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German Pages 194 [192] Year 2015
Nikos Psarros Facetten des Menschlichen
Edition panta rei
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Editorial I In Umbruchzeiten und Zeiten beschleunigten Wandels ist die Philosophie in besondere Weise herausgefordert, Veränderungen unserer theoretischen und praktischen Weltbezüge zu artikulieren. Denn Begriffe, Kategorien und Topoi, unter denen Weltbezüge stehen und unter denen wir unser Denken und Handeln ausrichten, erweisen sich im Zuge jener Dynamik regelmäßig als einseitig, kontingent, dogmatisch oder leer. Dialektisches Denken richtet sich von alters her auf diejenige Gegensätzlichkeit, die die Beschränktheiten des Denkens und Handeins aus sich heraus hervorbringt, und zwar mit Blick auf die Einlösbarkeit seiner Ansprüche angesichts des Andersseins, Anderssein-Könnens oder Anderssein-Sollens der je verhandelten Sache. Dialektik versteht sich als Reflexion der Reflexionstätigkeit und folgt somit den Entwicklungen des jeweils gegenwärtigen Denkens in kritischer Absicht. Geweckt wird sie nicht aus der Denktätigkeit selbst, sondern durch das Widerfahrnis des Scheiteros derjenigen Vollzüge, die sich unter jenem Denken zu begreifen suchen. Ihr Fundament ist mithin dasjenige an der Praxis, was sich als Scheitern darstellt. Dieses ist allererst gedanklich neu zu begreifen in Ansehung der Beschränktheit seiner bisherigen begrifflichen Erfassung. Vor diesem Hintergrund ist für dialektisches Denken der Dialog mit anderen philosophischen Strömungen unverzichtbar. Denn Beschränkungen werden erst im Aufweis von Verschiedenheit als Unterschiede bestimmbar und als Widersprüche reflektierbar. Und ferner wird ein Anderssein-Können niemals aus der Warte einer selbstermächtigten Reflexion, sondern nur im partiellen Vorführen ersichtlich, über dessen Signifikanz nicht die dialektische Theorie bestimmt, sondern die Auseinandersetzung der Subjekte. Wissenschaftlicher Beirat 1 Prof. Dr. Christoph Halbig, Jena I Prof. Dr. Christoph Hubig, Stuttgart I Prof. Dr. Angelica Nuzzo, New York I HD Dr. Volker Schürmann, Leipzig I Prof. Dr. Pirmin Stekeler-Weithofer, Leipzig I Dr. Michael Weingarten, Marburg I Prof. Dr. Jörg Zimmer, Girona/Spanien
Autor dieses Bandes: Nikos Psarros (Dr. rer. nat. phil. habil.) ist außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Philosophische Anthropologie, Naturphilosophie und Wissenschaftsphilosophie sowie -geschichte.
N IKOS PSARROS
Facetten des Menschlichen Reflexionen zum Wesen des Humanen und der Person
[transcript]
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Nikos Psarros Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-613-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet http:/ jwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Ontologische Vorbemerkungen
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Person und Mensch Merkmal, Leistung oder Anerkennung? Drei Betrachtungen der Personalität
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Rotpeters Verwandlung
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Individuelle Enkulturation oder wie findet man den Weg in die Menschheit?
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Eigenschaften der Personalität Autonomie und Autarkie
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Rationalität und Gemeinschaft Sprachanalytische Reflexionen
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Im Grunde der Seele. Anmerkungen zum Gegenstandbereich der Psychologie
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Schmerzaussagen als Urteilsformen
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Die Welt der Person und ihre Grenzen Der Begriff der Lebenswelt
157
Utopien als Demarkationen des Menschlichen
173
Anhang Literatur
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Drucknachweise
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Für Peter Janich, der mir das Tor zu einerneuen Welt öffnete
Vorwort
Dieser Band umfasst Arbeiten, die zwischen 1998 und 2005 im Rahmen meines Reisenberg-Stipendiums an der Universität Leipzig entstanden oder erschienen sind. Eine Ausnahme bildet der Abschnitt Ontologische Vorbemerkungen, der hier zum ersten Mal erscheint. Den gemeinsamen thematischen Hintergrund bilden die Philosophische Anthropologie und die Philosophie der Person, die ich als überlappende Bereiche betrachte. Die Texte sind ftir diese Ausgabe mehr oder weniger stark überarbeitet worden, sowohl in Bezug auf ihre Form als auch in Bezug auf ihren Inhalt, ohne jedoch die Kernthesen zu verändern. Die inhaltlichen Veränderungen betreffen hauptsächlich den Umstand, dass ich das Verhältnis zwischen einzelnem Lebewesen und biologischer Art nicht mehr nominalistisch auffasse. Diese "Abkehr" hat es mir ermöglicht, einige Argumentationslücken zu schließen und meine Hauptthesen besser herausarbeiten zu können. Viele wichtige Hinweise und Verbesserungsvorschläge verdanke ich Katinka Schuhe-Ostermann und Henning Tegtmeyer, die zusammen mit Kerstin Preiwuß auch die Mühe der Korrekturlesung auf sich genommen haben. Mein Dank geht auch an Peter Heuer, Frank Kannetzky, Thomas Kater, Bettina Kremberg, Geert-Lueke Lueken, Georg Meggle, Volker Schürmann, Pirmin Stekeler-Weithofer und Kristin Wojke, die die Entstehung dieser Texte mäeutisch begleitet haben. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich flir die Gewährung des Heisenberg-Stipendiums, das mir die Erschließung dieser Thematik überhaupt ermöglichte.
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Ontologische Vorbemerkungen
Das cartesische Credo und der sokratische Zweifel Descartes' methodologisches Credo ist: "illud omne esse verum, quod valde clare & distincte percipio" - nur das ist wahr, was ich ganz klar und deutlich auffasse. 1 Einer alten Tradition folgend setzt er Wahrheit mit Existenz gleich und Existenz mit "Existenz als Substanz",2 als unabhängige und autarke "Daseinseinheit". Klaren und distinkten BegriffenIdeen in Descartes' Terminologie - entsprechen separate Substanzen: zunächst die zwei "Großsubstanzen" res cogitans und res extensa und a fortiori ihre klar und deutlich auffassbaren Bestandteile: Gedanken und Affekte einerseits und die Entitäten der materiellen Welt andererseits. Die Formulierung dieses Credos war für das von Descartes verfolgte Projekt, die Auslotung der Bedingungen sicheren Wissens, angemessen und zweckdienlich. In der Geschichte der Wissenschaft passiert es jedoch häufig, dass der Erfolg einer Methode dazu verleitet, den Umstand zu missachten, dass Methoden - wie erfolgreich auch immer sie sein mögen - nie universell einsetzbar sind, sondern sich immer an den verfolgten Zielen orientieren. Der Erfolg einer Methode lässt oft vergessen, dass sie immer ein lokal wirksames Mittel ist und nicht zur Lösung aller Probleme herangezogen werden kann, geschweige denn zu bestimmen, was überhaupt als Problem zu gelten hat. Genau dies passierte aber mit Descartes methodologischem Credo: Manche (Philosophen und Naturwissenschaftler) schlossen daraus, dass alle Begriffe, die weder "handhabbare" noch sinnlich wahrnehmbare Substanzen beschreiben, letztendlich leer sind und entweder aus unserem Begriffsinventar entfernt oder- sofern sie sich doch auf wichtige Bereiche unseres Lebens beziehen, wie z. 8. die so genannten Qualia, die verschiedenen Formen der Emotionalität oder die Ursache-Wirkungs-Verhältnisse - auf die Wech-
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Descartes, 3. Meditation. ebd.
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FACETTEN DES MENSCHLICHEN
selwirkungen von materiellen, sinnlich wahrnehmbaren und handhabbaren Substanzen zurückgeführt werden sollten. Andere wiederum, die gute Gründe für die Existenz von immateriellen Substanzen anführen, müssen mit dem Problem fertig werden, warum und wie, zumindest beim Menschen, Konstellationen immaterieller Substanzen mit denen materieller Substanzen koinzidieren. Dieses Konfliktschema beschäftigt nicht erst seit Descartes die Philosophie. Es waren auch nicht die posteartesischen Philosophen und Wissenschaftler, die das cartesische Credo missverstanden haben: Schon im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts überbieten sich Polit-, Moral- und Wissenschaftsexperten beim Aufbieten von Patentrezepten zur Lösung der vielfaltigen Probleme der sich entfaltenden Polis, die alle auf dem cartesischen Credo beruhen: Ich (Protagoras, Thrasymachos, Gorgias, Eythydemos usw. 3) habe eine klare und deutliche Auffassung von dem Wissen (der Gerechtigkeit, der Macht der Rede, der Tugend) gefunden. Ergo handelt es sich dabei um eine separate Substanz, die vollkommen erfassbar und von mir und meinen Schülern zu unserem Vorteil handhabbar ist!!! Gegen diese Überzeugung meldet Sokrates seine Zweifel an und versucht nachzuweisen, dass gerade die klare und deutliche Auffassung der für die Bestimmung des guten Lebens unentbehrlichen Ideen zur Bedingung hat, dass ihnen keine separaten Substanzen entsprechen. Zum Verdruss der selbsternannten Experten, der, wie wir wissen, in blanken Hass umschlug und in der Anzeige wegen Frevels und Verfühmng der Jugend resultierte, demonstriert Sokrates in vielen Dialogen, dass der Versuch, das Wesen der Tugend, der Besonnenheit, des Wissens oder der Gerechtigkeit in Form einer Auflistung der Eigenschaften einer Substanz zu bestimmen, unweigerlich zu Widersprüchen führt. Diese Haltung Sokrates' wird im Dialog Theaitetos besonders deutlich: Mit Theodoros und dem jungen Namensgeber des Dialogs geht er der Frage nach, ob es ein eindeutiges Kriterium für ubiquitär gültiges Wissen (Emm~piJ) gebe und welches dieses Kriterium sei. Ausgehend vom protagoreischen Diktum, dass dieses Kriterium bzw. Maß der einzelne Mensch sei, weist Sokrates nach, dass weder die je eigene Wahrnehmung noch die je eigenen Präferenzen als Konkretisierung dieses Kriteriums herhalten können. Im Lauf des Dialogs zeigt Sokrates, dass universell gültiges Wissen im Sinne der {m!7T~f11J eine Vielfalt von konstitutiven Facetten aufweist - Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen, Vermögen zum Umgang mit Ideen, Vermögen, etwas zu begründen, Vermögen zur Teilnahme an Diskursen-, die jedoch einzeln nicht 3
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Vgl. die entsprechenden Dialoge Platons.
ONTOLOGISCHE VORBEMERKUNGEN
zu semer vollständigen Bestimmung ausreichen. Die Reduktion von brzcmjp1J auf eine oder einige dieser Facetten habe vielmehr zur Folge, dass man in unüberwindliche Widersprüche gerät. Sokrates behauptet freilich nicht, es wäre unmöglich, sicheres und universell gültiges Wissen im Sinne der ircwnjp1J zu erwerben, oder ein besonnener oder gerechter Mensch zu sein. Diese Ziele aber, so seine Überzeugung, sind nicht materialer, sondernformaler Natur. Das heißt, dass das, was als Wissen, Besonnenheit, Gerechtigkeit usw. ausgewiesen wird, in seiner materialen, inhaltlichen Beschaffenheit je nach Kontext durchaus sehr unterschiedlich ausfallen kann. Die Bestimmung des Ziels ist somit an keine konkrete Methode gebunden, mit deren Hilfe irgendeine konkrete Form von Wissen, Besonnenheit, Gerechtigkeit usw. erworben wird. Es geht vielmehr um die Bedingungen, die die Form selbst bestimmen, wobei diese Bedingungen von unseren Vorstellungen des guten Lebens abhängig sind. Nicht die Methode bestimmt das Wesen dieser Ziele, sondern der Entwwj; der das durch die Technik Erreichbare transzendiert. Sokrates ist es nicht gelungen, seine Gegner von der Richtigkeit seiner Ansichten zu überzeugen: zu verlockend ist die Aussicht auf vollständige Durchdringung und Beherrschung des Untersuchungsgegenstandes, die ja durchaus sehr erfolgreich sein kann - wie uns die Naturwissenschaften und die Technik schon damals demonstrierten. Trotz mehrfacher Verweise seitens von Philosophen in der sokratischen Tradition auf diverse Agrippasche, Friessehe und Münchhausen-Trilemmata, die auf die Situiertheit und auf die begrenzte Reichweite jeder Begründung und Wesenserfassung aufmerksam machen wollen, bastelt die Fraktion der cartesischen Substantialisten seit Protagoras, Gorgias, Thrasymachos und Co. nach dem Vorbild der Geometrie, der Arithmetik und der Naturwissenschaften hartnäckig an der alleingültigen Definition von "Leben", "Natur", "Wissen", "Gerechtigkeit", "Freiheit" usw. - und natürlich auch von "Mensch" .
