogen und stillgestellt werden kann; die Endkämpfe beider Filme finden in bzw. auf riesigen Uhrwerken statt, deren überdimensionale Räder und Rädchen beide Parteien regelmäßig zu zermahlen drohen. 10 Für diesen Interpretationsansatz siehe z.B. Leweke 2007; Hajduk 2007; Althen 2007.
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Gegen die These der reinen Kompensation eines Defizits spricht in Pans Labyrinth die Tatsache, dass die Off-Stimme, die das einleitende Märchen erzählt, die eines erwachsenen Mannes und nicht des Kindes Ofelia ist. Del Toros Film bleibt dadurch in seiner Darstellung der phantastischen Welt bewusst ambivalent: Mit der zu Anfang von der Off-Stimme erzählten Geschichte wird eine zweite Welt eröffnet, die im Wechsel mit der historischen Ebene dem Film seinen Rhythmus verleiht.11 Diese Welt hat auf der Ebene der Bilder dieselbe Existenzberechtigung wie die ‚tatsächliche‘. Der OffKommentar rückt sie zwar in zeitliche Ferne, nicht aber in den Bereich der Phantastik:12 „Cuentan que hace mucho, mucho tiempo.“ (00:01:27) Der Absolutheitsanspruch der historischen Realität ist durch die Einführung einer Anderswelt gebrochen. Dennoch erfüllt die phantastische Welt insofern eine kompensatorische Funktion, als es durch sie ermöglicht wird, Erklärungen für ansonsten Unerklärliches zu finden – für den Faschismus. Dafür muss hier der Weg nicht, wie sonst in der Phantastikforschung häufig üblich, über die Psychoanalyse als vielmehr über die Philosophie erfolgen. Gottfried Wilhelm Leibniz stellt zwei Gleichnisse ins Zentrum seiner Monadenlehre, deren bekanntestes das Mühlengleichnis ist.13 Es dient eigentlich der Exemplifizierung seiner Monadologie, der Unterscheidung von beseelten und unbeseelten Vorgängen, kann aber stark vereinfacht als Gegenüberstellung von menschlicher und künstlicher Intelligenz verstanden werden. Die entscheidende Stelle findet sich in §17 seiner Monadologie: „Man muß übrigens zugestehen, daß die Perzeption und was von ihr abhängt durch mechanische Gründe, d.h. durch Figuren und Bewegungen, unerklärbar ist. Angenommen, es gäbe eine Maschine, deren Struktur zu denken, zu fühlen und Perzeptionen zu haben erlaubte, so könnte man sich diese derart proportional vergrößert vor-
11 Der Regisseur selbst nennt in Interviews immer wieder die Bedeutung der Phantastik und von Elementen des Horrorfilms für ihn, unterschlägt aber auch nicht die Möglichkeiten einer kompensatorischen Lektüre: „For me, fairytales have a direct connection to the subconscious.“ Siehe hierzu z.B. die Interviews unter Festival Cannes. 12 Die Off-Stimme ist auch insofern interessant, als sie im Abspann des Films als „narrador“, also als Stimme eines Erzählers benannt wird. Gleichzeitig ist sie, so wird ebenfalls im Abspann deutlich, auch die Stimme des Fauns, der also, in gewisser Weise, zum Erzähler des Films wird. Festzuhalten ist, dass dieser Film in der Tat über einen Erzähler verfügt, der die Geschichte des Films eröffnet und schließt. Die Kamera nimmt im Film tatsächlich die Rolle eines auktorialen Erzählers ein, ist sie doch stets in der Rolle eines Beobachters. Nur an einer markanten Stelle, auf die weiter unten genauer eingegangen werden soll, nimmt sie die subjektive Perspektive einer Figur ein. 13 Diese Entdeckung verdanke ich meinem Bruder Niko Ruhe.
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stellen, daß man in sie eintreten könnte wie in eine Mühle. Dies vorausgesetzt, würde man, indem man sie von innen besichtigt, nur Teile finden, die sich gegenseitig stoßen, und niemals etwas, das eine Perzeption erklären könnte.“ (Leibniz 1998: 18f.)
Wahrnehmung und Empfindung sind in einem mechanischen Apparat nicht vorstellbar, obwohl auch in ihm Bewegung stattfinden kann. Das Zentrum der Mühle, das Vidal bewohnt, lässt sich im Anschluss an diese Überlegungen als überdimensional vergrößertes Symbol für sein Innerstes betrachten: Vidal, der Technokrat, ist nichts weiter als eine Maschine, die zwar in ihren Bewegungen Menschlichkeit vortäuschen kann, aber nichts hat, was „die Perzeption und was von ihr abhängt“ erklären könnte. Mögen die Monster der phantastischen Welt noch so schrecklich sein, das schlimmste, weil seelenlose und mechanische, Monster ist in diesem Film ein Mensch, dessen Behausung auf sein eigenes Herz verweist, das sich und damit ihn als rein technische Funktion erkennen lässt.14 Im Universum del Toros ist Vidal sozusagen die Fortführung von Kroenen, dem Maschinen-Nazi aus Hellboy mit dem Uhrwerk an der Stelle des Herzens. Während im Fall von Kroenen mit seiner Darth-Vader-Maske anstelle eines Gesichts sein maschinelles Wesen in diese geschrieben steht, wahrt Vidal nach außen den menschlichen Schein, bis Mercedes dafür sorgt, dass er sein wahres Gesicht zeigt. Er ist die Personifikation von Faschismus und Totalitarismus. Sowohl im Zentrum von Leibniz’ Mühle als auch bei Vidal wird an der Bewegung ersichtlich, dass Wahrnehmung stattfindet. Dennoch bleibt sie unerklärlich. An dieser Stelle nun setzt die phantastische Ebene des Films an. Ihre Rätsel und Assoziationsspiele (auf die weiter unten eingegangen werden soll), die das Gegenteil der rationalen und faschistischen Welt Vidals sind, bieten Elemente für eine Beantwortung der Fragen nach seiner Motivation. Nicht Ofelia wird damit psychoanalytisch lesbar, vielmehr deutet sie für sich und für den Zuschauer mithilfe ihrer phantastischen Welt, was ansonsten unerklärlich bliebe: ihren Stiefvater und seine Motivation. Sie verfügt, wie die metapoetischen Passagen zu Anfang des Films zeigen, dank der Schulung durch (Märchen-)Literatur über die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Verknüpfungsmöglichkeiten von Realität und Fiktion. Sie weist ihr den Weg ins Innere des Menschen. Leibniz’ philosophisches System basiert allerdings noch auf einem weiteren Gleichnis, das im vorliegenden Kontext ebenfalls von hohem Interesse ist, dem so genannten Uhrengleichnis:
14 Vidal ist damit das Gegenteil dessen, was sein Name behauptet – er ist eben nicht „vital“, es sei denn in einem protofaschistischen, Männlichkeit und Kraft verherrlichenden Sinne.
158 | C ORNELIA RUHE „Man denke sich zwei Uhren, die fortlaufend ohne die geringste Abweichung übereinstimmen. Die Übereinstimmung kann auf dreierlei Arten herbeigeführt sein: Entweder die beiden Werke sind durch eine technische Vorrichtung so miteinander verbunden, dass das eine vom andern mechanisch abhängig ist und daher nicht von ihm abweichen kann. Oder es ist ein beaufsichtigender Mechaniker vorhanden, der beide fortlaufend reguliert. Oder, drittens, die beiden Uhren sind mit solcher Kunstfertigkeit und Präzision gemacht, dass eine Abweichung ausgeschlossen ist.“ (Störig 1993: 339f.)
Leibniz erklärt in diesem Gleichnis das Zusammenwirken von Leib und Seele. Er selbst glaubte an die dritte Variante; die Occasionalisten sahen Gott in der Rolle des Mechanikers (vgl. Mittelstraß 2004: 1067f.). Vidals sorgfältige Reinigung und Wartung seiner Taschenuhr ist das Werk des „beaufsichtigende[n] Mechaniker[s]“, denn damit sorgt er dafür, dass sein Körper und seine mechanische Seele fortlaufend übereinstimmen.15 Er setzt sich in die Rolle Gottes, der nach Leibniz für die Synchronisierung von Körper und Seele Sorge trägt. In Vidals Welt ist davon nur noch die Sorge um ein Uhrwerk geblieben, das im Takt des Faschismus tickt. Als ihr „oberster Uhrmacher“ maßt er sich die Kontrolle über die Welt an.16
15 Damit fällt Vidal hinter Leibniz zurück und macht sich sozusagen den pervertierten Standpunkt der Occasionalisten zu eigen. Andererseits liegt darin, worauf auch Hubertus Busche hinweist, eine durchaus ‚klassische‘ Fehllektüre von Leibniz: „Daß Leibniz mit seiner Präetablierten Harmonie eine derartige Vermittlungsposition einnimmt, wird selten erkannt, denn traditionell wird dieses berühmte Lehrstück in dem Sinne verstanden, daß Gott, als der gleichsam perfekte Uhrmacher der Welt, Leib und Seele wie zwei Uhren von vorneherein synchronisiert habe, ohne daß es hierfür einen natürlichen Grund gebe. Nach diesem Klischee bestünde die Leibnizsche Erklärung allein in der dogmatischen Behauptung, daß der göttliche Wundermann, weil er ja alles kann, auch dieses übernatürliche Kunststück per Dekret, also durch seine absolute Macht vollbracht habe. Ausgerechnet Leibniz, der den Okkasionalisten Wunderglauben vorwarf, hätte selbst die psychophysische Harmonie zu erklären beabsichtigt durch ein unerklärliches göttliches Wunder!“ (Busche 2009: 66) 16 Guillermo del Toro ist, so machen die Interviews mit ihm deutlich, ein ausgesprochen belesener Regisseur, der seinen Schauspielern zum besseren Verständnis ihrer Rollen z.B. literarische Texte empfiehlt. Die philosophische Vertiefung erscheint daher in diesem Kontext durchaus naheliegend.
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5 (W IEDER -)G EBURT
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G EISTE
DER
G ESCHICHTE
Ofelias Entdeckung der phantastischen Welt erfolgt unmittelbar nach ihrer Ankunft in der Mühle, in der Vidal sich mit seinen Truppen niedergelassen hat und in der sie nun mit ihrer Mutter und dem kleinen Bruder leben soll, dessen Geburt insbesondere Vidal ungeduldig erwartet. In der ersten Nacht in der Mühle folgt Ofelia der Stabheuschrecken-Fee wie vor ihr Lewis Carrolls Alice dem weißen Kaninchen.17 Statt im Kaninchenbau landet sie aber im titelgebenden Labyrinth. Hier trifft Ofelia erstmals auf den Faun, dessen steinernes Abbild sie zuvor vervollständigt hatte. Er meint, in ihr sofort die Prinzessin Moana zu erkennen. Del Toros Anderswelt folgt den Regeln des Märchens. Entsprechend erlegt der Faun Ofelia drei Prüfungen auf, mittels derer sich erweisen soll, dass sie tatsächlich die verschollene Prinzessin der Unterwelt ist. Zur Übermittlung der Aufgaben erhält Ofelia ein großes Buch, dessen Seiten jedoch leer sind. Sie werden sich, so der Faun, für sie allein sichtbar mit der Beschreibung ihrer Aufgaben füllen. Der Faun bezeichnet das Buch als „El libro de las encrucijadas“, als „das Buch von den Scheidewegen“. Dieser Name kann, wie zu zeigen sein wird, tatsächlich als Zusammenfassung aller Aufgaben Ofelias dienen. Die Prüfungen, die das Mädchen in der Anderswelt zu bestehen hat, sind stets in komplexer Weise mit Ereignissen in der realen Welt des Films verflochten, in denen allerdings nicht Ofelia, sondern ihr erwachsenes Alter Ego Mercedes, die Helferin der Partisanen, im Zentrum steht. Die Montage führt die auf diese Beziehung verweisenden Szenen dabei nicht parallel, sondern stellt sie stets leicht zeitversetzt nebeneinander. Ofelias erste Aufgabe ist es, eine riesige Kröte, die unter den Wurzeln eines Baumes lebt und ihn zum Absterben bringt, mittels dreier vergifteter Bernsteine zu überwältigen und ihr einen goldenen Schlüssel abzunehmen. Ofelia meistert diese Aufgabe erfolgreich. Allerdings muss sie dafür in einen niedrigen, engen und schlammigen Gang unter die Wurzeln des Baumes kriechen, wo die Kröte haust.18 Das neue, grüne Kleid und die neuen Schuhe, die ihre Mutter ihr kurz zuvor stolz überreicht hatte, sind eine wenig geeignete Bekleidung für diese Aufgabe. Ofelia zieht das Kleid daher aus und hängt es in die Äste des Baumes, so als wollte sie dem toten Baum bereits damit etwas von seinem natürlichen Grün zurückgeben.19
17 In der Tat wird insbesondere im Internet immer wieder auf den Einfluss von Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (1865) und Through the LookingGlass, and What Alice Found There (1871) auf den Film del Toros verwiesen, ohne dass dieser Spur aber weiter nachgegangen würde. 18 Der Weg unter die Wurzeln des Baumes zur Kröte ähnelt auffällig Alices Weg in den Kaninchenbau und damit ins Wunderland. 19 Es ist auffallend, dass die Protagonistin den ganzen Film hindurch stets grüne Kleider trägt. Darin deutet sich ihre Nähe zur Natur an.
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Das Kleid ist aber noch unter einem anderen Gesichtspunkt interessant: Es ist als augenzwinkernder Hinweis darauf zu verstehen, dass Ofelia tatsächlich in mancherlei Hinsicht eine Enkelin von Lewis Carrolls Alice ist. Alice trägt in der international berühmten Zeichentrickversion dieses Klassikers (1951) ein auffallend ähnliches Kleid (Abb. 2 und 3). Abbildung 2: Ofelia
Abbildung 3: Alice
Quelle: © Senator Film Verleih GmbH 2007
Quelle: © Disney
Der Baum, in dessen Innerstes Ofelia bei ihrer Aufgabe vordringt (Abb. 4), wird doppelt markiert: Der wie durch Zauberhand im „Libro de las encrucijadas“ erschienene Text bezeichnet ihn als den Baum, unter dem sich zu Anbeginn der Zeit Menschen und Zauberwesen zum Schlaf versammelten und der damit von einer Zeit kündet, als Realität und Phantastik miteinander noch nicht im Widerspruch standen, so wie der Film dies erneut in Szene setzt. Vor allem weckt der Baum aber eine andere Assoziation: die eines arból genealógico, eines Stammbaums. Der mächtige Baum, der nur zwei Hauptäste ausgebildet hat, steht für Spanien und den das Land bestimmenden Konflikt zwischen den dos Españas, den „zwei Spanien“. Dieser im 19. Jahrhundert entstandene Konflikt zwischen – stark vereinfacht gesagt – konservativen und liberalen Kräften, mündet schließlich in den Bürgerkrieg, an dessen Ende die Handlung des Films angesiedelt ist. Dieser Baum, so wird durch Ofelias Aufgabe deutlich, ist an der Wurzel vergiftet und stirbt daher. Ofelias erfolgreiche Erfüllung ihrer Aufgabe ermöglicht ihm nun ein neues, von der Vergiftung befreites Leben.20
20 Der sterbende Baumriese weckt optisch noch eine weitere Assoziation: Seine beiden Hauptäste sind so gebogen, dass sie sich wie die Hörner des Fauns ausnehmen.
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Abbildung 4: Der Baumriese, unter dessen Wurzeln die Kröte haust
Quelle: © Senator Film Verleih GmbH 2007
Ofelias Wiederauftauchen aus dem engen Gang unter den Wurzeln des Baumes nach ihrer gehorsamen und genauen Erfüllung der ersten Aufgabe könnte als ihre zweite Geburt interpretiert werden. Wie nach ihrer tatsächlichen Geburt geht Ofelia schmutzig aus dem neuerlichen Geburtskanal hervor und wird – wie nach einer Entbindung üblich – sogleich gebadet. Ofelia ist aber nicht nur selbst neugeboren, sie wird auch zur Geburtshelferin eines neuen, vom alten Gift befreiten Spanien. In der Ermöglichung einer anderen Geschichte für ihr vom Bruderzwist geplagtes Land besteht der eigentliche, tiefere Sinn ihrer Aufgaben. Der Schlüssel, den sie der Kröte entreißt, korrespondiert mit der Parallelhandlung um Mercedes. Diese gelangt unterdessen als Vidals Dienstbotin in den Besitz des einzigen Schlüssels zum Vorratsraum, in den Vidal die gesamten Essensvorräte des Dorfes hat bringen lassen, um so zu verhindern, dass von dort weitere Nahrungslieferungen an die Partisanen erfolgen. Mercedes fertigt von diesem Schlüssel ein Doppel an, das sie an ihren Bruder, den Führer der Partisanen, übergibt.
6 I M Z ENTRUM
DER
Z EIT
In derselben Nacht – Ofelia ist ohne Essen ins Bett geschickt worden – besteht ihre zweite Aufgabe darin, an die Wand ihres Zimmers mithilfe eines Stücks Kreide,21 das sie vom Faun erhielt, eine Tür zu zeichnen, die sich dann für sie öffnet und den Weg in die Anderswelt freigibt. Ihre Zeit dort wird von einer Sanduhr gemessen; ist sie abgelaufen, schließt sich die Tür und es gibt keinen Rückweg mehr für Ofelia. Durch die Tür gelangt sie in einen unterirdischen Raum, in dem ein Festmahl aufgetischt ist. Am Kopf des Tisches thront eine unheimliche, augenlose Gestalt, die del Toro in sei-
21 In einem Film, der eine begeisterte Leserin und die Kraft der Phantasie ins Zentrum rückt, ist es durchaus konsequent, dass die Kreide, also ein Schreibwerkzeug, die Türen in die Anderswelt öffnet.
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nen Skizzen stets als den Pale Man bezeichnet (Abb. 5). Der Pale Man hat seine Augäpfel auf einem Teller vor sich liegen. Der Faun hat Ofelia zuvor eingeschärft, dass sie die Speisen nicht anrühren dürfe und dass das, was sie in dem unterirdischen Raum erwarte, „no […] humano“ (00:50:57) sei. Diese Szene, zu der ebenfalls eine Parallelhandlung abläuft, ist nicht nur die Mitte des Films, sondern auch sein Zentrum. Auf der realistischen Ebene des Films findet zwischen beiden Aufgaben ein Bankett in der Mühle statt, das Vidal für die Honoratioren des Dorfes gibt. Die Einladung soll dazu dienen, ihnen die Rationierung der Nahrungsmittel für die Dorfbewohner bekanntzugeben. Bei diesem realistischen Mahl nimmt Vidal denselben Ehrenplatz ein wie der Pale Man in der Unterwelt. Mercedes sorgt währenddessen gemeinsam mit den anderen Dienstboten für das Wohl der Gäste und lauscht aufmerksam Vidals Ausführungen, um sie später den Partisanen überbringen zu können. Abbildung 5: Ofelias Begegnung mit dem Pale Man
Quelle: © Senator Film Verleih GmbH 2007
Ofelia bestaunt zunächst das unterirdische Festmahl und die Ausstattung des Raumes. Dabei fallen ihr an der Wand Fresken im mittelalterlichen Stil auf, die den Pale Man als kinderfressendes Monster zeigen. Darüber hinaus entdeckt sie einen Berg von Schuhen, der in der Filmhandlung nicht weiter motiviert ist. Er lässt sich deuten als Hinweis auf die Fotos von den Bergen von Schuhen der ermordeten KZ-Häftlinge.22 Der Pale Man und seine Untaten werden damit in einen noch unmenschlicheren faschistischen Kontext gestellt als der, dem auch Hauptmann Vidal angehört. Ofelia gelingt es, mithilfe des von der Kröte erbeuteten Schlüssels eine Art Schließfach zu öffnen, das wiederum eine ins Monströse verzerrte Darstellung des Fauns ist: Die drei „Schließfächer“ sind wie die drei aufgerissenen Münder des steinernen Fauns, dessen vier Augen Ofelia anstarren. Die Feen, die Ofelia begleiten, weisen ihr das mittlere Schließfach, sie entscheidet sich aber für das linke, in dem sie einen Dolch findet, den sie einsteckt.
22 In diesen Bildern ist ein Hinweis auf Alain Resnais’ berühmten dokumentarischen Film Nuit et brouillard (1955) zu sehen.
