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German Pages 242 Year 2010
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Der vorliegende Band wurde erarbeitet auf Grundlage des gleichnamigen Interdisziplinären Colloquiums des Lindenthal-Institus in Köln am 13. Juni, 19. September und 21. November 2009. Die Durchführung der Veranstaltung wurde durch private Förderer ermöglicht. Ihnen allen wissen sich das Lindenthal-Institut und die Herausgeber dankbar verpflichtet.
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Inhalt Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Johannes Hattler Menschenwürde und Menschennatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Christoph Böhr Das Recht schützt uns! Wer aber schützt das Recht? Zum Begriff der Würde: Letztbegründung als Selbstbezeugung . . . 39
Berthold Wald Naturalismus und Naturrechtskritik. In welchem Sinn ist das Naturgemäße Kriterium der Gerechtigkeit? . . . . . . . . . . 63 Manfred Spieker Folgerungen aus der Natur des Menschen für die Weitergabe des Lebens und die Demokratie Zur Instruktion Dignitas Personae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Aussprache Leitung: Dr. Johannes Hattler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Martin Rhonheimer Unverzichtbarkeit und Ungenügen des Naturrechts Über Politische Philosophie in der Tradition des Naturrechts . . . . . 103
Tilman Repgen Unfreiheit ist wider die Menschenwürde – eine rechtshistorische Miniatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Stefan Mückl Vor- und außerpositive Grundlagen des Verfassungsstaates . . 155
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Inhalt
Aussprache Leitung: Dr. Hans Thomas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Josef Isensee Der Grund des Naturrechts: das Bedürfnis nach materialer Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Aussprache Leitung: Dr. Johannes Hattler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Biographische Notizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Das Lindenthal-Institut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Zur Einführung Das Naturrechtsdenken hat eine lange Tradition. Der Streit um das Naturrecht ist in etwa genauso alt. Bereits in der Diskussion zwischen dem platonischen Sokrates und dem Sophisten Kallikles tritt er uns in exemplarischer Form und mit vielen, später aufgegriffenen Aspekten entgegegen.1 Den geltenden Gesetzen, dem positiven Recht und den zugrundeliegenden Sitten und Bräuchen wird von beiden die menschliche Natur gegenübergestellt. Der Sophist leugnet, dass man diese Natur des Menschen als Grundlage für gerechte Gesetze und staatliche Ordnung ansehen, aus dieser als Richtschnur die Idee der Gerechtigkeit ableiten könne. Die Gesetze und die zugrundeliegende Vorstellung moralischer Werte der Gemeinschaft, deren Sittenvorstellung, sind Menschenwerk. Sie lassen sich nicht auf eine objektive Wertordnung zurückführen. Provokant hat der Sophist Trasymachos dann diese Position formuliert: „Das Gerechte ist nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren“.2 Das geltende Recht ist somit Erfindung der Stärkeren und gerade nicht fundiert in moralischen Prinzipien der Natur. Sokrates und ihm folgend Platon und Aristoteles setzen demgegenüber das natürliche, für den Menschen erkennbare Gute als Grundlage des guten Lebens und staatlicher Ordnung voraus und arbeiten es systematisch aus. Naturrecht ist deshalb hier unverzichtbare Grundlage des Rechts. Für die Vollständigkeit positiven Rechts ist es jedoch unzureichend und bleibt immer verwiesen auf konkrete Umstände und deren Analyse. (Dazu Martin Rhonheimer, Unverzichtbarkeit und Ungenügen des Naturrechts. Über Politische Philosophie in der Tradition des Naturrechts, S. 103-123) Die sophistische Kritik versteht das Recht als zweckgerichtete Konstruktion. Sie bestätigt damit jedoch auf ihre Weise den Prinzipiencharakter der Natur für das Recht: Von Natur aus gilt das Recht des Stärkeren und somit ebenfalls ein „Naturrecht“. Exemplarisch für fast alle späteren Diskussionen beinhaltet der dargelegte frühe Konflikt die zentralen Elemente des Streits um 1 2
Platon, Gorgias, 481b-527e Platon, Der Staat, 338c
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das Naturrecht, wie er sich durch die Jahrhunderte fortentwickelt: Erstens: die Unterscheidung zwischen den geltenden Gesetzen als positivem Recht (nomos), das keine Beziehung zu einer Natur (physis) im Sinne einer moralisch und rechtlich verbindlichen Grundlage hat. Das geltende Recht ist menschliche Setzung, es ist keiner höheren Instanz verpflichtet und folglich änderbar. Einzig soziale Gewohnheit, Sicherung des Bestehenden oder Recht der Mächtigen definieren seinen Gehalt. Die Berufung auf Naturrecht dient der Machterhaltung. Bloße Gewohnheit wird als Gerechtigkeit ausgegeben, um das Bestehende zu erhalten. Zweitens setzt die Kritik am Naturrecht entweder dem zugrundeliegenden Naturbegriff eine alternative Konzeption der „richtig verstandenen“ Natur entgegen oder das Naturrecht wird abgelehnt mangels Erkennbarkeit oder gar Existenz einer moralisch und rechtlich relevanten Natur. Heute wird Naturrecht beispielsweise noch im Marxismus und im Christentum vertreten – mit teilweise entgegengesetzter Naturauffassung. Dies verweist zusätzlich auf die Ambivalenz im Naturbegriff selbst, über den der Streit Klärungsbedarf anmeldet.3 Die Kritik beruft sich zudem auf die jeweils unterschiedliche Auffassung von Natur als Beleg für die prinzipielle Unzulänglichkeit naturrechtlichen Denkens. In ihrer heutigen Fassung stützt sich diese Kritik am Naturrecht ferner auf das Argument des naturalistischen Fehlschlusses. Nach diesem ist es ein Irrtum anzunehmen, dass aus dem bloßen Sein ein Sollen abgeleitet werden könnte. Aus der Natur des Menschen folgt keine moralische Verpflichtung und keine rechtliche Norm. Die Kritik des naturalistischen Fehlschlusses impliziert in ihrer aktuellen Verwendung häufig die „wertfreie“ naturwissenschaftliche Betrachtung der Natur als letztlich nur physikochemischer im Unterschied zu einer für naturrechtliches Denken erforderlichen, teleologischen, mit intrinsischen Zwecken veranlagten Natur. Dies gilt nicht nur für den Rechts3
Eine umfassende Diskussion des Naturbegriffs, auch als Grundlage des Naturrechts bieten die Beiträge in: Hanns-Gregor Nissing (Hg), Natur. Ein philosophischer Grundbegriff. Darmstadt 2010.
Der Appell des Humanen – Zur Einführung
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positivismus, sondern teilweise auch für die metaphysikkritische Politische Philosophie der Moderne. Allerdings zeigt sich, dass der vielfach gegen die Metaphysik vorgebrachte Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses selbst auch nicht ohne die Voraussetzung einer Natur als Grundlage des Sollens auskommt. (Dazu Berthold Wald, Naturalismus und Naturrechtskritik. In welchem Sinn ist das Naturgemäße Kriterium der Gerechtigkeit? S. 63-76) Folglich setzt die Kritik an einer normativ verbindlichen Natur dieser selbst immer eine eigene Auffassung von Natur entgegen. Eine Auffassung von dem, was wirklich und Natur im weiteren Sinne ist, und damit dem, was sein soll, ist schwerlich eliminierbar. Wie der Sophist Trasymachos in der Vorwegnahme Nietzsches die animalische Natur des Menschen als Ausgangspunkt nimmt, derzufolge das Recht nur dem Zweck der Macht dient, so kommt auch der Rechtspositivismus ohne vorpositive Gerechtigkeitsvorstellungen nicht aus. Kelsens Reine Rechtslehre etwa, muss trotz Leugnung jeglicher nicht-positiver Gerechtigkeitsgrundlagen und der These, jeder Inhalt könne Recht sein, das Rechtssystem im Ganzen letztlich von einem Telos – dem Frieden – her und im Widerspruch mit seiner eigenen Voraussetzung als Friedensordnung definieren. So wird, ganz in der Tradition des Vaters des Rechtspositivismus, Thomas Hobbes, ersichtlich, dass Recht ohne Bezugnahme auf die menschliche Natur und zielgebende materiale Gerechtigkeitselemente nicht definierbar ist.4 Im Unterschied zu den antiken und mittelalterlichen Naturrechtstheorien ist das neuzeitliche Naturrecht Vernunftnaturrecht. Die neuzeitliche Idee, dass der Bürger nur dem Recht und dem Staat zu gehorchen hat, dem er seine Zustimmung gegeben hat bzw. geben kann, entspringt dem Prinzip der autonomen Vernunft, der individuellen Freiheit, wie er sich in der Aufklärung manifestiert. Trotz dieser Akzentverschiebung von einer objektiven moralischen Wahrheit menschlicher Natur hin zur autonomen Selbstsetzung von Moral und ihrer Konkretisierung in subjektiven Freiheitsrechten, bleibt Recht fundiert in moralischen Prinzipien und diese in der Natur des Menschen. Dass 4
Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit. Frankfurt/M 1989, 130- 171
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Unfreiheit wider die Menschenwürde ist und die Gleichheit aller Menschen Voraussetzung des Rechts darstellt, wusste bereits das Mittelalter. (Dazu Tilman Repgen, Unfreiheit ist wider die Menschenwürde – eine rechtshistorische Miniatur, S. 125-152) Es leitete diese Einsicht aus der Vernunft und der geoffenbarten Wahrheit ab. Und mit dieser Einsicht widersetzte es sich gerade naturrechtlich der herrschenden Rechtssituation und gesellschaftlichen Gewohnheit der Leibeigenschaft. Naturrechtliches Denken hat somit gerade immer auch ein kritisches Potential. Die Menschenrechte als Manifestation der neuzeitlichen Idee des Naturrechts belegen dies ebenfalls deutlich. Im Kontext liberaler Gerechtigkeitstheorien und Demokratien stößt heute die Annahme von Naturrecht auf folgenden Einwand: Naturrecht wird als metaphysisches abgelehnt, weil die Annahme einer metaphysischen Menschennatur eine umfassende Lehre dessen, was für alle gut und erstrebenswert sein soll, impliziert. Unter den Bedingungen des Pluralismus gilt eine solche Theorie als inakzeptabel. Naturrechtliches Denken stellt eine unzulässige Beeinträchtigung individueller Lebensentwürfe dar. Diese Kritik und die Unterscheidung von moralischen Prinzipien allgemeiner Geltung und ethischen Prinzipien, im Sinne nur individuell gültiger Werthierarchien ist für die Politische Philosophie von Rawls und Habermas maßgeblich. Es droht ihr aber die Gefahr, die Prinzipien liberaler Demokratien nicht mehr begründen zu können bzw. das Axiom ihrer ursprünglichen Selbstbegründung aus den Augen zu verlieren. (Dazu Christoph Böhr, Das Recht schützt uns! Wer aber schützt das Recht? Zum Begriff der Würde: Letztbegründung als Selbstbezeugung, S. 39-61) Durch eine Überstrapazierung der Autonomie des Subjekts und der schwindenden Achtung gegenüber menschlichem Leben geraten demokratische Gesellschaften des Westens in eine kritische Situation. (Dazu Manfred Spieker, Folgerungen aus der Natur des Menschen für die Weitergabe des Lebens und die Demokratie. Zur Instruktion Dignitas Personae, S. 79-92) Gerade unter solchen Umständen ist das kritische Potential naturrechtlichen Denkens als Antwort auf den Appell des Humanen gefordert. (Dazu Johannes Hattler: Menschenwürde und Menschennatur, S. 13-36) Seine Forderungen bleiben dabei minimal, aber nicht inhaltsleer, weil der Mensch, ob