Was ist der Mensch? Was ist der Mensch? Schon die Formulierung lässt ahnen, dass eine Antwort im Sinne des cartesischen Credos erwartet wird: Als Beschreibung einer Substanz, die neben anderen Substanzen - Katzen, Pappeln, Löwen, Salz, Wasser, Gold und den übrigen Lebewesen- und Stoffarten -zur Ausstattung der Welt gehört. Substanzen erscheinen in der Welt in einer eigentümlich doppelten Weise, die seit Aristoteles die Philosophen beschäftigt, nämlich als ein-
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FACETTEN DES MENSCHLICHEN
zelgegenständliche Realisierungen von Arten. Meine Katze realisiert die wesentlichen Merkmale der Katzenart, von denen manche obligatorisch für alle Katzenindividuen sind, wie das Miauen, das Schnurren oder das katzentypische Apportieren und das Balzverhalten, und manche "fakultativ", wie etwa die Farbe, das Muster und die Beschaffenheit des Fells, die Körperform oder bestimmte "Charakterzüge", die typisch für manche Katzenrassen sind. Als Repräsentant einer höheren Tierart zeigt meine Katze natürlich auch ein Verhalten, das individuelle Merkmale aufweist, und auch ihre körperliche Beschaffenheit weicht von der Artnorm in manchen Punkten ab. Die Beschreibung der Art "Katze" setzt sich aus diesen beiden Listen von obligatorischen und fakultativen Artmerkmalen zusarmnen, die auch die Möglichkeiten der individuellen Entfaltung eines Katzenindividumns bestimmen. Beide Listen legen fest, was als krankhafte Abweichung, was als Verbesserung und was als neutrale Variation bzw. als individueller Zug meiner Katze angesehen werden soll. Artbeschreibungen verweisen auf eine normative Kraft, die den Rahmen für die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer bestimmten Art absteckt und die Güte dieser Zugehörigkeit bestimmt. Diese Kraft wirkt nicht von außerhalb auf das Individuum ein, sondern entfaltet sich aus seinem Inneren heraus. Sie ist keine causa efjiciens, sondern eine causa jinalis, eine vom Ziel, von der Art ausgehende Kraft, die das Individuum zwingt, diese zu realisieren. Das formale, naturgesetzmäßig normative und teleologische Art-Individuum-Verhältnis gilt übrigens nicht nur für Tierindividuen und ihre Arten, sondern fl.ir alle Substanzen, seien sie Lebewesen, Stoffe oder physikalische Körper, auch wenn es im Bereich des Stofflichen und des Physikalischen anders erscheint. Es ist die Basis für den Aufbau der Naturwissenschaften, die diese inneren Individuum-Art-Gesetze und die Verhältnisse und Gesetzmäßigkeilen zwischen den Substanzen ihrer Gegenstandsbereiche untersuchen. Gemäß dem cartesischen Credo wird der Mensch als Substanz angesehen, die in der Welt in dieser doppelten Weise als Individuum und als Art erscheint. Generationen von Biologen, Anthropologen und Philosophen haben sich bemüht, die Merkmale dieser Art zu bestimmen. Die damit verbundenen Aporien werden im zweiten Beitrag dieses Bandes (Rotpeters Verwandlung) erörtert und münden in das Fazit, dass, auch wenn der Ausdruck "Mensch" eine Art benennen sollte, diese Art keine Lebewesenart ist, da die artbildenden Merkmale des Menschen einem anderen Bereich angehören als dem Bereich des Lebens. Doch auch wenn wir diesen Bereich erschließen, bleibt immer noch die Frage offen, ob der Mensch überhaupt als Art aufgefasst werden kann. Denn spätestens seit Hobbes, Rousseau und Kant wissen wir, dass im Gegensatz zu
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ONTOLOGISCHE VORBEMERKUNGEN
allen anderen Substanzen der einzelne Mensch nicht (oder höchstens im Idealfall) aus innerem Antrieb heraus die Vorgaben seiner Art realisiert. Menschen bedürfen dazu der Hilfe der Erziehung und des Rechts und somit des Staates bzw. der Gesellschaft. Darüber hinaus ist das, was durch die Sozialisiemng erreicht wird, nicht die Realisiemng der Art Mensch, sondern die Befolgung verschiedener, lokal gültiger und bezüglich bestimmter Aspekte durchaus untereinander inkompatibler Normen, welche durchaus - im Gegensatz zu Naturgesetzen - aus eigenem Antrieb verletzt werden können, so dass es eines Korrektivs bedarf, sei es in Gestalt der Erziehung, des sozialen Drucks oder der rechtsbewehrten Sanktion, um die jeweilige Norm durchzusetzen. Dieses Unvermögen des Menschen, das "Naturgesetz seiner Art" aus innerem Antrieb zu befolgen, ist von vielen Denkern der Neuzeit4 diagnostiziert, beschrieben, bedauert oder zum tragischen Grundzug der Conditio Humana erklärt worden. Die im frühen 20. Jahrhundert von Scheler, Plessner und Gehlen entwickelte "Philosophische Anthropologie" stellte einen letzten Versuch dar, einen kohärenten Begriff des Menschen im Rahmen des cartesischen Substanzparadigmas zu entwickeln, der im Gegensatz zu früheren Entwürfen einen "Mangel" als die positive differentia specifica zwischen Menschen und anderen Lebewesenarten erkennt. Dieser Mangel wird als faktische, phänomenologisch erfassbare Wesenseigenschaft expliziert, was dazu führt, dass die Philosophische Anthropologie, trotz aller neuerlichen Wiederbelebungsversuche,5 in eine ex:falso-quodlibet-ähnliche Aporie gerät, denn sie will aus der faktischen Negation eine positive Bestimmung des Menschen gewmnen. Das Scheitern des cartesischen Substantialismus lässt die sokratischen Skeptiker6 wieder ihre Zweifel anmelden: Vielleicht ist der "Mangel" des Menschen keine Negation, sondern eine Remotio/ eine "Aufhebung einer Begrenzung". 8 Vielleicht ist der Mensch keine endliche Substanz, die einem Artgesetz unterliegt. Vielleicht ist das Verhältnis zwischen einem einzelnen Menschen und dem "Menschsein" so geartet wie das Verhältnis eines Lebewesens zum Leben: Ein Lebewesen steht in keinem direkten Verhältnis zum Leben, sondern nur vermittels seiner 4 5 6
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Zu den prominentesten gehören Hobbes, Rousseau, Locke, Hume, Kant, Sartre und Rorty. Vgl. z. B. Krüger und Lindemann 2006. Dazu gehören in der Neuzeit Berkeley, Hegel, Wittgenstein, Heidegger, Kafka und Siinone Weil. Remotio ist ein thomistischer Tenninus, der verständlich machen soll, warum "negative" Prädikate Gottes (Unendlichkeit, Unerschaffenheit etc.) kein Ausdruck des Mangels, sondern der Vollkommenheit sind. Dieser Gedanke liegt dem Beitrag Autonomie und Autarkie zu Grunde.
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FACETTEN DES MENSCHLICHEN
Artzugehörigkeit Der Begriff "Leben" bezieht sich auf eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Prozess und Substanz, die das eigentümliche Verhältnis zwischen Einzellebewesen und Art bestimmt: Die Lebensprozesse erzeugen, geleitet durch die naturgesetzmäßige Kraft der jeweiligen Artnorm, die Einzellebewesen, welche ihrerseits die Artnorm realisieren und durch ihr Leben dafiir sorgen, dass die Lebensprozesse aufrecht erhalten werden. Die Lebewesenarten bilden innerhalb des Weltbereiches "Leben" ein System, das die Wirkung der Lebensprozesse strukturiert, so dass das Leben immer in Gestalt eines (Öko-)Systems verschiedener Arten erscheinen muss.9 "Das Leben" selbst ist daher keine Substanz, die irgendeinem Naturgesetz unterliegt und als solche Gegenstand einer Wissenschaft sein kann. Was die Lebenswissenschaften untersuchen, sind Aspekte des Lebens - das System der Arten, die verschiedenen Lebensprozesse, die Stoffe, die für die Lebewesen konstitutiv sind usw. In ähnlicher Weise stellt das "Menschliche" bzw. die "Menschheit" (oder "DER Mensch") denjenigen Weltbereich dar, worin die einzelnen menschlichen Individuen ihre Lebensläufe innerhalb des Normenrahmens ihrer jeweiligen Gemeinschaften beschreiben. Das Verhältnis zwischen einzelnem Menschen und der Menschheit ist wie das Verhältnis zwischen einem Lebewesen und dem Leben. Es ist kein direktes Verhältnis, sondern wird durch die jeweilige Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft vermittelt, genauso wie das Verhältnis eines Lebewesens zum Leben durch seine Artzugehörigkeit vermittelt wird. Und genauso wie die Arten innerhalb des Lebens Ökosysteme bilden, bilden die Gemeinschaften innerhalb der Menschheit Systeme, die den Untersuchungsgegenstand für die diversen Sozialwissenschaften abgeben. Hier hört freilich die Analogie zwischen dem Bereich des Lebens und dem Bereich des Menschlichen auf, denn im Bereich des Menschlichen besteht ein anderes Verhältnis zwischen Substanz und Prozess. Wird das einzelne Lebewesen 10 durch naturgesetzmäßige Prozesse erzeugt und sorgt es durch sein durch das Naturgesetz seiner Art bestimmte Verhalten dafür, dass diese Prozesse aufrecht erhalten werden, sind D. h., es ist zwar ein Ökosystem denkbar, das nur eine Art enthält, etwa eine chemo- oder photoautotrophe Spezies (eine Flechte, oder ein Bakterium o. Ä.). Es ist jedoch undenkbar, dass das Leben sich in Gestalt eines globalen Organismus erscheint, wie etwa in S. Lems Roman Solaris (Lern 1975). Solaris, ein "Planet-Lebewesen", das die es erforschenden Wissenschaftler selbst erforscht und fast in den Wahnsinn treibt, kann deshalb kein Lebewesen sein, weil es nicht klar ist, inwiefern es eine Artnonn realisiert, da es laut Plot keine Möglichkeit gibt, dieses vermeintliche Lebewesen zu reproduzieren. I 0 Im rein biologischen Sinne.
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ONTOLOGISCHE VORBEMERKUNGEN
die Prozesse, die zur Herausbildung eines Menschen (im Sinne des spezifisch Menschlichen) führen, nicht naturgesetzlicher, sondern rein normativer Art. Zu ihrer Entfaltung bedürfen sie der aktiven Befolgung durch das Handeln dieses Menschen, der dazu durch Einsicht und/oder durch das Vorbild (und dort, wo dieses nicht ausreicht, durch den sozialen Druck) seiner Gemeinschaft motiviert wird. Im Gegensatz zu einem Lebewesen, das seinem Ausgeliefertsein an das Gesetz seiner Art nicht bewusst ist, ist sich der einzelne Mensch seiner Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und seiner Unterordnung unter ihre Normen bewusst und in der Lage, diese Unterordnung aufzukündigen, wenn diese Gemeinschaft nicht mehr zwischen ihm und dem Menschlichen vermittelt. 11 Das einzelne Lebewesen kann sich keine neue Art aussuchen, wenn seine artspezifische Verfassung ihm die Teilnahme am Leben nicht oder nicht mehr ermöglichen kann. 12 Es geht ein und mit ihm geht seine Art unter. Der einzelne Mensch kann sich einer anderen Gemeinschaft anschließen oder zusammen mit Anderen eine neue gründen.