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Hierin liegt ihr erster Verstoß gegen die Regeln des Fauns, der ihr die Feen mit den Worten „Dejaos guidar por ellas“ (00:50:45) übergeben hatte. Auf dem Rückweg zögert sie vor der reich gedeckten Tafel und isst schließlich drei Trauben, trotz des expliziten Verbots des Fauns. Sofort erwacht der Pale Man zum Leben, setzt die Augäpfel in die dafür vorgesehenen Stellen in seinen Handflächen ein und macht sich an ihre Verfolgung. Er verschlingt dabei zwei der Feen. Ofelia und der letzten verbleibenden Fee gelingt es mit letzter Kraft, ihm zu entkommen. Auf bildlicher Ebene zeigt sich bereits zu Anfang des Films, dass die Statuen des Fauns mit Vidal korrespondieren (Abb. 6 und 7). Damit wird die Statue mit den Schließfächern in gewisser Weise zu einer weiteren Darstellung Vidals. Der Dolch, in dem sich Mercedes’ Messer spiegelt, mit dem sie Vidal später verletzen wird, kommt auf der Bildebene gleichsam aus seinem eigenen Mund. Auf der realistischen Ebene des Films entspricht diese Sequenz Vidals Entdeckung von Mercedes’ Verrat. Er will sie foltern, damit sie ihre Komplizen verrät. Mercedes verfügt jedoch über ein Messer, das sie stets im Umschlag ihrer Schürze verborgen hält – das Äquivalent zu dem Dolch, den Ofelia dem Schließfach entnimmt – und es gelingt ihr so nicht nur, sich zu befreien, sondern auch Vidal zu verletzen. Sie stößt ihm das Messer in den Mund und damit zurück an den Ort, aus dem Ofelia den Dolch holt und aus dem zu Anfang die Fee schlüpft, und reißt es gewaltsam wieder heraus. Dadurch fügt sie Vidal eine Wunde zu, die seinen Mundwinkel ins Groteske verlängert. Er wird damit in offensichtlicher Weise zu dem Monster, das er immer gewesen ist.23
23 Das ganze Ausmaß seiner Unmenschlichkeit wird in einer weiteren Szene offenbar: Zurück in seinem Raum im Inneren der Mühle näht er diese Wunde selbst mit einem grob aussehenden Faden und einer Nadel. Trotz der Schmerzen, die er offenkundig verspürt, kommt er dieser Aufgabe ohne zu zögern nach. Die entstehende Naht versteckt er unter einem Pflaster, dennoch ist für den Zuschauer deutlich geworden, dass Vidal zwar aus Fleisch und Blut sein mag, dabei aber von Fäden zusammengehalten wird, die eines Frankensteins würdig wären. Im Gegensatz zu Mary Shelleys Wissenschaftler, der die namenlose Kreatur zusammensetzt, ist es hier allerdings Vidal, also das Monster selbst, das sich verarztet und damit wiederum seinen übermenschlichen Charakter offenbar werden lässt.
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Abbildung 6: Ofelia und der Faun
Abbildung 7: Ofelia und Vidal
Quelle: © Senator Film Verleih GmbH 2007
Quelle: © Senator Film Verleih GmbH 2007
Der Pale Man, Vidals Alter Ego in der Unterwelt, wird durch die unterschiedlichen Interpretationsansätze, die sich für ihn anbieten, zu einer sehr komplexen Figur. Einerseits spiegelt er durch seine Position am Tisch und vor dem lodernden Kaminfeuer Vidal. Andererseits stand für seine Darstellung ein Gemälde aus Francisco de Goyas Pinturas negras (1819-1823) Pate (Abb. 8). Es stellt eine wichtige Referenz zur kulturellen Tradition Spaniens dar (vgl. Kermode 2006). Abbildung 8: Goya, Saturno devorando a sus hijos
Quelle: Internet
Dieser Bezug ist in doppelter Hinsicht interessant: Einerseits spiegelt die Darstellung Saturns, der seinem Kind gerade den Kopf abgebissen hat, exakt die Art und Weise, in der der Pale Man die Feen zerfleischt. Andererseits
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verweist die Tatsache, dass es sich hier um eine mythologische Szene handelt, auf einen tiefer liegenden Kontext. Saturn ist in der römischen Mythologie durch den Mord an seinem eigenen Vater an die Macht gekommen. Ihm wird seinerseits geweissagt, er werde durch die Hand eines seiner Kinder sterben. Daher verschlingt er vorsorglich seinen Nachwuchs, bis auf Jupiter, den seine Frau vor ihm verbergen kann und der ihn schließlich ermorden wird. Das Äquivalent zu Saturn in der griechischen Mythologie ist Kronos, der in der Volksetymologie bereits früh mit Chronos, dem Gott der Zeit, gleichgesetzt wurde. Pan ist, so eine der Erklärungen seiner Herkunft, ein Sohn des Zeus und damit ein Enkel des Kronos.24 Dieser Verweis führt zurück zum Anfang meiner Ausführungen: Der erste Spielfilm Guillermo del Toros heißt La invención de Cronos; in ihm spielen Fragen des Alterns und der ablaufenden Lebenszeit eine gewichtige Rolle. In all seinen Filmen zeigt sich del Toros Faszination für Uhrwerke und Mechanik, stets ist die Zeit von herausragender Bedeutung. Im Zentrum dieses Films nun sitzt mit dem Pale Man25 als Personifikation von Saturn/Kronos die Inkarnation der Zeit selbst.26 Er spiegelt Vidal, den von Uhren und der Zeit besessenen Protagonisten des Films, dessen Innerstes, wie bereits gezeigt worden ist, gleichsam aus einem Uhrwerk be-
24 Im Film ist die mythologische Ebene für den aufmerksamen Zuschauer an einer einzigen Stelle angedeutet: Als Ofelia zum ersten Mal in das Labyrinth hinabsteigt, ruft sie in die Stille „Echo“, woraufhin der Faun erscheint. In der griechischen Mythologie wird von der Nymphe Echo berichtet, dass Pan in sie verliebt gewesen sei, sie sich ihm jedoch verweigert habe. 25 Die an religiöse Fresken erinnernden Bilder im Raum des Pale Man, die ihn als Kinderfresser zeigen, gewinnen in diesem Kontext eine zusätzliche Bedeutung, handelt es sich doch offensichtlich um die Bilder von den Morden an seinen eigenen Nachkommen. 26 In Lewis Carrolls Alice im Wunderland spielt die Zeit ebenfalls eine zentrale Rolle: Das weiße Kaninchen ist von seinem ersten Auftreten an sehr besorgt darüber, dass es sich verspäten könnte. Die zentrale Szene bei Carroll ist die Teeparty beim verrückten Hutmacher und dem Märzhasen. Der verrückte Hutmacher erläutert, dass er sich mit der (personifizierten) Zeit gestritten und sie daher die Zeiten durcheinander gebracht habe, sodass nun ständig teatime sei. Auch hier gibt es also interessante Korrespondenzen. Mit Lewis Carroll zitiert del Toro einen Autor, der bei Weitem nicht nur in seinen literarischen Texten an der Zeit interessiert war, sondern auch über wissenschaftliche Expertise bezüglich der Zeit verfügte: „His interest in time as a physical concept, rather than a metaphysical one, drew on his scientific expertise. He participated in the Victorian effort to fix an International Date Line, a venture launched by the Royal Society of London. Carroll’s paper on the subject was published in the Macmillan journal Nature, still the principal journal for key new scientific papers.“ (Jones/Gladstone 1998: 265f.)
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steht und der gleichzeitig ein Rädchen im größeren Getriebe des faschistischen Spaniens ist.27 Es könnte daher kein besseres Symbol für ihn geben als Kronos, den Herrn über die Uhren.28 Vidal wird am Ende des Films tatsächlich seine Stieftochter Ofelia töten. Auch Kronos verschlingt vermeintlich all seine Kinder, bis auf Zeus, den seine Gattin vor ihm versteckt, indem sie ihm anstelle des Kindes einen in Windeln gewickelten Stein gibt, den er verspeist. Er wird später von seinem Sohn getötet, den er meint, verschlungen zu haben. Vidal wird ebenfalls von Ofelias erwachsenem Alter Ego, von Mercedes und den anderen Partisanen, ermordet werden, die dies stellvertretend für Ofelia tun und die Vidal glaubte, vernichtet zu haben. Die Figur des Saturn/Kronos spielt nicht nur in der Mythologie, sondern auch in ihrer Verwendung durch die Psychoanalyse eine wichtige Rolle. Bei C.G. Jung figuriert Saturn als einer der Archetypen, der für einen übermächtigen, verschlingenden Vater steht. In diesem Kontext gehen Analytiker wie John W. Crandall von einem Kronos-Komplex aus, den Crandall als „destructive ingestive process which hinders the [child’s] capacity to exist separately and autonomously“ (Crandall 1984: 110) definiert. Maria Martinez-Ortiz, die dieser Frage für den vorliegenden Film nachgegangen ist, kommt zu dem Schluss, Vidal sei „a well-rounded metaphor of the ‚Cronus complex‘“ (Martinez-Ortiz 2010). Ob man die Existenz dieses Komplexes nun anerkennt oder nicht, der Film legt eine psychoanalytische Interpretation Vidals im Sinne eines ausgeprägten Vaterkomplexes jedenfalls sehr nahe. Diese Deutung der Figur wird allerdings erst durch das Zusammenspiel der historisch-realistischen und der phantastischen Ebene möglich. Der Film entwickelt sich von seinem Anfang wie von seinem Ende her konsequent auf die zentrale Szene des Pale Man hin bzw. aus ihr heraus. Ofelias Tod an beiden „Enden“ des Films und die Tatsache, dass ihr Blut in der ersten Szene rückwärts fließt, verweisen darauf, dass die Zeit hier, ausgehend von Kronos, dem Herrn über sie, rückwärts bzw. vorwärts verläuft. Die beiden Hälften des Films verhalten sich in mancher Hinsicht spiegelbildlich zueinander; so korrespondieren etwa die jeweils drei Auftritte des
27 Diesen Vorwurf des blinden Gehorsams macht Vidal der Arzt: „Es que – obedecer para obedecer, así, sin pensarlo, eso solo lo hacen gentes como usted, Capitán.“ (01:20:43) 28 Mit Blick auf den mythologischen Hintergrund lässt sich auch Vidals Unwilligkeit, über seinen Vater zu sprechen, deuten: Wenn er, und sei es auch nur auf symbolischer Ebene, seinen Vater getötet hat, dann muss ihm ein Gespräch über ihn notwendigerweise unangenehm sein. Zugleich ist seine Aussage „Nunca tuve un reloj“ (00:40:58) durchaus in diesem Zusammenhang lesbar – wenn er der Herrscher über die Zeit ist, so kann nicht bereits sein Vater über ein Instrument zu ihrer Messung verfügt haben. Die Uhr allerdings, die Vidal besitzt und eifrig pflegt, hat einen auffallenden Sprung im Glas und könnte daher durchaus identisch sein mit der, die sein Vater angeblich zerschmettert hat.
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Fauns miteinander, aber auch das Steinauge zu Anfang entspricht Vidals brechendem Auge am Schluss des Films. Die Tatsache, dass Ofelia Vidal bei ihrer ersten Begegnung die falsche Hand reicht, wofür er sie tadelt, könnte ein Indiz dafür sein, dass die Welt hier sozusagen spiegelverkehrt ist.29 In der falschen, linken Hand wird zugleich augenzwinkernd die politische Positionierung der Protagonisten angedeutet.
7 W AHRNEHMUNG UND P HANTASTIK Wie bereits zu Anfang erwähnt, geht es in El laberinto del fauno zentral um die Wahrnehmung. In der zitierten Passage von Leibniz, dem so genannten Mühlengleichnis, geht es ebenfalls um Perzeption. Eine Maschine ist, so Leibniz, dazu nicht imstande, sie kann bloß funktionieren. Diese Beobachtung lässt sich auf die Figur des Hauptmanns Vidal übertragen: Er ist im Stande, innerhalb eines vorgegebenen Systems zu funktionieren, seine Einhaltung zu kontrollieren und damit als das zu agieren, was bereits sein Vater war, „un gran militar“ (00:40:39). In der Leibniz’schen Logik agieren hier „nur Teile […], die sich gegenseitig stoßen, und niemals etwas, das eine Perzeption erklären könnte“ (Leibniz 1998: 19). Die Grenzen des Systems sind damit für Vidal die Grenzen seines Bewusstseins und seines Verständnisses. Gehorsam ist für ihn das oberste Gebot, und einen Verstoß dagegen ist er unfähig zu verstehen. Seine Wahrnehmung ist dabei aber noch auf einer anderen Ebene gestört, wie die Parallelsetzung mit dem Pale Man in eindrucksvoller Weise vor Augen führt: Vidals monströser Doppelgänger kann seine Augen, das zentrale Wahrnehmungs- und Kontrollorgan, herausnehmen und sich damit jeglicher Wahrnehmung verweigern, solange in den Grenzen eines Systems
29 In dieser „Spiegelverkehrtheit“ der Welt könnte wiederum ein weiterer Bezug zu Lewis Carroll liegen, in diesem Fall zu Through the Looking Glass: Bereits in Alice in Wonderland hatte Alice stets zu ihrer eigenen Überraschung spontan Lieder und Gedichte mit ‚falschen‘ Texten deklamiert. Erst Alices Weg hinter den Wohnzimmerspiegel führt sie dann aber in ein Reich, in dem die Zeit selbst ebenso wie die Erinnerung in beide Richtungen verlaufen kann: „‚Living backwards!‘ Alice repeated in great astonishment. ‚I never heard of such a thing!‘ ‚– but there’s one great advantage in it, that one’s memory works both ways.‘ ‚I’m sure mine only works one way.‘ Alice remarked. ‚I can’t remember things before they happen.‘ ‚It’s a poor sort of memory that only works backwards,‘ the Queen remarked. ‚What sort of things do you remember best?‘ Alice ventured to ask. ‚Oh, things that happened the week after next,‘ the Queen replied in a careless tone. ‚For instance, now,‘ she went on, sticking a large piece of plaster on her finger as she spoke, ‚there’s the King’s Messenger. He’s in prison now, being punished: and the trial doesn’t even begin till next Wednesday: and of course the crime comes last of all.‘“ (Carroll 2005: 100f.)
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gehandelt wird. Er wird damit gleichsam zum Symbol für den blinden Gehorsam. Befolgt Ofelia getreulich die Regeln des Fauns, der sich hier, ebenso wie Vidal, verdoppelt, bleibt der Pale Man statisch. Er sieht sie nicht, denn das Hinschauen ist überflüssig, solange sie die an sie gestellten Erwartungen erfüllt.30 Als Ofelia sich zur Regelübertretung entschließt und die Trauben vom Tisch des Pale Man isst, erwacht dieser zum Leben. Ihre Handlung ist dabei durchaus ambivalent: Einerseits kann man es als klassische Illustration dessen sehen, dass selbst Ofelia durch den Hunger, den sie verspürt, korrumpiert zu werden und den Verführungen, die von Vidal und dem durch ihn repräsentierten System ausgehen, zu verfallen droht. Andererseits liegt darin eine bewusste Übertretung der Regeln des Fauns, eine Auflehnung gegen den absoluten Gehorsam, der ihr abverlangt wird. Dieser Verstoß wird ganz konsequent damit bestraft, dass zwei der Feen, die für die überbordende Kraft der Phantasie stehen, verschlungen werden und somit Ofelias Universum der Märchen, gegen das auch Vidal und ihre Mutter opponieren, geschwächt wird.31 Der Pale Man ist nach seinem Erwachen nicht sofort handlungsfähig, vielmehr muss er erst seine Augäpfel in die dafür vorgesehenen Höhlen in seinen Handflächen einsetzen. Sodann hält er sich die Hände mit den Flächen nach außen an die Stellen, an denen eigentlich die Augen sitzen (Abb. 9) und nähert sich mit drohenden, aber deutlich zögernden Schritten Ofelia. Das Bild des Auges in der Hand(-fläche) ist ein in vielen Kulturen verwendetes Symbol. In ihm kombinieren sich die beiden wichtigsten Wahrnehmungs- und Erkenntnisinstrumente des Menschen, sodass es gemeinhin als Bild für das Streben nach Allwissenheit und Allmacht, für Kontrolle gesehen wird.32
30 In diesem Punkt spiegeln sich erneut Ofelia und Mercedes bzw. Vidal und der Pale Man: Für Vidal ist Mercedes „no […] más que una mujer“, daher war sie für ihn, wie sie selbst sagt, stets unsichtbar. Erst ihr Verrat lässt sie für ihn sichtbar werden. 31 Eine bereits zitierte Szene, in der die Fee gemeinsam mit dem Faun etwas isst, das wie rohes Fleisch aussieht und vor dem Ofelia sich ekelt, suggeriert jedoch, dass die Fee möglicherweise mehr ist als nur die Inkarnation der Phantasie – sie ist eine Spionin, die der Faun Ofelia mitgegeben hat, um ihren Gehorsam zu prüfen. In der Tat fliegt sie, kaum dass Ofelia sich gegen das von ihr gezeigte Schließfach entschlossen hat, sofort zum Pale Man, um ihn auf diese Verfehlung aufmerksam zu machen. Eine Reaktion bleibt jedoch aus. Die phantastische Welt selbst ist demnach bereits affiziert von der Bosheit der realistisch-historischen Ebene. Ihre zumindest für die romanischen Länder zentrale Exponentin – die den cuentos de hadas titelgebende Fee – hat sich korrumpieren lassen. 32 In den islamischen Kulturen ist die so genannte Hand der Fatima ein Schutztalisman, der vor dem bösen Blick bewahren soll. In den meso-amerikanischen
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Abbildung 9: Der Pale Man ist zum Angriff bereit
Quelle: © Senator Film Verleih GmbH 2007
Um die Allmacht und Allwissenheit des Pale Man ist es allerdings, so zeigt der Film deutlich, gerade aufgrund der Lokalisierung seiner Augen, schlecht bestellt: Handelt er (im wahrsten Sinne des Wortes), so kann er nicht sehen, sieht er, so kann er nicht handeln. Wahrnehmung und Handlung schließen sich gegenseitig aus. Zugleich nimmt der Pale Man und mit ihm Vidal die Welt nicht über den dafür eigentlich vorgesehenen Sinn – die Augen – zur Kenntnis, sondern über die Hände, die die Welt im doppelten Wortsinn manipulieren und instrumentalisieren. Er nimmt Menschen wie Mercedes, aber auch den Arzt oder den Stotterer stets erst im Moment ihrer Regelverletzung wahr, sozusagen beim Verstoß gegen seine Manipulationen. Seine Beschäftigung mit ihnen erfolgt dann auf der reinen Handlungsebene, indem er sie foltert oder ermordet. In diesen Momenten ist er wiederum zur Wahrnehmung nur in unzureichender Weise fähig: Er tötet zwei Bauern, ohne ihren Fall vorher genauer in Augenschein zu nehmen, wofür er anschließend seine Soldaten verantwortlich macht; er tötet den Arzt, der der Einzige ist, der seine Frau und Ofelias Mutter retten könnte und verurteilt damit seine eigene Frau zum Tode. In der Tat ist Vidal in der Logik des Films in ganz fundamentaler Wiese zur Wahrnehmung unfähig: Die zweite Ebene des Films, das Reich der Phantastik, in dem er sich in der Figur des Fauns und des Pale Man vervielfacht hat, kann er nicht sehen. Dieser Aspekt wird in einer wiederum ambivalenten Szene des Films offensichtlich. Während Ofelias letztem Gespräch mit dem Faun, in dem sie sich nun vollends gegen dessen Prüfungen und Regeln auflehnt, indem sie sich weigert, ihren Bruder zu opfern, wird sie von Vidal beobachtet. Die Kamera nimmt seine Perspektive ein und sieht nun nur noch Ofelia, die vor einem unsichtbaren Gegenüber, mit dem sie spricht, zurückweicht. Betrachtet man diese Szene mit einer Haltung, die in der Phantastik reine Kompensation und Defizitbilanzierung sieht, so muss man davon ausgehen, dass sich darin der irreale Charakter der phantasti-
Kulturen, vor allem bei den Azteken, existiert ebenfalls ein solches Symbol, das dem culto de la muerte zugeordnet wird.
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schen Welt in objektiver Weise entbirgt. Die Parallelwelt kann tatsächlich nur von Ofelia gesehen werden. Es ist aber gerade keine objektive Perspektive, die die Kamera hier einnimmt, sondern vielmehr die subjektive Vidals. Er repräsentiert in diesem Film die Person mit der eingeschränktesten, problematischsten Wahrnehmung, ja in ihm ist, wenn man die Leibniz’sche Idee konsequent denkt, nichts, „das eine Perzeption erklären könnte“ (Leibniz 1998: 19). Noch einmal wird die Einseitigkeit dieses Charakters ausgestellt. Zu einer Beobachtung, die über die Grenzen des für ihn Vorstellbaren hinausgeht, ist er nicht in der Lage.