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im öffentlichen Diskurs oder im persönlichen Gewissensurteil nicht umhin kommt, sich an der Lebenspraxis selbst zu orientieren, deren Grundbedingungen den unhintergehbaren Rahmen abgeben.5 Da der weltanschaulich neutrale, liberale Staat keine Werte schaffen kann, diese jedoch für die Stabilität einer Gesellschaft benötigt, ist im Bereich des Rechts vor allem das Verfassungsrecht verwiesen auf die Tradition naturrechtlichen Denkens. (Dazu Stefan Mückl, Vor- und außerpositive Grundlagen des Verfassungsstaates, S. 155-173) Im Allgemeinen hat der Jurist nicht mit naturrechtlichen, metapositiven Prinzipien zu operieren. Er hält sich an die Normen des positiven Rechts als verrechtlichten Wertgrundlagen und an die Regeln seines Handwerks. Aber die Frage nach dem richtigen Recht, die Kern des Naturrechtsdenkens ist, bleibt bestehen: Die Frage und das Bedürfnis nach materialer Gerechtigkeit. (Dazu Josef Isensee, Der Grund des Naturrechts: das Bedürfnis nach materialer Gerechtigkeit, S. 191-220) Und dies wird akut, wenn der Wandel des positiven Rechts die minimalen, aber zentralen Wertgrundlagen der Verfassung in einer Weise tangiert, dass diese in Frage gestellt werden. Auch wenn Naturrecht immer verwiesen bleibt auf die Positivierung unter konkreten und historischen Umständen, von ihm hängt ab, ob Menschenwürde eine Fiktion ist oder Wirklichkeit, ob Menschenrechte bloße Wünsche bezeichnen oder gelten. Naturrecht ist somit kritisches Korrektiv, als moralische Antwort auf den Appell des Humanen und der Streit ums Naturrecht eine Aufgabe, der sich jede Generation neu stellen muss. Die Herausgeber
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Phillipa Foot, Natural Goodness. Oxford 2001, 5
Bild
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Menschenwürde und Menschennatur Die Tradition des Menschenrechtsdenkens stand immer im Zeichen der Abwehr grundlegender Ungerechtigkeiten und willkürlicher Unterscheidungen. Die Grausamkeiten der Diktaturen des 20. Jahrhunderts haben schließlich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geführt, weil man sich über Kulturgrenzen und verschiedenste Wertvorstellungen hinweg einig war, dass Massenvernichtung von Menschen eine Grausamkeit und Barbarei darstellt, der gegenüber die Würde eines jeden Menschen und grundlegende unveräußerliche Rechte unbedingt zu verteidigen sind. Dieser moralische Standpunkt, der jedem Menschen die Menschenwürde zuerkennt und diese als Prinzip der Menschen- und Grundrechte voraussetzt, sieht sich mittlerweile mit alternativen und konkurrierenden Begründungen konfrontiert. Die Annahme einer menschlichen Natur oder Vernunft als normativer Quelle der Würde erscheint heute problematisch, angesichts der vorherrschenden naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, des gesellschaftlichen Pluralismus und der kulturellen Differenzen einer globalisierten Welt.
1. Menschenwürde als „nicht interpretierte These“ Im Unterschied zu den klassischen Menschenrechtsdeklarationen und traditionellen Grundrechtskatalogen des 18. und 19. Jahrhunderts, allen voran die Declaration of Independence, die Virginia Bill of Rights und die Declaration des Droits de l’homme et du citoyen, ist die Menschenwürde im juristischen Kontext ein junges Phänomen. Sie findet sich erstmals in den Gründungsdokumenten der Vereinten Nationen, der Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und schließlich dem
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Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland,1 „wo die Erfahrung der nationalsozialistischen Gräuel es nötig machte, für die Menschenrechte nach einem sicheren, in gewisser Weise absoluten Grund zu suchen, der eben in der Menschenwürde gegeben sei“.2 Allerdings steht der Begriff der Würde in der Kontinuität der philosophischen Überlieferung schon mindestens seit Cicero und ist daher – seiner philosophischen und vorpositiven Idee nach – älter als der der Menschenrechte. Denn überall und zu jeder Zeit wird es als Ungerechtigkeit empfunden, willkürlicher Machtausübung unterworfen zu sein „und daher ist die Logik der Gerechtigkeit darauf ausgerichtet, solche Formen der Herrschaft zu überwinden“.3 Die Charta der Vereinten Nationen formuliert erstmals die Einheit und Verwiesenheit von Menschenwürde und Menschenrechten. Wenngleich dieses völkerrechtliche Dokument in erster Linie keine positiven, einklagbaren Rechte setzt, gibt es ein Ideal vor, eine moralische Intention als normatives Leitbild und höchsten Rechtswert, wonach die „Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“.4 Denn mit Blick auf die Erfahrungen mit den beiden Weltkriegen und die Unmenschlichkeiten des Dritten Reichs gilt es, wie die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert, den „Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit […] zu bekräftigen“.5 Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland von 1949 schließlich übernimmt diesen Gedanken und positiviert in einem Dreischritt die Menschenrechte als Schutz der Menschenwürde durch die Grundrechte.6 Das Grundgesetz be1 2 3 4 5 6
Die älteste Erwähnung der Würde findet sich in der Verfassung Irlands von 1937. Stefan Gosepath/Christoph Menke, Schwerpunkt: Menschenwürde. IOn: DZPhil 53 (2005) 4, 567-569; 569 Rainer Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, Frankfurt/M 2007, 355 Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte v. 10. Dezember 1948 Präambel der Charta der Vereinten Nationen v. 26. Juni 1945 Vgl. Grundrechte als Konkretisierung der Menschenwürde: BVerfGE 107, 275 (284) und Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte: 93, 266 (293),
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tont, dass die Menschenwürde als Fundament verstanden ist und sich die Verfassung um ihretwillen „darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“7 bekennt. Trotz bzw. auf Grund ihres Charakters als Prinzip besitzt die Menschenwürde eine spezielle Unbestimmtheit, für die Theodor Heuss die Formel der „nicht interpretierten These“8 geprägt hat. Zum einen ist sie kein Recht unter anderen, sondern Prinzip der Grund- und Menschenrechte.9 Zum anderen verweist sie auf den Menschen als Träger der Rechte und damit auf vorpositive Menschenbilder. In dieser Funktion als metapositive Normsetzung integriert die Menschenwürde philosophische, ethische und theologische Traditionen und wird maßgebend für die völkerrechtlichen Dokumente und die sich daran orientierenden Staatsverfassungen, allen voran die der Bundesrepublik.10 Dadurch ist sie rechtsimmanentes, positives Fundament für die gleichen Rechte und Freiheiten eines jeden Einzelnen und seines „Rechts auf Rechte“ und somit Garant des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates.11 Als Prinzip transzendiert sie die Grundrechte, bleibt aber auf diese als ihre Konkretisierungen verwiesen. Während die Grundrechte gegeneinander abgewogen werden können und in ein relatives Verhältnis treten, ist die Menschenwürde „Fixpunkt der Rechtsordnung, materielle Rechtsgrundlage und Grenze positiven Rechts; die Menschenwürde ist ethische Selbstvergewisserung der freiheitlich-humanen Rechtsordnung“12 und „Absolu-
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vgl. auch die von 170 Staaten unterzeichnete Erklärung der zweiten internationalen Menschenrechtskonferenz: „[…] all human rights derive from the dignity and worth inherent in the human person […].“ (Wien, 1997) Art 1, Abs. 2 GG Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd.1, 1951, 49 Vgl. Josef Isensee, Menschenwürde: Suche nach dem Absoluten. In: AöR, Bd. 131 (2006), 173-218; 209ff Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Bleibt die Menschenwürde unantastbar?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2004, S. 1216 Karl-E. Hain, Menschenwürde als Rechtsprinzip, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg): Menschenwürde, Frankfurt/Berlin/New York 2007, 87-103; 87 Udo Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II (2004) Rn. 11.
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tum in einer zutiefst relativistischen Welt“13 bzw. „Höchstwert des Weltrechts“.14 Die Unbestimmtheit des Menschenwürdeprinzips und ihr Charakter als „nicht interpretierte These“ hat somit mehrere Aspekte. Sie gibt – so eine Lesart– nicht selbst den Rahmen des Rechtsschutzes an, sondern den Grund für diesen Rechtsschutz. Nicht das was, sondern das warum. Jeder Mensch als Mensch besitzt nach dieser Auffassung eine unantastbare Würde, sie ist angeboren und unverlierbar. Sie ist Anspruchsgrund auf Anerkennung und Appell zur Achtung im moralischen und Schutz im rechtlichen Bereich. Trotz unterschiedlicher Bemühungen über geistesgeschichtliche Traditionen eine inhaltliche Näherbestimmung der Menschenwürde zu erreichen und dieses Gebot der Schutzpflicht und Verbot der Verletzung anthropologisch zu fundieren, bleibt die Menschenwürde als Rechtsprinzip schwach bestimmt bzw. primär negativ als Verbot ihrer Verletzung. Darin liegt der weitere Aspekt der nicht interpretierten These. Dem Pluralismus der Weltanschauungen Rechnung tragend, wollten die Verfassungsväter die Wichtigkeit der Menschenwürde nicht Streitigkeiten über Detailfragen opfern. Die zentralen philosophischen, ethischen, theologischen oder sonstigen weltanschaulichen Prämissen flossen wesentlich mit ein,15 aber die Prämissen, auf Grund derer die einzelnen die Würde anerkannten, schien nachrangig gegenüber der Notwendigkeit einer prinzipiellen und fundamentalen Richtschnur moralischer und rechtlicher Ordnung. Der Konsens war möglich, weil sämtliche Richtungen sich in den grundlegenden Aspekten der Würde einig waren, wenngleich sich ihre Begründungsstrategien unterschieden. Und darin liegt ein weiteres entscheidendes Moment der nicht interpretierten These: Übereinstimmung in minimalen, aber wesentlichen Momenten, bei gleichzeitiger Differenz in den anthropologischen Begründungen. Die nachfolgende kongeniale Grundrechtskommentierung von Dürig 13 14 15
Horst Dreier, in: Ders. (Hg), Grundgesetz, 22004, Art. 1 Abs. 1 Rn. 41 Di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, in JZ, 2004, 1 (5) Vgl. Josef Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte. In: D. Merten/H.-J. Papier (Hg), Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, 2006, S. 41110, Rn69 und die dortigen Verweise.