Facetten des Mensch I ichen Die Erkenntnis, dass das Menschliche keine homogene Substanz darstellt, sondern einen mannigfaltig strukturierten Weltbereich, macht es verständlich, warum die in diesem Band versammelten Beiträge nicht "das Wesen" des Menschlichen zu ergründen versuchen. Dieses Wesen, diese Substanz gibt es gar nicht, es gibt nur Aspekte - Facetten - des Menschlichen, die zwar klar und deutlich begrifflich voneinander unterscheidbar sind, aber nicht im Sinne von Substanzen autark existieren können. Dies gilt nicht einmal für die einzelnen Menschen und die Gemeinschaften, denn beide können nicht autark, d. h. ohne Bezug auf und unabhängig von anderen Menschen und Gemeinschaften und ohne Bezug auf das Menschliche, existieren. Die Facetten des Menschlichen zu thematisieren bedeutet also nicht, dass aus kontingenten Gründen bloß Bruchstücke einer Philosophischen Anthropologie vorgestellt werden, sondern dass die Philosophische Anthropologie keine Wissenschaft im Sinne einer Natur- oder Sozialwissenschaft sein kann. Ihre Leistung besteht darin, die einzelnen Facetten des Menschlichen begrifflich klar zu II In diesem Sinne kann Hobbes' Widerstandsrecht gegen einen Souverän, der einen Bürger aus dem Gesellschaftsvertrag ausschließt, verstanden werden. 12 Z. B. weil die Umweltbedingungen sich so geändert haben, so dass die natürlichen artspezifischen Fähigkeiten dieses Lebewesens ihnen nicht mehr angemessen sind.
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FACETTEN DES MENSCHLICHEN
erfassen und die fonnalen Bedingungen zu explizieren, die zur Entfaltung eines menschlichen Lebens notwendig sind. An dieser Stelle könnte der cartesianische Substantialismus noch einmal seine Chance wittern, doch zu seinem einheitlichen Gegenstand zu kommen, indem er die Forderung nach Vollständigkeit und Abgeschlossenheit erhebt. Doch auch in dieser Hinsicht soll er enttäuscht werden: Die Liste der Facetten eines jeden Weltbereiches- nicht nur des Menschlichen - ist nämlich grundsätzlich offen, denn sie zeigen sich erst, wenn der übliche Ablauf der Prozesse gestört bzw. von uns in eine unerwartete Richtung umgelenkt wird. Da aber die künftigen Zielsetzungen unseres Handeins im Voraus nicht auslotbar sind, ist die Voraussage von damit verbundenen Störungen ebenfalls nicht möglich. Deshalb können wir auch nicht sagen, wie viele und welche Facetten sich noch im Dunkeln des Störungsfreien verborgen halten und auf den Lichtstrahl der Kontingenz warten, um Gestalt anzunehmen. Die Offenheit in der Anzahl und der Art der Facetten heißt aber nicht, dass es keine Gewichtung unter ihnen und keine "Entwicklungsrichtung" gibt. Im Bereich des Lebens ist die wichtigste Facette das System der Lebewesen arten, das offensichtlich darauf ausgerichtet ist, Tiere hervorzubringen - Lebewesen, bei denen die Lebensprozesse eine vollständige Einheit von Stoff und Fonn in Gestalt von voneinander unabhängig lebenden Individuen erzeugen. Im Bereich des Menschlichen scheint die wichtigste Facette das System der Gemeinschaften zu sein sowie das Ziel der menschenbildenden Prozesse das Hervorbringen von Personen, von autonomen und freien Menschen, die sich bei aller Anerkennung ihrer Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Gemeinschaft sich nötigenfalls gegen diese richten können, weil sie den formalen universellen Normen des Menschlichen verpflichtet sind.
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Person und Mensch
Merkmal, Leistung oder Anerkennung? Drei Betrachtungen der Personalität
Varianten von "Person" Der Ausdruck "Person" spielt eine große Rolle in allen Zusammenhängen, in denen unser gemeinschaftliches Handeln und Erleben sprachlich thematisiert wird. In der Welt dieses Handeins wimmelt es von Personen. Dieser Ausdruck wird in gewissen Kontexten etwa synonym zu "Standardmensch" verwendet: Es heißt dann, dass die zulässige Tragkraft von Aufzügen 10 Personen oder 700 kg beträgt oder dass in diesem Bus, Eisenbahnwagen oder Auto soundso viele Personen stehend und sitzend Platz finden können. In anderen Kontexten bezeichnet er bloß die so genannte Artzugehörigkeit, so dass eine Aufforderung oder ein Verbot nach beliebigen physiologischen und biologischen Merkmalen ausdifferenziert werden kann: Personen unter 18 Jahren, mit folgenden Beschwerden ... , über oder unter einer Gewichtsgrenze ... , mit oder ohne medizinischen Lebenshilfen wird der Zugang verwehrt oder erlaubt, oder die Betroffenen müssen oder sollten sich einer bestimmten therapeutischen Behandlung unterziehen usw. In manchen natürlichen Sprachen steht der Ausdruck "Person" für die unbestimmten Ausdrücke "man", "niemand", "ein Mensch" bzw. im Plural "Personen" für Menschen oder Leute im Allgemeinen oder mit einem Numeral versehen für eine bestimmte Anzahl von Menschen. Interessanter ist der Gebrauch von "Person" in Fällen, in denen eine gewisse "Bewertung" des Geschehens vorgenommen wird: Bei der Beschreibung von Gewalteinwirkungen und Unfallen wird z. B. zwischen "Personen-" und "Sachschäden" differenziert, wobei Angehörige aller anderen Tierarten unter den Begriff "Sache" fallen, es sei denn, es liegt ein Spezialfall vor, der eine weitere Unterscheidung erforderlich macht 19
FACETTEN DES MENSCHLICHEN
oder gebietet. Die Personenschäden werden dabei anders bewertet bzw. behandelt als Sachschäden: Personenschäden müssen öffentlich gemacht werden, normalerweise indem man unverzüglich Polizei und Rettungsdienste benachrichtigt. Sachschäden hingegen können - bis zu einer gewissen Grenze und immer im Normalfall - privat geregelt werden. Personenschäden ziehen darüber hinaus in jedem Fall eine strafrechtliche Behandlung nach sich, auch wenn es nicht immer zu Anklagen kommt. Aus dieser besonderen Behandlung von Personenschäden, aber auch aus anderen Fällen, in denen menschliche Individuen wegen ihres Status als "Personen" - zunächst - anders behandelt werden als alle anderen Lebewesen und Dinge, wird ersichtlich, dass mit dem Zusprechen des Ausdrucks "Person" das Zusprechen bestimmter Rechte und Pflichten verbunden ist. Insofern ein menschliches Individuum als Person betrachtet wird, genießt es in unserem Kulturkreis einen gewissen Schutz seiner körperlichen und geistigen Integrität, es hat Anspruch darauf, dass Schäden an ihm nicht bloß behoben, sondern auch entschädigt bzw. gesühnt werden, es genießt verschiedene andere bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte (z. B. Recht auf Eigentum, Recht auf Selbstbestimmung, Recht auf Unverletzlichkeit eines bestimmten räumlichen Bereichs, der sog. "Privatsphäre", Recht auf Teilhabe an politischen Prozessen usf.) und hat auch eine Reihe von Pflichten zu erfüllen, die mit der Gewährung dieser Rechte zusammenhängen. Es darf z. B. die entsprechenden Rechte anderer nicht verletzen und muss seine eigenen Rechte "umsichtig" anwenden bzw. geltend machen. Zusammenfassend kann man sagen, dass eine nichttriviale Verwendungsweise des Ausdrucks "Person" die im Sinne eines Rechtssubjektes ist. In unserem Kulturkreis existieren jedoch auch Rechtssubjekte, die keine individuellen menschlichen Lebewesen sind. Es gibt diverse Institutionen wie Staaten, Handelsgesellschaften, Vereine und Universitäten, die ebenfalls mit Rechten und Pflichten ausgestattet sind. Im Unterschied jedoch zu den einzelnen Personen, die ihre Rechte und Pflichten selbst in die Hand nehmen können bzw. sollen, bedarf die Inanspruchnahme der Rechte und die Umsetzung der Pflichten von Institutionen der Vermittlung der Handlungen von Individuen - ob diese zu diesem Zweck auch individuelle Personen sein müssen oder nicht, möchte ich hier nicht erörtern. Um diesem Umstand tenninologisch gerecht zu werden, unterscheiden wir zwischen natürlichen und juristischen Personen. Trotz ihrer gravierenden Unterschiede in der physischen, biologischen und sozialen Konstitution sind natürliche und juristische Personen in einer bestimmten Hinsicht gleichgestellt. Beide Gruppen dürfen ihre Rechte öffentlich geltend machen, beide genießen Rechtsschutz, beide müssen ihre Pflichten, wie auch immer sie geartet sein mögen, erfüllen.
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MERKMAL, LEISTUNG ODER ANERKENNUNG?
Eine weitere Gebrauchsweise des Wortes "Person" bezieht sich auf unsere Fähigkeit, uns individuelle und gemeinsame Ziele zu setzen und zu verfolgen, über unser Tun zu reflektieren, für unsere Zielsetzungen zu argumentieren, aktiv und bewusst in die Welt einzugreifen und das Bewusstsein einer individuellen Kontinuität zu besitzen (Ich-Stabilität). Diese Gebrauchsweise findet sich allerdings nur in spezifischen Diskursen, die traditionell in den Bereich philosophischer Reflexion fallen. In der alltäglichen Rede benutzen wir die Ausdrücke "Person" bzw. "Persönlichkeit" in einem etwas eingeschränkten Modus, nämlich um uns auf die spezifischen Charakterdispositionen eines Individuums zu beziehen, auf die Art und Weise, wie der Betreffende Probleme anpackt, auf sein Gebaren, auf seine typischen Reaktionen in bestimmten Situationen. Um die beiden letzten Verwendungsweisen von "Person" besser unterscheiden zu können, spricht man in philosophischen Diskursen von moralischen Personen, wenn die Rechte und die Pflichten natürlicher oder juristischer Individuen Gegenstand der Betrachtung sind, und von metaphysischen Personen, wenn man sich auf den kognitiven, aktiven und bewusstseinsmäßigen Aspekt dieser Individuen bezieht. 1 Das philosophische Interesse an beiden "Arten" der Personalität beruht auf mehreren Motiven. Die Teilaspekte der metaphysischen und der moralischen Personalität berühren erkenntnistheoretische bzw. ethische Fragestellungen und gehören deshalb schon seit den Anfangen systematischen Philosophierens zu seinen Gegenständen, auch wenn der einheitliche Ausdruck "Person" erst in neuerer Zeit für diese Zwecke verwendet wird. Eine besondere Bedeutung, die über den innerphilosophischen Diskurs hinausgeht, hat der Personenbegriff allerdings im Zuge der jüngsten so genannten "bio-ethischen" Debatten erhalten, bei denen es um Probleme wie Euthanasie, Abtreibungsverbot, Tierversuche oder Sterbehilfe geht. Zentraler Punkt dieser Debatten ist die Frage, welchen Individuen in welchem Ausmaß die mit der moralischen Personalität verbundenen Rechte auf Lebensschutz zu gewähren sind, d.h. ob es nicht Situationen oder Individuen gibt bzw. geben kann, bei denen das strikte Tötungsverbot, das uns als Recht gegeben und als Pflicht auferlegt ist, aufgeweicht werden darf oder sollte. Im Falle des Tierschutzes wird zusätzlich die Frage behandelt, ob einige Aspekte der moralischen Personalität auch anderen Lebewesen außer den Angehörigen unserer Art gewährt werden sollten. Eine mögliche Antwort besteht darin, einige oder gar sämtliche Aspekte der moralischen Personalität zu "privilegierten", nichtbiologischen Merkmalen der Mitglieder der Art Homo sapiens zu erklären. MoraliVgl. dazu Stoecker 1997.