8 V ERLETZTE R EGELN Der Sinn von Ofelias Aufgaben besteht wie im Märchen vermeintlich in der unbedingten Befolgung der ihr auferlegten Regeln und damit im Erlernen von blindem Gehorsam. Hier kreuzt sich ihre Lektüreerfahrung in der Welt der Märchen mit der Realität, verlangt der verabscheute Stiefvater ihr doch dasselbe ab wie die Märchen ihren Protagonisten. Das Buch mit ihren Aufgaben, das der Faun ihr überreicht, wird damit ganz buchstäblich zu einem „Buch der Scheidewege“. Ofelia entscheidet sich bereits nach der ersten Aufgabe dafür, die Regeln zu durchbrechen, und bringt so deren Erfüllung und nicht zuletzt sich selbst in akute Gefahr. Ofelias letzte Aufgabe soll darin bestehen, so will es der Faun, ihm ihren wenige Tage alten Bruder zu bringen und mithilfe seines Blutes – „solo un poco de sangre“ (01:40:53) – das Labyrinth zu öffnen und Ofelia damit den endgültigen Zugang zur Anderswelt zu verschaffen. Auf allegorischer Ebene steht der Bruder für das Neue Spanien, das nach dem Willen Vidals ein faschistisches, kontrolliertes und kontrollierbares Land werden soll und dessen Geburtswehen der Zuschauer auf der historischen Ebene des Films miterlebt. In einem solchen patriarchalischen System ist für Carmen kein Platz mehr; sie zu opfern wird billigend in Kauf genommen, wie es Vidal selbst dem Arzt gegenüber bereits geäußert hatte. Wenn man so will, könnte in dem Schicksal, das ihrem Kind zugedacht ist, und in seiner Überhöhung zum Neuen Spanien auch der Grund für Carmens massive Übelkeit liegen. Sie, die keine überzeugte Faschistin zu sein scheint, wehrt sich innerlich gegen diese Instrumentalisierung ihres Kindes.33 Nicht nur die Geburt des Bruders ist blutig und für die Mutter – die damit für das Alte Spanien steht – tödlich, ihr gehen bereits starke Blutungen voraus, die das Leben von Mutter und Kind in Gefahr bringen. In diesen Elementen lässt sich die allegorische Umsetzung des Bürgerkriegs zwischen Nationalspaniern und Republikanern sehen, dessen Blutzoll hoch ist und der nur über den Versuch der Aus-
33 Das Unbehagen der schwangeren Frau gegenüber dem Kind, das sie erwartet, findet sich als wiederum phantastisch aufgelöstes Motiv auch in Roman Polanskis Rosemary’s Baby, auf den dieser Aspekt zu verweisen scheint.
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löschung einer Partei zum Ziel gelangen kann. Ofelia verhindert allerdings die weitere Vereinnahmung des Bruders durch Vidal, d.h. das faschistische Regime, und überantwortet ihn gleichsam postum an die Partisanen, damit sie ihn, wenngleich Sohn eines Faschisten und im Geiste des Faschismus geboren, zum Sinnbild für das andere, das Neue Spanien in ihrem und in Ofelias Sinne machen können. Ofelia weigert sich auch dem Pan gegenüber, ihren Bruder zu opfern. Er, der das letzte ist, was von ihrer Ursprungsfamilie geblieben ist, sie aber auch für immer an Vidal bindet, soll bei ihr bleiben. Für ihn, so betont der Faun, gibt sie ihr geheiligtes Recht auf die Herrschaft der Unterwelt auf, obwohl er der Grund dafür sei, dass sie „humillada e ignorada“ (01:41:26) worden sei. In der Verteidigung ihres Bruders steht Ofelia nolens volens auch für die Interessen ihres verhassten Stiefvaters ein. Vidal wird es ihr nicht danken, sondern sie stattdessen erschießen. Die untrennbare und ambivalente Verbindung beider Spanien wird in der Figur des Bruders, der mehr eine Projektionsfläche als eine tatsächliche Figur ist, deutlich: Das republikanische und das faschistische Spanien mögen sich zwar ideologisch voneinander getrennt haben und einander bis aufs Blut bekämpfen, sie sind aber zugleich durch unauflösbare familiäre Bande aneinander gebunden. Für die sterbende Ofelia öffnet sich dadurch, dass ihr Blut und nicht das ihres Bruders in das Labyrinth tropft, ein Tor zur Anderswelt. Sie betritt einen prunkvollen Raum, in dem auf turmhohen Thronen ihre Mutter und ihr Vater sitzen. Ihr Vater bestätigt ihr, dass sie die Prüfung, die gerade im Schutz ihres Bruders bestand, erfolgreich absolviert habe. Ihr Blut habe sie für seines vergossen. Die Prüfung hatte also paradoxerweise – und ganz in der Logik vieler Märchen – die Auflehnung gegen die Regeln des Systems zum Ziel. Naheliegend ist aber auch eine andere Interpretation: Durch ihren Opfertod öffnet sich das Labyrinth; der Sieg der Partisanen und ein Wiedersehen mit ihren Eltern werden ermöglicht, somit ein in ihrem Geiste – dem der Auflehnung gegen das totalitäre System – positives Ende. Wäre hingegen das Blut ihres Bruders vergossen worden, hätte sich ganz im Sinne Vidals eine faschistische Welt des blinden Gehorsams geöffnet. Der Film schließt den von ihm gezeichneten Kreis: Ofelias Tod und die um sie weinende Mercedes am Rande des Labyrinths sind das letzte Bild, bevor die Off-Stimme vom Anfang des Films wieder einsetzt, um von Ofelias langer und glücklicher Herrschaft im Reich ihres Vaters zu berichten. Ihr Aufenthalt in der Realität hat Spuren hinterlassen – so wird betont, während die Kamera auf den Baumriesen schwenkt, unter dessen Wurzeln Ofelia ihre erste Prüfung absolviert hat. An einem seiner toten Äste öffnet sich nun, gegen alle Wahrscheinlichkeit, eine Blüte. Diese und andere Erinnerungen an Ofelia sind allerdings „visible solo por aquel que sepa donde mirar“ (01:47:28), sind also nur für denjenigen sichtbar, der zur Wahrnehmung fähig ist.
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P HANTASTIK UND P HILOSOPHIE | 173
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Spiel mit der Angst Britischer Hip-Hop nach 9/11 L ARS E CKSTEIN
Kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 beschloss Avtar Lit, Geschäftsführer von Sunrise Radio, der nach bescheidener eigener Einschätzung „greatest Asian radio station in the world“, den Begriff Asian in allen Nachrichtensendungen zu verbieten. Asian bezieht sich dabei im britischen Kontext natürlich nicht wie in Deutschland oder den USA auf Ostoder Südostasien, sondern immer auf Südasien: British-Asian war – zumindest bis 2001 – der relativ unkontrovers gebrauchte Terminus für die britischen Bevölkerungsgruppen, die seit 1947 vor allem aus Pakistan, Indien, Bangladesch und Sri Lanka eingewandert sind und in der ersten bis hin zur mittlerweile vierten und fünften Generation im Land leben. Liv begründete seine Entscheidung folgendermaßen: „In the wake of September 11th and also following the [Bradford and Oldham] riots last year we have had a lot of calls from Sikhs and Hindus worried that in many people’s eyes the word Asian links them to events involving Muslims. Hindus and Sikhs feel that Muslims are bringing the Asian community in disrepute in Britain and do not want to be put in the same bracket as them.“ (In Hyder 2004: 22)
Dass es sich hierbei nicht um eine kurzfristige Überreaktion handelt, sondern dass dieses Beispiel den Beginn nachhaltiger politischer Veränderungen innerhalb der britischen Gesellschaft markiert, mag eine vom Hindu Forum of Britain (freilich nicht ohne Eigeninteresse) in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2006 verdeutlichen. Während vor 2000 religiöse Ausdifferenzierungen unterhalb des Begriffs Asian keine öffentliche Rolle spielten, lehnten 2006 laut einer Untersuchung des renommierten Runnymede Trust über drei Viertel der britischen Hindus die Bezeichnung British-Asian ab und bevorzugten stattdessen die Bezeichnung Hindu, ohne Zweifel in Reaktion auf eine immer stärker anwachsende Angst vor umfassender Islamophobie und eine mit ihr einhergehende kollektive Stigmatisierung aller süd-
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asiatisch aussehenden Menschen. Eine im selben Jahr durchgeführte Umfrage der BBC bestätigt, dass ganz Ähnliches für die britischen Sikhs gilt, während eine weit überwiegende Anzahl der britischen Muslime bezeichnenderweise emphatisch am kollektiven Label Asian festhält (vgl. Huq 2006). Es ist also fraglos etwas faul im Staate England seit den Anschlägen des 11. September und die Situation der Briten mit südasiatischen Wurzeln hat sich mit den Anschlägen vom 7. Juli 2005 auf das Londoner Bus- und UBahnsystem nochmals nachhaltig verschlechtert. Umso erstaunlicher ist es, dass die etablierten britischen Autoren und Filmemacher mit südasiatischem Hintergrund, denen in den 80er und 90er Jahren der Aufstieg in den Mainstream des britischen Kulturbetriebs gelungen war (vgl. Korte/ Sternberg 2004), sich bislang kaum um die neu aufgeflammten inner- und interethnischen Spannungen und kollektiven Stigmatisierungen geschert haben. Regisseure wie Gurinder Chadha, Pratibha Parmar und andere versuchen sich ein ums andere Mal an romantischen Komödien, während das Feld politisch und sozial engagierterer Filme über die Situation der Asians fast kampflos weißen Filmemachern wie Ken Loach (Ae Fond Kiss [2004]), Kenny Glenaan (Yasmin [2004]) oder Peter Kosminsky (Britz [2007]) überlassen wird. In der Literatur sind es ebenfalls vorzugsweise weiße Autoren wie Martin Amis, Ian McEwan oder Patrick Neate, deren kontroverse 9/11Romane in den Feuilletons besprochen werden, während das Establishment der Asian writers offensichtlich wenig zur Debatte um die neuen Verwerfungen und Ängste beizutragen hat. Ohne dies näher ergründen oder bewerten zu wollen, ist der Ausgangspunkt dieses Essays, dass im Feld der populären Musik die Dinge anders liegen. British-Asian musics führten lange Zeit ein Nischendasein und gelangten erst in den 90er Jahren durch Künstler wie Apache Indian oder Talvin Singh an eine breitere Öffentlichkeit. Um die Jahrtausendwende waren sie jedoch in einer Reihe von Genres fest im britischen Mainstream etabliert und zwar insbesondere in der elektronischen Musikszene und im HipHop. Anhand zweier Beispiele will ich in diesem Essay zeigen, wie gerade im Asian Hip Hop die Spannungen nach 9/11 produktiv aufgegriffen und kontrovers künstlerisch umgesetzt wurden. Die beiden Fallbeispiele, die ich in diesem Zusammenhang einander gegenüberstellen will, zeigen dabei zwei repräsentative Facetten des provokanten Spiels mit der Angst auf – die eine eher im Modus des Agitprop zu verorten, mit dem Ziel, maximale mediale Aufmerksamkeit und damit einhergehend eine Debatte um die politischen Zustände nach 9/11 und 7/7 herzustellen; die andere nicht weniger provokant, jedoch künstlerisch subtiler und vielschichtiger und in der Folge in der politischen Stoßrichtung weitgehend verkannt.
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F UN ^D A^M ENTAL , „C OOKBOOK D.I.Y.“ (2006) Das erste Fallbeispiel behandelt die Jungle-/Hip-Hop-Formation Fun^da^mental, die bereits 1991 vom Mastermind der Band, Aki Nawaz, gegründet wurde. Nawaz ist pakistanischer Abstammung, Gründer des in der Szene extrem wichtigen Labels Nation Records und ehemals Drummer der Goth-PunkBand Southern Death Cult. Seit ihrer Gründung pflegen Fun^da^mental ein radikal antirassistisches und globalisierungskritisches Image, das allerdings dadurch verkompliziert wird, dass sie sich früh einem militanten, panislamischen Nationalismus nach Vorbild der amerikanischen Nation of Islam verschrieben (auf den frühen Alben werden beispielsweise Reden von Malcolm X oder Louis Farrakhan gesampelt). Fun^da^mental waren in diesem Sinne schon immer eine politisch kontroverse Band, erregten aber selbst mit so provokanten Alben wie Erotic Terrorism (1998) über die Jungle- und HipHop-Szene hinaus kaum Aufsehen. Dies änderte sich allerdings schlagartig mit dem Album All Is War (2006), für das Nawaz die Band neu erfand – die Bandmitglieder wurden weitgehend ausgetauscht (insbesondere Mitbegründer Dave Watts, der karibischer Abstammung ist und der islamischnationalistischen Ideologie eher zurückhaltend gegenüberstand, ist nicht mehr mit von der Partie) und die Sounds bewegen sich ein Stück weit weg vom experimentellen Drum’n’Bass der frühen Platten, hin zu einer textzentrierteren und weniger fragmentarisierten Spielart des Hip-Hop. All Is War: The Benefits of G-HAD war der musikalische Skandal des Sommers 2006 und wurde in allen Gazetten des Landes kontrovers diskutiert. Der Skandal ist das Ergebnis einer aufwendig geplanten Provokation, die bereits mit dem Albumcover beginnt, das einen blutgetränkten New Yorker Hafen abbildet, in dem auf Liberty Island nicht die Freiheitsstatue, sondern die in der Zeit kaum minder ikonische Figur eines verkabelten irakischen Abu Ghraib-Gefangenen steht. Solche Provokationen setzen sich in den Lyrics fort, so z.B. gleich im ersten Song „I Reject“, der ganz bewusst Öl ins Feuer der latenten Islamophobie weiter Teile Englands gießt: „I reject your pork I reject your beer / Reject everything you stand for / […] Reject your mini skirt liberation / Reject your concept of integration / Reject your arse lick no10 invitation / Reject Tony Blair he’s a fucking liar / Reject your order of the British Empire“ (Fun^da^mental 2006). Sind die Fronten erst einmal geklärt, legt Nawaz nach, beispielsweise mit den beiden Titeln „Che Bin Pt. 1“ und „Che Bin Pt. 2“. Die Lyrics in „Pt. 1“ (mit dem das Album schließt) rekurrieren dabei auf eine Rede von Che Guevara auf Spanisch („Acts of sabotage are very important“), während „Pt. 2“ dem ersten Teil eine verwandte Rede von Osama Bin Laden auf Arabisch gegenüberstellt („How about the killing of innocent civilians“) – beide werden im Booklet ins Englische übersetzt. Es ist kaum verwunderlich, dass weite Teile der Presse in dieser Konzeption eine unheilige Allianz sahen, die darauf abzielt, Bin Laden den Status einer populären Kultfigur zuzuschreiben, den er in vielen Teilen der dritten Welt längst hat (vgl. Brown 2006).
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Nawaz’ Reaktionen auf solche Kritik weisen ein beinahe schizophrenes Spektrum von wiederholten Äußerungen auf: dass „terrorism and the killing of innocent people […] repulsive“ seien, dass sein eigener Sohn am 7. Juli „on the way to King’s Cross“ war und seine Waffen allein Worte seien (Meadley 2006), bis hin zur Aussage, laut Guardian, „[that] he challenged anyone to disagree with the statement by Bin Laden“ (Brown 2006) auf „Che Bin Pt. 2“. Dieses Statement schließt mit folgenden Worten: „It is permissible in law and intellectuality [to] kill the kings of the infidels, kings of the crusaders, and civilian infidels in exchange for those of our children they kill.“ (In Fun^da^mental 2006) Die Ambivalenz ist dabei durchaus Programm, und spiegelt sich nicht zuletzt auch in der Tatsache wider, dass Nawaz seinen altgedienten Künstlernamen „Propa-Gandhi“ für das neue Album in „G-HAD“ änderte, weg also von Assoziationen mit (hinduistisch geprägter) Gewaltlosigkeit hin zu Assoziationen mit militantem islamischem Fundamentalismus – so auch zu verstehen der Untertitel The Benefits of GHAD, der auf eher unheimliche Art und Weise sowohl als „The Benefits of Aki Nawaz“ (im Sinne einer selbstironischen Reflexion künstlerischer Hybris) gelesen werden kann oder ganz ohne ironische Brechung, im Sinne von „die Vorzüge des Heiligen Krieges“. Die Strategie blieb nicht ohne Folgen. Noch bevor der mediale Tumult über das Album hereinbrach (ausgelöst durch einen Artikel im Guardian vom 28. Juni), wurde Nawaz von seiner eigenen Szene fallen gelassen. Dies drückte sich insbesondere darin aus, dass er All Is War nicht wie geplant auf seinem eigenen Label Nation Records veröffentlichen konnte. Einige Jahre zuvor hatte Nation ein Viertel des Firmenanteils an das legendäre Independent Label Beggar’s Banquet verkauft. Beggar’s Banquet lizensierte seitdem die Nation-Alben, überließ Nation jedoch immer alle künstlerischen Entscheidungen (vgl. Hyder 2004: 133f.) – bis zu All Is War. Die bis dato ‚stillen‘ Anteilseigner Martin Mills und Andrew Heath drohten mit dem Rückzug aus dem Nation-Deal sollte Nawaz seine Pläne mit All Is War weiter verfolgen. Die Veröffentlichung des Albums verzögerte sich dadurch maßgeblich. Hinzu kommt, dass Nawaz nach eigener Auskunft feststellen musste, dass ihn die Medien als „way into the coverage of the anniversary of the 7 July bombings“ (in Bhattacharyya 2006) benutzten. Die Platte war zunächst nur als Download erhältlich (ab August 2006), während die CD auf einem neu gegründeten Label (Five Uncivilised Tribes) an einem geheim gehaltenen Ort außerhalb Großbritanniens produziert wurde. „All the manufacturers pulled out“, erklärte Nawaz. „I’m also having trouble with my distributors. They love the album and back what I’m trying to do. But they say the media frenzy made it too hot to handle – shops and warehouses were refusing to stock it.“ (Ebd.) In der ganzen medialen Aufregung ging es dabei besonders um einen einzigen Song, den ich im Weiteren interpretatorisch einordnen will. Es war der Titel „Cookbook D.I.Y.“, der Nawaz großformatig auf die Seiten der Sun mit der Überschrift „Suicide Rapper“ brachte, zusammen mit dem aus
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dem Kontext gerissenen Zitat „I’m strapped up cross my chest bomb belt attached / deeply satisfied with the plan I hatched“; und es ist ebenfalls dieser Song, der einige Abgeordnete des Unterhauses dazu brachte, Nawaz’ Strafverfolgung im Zuge des nach den Anschlägen vom 7. Juli neu geschaffenen Terrorism Act zu fordern, der ausdrücklich „glorification of terrorism, where this may be understood as encouraging the emulation of terrorism“ (British Home Office 2006) unter Strafe stellt. Selbstverständlich kokettierte Nawaz selbst mit der Idee, dass der MI5 hinter ihm her sei (vgl. Hoffmann 2006), und verkündete den lechzenden Medien: „If it means taking the rap and promoting the album from Belmarsh prison, I’ll do it.“ (BBC 2006) Um all diese Äußerungen einordnen zu können, lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die Lyrics von „Cookbook“ zu werfen: „I’m packed up ingredients stacked up my Laptop Downloaded the military cookbook PDF Elements everyday chemicals at my reach Household bleach to extract the potassium Chlorate Boiling on a hotplate with hate recipe for disaster plastic bomb blaster I mix up 5 parts wax to Vaseline slowly … dissolve in gasoline add to potassium in a large metal bowl knead like dough so they bleed real slow Gasoline evaporates … cool dry place I’m strapped up cross my chest bomb belt attached deeply satisfied with the plan I hatched electrodes connected to a gas cooker lighter switch in my hand the situation demands self sacrifice hitting back at vice with a ǧ 50 price I’m 31.. numb … but the hurt is gone Gonna build a dirty bomb us [sic] this privilege and education My PHD will free me Paid of [sic] the Ruskies for weapons grade Uranium Taught myself skills from Pakistan Iran upgraded its stage two of the plan Rage … a thermo nuclear density gauge stolen by the Chechens from a Base in Georgia I get some cobalt 60 from a food irradiator so easy to send the infidels to their creator it takes a dirty mind to build a dirty bomb The simplicity is numbing genius is dumbing down the situation to a manageable level to make the world impossible to live for these devils