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exemplifiziert den entscheidenden Minimalgehalt des Menschenwürdeprinzips, die so genannte Objektformel, die gleichermaßen die zentrale Würdebegründung Kants, wie die der naturrechtlichen und theologischen Tradition miteinander verbindet bzw. auf diese hin offen ist.16 Der Mensch hat deshalb ein Recht auf Rechte und jeder Mensch gleichermaßen und ohne Unterschied, weil er als Mensch die übrige Natur transzendiert, woraus das grundsätzliche Verbot resultiert, ihn als Objekt zu behandeln, ihn zu instrumentalisieren und nur als Mittel zu eigenen Zwecken und nicht zugleich als Zweck an sich selbst zu respektieren: „Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“.17 Während die Objektformel für die juristische Interpretation vorrangig den negativen Aspekt des Verbots bereitstellt, weist die Kommentierung in die positiven Elemente hinein, die ihr zugrunde liegen. Die Begründung für die Transzendierung der Natur findet sich in den Grundvermögen Vernunft und Freiheit. Sie werden dem Menschen sowohl nach der jüdisch-christlichen Tradition als Ebenbild Gottes, der naturrechtlichen auf Grund seiner Vernunftnatur und der vernunftrechtlichen auf Grund der Autonomie des sittlichen Subjekts zuerkannt. Diese beiden Grundvermögen kommen allen Menschen ohne jede Möglichkeit der Unterscheidung zu. Sie bedürfen keiner nochmaligen Begründung, sofern sie in doppeltem Sinne Vorraussetzung freiheitlich-demokratischer Rechtsordnung sind: Zum einen sind sie die unhintergehbaren Bedingungen für die Betrachtung aller – Bürger bzw. Menschen – als freier und gleicher Personen. Zum anderen entspricht dies unserer, für die Praxis generell nicht eliminierbaren Intuition, dass unsere und anderer Handlungen nur auf Grund dieser Voraussetzung zurechenbar sind. In diesem Sinne ist die Menschenwürde eine nicht interpretierte These, weil sie als positiv-rechtliches Prinzip nicht nochmals eine inhaltliche Bestimmung enthält,
16 17
Vgl. dazu: Isensee, Menschenwürde: Suche nach dem Absoluten, 184ff Günter Dürig, in Theodor Maunz/Ders.: Grundgesetz, 1958, Art. 1 Abs. 1 Rn. 28, 34
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gleichzeitig aber offen für und verwiesen ist auf unterschiedlichste anthropologisch-metaphysische Konzepte. Der dritte Aspekt transzendiert und fundiert diese beiden, indem er die moralische und rechtliche Dimension umgreift, weil das Menschenwürdeprinzip in einem „Bereich angesiedelt ist, der jenseits von Sein und Sollen liegt“18. Diese fundamentale Position der Menschenwürde erklärt auch die gelegentlich problematisierte Ambivalenz in der Formulierung des Art. 1 GG, nach der die Würde des Menschen unantastbar ist und dabei sowohl als eine Aussage hinsichtlich des Seins, aber zugleich als Rechtssatz eine des Sollens darstellt. Damit setzt das Menschenwürdeprinzip jedoch immer schon eine bestimmte Perspektive voraus. Für jemanden innerhalb dieser Perspektive bedeutet Menschsein, Träger von Würde zu sein. Es ist das Humane, das hier an den Einzelnen appelliert, das die Anerkennung des Anderen als Person und Träger der Würde als moralisches Prinzip immer schon mit sich führt und die rechtliche Positivierung als Schutz dieses Grundanspruches eines jeden einfordert.19 Diese Perspektive aber ist es, die die Menschen- und Grundrechte einnehmen. Die Menschenwürde ist somit „ein schlechthin höchster moralischer Grundsatz, ein Axiom im Sinne eines Leitprinzips von Moral und Recht“20 . Als Axiom ist sie innerhalb von Moral und Recht nicht wieder ableitbar. Gleichzeitig verweist die Angelposition der Menschenwürde im Grundrechtskatalog auf vor-positive Elemente der philosophischen und theologischen Tradition, auf deren partiell differierenden Auffassungen von der Natur des Menschen hin sie offen ist. Folglich ist die Menschenwürde nicht inhaltsleer, sondern inhaltsarm.21 Wenn die vertretenen Menschenbilder jedoch im Kernanliegen des Kon18
19 20
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Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde. In: Ders. Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns. Stuttgart 2001, S. 107122; 109 Vgl. Christoph Menke/Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte. Hamburg 22008, 152ff Otfried Höffe, Menschenwürde als ethisches Prinzip. In: Höffe/Honnefelder/Isensee/Kirchhof (Hg): Gentechnik und Menschenwürde. Köln, S. 111-141; 114 Deshalb bedarf es jedoch des inhaltlichen Bestimmungsversuchs der Menschenwürde: Isensee, Menschenwürde: Suche nach dem Absoluten, 214-217
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senses nicht mehr einig sind, die spezifisch moralische Perspektive der Anerkennung jedes menschlichen Lebens als würdevollem fraglich wird, wird aus der „nicht interpretierten These“ die Menschenwürde als Leerformel.
2. Die Menschenwürde als Leerformel Die Diskussion um die Menschenwürde als Leerformel nährt sich vornehmlich aus der Auseinandersetzung mit neuen Herausforderungen – Bioethik und Biomedizin, internationaler Terrorismus –, die Antworten erfordern und zu neuen Begründungen Anlass geben, die sich mittlerweile auch auf notstandsfeste Menschenrechte, wie das Folterverbot22, ausweiten. Die Leerformelthese besagt, dass die Menschenwürde „voller Konnotationen, aber ohne Denotation“,23 selbst nur „ein normatives Schlagwort ohne jeden deskriptiven Gehalt“, eine „argumentativ nichtssagende Leerformel“24 ist. Dieser Vorwurf zielt auf ein Faktum, nämlich die inflationäre und nicht selten inhaltlich gegensätzliche Berufung auf die Menschenwürde. So etwa, wenn das Recht auf Abtreibung entweder mit der auf Grund der autonomen Selbstbestimmung der Frau sich manifestierenden Würde verteidigt wird, oder das Lebensrecht des ungeborenen Kindes auf Grund seiner Vernunft- und Freiheitsbegabung, die sich zwangsläufig ohne Intervention als Autonomie einstellen würde. Es kann als Ausdruck der Menschenwürde verstanden werden, autonom den Zeitpunkt des eigenen Todes zu bestimmen, wogegen es nach anderer Auffassung der Würde widerspricht, sich selbst zum Objekt zu machen. Ähnlich können zukünftige Eltern als Ausdruck ihrer Würde ein extensives Maß an Selbst22
23 24
Vgl. Heiner Bielefeldt: Menschenwürde und Folterverbot. Eine Auseinandersetzung mit den jüngsten Vorstößen zur Aufweichung des Folterverbots. In: Sandkühler (Hg): Menschenwürde, 105-127 Dieter Birnbacher, Mehrdeutigkeiten im Begriff der Menschenwürde. In: Aufklärung und Kritik, Sonderheft 1/1995. S. 4-13; 5 Norbert Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay. Stuttgart 2002, 24f. Zurück geht der Begriff der Leerformel auf: Ders., Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde. Juristische Schulung 82.2 (1983), 93-96; 93, 95, 96
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bestimmung der manipulativen und selektiven Optionen beanspruchen, wogegen unter Berufung auf die Würde hier Grenzen gefordert werden, um dem zukünftigen Kind die Chance auf ein gleichermaßen selbstbestimmtes Leben zu gewähren. Neben diesen grundsätzlichen Fragen, den Lebensschutz und die Integrität des personalen Lebens betreffend, kommen die vielfältigen verfassungsrechtlichen Abwägungsentscheidungen hinzu, bei denen die Frage nach der Vereinbarkeit mit der Menschenwürde selbst auch etwa in Bezug auf Telefonsex und Zwergenweitwurf dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt wird.25 „Infolge dieses vielfachen und widersprüchlichen philosophischen und politischen Sprachgebrauchs ist ,Menschenwürde‘ zu einer Leerformel neben anderen geworden“.26 Trotz des offensichtlichen Verlusts eines Grundkonsenses über Menschenwürde und menschliche Natur vertritt der Großteil der Juristen und Philosophen noch immer die sogenannte „Mitgift-Theorie“. Gleich ob aus biologischen, philosophischen oder theologischen Gründen, wird der Würdeschutz mit Beginn des menschlichen Lebens angesetzt (Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, spätestens jedoch im Moment der Nidation), da jede zeitliche Differenzierung willkürlich ist. Das gleiche gilt für alternative Kriterien, die Einzelne von der Gruppe der Personen mit zu schützender Menschenwürde ausschließen, obgleich sie zur Spezies Mensch gehören. In den weiteren Bereichen des Embryonenschutzes, der Stammzellforschung, Klonierung, aber auch den Umgang mit Debilen und Komatösen wird jedoch demgegenüber, etwa von Reinhard Merkel, Norbert Hoerster und Julian Nida-Rümelin27 die Position vertreten, dass der Würdebegriff zwar nicht abstufbar, aber auch nicht apriori durch die biologische Zugehörigkeit zur Spezies Mensch gegeben ist, sondern erst durch bestimmte Eigenschaften, die nur einer bestimmten Gruppe von Menschen bzw. ei-
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Vgl. Isensee, Menschenwürde: Suche nach dem Absoluten, 188f m.w.A. Panajotis Kondylis, Art.: Würde, in: Brunner/Conze/Kosellek (Hg), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. VII, Stuttgart 1992, 645-677; 677 Merkel, Forschungsprojekt Embryo, München 2002; Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, Stuttgart 2002; Nida-Rümelin, Ethische Essays, Frankfurt/M. 2002
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nem bestimmten Stadium zukommt.28 Eigenschaften dieser Art sind „Bewusstsein“, Überlebensinteresse, Autonomie, Erlebnisfähigkeit, Schmerzempfinden. Eigenschaften also, die man klassischerweise mit dem Selbstbewusstsein der Person in Verbindung gebracht hat. Es wird folglich auch begrifflich zwischen Menschen und Personen unterschieden, wobei nur Personen Rechte und Würde im vollen Sinne zukommen. 29 Obwohl diese Position offensichtlich eine starke Verwandtschaft zu denjenigen Argumentationsmustern aufweist, die ehemals verwendet wurden, um bestimmten Gruppen von Menschen das volle Menschsein abzusprechen und die gerade durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, ihren universalen und egalitären Charakter und ihrer Fundierung in der unantastbaren Würde entschieden abgewiesen werden sollten, ist ihr Einfluss nicht gering. So heißt es z.B. in der ersten Fassung der Grundrechtecharta der Europäischen Union von 2000 zwar noch in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Jedoch bereits in Art. 2 Abs. 1: „Jede Person hat das Recht auf Leben.“ Und in Art. 3 Abs. 1: „Jede Person hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit.“30 Mit den Überarbeitungen der Charta 2004 und 2007 und der rechtlichen Bindung durch den Lissabon-Vertrag wurde der Begriff der Person wieder durch den des Menschen ersetzt. Dass diese Position als Lösung aktueller Fragen konzipiert ist und gewissen Intuitionen entspricht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie die konkrete Gefahr in sich birgt, dass dadurch eine Gruppe von Menschen über diejenigen Kriterien bestimmt, die die grundsätzliche Zugehörigkeit zur Gruppe der Träger von Menschenrechten regelt. Dies hat auch weite28 29
30
Zur Systematisierung der Positionen: Arnd Pollmann: Würde nach Maß, in: DZPhil 53 (2005) 4, S. 611-619 Vgl. Singer, Praktische Ethik. Stuttgart 21994; Hörster, Neugeborene und das Recht auf Leben, Frankfurt/M. 1995; Hugo T. Engelhardt, The Foundation of Bioethics. Oxford 1986, 44. Dazu kritisch: Spaemann, Person ist der Mensch selbst, nicht ein bestimmter Zustand des Menschen. In: Thomas (Hg): Menschlichkeit der Medizin. Heerford 1993, 161-276; 263ff u. Martin Rhonheimer, Absolute Herrschaft der Geborenen? In: Ders., Abtreibung und Lebensschutz. Paderborn 2004, S. 91-130 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Fassung v. 7. Dezember 2000. Im Weiteren wird dort durchgehend der Begriff der Person verwendet.