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FACETTEN DES MENSCHLICHEN
sehe Personalität und Artzugehörigkeit fallen somit zusammen. Diese Verknüpfung zwischen moralischer Personalität und Artzugehörigkeit wird durch religiöse oder metaphysische Argumente gerechtfertigt, etwa durch Verweis auf Schöpfungsgeschichten oder göttliche Gebote oder auf die Einzigartigkeit der Menschen im irdischen Ökosystem. Solche Argumentationsmuster machen sogar einen Kern des Religiösen aus. Deshalb wird diese Haltung hier auch als die Theorie von der Heiligkeit menschlichen Lebens bezeichnet, kurz als Heiligkeitstheorie.2 Ihre ethische Konsequenz ist u.a., dass menschliches Leben einen strikten Schutz genießt, der vom Tötungs- bzw. Seibsttötungs- über das Euthanasie- und Sterbehilfe- bis zum Abtreibungsverbot reicht. Diese Haltung wird von einigen Gruppen in unserer Gesellschaft als zu rigoros empfunden, wobei insbesondere die Unhaltbarkeit bzw. mangelnde Tragfahigkeit der Begründung hervorgehoben wird. Das strikte Tötungsverbot gerät häufig in Konflikt mit anderen Rechten oder Pflichten, die Bestandteil der moralischen Personalität sind, etwa dem Recht auf adäquate medizinische Versorgung von heilbaren Patienten, das durch Ressourcenbindung für die Lebenserhaltung von unheilbar Kranken im Endstadium eingeschränkt sein könnte, oder dem Recht auf Selbstbestimmung des Individuums im Falle eines unheilbar Kranken, der seinem Leben ein würdiges Ende geben möchte, oder einer schwangeren Frau, die zum Schluss kommt, dass die Geburt und Aufzucht eines Kindes ihren Lebensplan empfindlich stören würde. Ein säkularisierter Gegenentwurf will diese Konflikte vermeiden bzw. lösen helfen, indem er die moralische Personalität an eine metaphysische bindet und zwar so, dass letztere eine notwendige und hinreichende Bedingung für die erstere darstellt. Das Vorhandensein einer metaphysischen Personalität hat dann notwendigerweise das Zusprechen der moralischen Personalität zur Folge. Eine metaphysische Person genießt den moralischen Personen zukommenden Lebensschutz. Diese notwendige Konsequenz erlischt jedoch bei Nichterfüllung der Antezedensbedingung. Es ist zulässig, einem Individuum die moralische Personalität abzusprechen (und somit die damit verbundenen Schutzrechte abzuerkennen), wenn es keine Merkmale der metaphysischen Personalität aufweist. Man sollte hier beachten, dass unter diesen Umständen die
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Der Terminus Heiligkeilstheorie lehnt sich an die Bezeichnung These von der Heiligkeit des menschlichen Lebens an, die von Peter Singer geprägt wurde (Singer 1994: 116). Die Heiligkeilstheorie wird im Allgemeinen von den größeren monotheistischen Religionen vertreten. Einen umfassenden philosophischen Entwurf zur Konstitution von Person und Personalität, der auf heiligkeilstheoretischen Überlegungen beruht, hat Robert Spaemann vorgelegt. Vgl. Spaemann 1996.
MERKMAL, LEISTUNG ODER ANERKENNUNG?
Aberkennung nicht geboten, sondern lediglich erlaubt ist. Diese Auffassung möchte ich als die Junktimtheorie bezeichnen. 3 Die Aspekte der metaphysischen Personalität werden ihrerseits als kognitive Leistungen des einzelnen Individuums angesehen, für deren Zustandekommen die biologische Artzugehörigkeit eine zwar hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung ist. Metaphysische Personalität wird nicht als biologisches Artmerkmal, sondem als organismische Systemeigenschaft verstanden. Ich möchte eine derartige Auffassung von metaphysischer Person bzw. Personalität die Lockesche Personentheorie nennen.4 Für einen Vertreter dieser Theorie ist es möglich, dass es Exemplare des biologischen Typus Mensch gibt, die keine Merkmale metaphysischer Personalität aufweisen. Dafür kann es aber Vertreter anderer Spezies geben, denen man diese Merkmale zuschreiben kann bzw. muss. Ethische Konsequenz dieser Einstellung ist, dass sobald ein Individuum die Merkmale der metaphysischen Personalität nicht aufweist, es keinen Anspruch auf eine strikte Respektierung seiner moralischen Personalität hat. Das Leben unheilbar Kranker im fortgeschrittenen Stadium und im komatösen Zustand dürfte denmach zumindest passiv durch Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen beendet und Föten, insofern sie nicht erwünscht oder insofern erkennbar wird, dass die geborenen Individuen auf Grund schwerer Defekte eine Bürde für Eltern und Gesellschaft darstellen, abgetrieben werden. Ich bin der Ansicht, dass die Heiligkeits- und die Junktimtheorie sowohl zur Beschreibung der Situation, nämlich der Tatsache, dass wir Träger von besonderen "personalen" Eigenschaften und Subjekte bestimmter Rechte und Pflichten sind, die unseren individuellen Lebensvollzug betreffen, als auch zur ethischen Rechtfertigung der praktischen Entscheidungen im relevanten Bereich hoffnungslos inadäquat sind. Ich werde deshalb im Folgenden zu zeigen versuchen, wie moralische und metaphysische Personalität unabhängig voneinander rekonstruiert werden können und wie die "semantische Funktion" der Ausdrücke "mora3 4
Die Junktimstheorie ist in Fonn der These von der Heiligkeit personalen Lebens ist von Peter Singer und ohne eigene terminologische Prägung u.a. von Glover 1977 vertreten worden. Vgl. J. Locke Versuch: Kap. 27, § 9 u. 10: "Meiner Meinung nach bezeichnet dieses Wort [Person] ein denkendes, verständiges Wesen [nicht unbedingt ein lndividuum der Spezies Homo sapiens - N. P.], das Vemunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann [.. .]. [S]owcit ein vernunftbegabtes Wesen die Idee einer vcrgangcnen Handlung mit demselben Bewusstsein, das es zuerst von ihr hatte, und mit demselben Bewusstsein, das es von einer gegenwärtigen Handlung hat, wiederholen kann, ebenso weit ist es dasselbe persönliche lch. Denn durch sein Bewusstsein von seinen gegenwärtigen Gedanken und Handlungen ist es augenblicklich .fiir sich sein eigenes Ich" [Kursivicnmg im Original].
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lische" und "metaphysische Person" in unseren Aussagen sinnvoll zu bestimmen sind. Ich glaube, dass dadurch einige der angesprochenen "bio-ethischen" Kontroversen einer vernünftigen Lösung näher gebracht werden.
Möglichkeiten der Begriffsrekonstruktion Die Ausdrücke "moralische Person" und "metaphysische Person" können in mindestens vier verschiedenen Weisen verstanden werden: Sie können sich auf jeweils eine oder mehrere Eigenschaften bzw. Merkmale ihrer Anwendungsgegenstände - menschliche Individuen qua Angehörige der Spezies Homo sapiens - beziehen. Das ist der Kerngedanke der Heiligkeitstheorie. Sie können sich auf Leistungsäquivalenzen von Systemen - hier von individuellen Lebewesen - beziehen. Der Begriff der Person hätte dann den Status eines abstrakten Begriffes im Sinne der Abstraktionstheorie. 5 Diese Vorstellung liegt der Lockeschen Personentheorie zugrunde. Sie können etwa in demselben Sinne behandelt werden wie die Ausdrücke "Atom", "Elektron", "Gen", "tektonische Platte" oder "mentaler Zustand". Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Gegenstände, die sie beschreiben, keine Bestandteile der Alltagswelt sind, sondern ausschließlich in Theorien auftreten, und zwar zum Zwecke der Erklärung und der Integration verschiedenartiger Phänomene in eine Theorie. Sie wären dann theoretische Konstrukte. 6 Theoretische Konstrukte beschreibende Ausdrücke, die so genannten theoretischen Begriffe, haben nur innerhalb der betreffenden Theorien eine Bedeutung, d. h., sie sind implizit definiert. Sie können als Titelwörter7 betrachtet werden, die einen bestimmten Redebereich benennen. Im Gegensatz zu abstrakten Begriffen, die sich auf eine Äquivalenz von Gegenständen bezüglich eines Satzes von Eigenschaften oder Relationen beziehen, ist es das besondere Kennzeichen eines solchen Redebereiches, dass er "wesensgleiche" Eigenschaften von Gegenständen umfasst. Das Titelwort "Raum" z. B. benennt einen Redebereich, der die (ernpraktisch erlernbaren) Anordnungsrelationen von Dingen in Bezug auf einen Betrachter umfasst. Dinge können sich "vor", "hinter", "über", "unter", "an der Seite" von anderen Dingen be5
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Zur Rekonstruktion abstrakter Begriffe mittels des so genannten sprachanalytischen Abstraktionsverfahrens vgl. Lorenzen 1987 und Siegwart 1995. Hartmann 1993: 108ff. Steke1er-Weithofer 1996.
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finden. Weitere Relationen, die hierher gehören, sind "links von", "rechts von", "nah an" und "fern von". "Wesensfremde" Relationen wären z. B. "wärmer als" und "schneller als". Titelwörter sollten nicht mit theoretischen Begriffen verwechselt werden, obgleich ein mit einem Titelwort belegter Redebereich auch oder manchmal nur- theoretische Begriffe umfassen kann. Ein Beispiel dafür ist der chemische Begriff der "Aromatizität". Er benennt einen Bereich theoretischer Eigenschaften von Molekülen, die einige Besonderheiten des chemischen Reaktionsvermögens von chemischen Verbindungen erklären, deren Moleküle einen bestimmten Strukturtyp aufweisen. Im Gegensatz zu theoretischen Begriffen erklären Titelwörter nichts. Sie dienen lediglich der Organisation unserer Rede in "Kategorien". Sie überschreiben Redebereiche und Redeformen samt der zugehörigen Erfahrungsbereiche. Was sie überschreiben, muss ernpraktisch gelernt und damit bekannt sein, es kann nicht im Vorhinein wie ein Fregescher Begriff definiert, d. h., aus einem gegebenen Bereich ausgegrenzt werden. Ich werde hier die These vertreten, dass die Ausdrücke " Person" bzw. "Personalität" als Titelwörter eines gemeinschaftlich konstituierten Redebereiches angemessen rekonstruiert werden können (Fall 4). Die Verwendung von "Person" im Sinne eines theoretischen Begriffes (Fall 3) erscheint schon deswegen nicht angemessen, weil die Rede über Personen bzw. Personalität Bestandteil unserer Alltagswelt ist. " Person" ist ein erst zu erläuternder Begriff, Personalität ein Explanandum. Als theoretischer Begriff würde er hingegen zur Erklärung bestimmter Phänomene verwendet. Er wäre dann schon mit Eigenschaften ausgestattet, die ausreichen sollten, um die fraglichen Phänomene zu erklären.8 Widmen wir uns nun dem ersten Fall: Semantisch gesehen ist hier "Person" so etwas wie ein Oberbegriff zu einer Reihe von näher zu spezifizierenden Unterbegriffen, die ihrerseits als Prädikate verwendet würden; er müsste über ein Definitionsverfahren eingeführt werden. Eine Variante wäre, alle Menschen und nur die Menschen zu Personen zu erklären. Gegen diese Rekonstruktion spricht einerseits der Verdacht, dass er eine Form "rassistischer" Willkür darstellen würde. Man bezeichnet 8
Man kann zwar im Cartesianismus, in der transzendentalen Philosophie oder in der Phänomenologie Ansätze des Gebrauchs von ,Person' (als res cogitans, Verstand oder transzendentales Ego) im Sinne eines theoretischen Begriffes finden, eine konsequente Anwendung dieser Begriffe als Explanantia der entsprechenden alltagsweltlichen Situationen führt jedoch zu Zirkularitäten, die eine weitere Erklärung der zugrunde gelegten Begriffe erforderlich machen. Solche Erklärungsversuche rekurrieren selbst immer wieder auf Elemente der Heiligkeits- oder der lockeschen Theorie.