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Nicht ganz unähnlich wie „Che Bin“ Pts. 1 und 2, stellt „Cookbook“ lyrische Stimmen einander gegenüber, die diesmal freilich nicht auf historische, sondern rein fiktionale Texte rekurrieren, die aber gleichfalls tiefere Einsichten in terroristische Prozesse vermitteln wollen. Dies betrifft weniger die chemischen Prozesse des Bombenbaus vom do-it-yourself-Sprengsatz über die Atombombe eines islamischen ‚Schurkenstaats‘ bis hin zum USfinanzierten Bau einer Neutronenbombe, die hier ausführlich beschrieben werden, als vielmehr die psychologischen Prozesse, die die drei fiktionalen Sprechinstanzen motivieren und die sich in der Logik des Songs wechselseitig bedingen – vom kleinen Selbstmordattentäter über den desillusionierten muslimischen Wissenschaftler bis hin zum „legitimate scientist“ in Diensten des Weißen Hauses. Chris Campion insistiert in diesem Sinne zu Recht im Observer, dass der Song „neither a manual for terrorism nor a jihadi recruitment tool“ sei – im Gegenteil: „[I]n its entirety [it] dissects the hate that hate breeds.“ (Campion 2006) Warum also wurde er von so vielen als „glorification of terrorism“ gelesen? Ein Grund mag sicherlich sein, dass die Konventionen von Autorschaft und Autorität in populärer Musik einer solchen Fehlinterpretation in die Hände spielen, als hier lyrischer Inhalt für gewöhnlich unmittelbar dem aufführenden Künstler unterstellt wird (vgl. Eckstein 2010a, insb. Kap. 3). Uneigentliches Sprechen wie im vorliegenden Fall – im konkreten Beispiel der Vortrag von drei verschiedenen, fiktionalen Sprechinstanzen – wird so zu einem Problem, das etwa in geschriebener Lyrik kaum auftauchen würde. Während im Gedicht seit der Erfindung des dramatischen Monologs bei den Viktorianern das Sprechen durch fiktionale Sprecherfiguren ein fester Bestandteil der etablierten Rhetorik ist,
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verleiten die Rezeptionsgewohnheiten in der populären Musik dazu, Inhalte allein der medial inszenierten Person des Performers zuzuweisen. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Argument in „Cookbook“ problematisch bleibt. Die Problematik hat nach meiner Auffassung damit zu tun, dass die kritische Gegenüberstellung und Analyse von „hate that hate breeds“ in den drei Strophen von „Cookbook“ in ungleicher Qualität erfolgt. Ganz offensichtlich transportiert der Text keine Sympathien mit unserem „legitimate scientist“, dessen Vortrag in der Aufführung mit beißendem Zynismus durchzogen ist (insbesondere etwa wenn Rapper Vendetta die Zeile „uniquely though it leaves the buildings intact“ toastet) und in dessen Argument die Gier als Hauptmotivation für den Bombenbau deutlich durchscheint. Der zweite Sprecher, so wird uns vermittelt, ist „numb“ und vom rassistischen und gottlosen Westen desillusioniert, dabei aber immer noch in der Lage, seine Motivationen kritisch zu reflektieren: „[G]enius is dumbing / down the situation to a manageable level“. Unser muslimischer Wissenschaftler-cum-Terrorist erfährt auf diese Weise ebenfalls so etwas wie eine auktoriale Distanzierung und Ironisierung. Eine solche Distanzierung oder Brechung fehlt allerdings komplett in der ersten Sprechinstanz. Wir erfahren hier nichts Greifbares über die Motivationen unseres Selbstmordattentäters, außer dass sie auf einem diffusen Hass gründen. Die Dialogiziät zwischen den drei Sprechinstanzen trägt nun natürlich dazu bei, dass der Zuhörer diesen Hass indirekt als Konsequenz eines zynischen, mit Steuermilliarden geförderten Staatsterrorismus versteht, der seinerseits seine Rechtfertigung aus Szenarien zieht, die von der zweiten Sprechinstanz beschrieben werden – und trotz einer zugegebenermaßen etwas holzschnittartigen Weltsicht trägt dieses Argument sicherlich. Dennoch wirft eine solche Rhetorik Fragen auf nach dem Zusammenhang zwischen dem stilisierten und künstlerisch kanalisierten Hass, den das Album gleichermaßen als Konzept transportiert, und dem nur indirekt qualifizierten Hass des jungen Selbstmordattentäters in der ersten Sprechinstanz des Songs. Anders formuliert: Während Fun^da^mental in öffentlichen Statements Selbstmordattentate moralisch verurteilen, vermeiden sie es gezielt, in ihren Lyrics jedwede ethische Position gegenüber selbstmörderischem Hass einzunehmen; stattdessen suggerieren sie, die gleiche Wut ohne größere Brechungen in ihre Musik fließen zu lassen. Natürlich macht dies aus Aki Nawaz noch lange keinen „suicide rapper“, oder aus All Is War krude jihadistische Propaganda – im Gegenteil, ich teile Chris Campions Ansicht voll und ganz, wenn er argumentiert, dass das Album eine im Kontext seiner Veröffentlichung extrem wichtige Rolle spielte, insofern es nicht nur eine „reaction, but thought and debate“ (Campion 2006) provozierte in einem historischen Moment, in dem Regierungen beinahe ohne öffentliche Debatte Bürgerrechte systematisch einschränkten. Dennoch fällt es mir im selben Zusammenhang schwer, dem eindrucksvollen Drahtseilakt zwischen der Aufführung einer radikal militanten Ernsthaftigkeit auf der einen Seite und dem unübersehbaren Hang zur Hyperbolie, zu
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Rollenspielen und krude kalkulierten Provokationen auf der anderen Seite viel abzugewinnen oder ihn in seiner politischen Sinnhaftigkeit vollständig zu verstehen. Abbildung 1: Erste Szene
Quelle: Musikvideo zu „Cookbook D.I.Y.“ (Regie: Kashaan W. Butt, Nation Films)
Abbildung 2: Zweite Szene
Quelle: Musikvideo zu „Cookbook D.I.Y.“ (Regie: Kashaan W. Butt, Nation Films)
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Abbildung 3: Dritte Szene
Quelle: Musikvideo zu „Cookbook D.I.Y.“ (Regie: Kashaan W. Butt, Nation Films)
Abbildung 4: Schlusssequenz
Quelle: Musikvideo zu „Cookbook D.I.Y.“ (Regie: Kashaan W. Butt, Nation Films)
Die ganze Ambivalenz zwischen diesen Positionen tritt besonders deutlich im Promovideo zu „Cookbook D.I.Y.“ (das in Großbritannien verboten, aber auf Youtube derzeit frei verfügbar ist) zu Tage, in dem Rapper Vendetta sukzessive alle drei Sprecher des Songs szenisch inszeniert. Die Lyrics werden im Rahmen von drei fiktionalen Pressekonferenzen aufgeführt – die erste Szene zeigt dabei einen jungen Mann in einem Cross-of-St.-GeorgeShirt, dessen Kopf alternativ in einem Eidechsen-, Zebra- und schließlich Hasenkostüm steckt (Abb. 1). Die zweite Szene präsentiert den hochdotierten muslimischen Terroristen entweder als subversiven Wissenschaftler mit Kufiya und Doktorhut (Abb. 2), als voll ausgestatteten Guerillakämpfer à la Rambo oder mit Kapuzenmütze und Sonnenbrille. In der dritten Szene
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schließlich wird uns der „legitimate scientist“ im blutbefleckten Labormantel, als Geschäftsmann mit Gasmaske und nicht zuletzt als Mitglied des KuKlux-Klans (Abb. 3) präsentiert, und zwar vor dem Hintergrund einer NATO-, einer UN- und einer Utah-State-Flagge (damit die zentrale Botschaft der Lyrics inmitten all der Kostümwechsel nicht verlorengeht, laufen sie als Untertitel im Bild mit). Das Video schließt mit dem freien Blick auf ein Banner, das ein Mann in orangenem Overall (Guantanamo?) zwischen den einzelnen drei Szenen anfertigt, immer wieder unterbrochen von Blitzlichtern auf fragmentierte Puppen und anderes verunstaltetes Spielzeug. Auf dem Banner erscheint der Slogan „If we make peaceful revolution impossible, we make violent revolution inevitable – JFK“ (Abb. 4), womit eine berühmte Phrase des demokratischen Präsidenten aus dem Jahr 1962 in eine Prophezeiung des selbstverschuldeten Untergangs gewendet wird. John Hutnyk, in vielerlei Hinsicht der radikale ‚Hauskritiker‘ der Formation, feiert das Video zu „Cookbook D.I.Y.“ unter der Überschrift „Pantomime Terrors“ und nimmt dabei Bezug auf die genuin englische Tradition dramatischer Pantomimen im Sinne der melodramatischen „popular Christmas and summer holiday entertainment[s]“ (Hutnyk 2009: 105), die oft in den Dienst des Empires gestellt wurden. Laut Hutnyk platziere sich das Video bewusst in dieser Tradition, um die „performance of melodrama“ und „operatically grandiose [shows]“ (ebd.: 119) in der westlichen Medienberichterstattung bloßzustellen, etwa wenn es um die Suche nach Massenvernichtungswaffen, den War on Terror oder um Saddams Gerichtsprozess ginge. „Pantomime“, so schließt Hutnyk enthusiastisch, „allows Aki [Nawaz] to point out the hypocrisy of an Empire with no clothes.“ (Ebd.) Ich möchte jedoch dagegenhalten, dass die (britische) Pantomime seit jeher ein sehr viel karnevalistischeres Genre im Bachtin’schen Sinne war als Hutnyks Interpretation zuzulassen gewillt ist und so dazu tendiert, Ansprüche an Ernsthaftigkeit auf allen Seiten und Ebenen zu unterminieren. Im vorliegenden Fall scheint mir dies zur Konsequenz zu haben, dass die pantomime terrors in „Cookbook D.I.Y.“ nicht nur das westliche Mediensystem und seinen Sensationalismus untergraben, sondern im selben Zug auch die Grenzen und Widersprüche von Nawaz’ Anspruch an Fun^da^mental aufzeigen. Anders formuliert: Einen Wissenschaftler des Weißen Hauses fröhlich in Ku-Klux-Klan-Uniform vor einer UN-Flagge tanzen zu lassen ist sicherlich politisch aussagekräftig, jedoch gleichzeitig in seiner hyperbolen melodramatischen Komik so platt und undifferenziert, dass mir zumindest fragwürdig erscheint, ob solche Stunts die offensichtlich sehr ernst gemeinte Botschaft der Formation wirklich befördern. In Die Zeit fragt Isabell Hoffmann daher mit Recht, ob „G-Had also mehr Clown als Terrorist“ sei, attestiert ihm aber dennoch, er spiele „virtuos mit den Ängsten jener Gesellschaften, die er so beredt verdammt“ und jongliere dabei „gefährlich nah am Abgrund“ (Hoffmann 2006). Chris Campion entgegnet im Observer: „Only an abject fool or someone with an agenda would suggest that music has the power to incite others to kill.“ (Campion
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2006) Doch selbst wenn Fun^da^mentals radikale musikalische Posen nur pantomime acts wären, die uns alle in unseren vermeintlichen Gewissheiten und Gewohnheiten aufzuschrecken versuchen, bleiben sie in einer manichäischen Sicht auf unsere Welt verwurzelt, die kaum schöngeredet werden kann. Wie Nabeel Zuberi in seiner luziden Analyse der Alben von Fun^da^mental, die bereits vor 2001 erschienen, bemerkt, propagiert die Formation eine Weltsicht, in der es konsequent kein „rapprochement between white and black“ geben kann. Die Message ist klar: „We are headed for an apocalyptic racial war.“ (Zuberi 2001: 212f.) Wenn auch möglicherweise nur strategisch dreht Nawaz auf diese Art und Weise aber die Argumentation der Rechten in England einfach nur auf den Kopf. Er predigt, vorsichtig formuliert, ähnliche „Rivers of Blood“, die 30 Jahre zuvor der reaktionäre Parlamentsabgeordnete Enoch Powell prophezeite – allein indem er die kollektive Stigmatisierung ‚brauner‘ Einwanderer umkehrt und genauso undifferenziert gegen die weiße Mehrheit richtet. Wem mit diesem Spiel geholfen sein soll, erschließt sich mir nicht wirklich – den Medien sicherlich, der Popularität des Künstlers; jedoch kaum denjenigen, die sich im Alltag immer wieder zwischen den Fronten positionieren müssen.
M.I.A., „P APER P LANES “ (2007) In meinem zweiten Fallbeispiel möchte ich Fun^da^mental und „Cookbook D.I.Y.“ eine Künstlerin und einen Song gegenüberstellen, die auf ganz ähnliche Art und Weise ein Spiel mit der Angst nach 9/11 betreiben, dies jedoch nach meiner Auffassung auf eine selbst-reflexivere, ironischere und subtilere Art und Weise tun, die darüber hinaus weitgehend ohne die für Fun^da^mental typische Überdosis militanter Maskulinität auskommt – allerdings zu dem Preis, so scheint es, dass das Argument, trotz ungleich höherer Popularitätswerte der Künstlerin und des Songs, tendenziell ungehört bleibt. Es handelt sich dabei um M.I.A. und ihren Song „Paper Planes“, ihrer bis dato erfolgreichsten Singleauskopplung aus ihrem zweiten Album Kala (2007), das von der Musikpresse enthusiastisch gefeiert wurde und nach allgemeinem Konsens die hohen Erwartungen nach dem Aufsehen erregenden Debüt Arular (2005) noch übertraf. Weltweite Popularität erfuhr „Paper Planes“ insbesondere, nachdem der Song für den Soundtrack zu Danny Boyles achtfach Oscar-gekröntem Kassenschlager Slumdog Millionaire (2008) ausgewählt wurde – anders als im Fall des Songs „Cookbook D.I.Y.“, über den die Welt schrieb, aber den kaum jemand je hörte, wurde über „Paper Planes“ wenig geschrieben, jedoch läuft er regelmäßig – als einziger M.I.A.-Song auch nach ihrem dritten Album Maya (2010) – sogar die Mainstream-Radiosender hoch und runter. Maya Mathangi Arulpragasam, oder M.I.A. (ein Akronym, das entweder für „Missing In Action“ oder „Missing In [the London district of] Acton“ steht), wurde in London geboren, wuchs aber zunächst in Sri Lanka auf. Die
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Details ihrer Familiengeschichte prägen dabei ihr Bild in den Medien, sind jedoch in letzter Zeit von verschiedenen Seiten angezweifelt worden (vgl. Hirschberg 2010; Eckstein 2010b). Dennoch ist es für mein Argument insofern nicht unerheblich, die überstrapazierte Familiengeschichte nochmals kurz in der groben Darstellung von M.I.A. nachzuzeichnen, als sie in der Rezeption ihrer Musik unweigerlich eine Rolle spielt. Ihr Vater, ein Ingenieur mit einem Moskauer Abschluss, gründete in London eine militante tamilische Befreiungsorganisation mit Namen EROS (Eelam Revolutionary Organisation of Students) und siedelte die Familie ein halbes Jahr nach Mayas Geburt nach Sri Lanka um, wo er nach einer Grundausbildung bei der Fatah im Libanon den revolutionären Kampf gegen die singhalesische Regierung aufnahm. Als Maya elf Jahre alt war, floh sie mit ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern aus den Bürgerkriegswirren zurück nach London, erhielt Asyl und zog in eine heruntergekommene Südlondoner Sozialsiedlung (vgl. Wheaton 2005). Hier wurden Hip-Hop und karibischer Ragga zu einem zentralen Moment kultureller Identifikation („all the Sri Lankan kids that came over that were a bit on the edge soon adapted ragga culture. […] Sri Lankans find coming to England and talking with a Jamaican patois accent is easier than learning the Queen’s English“ [M.I.A. in Pytlik 2005]); Maya Arulpragasams künstlerische Karriere begann jedoch nicht mit der Musik, sondern mit der Kunst. Sie erhielt ein Stipendium für das renommierte St. Martin’s College of Art und publizierte einen Band mit Graffitiinspirierten Collagen, der ihr unter anderem eine Nominierung für den alternativen Turner Preis einbrachte, noch bevor ihr Debütalbum Arular 2005 für den Mercury Award nominiert wurde. Ihr erstes Album wurde von der Presse mit einer Mischung aus Irritation und Enthusiasmus angenommen als etwas, das in dieser Form genuin neu war, und zwar sowohl was die modischen Vorlieben der Künstlerin für grelle Farben und 80er-Designs anging als auch in Bezug auf ihr Soundscape, das maßgeblich vom in den Londoner Clubs der frühen 2000er angesagten Baile oder Rio Funk beeinflusst war (einer textlich wie musikalisch explizit unpolierten Variante elektronischen Hip-Hops aus den Favelas, die von Produzenten wie Diplo in die Stadt gebracht wurde). Mit Blick auf die Lyrics und gesampelten Sounds rekurriert Arular (betitelt nach dem Kampfnamen ihres Vaters) hauptsächlich auf die Achse London-Sri Lanka. Kala (betitelt nach ihrer Mutter) ist in diesem Sinne eine logische Erweiterung der ersten Platte, die laut einem Kritiker „every genre hiding within immigrant Britain into 14 songs“ presste, während das zweite Album es nunmehr vermag, „the same trick for the whole of the planet“ (Miller 2007) zu leisten. Einige Beispiele mögen dies illustrieren: Der erste Track, „Bamboo Banga“, basiert auf einem Sample aus dem tamilischen filmi „Dalpanthi“ und biegt die Lyrics von Jonathan Richmans „Roadrunner“ in einen Song über Straßenkinder, die Slum-Touristen attackieren; „Jimmy“ klingt nach Eurodisco, jedoch über den Umweg der Bollywood-Disco-Hymne „Jimmy Jimmy Aaja Aaja“; „Mango Pickle Down River“ basiert auf einer Aufnahme des indigen-
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australischen Hip-Hop-Outfits Wilcannia Mob und mischt M.I.A.s Stimme über geloopte Didgeridoo Breaks; „20 Dollar“ (der Preis einer AK-47 in afrikanischen Bürgerkriegsgebieten) bezieht seine Bass Line von New Orders Elektroklassiker „Blue Monday“ und rekurriert auf eine Version von „Where Is My Mind“ der Pixies für den Chorus; die Songs „Hussel“ und „Boyz“ basieren auf Liveaufnahmen von tamilischen Tempeltrommeln, die später mit trinidadischem Soca gemischt wurden, usw. Inmitten all dieser musikalischen Collagen aus den verschiedensten Weltkontexten sticht „Paper Planes“ heraus als derjenige Song, der am minimalistischsten und in verschiedenerlei Hinsicht ‚britischsten‘ instrumentiert ist. Das musikalische Rückgrat des Songs besteht aus einem einzigen Sample, und zwar einer leicht digital prozessierten und basslastigeren Version des Intros zu The Clashs „Straight to Hell“ von 1982. M.I.A. verortet die Politik des Songs auf diese Weise unmissverständlich in der Tradition des englischen Punk, macht aber gleichzeitig klar, dass Punk im 21. Jahrhundert einer transkulturellen Überholung in den Schleifen eines Roland 505 bedarf, um den „dangerous crossroads“ (vgl. Lipsitz 1997) einer globalisierten Welt gerecht werden zu können. In der Tat trägt Kala die internationalistische Politik einiger aufgeklärterer Varianten des englischen Punk (die Lyrics von „Straight to Hell“ etwa spannen einen Bogen von Rassismus in nordenglischen Industriestädten über die Zerrissenheit vietnamesischer Kinder von US-amerikanischen Vätern bis hin zu weltweiten Immigrantenschicksalen) in neue Dimensionen, und das nicht nur mit Blick auf die globale Herkunft seiner Samples, sondern auch, weil das Album weltumspannend aufgenommen und produziert wurde (in „India, Trinidad, Australia, Jamaica, Japan and America“ [Petridis 2007]). Für meine Interpretation von „Paper Planes“ ist dabei relevant, dass die globalen Ausmaße – zumindest was die Produktion angeht – nicht von vornherein geplant waren, sondern offensichtlich maßgeblich den USEinwanderungsbehörden zu verdanken sind. M.I.A. plante nämlich, Kala in Brooklyn mit dem Star-Rapper und Produzent Timbaland aufzunehmen, erhielt jedoch kein Einreisevisum in die USA – über die Gründe kann nur spekuliert werden, aber es ist wahrscheinlich, dass die Behörden entweder Anstoß an Anspielungen auf die Tamil Tigers und die PLO auf ihrem ersten Album nahmen oder Probleme mit Links auf ihrer Website sahen, die nach dem Tsunami vom 26. Dezember 2006 zu Spenden an Organisationen aufriefen, die vorgeblich militanten Gruppierungen nahe standen. Kurzum, die Erfahrung des Ausgeschlossenseins motivierte M.I.A. nach eigenen Angaben dazu, ein Album aufzunehmen, das konsequent diejenigen repräsentiert, die mit ihr vor denselben verschlossenen Türen standen. „Paper Planes“ kann in diesem Sinne als eine spöttische Replik auf persönliche Erfahrungen mit der amerikanischen Einwanderungsbehörde gelesen werden, aber auch als ein politisch sehr viel abgründigeres Spiel mit den Ängsten der ersten Welt vor den subversiven Kräften einer „third world democracy“:
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In den Lyrics von „Paper Planes“ generiert M.I.A. offenkundig eine Sprecherfigur, die auf den ersten Blick als ein ironisches Faktotum der Paranoia in den Industrienationen erscheint und die auf zunehmend ambivalente Weise mit ihrer eigenen medialen Person sowohl korreliert als auch nicht korreliert. Die Sprecherinstanz eines vordergründig fiktionalen migrantischen Tricksters wird dabei in der ersten Strophe eingeführt als jemand, der mühelos jedwede Grenzkontrollen mit gefälschten Visa überwinden kann (und dem Hörer schnelle Hilfe anbietet, sollte er/sie auch mal in Grenzschwierigkeiten geraten). In der zweiten Strophe jedoch setzt ein Moment der auktorialen Selbstreflexion ein – es scheint, dass wir hier einen Schritt zurücktreten und M.I.A. über ihre eigene, privilegierte Rolle in diesem Trickster-