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re Folgen. So etwa in Bezug auf Menschen mit Behinderungen. Wenn Behinderung als Kriterium für vorgeburtliche Tötung von menschlichem Leben zugelassen ist, lässt sich die NichtDiskriminierung geborener Menschen mit Behinderung nur noch schwer rechtfertigen. Folgerichtig ist auf Grund der inflationären und widersprüchlichen Verwendung des Menschenwürdeprinzips, die Forderung Birnbachers, Klarheit zu schaffen und den Menschenwürdebegriff auf seinen genuin normativen Gehalt hin, auf seine „zentrale und allseits anerkannte Kernbedeutung ,gesundschrumpfen‘ zu lassen, die subjektiven und zeitgeistspezifischen Interpretationen weniger Raum lässt“31. Die Schwierigkeit dabei ist, dass die beiden Konzepte, die im Bereich der philosophischen Analyse und nötigen Formalisierung der Normativität von Einfluss sind, die Rede von der Menschenwürde als Leerformel nicht ausreichend zurückweisen können bzw. sogar fördern. Das eine ist der Naturalismus mit seiner Auflösung jeglicher Normativität in eine naturalisierte Natur des Menschen als rein naturwissenschaftlich zu bestimmendem Lebewesen. Das andere sind die v.a. in der Politischen Philosophie maßgeblichen Systeme autonomer Vernunftmoral. Das gemeinsame Fundament beider ist die Ablehnung einer metaphysischen Menschennatur. Diese basiert auf zwei Bedingungen, die sich teilweise gegenseitig stützen: Die postmetaphysische Verfasstheit der modernen Wissenschaften einerseits und das entsprechende Legitimationsdefizit jeglicher Metaphysik in einer pluralistischen Gesellschaft und im globalen Kontext andererseits. Die theologischen oder naturrechtlichen Fundierungen von Würde gelten angesichts des Faktums pluraler Lebenssichten als überholt, da sie auf Grund der Annahme einer vorgegebenen Natur die Autonomie des Individuums aufheben würden. Die Würde ist auf Autonomie konzentriert und entsprechend dem Ausspruch Pico della Mirandolas die „Natur“ Selbstentwurf des Menschen, die keiner vorgegeben Bedingtheit unterliegt.32 Selbst eine Berufung auf die eine menschliche
31 32
Birnbacher, Mehrdeutigkeiten im Begriff der Menschenwürde, 5 Vgl. della Mirandola: Über die Würde des Menschen, Hamburg 1990, 7
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Vernunft gilt einigen als nicht mehr überzeugend.33 Denn eine noch so abstrakte Vernunftnatur impliziert eine inhärente und damit metaphysische Würdeauffassung und ist eine Formalisierung bzw. ein „Säkularisat“ der theologisch-metaphysischen Positionen.34 Obwohl ursprünglich mit der Normativität der Ethik unvereinbar, hat der Naturalismus zumindest über seinen Einfluss auf die Anthropologie, jüngst durch die neurophysiologisch untermauerte These der Nichtexistenz eines freien Willens, Einzug in die Ethik und Rechtsphilosophie gehalten35. Naturalismus ist nach Quines Definition „the recognition that it is within science itself, and not in some prior philosophy, that reality is to be identified and described“36 . Der Naturalist leugnet nicht notwendigerweise eine objektive und universelle Natur. Eine solche ist jedoch niemals Quelle von Normativität. Die Menschenwürde findet darin keinen Platz.37 Wenn sie deshalb „nur noch als Inbegriff der zu verwirklichenden Menschenrechte“38 oder als „Ensemble subjektiver Rechte“39 angesehen wird, erfordert dies bereits die Heranziehung einer zweiten Dimension neben der naturalisierten Natur des Menschen. Erst eine bestimmte Funktion des Menschen, ein aktives Bewusstsein zeichnen ihn als Person aus und erst diese Auszeichnung macht ihn zum Träger von Rechten.40 Der von Peter Singer vorgebrachte Vorwurf 33
34
35 36 37 38 39 40
Vgl. Kai Haucke, Das liberale Ethos der Würde. Eine systematisch orientierte Problemgeschichte zu Helmuth Plessners Begriff menschlicher Würde in den »Grenzen der Gemeinschaft«, Würzburg 2003, 259 Franz-Josef Wetz, Menschenwürde – eine Illusion? In: Härle/Vogel (Hg): Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten. Freiburg 2008, S. 27-48; 36 Dazu kritisch, jüngst: Peter Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt/M 2009 Willard van Orman Quine, Theories and Things. Cambridge 1981, 21 Kurt Bayertz, Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1995, S. 465-481; 476 Franz-Josef Wetz, Die Würde des Menschen ist antastbar. Eine Provokation. Stuttgart 1998, 219 Birnbacher, Mehrdeutigkeiten im Begriff der Menschenwürde, 7 Vgl. zu diesem auf John Locke zurückgehenden bewusstseinstheoretischen Personbegriff: Armin G. Wildfeuer, Menschenwürde – Leerformel oder unverzichtbarer Gedanke. In: Nicht/Ders. (Hg): Person, Menschenwürde, Menschenrechte im Disput. Münster 2002, 19-116; 55ff, m.w.A.
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des Speziezismus, der ebenfalls auf naturalistischer Grundlage aufruht, fordert, dass keine „willkürliche“ Unterscheidung zwischen Menschen und anderen Lebewesen getroffen werden darf. Dadurch aber dürfen Menschen, die nicht Personen sind, behandelt werden wie Tiere bzw. einem erwachsenen höheren Säugetier wird ein höheres Lebensrecht eingeräumt als einem einjährigen Kind41. Für den Würdeschutz in seiner engen Beziehung zum Tötungsverbot folgt, dass das Schmerzempfinden das minimale Bewusstseinskriterium ist. Diese und auch gemäßigtere Positionen können Vernunft und Freiheit auf Grund rein funktionaler Betrachtung schwerlich einen normativen Wert zuerkennen.42 Selbsttranszendenz des Menschen und die moralische Perspektive der Achtung des anderen als anderen ist nicht begründbar. Menschenwürde wird verkürzt auf ein relatives Tötungsverbot mit Hilfe utilitaristischer Güterabwägung.43 Im juristischen Kontext spiegeln sich diese Argumentationsmuster und bilden subtile Lösungsvorschläge für konkrete Anwendungsfelder aus. Auf Grund des Prinzipiencharakters der Menschenwürde ist für die normative Kernbedeutung die Gleichsetzung mit einem „Ensemble subjektiver Rechte“ jedoch unzureichend, ebenso die Reduzierung der Menschenwürde auf Freiheit und Gleichheit44 oder eine „prozesshafte Betrachtung des Würdeschutzes mit entwicklungsabhängiger Intensität“45 und die zugrunde liegende Unterscheidung zwischen einem Kernbereich und abstufbaren Außenbereichen des Würdeschutzes46 . Gerade weil die Menschenwürde kein Grundrecht unter anderen ist und nicht auf diese zurückgeführt und wie diese gegeneinander abgewogen werden kann, stellt die Kopplung des Lebensschutzes an den Würdeschutz keinen naturalistischen Fehlschluss dar, wie Horst Dreier47 dem Bundesver41 42
43 44 45 46 47
Vgl. Singer, Praktische Ethik, 219 Micha H. Werner, Menschenwürde in der bioethischen Debatte: Eine Diskurstopologie. In: Matthias Kettner (Hg): Biomedizin und Menschenwürde. Frankfurt/M. 2004 , S. 191-220; 204 Vgl. den fragilen Präferenzutilitarismus bei Singer, Praktische Ethik, 115 ff Friedhelm Hufen, Erosion der Menschenwürde. In: JZ 2004, S. 313-318; 316 Matthias Herdegen, Kommentar zu Art. 1 GG, Rn 56. In: Maunz/Dürig u.a. (Hg): Grundgesetz Bd 1, Loseblattsammlung, München, Stand: 2003 Ders., Kommentar zu Art. 1 GG, Rn 43, Stand: 2006 Horst Dreier, GG, Bd. 1, Art. 1, Abs. 1 Rn 66, Tübingen 22004.
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fassungsgericht angesichts seines Dictums: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Würde zu“48 vorhält. Wenn die Kopplung von Würde an menschliches Leben als naturalistischer Fehlschluss abgelehnt wird bleibt alternativ letztlich nur die willkürliche Zuschreibung.