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diese Einstellung als Speziezismus. 9 Das Argument läuft folgendennaßen: Genauso, wie es nicht ersichtlich ist, warum das Zusprechen moralischer Personalität innerhalb der Angehörigen der Art Homo sapiens an irgendwelche Unterschiede in Hautfarbe, Körperbau oder Geschlecht geknüpft werden sollte, ist es auch nicht ersichtlich, warum die biologische Eigentümlichkeit der Art einen Anknüpfungspunkt für eine solche Unterscheidung darstellen sollte. Mit anderen Worten: Wenn Rassenunterschiede keinen Grund für moralische Diskriminierung liefern, dann können dies auch Artunterschiede nicht tun, denn Artunterschiede sind bloß biologisch "tiefergreifende" Rassenunterschiede. Der Speziezist könnte dagegen einwenden, dass es zwar gute Gründe gäbe, kein Rassist oder Sexist zu sein, dass jedoch die Artzugehörigkeit eine andere Qualität besäße, weil Artangehörige einige Merkmale notwendigerweise gemeinsam hätten, die Angehörigen anderer Arten nicht zukämen. Die Spezifität dieser Merkmale ließe sich daran erkennen, dass sie durch die biologische Reproduktion der Artmitglieder reproduziert würden und durch Kreuzung nicht auf andere Arten übertragen werden könnten. Der Rekonstruktionsversuch des Personenbegriffs als biologisches Prädikat muss jedoch scheitern, weil die mit der Personalität verbundenen Eigenschaften sich nicht in Form der widerfahrnishaften Realisierung einer biologischen Artgesetzmäßigkeit "automatisch" etablieren.10 Menschliche Gemeinschaften sind nämlich keine Populationen artgleicher Tiere. Die Entscheidung, ob ein hinzukommendes Individuum einer bestimmten Gemeinschaft dazugehören soll oder nicht, bemht auf einem kulturellen Vorverständnis der Gemeinschaft, die das neue Mitglied aufnimmt. Dass dies in der Regel die Geburt ist, ist kein Argument. Denn dies war, erstens, nicht immer so, und auch heute gibt es, zweitens, andere Möglichkeiten, um in eine Gesellschaft oder Gemeinschaft aufgenommen zu werden (Einbürgerung, Adoption, Beitrittserklärung usw.). Somit sind die Grenzen der Gemeinschaft nicht a priori an die biologisch definierten Artzugehörigkeit gebunden, und die Zuschreibung von Personalitätsattributen muss sich an anderen Merkmalen orientieren. Die zweite oben skizzierte Alternative beschreitet diesen Weg, indem sie die moralische Personalität als Derivat einer metaphysischen betrachtet. Der Ausdmck "metaphysische Person" erhält in der Junktimtheorie den semantischen Status eines abstrakten Begriffes, der über die Definition einer funktionalen Äquivalenzrelation von Individuen in Bezug auf mentale Leistungen konstituiert wird. Um die Haltbarkeit dieser Theorie zu überptiifen, will ich ihre beiden Teilbehauptungen getrennt
9 Singer 1994: 82ff. 10 Singer 1994: 14.
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diskutieren: Ich werde zuerst versuchen nachzuweisen, dass die Junktimtheorie nicht aufrechtzuerhalten ist und dass die angemessene Rekonstruktion des Begriffes der moralischen Personalität die eines Titelwortes ist, das einen gemeinschaftlich konstituierten Redebereich von individuellen Rechten und Pflichten an und gegenüber der Gemeinschaft benennt. Im zweiten Schritt werde ich dafür argumentieren, dass auch der Begriff der metaphysischen Person als Titelwort rekonstruiert werden sollte. Die einzige "materiale" Frage ist die nach den Fähigkeiten, die Individuen mitbringen müssen, um an einer Gemeinschaft teilnehmen zu können, in welcher durch die Fähigkeit der Teilnahme moralische und metaphysische Personen "konstituiert" werden. Die These vom Junktim zwischen der metaphysischen und der moralischen Personalität bzw. die Behauptung, dass es vernünftig wäre, dieses Junktim aufzustellen, kann allein schon deswegen nicht aufrechterhalten werden, weil weder logische noch empirische Gründe dafür sprechen und die Begründungslage für die Junktimtheorie daher nicht besser ist als für die Heiligkeitstheorie. Dass keine logischen Gründe bestehen, zeigt sich schon am Umstand, dass in unserer Alltagswelt das Verhältnis zwischen beiden Aspekten der Personalität gesetzlich fixiert wird, z. B. in einem Grundgesetz bzw. einer Verfassung oder einer UN-Charta der Menschenrechte und in Gesetzen, die festlegen, ob und welche Aspekte der metaphysischen Personalität als Voraussetzung für die Zusprechung bzw. Wahrnehmung moralisch personaler Rechte und Pflichten benötigt werden. Die Verfechter der Junktimtheorie behaupten jedoch, dass zwar keine logische, dafür aber dafür eine "a priori synthetische" Notwendigkeit für das Junktim besteht. Es erscheine nämlich nicht vernünftig, etwas anderes anzunehmen. Das Argument ist jedoch zirkulär, da hier der Appell an die "Vernunft" mit dem Appell an die Anerkennung der Junktimtheorie zusammenfällt. Ferner ist gegen das Argument einzuwenden, dass es durchaus alltagsweltliche Fälle gibt, in denen dieses Junktim nicht besteht und dessen Nichtbestehen als vernünftig angesehen wird. Ein Beispiel dafür ist das Erb- und Schenkungsrecht Es gilt als individuelles Grundreche 1 und ist deshalb im Bereich der moralischen Personalität anzusiedeln. Dennoch ist es an keine Manifestationsform metaphysischer Personalität gebunden, nicht einmal potentiell. Der Erbe braucht sich seiner Erbschaft nicht bewusst zu sein, geschweige denn damit umgehen zu können. Es muss auch nicht sichergestellt sein, dass er in die Lage versetzt wird, dies zu tun. Geistig Behinderte dürfen genauso erben wie geistig Gesunde - sogar Tiere können erben. Ab dem Moment, in dem ein Mensch das Licht der Welt erblickt, darf er das II Verankert z. B. im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 14.
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Recht auf Erbschaft wahrnehmen, unabhängig davon, ob er jemals zur metaphysischen Persönlichkeit heranwachsen wird. Ein weiterer Fall, der das a priori des Junktims widerlegt, ist die Todesstrafe: Hier wird einem Individuum der Lebensschutz aberkannt, ein zentrales Moment der moralischen Personalität, gerade weil es unter dem Aspekt der metaphysischen Personalität handelnd eine schwere Straftat verübt hat. Man könnte zwar argumentieren, dass ein Individuum durch das Begehen einer derart abscheulichen Tat, die mit dieser Strafe belegt wird, im Prinzip seine metaphysische Personalität wenn nicht vollständig verwirkt, so doch signifikant eingeschränkt hat, so dass eine Aufhebung seiner moralischen Personalität vernünftig erscheint. Dagegen spricht jedoch, dass zum Schuldspruch gerade der Nachweis des Bestehens der metaphysischen Personalität zur Zeit der Straftat notwendig ist. Der Angeklagte muss zum Zeitpunkt der Tat zurechnungsfähig, d. h. metaphysische Persönlichkeit gewesen sein. Somit widerspricht der Fall der Todesstrafe der Junktimtheorie. Wenn die Junktimtheoretiker dagegenhalten, die Todesstrafe sei unvernünftig und gehöre abgeschafft, weil Personen unabhängig von der ethischen Qualität ihrer Taten schutzwürdig seien und weil sie als metaphysische Personen die Falschheit ihrer Tat erkennen und bereuen können, so kann man sich dem anschließen, aber nur in dem Sinne, dass entsprechende Gesetze anerkennungswürdig sind. Eine "apriorische" Gültigkeit des Junktims besteht nicht, zumal eine Welt mit Fallbeilen, Henkersmahlzeiten und Giftspritzen nicht nur denkbar und in der Geschichte normal gewesen ist, soudem leider immer noch Realität ist und von vielen sogar für vernünftig und notwendig gehalten wird. Weitere Argumente gegen die Notwendigkeit des Junktims sind die von Ralf Stoecker12 diskutierten Fälle der juristischen (Stoecker nennt sie korporative) und der so genannten "fragmentalen" Personen. Korporative Personen (Institutionen, Behörden, Vereine, Staaten) weisen laut Stoecker wichtige Merkmale metaphysischer Personen auf. Sie agieren selbständig, können Zwecke verfolgen und Absichten äußern. Sie können sich gegen ihre Auflösung wehren, d. h. man kann ihnen ein Selbsterhaltungsstreben zusprechen. Der Umstand, dass Korporationen keine körperliche Individualität besitzen, sondern erst durch die gemeinschaftliche Tätigkeit von Individuen zustande kommen, ist für Stoecker kein Grund, sie nicht als metaphysische Personen zu betrachten, denn metaphysische Personalität ist als Resultat von Systemleistungen definiert und mit keiner besonderen Form der Konstitution als individuelles Lebewesen verbunden. Eine gegenläufige Forderung käme dem Speziezismus 12 Stoecker 1997: 245-271.