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Spiel räsoniert. Sie gesteht ein, dass sie als „bonafide husteler“ – als redliche Abzockerin – im Musikgeschäft ihren „name/fame“ gemacht hat, indem sie nach den kapitalistischen Slogans („everyone’s a winner“) spielte. In den nachfolgenden Lyrics werden die beiden Ebenen biographischer/auktorialer Erfahrung einerseits und ihre Ausweitung in eine umfassendere Stimme, die für die radikalen Phantasien einer ausgegrenzten dritten Welt steht, andererseits jedoch Schritt für Schritt vermengt. Die entstehende Ambivalenz zwischen einer persönlichen und einer kollektiv-politischen Lesart wird bereits im Chorus spürbar, in dem die erste Person („I“) zwar noch beibehalten wird, jedoch in vollendet-ironischer Manier von der kollektiven Stimme eines Kinderchors aufgeführt wird. Hier werden alle Vorurteile des wohlhabenden Westens gegenüber Migranten aus der dritten Welt von ganzem Herzen bestätigt: Bei unseren unschuldig klingenden Trickstern handelt es sich demnach um Illegale, die – wie nicht anders zu erwarten – gewalttätig, kriminell und nur hinter unserem Geld her sind (akustisch illustriert durch die Signature Sounds des Stücks, vier [von den Beastie Boys] gesampelte Gewehrschüsse und das Klingeln einer alten Registrierkasse). Auf diese Weise kann der Chorus sicherlich als spielerisch-sarkastische und bevorzugt persönliche Abrechnung der Künstlerin mit der Einwanderungsbehörde interpretiert werden; jedoch drängt sich gleichzeitig zunehmend der Eindruck auf, dass der Song eine komplexere Lesart einfordert; eine Lesart, die das Persönliche mit einer umfassenderen Politik kurzschließt, der es nicht zuletzt um „put[ting] people on the map that never seen a map“ geht, wie M.I.A. es auf „20 Dollar“ formuliert. Abbildung 5: Illustration des Songs „Paper Planes“
Quelle: CD-Booklet von M.I.A., Kala (2007)
Dieser Eindruck findet in der dritten Strophe seine Bestätigung, denn hier wird nachhaltig in Frage gestellt, ob es sich im Chorus tatsächlich nur um eine harmlos provokative Ansammlung von leeren Worthülsen handelt. In einem exquisiten Spiel mit dem englischen Sprichwort „sticks and stones may break my bones, but words will never hurt me“ werden dem eher unschuldigen Repertoire an Stöcken, Steinen und Knochen einige furcht-
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einflößendere Insignien der Illegalität beigefügt („pirate skulls“, „weed“, „bombs“), vor allem aber erfahren die Begriffe „stones“ und „bones“ eine signifikante Umdeutung, die erst dann wirklich transparent wird, wenn man M.I.A.s Gesamtkunstwerk heranzieht und sich die Illustrationen im aufwendig gestalteten Booklet zur CD näher anschaut (Abb. 5). Auf der Doppelseite, die für „Paper Planes“ reserviert ist, wird das Wort „bone“ auffällig durch die Abbildung eines Elefanten ersetzt, der auf der gegenüberliegenden Seite ganz offensichtlich in den Kontext des afrikanischen Kontinents gestellt wird. Bone ist im Englischen auch ein Synonym für ivory (Elfenbein) und gewinnt in dieser Konstellation unmissverständlich die Funktion eines Symbols für koloniale Ausbeutung. Der Begriff „stones“ steht dagegen für die bis heute andauernden neokolonialen Konsequenzen dieser Ausbeutung. In den gedruckten Lyrics werden die „stones“ durch drei Diamanten repräsentiert, die im gegenüberliegenden Design genau dort wieder auftauchen, wo Sierra Leone, Liberia und der Kongo anzusiedeln sind. Wir haben es bei den „stones“ also offenkundig mit Blutdiamanten zu tun, wie M.I.A. graphisch dadurch unterstreicht, dass sie Miniaturen von Kindersoldaten ins Herz des Kontinents ‚sampelt‘. All die Kinder im Design des Booklets tragen genau jene AK-47 Maschinengewehre, von denen im Song „20 Dollar“ die Rede ist – die Kindersoldaten verkörpern auf diese Art und Weise recht unmissverständlich die brutale Kehrseite des westlichen Wohlstands und brechen für den aufmerksamen Hörer/Leser nachhaltig die süße Unschuld des (britischen) Kinderchors im Refrain. Die Lyrics von „Paper Planes“ nehmen fortan auch eine radikalere Wendung und wechseln nicht zufällig konsequent von der ersten Person Singular in die erste Person Plural: Die Rede ist nun von einem integrativen „we“, das Guerilla-Anschläge auf das ‚System‘ ausübt. Was wir uns hierunter vorzustellen haben, wird in der vierten Strophe genauer ausbuchstabiert. Wiederum bleibt letztlich unklar, ob wir es mit harmloser und selbstreflexiv pubertärer Angeberei auf Seiten M.I.A.s angesichts der Paranoia nach 9/11 zu tun haben („Noone on the corner had swag[ger] like us“) oder mit einer weitaus ernsthafteren Auseinandersetzung mit Weltpolitik und Terrorismus. Die ganze Ambivalenz des Songs wird dabei in der zweiten Zeile der Strophe ausgespielt, in der „hit me on the bunner“ (Schreibweise im Booklet) mit einem spielerischen Klaps auf den Hintern kokettiert, „hit me on the burner“ (Aussprache in der Aufführung) dagegen jenen „gas cooker lighter“ evoziert, von dem in der ersten Strophe von Fun^da^mentals „Cookbook D.I.Y.“ die Rede ist, zumal in Verbindung mit einem „prepaid wireless“ (dem Standardzünder für roadside bombings; vgl. den „mobile phone trigger“ in der zweiten Strophe von „Cookbook“). Womit wir es hier zu tun haben, ist also tatsächlich „no fun business“, wie M.I.A. betont, nachdem sie sich darüber gebrüstet hat, „more records than the KGB“ zu haben – in einem weiteren genialen Wortspiel, das aktenkundige records politisch subversiver Taten neben das musikalische Universum von Platten (records) stellt, die auf Kala gesampelt wurden. Zu dem Zeitpunkt, an dem der Song sein finale furioso erreicht, in „Some some some [a]
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some I murder / Some a some I let go“, hat „Paper Planes“ auf diese Weise seine ambivalente Strategie einer konsistenten Doppelkodierung perfektioniert: Hören wir hier M.I.A. selbst, die sich in einer gleichsam privaten Vendetta hingebungsvoll über die US-Einwanderungsbehörde lustig macht – oder lässt sie uns teilhaben an den nur vermeintlich impotenten Phantasien der vergessenen Opfer neoliberaler Globalisierung, in einer Rhetorik, die weniger spielerisch und ironisch als gerade heraus und prophetisch zu lesen ist? Abbildung 6: Eröffnungssequenz
Quelle: Musikvideo zu „Paper Planes“ (Regie: Bernard Gourley, Immigrant Films)
Abbildung 7: „All I wanna do is …“
Quelle: Musikvideo zu „Paper Planes“ (Regie: Bernard Gourley, Immigrant Films)
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Abbildung 8: „… and take your money“
Quelle: Musikvideo zu „Paper Planes“ (Regie: Bernard Gourley, Immigrant Films)
Abbildung 9: Schlusssequenz
Quelle: Musikvideo zu „Paper Planes“ (Regie: Bernard Gourley, Immigrant Films)
Auch das Musikvideo zu „Paper Planes“ (Abb. 6-9), das im Dezember 2007 erschien, löst diese Ambivalenz nicht auf, sondern verstärkt sie im Gegenteil sogar noch. Das Video wurde an einem einzigen Tag in Brooklyn abgedreht und somit in genau demjenigen Setting, in dem eigentlich das ganze Album aufgenommen werden sollte und wo M.I.A. ein Jahr zuvor bereits ein Apartment angemietet hatte, bevor ihr ein Visum für die USA verweigert wurde. All dies lädt natürlich dazu ein, den Clip in den Kontext einer biographisch-persönlichen Lesart zu stellen – wenngleich M.I.A. betont, dass ursprünglich in Ecuador gedreht werden sollte und die letztlich gewählte Location in Bed-Stuy, Brooklyn, nur eine Kompromisslösung darstellte (vgl. Anonym 2007). Das Video zeigt uns über weite Strecken, wie M.I.A. und einer ihrer Gast-Rapper, der Nigerianer African Boy, in einem Van Hotdogs verkaufen. Die Hotdogs sind allerdings seltsam dick in Alumini-
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umfolie verpackt und kosten eine verdächtig große Stange Geld (in einem Kurzauftritt versuchen Mike D. und Ad-Rock von den Beastie Boys verzweifelt, eine goldene Armbanduhr gegen ein Hotdog zu tauschen); ganz offensichtlich also handeln M.I.A. und African Boy nicht nur mit Würstchen, sondern mit weniger legalen Substanzen. Das Video stellt sich so auf den ersten Blick in den Kontext altgedienter Hip-Hop-Ikonographien rund ums Dealen und Geldmachen (Abb. 7 und 8), was zunächst verwundert, da M.I.A. die Attitüden des Gangster-Rap ansonsten an keiner Stelle erst nimmt („You think its tough now, come to Africa“ rappt African Boy z.B. auf „Hussel“). Auf den zweiten Blick verbirgt sich aber ein subtilerer Subtext jenseits von Dope und Cash. Dieser Subtext stützt sich vor allem auf die Rahmung des Videos mit Bildern, in denen unzählige Papierflieger durch die Abenddämmerung New Yorks segeln. Insbesondere in den ersten drei Einstellungen taumeln die Flieger entlang der Brooklyn Bridge direkt auf die Skyline Manhattans zu (Abb. 6), in einer visuellen Sprache, die meiner Auffassung nach gar nicht anders gelesen werden kann denn als direkte Anspielung auf 9/11. Nimmt man die Lyrics des Songs ernst, so müssen wir davon ausgehen, dass diese Flieger all die Trickster repräsentieren, die illegal mit gefälschten Papieren in den Westen eindringen und deren terroristische Phantasien uns im Song mitgeteilt werden. Jedoch auch hier bleibt die ambivalente Doppelkodierung erhalten – einerseits drängt sich gerade im Kontext der direkten visuellen Bezugnahmen auf 9/11 eine hochkontroverse, kollektiv-politische Lesart im Sinne einer sehr ernst gemeinten Prophezeiung der Konsequenzen (neo-) imperialer globaler Politik auf; auf der anderen Seite lassen sich solch düstere Vorahnungen auch wieder ohne Weiteres spielerisch entkräften – schließlich handelt es sich im Video wie im Songtitel nur um harmlose Papierflieger, die (anders als „sticks“, „stones“ oder „bombs“) kaum Schaden anrichten, wenn sie irgendwo aufschlagen. M.I.A.s Spiel mit der Angst lässt sich auf diese Art und Weise bis zum Schluss an keiner Stelle semantisch festnageln, bis hin zur letzten, provokanten Wende des Videos: Denn in den abschließenden Einstellungen wird klar, wem die Papierflieger, gleich dem Rattenfänger von Hameln, folgen – sie segeln wie hypnotisiert genau jenem Van hinterher, in dem M.I.A. und African Boy ihre Ware feilbieten (Abb. 9). Diese Ware, freilich, ist in erster Linie ihre Musik – und die (spielerische oder ernste?) Message ist klar: „Paper Planes“ und die anderen Songs auf Kala wollen keinesfalls „Songs of Innocence“ sein, sondern Katalysatoren für die gesamte Bandbreite subversiver Praktiken einer „third world democracy“, mag dabei nur harmloser „swagger“ auf dem Spiel stehen oder eben „lethal poison for the system“. Angesichts dieser besonders in ihrem deutlichen Bezug auf 9/11 doch provokanten und kaum verschlüsselten Botschaft und angesichts der extrem weiten medialen Verbreitung des Songs und des Videos ist für mich kaum nachvollziehbar, warum „Paper Planes“ keinerlei Diskussionen ausgelöst hat, die auch nur annähernd in die Richtung der wütenden Debatten um die
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Veröffentlichung von „Cookbook D.I.Y.“ ein Jahr zuvor gingen. Eine Reihe von Gründen mögen hier eine Rolle spielen: Zum einen vermeidet M.I.A. in ihren politischen Positionen, ebenso wie in ihren Bühnenauftritten, die inyour-face-Rhetorik und Militanz, die Fun^da^mental an den Tag legen; zum anderen aber wirken sicherlich ebenfalls Arrangement und Soundscape des Songs einer unmittelbar politischen Lesart entgegen. „Paper Planes“ transportiert meiner Einschätzung nach eine musikalische Qualität, die der Musikwissenschaftler Lawrence Kramer als „songfulness“ bezeichnet hat (vgl. Kramer 2002: 53ff., insb. Kap. 3). Anders formuliert: Obwohl die Lyrics klar und deutlich zu verstehen sind, hat der Sound des Songs eine beinahe mesmerisierende Qualität (auch dadurch unterstützt, dass jede Strophe im Vortrag mantragleich wiederholt wird), die es dem Zuhörer vergleichsweise leicht macht, die möglicherweise irritierenden Inhalte der Lyrics zu überhören und sich stattdessen vom diffuseren, alternativen semantischen Feld des Soundscapes einwickeln zu lassen. Es ist jedenfalls bezeichnend, dass die einzige Kontroverse um „Paper Planes“ sich allein an den vier gesampelten Gewehrschüssen aufgehängt hat – so hat MTV kurz nach Veröffentlichung des Videos die Salven mit einigen harmlosen Beats ersetzt, ohne Rücksprache mit der Künstlerin zu halten, und M.I.A. reagierte, als gute Rockerin, natürlich mit standesgemäßen Tiraden auf das musikalische Establishment. Im direkten Vergleich werfen Fun^da^mentals „Cookbook D.I.Y.“ und M.I.A.s „Paper Planes“ die alte Frage nach den möglichen Wechselwirkungen zwischen populärer Kultur und soziopolitischen Prozessen aufs Neue auf: Wie muss populäre Kultur in einer globalisierten Welt verfasst sein, um im Sinne von George Lipsitz tatsächlich an „dangerous crossroads“ für „aggrieved communities“ (Lipsitz 1997: 7) sprechen zu können und dabei gleichzeitig Gehör zu finden? Wenngleich dies unbefriedigend erscheinen mag, lässt diese Frage auf den ersten Blick die pantomime terrors von Fun^da^mental in einem sehr viel besseren Licht dastehen als das vordergründig medial folgenlose „Paper Planes“. Bedarf es also, um überhaupt gehört zu werden, tatsächlich der in-your-face-Provokationen und einer gezielt hyperbolen Rhetorik, die in meiner Argumentation womöglich zu leichtfertig als ideologisch tendenziell schizophren abgetan wurde? War meine nörgelnde Lesart von Fun^da^mental in diesem Sinne von vorneherein diskreditiert als ein akademisches Sesselspiel weitab der Realitäten der Straße? Auf den zweiten Blick aber fällt auf, dass Fun^da^mentals „Cookbook“ jenseits des kurzen Mediengewitters im Sommer 2006 keine wirklich bleibenden Spuren hinterlassen hat. Der für meine Begriffe künstlerisch integrere, komplexere und spannendere Song, M.I.A.s „Paper Planes“, hingegen, so zeichnet sich ab, wird sich auch in Zukunft noch millionenfach in die Ohren von Hörern auf dem ganzen Globus fressen – was in den Köpfen dieser Hörer letztlich ankommt, lässt sich nur schwer vorhersagen.
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Eschatologie in der amerikanischen Populärkultur Eine politische Lesart der Left Behind-Serie P ASCAL F ISCHER
E INLEITUNG Das Wort Eschatologie klingt alles andere als poppig. In der Überschrift eines Aufsatzes zu den Facetten der Popkultur wirkt es ausgesprochen fremdartig. Dies liegt zum einen daran, dass der Ausdruck aus dem Altgriechischen stammt und somit aus einer Sprache, die nicht gerade mit den Alltagspraktiken und medialen Inszenierungen moderner Gesellschaften assoziiert wird. Zum anderen ist er der religiösen Sphäre entnommen, die – zumindest von der europäischen Perspektive aus gesehen – ebenfalls eine vermeintlich große Distanz zur heutigen Massenkultur besitzt. Gleichwohl erscheinen die Begriffe Eschatologie und Populärkultur nur auf den ersten Blick inkompatibel. So ist es ein wesentliches Anliegen meines Beitrags, auf die Bedeutung der Religion im Allgemeinen und der Eschatologie im Speziellen für Ausprägungen der Populärkultur hinzuweisen. Nach einer terminologischen Klärung des Ausdrucks Eschatologie und ähnlicher Bezeichnungen in seinem Wortfeld soll auf diesen Zusammenhang näher eingegangen werden. Als zentrales Beispiel für meine Betrachtungen dient mir Left Behind, eine Romanserie evangelikaler Christen in den USA, mit der weitere populärkulturelle Produkte vermarktet werden. Andrew Strombeck nennt die Left Behind-Serie „the most visible symbol of a thriving Christian popular culture“ (Strombeck 2006: 161). Ich werde mich auf den ersten, selbst mit Left Behind überschriebenen Roman der Serie konzentrieren, jedoch ergänzend auf andere durch ihn inspirierte Phänomene eingehen. Dabei möchte ich nicht bei einer Beschreibung eschatologischer Elemente stehenbleiben, sondern die Darstellung mit einer der Leitfragen des vorliegenden Bandes verbinden, nämlich mit der nach dem politischen Gehalt. Es zeigt sich, dass für diese Sinndimension des Romans sein Verhältnis zu den Juden und
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zu Israel von großer Relevanz ist. Wenngleich ich erörtern werde, ob die wahrgenommenen populärkulturellen Erscheinungsformen eher gegen die hegemoniale Ideologie gerichtet sind oder sie stützen, will ich auch demonstrieren, wie unzureichend es ist, eine gesellschaftliche oder kulturelle Praxis allein als ‚subversiv‘ oder als ‚affirmativ‘ bzw. ‚konformistisch‘ zu kategorisieren.
E SCHATOLOGIE –
TERMINOLOGISCHE
K LÄRUNG
Das Wort Eschatologie lässt sich vordergründig durch seine Etymologie entschlüsseln:ݰEschata ( ۆıȤĮIJĮ) sind die „letzten Dinge“, und die Endsilbe -logie von lógos (ȜȩȖȠȢ)‚ „das Wort“, „die Rede“, wird für Diskurse, Wissensfelder und Lehren verwendet. Eschatologie bedeutet also die „Lehre von den letzen Dingen“. Natürlich geht es bei der Eschatologie nicht um irgendwelche letzten Dinge. Die Wörterbücher und Enzyklopädien, die sich zu einer genaueren Bestimmung anbieten, liefern recht unterschiedliche Definitionen. Das Oxford English Dictionary, für Anglisten und Amerikanisten die erste Anlaufstelle zur Klärung von Terminologie, begreift eschatology als den Teilbereich der Theologie, der sich mit den vier letzten Dingen beschäftigt: Tod, Gericht, Himmel und Hölle. Die Problematik dieser Erläuterung liegt darin, dass sie gleichermaßen zu eng und zu weit ist: Zu eng ist sie, weil Eschatologie dabei auf die akademische Disziplin der Theologie reduziert wird, was den Begriff nicht nur für die Populärkultur ungeeignet machen würde, sondern auch der gängigen Praxis widerspricht, ihn gleichfalls außerhalb des theologischen Kontextes einzusetzen. Zu weit ist die Definition insofern, als sie nicht spezifiziert, um wessen Ende es geht: das Ende eines Individuums oder das der gesamten Menschheit. Dass dies in der Tat eine wichtige Unterscheidung ist, besagt das Lexikon für Theologie und Kirche, wird doch in dessen Eintrag zur Eschatologie zwischen den Glaubensauffassungen differenziert, die das Endschicksal des Einzelmenschen betreffen (Individual-Eschatologie), und denen, die sich auf die endzeitliche Entwicklung des Weltganzen richten (Universal-Eschatologie) (vgl. Lanczkowski 1959). Obwohl diese Unterscheidung häufig getroffen wird, zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass Eschatologie meistens im zweiten Sinne verwendet wird, also eine epochale Transformation bezeichnet, die zum Ende der Welt, wie wir sie kennen, führt. So verweist z.B. Bill T. Arnold darauf, dass sowohl die Vorstellung des Weltendes als auch die einer neuen, radikal anderen geschichtlichen Ära aufs Engste mit dem Begriff der Eschatologie verbunden sind (vgl. Arnold 2008: 24). In dieser Bedeutung als religiöse Konzeption vom Ende der Welt in ihrer jetzigen Beschaffenheit soll Eschatologie hier gebraucht werden. Verwandte, aber nicht deckungsgleiche Begriffe, die jeweils bestimmte Aspekte christlicher Eschatologie in den Blick nehmen, sind der Terminus Apokalyptik, der die Aufmerksamkeit auf den bald erwarteten verheerenden Umbruch
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lenkt, der Ausdruck Parusie, der für die Wiederkunft Christi am Ende der Tage steht, und Dispensationalismus, mit dem allgemein die Vorstellung ausgedrückt wird, die Weltgeschichte bewege sich in einer Abfolge von Dispensationen, von Zeitaltern, auf ein Ziel zu. Millenarismus, von lateinisch millennium, „Jahrtausend“, und Chiliasmus, von griechisch chilioi (ȤȓȜȚȠȚ), „tausend“, werden für den Glauben an eine bevorstehende tausendjährige Herrschaft Christi verwendet. Der Prämillenarismus behauptet, dem tausendjährigem Gottesreich werde eine Zeit der großen Verwüstung und Drangsal und schließlich die Parusie vorausgehen. Während Prämillenaristen den Bruch zwischen den Dispensationen betonen, kann dagegen für Postmillenaristen der Übergang zum goldenen Zeitalter ein kontinuierlicher sein, erscheint Christus nach ihrer Auslegung ohnehin erst am Ende des Millenniums.