3. Nachmetaphysische Begründung und Menschenwürde als freistehendes Konzept Nachmetaphysische Letztbegründung der Menschenwürde Weil es einer neuen, alternativen Begründung der Menschenrechte bedürfte, wenn es richtig wäre, dass die Menschenwürde „nicht mehr ihr tragendes Fundament bildet“49 stellen sich Versuche einer Stützung ein. Habermas, dem es ursprünglich um eine „nichtreligiöse und nachmetaphysische Rechtfertigung der normativen Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates“50 ging, konstatiert mittlerweile, dass insbesondere die neuen Möglichkeiten der Biotechnologie die – für die Menschenwürde entscheidende – Grenze zwischen Personen und Sachen derart zu verwischen drohen, dass die postmetaphysische Moraltheorie mit ihrer Enthaltsamkeit gegenüber Letztbegründungen bzw. der Frage nach dem richtigen Leben an ihre Grenze gestoßen ist und sich deshalb „die Philosophie inhaltlichen Stellungnahmen nicht mehr entziehen“51 kann. „Die reine praktische Vernunft kann sich nicht mehr so sicher sein, allein mit Einsichten einer Theorie der Gerechtigkeit in ihren bloßen Händen einer entgleisenden Moderne entgegenwirken zu können, [...] ein ringsum verkümmerndes normatives Bewusstsein aus sich heraus zu regenerieren.“52 Die liberale Eugenik degradiert die autonome Vernunftmoral zu einer Ethik 48 49 50 51 52
BVerfGE E 39, 1 (41) Wetz, Die Würde des Menschen ist antastbar, 219 Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/M. 2004, 107 Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/M 2005, 27; 33 Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt/M. 2009, 218
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unter anderen und sie fordert die Bewertung der Moral im ganzen heraus.53 Habermas eigene inhaltliche Stellungnahme präsentiert sich deshalb als gattungsethische Lösung. Sie lässt die ethischen Fragen – wie wir konkret handeln sollen – und die moralischen – ob wir moralisch handeln sollen – hinter sich und stellt die „philosophische Ursprungsfrage nach dem »richtigen Leben« in anthropologischer Allgemeinheit“54 neu. Die Gattungsethik fragt, ob wir moralisch handeln wollen, und damit, wie wir uns selbst verstehen bzw., ob wir uns weiterhin als moralische Wesen verstehen wollen. Zur Stützung unserer moralischen Natur – die sich für Habermas in den Menschenrechten manifestiert und die es zu verteidigen gilt – beruft er sich einerseits auf die phänomenale Analyse allgemeiner moralischer Intuitionen und systematisch grundsätzlicher auf das „existentielle Interesse“ an einer moralischen Welt.55 Denn in Anlehnung an Formulierungen von Kant und Rawls,56 hätte es in einer Welt ohne Gerechtigkeit keinen Wert mehr, dass Menschen in ihr leben. Konkret muss sich die Menschheit fragen, ob sie sich noch als vernünftig begreifen darf, wenn sie andere genetisch manipuliert bzw. von der Aufnahme in den egalitären und respektvollen Umgang miteinander von vornherein ausschließt. Die autonome Vernunftmoral bleibt trotz offensichtlicher Bedrängnis und der Betonung der Grundeinsicht, dass der Mensch von Natur aus auf das Gute und die Gerechtigkeit hin angelegt ist, weiterhin im nachmetaphysischen Axiomensystem verwurzelt. Es gilt gerade nicht, „wo menschliches Leben existiert, da kommt ihm Würde zu“. Der „potentielle Diskursteilnehmer“ ist folglich Mensch, aber keine Person. Im Sinne eines abgestuften Lebensschutzes kann dem „vorpersonalen Leben“ zwar Unverfügbarkeit, aber keine Unantastbarkeit im Sinne Art. 1, Abs. 1 GG zugeschrieben werden.57 Eine agnostische Haltung in Bezug auf metaphysische Fragen – hier den Status des Embryos – muss man respektieren. Die 53 54 55 56 57
Vgl. Die Zukunft der menschlichen Natur, 32f, 151 Ebd. 33 Ebd. 124f Kant, Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, 332, Rawls, Politischer Liberalismus. Frankfurt/M 2003, 63 Die Zukunft der menschlichen Natur, 130
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apodiktische Haltung, dass zwischen Menschen und Personen klar unterschieden werden muss allerdings irritiert, sofern diese Unterscheidung letztlich selbst eine metaphysische Theorie impliziert. Vom moralischen Standpunkt aus ist vor aller Differenzierung der Mensch als Mensch zu respektieren. Für Habermas beruht die Unterscheidung wesentlich auf der normativ gänzlich unbestimmten naturalistischen menschlichen Leiblichkeit. Nun stellt er aber angesichts der Möglichkeiten genetischer Manipulierbarkeit fest, wie weit unser Selbstverständnis von den leiblichen Bedingungen unserer Existenz abhängt und sieht darin gerade die Herausforderung für das Gattungswesen Mensch. Die Unterscheidung von Menschen und Personen andererseits als Anerkennung eines gesellschaftlichen Konsenses zu verstehen wäre ebenfalls keine ausreichende Begründung. Zum einen ist es keinesfalls ausgemacht, dass hier ein Konsens vorliegt, vielmehr ist diese Frage gerade strittig. Und zum anderen belegt Habermas eigenes Eintreten gegen eine Ausweitung liberaler Eugenik, wie kritisch er bei heiklen Fragen zum demokratischen Willensbildungsprozess steht. Trotz allem wird das Naturwesen Mensch für Habermas erst in der Öffentlichkeit einer Sprachgemeinschaft zur Person, 58 und erst dadurch kommt ihm im Sinne des Grundgesetzes Würde zu. „Was den Organismus erst mit der Geburt zu einer Person im vollen Sinne macht, ist der gesellschaftlich individuierende Akt der Aufnahme in den öffentlichen Interaktionszusammenhang einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt.“59 In Fortführung und Vertiefung Habermasschen Denkens hat Rainer Forst jüngst die zentrale Bedeutung der Menschenwürde aufgegriffen. Die explizit geforderte, substantiellere Begründung der Normativität verortet er im Prinzip des „Rechts auf Rechtfertigung“60 . Als Äquivalent zur Würde gilt es als das „grundlegende Recht, denn es ist selbst kein spezifisches, intersubjektives Menschenrecht, sondern die Grundlage der Recht-
58 59 60
Ebd. 62 Ebd. 64 Rainer Forst: Das Recht auf Rechtfertigung, Frankfurt/M 2007
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fertigung konkreter Rechte“61. Weil die Verletzung des moralischen Status eines Menschen, in Fragen, die ihn existentiell betreffen, in jeder Kultur und zu jeder Zeit eine zumindest subjektive Ungerechtigkeit darstellen, ist die Menschenwürde ein kulturinvariantes Prinzip. Es sind schließlich die Kriterien der Reziprozität und Allgemeinheit, die Normativität sicherstellen sollen und auch in zu erwartenden Fällen von Dissensen oder „falschen“ Konsensen als substanzielle Maßstäbe fungieren. 62 In der Tradition nachmetaphysischer Ablehnung von Letztbegründungen bedarf auch für Forst die Menschenwürde explizit keiner metaphysischen oder anthropologischen Grundlagen. Sie beruht auf einer „diskursiven Konstruktion“ und ist selbst Begründungsrecht für die einzelnen Rechte, die nach den Grundkriterien des Diskurses generiert werden oder einen intersubjektiv nicht abzulehnenden Grund haben.63 Letztlich rekurriert Forst mit seinem Prinzip des Rechts auf Rechtfertigung auf den axiomatischen Charakter der Menschenwürde für Recht und Moral. Das Recht auf Rechtfertigung ist die diskursethische Fassung eines „kritischen Naturrechts“64 , allerdings unter Ausklammerung der anthropologischen Voraussetzungen65 bzw. auf Grund der sozialen Vernunftnatur des Menschen, die jedoch – wie auch immer – nicht metaphysisch bzw. als gegeben zu verstehen sein soll. Letzteres ist auch der Grund, weswegen Forst Habermas gattungsethischen Ansatz und das tragende Moment des existentiellen Interesses an einer morali61
62 63 64
65
Das Recht auf Rechtfertigung, 300; 108; Ders., Die Würde des Menschen und das Recht auf Rechtfertigung. In: DZPhil 53 (2005) 4, S. 589-596; 593: „Die beste Weise, diese Konzeption von Würde […] zu reformulieren, ist die, Menschen als Wesen mit einem unbedingt zu achtendem Recht auf Rechtfertigung anzusehen – einem Grund-Recht, das die alleinige Basis für alle weiteren Grundrechte ist.“ Die Würde des Menschen und das Recht auf Rechtfertigung, 594; Das Recht auf Rechtfertigung, 107 Das Recht auf Rechtfertigung, 306 Zur Idee eines kritischen Naturrechts: Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit. Frankfurt/M 1989, 92 ff. Für Höffes kritische Würdigung von Forsts Recht auf Rechtfertigung: Kant ist kein Frankfurter, in: Die Zeit, v. 01.11.2007, Nr. 45. Zur Kritik an der Ausklammerung der Voraussetzungen auch: Vittorio Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung, Ethik. München 1990, 125
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schen Welt kritisch bewertet.66 Die autonome Vernunft darf ihre moralische Grundhaltung, insbesondere mit Blick auf die Anerkennung der Würde des anderen, nur aus sich selbst, als ungeschuldet und frei gewähren. Die Person ist moralisch, weil sie will oder sie ist es nicht. So konsistent und philosophisch umfassend Forsts Menschenwürdebegründung ist, so untauglich ist sie als Grundlage einer Gerechtigkeitstheorie für eine pluralistische Gesellschaft von wirklichen Menschen. Eine rein autonome Vernunftmoral als Grundlage politischer Philosophie, die jede weitergehende Begründungsmöglichkeit prinzipiell ausschließt, riskiert die Anschlussfähigkeit an die in der Gesellschaft vertretenen „Weltanschauungen“. Habermas formuliert diesen Sachverhalt mit folgenden Worten: „Die weltanschauliche Neutralität der Staatsgewalt, die gleiche ethische Freiheiten für jeden Bürger garantiert, ist unvereinbar mit der politischen Verallgemeinerung einer säkularistischen Weltsicht.“67
Menschenwürde als freistehendes Konzept Wenn mit Habermas erkannt wird, dass eine weltanschaulich neutrale politische Konzeption der Gerechtigkeit und der Menschenwürde weder eine naturalistische noch eine säkularistische sein kann, weil diese eben selbst weltanschaulich sind, dann bedarf es eines alternativen Konzeptes. Eine liberale, pluralismuskompatible Konzeption darf aus systematisch-philosophischen und moralisch-politischen Gründen nur diejenigen Konzepte prinzipiell ausschließen, die im Widerspruch mit dem Kern ihren Voraussetzungen stehen. Allgemein sind das für liberale Demokratien nur diejenigen, die den moralischen Standpunkt der Würde des Menschen und der Menschenrechte nicht teilen. Die Kritik metaphysischer Theorien hat hierbei eine systematische, aber vor allem historische Berechtigung, insofern eine metaphysisch gesättigte Theorie immer eine Theorie des guten Lebens 66