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nahe. Dennoch ist das Auslöschen einer korporativen Person kein Gegenstand ethischer Überlegungen, wenigstens insofern sie ihre moralische Persönlichkeit betreffen. Korporationen genießen keinen unbedingten Existenzschutz. Man könnte mit Stoecker argumentieren, dies sei deshalb so, weil korporative Personen sich in einem wichtigen Punkt von individuellen metaphysischen Personen unterscheiden würden, nämlich in der je eigentümlichen Bewertung ihres Daseins. Korporative Personen haben nicht das "Gefühl", dass es für sie "irgendwie ist", so zu sein, wie sie sind. 13 Dieses Argument trifft jedoch nicht auf die nächste Kategorie metaphysischer Personen zu, die keine Schutzrechte genießen, die fragmentalen Personen.14 Darunter versteht Stoecker Entitäten bzw. Redegegenstände, die in unserem Reden über Phänomene seltener psychischer Erkrankungen auftreten, den so genannten multiplen Persönlichkeitsstörungen. Dieser Krankheitstyp lässt sich so beschreiben, dass für einen Beobachter der Eindruck entsteht, in einem Körper "wohnten" mehrere voneinander mehr oder weniger klar unterscheidbare " Personen", die abwechselnd die Kontrolle über das Individuum übemehmen. Die Beziehungen dieser "Persönlichkeiten" untereinander sich und zur Umwelt sind vielfaltig, manche von ihnen sind sich der Situation bewusst, manche von ihnen sind nur "rudimentär" vorhanden, manche geben sich selbst Namen, andere akzeptieren die "Taufe" durch den betreuenden Psychiater usw. Das psychopathologische Bild ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Konununikation nur mit einzelnen dieser Persönlichkeiten möglich erscheint, die kommunikative Einstellung gegenüber der "Gesamtperson" hingegen radikal scheitert. D. h., die "Gesamtperson" erfüllt nicht die sozialen Erwartungen und Kompetenzen, welche nötig sind, um als Person im nichtfragmentalen Sinne zu gelten. Ziel der Therapie ist es, alle bis auf eine dieser "Persönlichkeiten" zu eliminieren, so dass am Ende eine "ursprüngliche" oder wenigstens "einheitliche" Person übrig bleibt. Manchmal sieht die Therapie so aus, dass die "verschiedenen" Persönlichkeiten zu einer "verschmelzen". Wie auch immer, die den Körper bewohnenden "metaphysischen Personen" genießen bis auf eine - nämlich die, die nach Ansicht des Therapeuten "gerettet" gehört- nicht den Status moralischer Persönlichkeiten, was zunächst im
13 Dieses "Trgendwie-so-Sein" bezieht sich auf den Aufsatz von Thomas Nagel (Nagel1979), What is it like tobe a bat? 14 Stoecker 1997: 265ff. Inzwischen soll es sich herausgestellt haben, dass die gesamte Symptomatik der fragmentalen Personalität ein "Artefakt" der Psychiatrie ist. Unbeschadet der Faktenlage ist die Falldiskussion als Gedankenexperiment trotzdem von philosophischem Interesse, weil sie zeigt, wie man mit dem Problem umgehen würde. 29
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wörtlichen Sinne im Widerspruch zu den Grundannahme der Junktimtheorie steht. Wie weit ein derartiges Argument reicht, soll hier nicht beurteilt werden. Ein "positives" Argument gegen die Junktimtheorie lässt sich schließlich aus dem Umstand ableiten, dass es zu unseren moralischen Pflichten gehört, für die Aufrechterhaltung unserer metaphysischen Personalität zu sorgen. Das bewusste Sichversetzen in einen Rauschzustand liefert keine Entschuldigung für eine in diesem Zustand verübte Straftat, auch wenn die "zufällige" Tatsache, dass man sich während einer Tat im Rausch befand, als mildernder Umstand gelten kann. Wenn jemand sich absichtlich in Rausch versetzt hat, um seine Hemmungen abzubauen und eine Straftat zu begehen, dann ist dies Teil eines Gesamtstraftatbestandes.15 Die aktive Zerstörung der eigenen metaphysischen Personalität, d. h. der eigenen Urteilsfähigkeit, etwa durch Drogenkonsum, gilt ebenfalls als moralisch verwerflich, besonders dann, wenn man eine Verantwortung ftir Familie oder Gesellschaft trägt. Ein Anhänger der Junktimtheorie kann solche Fälle nur im Sinne desVorliegenseines pathologischen Falles deuten, aber nicht als Ausdruck der Freiheit des Individuums. Die moralische Verurteilung des Individuums resultiert jedoch nicht aus einem "Defekt" in seiner metaphysischen Personalität, sondern aus seiner Bedeutung f!lr die Gemeinschaft und aus dem Umstand, dass es die ihm gewährte Freiheit missbraucht.
Die Konstitution von Person und Personalität im Rahmen gemeinschaftlicher Hand Iu ngszusammenhänge Einen wichtigen Hinweis dafür, dass eine Rekonstruktion des Begriffs "Person" als Titelwort weiterhelfen kann, liefert der Umstand, dass das Wort über eine Kulturgeschichte verfügt, in deren Verlauf im Zusammenhang eines politischen Prozesses allmählich der Begriff herausgebildet wurde. Etymologisch geht der Ausdruck "Person" auf das lateinische Wort "persona" zurück, das die Maske eines Schauspielers bzw. seine Rolle bezeichnete. Im römischen Rechtssystem bezeichnete "Persona" auch die Stellung eines Individuums in der Gemeinschaft der freien Bürger mit den ihm zustehenden Rechten und Pflichten. 16 Historisch 15 Schon Aristoteles berichtet in der Nikomachischen Ethik (Aristoteles NE:
1113b 30), dass Trunkenheit bei Straftaten nicht als mildernder, sondern als verschärfender Umstand angesehen wurde. 16 Fuhrmann 1979. 30
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gesehen tritt somit der Begriff der Person als moralische Person zur Benennung eines innerhalb einer Gemeinschaft konstituierten Bereiches spezifischer individueller Rechte und Pflichten in Erscheinung. Die "Wesensgleichheit" der Relationen, die den Redebereich der moralischen Personalität ausmachen, besteht darin, dass sie Resultate eines Reflexionsprozesses über Vorgänge in der Gemeinschaft sind. Die Benennung von Rechten und Pflichten wird dann notwendig, wenn das Agieren des Individuums in der Gemeinschaft mit dem der anderen nicht harmoniert und dadurch gemeinschaftliches Handeln scheitert, oder wenn ein Novize, der mit den herrschenden Gepflogenheiten nicht vertraut ist, in die Gemeinschaft eingeftihrt wird. Es ist hier vielleicht angebracht, kurz auf den Unterschied zwischen individuellem und gemeinschaftlichem Handeln einzugehen. Gemeinschaftliche Handlungen sind dadurch gekennzeichnet, dass ihre Beschreibung von der Beschreibung der Handlungen der daran teilnehmenden Individuen unabhängig ist. Eine gemeinschaftliche Handlung lässt sich nicht als Superpositionsergebnis individueller Handlungen definieren, sondern sie muss selbständig, demonstrativ oder imperativ eingeführt werden. Ein Geschehen, an dem mehrere Individuen beteiligt sind, kann unabhängig von der konkreten Identifikation der individuellen Handlungen als die falsche gemeinschaftliche Handlung interpretiert werden. Ein aus dem Leben herausgegriffenes Beispiel: Ein Gruppe Schweizerdeutscher in Trachten entsteigt einem Zug in Genf (französische Schweiz) lännend und schreiend und entfaltet dabei ein großes Plakat mit einem schwyzerdütschen Spruch. Die Polizei interpretiert die gemeinschaftliche Handlung als unerlaubte Demonstration und verhaftet kurzerhand alle Beteiligten. Es stellt sich jedoch heraus, dass es sich um Hochzeitsgäste gehandelt hatte, die dem Hochzeitspaar auf diese Weise ihre Glückwünsche entbieten wollten. 17 Ebenso wenig lässt sich Erfolg oder Scheitern einer gemeinschaftlichen Handlung am Erfolg oder am Scheitern der individuellen Handlungen bemessen, über die sie aktualisiert wird. Die Teilnehmer an einer gemeinschaftlichen Handlung können ihre individuellen Ziele erreicht haben, und trotzdem ist die gemeinschaftliche Handlung gescheitert oder umgekehrt. Inwiefern das individuelle Handeln zum Erreichen des gemeinschaftlichen Zweckes ausreichend war, ist etwas, das im Nachhinein als Teil der Erklärung des Scheiterns der gemeinschaftlichen Handlung angeführt werden kann. Das Urteil über den gemeinschaftlichen Handlungserfolg selbst bemisst sich am Erreichen oder Verfehlen des gemeinschaftlichen Zweckes. Die gemeinschaftliche Handlung "Wahl 17 Gelesen in einem Spaltenfüller der Frankfurter Rundschau.
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eines Bürgermeisters" kann z. B. scheitern, obwohl alle Wahlberechtigten korrekt gewählt haben, weil kein Kandidat die nötige absolute Mehrheit der Stimmen bekommen hat oder weil ein Stimmenquorum nicht erreicht worden ist. In beiden Fällen ist das Kriterium des Scheitems das Nichterreichen von Teilzielen, die den Erfolg der gemeinschaftlichen Handlung mitkonstituieren. Im ersten Fall hat jedes Individuum seinen Handlungsbeitrag korrekt durchgeführt und somit sein Ziel erreicht- einen Kandidaten auszuwählen. Die Erklärung für das Scheitern liegt dann in der ungünstigen Verteilung der Wünsche der Wahlberechtigten. Im zweiten Fall war die Ursache für das Scheitern der Umstand, dass die Wahlberechtigten ihr Wahlrecht nicht wahrgenommen haben oder dass sie auf Grund von Unkenntnis des Wahlmodus ungültige Stimmen abgegeben haben. Unser Alltagsleben enthält stets Momente individuellen und gemeinschaftlichen Handelns. Gemeinschaftliches Handeln hat in diesem Zusammenhang eine "methodische" Priorität, weil es die Bedingungen für das Vollziehen sowohl gemeinschaftlich orientierter als auch eigennützig orientierter individueller Handlungen schafft. Der Wunsch eine Theateraufführung zu besuchen wäre unformulierbar, geschweige denn verwirklichbar, wenn es die Praxis des Theatermachens nicht gäbe, die das Vollziehen gewisser gemeinschaftlicher Handlungen erfordert. Da, wie wir gesehen haben, gemeinschaftliche Handlungen nicht Superpositions, sondern eher Interferenzresultat individueller Handlungen sind, müssen diese Handlungen auf das gemeinschaftliche Ziel hin organisiert und koordiniert werden. Damit dies gelingt, müssen die teilnehmenden Individuen nicht nur miteinander kommunizieren können, sondern auch wissen, was ihre relative Stellung und ihre Aufgabe im gemeinschaftlichen Handlungsvollzug ist. Dies bedeutet, dass sie im Zweifelsfalle wissen müssen, was sie von den anderen zu erwarten und was sie beizutragen haben. Wird im Falle des Scheitems einer gemeinschaftlichen Handlung der Organisations- und Koordinationsaspekt sprachlich thematisiert, dann können die legitimen Erwartungen und Verpflichtungen der Individuen als Rechte und Pflichten rekonstruiert werden, und es kann untersucht werden, ob jeder entsprechend seiner Rechte behandelt wurde und entsprechend seiner Pflichten gehandelt hat. Ist das Ziel des gemeinschaftlichen Handeins die Aufrechterhaltung des gemeinschaftlichen Lebens selbst, dann bilden die diesbezüglich relevanten Rechte und Pflichten den Bereich der moralischen Personalität aus. Aus dieser Rekonstruktion wird ersichtlich, dass eine Vielfalt von moralischen Personenrechten und -pflichten möglich ist und diese je nach Gemeinschaftsform unterschiedlich bewertet werden können. Die Tatsache, dass in unserer Alltagswelt die Lebensschutzrechte an höchst
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prominenter Stelle stehen, ist selbst Ergebnis eines langen politischen Prozesses, dessen Entwicklung, wie wir wissen, einige Rückschläge erfuhr und im Übrigen nicht abgeschlossen ist. Wie ist es dann aber denkbar, dass ein personales Recht - der individuelle Lebensschutz - als absolut fundamental angesehen wird? Dass inzwischen seine Geltung situationsinvariant durchgesetzt werden soll, wird nicht bestritten. Aber warum soll das so sein? Ich bin der Meinung, dass die Forderung nach Universalisierung mindestens dieses Rechtes mit einem zweiten Merkmal gemeinschaftlichen Handeins zusammenhängt. Gemeinschaftliches Handeln lässt sich in zwei Formen organisieren, die ich als das tayloristische und das Arbeitsgruppenmodell bezeichnen möchte. Im tayloristischen Modell ist die Handlungsweise des Individuums genau bestimmt. Seine gesamte Tätigkeit erschöpft sich in der Erfüllung seiner Pflichten. Seine Rechte betreffen lediglich das, was Gegenstand der Pflichten der anderen ist. Beispiel einer tayloristisch organisierten gemeinschaftlichen Handlung ist eine Fließband-Montagekelte oder ein stark ritualisierter Tanz. In beiden Fällen führen die teilnehmenden Individuen - Arbeiter oder Tänzer - genau vorgeschriebene Handlungen aus, die den Erfolg der gemeinschaftlichen Handlung sicherstellen sollen. In der Montagekette bestehen die "Rechte" der Arbeiter in der Erwartung der Bereitstellung der Vorstufen von den anderen Mitgliedern der Montagekette, ihre "Pflichten" in der Verpflichtung zur korrekten Durchführung ihrer Handlung zum Weiterbau des Werkstücks. Analog müssen die Ritualtänzer ihre individuellen Tanzfiguren in Abstimmung mit ihren Partnern durchführen und dürfen fest damit rechnen, dass diese ihrerseits die dazu passenden Vorgänger- bzw. Nachfolgerfiguren vollführen. 18 Die Teilnehmer einer tayloristischen Kette brauchen keine weitere Vorstellung vom gemeinschaftlichen Zweck zu haben, als dass sie einem solchen verpflichtet sind. Ihr "Wert" für die Gemeinschaft bemisst sich bloß an der Bedeutung der Position, die sie innehaben, und an der Effektivität, mit der sie ihre Teilaufgabe erfüllen. Als Individuen sind sie jederzeit austauschbar durch andere Individuen, die dieselbe Tätigkeit durchführen können. Für eine überwiegend nach dem tayloristischen Modell organisierte Lebensgemeinschaft, z. B. das altägyptische Reich, haben demnach individuelle Schutzrechte einen ge18 Sehr schöne - auch im ästhetischen Sinne - Beispiele tayloristisch organisierter, nichtpoietischer (nicht materielle Güter herstellender) gemeinschaftlicher Handlungen sind Aufführungen der Peking-Oper. Sie sind übrigens ein Beispiel dafür, dass tayloristische Handlungsketten durchaus nicht "einfach" bzw. "primitiv" sein müssen. Die Akteure einer PekingOper beherrschen ihre Rollen dermaßen gut, dass sie beim Zuschauer den Eindruck der Spontaneität zu erwecken vermögen, obwohl ihre Handlungen streng aufeinander abgestimmt sind.