P OPULÄRKULTUR UND R ELIGION All diese Begriffe stammen aus einer Diskurswelt, die mit der Populärkultur fast nichts gemein zu haben scheint. Wenn von Populärkultur die Rede ist, kommt uns das Thema Religion für gewöhnlich kaum in den Sinn, ebenso wenig wie wir bei Religion gleich an Populärkultur denken. Dies hat verschiedene Gründe: So ist Ernsthaftigkeit nach allgemeiner Ansicht für das religiöse Empfinden konstitutiv. Der amerikanische Philosoph William James hat diese Auffassung in seinem für die Religionspsychologie grundlegenden Werk The Varieties of Religious Experience (1902) folgendermaßen formuliert: „For common men ‚religion,‘ whatever more special meanings it may have, signifies always a serious state of mind. […] It favours gravity, not pertness.“ (James 2009: 31) Die Populärkultur, die häufig auch als ‚Unterhaltungskultur‘ bezeichnet wird, lässt nicht selten gerade diese Tiefe vermissen. Sie ist oftmals pert‚ „kess“, „keck“. Dass viele die Bereiche des Populären und des Religiösen als getrennt wahrnehmen, kann man zudem historisch erklären. Der Aufstieg einer Massenkultur im 19. und 20. Jahrhundert schien mit einem Verfall des Glaubens einherzugehen. Bürgerliche Autoren und Gelehrte wie Matthew Arnold, T.S. Eliot und F.R. Leavis, die von einem elitären Standpunkt aus die vermeintliche Auflösung von Sitte, Stil und Geschmack beklagten, verknüpften in ihren Theorien diese beiden Entwicklungen und suchten zum Teil in Kirche und Religion ein Mittel zur Bewahrung der abendländischen Hochkultur. Auf der anderen Seite spielten marxistisch orientierte Kulturkritiker wie Raymond Williams und Stuart Hall die Rolle des Glaubens für die von ihnen nicht selten idealisierte working-class culture eher herunter. Während für die Religionswissenschaft und die germanistische Volkskunde verschiedene Ausprägungen traditioneller Volksfrömmigkeit natürlich einen wichtigen Untersuchungsgegenstand bilden, haben sich die Wissenschaftsbereiche, die mit neueren populärkulturellen Phänomenen wie Filmen, Fernsehshows, Videospielen,
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Popsongs und Trivialliteratur befasst sind, namentlich die Medienwissenschaften und die British and American Cultural Studies, einer Hinwendung zur Religion lange verweigert. Erst in jüngerer Zeit gibt es intensive Bemühungen, dieser Facette der Populärkultur gerecht zu werden. So hat das Journal of Popular Culture immer wieder religiöse Themen diskutiert. Das 2002 initiierte Journal of Religion and Popular Culture ist die erste wissenschaftliche Publikation, die sich ausschließlich diesem neuen Forschungsfeld widmet. Obwohl sie für sich in Anspruch nimmt, für alle Berührungspunkte der im Titel genannten Bereiche und für unterschiedlichste methodische Zugänge offen zu sein, liegt das Hauptinteresse doch eher im Religiösen als im Populären, wie bereits aus der Selbstbeschreibung der Zeitschrift hervorgeht: „Popular culture is an often-overlooked part of the fundamental religious ‚quest‘ and the cultural understanding of ‚what religion is‘ in that like ‚high‘ art, the popular arts and media not only explicitly portray religion and religious ideas, but also serve the ‚religious‘ purpose of conveying meaning in the people and values it represents.“ (Journal of Religion and Popular Culture)
Diese Blickrichtung ist schon insofern verständlich, als das Journal an einer katholisch-theologischen Fakultät beheimatet ist, am St. Thomas More College der University of Saskatchewan, Kanada. Das Centre for the Study of Religion and Popular Culture an der University of Chester gehört ebenfalls einer theologischen Fakultät an. Und der „Arbeitskreis Populäre Kultur und Religion“, aus dem etwa das Handbuch Religion und Populäre Kultur (vgl. Fechtner et al. 2005) hervorgegangen ist, wird vornehmlich von evangelischen Theologen geleitet. Von Seiten der Kultur-, Medien- und Filmwissenschaften bleibt bei der Beachtung des Glaubensaspekts noch manches zu tun, wenngleich auch in diesen Sparten verstärkte Anstrengungen unternommen werden. So ist z.B. das Center for Media, Religion, and Culture der University of Colorado at Boulder an einer medienwissenschaftlichen Fakultät angesiedelt und auch das Journal of Media and Religion ist von der theologischen Perspektivierung gelöst. Für den hier betrachteten Forschungsgegenstand der religiösen Populärkultur in den Vereinigten Staaten gibt es bereits verschiedene Monographien und Sammelbände (z.B. Kintz 1998; Hendershot 2004; Santana/Erickson 2009). Im amerikanischen Evangelikalismus, einer Richtung innerhalb des Protestantismus, die für sich beansprucht, die Bibel wörtlich zu verstehen, findet eine an religiösen Erscheinungsformen interessierte Kultur- und Medienwissenschaft in der Tat ein weites Forschungsgebiet vor, werden doch innerhalb dieser fundamentalistischen Strömung wie kaum woanders populäre Medien zur Verbreitung religiöser Botschaften nutzbar gemacht. Randall Balmer schreibt: „Evangelicals, in fact, have consistently been pioneers in mass communication.“ (Balmer 2004: 248) Die hohe Relevanz der Eschatologie für die Erfor-
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schung populärkultureller Glaubensphänomene ergibt sich aus der Bedeutung der Endzeiterwartung innerhalb des Evangelikalismus.
P OPULÄRKULTUR UND E SCHATOLOGIE : L EFT B EHIND In den USA besitzen apokalyptische Vorstellungen eine immense kulturelle Präsenz. Die Auffassung, der Welt stehe ein Kataklysmus, ein umwälzendes Ereignis, durch göttliche Intervention unmittelbar bevor, ist hier keineswegs ein Randphänomen. So glauben nach einer Umfrage des Pew Research Center for the People and the Press aus dem Jahr 2010 41 Prozent der befragten Amerikaner, dass Jesus Christus in den nächsten 40 Jahren auf die Welt zurückkommen werde. Mehr als die Hälfte der Südstaatenbewohner vertreten diese Ansicht und unter den weißen Evangelikalen sind es landesweit sogar 58 Prozent (vgl. Pew Research Center). In Amerika hat endzeitliches Denken eine starke historische Tradition. Bereits viele Puritaner, die im 17. Jahrhundert an der Küste Neuenglands siedelten, waren von der Hoffnung beseelt, Gott werde seine tausendjährige Herrschaft bald auf der Erde herbeiführen (vgl. Smolinski 1998: 36-53; Zakai 2002; Jue 2008). Während des Great Awakening, der großen Erweckungsbewegung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wurden weite Bevölkerungsteile von millenaristischem Eifer ergriffen (vgl. Smolinski 1998: 54-71; Moorhead 1998: 74f.). Und am Anfang des 20. Jahrhunderts kam durch die so genannte Scofield-Bible ein neuer Dispensationalismus auf, mit dem der Prämillenarismus zur maßgeblichen Spielart eschatologischer Erwartung wurde (vgl. Boyer 1992: 97100). Nun ließen sich auch für das Europa der Neuzeit einflussreiche eschatologische Strömungen nennen. Hier haben sich die dominanten christlichen Glaubensgemeinschaften aber von diesem Element in ihrer offiziellen Lehre weitgehend verabschiedet. Hingegen betonen es in den USA viele der unabhängiger agierenden Kongregationen, die zugleich eine besondere Offenheit gegenüber populären Äußerungsformen der Religiosität zeigen. Darin liegt der wichtigste Grund, dass das ‚Weltende‘ in der religiösen amerikanischen Populärkultur einen besonderen Stellenwert besitzt. Im Vergleich zu anderen medialen Verbreitungsformen populärer Religiosität in Amerika – christliche Radioprogramme gibt es seit den 1920er Jahren, Fernsehprediger seit den 1950ern – ist die Hinwendung zum Roman ein relativ junges Phänomen. Nachdem der evangelikale Protestantismus dieser Gattung lange mit großer Skepsis begegnete und insbesondere die Vermischung biblischer Lehren mit fiktionalen Handlungen strikt ablehnte, hat die narrative Literatur seit den 1980er Jahren bei den Evangelikalen weite Akzeptanz als Mittel zur Propagierung religiöser Inhalte gefunden (vgl. Gutjahr 2002: 209-215; Gribben 2009: 27-45). Tonangebend war hier von Anfang an die so genannte prophecy fiction, ein Subgenre, das für sich in Anspruch nimmt, die bevorstehenden Transformationen der Welt vorherzusagen (vgl. Gribben 2009: 3-24; Shuck 2005: 5-9). Ein Meilenstein in der
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Geschichte des religiösen Trivialromans ist die 1995 begonnene Serie Left Behind des evangelikalen Predigers Tim LaHaye und seines Co-Autors Jerry B. Jenkins. In Europa weitgehend unbekannt, gehören die beiden, gemessen am Umsatz, zu den erfolgreichsten Schriftstellern unserer Zeit, ja sogar zu den erfolgreichsten in der Geschichte der amerikanischen Literatur. Romane der Serie führen regelmäßig die Bestsellerlisten von New York Times, Wall Street Journal und USA Today an. Insgesamt sind mittlerweile mehr als 65 Millionen dieser Romane verkauft worden (vgl. Gribben 2009: 129f.). Die umfangreiche Homepage von Left Behind (http://www.leftbehind.com) bietet unter anderem Hintergrundinformationen, Diskussionsforen und Newsletters und wirkt so identitätsstiftend. Der riesigen Fangemeinde stehen zudem viele mit Left Behind verknüpfte Produkte zur Verfügung, vom Brettspiel über Musik-CDs und Filme bis hin zum Computerspiel. Das zum Konsortium gehörende Unternehmen Left Behind Games macht besonders sinnfällig, wie erforderlich es ist, Left Behind im Kontext der Populärkultur zu betrachten. Hier zeigt sich eindrucksvoll, dass evangelikale Christen in der Tat kaum einen Widerspruch zwischen Spiritualität und den populären Medien erkennen. So wird man über die Internetpräsenz von Left Behind Games aufgerufen, Mitglied im Left Behind-Prayer-Team zu werden. Auf der entsprechenden Seite heißt es unter anderem: „We, as Christians, must pray for the youth to develop an appetite for healthier game products. […] We need the help of God and the Body of Christ to pray that our faithbuilding software will be widely accepted in the homes of America. Will you kindly join our prayer team today to help us reach the hearts and minds of this current generation?“ (LB Games)
In dem Wunsch, die Jugend möge ein Verlangen nach gesünderen Spielen entwickeln, klingt ein für das evangelikale Selbstverständnis charakteristisches Thema an. Es ist nämlich ein wiederkehrendes Muster evangelikaler Rhetorik, sich von der vermeintlich degenerierten, brutalen Massenkultur abzusetzen, obwohl offenkundig sein müsste, dass sich die eigenen Konsumprodukte kaum davon unterscheiden. Das 2006 erschienene und seitdem überaus erfolgreiche Computerspiel Left Behind: Eternal Forces nannten Richard Santana und Gregory Erickson zu Recht „the evangelical movement’s entrance into the world of violent video games“ (Santana/Erickson 2009: 194). Einer der Trailer zum Spiel wechselt zwischen Sequenzen, die zeigen, wie die Feinde des Herrn unter anderem mit Waffengewalt zu bezwingen sind, und Äußerungen begeisterter Eltern, die ihre Erleichterung darüber kundtun, dass hier keine willkürliche Gewalt sichtbar werde. Die Zusammengehörigkeit der Romane und der Computerspiele wird nicht zuletzt dadurch betont, dass in dem Clip auch die Romanautoren LaHaye und Jenkins zu Wort kommen, die das Spiel vor allem als Instrument zur Verbreitung der evangelikalen Botschaft propagieren. LaHaye nennt es „the
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most powerful vehicle to the hearts and minds“ der jüngeren Generation. Ebenso preist die Frau LaHayes, Beverly LaHaye, die Gründerin der rechtsgerichteten Frauenorganisation Concerned Women for America und eine der prominentesten amerikanischen Abtreibungsgegnerinnen (vgl. Schreiber 2008: 30-32), das Computerspiel. Der erste Roman der Serie aus dem Jahr 1995, der mit Left Behind selbst betitelt ist, bildet die Grundlage für das Computerspiel, die Verfilmung und viele der damit verbundenen Artikel. Jerry Falwell, wie LaHaye ein berühmter evangelikaler Prediger, behauptete – sicherlich überzogen – über dieses Buch: „In terms of its impact on Christianity, it’s probably greater than that of any other book in modern times, outside the Bible.“ (In BoothThomas et al. 2005: 38) Wenngleich nicht nur fundamentalistische Protestanten diese Romane lesen, erfährt ihre Botschaft vor allem Resonanz bei bestimmten religiösen Kreisen im Süden der USA (vgl. Frykholm 2004: 22f., 192n.; Gutjahr 2002: 221, 231). Die Left Behind-Serie basiert auf der prämillenaristischen Lehre, wonach der Wiederkunft Christi und seiner tausendjährigen Herrschaft eine siebenjährige Epoche der großen Trübsal (oder Drangsal) vorausgeht. Eingeleitet wird diese Phase durch die Entrückung, die rapture. Dabei lässt Gott alle glaubensfesten Christen und alle Kinder in den Himmel auffahren, d.h. sie entschwinden mit einem Mal physisch der Erde. Die Übriggebliebenen – „those left behind“ – erleben das Auftreten des Antichristen, unzählige Plagen, blutige Kriege, verheerende Erdbeben und Brände. Nur wenige Menschen überstehen diese Zeit, die mit der Entscheidungsschlacht von Armageddon endet. Am Schluss ereignet sich die strahlende Parusie Christi. Der Roman beginnt mit der rapture an Bord einer Boeing 747. Der Pilot Rayford Steele wird von seiner Stewardess Hattie darauf aufmerksam gemacht, dass plötzlich eine große Zahl an Passagieren fehlt. Gott hat sie in den Himmel fahren lassen; nur ihre Kleidungsstücke sind zurückgeblieben. Der eine Handlungsstrang vollzieht nach, wie Rayford, dessen tiefreligiöse Ehefrau ebenfalls entrückt, also leibhaftig in die himmlische Sphäre versetzt worden ist, seinen Weg zum Glauben findet und sich entschließt, gegen die Mächte des Bösen zu kämpfen. Die andere Handlungslinie befasst sich mit dem 30-jährigen Starjournalisten Cameron Williams, genannt Buck, der am Anfang des Romans auch in besagtem Flugzeug sitzt. Buck versucht, die Ursache des Verschwindens mehrerer Millionen Menschen auf der Welt zu ergründen und zugleich die wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge zu verstehen, die zum Aufstieg des jungen rumänischen Politikers Nicolae Carpathia zum UN-Generalsekretär und zuletzt faktisch zum Weltregenten führen. Wie wir in einer Analepsis erfahren, ist Bucks Atheismus schon vor der rapture erschüttert worden, als ein gigantischer russischer Luftangriff gegen Israel durch einen wundersamen Hagelsturm vollständig niedergeschlagen wurde. Dennoch braucht Buck länger als Rayford, um die ‚Wahrheit‘ des eschatologischen Heilsplans zu begreifen und zu erkennen, wer sich hinter der charmanten Maske Nicolae Carpathias verbirgt, nämlich
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der Antichrist selbst. Mit explizit politischen Aussagen halten sich die Autoren in ihren fiktionalen Werken auffallend zurück, was natürlich nicht heißt, dass nicht dennoch ideologische Positionen eruiert werden können.
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POLITISCHE D IMENSION VON E SCHATOLOGIE
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Moderne Theorien des Populären haben sich intensiv mit der Frage beschäftigt, inwieweit Erscheinungsformen der Unterhaltungs- und Volkskultur gegenüber der vorherrschenden gesellschaftlichen Ideologie eher subversiv oder affirmativ wirken. Letztlich geht diese Perspektive auf Michel Foucault zurück, der die Aufmerksamkeit auf die Diskursivität von Macht gerichtet hat, also darauf, wie Machtmechanismen in bestimmten gesellschaftlichen Vorstellungen, Wissensgebieten und Äußerungsformen funktionieren. Foucaults Ansatz beeinflusste in der Literaturwissenschaft unter anderem die New Historicists und die Cultural Materialists, die vornehmlich in ihren Studien zur englischen Renaissance-Literatur nach Kennzeichen von Machtstrukturen suchten. Für eine stärkere Beachtung der politischen Implikationen der Volkskultur waren zudem Michail Bachtins Arbeiten zum Karnevalesken bedeutend. Als wichtige Größen für die Cultural Studies müssen ebenfalls die marxistische Kulturkritik eines Stuart Hall sowie die Vertreter der Frankfurter Schule genannt werden. All das hat die heutige Kulturwissenschaft bei ihrer Sicht auf die Populärkultur entscheidend geprägt. So resümiert Marcus Kleiner die wissenschaftliche Diskussion um den Pop folgendermaßen: „Einerseits wird Pop als authentisch, grenzüberschreitend, umstürzlerisch, subkulturell, provokant, sozial- und sprachkritisch bezeichnet und ist in diesem Sinne ein Medium der Rebellion, der Revolution, des Widerstandes und des Protests. Letztlich gelebte Aufklärung und autonome Selbstkonstitution, ein programmatisches Konzept für kulturellen Wandel sowie ein Einspruch gegen die Ordnungs- und Ausschlusssysteme der Dominanzkultur. Andererseits wird Pop mit Konsum, Party, Profit, Unterhaltung, Lifestyle, Mainstream assoziiert und als Marken- bzw. Warenartikel deklariert. Pop wird in diesem Verständnis als Affirmation aufgefasst.“ (Kleiner 2008: 14)
Die Eschatologie in der Populärkultur eignet sich in ganz besonderem Maße dafür, dieser politischen Dimension nachzugehen, denn die Frage nach der subversiven bzw. konservativen Wirkung ist ebenfalls eng mit dem endzeitlichen Diskurs verbunden. So hat man immer wieder erörtert, ob religiöse Eschatologie eher Rebellion oder Loyalität fördert. Ich möchte mit meiner gemeinsamen Betrachtung dieser Phänomene aber auch demonstrieren, dass es zu kurz greift, Subversion mit „Aufklärung und autonomer Selbstkonstitution“ gleichzusetzen, wie Kleiner es tut.