67
Forst: Die Perspektive der Moral. Grenzen und Möglichkeiten des Kantischen Konstruktivismus in der Ethik, in: Peter Janich (Hg): Naturalismus und Menschenbild. Hamburg 2008, S. 126-137; 134f. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, 118
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transportiert. Für eine liberale Gesellschaft, die nur allgemeine Gerechtigkeitsprinzipien für ansonsten individuell vollständig autonom bestimmte Lebensentwürfe ihrer Bürger kennt, ist eine metaphysische bzw. in jeder Hinsicht philosophisch umfassende Theorie inakzeptabel. Diese Einsicht stellt den zentralen Ausgangspunkt zur Umstrukturierung der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit dar, wie sie in der Theorie des politischen Liberalismus ausgearbeitet wurde. Trotz der starken Parallen zu Habermas Konzept der Autonomie68 und des fehlenden expliziten Bezugs auf die Menschenwürde liefert Rawls dabei der Sache nach eine relevante dritte Auffassung der Menschenwürde – neben der nicht interpretierten These und der Leerformelthese. Eine liberale Demokratie mit ihrem Pluralismus, von zum Teil widerstreitenden ethischen, religiösen und metaphysischen Lehren erfordert für die tragenden Werte, was Rawls ein nicht metaphysisches freistehendes Konzept nennt. Ein solches ist im Unterschied zu den Werten der Bürger und ihren umfassenden Lehren kein metaphysisches, sondern ein politisches.69 Neben der Abgrenzung zu einer metaphysischen Begründung grenzt Rawls den korrespondierenden übergreifenden Konsens ebenso von einer politischen Lösung in einem schlechten Sinne, einem Konsens der verschiedenen, in einer Gesellschaft aktuell vertretenen umfassenden Lehren, ab.70 Ein übergreifender Konsens muss gegenüber beiden freistehend sein: weder metaphysisch, noch im falschen Sinne politisch. Ein freistehendes Konzept, das als übergreifender Konsens verstanden wird, muss dabei jedoch gerade die Stabilität einer Gesellschaft hinsichtlich ihrer zentralen Werte und Verfassungsgrundlagen sicherstellen und folglich anschlussfähig gegenüber vertretenen umfassenden Lehren sein. Dies ist einerseits möglich, da die entsprechenden Werte eben nur einen Teilbereich der Werte, den politischen ausmachen. Andererseits entstammen diese politisch relevanten Werte jener gewachsenen Kultur – inklusive der Tradition philosophischer Lehren –, auf dem eine liberale Demokratie mit 68 69 70
Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992, 13 John Rawls, Justice as Fairness: Political not Metaphysical. In: Philosophy & Public Affairs (1985), 14 (3): 223-251 Rawls, Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, Frankfurt 2006, 287f
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der zentralen Grundidee der gleichen und freien Bürger überhaupt erst entstehen kann. Neben dieser historisch gewachsenen und als solchen nur als kontingent hinzunehmenden und deshalb systematisch unzureichenden Grundlage eines übergreifenden Konsenses steht die politische Konzeption der Person. In dieser schließlich kulminieren die für die Menschenwürdeproblematik zentralen Aspekte der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit. Der Mensch als Bürger und somit hinsichtlich der in Frage stehenden politischen Dimension wird durch zwei moralische Grundvermögen gekennzeichnet: Erstens die Anlage zum Gerechtigkeitssinn, die fairen Prinzipien sozialer Kooperation zu erkennen, anzuwenden und sich von ihnen motivieren zu lassen. Zweitens die Fähigkeit zu einer Vorstellung des Guten, also einer umfassenden Lehre von den Endzielen des Handelns und Lebens, sowie zu deren Revidierung und rationalen Durchsetzung.71 Die entscheidende Differenz zwischen Habermas und Rawls liegt im Unterschied zwischen einer nachmetaphysischen und einer nicht metaphysischen Konzeption. Wie Habermas eine säkularistische Position gleichermaßen für eine weltanschauliche hält, so bedeutet nach Rawls weitem Verständnis von Metaphysik jede Verneinung einer bestimmten Metaphysik, die Bejahung einer anderen.72 Damit bietet Rawls einerseits mit der freistehenden Konzeption für die Anwendung auf die Menschenwürde eine reflektierte und weiterentwickelte Form der nicht interpretierten These. Andererseits aber auch einen möglichen Selbstwiderspruch. Ein freistehendes Konzept muss als politisches und nicht metaphysisches verstanden werden, damit es den beiden voneinander abhängigen Forderungen genügt: eine freistehende Konzeption der Gerechtigkeit zu etablieren und anschlussfähig an eine Vielzahl umfassender Lehren zu sein. Von der Idee her bietet Rawls Lösung zweifelsfrei für liberale Demokratien vor dem Hintergrund des Faktums des Pluralismus einen zielführenden Lösungsansatz. Wie aber soll über die bloße Forderung hinaus, dass es sich bei seiner politischen Konzeption gerade um eine nicht metaphysische handeln muss 71 72
Gerechtigkeit als Fairness, 44; Politischer Liberalismus, 97ff Reply to Habermas. In: The Journal of Philosophy 92.3 (1995), 132-180, Fn 8
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dies erreicht werden, wenn doch nach seiner eigenen Überzeugung jede Ablehnung einer Metaphysik die Bejahung einer anderen bedeutet. Konkret heißt das, dass die Idee einer nicht metaphysischen freistehenden Konzeption selbstwidersprüchlich wird, wenn die politische Konzeption der Person den Menschen nur als freien und gleichen Bürger im Kontext einer autonomen Vernunftmoral sehen kann. Der Mensch, so muss man folgern, ist nur Person und hat nur Rechte, insofern er freier und gleicher Bürger ist.73 Und damit liegt die Konvergenz mit Habermas Ansatz in ihrem gemeinsamen Fehler.74
4. Metaphysikneutrale Menschennatur Eine nachmetaphysische Konzeption der Würde wurde von Habermas selbst – indirekt – als problematisch angesehen, weil sie dem drohenden Naturalismus nichts entgegen zu setzen hat. Rawls nicht metaphysisches, politisches Konzept erscheint als offenerer Lösungsansatz. Allerdings führt seine legitime Einschränkung auf den Bereich des Politischen mit der Bestimmung des Menschen einzig als freiem und gleichem Bürger zur selben Konsequenz, dass Würde nur dem Bürger, nicht schon dem Menschen zukommt. Nicht ohne Grund versteht aber die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte die Würde gerade als dem Menschen „innewohnend“ bzw. „angeboren“. Womit – ohne sich auf eine bestimmte Anthropologie festzulegen – festgehalten werden soll, dass Würde vor der relationalen Zuschreibung im Kontext rechtlicher und moralischer Praxis mit dem Menschsein gegeben ist, obgleich sie der Anerkennung und des Rechtsschutzes bedarf. Deshalb betont die relationale Begründung der Würde richtig: Dass der Mensch sich zum einen entwickelt und dies zum anderen nur in Gemeinschaft mit anderen kann. So elementar Intersubjektivität für das Begreifen des Menschen als Person ist, so wenig kann sie ohne eine vorauszusetzende Subjektivität verstan73
74
Vgl. Rhonheimer, The Political Ethos of Constitutional Democracy and the Place of Natural Law in Public Reason: Rawls‘s „Political Liberalism Revisited“. In: The American Journal of Jurisprudence 50 (2005), S. 1-70. Charles Larmore, The Autonomy of Morality. Cambridge/New York 2008, 139
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den werden.75 Dabei benötigt Würde keine starke Metaphysik. So gilt für den im vierten Jahrhundert vor Christus lebenden, zweitwichtigsten Klassiker des Konfuzianismus, Meng Zi (372-281 v. Chr.), dass „jeder Mensch“ eine ihm angeborene „Würde in sich selbst“76 besitzt. Dabei unterscheidet er auch strikt zwischen Leistungswürde und entsprechender Anerkennung auf Grund von Ämtern und moralischer Würde auf Grund des „Angeborenseins“. Für ihn ist diese Würde bzw. der Wert des Menschen jeder Herrschaftsform vorgängig und zu achten.77 Im Unterschied und in Weiterentwicklung der nicht metaphysischen Konzeption muss daher eine Lösung für die Menschenwürdeproblematik gefunden werden, die ebenfalls nicht metaphysisch ist, weil politisch, jedoch Metaphysik nicht ausschließt, weshalb sie am ehesten als metaphysikneutral bezeichnet werden kann. Ohne in einem starken Sinne metaphysisch zu sein und ohne sich auf eine bestimmte Metaphysik festzulegen, muss eine metaphysikneutrale Konzeption der Menschenwürde gerade den vorpositiven Charakter der Würde und ihr „Angeborensein“ fundieren. Ferner muss eine solche Konzeption in Anlehnung an Martha Nussbaums Capabilities Approach „ein reines Minimum dessen, was der Respekt der menschlichen Würde erfordert“,78 abstecken. Nussbaums mittlerweile insgesamt zehn Grunderfahrungen79 und daraus abgeleiteten Grundbefähigungen des Menschen können als Erläuterung der folgend skizzierten Schlussfolgerungen dienen. Im Unterschied zu dem von ihr vertretenen internen Essentialismus wird der Minimalgehalt einer metaphysikneutralen Menschennatur je-
75 76
77 78 79
Vgl. Larmore, Person und Anerkennung. In DZPhil 46 (1998), S. 459-464 Mong Dsi (Meng Zi), Die menschliche Natur ist gut. In: Lehrgespräche des Meisters Meng K’o. Köln 1982, 163f. Zitiert nach Höffe, Politische Gerechtigkeit, 124. Vgl. Höffe, Politische Gerechtigkeit, 124f. Meng Zi spricht von „Wert“. Martha Nussbaum, Women and Human Development. The Capabilities Approach. Cambridge 2000, 5. Gerechtigkeit oder das gute Leben. Frankfurt/M 1999, 49-59; Frontiers of Justice, Cambridge 2006, 76ff: mortality; human body; capacity for pleasure and pain; sense, imagination and thought; early childhood development; practical reason; affiliation; dependence on and respect for other species and nature; play; (strong) separateness.