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ringen Wert. Sie dienen lediglich der Sicherung der Gemeinschaft vor Eigenmächtigkeiten der übrigen Mitglieder und müssen von einer organisierenden Autorität gewährt und gewährleistet werden. Im Arbeitsgruppenmodell wird die gemeinschaftliche Aufgabe in Teilaufträge unterteilt, die von kleineren Gruppen bearbeitet werden. Diese können die Arbeit unter sich selbständig weiter aufteilen, so dass am Ende jedes Individuum einen Auftrag erhält oder sich selbst stellt, den es im eigenverantwortlichen Handeln erfüllt. Im Gegensatz zum tayloristischen Modell ist im Arbeitsgruppenmodell die Handlungsweise des Individuums nicht genau festgelegt. Was für das Gelingen der gemeinschaftlichen Handlung maßgeblich ist, ist nicht die korrekte und unbedingte Durchführung einer individuellen Handlung, sondern ihr Resultat, der Beitrag des Individuums zum gemeinschaftlichen Handeln. 19 Die Pflichten des Individuums beziehen sich hier auf seine Verpflichtungen, seinen Beitrag vereinbarungsgemäß, zur rechten Zeit und im abgemachten Umfang zu leisten.Z0 Seine Rechte leiten sich von seiner legitimen Erwartung ab, dass ihm die Möglichkeit gegeben wird, seinen Beitrag nach eigenem Ermessen und in eigener Verantwortung zu leisten. Das Individuum kann hier für sich beanspruchen, dass di e Gemeinschaft ihm einen besonderen Schutz gewährt, damit es die Möglichkeit hat, seinen Beitrag ungestört zu leisten, da es in dieser Hinsicht, nämlich in seiner Entscheidungsfreiheit zur Realisierung seiner Pflicht einzigartig ist. Auf das gemeinschaftliche Ziel der Sicherstellung bzw. Realisierung gemeinschaftlichen Lebens bezogen, kann dieses Recht (und andere Individualrechte, wie z. B. das Erbrecht) soweit universalisiert werden, dass es als höchstes moralisches Personalitätsrecht betrachtet werden kann. Das Einräumen der Möglichkeit eigenverantwortlichen Handeins erfordert von den Individuen, dass sie ihre individuellen Zwecke in Bezug 19 Wie im Falle der tayloristisch organisierten gemeinschaftlichen Handlungen sind arbeitsgruppenmäßig organisierte Handlungen nicht auf die Herstellung von Gütern beschränkt, sondern können im Rahmen beliebiger Praxiszusammenhänge auftreten. Die Aufführung eines Theaterstückes oder das Drehen eines Films sind Beispiele dieses Handlungstyps ebenso wie eine Wahl oder die Teilnahme an einem Wettbewerb. 20 Haben sich im Rahmen arbeitsgruppenmäßig organisierter Praxiszusammenhänge metaphysische und moralische Personen "herausgebildet", dann können sie in einem methodisch späteren Schritt sich als "freie Subjekte" betätigen und sich selbst "autonom" Ziele setzen und verfolgen (z. B. als freie Unternehmer u.Ä.). In diesem Falle ist es nicht ausgeschlossen, dass sie die kumulierten Nebenfolgen ihres autonomen Handeins als Widerfahrnisse (Marktlage, ökologische Katastrophen) erleben und gezwungen sind, auf sie zu "reagieren", so dass der Eindruck entsteht, das Gesamtgeschehen werde von einer "unsichtbaren Hand" gelenkt.
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auf den gemeinschaftlichen Zweck auswählen, so dass das Resultat ihres Handeins als Beitrag zum gemeinschaftlichen Handeln zählt. Sie müssen in der Lage sein, nicht nur die gemeinsamen Zwecke nachzuvollziehen, sie müssen sie sich auch aneignen und in der Lage sein, das eigene Handeln am gemeinschaftlichen Maßstab zu beurteilen. Alle diese Tätigkeiten sind diskursive Tätigkeiten, d. h. sie finden im Rahmen besonderer gemeinschaftlicher Veranstaltungen statt, wo über das gemeinschaftliche Handeln beraten und der individuelle Beitrag bewertet wird. Damit der Diskurs gelingt, müssen die Individuen ihrerseits in einer Art "innerer Beratung"21 eine Bewertung des eigenen Handeins vorgenommen haben oder zumindest in der Lage sein, die gemeinschaftliche Bewertung ihres Beitrags im Nachhinein nachvollziehen und akzeptieren zu können. Somit konstituiert sich innerhalb einer arbeitsgruppenmäßig organisierten Gemeinschaft der gemeinschaftliche Redebereich der metaphysischen Personalität. Die "Wesensgleichheit" metaphysischer Personalitätseigenschaften besteht darin, dass sie Ergebnisse der Reflexion über die Angemessenheit des eigenen Beitrages zum gemeinschaftlichen Projekt sind. Dazu gehört u.a. auch die Reflexion über die Zwecksetzungen und ihre Angemessenheit. Fassen wir zusammen: Unsere Analyse hat gezeigt, dass beide Modi der Personalität, die moralische und die metaphysische Personalität, sich als im Rahmen gemeinschaftlicher Handlungen konstituierte Redebereiche rekonstruieren lassen, einerseits über den Wert bzw. die Relevanz eines Individuums für das Gelingen gemeinschaftlichen Handeins und andererseits über die Bewertung des individuellen Beitrags zum Erreichen des gemeinschaftlichen Zieles in arbeitsgruppenmäßig organisierten Gemeinschaften. Da reale Gemeinschaften immer eine Mischform mit variablen Anteilen aus beiden Organisationstypen darstellen, ist die "Ausprägung" beider Bereiche für jede Gemeinschaft unterschiedlich. Der hohe Stellenwert, den gewisse Teilaspekte der moralischen und der metaphysischen Personalität in unserer Alltagswelt innehaben, resultiert aus ihrer besonderen sozialen Organisationsform als Interferenzprodukt von Gemeinschaften, als Gesellschaft. Gesellschaftliche Ziele werden ausschließlich über die Beitragsleistungen von Gemeinschaften und Individuen erreicht. Auch wenn manche der in einer Gesellschaft durchgeführten gemeinschaftlichen Handlungen nach dem tayloristischen Prinzip organisiert sind, ist für die gesellschaftliche Relevanz eines Individuums aufgrund der Tatsache, dass es an mehreren miteinander nicht verketteten gemeinschaftlichen Handlungszusammenhängen teilnimmt, nur sein Beitrag, sein "Lebenswerk", maßgeblich. Deshalb kommt indi21 V gl. dazu auch Stekeler-Weithafer 1996.
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viduellen Gesellschaftsmitgliedern ausschließlich der Status von moralischen und metaphysischen Personen zu, und zwar a priori. D. h., dem Individuum werden seine Rechte schon im Augenblick seines Eintritts in die Gesellschaft zugesprochen und nicht erst, nachdem es sich durch das Bestehen von "Initiationsriten" als dazu würdig erwiesen hat. Entsprechend haben in Gesellschaften eingebettete Gemeinschaften den Status von korporativen Personen- auch wenn sie nur informell existieren. Es bleibt nun nur noch die "materiale" Frage nach den Fähigkeiten zu beantworten, die Individuen mitbringen müssen, um an arbeitsgruppenmäßig (wir können jetzt sagen: gesellschaftlich) organisierten gemeinschaftlichen Handlungen und Verantwortlichkeitsdiskursen teilnehmen zu können. Einen Vorschlag C.F. Gethmanns22 aufgreifend, möchte ich die Fähigkeiten derartiger Individuen als praktische Subjektivität bezeichnen. Solche Fähigkeiten sind: •
Operative Fähigkeiten: Die Individuen müssen wenigstens prinzipiell in der Lage sein, Handlungen nach Aspekten von Zweck und Mittel zu organisieren und Zwecke zu hierarchisieren. Diese Fähigkeit ist wichtig, damit sie überhaupt an gemeinschaftlichen Handlungen teilnehmen können. • Diskursive Fähigkeiten: Die Individuen müssen in der Lage sein, Redeschemata und Redestrategien zu aktualisieren und an Diskursen teilzunehmen, in denen die Kooperation thematisiert wird. • Soziale Fähigkeiten: Die Individuen müssen in der Lage sein, zwischen Individuum und Funktion in gemeinschaftlichen Handlungsund Diskurszusammenhängen zu differenzieren. Das Fehlen dieser Fähigkeiten bedeutet allerdings nicht, dass die entsprechenden Individuen automatisch aus dem Kreis der moralischen Personen ausgeschlossen werden dürfen. Da moralische Personalität gemeinschaftlich konstituiert wird, kann der Schutz der Gemeinschaft und später der Gesellschaft auch auf diejenigen Mitglieder ausgedehnt werden, die diesen nicht aus eigenem Antrieb einfordern können. In welchem Ausmaß dies geschehen soll, obliegt der alleinigen Verantwortung der im oben genannten Sinne kompetenten Diskursteilnehmer. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist so stabil, dass sie auch denjenigen einen eigenen Bereich gewährt, deren Leben außerhalb der normalen oder üblichen Kategorien abläuft. Dass dies bei uns so ist, besagt allerdings nichts darüber, wie es in anderen vielleicht irrstabileren Gesellschaften sein soll. Jeder Einzelfall muss eigens bewertet werden, wobei eine Viel22 Gethmann 1993.
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MERKMAL, LEISTUNG ODER ANERKENNUNG?
falt verschiedenartiger Überlegungen und Kriterien gegeneinander abgewogen werden muss. Zweck philosophisch-ethischer Überlegungen ist es in diesem Zusammenhang, Aufklärung über die Problemlage zu geben und nicht, durch die Bereitstellung allgemeiner Prinzipien die Handelnden von ihrer Verantwortlichkeit zu entbinden.
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Rotpeters Verwandlung
Rotpeters Bericht In seiner Kurzgeschichte Ein Bericht an eine Akademie, die 1917 im Oktoberheft der Zeitschrift Der Jude, herausgegeben von Martin Buber, erschienen ist, erzählt Franz Kafka folgenden Vorfall: Am Anfang des 20. Jahrhunderts, die gerraueren Umstände sind unbekannt, forderte eine nicht näher bezeichnete wissenschaftliche Akademie ein Individuum namens Rotpeter auf, einen Bericht einzureichen, der über das "Vorleben" des Berichterstatters Auskunft geben sollte. Dieses Vorleben war insofern einzigartig, als es sich dabei um ein nichtmenschliches Vorleben handelte. "Nichtmenschlich" bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass der Verfasser ein im moralischen Sinne inhumanes Leben geführt hatte und jetzt über seine "Rückkehr" in das bürgerliche Leben berichten sollte. Es bedeutet, dass Rotpeter bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ein tierisches Leben geführt hatte, weil er im biologischen Sinne eine Affe war - vermutlich ein Schimpanse. Der zum Menschen gewordene Affe, der es irgendwie geschafft hatte, den Graben zwischen seinem tierischen und dem menschlichen Leben zu überwinden und Mitglied der Gesellschaft zu werden, sollte nun der Akademie über sein vorbzw. außermenschliches Vorleben berichten. Diese Frage, nämlich "Wie ist es, ein Affe zu sein?" beantwortet Rotpeter in seinem Bericht nicht. Als Grund dafür gibt er an, dass die Erinnerung an sein Affenleben im Laufe seiner Vervollkommnung als Mitglied der menschlichen Gesellschaft zusehends verblasst sei. Dieses Verblassen sei übrigens nicht nur auf die zeitliche Distanz zurückzuführen, nein, es habe auch etwas mit seinem Verzicht auf seinen "äffischen Eigensinn" zu tun, mit seiner Bereitschaft, sich dem Neuen zu öffnen.