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Dass Eschatologie ein subversives Moment besitzt, ist keine neue, von außen an sie herangetragene Erkenntnis. Vielmehr hat man schon früh um das revolutionäre Potential endzeitlichen Denkens gewusst. Zweifellos nahmen die apokalyptischen Bewegungen des Mittelalters häufig einen stark sozialrevolutionären Charakter an (vgl. Potestà 1998: 111), auch wenn Norman Cohns Einschätzung, man könne in diesen sogar die Vorläufer der revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts erkennen, als übertrieben zurückgewiesen werden muss (vgl. Cohn 1970: 15). Die Reformation, die in ihren verschiedenen regionalen Ausprägungen unterschiedliche millenaristische Züge aufwies, bereitete den Boden für viele kleine, zum Teil stark eschatologisch motivierte Erhebungen (vgl. Katz/Popkin 1999: 32-57). Thomas Müntzer und die Bauernaufstände von 1525 wären zu nennen (vgl. Goertz 2001: 156-163; Cohn 1970: 234-251) oder die Anabaptisten in Münster in den 1520er und 1530er Jahren (vgl. Barnes 1998: 148f.; Cohn 1970: 252-271). Der englische Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts, der zur Exekution des Königs und zu einem vorübergehenden Ende der Monarchie führte, wird heute vielfach durch den Millenarismus der puritanischen Revolutionäre erklärt. Richard Landes erläutert in der Encyclopædia Britannica, dass viele Puritaner der Auffassung waren, ein radikaler Umsturz sei notwendig, um den Weg für die Regentschaft Christi und seiner Heiligen zu bereiten (vgl. Landes 2010). Einige unter den Revolutionären, so die Levellers oder die Diggers, verbanden damit soziale Gleichheit und Toleranz. Auch wenn die große Transformation letztlich von Gott kommen muss, wird sie nach der Auffassung vieler Millenaristen durch ein bestimmtes menschliches Verhalten herbeigeführt. Die Hoffnung auf ein besseres Leben wird nicht, wie in der Tradition von Augustinus, auf den jenseitigen Gottesstaat, sondern auf das Diesseits gerichtet. Für Landes entfaltet der Endzeitglaube schon insofern starke Wirkkräfte, als er die These von der Unveränderlichkeit der Gegebenheiten zu widerlegen scheint: „By transforming the way people interact, it [the millennial option] will bring on a time of justice here on earth. Thus millennialism is a form of social mysticism that is deeply politically subversive. A more subversive notion one imagines with great difficulty.“ (Ebd.) Eine solche Bewertung ist nicht unangefochten geblieben. Während Timothy Weber argumentiert, gerade der Prämillenarismus sei eine religiöse Bewegung mit wenigen politischen Implikationen, betrachten ihn andere als konservativ oder gar reaktionär (vgl. Weber 1987: 92-104, 229; Webb 2008: 512). Wer davon ausgeht, dass die Apokalypse unmittelbar bevorsteht, wird sich kaum um die Verbesserung der sozialen Bedingungen auf der Erde bemühen. Für Prämillenaristen folgt die Weltgeschichte einem vorbestimmten Plan. In dem vermeintlichen Niedergang der Moral, der Gesellschaft und der christlichen Kultur werden Zeichen für das Ende der Zeit gesehen. Dem entgegenzuwirken erscheint demnach völlig sinnlos. Von Seiten der Theologie, unter anderem von Jürgen Moltmann und Joseph Ratzinger, ist debattiert worden, wie und mit welcher politischen Wirkung
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eschatologische Hoffnung eingesetzt werden könne und dürfe (vgl. Webb 2008: 500-506).
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POLITISCHE
B OTSCHAFT
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Da Left Behind mit der Populärkultur und der Eschatologie zwei Paradigmen zugeordnet ist, bei denen das Verhältnis zur hegemonialen Ideologie Gegenstand kontroverser Diskussion ist, weist die Frage, ob der Roman eine eher subversive oder affirmative Botschaft vermittelt, eine besondere Komplexität auf. Zunächst ist natürlich zu klären, was man unter der „Dominanzkultur“ mit ihren „Ordnungs- und Ausschlusssystemen“ verstehen soll – um nochmals auf Marcus Kleiner zurückzukommen. In der Tradition der Frankfurter Schule hat man hier vor allem die Konsumideologie des vermeintlichen ‚Spätkapitalismus‘ ausgemacht. Problematisch ist allein schon die Vorstellung des ‚Spätkapitalismus‘, die selbst auf einem säkularen Dispensationalismus beruht, also auf der Erwartung, unsere Gesellschaft werde bald den Kapitalismus hinter sich lassen und in eine neue weltgeschichtliche Phase eintreten. Zudem sind Zweifel angebracht, ob der Konsum wirklich unsere Dominanzkultur ist. Als Präsupposition – sozusagen um des Argumentes willen – soll die Hegemonie des Konsumismus im Folgenden aber akzeptiert werden. Ganz bestimmt ist Left Behind voll und ganz in die moderne consumer culture eingegliedert. Während man früher prophecy fiction nur durch eigene christliche Buchläden und Kataloge beziehen konnte, sind die Romane der Left Behind-Serie in den amerikanischen Filialen der großen Handelsketten wie Wal-Mart oder K-Mart sowie in Flughäfen und Hotel-Shops erhältlich und werden ebenfalls über Amazon oder Barnes and Noble vertrieben (vgl. Gutjahr 2002: 218). Obwohl Left Behind eine völlige Hinwendung zur evangelikalen christlichen Spiritualität propagiert, wird in den Romanen keine Kritik an Materialismus, Kommodifizierung oder Marktwirtschaft allgemein laut. Eine Kommerzialisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen wird lediglich im Zusammenhang mit dem Thema Abtreibung konstatiert, was angesichts der bekannten Position der Evangelikalen in dieser Frage kaum überraschen dürfte. So klagt die Stewardess Hattie darüber, ihre Schwester habe in der Klinik, in der sie arbeitet, nichts mehr zu tun, weil jetzt, da alle ungeborenen Babys bei der rapture verschwunden sind, keine Schwangerschaftsabbrüche mehr durchgeführt werden können (vgl. LaHaye/Jenkins 1995: 192f.). Abtreibung wird im Roman als zynisches Geschäft geschildert, das allein der Logik von Angebot und Nachfrage folgt. Nicht zuletzt um Identifikationsmöglichkeiten für die Leser zu schaffen, stammen die zentralen Romanfiguren aus dem Mittelschichtmilieu der amerikanischen Vorstädte. Das Beispiel der Familie Steel, die drei Autos besitzt, vermag zu illustrieren, dass für die Erlösung keinesfalls eine Abkehr vom American way of life notwendig ist, denn Rayfords Frau Irene ist ja durch
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die Entrückung errettet worden. Man kann auch den Kinofilm heranziehen, um zu belegen, wie wenig Spannung zwischen dem ‚wahren Christentum‘ und dem voll ausgeprägten Kapitalismus für die Macher von Left Behind besteht: Brad Johnson, der Schauspieler, der Rayford Steel spielt, ist insofern vielen Zuschauern ein vertrautes Gesicht, als er für Calvin Klein-Werbung modelte und drei Jahre als der „Marlboro Man“ fungierte. Left Behind ist Teil der ‚Kulturindustrie‘ (vgl. Adorno/Horkheimer 1971)1 und gerät somit nicht in Verdacht, sich gegen die Dominanz des Konsumismus aufzulehnen. Für Andrew Strombeck spricht aus der Serie sogar eine „devotion to freemarket capitalism“ (Strombeck 2006: 162). Diese Einschätzung trifft allerdings nur in Bezug auf eine allgemeine positive Haltung gegenüber dem konsumorientierten amerikanischen Lebensstil zu. In Left Behind findet sich nämlich sehr wohl Kritik an einer Ausprägung des Kapitalismus, nämlich der globalen Variante. Diese Kritik ist aufs Engste mit den eschatologischen Vorstellungen verknüpft. Bewusst provokativ ausgedrückt: Evangelikale Millenaristen sind Globalisierungsgegner. Nach Glenn Shuck wird in LaHayes und Jenkins’ Romanen der internationale Kapitalismus als einer der Hauptfeinde ausgemacht: „The Left Behind novels discuss such large-scale enemies as the United Nations [and] global capitalism.“ (Shuck 2005: 73) Die Gegenüberstellung der Aussagen Strombecks und Shucks, denen ja in bestimmter Hinsicht jeweils zuzustimmen ist, vermag zu verdeutlichen, wie ambivalent sich das Verhältnis von Left Behind gegenüber der Marktwirtschaft ausnimmt. Im Verschmelzen der nationalen Finanzmärkte zu einem großen internationalen Finanzsystem erblicken die Autoren der Left Behind-Romane ebenso wie viele andere fundamentalistische Christen sowohl ein Zeichen als auch eine Voraussetzung für den Aufstieg des Antichristen. Nicolae Carpathia ist im Roman ein international agierender „businessman“ (LaHaye/Jenkins 1995: 82, 100, 214), der über sich selbst sagt: „I believe in the power of money.“ (Ebd.: 214) Es lässt sich kaum eine stärkere Warnung gegen die ökonomische Globalisierung vorstellen, als sie mit dem personifizierten Bösen, mit dem Antagonisten Gottes, zu verknüpfen. In der nahen Zukunft, die in Left Behind geschildert wird, gibt es ohnehin nur noch drei Währungen: Dollar, Mark und Yen und man diskutiert bereits über eine Weltwährung. Dem Leser in der Mitte der 1990er Jahre, als die ersten Schritte zur europäischen Währungsunion ja gegangen waren, konnten derartige Entwicklungen für die nähere Zukunft plausibel erscheinen. Wenn sich am Ende des ersten Romans eine kleine christliche Miliz bildet, die Tribulation Force, um den Kampf gegen den Antichristen und seine Hand-
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Es ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Ironie, dass Umberto Eco die pessimistischen Kritiker der ‚Kulturindustrie‘, namentlich Theodor Adorno und Max Horkheimer, als „Apokalyptiker“ bezeichnet (vgl. Eco 1964). Die enge Verbindung zwischen Niedergangserwartungen und politischer Botschaft wird dadurch freilich bestätigt.
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langer aufzunehmen, kann man darin auch den gewaltsamen Widerstand gegen ein vermeintlich dämonisches globalkapitalistisches System sehen. Von dieser Warte aus betrachtet enthält der Roman ein gewaltiges subversives Potential. Das massenkulturelle Phänomen Left Behind, das sich selbst der globalen Märkte bedient, vermittelt die implizite politische Botschaft an den Leser, sich gegen die scheinbar wachsende Macht der internationalen Konsortien und Finanzinstitutionen zu wenden. Damit entspricht es einerseits dem, was Kleiner ein „Medium der Rebellion“ bzw. des „Widerstandes und des Protests“ genannt hat. Andererseits verknüpft Kleiner diese Begriffe aber mit „gelebter Aufklärung“ und „autonomer Selbstkonstitution“. Doch ist der in Left Behind geäußerte Protest wirklich aufklärerisch? Der Roman vermag zu illustrieren, wie irreführend die enge Assoziation von Subversion und Aufklärung sein kann. Die Internationalisierung des Währungs-, Kapital- und Finanzsystems ist ein abstrakter, schwer zu durchschauender Vorgang, ebenso die Globalisierung der Wirtschaft. Das Buch, das ohnehin individuelle Moral bzw. Unmoral und nicht strukturelle Probleme betont, konkretisiert diesen Prozess, indem es ihn personalisiert und so leichter verständlich macht. Hinter dem großen ökonomischen Geschehen steht nämlich letztlich eine kleine Clique von Verschwörern, die den Aufstieg des Antichristen vorbereitet. Z.B. wird der Journalist Buck von seinem Informanten Dirk an der Londoner Börse über vertrauliche Treffen internationaler Finanziers unterrichtet, die die globale Ökonomie und Politik lenken: „All I know is, they’re big, they’re private, and after they meet, major things happen.“ (LaHaye/Jenkins 1995: 57) Diese „power brokers behind the scenes“ bzw. „movers and shakers who control the money“ (ebd.: 58), wie Buck sie nennt, zeichnen letztlich ebenfalls für den Aufstieg des satanischen Nicolae Carpathia verantwortlich. Dieses Weltbild, das die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse simplifiziert, personifiziert und verschwörungstheoretisch deutet, weist bereits strukturell eine Affinität zu antisemitischen Wahnbildern auf.2 Und so verwundert es dann kaum mehr, wenn gelegentlich jüdischer Einfluss auf die Verschwörergruppe insinuiert wird. Bleibt die religiöse bzw. ethnische Herkunft der Schlüsselfiguren auch unerwähnt, so wird immerhin klar, dass der israelische Chemienobelpreisträger Chaim Rosenzweig Kontakte zu der Gruppe unterhält und sich stark für den rumänischen Politiker einsetzt. Schließlich ist es Rosenzweig, der Carpathia den Zugang zu der Medienund Finanzelite gewährt und ihn politisch berät. Diese Unterstützung ist jedoch nicht mit finsteren Motiven begründet, sondern mit der Unfähigkeit des hochintelligenten Juden, in Carpathia den Antichristen zu erkennen.3
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Für den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Verschwörungstheorien vgl. Perry/Schweitzer 2002: 98-117. Gershom Gorenberg beschreibt Chaim Rosenzweig so: „The archetypical Jew of the intolerant imagination, he inexplicably scores high in everything but theological truth.“ (Gorenberg 2000: 35)
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Die Kritik des Romans am globalen Kapitalismus folgt also den Bahnen, die aus den antiliberalen und antisemitischen Diskursen des 19. und 20. Jahrhunderts bekannt sind, angereichert mit traditionellen antijudaistischen Vorurteilen. Jonathan Freedman hat jüngst die Verschwörungstheorien der Left Behind-Romane mit dem amerikanischen ‚Populismus‘ um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Zusammenhang gebracht (vgl. Freedman 2008). Die vor allem im ländlichen Süden und Westen beheimatete agrarische Bewegung des Populism, zum Teil vertreten durch die kurzlebige People’s Party, richtete sich im Namen der sozialen Gerechtigkeit gegen „Big Business“ und „Big Government“, wobei vielfach der Kapitalismus als jüdische Intrige interpretiert wurde. Nach Freedman greifen die Macher von Left Behind auf diese unter Evangelikalen noch weithin verbreiteten Erklärungsmuster zurück, ohne dabei allzu explizit den Juden die Schuld geben zu müssen. Die judenfeindlichen Elemente des Romans verdienen eine genauere Betrachtung. Left Behind enthält nämlich verschiedene antisemitische Aussagen, die nicht unbedingt gleich ins Auge fallen, weil der Text Juden bisweilen durchaus positiv zeichnet. Als Buck vor der großen Entrückung von seiner Kollegin Lucinda gefragt wird, warum er noch nicht zu Jesus gefunden habe, wo doch das Wirken Gottes beim Angriff Russlands auf Israel offenkundig geworden sei, antwortet der junge Journalist, er könne sich auf Gott durchaus einlassen: „He’s already got me, Lucinda. But Jesus is another thing. The Israelis hate Jesus, but look what God did for them.“ Nachdem Lucinda daraufhin anhebt: „The Lord works in –“ ergänzt Buck den Ausspruch: „– mysterious ways, yeah, I know.“ (LaHaye/Jenkins 1995: 57) Wenn die Romanfigur den Israelis und damit den Juden Hass gegen Jesus unterstellt, knüpft sie an ein altes Ressentiment an, das eng mit der Diffamierung der Juden als Christusmörder verbunden ist (vgl. Mleynek 2005: 375). Freilich könnte man argumentieren, der Absatz besage vornehmlich, das Volk Israel werde trotz seiner Blindheit gegenüber dem Erlöser von Gott behütet. Dies bedeutete allerdings, das historische Faktum des Holocausts auszublenden, das im Diskurs über das Judentum nach 1945 stets gegenwärtig ist – so auch im Roman, wie noch zu zeigen sein wird. Die Anschauung, Israel genieße göttlichen Schutz, wird auf diese Art indirekt widerlegt, wie natürlich auch die Annahme Bucks, ohne Christus auszukommen, von der Logik des Romans widerlegt wird. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt, den Holocaust als Strafe für die angebliche Feindschaft des jüdischen Volkes gegen Jesus zu sehen. Tatsächlich werden in späteren Serienbänden, die von den Plagen der großen Drangsal und von der Schlacht bei Armageddon erzählen, viele Juden vernichtet, die nicht bereit sind, sich wie 144.000 ihrer Glaubensgenossen zum Christentum zu bekehren. Die antisemitischen Tendenzen des Romans treten dort besonders klar hervor, wo auf die weltpolitische Macht jüdischer Organisationen hingewiesen wird. Mitten im Chaos, das durch das Verschwinden tausender Menschen in den amerikanischen Großstädten ausgelöst worden ist, liest Buck in
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einer E-Mail seines Chefredakteurs Steve von wichtigen Konferenzen internationaler Gruppierungen in New York: „Political editor wants to cover a Jewish Nationalist conference in Manhattan that has something to do with a new world order government. What they care about that, I don’t know and the political editor doesn’t either.“ (LaHaye/Jenkins 1995: 40) Der Begriff der New World Order kursierte schon vor den 1990er Jahren gleichermaßen bei Verschwörungstheoretikern wie bei Millenaristen. Michael Barkun schreibt dazu: „For religionists, the New World Order is shorthand for the end-time rule of Antichrist.“ (Barkun 1998: 452) Die missliche Verwendung des Ausdrucks durch George Bush den Älteren im Jahr 1991 ist von einigen als sicheres Zeichen gewertet worden, die US-Regierung stehe unter dem Einfluss einer mächtigen endzeitlichen Intrige. Verrät die Chiffre der „New World Order“ im Roman auch nur den Eingeweihten, dass die Juden die Regentschaft des Antichristen planen, so lenkt die Äußerung, nicht einmal der Politikredakteur wisse, was die Juden mit der Umgestaltung der Weltordnung vorhätten, die Aufmerksamkeit der Leser auf die dahinterliegenden geheimen Absichten. Zudem erfährt man, orthodoxe Juden aus der ganzen Welt kämen in New York zusammen, offenbar mit dem Bestreben, den Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen (vgl. LaHaye/Jenkins 1995: 40). Wenn sodann Absprachen zwischen diesen Konferenzen vermutet werden, erweckt es den Eindruck, Juden unterschiedlicher ideologischer und religiöser Orientierung steckten bei ihren Weltherrschaftsplänen unter einer Decke. Obgleich die Kategorie „Subversion vs. Affirmation“ dazu beitragen kann, einzelne Aspekte des populärkulturellen Massenphänomens Left Behind in den Blick zu nehmen, reichen diese Begriffe bei Weitem nicht aus, um dem politischen Gehalt gerecht zu werden. Die weltanschaulichen Positionen des Romans sind sogar noch wesentlich vielschichtiger, als dies bisher darlegt wurde. Die erwähnten antisemitischen Tendenzen existieren nämlich paradoxerweise neben einer dezidiert pro-zionistischen Haltung. Der erwähnte russische Angriff auf Israel illustriert bereits, welch wichtige Rolle das Heilige Land für die millenaristische Theorie und die politische Ideologie von Left Behind spielt. Der Versuch, Israel zu zerstören, ist etwa 14 Monate vor der rapture unternommen worden und soll als ein Fanal gesehen werden, das den Eintritt der Welt in eine neue Dispensation ankündigt. Gleich zu Beginn des ersten Romans der Serie wird so die Zentralität des jüdischen Staats für den eschatologischen Heilsplan hervorgehoben. Es ist nur durch göttliches Einschreiten zu erklären, dass bei dem Militärschlag die gesamte russische Luftstreitmacht durch einen Sturm vernichtet worden ist, während es auf Seiten der Angegriffenen überhaupt keine Verluste gegeben hat: „Miraculously, not one casualty was reported in all of Israel. Otherwise Buck might have believed some mysterious malfunction had caused missile and plane to destroy each other. But witnesses reported that it had been a firestorm, along with rain and hail and an earthquake, that consumed the entire offensive effort.“ (Ebd.: 10)
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Dabei ist deutlich geworden: Israel steht unter dem Schutz Gottes. Neben dieser religiösen Botschaft enthält die Episode aber noch weitere Aussagen weltlicher Art, die Israel in einem positiven Licht erscheinen lassen. Die Israelis tragen keinerlei Verantwortung für diesen ‚Krieg‘: Sie sind ausschließlich Opfer, nicht Täter. Der Staat wirkt äußerst verletzbar: Obwohl sein Militär mit Boden-Luft-Raketen reagiert, ist klar, dass es ohne Gottes Hilfe keine Chance der Abwehr besessen hätte. Die Russen werden in ihrem Tun dagegen von niedrigsten Motiven angetrieben. Wie wir erfahren, war es Israel mit einer von Chaim Rosenzweig entwickelten chemischen Formel gelungen, die Wüste urbar zu machen und so zu außergewöhnlichem Wohlstand zu gelangen, was bei der frustrierten russischen Nation Neid, Missgunst und Begehrlichkeit ausgelöst hat (vgl. ebd.: 6f.). Signifikant ist der Hinweis, die ‚Horden des Nordens‘, die „hordes of the North“ (ebd.: 8), wie die Russen hier despektierlich tituliert werden, hätten die vollständige Vernichtung, „annihilation“ (ebd.: 7), der Juden zum Ziel gehabt. Sind darin bereits Anklänge an die Schoah zu bemerken, nennt der Erzähler die russische Offensive wenig später explizit „holocaust“ (ebd.: 9). So wird nicht nur eine Verbindung zwischen der Vergangenheit und der prophezeiten Zukunft gezogen, sondern der Vernichtungswille anderer gegen das jüdische Volk als eine historische Konstante dargestellt. Dies wiederum hat Auswirkungen auf die Interpretation der politischen Lage im heutigen Nahen Osten. Der Staat Israel ist demnach existentiell gefährdet, weil man ihm seine Leistungen missgönnt. Wenn Buck gegen Ende des Romans bei seiner Konversion zum ‚wahren Glauben‘ beklagt, sich nicht bereits nach dem Erleben des russischen Desasters Gott gegenüber geöffnet zu haben, ist darin auch ein Aufruf an den Leser zu vernehmen, den Aufstieg des israelischen Staates als Teil des Heilsplans zu verstehen: „What despicable kind of a subhuman creature had he become, that even the stark evidence of the Israel miracle – for it could be called nothing less – had not thawed his spirit’s receptiveness to God?“ (Ebd.: 286) Israel als ein Wunder zu begreifen, ist selbst außerhalb evangelikaler Kreise in Amerika weit verbreitet. So hat Barack Obama Israel als „miracle that has blossomed“ (in Bohan 2008) bezeichnet. In einer für den Roman ungewöhnlich scharfen Sprache – „despicable kind of a subhuman creature“ – werden in Left Behind indirekt all jene verurteilt, die in der Existenz des jüdischen Staates nicht das Wirken Gottes und ein Indiz für das nahe Weltende erkennen. Der Roman stützt sich auf Vorstellungen, die für das christliche dispensationalistische Denken ganz entscheidend sind und deren Wurzeln in Amerika bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen, als puritanische Prediger in Neuengland die Rückkehr der Juden ins Heilige Land als Voraussetzung für die Parusie Christi ansahen (vgl. Smolinski 1998: 44, 5155). Im 20. Jahrhundert deuteten viele evangelikale Christen die Gründung des Staates Israel als eschatologisches Zeichen: Nach Jerry Falwell ist die Existenz Israels „the single greatest sign indicating the imminent return of Jesus Christ“ (in Spector 2009: 28). Solche millenaristischen Überzeugugen
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bilden eine wichtige Strömung innerhalb der politischen Bewegung, die man heute Christian Zionism nennt, auch wenn Stephen Spector jüngst dargelegt hat, dass die Unterstützung Israels durch viele evangelikale Christen in den USA keinesfalls nur auf Endzeiterwartungen beruht (vgl. ebd.: 176f.). Die Paradoxie einer antisemitischen und zugleich pro-zionistischen Haltung, die in Left Behind zum Vorschein kommt, lässt sich nur durch die besondere Ausprägung des evangelikalen Dispensationalismus erklären.