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doch nicht empirisch über menschliche Grunderfahrungen, sondern mit Hilfe der Bedingung derselben bestimmt: Erstens: Vernunft und Freiheit als Spezifikum des Menschen und als Kern der Normativität der Menschenwürde und ihrer wechselseitigen Anerkennung: Ohne die Voraussetzung von Vernunft und Freiheit wäre weder die Rationalität moralischer und politischer Argumente gegeben, noch die verantwortliche Urheberschaft von Handlungen, die für ein Rechts- und Staatssystem unabdingbar sind. Gleiches gilt für die Selbstbestimmung. Ohne weitere metaphysische Implikationen und ohne Bezug auf eine daraus resultierende konkrete Ethik sind Vernunft und Freiheit Vermögen jedes Menschen und im vollen Sinne nur des Menschen. Mit Vernunft und Freiheit sind die Prinzipien der Moral gegeben und zur Verwirklichung aufgegeben: a) Tue das Gute, meide das Schlechte; b) Füge niemandem etwas zu, was du nicht erleiden willst. In allgemeinerer Fassung und umgekehrter Reihenfolge, sind dies die beiden Vermögen der politischen Konzeption der Person bei Rawls. Zweitens: Leiblichkeit als Indiz für Vernunft und Freiheit und als Kriterium der Zugehörigkeit zur Spezies Mensch. Wenngleich Menschenwürde ein nicht-biologisches Prinzip ist, das auf Vernunft und Freiheit eines menschlichen Individuums beruht, ist die Anerkennung auf Kriterien angewiesen, die sie verorten lassen. Deshalb ist die biologisch-genetische Zugehörigkeit zur Spezies Mensch als naturale Basis der Menschenwürde anzusetzen, entgegen der Unterscheidung von Menschen und Personen und der Möglichkeit weiterer Diskriminierung. Drittens: Basale Interessen. Als Prinzip der Menschenrechte muss die Menschenwürde mit einem Minimalgehalt basaler Interessen bestimmt werden. Dieser Gedanke hat eine historisch und kulturell übergreifende Tradition. Die Menschenwürde selbst impliziert das Grundinteresse, in der Selbstbestimmung nicht willkürlich eingeschränkt zu werden. Folgende basale Interessen scheinen kultur- und zeitübergreifend als Voraussetzung des eigenen Handelns und der Einschätzung von Fremdhandeln, wie für die Aufstellung grundlegender Rechte vorausgesetzt werden zu müssen. Das unumstrittenste Grundinteresse des Menschen ist a) (Selbst-) Erhaltung, die Sicherstellung der Bedürfnisse der biologisch-
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physischen Integrität, das er im wesentlichen mit empfindungsfähigen Lebewesen teilt. Ein weiteres Grundinteresse des Menschen richtet sich auf b) Entwicklung. Sofern es auf biologische und rudimentär soziale und instrumentelle Sachverhalte bezogen ist, teilt er dies ebenfalls mit anderen Lebewesen. Darüber hinaus bezieht es sich auch auf das spezifische Moment der Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, mit der der Mensch im Unterschied zum Tier seine persönliche und gemeinschaftliche Weltgestaltung vollzieht. Beide genannten Grundinteressen erfordern noch nicht notwendig eine Kooperation mit anderen Menschen, wenngleich diese zur Erfüllung der Interessen dienlich ist. Für die Menschenwürde als Prinzip der Rechtsordnung ist dieser Umstand jedoch relevant. Die neuzeitliche Begründung von Recht und Staat ist wesentlich konfliktorientiert und könnte mit den beiden genannten Grundinteressen bzw. Äquivalenten auskommen. Auch wenn der Konflikt zweifelsohne Auslöser der Rechtsetzung ist, so vermag er das positive Recht nicht alleine zu legitimeren und zu limitieren. Für die stärker kooperationsorientierte griechische Philosophie war deshalb hierfür die soziale Natur des Menschen zusätzliches Maß und Bedingung. Darin auch liegt der tiefere Sinn der aristotelischen Bestimmung des Menschen als πολιτικὸν ξῶον80: das natürliche Interesse des Menschen an einem zwangsfähigen Gemeinwesen.81 Die Ambivalenz von Kooperation und Konflikt hatte Platon auf das Grundinteresse des Menschen an Gütern – das im rechten Maß gut ist, im übertriebenen zu Unrecht führt – zurückgeführt. Otfried Höffe ergänzt dazu, dass Konflikte nicht alleine aus Mangel an Gütern und Dienstleistungen entstehen, auch Neid, Eifersucht und weitere soziale Leidenschaften gefährden das friedliche Zusammenleben: „Nach der Genesis führt der erste Sozialkonflikt zum Mord; und es ist keine wirtschaftliche Not, die Kain dazu treibt, dem Bruder das Leben zu nehmen.“82 Der Konflikt resultiert aus der Nichtrespektierung des anderen. Nach Larmore ist für Rawls und Habermas letztlich auch 80 81 82
Aristoteles, Politik, I 2, 1253 a 2f Höffe, Politische Gerechtigkeit, 225 Ebd., 258
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der Respekt gegenüber anderen Personen das elementarste Prinzip ihrer Systeme:83 Für beide muss folglich die nur durch Gerechtigkeit zu rechtfertigende Existenz des Menschen auf Erden im Respekt gegenüber den anderen wurzeln. Das Existenzinteresse des Menschen wäre somit an das Interesse an gegenseitiger Anerkennung der Würde gekoppelt. In diesem Sinne bedarf es schließlich eines weiteren Grundinteresses des Menschen. Komplementär zur Achtung der Würde des anderen zielt es darauf, selbst als Mensch und Person, als freies und vernünftiges Selbstsein geachtet zu werden. Der Mensch hat somit c) ein Grundinteresse an personaler Anerkennung. Dieses ist zentrales Element der menschlichen Sozialnatur, seiner Verwiesenheit und Selbsttranszendierung auf den anderen hin. Gleichzeitig ist es in seinem basalen Charakter offen für die Ambivalenz menschlichen Handelns in seiner faktischen Freiheit: Einerseits dem moralischen und rechtlichen Appell zur Respektierung der Würde eines jeden anderen – ausgehend von und im Einklang mit dem eigenen Interesse an Anerkennung als Person – vollumfänglich entsprechen zu können; anderseits die Möglichkeit der Missachtung dieser Würde, der Instrumentalisierung des anderen zu eigenen Zwecken und der Realisierung alternativer Formen der Anerkennung offen zu lassen. Es liegt an der Wurzel von Konflikt einerseits und von Kooperation andererseits und ist Bedingung für die Befähigung und Motivation, dem Appell zur Achtung der Würde des anderen zu entsprechen. Naturrechtliches Denken rekurriert immer auf eine universelle Menschennatur, als vorpositivem und kritischem Korrektiv des Rechts. Es verweist auf minimale, aber grundlegende moralische Wahrheiten, sofern das Recht die existentiell-moralische Dimension des Menschseins berührt.
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Larmore, The Autonomy of Morality, 143, 148
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Christoph Böhr
Das Recht schützt uns! Wer aber schützt das Recht? Zum Begriff der Würde: Letztbegründung als Selbstbezeugung In vier Schritten soll der in der Überschrift gestellten Frage nachgegangen werden: Wer schützt eigentlich das Recht, beispielsweise angesichts der vielfältigen Bedrohungen, die sich gern in das ansehnliche Gewand einer vermeintlich zeitgemäßen Deutung dieses Rechtes kleiden? Wer entscheidet am Ende, was rechtens und was Recht ist? Und schließlich: Findet sich das, was rechtens ist, auch im Recht wieder? Schon die Sophisten waren versucht, diesen Unterschied zu bestreiten: Rechtens sollte sein, was das Recht in seiner geltenden Fassung vorgibt und von den Starken gegen die Schwachen zu eigenem Nutzen durchgesetzt wird.1 Ist also das Recht am Ende nicht mehr und nicht weniger als das Gesetz derjenigen, die Macht haben? Oder ist die Unterscheidung zwischen Legitimität und Legalität, von Carl Schmitt in einem freilich anderen Zusammenhang eingeführt2 , am Ende vielleicht doch sinnvoll? 1
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Um diese Frage geht es in der Auseinandersetzung zwischen Sokrates und Thrasymachos; vgl. dazu Platon, Politeia, 336 b ff.; Sokrates widerspricht der Behauptung, als rechtens solle gelten, was dem eigenen Nutzen dient, unter anderem mit zwei Hinweisen: Ziel einer jeden Kunstfertigkeit – der des Schuhmachers, des Baumeisters oder des Herrschers – sei die Bewerkstelligung des Gegenstandes, auf den die Kunstfertigkeit abzielt – der Schuh, das Haus, die Herrschaft -, und nicht der Nutzen, der dem Hersteller und Erzeuger zufällt; zudem verweist Sokrates auf die Unfähigkeit des Menschen, ausreichend genau zu wissen, was ihm tatsächlich zum Nutzen gereicht, er also aufgrund dieses Nichtwissens gar nicht sagen kann, was ihm zum Nutzen (oder zum Schaden) ist, weil kein Mensch in der Lage ist, die Folgen seines Tuns hinlänglich ab- und einschätzen zu können. Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, Berlin 1932, beklagte im Blick auf diese Unterscheidung die innere Widersprüchlichkeit der Weimarer
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Im Folgenden werden zunächst (1) die Quellen der Rechtschöpfung beleuchtet, sodann wird auf den (2) Fluchtpunkt jeder Rechtssetzung eingegangen, der (3) Widerstreit zwischen Normativität und Faktizität erörtert, um schließlich (4) auf die Frage der Konstitution des Rechts in der sich selbst bestimmenden Gesellschaft – die Selbstbezeugung der Würde als Letztbegründung des Rechts – zu sprechen zu kommen.