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FACETTEN DES MENSCHLICHEN
Zwischen Tier- und Menschendasein bestehe ein derart scharfer Unterschied, dass das Überschreiten der Grenze unumkehrbar sei: "War mir zuerst die Rückkehr, wenn die Menschen gewollt hätten, freigestellt durch das ganze Tor, das der Himmel über der Erde bildet, wurde es gleichzeitig mit meiner vorwärtsgepeitschten Entwicklung immer niedriger und enger; wohlerund eingeschlossener fühlte ich mich in der Menschenwelt [...] [D]as Loch in der Feme,[ ... ] durch das ich einstmals kam, ist so klein geworden, daß ich, wenn überhaupt die Kräfte und der Wille hinreichen würden, um bis dorthin zurückzukommen, das Fell vom Leib mir schinden müßte, um durchzukommen."
Trotz der Tatsache, dass die ursprüngliche Frage nicht beantwortet wurde, ist Rotpeters Bericht von unschätzbarem Wert. Denn anstatt uns zu sagen, wie es ist, ein Affe zu sein, erzählt er uns die Geschichte seiner Menschwerdung. Er berichtet von seinen ersten Eindrücken in der Gefangenschaft, von seiner tierischen Verzweiflung angesichts der Enge des Käfigs und der dumpfen Erkenntnis, dass der Weg in die Freiheit im Gmnde der Weg in eine andere Lebensform war. Er berichtet von den ersten Schritten auf diesem Weg und von der Hilfe, die ihm dabei zuteil wurde - und vom großen Augenblick seines Eintritts oder besser seiner Aufnahme in die Menschengemeinschaft Rotpeters Bericht ist eine Antwort auf die Frage "Was ist der Mensch?". Man könnte mit Kant einwenden, diese Frage lasse sich nicht direkt und erst recht nicht mit einem "Bericht" beantworten. Um zu erfahren, was der Mensch sei, müsse man zuerst die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, nach dem moralisch Guten und nach dem Wesen des Glaubens klären. Dies ist nur teilweise richtig. Die Vorgehensweise des Philosophen richtet sich gegen diejenigen, die den "Menschen" als Naturobjekt, als Lebewesentypus bestimmen wollen, ausgestattet mit einer Palette von Eigenschaften, die seine physischen und geistigen Kompetenzen bestimmen - wir werden sehen, Rotpeters Bericht räumt auch mit dieser naturalistischen Bestimmung des Menschen auf. Der Philosoph formuliert aber seine Fragen nicht für sich selbst, sondern will damit sein "Aufgabenfeld" bestimmen, eine Form von Praxis umreißen, an der auch andere teilnehmen können und sollen, und die auch kein Selbstzweck ist. 1 Seine Ausfiihmngen richten sich an Gesprächspmtner, an "uns", die ihm zuhören und seine Ideen mit ihm "Der Philosoph muß also bestimmen können 1. die Quellen menschlichen Wissens, 2. den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauches allen Wissens, und endlich 3. die Grenzen der Vernunft." (Kant Logik, Einleitung: TTT).
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ROTPETERS VERWANDLUNG
diskutieren sollen und wollen. Wer sind "wir" aber, die "compari" des Philosophen? Wir sind seine Mitmenschen, es geht ihm um "menschliches Wissen" . Bevor wir über Bedingungen der Erkenntnis, Sollenssätze und Glaubenserwartungen sprechen, müssen wir nun herausfinden, was wir "sind", wer zu "uns" gehört und wer nicht. Die Frage nach dem Menschen ist die Frage nach der Konstitution des Handlungs- und des Erkenntnissubjekts. Und sie ist der Frage nach der guten Handlung und der möglichen Erkenntnis methodisch vorgeordnet. Indem wir die Frage nach dem Menschen beantworten, beantworten wir auch die Fragen nach dem moralisch Guten, nach den Bedingungen der Erkenntnis und nach dem Inhalt unserer Hoffnungen. Auch wenn man dies zugesteht - so ein weiterer Einwand - könne Rotpeters Bericht nichts Neues enthalten, höchstens ein paar neue Beobachtungen aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel. Denn die Frage nach dem Wesen des Menschen habe die philosophierende Menschheit schon seit der Antike bewegt. Doch das, was Rotpeters Bericht in dieser Hinsicht einmalig macht, ist der Umstand, dass er nicht aus der Perspektive eines Beobachters, sondern eines Betroffenen geschrieben worden ist. Er ist eine "Biographie", die den Augenblick des Anfangs festgehalten hat. Warum das so ist, d. h. wieso Rotpeter etwas gelungen ist, das einem "normalen" Menschen verwehrt bleibt, ist eine offene Frage, die allerdings den Wert seines Berichts flir die Beantwortung der Frage nach dem Menschen in keiner Weise beeinträchtigt.
Aristotelische Definitionen Bereits die Tatsache, dass in dieser Erzählung der Berichterstatter kein Vertreter der biologischen Spezies Homo sapiens ist, erschüttert die Vorstellung, das Wort ,Mensch' benenne eine bestimmte Lebewesenspezies, die sich durch einen Satz von spezifischen Eigenschaften auszeichne, die keiner anderen Lebewesenspezies zukommen würden, nämlich Eigenschaften wie "vernünftig", "rational", "politiktreibend", "Mängel in der organismischen Ausstattung aufweisend"2 oder "Bedürf-
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Gehlen 1940: 22: "Morphologisch gesehen ist nämlich der Mensch im Gegensatz zu allen höheren Säugern, hauptsächlich durch M ä n g e I bestimmt, die jeweils im exakt biologischen Sinne als Unangepaßtheiten, Unspezialisiertheiten, als Primitivismen, d. h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: also wesentlich negativ" (Sperrung im Original).
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nisse habend"3 . Derartige Bestimmungen des Menschen, seit der Antike bekannt, sind nach dem in der aristotelischen logischen Tradition vorgegebenem Definitionsmuster "species = genus proximum + differentia specifica" aufgebaut. Sie sollen deshalb im Folgenden aristotelische Definitionen heißen. Abgesehen davon, dass ihre Gültigkeit bzw. Angemessenheit durch Gegenbeispiele, wie die schiere Existenz von Rotpeter in Frage gestellt wird, sind aristotelische Definitionen des Menschen als besonderes Lebewesen in einer tieferen Weise problematisch. Damit sie nämlich ihren Zweck erfüllen, müssen genus proximum und differentia specifica bzw. deren Bestimmungsstücke aus demselben Gegenstandsbereich stammen, im uns interessierenden Fall aus dem Bereich der zoologischen Gegenstände. Eine zoologische Definition nach aristotelischem Muster, bei der diese Regel nicht eingehalten wird, verfehlt ihren Zweck, auch wenn sie einen Sinn haben kann: Die Definition von Katzen als "nützliche, gemütliche, zärtliche wenn auch manchmal anstrengende und pflegeintensive" gibt z. B. völlig die Vorstellungen der Katzenfreunde wieder und ist in diesem Zusammenhang eine vollkommen verständliche und vemünftige Defmition. Sie verfehlt jedoch die Zielsetzung der Biologie, die ja die "natürlichen" Eigenschaften und Verwandtschaftsverhältnisse der Lebewesen beschreiben möchte unabhängig davon, welchen Wert sie für den Haushalt und das seelische Gleichgewicht der Menschen haben. Wollte man also den Menschen als "animal rationale", "animal politicum" usw. definieren, müssten beide Ausdrücke, "animal" und "politicum" sowie "animal" und "rationale", Bestandteile einer biologischen Sprache oder wenigstens Ausdrücke der Sprache einer Zuchtpraxis sein. Das ist aber bei keinem der genannten speziesbildenden Charakteristika des Menschen der Fall. Weder "Politik", noch "Ratio", "Mangel" oder "Bedürfnis" sind biologische Ausdrücke. Darüber hinaus sind sie nicht einmal rein deskriptive, auf einen bloß "äußeren" Gegenstand anwendbare Ausdrücke. Um sie zu verstehen, muss man selbst vemünftig sein, an einer Gemeinschaft teilnehmen, Politik betreiben und in der Lage sein, Mängel an sich und an anderen wahrzunehmen und Bedürfnisse zu formulieren. Das Verständnis der Eigenschaften, die das "Menschsein" bestimmen, erfordert vom Verwender einer solchen Definition das Einnehmen einer Teilnehmerperspektive, das Partizipieren an einer Lebensform und das Verwenden einer Sprache, in der diese Wörter einen Sinn haben. Und wenn man verstanden hat, was rational- und politisch-Sein
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Kamlah 1973. Diese Lesart wird allerdings an manchen Stellen relativiert, wo Kamlah "Bedürfnis" als Resultat gemeinschaftlichen Beratens bestimmt.
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heißt, dann weiß man auch, dass das "animal" in der Definition des Menschen überflüssig ist. Man könnte natürlich versuchen, Eigenschaften wie "politisch" und "vernunftbegabt" in den Bereich der Biologie anzusiedeln. Dies würde bedeuten, dass ohne jede Erziehung aufgewachsene Menschen - etwa ausgesetzte Kinder oder Fälle wie Romulus und Remus - naturwüchsig Sprache, soziales Verhalten, Sitten und Vernunft entwickeln würden, wenn auch in sehr primitiven Formen. Um dies allerdings festzustellen, müssten wir - die "Normalsozialisierten" - mit diesen "Wolfskindern" kommunizieren, was wiederum bedeutet, dass wir ihnen unsere Sprache beibringen und sie an unserer Lebensweise teilnehmen lassen müssten und dass sie unsere Sprache und Lebensweise als solche anerkennen würden. So hätten wir aber bereits die deskriptive biologische Perspektive verlassen. Diese "Annäherungs-" und " Integrationsversuche" könnten allerdings auch scheitern, dann aber gehörten die in Frage kommenden Eigenschaften nicht zur natürlich-biologischen Ausstattung der Spezies Homo sapiens. Man könnte auch versuchen, die aristotelische Menschendefinition dadurch zu retten, dass man Genus und Spezies nicht im Bereich der Biologie, sondern im Bereich einer allgemeinen Taxonomie der "Seienden" ansiedelt. Mensch wäre demnach das politische, vernünftige usw. "Wesen". Allerdings bleiben auch bei diesem Manöver die Probleme bestehen: Denn entweder ist der Bereich der "Wesen" ein vollständig beschreibbarer und klassifizierbarer Bereich, also so etwas wie ein "Übergenus" zum Genus der Lebewesen,4 oder "Wesen" ist ein Ausdruck, der für alle möglichen Gegenstände steht. Im ersten Fall wiederholt sich die 4
Es ist somit unerheblich, ob das aristotelische ,t;Cf!ov' mit ,Sinnenwesen' oder ,Lebewesen' o. Ä. übersetzt wird. Ähnlich argumentiert auch Heidegger SuZ §10: "[ ... ] Die Definition des Menschen: I;.:;Jov A6yov f.xov in der Interpretation: animal rationale, vernünftiges Lebewesen. Die Seinsart des l;wov wird aber hier verstanden im Sinne des Vorhandenseins und Vorkommens. Der A.Oyo~ ist eine höhere Ausstattung, deren Seinsart ebenso dunkel bleibt wie die des so zusammengesetzten Seienden [...] Dasselbe gilt nicht minder von der »Psychologie