S CHLUSSBETRACHTUNG Die außenpolitischen Positionen des Romans in ein Schema von Subversion und Affirmation einzuordnen, dürfte angesichts der Komplexität des Gegenstandes und der in Left Behind zu Tage getretenen paradoxen Haltungen kaum weiterhelfen. Die Berührungspunkte zwischen seinen populärkulturellen und seinen eschatologischen Prägungen ließen sich vor allem in der Ambivalenz gegenüber der Konsumgesellschaft erkennen. Einerseits können sowohl die Unterhaltungskultur als auch eine an den letzten Dingen orientierte Religiosität eine Abkehr von den politischen Auseinandersetzungen mit sich bringen. Die Populärkultur allgemein und die populäre Eschatologie eines Tim LaHaye sind aufs Engste in den Kapitalismus verstrickt. Andererseits ist dem Pop ebenso wie der millenaristischen Spiritualität ein Moment der Rebellion gegen bestimmte Aspekte des Kapitalismus inhärent. Meine Betrachtung von Left Behind hat ergeben, dass es notwendig ist, die Gleichsetzung von Subversion und Aufklärung zu hinterfragen. Nicht jede Kritik am globalisierten Kapitalismus zielt auf die Befreiung des Einzelnen von den „Ordnungs- und Ausschlusssystemen der Dominanzkultur“, um ein letztes Mal Marcus Kleiner zu zitieren. Die Frage, ob man wirklich im Konsum die Dominanzkultur der westlichen Gesellschaften erblicken sollte, habe ich ausgespart. Wenn sich so unterschiedliche Multimillionäre aus der Populärkultur wie Bono, Bob Geldorf und Tim LaHaye in ihrer Rebellion gegen den globalen Finanzkapitalismus einig sind, könnte das allerdings darauf hindeuten, dass dieser Protest – oder zumindest die Pose des Protests – selbst Teil der hegemonialen Ideologie geworden ist.
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Autorinnen und Autoren
LARS ECKSTEIN ist Professor für anglophone Literaturen und Kulturen außerhalb Großbritanniens und der USA an der Universität Potsdam. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Songlyrics und die Zusammenhänge zwischen Globalisierung und populärer Kultur. Publikationen u.a.: ReMembering the Black Atlantic: On the Poetics and Politics of Literary Memory (2006), Reading Song Lyrics (2010) sowie diverse Herausgaben, darunter English Literatures Across the Globe: A Companion (2007), The White Backlash: Conservatisms in Contemporary British Writing (mit D. Wiemann, 2010), Romanticism Today (mit C. Reinfandt, 2009), MultiEthnic Britain 2000+: New Perspectives in Literature, Film and the Arts (mit B. Korte, U. Pirker und C. Reinfandt, 2008) und The Cultural Validity of Music in Contemporary Fiction (mit C. Reinfandt, 2006). ROBERT FAJEN ist Professor für französische und italienische Literaturwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die romanischen Literaturen des Mittelalters, die französische und italienische Literatur der Aufklärung sowie die französische und italienische Literatur der Gegenwart. Er hat u.a. Publikationen zum französischsprachigen Roman um 1400, zur venezianischen Literatur des 18. Jahrhunderts und zum Verhältnis zwischen Lyrik und Popkultur im postmodernen Italien vorgelegt. PASCAL FISCHER ist Privatdozent für englische Philologie. Er hat an den Universitäten Würzburg, Duisburg-Essen und an der LMU München gelehrt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die englische Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts sowie die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts. Publikationen u.a.: Yidishkeyt und Jewishness. Identität in jüdischamerikanischer Literatur unter besonderer Berücksichtigung der Sprache (2003) und Literarische Entwürfe des Konservatismus in England 1790 bis 1805 (2010).
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WOLFGANG FUNK ist wissenschaftlicher Angestellter am Englischen Seminar der Leibniz-Universität Hannover. Er arbeitet momentan an einer Promotionsschrift mit dem Titel Discourses of Authenticity in Contemporary Anglophone Literature. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen darüber hinaus verschiedenste Manifestationen britischer Kultur, das englischsprachige Gegenwartsdrama sowie gesellschaftliche Utopien, Euthanasie und das Verhältnis von Wirklichkeit und Repräsentation in der Kunst. Er hat diesbezüglich mehrere Artikel veröffentlicht, u.a. über Bryony Lavery (2007), Jasper Fforde (2009), Martin McDonagh (2010), Jez Butterworth (2011) und Dave Eggers (2011). Zusammen mit Lucia Krämer hat er den Sammelband Fiktionen von Wirklichkeit. Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion (2011) herausgegeben. MARCUS S. KLEINER lehrt Medienwissenschaft an der Universität Siegen und arbeitet(e) an den Universitäten Duisburg, Düsseldorf, Dortmund (FH), Bonn, Magdeburg, Mannheim (Popakademie), Paderborn und Klagenfurt. Seine Lehr- und Forschungsgebiete sind Medientheorie, Medienkultur, Mediengeschichte, Mediensoziologie, Medienanalyse, Neue Medien, populäre Kulturen und populäre Medienkulturen. Publikationen u.a.: MedienHeterotopien. Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie (2006), Pop in R(h)einkultur. Oberflächenästhetik und Alltagskultur in der Region (mit D. Matejovski und E. Stahl, 2008), Grundlagentexte zur sozialwissenschaftlichen Medienkritik (2010), Methoden der Populärkulturforschung. Interdisziplinäre Perspektiven auf Film, Fernsehen, Musik, Internet und Computerspiele (2011) und Performativität und Medialität Populärer Kulturen. Theorie, Ästhetiken, Praktiken (mit T. Wilke, in Vorbereitung). Freiberufliche Arbeit als Medienberater, Projektmanager, Veranstalter, Texter, PR-Redakteur, Publizist und Hörspielautor. ALEXANDER KLUGER ist Mitarbeiter in der Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition der Universität Würzburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Editionsphilologie, die deutsche Literatur um 1800 und um 1900, Posthumanismus sowie die Wechselwirkungen zwischen deutscher und amerikanischer Literatur im 19. Jahrhundert. Publikationen u.a. zu Originalität, Jean Paul, C.G. Jung und zur Bedeutung deutscher Literatur im American Transcendentalism. FLORIAN NIEDLICH ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für englische Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Würzburg. Er arbeitet zurzeit an einer Dissertation zum Werk des englischen Schriftstellers J.G. Ballard. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen britische Gegenwartsliteratur, Popkultur sowie Literatur- und Kulturtheorie. Er hat u.a. Publikationen zur postkolonialen Literatur, zum englischen Roman des 20. und 21. Jahrhunderts, zum Hollywood-Film und zum Musikclip vorgelegt.
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RALPH PORDZIK ist Professor für englische Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität Würzburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die englischsprachige Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts, der utopische Roman und die anglo-amerikanische Kultur-, Medien- und Literaturtheorie. Veröffentlichungen u.a.: Der englische Roman im neunzehnten Jahrhundert (2001), Begehrte Texte. Literaturwissenschaft als Poetik des Unbewussten (2007) und, als Herausgeber, Futurescapes: Space in Utopian and Science Fiction Discourses (2009). Derzeit in Vorbereitung: Victorian Wastelands: Apocalyptic Discourse in Nineteenth-Century Poetry. CORNELIA RUHE ist Professorin für romanische Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Mannheim. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der französischen und frankophonen Gegenwartsliteratur und des Films, der spanischen Literatur des Siglo de Oro sowie der Intertextualität und Intermedialität. Veröffentlichungen u.a.: La cité des poètes. Interkulturalität und urbaner Raum (2004) und Cinéma Beur. Analysen zu einem neuen Genre des französischen Kinos (2006).
Register
ACCEPT 31 Adorno, Theodor W. 32, 207 Agamben, Giorgio 10-11, 80-84, 139-40, 143-44 Alter(n) 9-10, 15-44, 95, 152, 159, 165 Améry, Jean 23-28, 42 Amis, Martin 176 Antisemitismus 11, 208-12 Apache Indian 176 Aristoteles 112, 139 Arnold, Matthew 199 Aronofsky, Darren 10, 16 Aub, Max 150 Augustinus von Hippo 205 Bachtin, Michail 11, 59, 91, 101, 105, 184, 204 Baker, Tom 114, 117, 121 Baquero, Ivana 151 Barthes, Roland 9 BBC 90, 110, 176, 179 Beach Boys, The 135-38 Beastie Boys 189, 193 Beatles, The 10, 131-38 Benjamin, Walter 143 Bennett, Alan 109 Bentham, Jeremy 95 Berger, Peter L. 41, 111-12, 126 Bergson, Henri 112, 121 Berry, Chuck 133-38 Bhabha, Homi 61
Bildung 10, 16-17, 19-22, 25-29, 32-39, 42-44, 94, 122 Bildungsroman 55-56, 62 Bin Laden, Osama 177-78 Biopolitik 80-81 Black Album, The (Kureishi) 10, 51, 54-62 Bollywood 186 Bono 212 Bowie, David 51 Boyle, Danny 185 Bradlaugh, Charles 99 Bronfen, Elisabeth 60 Büsser, Martin 18 Burckhardt, Jacob 52 Bush, George H.W. 210 Butler, Judith 11, 53-57, 119, 125 Byron, Lord 95, 101 Caillois, Roger 106 Carlyle, Thomas 94 Carroll, Lewis 159-60, 165, 167 Chadha, Gurinder 176 Chaplin, Charlie 94 Chatwin, Bruce 60 Cixous, Hélène 117 Clare, John 97-98, 100 Clash, The 187 Clinton, Bill 79 Clynes, Manfred E. 68, 81 Cobain, Kurt 37
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„Cookbook D.I.Y“ (Fun^da^mental) 11, 177-85, 190, 194 Croker, J.W. 101 Cultural Materialism 204 Cultural Studies 9, 200, 204 Cyborg 10, 67-85 Darnell, Bruce 141-42 Darwin, Charles 68 Def Leppard 37 Deleuze, Gilles 11, 16, 60-62, 79 Derrida, Jacques 11, 53, 114-15, 126 Descartes, René 52 Douglas, Kirk 24 Duchamp, Marcel 131 Eckstein, Lars 11, 175, 180, 186 Eco, Umberto 9, 207 El laberinto del fauno (del Toro) 11, 150-51, 155-56, 167 Eliade, Mircea 74 Eliot, T.S. 199 Emergenz 10, 52, 109, 111-13, 127 Engels, Friedrich 101 Eschatologie 11, 197-98, 20007, 210-12 Essentialismus 52-53, 56, 58 Fabian Society 113 Fajen, Robert 10, 131 Farrakhan, Louis 177 Faschismus 11, 153, 156-58, 162, 166, 170-71 Fiedler, Leslie 9, 138 Fincher, David 57 Fischer, Pascal 11, 98, 197 Foucault, Michel 25, 41-42, 5153, 62, 68, 204 Frankfurter Schule 204, 206 Freud, Sigmund 52, 68, 91, 96, 104, 106, 112
Fun^da^mental 11, 177-78, 18081, 184-85, 190, 194 Funk, Wolfgang 10, 109 Geldorf, Bob 212 Genette, Gérard 114 Germany’s Next Topmodel 14143 Geschlecht/gender 17, 22, 5658, 61, 69, 76-77, 109, 111, 119-21, 125 Giddens, Anthony 20 Gil, Ariadna 151 Gilroy, Paul 60 Glenaan, Kenny 176 Globalisierung 17, 144, 177, 187, 191-94, 207-09, 212 Goffman, Erving 35-36 Goya, Francisco de 164 Guattari, Félix 11, 16, 60-62 Guevara, Che 177 Guns N’Roses 37, 39-40 Hall, Stuart 12, 53, 199, 204 Hamilton, Richard 131 Haraway, Donna 69, 76 Harrison, George 135 Hecken, Thomas 19 Heitmeyer, Wilhelm 20 Hill, Martina 141-43 Hip-Hop 11, 28, 175-77, 186-87, 193 Hobbes, Thomas 112 Hoɺcker, Bernhard 142 Höller, Christian 18 Hollywood 78, 149-50 Horkheimer, Max 207 Horror 79, 101-02, 149-50, 156 Hügel, Hans-Otto 19 Hughes, James 85 Huizinga, Johan 112 Humanismus 53, 67-68, 75, 7778, 83-84 Hutcheon, Linda 138
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Hutcheson, Francis 112 Identität 9-10, 17, 21, 34, 39, 4142, 51-63, 79, 110-14, 11822, 125, 127, 186, 202 Intertextualität 57, 60, 136, 138 Irigaray, Luce 117 Jacke, Christoph 18-19 Jakobson, Roman 94 James, William 199 Jameson, Fredric 52, 62 Jenkins, Jerry B. 202, 206-10 John Birch Society 132-33 Jung, C.G. 166 Kalter Krieg 71, 79 Kamper, Dietmar 113 Kant, Immanuel 52, 67, 112 Kapitalismus 10-11, 24, 63, 9495, 134, 144, 189, 206-09, 212 Karneval/das Karnevaleske 10, 90-95, 99-100, 102, 104-06, 142, 184 Keats, John 94-95, 100-03 Kellner, Douglas 54, 57 Kleiner, Marcus S. 9-10, 15-16, 19, 22, 25, 27-28, 33, 41, 204, 206, 208, 212 Kline, Nathan S. 68, 81 Kluger, Alexander 10, 52, 67 Klum, Heidi 141-43 Körper/Körperlichkeit 10, 17, 22, 24-30, 33-36, 40, 67-78, 80-83, 105, 109-18, 120-21, 124-25, 127, 137, 158 Kokemohr, Rainer 16, 19, 21, 42 Kolonialismus 60, 190 Kommunismus 132-33 Kopernikus, Nikolaus 68 Kosminsky, Peter 176 Kramer, Lawrence 194 Krimkrieg 102 Kristeva, Julia 34, 104-05, 117
Ku-Klux-Klan 142, 184 Kureishi, Hanif 10, 51, 54-56, 60, 62 Lacan, Jacques 53, 56-58, 114, 116 Lachmann, Renate 90-92, 10406, 155 LaHaye, Tim 202-03, 207-12 Leavis, F.R. 199 Left Behind (LaHaye/Jenkins) 11, 197, 201-03, 206-12 Leibniz, Gottfried Wilhelm 60, 156-58, 167, 170 Lennon, John 135 Lévi-Strauss, Claude 53 Lipsitz, George 187, 194 Lit, Avtar 175 Little Britain 10, 109-21, 124, 126-27 Loach, Ken 176 Locke, John 98 López, Sergi 152 Love, Mike 135-36 Lucas, Matt 110, 113-14 Madonna 51, 57 Malcolm X 177 Malewitsch, Kasimir 131 Marx, Karl 52, 101 Marxismus 99, 199, 204 McCartney, Paul 132-38 McEwan, Ian 176 McLuhan, Marshall 21 Menippeische Satire 93, 96, 99, 101 M.I.A. 11, 185-94 Migration 55, 118, 186-89 Moderne 10, 15, 19-20, 34, 52, 80-82, 91-95, 102-03, 131, 197, 203-04, 206 Mötley Crüe 37 Moltmann, Jürgen 205 Monty Python 10, 89-102, 105 MTV 194
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Müntzer, Thomas 205 Mythologie 11, 53, 74, 100, 105, 118, 134-37, 144, 150-51, 165-66 Nawaz, Aki 177-81, 184-85 Neate, Patrick 176 New Historicism 204 New Order 187, 210 Niedlich, Florian 9, 51 Nietzsche, Friedrich 52 Nirvana 37 Obama, Barack 211 Occasionalismus 158 Pans Labyrinth (siehe El laberinto del fauno) „Paper Planes“ (M.I.A.) 11, 18594 Parmar, Pratibha 176 Parodie 10, 92, 99, 101-02, 110, 125, 131-44 Performanz/Performativität 9, 35, 51-54, 57, 60-61, 76, 11920, 125, 143, 181 Phantastik 11, 34, 57, 118, 136, 149-51, 155-70, 189, 191, 193 Pixies 187 Platon 15, 112 Plessner, Helmuth 36, 112 Polanski, Roman 170 Pordzik, Ralph 10, 89, 101, 105 Posthumanismus 10, 52, 67-69 Postkolonialismus 60 Postmoderne 10, 51-62, 78, 90, 111, 138 Poststrukturalismus 52, 68, 78 Prince 51, 61 Punk 177, 187 Quiet Riot 37 Ratt 38
Ratzinger, Joseph 205 Reagan, Ronald 79 Reed, Lou 15 Reformation 205 Resnais, Alain 162 Richman, Jonathan 186 Romantik 92, 95, 97-100, 103 Rougoment, Denis de 92 Rourke, Mickey 16 Ruhe, Cornelia 11, 149 Rushdie, Salman 60 Ruskin, John 94 Sartre, Jean-Paul 27 Satire 93, 96, 102 Schwarzenegger, Arnold 72, 74, 84 Seel, Martin 17 Sharma, Mona 142 Shaviro, Steven 33, 35 Shelley, Mary 163 Shelley, Percy Bysshe 94-95, 99-100, 103-04 Simmel, Georg 41 Singh, Talvin 176 Sloterdijk, Peter 67 Sontag, Susan 9 Soundscape 186, 194 Southern Death Cult 177 Sozialismus 101 Spanischer Bürgerkrieg 11, 15051, 154, 160 Spiegelstadium 56 Springsteen, Bruce 40 Starobinski, Jean 90 Storey, John 41 Strukturalismus 52 Switch Reloaded 10, 140-44 Taylor, Charles 52 Tennyson, Alfred Lord 94-95, 100, 102 Terminator, The (Cameron) 7072, 75-76, 79, 82-83, 85
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Terminator 2: Judgment Day (Cameron) 71, 73-83 Terminator 3: Rise of the Machines (Mostow) 79 Terminator Salvation (McGinty Nichol) 67, 80-84 Terrorismus 11, 178-84, 190, 193-94 Timbaland 187 Tomei, Marisa 29 Toro, Guillermo del 11, 149-51, 154-61, 165 Transgression/Überschreitung 21, 27, 56, 58, 60-63, 90-92, 94, 104, 106, 110, 126, 204
Viktorianisches Zeitalter 93-95, 100-01, 120, 165, 180 Walliams, David 110, 114 Weaver, Sigourney 77 Welsch, Wolfgang 62 Wilcannia Mob 187 Williams, Linda 34 Williams, Raymond 199 Wood, Evan Rachel 29 Wordsworth, William 94-97, 103 Wrestler, The (Aronofsky) 10, 15-28, 32-37, 40-44 Žižek, Slavoj 57
Ullmaier, Johannes 18 Urban, Peter 18 Utopie 91, 104 Viktoria 95, 98, 102-03
11. September 2001 11, 79, 17576, 185, 190, 193
Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien April 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Mai 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9
Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.) Möbel als Medien Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge Juni 2011, 316 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1477-0
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Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien März 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5
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