1. Quellen der Rechtschöpfung Im Kern geht es, wenn von den Quellen der Rechtschöpfung die Rede ist, um die alles entscheidende Frage, die am Beginn jeden Nachdenkens über das Recht steht: Was ist richtig – und was ist falsch? Anders gefragt: Was ist gut – und was ist schlecht? Diese Frage, die für sich genommen schon schwierig genug zu beantworten ist, weil sie, unter sozialethischen Gesichtspunkten, unter der Maßgabe ausnahmsloser Verbindlichkeit feststellen muß, was alle Menschen für gut und für schlecht zu halten haben, wenn der Rechtsfriede erhalten bleiben soll, führt zur Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität – eine wiederum für sich schwierige Unterscheidung, weil bei aller offenkundigen Notwendigkeit dieser Differenzierung ebenso offenkundig eine innere, sachliche Verbindung besteht zwischen dem einen, was als moralisch gilt, und dem anderen, was als legal betrachtet wird. Das moralische Substrat der Ethik, also das, was von der Moral übrig bleibt, wenn sie in rebus politicis allgemeinverbindlich zur Wirkung gebracht werden soll, findet Eingang in die Bestimmung der Legalität. Dabei handelt es sich auf den ersten Blick um jene gemeinsame Schnittmenge, die – im Bild gesprochen – entsteht, wenn die moralischen Überzeugungen der Vielen zusammengebracht werden, um in ihren wechselseitigen Überlappungen festzustellen, was gilt. Die Positivierung der Moral zur Ethik der Legalität scheint demnach zunächst kein Absolutes anzuerkennen. Wenn sich die Moral der Vielen änReichsverfassung, wenn er, ebd., S. 48, feststellt: Man kann nicht bestimmte Rechtsgüter „feierlich unter den Schutz der Verfassung stellen und in ein und derselben Verfassung die legale Methode ihrer Beseitigung offerieren.“
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dert, dann verändert sich in der freiheitlichen Gesellschaft, wie man meinen könnte, unter den Bedingungen dieser Regel, nach der die Ethik der Legalität festzustellen und zu beschreiben ist, eben auch das moralische Substrat, das seiner inhaltlichen Bestimmung nach und unter den Vorzeichen allgemeiner Verbindlichkeit den moral content einer Gesellschaft, also ihre grundlegenden Überzeugungen, ihre innere Verfasstheit und ihre handlungsleitenden Regeln, beschreibt – und als solche Eingang findet in die Legalitätsdefinition des Verfassungsstaates. Wenn dem tatsächlich so wäre, dann erschiene der Verfassungsstaat in der Sicht des Ethikers lediglich als ein positivistisches Konstrukt, das keinen Anspruch auf Legitimität erheben kann. Denn der Ethiker kann, will er seine Profession nicht an den Nagel hängen, niemals aufhören, danach zu fragen, was denn eigentlich gelten soll – gerade auch dann, wenn das, was seiner Meinung nach (normativ) gelten soll, eben einmal (empirisch) nicht gilt, wenn also der Begründungsfall ethischer Maximen als der Ernstfall ethischer Reflexion eintritt. Folglich sucht er nach einem begründenden Rahmen, innerhalb dessen die so begründete – legitimierte – Legalität aufgespannt werden kann: Legitimität – als die Rechtfertigung des Gebotenen jenseits dessen positivierter Geltung – dürfen nämlich nur solche Regeln für sich beanspruchen, die sich im Bezugsfeld gültiger ethischer Überzeugungen finden lassen. Diesem Sinnverständnis folgend, lässt sich im Recht das säkulare Ethos einer freiheitlichen Gesellschaft erkennen: das durch Rechtsetzung verbindlich gemachte Substrat moralischer Überzeugungen, soweit diese die Entwicklung des Selbstverständnisses einer Gesellschaft berühren, also den Anspruch nicht nur subjektiver Gültigkeit, sondern intersubjektiver Geltung erheben. In den letzten sechs Jahrzehnten hat der Verfassungsstaat westlicher Prägung eine Lösung dieser Schwierigkeit gefunden, die – kaum dass sie gefunden war – heute schon wieder in Frage gestellt wird. Das ist, wie sich am Ende zeigen wird, weder verwunderlich noch bedrohlich. Diese Antwort, die der Verfassungsstaat auf die Frage nach der Gültigkeit alles Geltenden gibt, ist eine in und aus der Anthropologie gefundene Antwort auf die Frage nach der Legitimität der Legalität: Der Verfassungsstaat heute konstituiert sich anthropologisch und
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spannt auf diese Weise eben jenen Rahmen, innerhalb dessen sich die Legitimität entfaltet, um den Anspruch der Legitimität zu begründen. In der sich selbst verpflichtenden Bezugnahme auf den Menschen bestimmt der Verfassungsstaat seinen Auftrag als seine Rechtmäßigkeit: Das Recht hat die Aufgabe, der Würde des Menschen einen nachhaltigen, verlässlichen Schutz zu gewährleisten. Nun steht in Artikel 1 der deutschen Verfassung noch weit mehr, als hier bisher zum Ausdruck gebracht wurde. Denn die Würde des Menschen wird in diesem ersten Satz näherhin als unantastbare Würde bestimmt, deren Schutz mithin uneingeschränkt zu erfolgen hat, weil er als uneinschränkbar allen anderen Verfassungssätzen vorausgeschickt wird. Es ist dieses Bekenntnis zum Menschen – ein uneingeschränktes Bekenntnis zu seinem uneinschränkbaren Schutz3 – , das unverhohlen schon in der Wortwahl seiner Beschreibung des der Verfassung vorangestellten Bekenntnisses zum Menschen den Anspruch des Absoluten stellt. Dieser Anspruch ist unter den Bedingungen des politischen Pluralismus wiederum etwas Unerhörtes, weil er doch dem pluralistischen Paradigma vorauszugehen sich anmaßt, diesem Paradigma enthoben zu sein behauptet und somit das Paradigma selbst gleichermaßen konditioniert und konstituiert. Dass diese Behauptung immer wieder Empörung hervorruft, weil sie beispielsweise auch aller politisch-parlamentarischen Disposition auf alle Ewigkeit enthoben ist, liegt auf der Hand. Das Recht also hat, so jedenfalls bestimmt es das deutsche Grundgesetz, zur Aufgabe, den Menschen zu schützen, sofern und soweit er Würde hat.4 Dass er Würde hat, setzt der Verfassungsstaat voraus. Wie sie im jeweiligen Einzelfall zu schützen ist, ist im politischen Prozess und im Rahmen des pluralistischen Paradigmas zu klären: unter der Bedingung allerdings, dass die Ergebnisse dieses Prozesses nicht hinter dem der Un3
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Vgl. dazu die eindrucksvolle Nobelpreisrede von Herta Müller, „Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8. Dezember 2009. Im Mittelpunkt dieser Rede Müllers steht die Frage, was es bedeutet, daß ein Mensch Würde hat. Vgl. Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung. Zur Dogmatik des Art. 1 GG, Tübingen 1997.
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antastbarkeit der Würde entsprechenden uneingeschränkten Schutz zurückbleiben. Der Pluralismus findet demnach seine Grenze dort, wo der Anspruch des Absoluten beginnt. Und dieser Anspruch, der, wenn er erst einmal erhoben ist, zum letzten, nicht mehr hintergehbaren Bezugspunkt gerät, wird anthropologisch bestimmt: Das Absolute findet sich im Menschen selbst, der zugleich Schöpfer und Urheber, Gegenstand und Ziel der Verfassung ist, deren Zweck es jetzt wird, ihren Schöpfer und Urheber bedingungslos zu schützen, weil er, als Mensch, geltend macht, den Anspruch des Absoluten, unter den er sich stellt, als ein Anrecht wirksam werden zu lassen: ein Anrecht auf Schutz seiner Würde.
Wie lässt sich diese Argumentationsfigur begründen? Eine Begründung dieser Grundregel ist nur möglich unter Bezug auf den Gegenstand, der durch die Regel im Sinne eines gebotenen Sollens unter Schutz gestellt wird: der Mensch nämlich. Warum hat der Mensch diesen Schutz verdient? Weil er es selbst ist, der diese Regel begründet. Das aber heißt: Der Regel, den Menschen zu schützen, insofern und soweit er Würde5 hat, geht ein Menschenbild begründend voraus, das materialiter in einer Weise bestimmt ist, die formaliter eine Regel zum unbedingten Schutz der eigenen Gattung erzwingt. Damit wird vorausgesetzt, dass dem Menschen ein doppeltes Recht zukommt: Das gar nicht so selbstverständliche Recht auf Schutz seiner Würde – und das nicht minder selbstverständliche Recht, diesen Schutz als die erste aller Verfassungsregeln uneingeschränkt und bedingungslos als sein zeitloses Anrecht einzufordern. Im Blick auf dieses doppelte Recht – von dem, wie schon angedeutet, im Verfassungsrecht gerade einmal seit sechs Jahrzehnten die Rede ist – spreche ich von der Anthropozentrik jener Verfassungsordnung, die den bedingungslosen Schutz der Würde ausnahmslos jedes Menschen zu ihrem Telos be5
Zum geschichtlichen und sachlichen Hintergrund des Begriffs vgl. die maßgebliche Untersuchung von Mette Lebech, On the Problem of Human Dignity. A Hermeneutical and Phenomenological Investigation, Würzburg 2009.
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stimmt. Folgerichtig erklärt sie den Menschen zum Zweck ihrer Konstitution. Dieser Zweck, der Mensch, aber kann, da ihm die Verfassung eine unbedingte, unantastbare Würde zuerkennt, nicht zugleich bloß Mittel zu anderen Zwecken sein, sondern nur Zweck an sich. So jedenfalls stellt es unsere Verfassung fest. Ob sich der Sachverhalt tatsächlich so verhält, wird im Folgenden zu erörtern sein. Wie streitig diese Sichtweise heute – schon wieder – ist, zeigt ein beliebiger Blick in die Tageszeitung. Und in der Tat liegt der Streit auf der Hand: Denn der hier erläuterten Deutung von Artikel 1, Satz 1, der deutschen Verfassung entspricht ein Menschenbild, das in unserer Gesellschaft wie darüber hinaus alles andere als unstreitig ist. Im Kern, soviel sei festgehalten, geht es also um ein Menschenbild, von dem ich behaupte, dass es allein jene freiheitssichernde Bedeutung entfalten kann, die der Begriff der Würde zu gewährleisten nur dann im Stande ist, wenn seine Bezugnahme auf ein Absolutes nicht in Frage gestellt wird. So gesehen, zeigt sich, dass die Frage nach dem Schutz des Rechtes eben keine nur juristische, sondern in vielleicht noch höherem Maße eine philosophische Frage ist: Es geht darum, was durch das Recht geschützt werden soll, also um die Frage nach dem Bild vom Menschen, die als Frage jeder Antwort auf die Frage nach Gegenstand und Bedeutung des Rechtes vorausgeht.
2. Rechtsetzung und ihr Fluchtpunkt Der Fluchtpunkt der Rechtssetzung, wie er sich aus dem bisher Gesagten beschreiben lässt, ist nach dieser hier bekräftigten Auffassung von der Gültigkeit des Rechts das Bekenntnis zur Würde des Menschen – also eine confessio, keine demonstratio. Im geschichtlichen Rückblick waren diesem Bekenntnis andere Festsetzungen vorangegangen, die zur Ursache unendlich leidvoller Erfahrungen wurden: nämlich die Bestimmung dessen, was Recht ist, zum Beispiel nach dem Merkmal der Zugehörigkeit zu einer Rasse, einer Klasse oder der Hautfarbe – um nur drei Beispiele aus der Geschichte des zurückliegenden Jahrhunderts der totalitären Verirrungen zu nennen. Entsprechend dieser Merkmale sind Menschen unterschiedlich
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bewertet – und rechtlich gewürdigt – worden. Von einer solchen Festsetzung gingen beispielsweise die Nürnberger Gesetze aus, die auf der Annahme beruhten, dass eine bestimmte Rasse wertvoller sei als alle anderen. Diese, auf eine Differenzierung des Rechtsanspruchs zielende Argumentationsfigur – im vorliegenden Fall die Fiktion des Herrenmenschen – findet sich im geschichtlichen Rückblick vielerorts in vergleichbarer Weise. Sie verbindet sich mit einem Wahrheitsanspruch, der nicht den Menschen anerkennt, wie er geht und steht, sondern den Begriff des Menschen in seiner rechtlichen Würdigung abhängig macht von bestimmten Merkmalen – beispielsweise seiner Glaubensüberzeugung, Rasse oder Hautfarbe. Wo immer der Mensch erst dann zum Menschen wird, wenn er bestimmte – äußerliche oder innerliche – Merkmale an sich trägt – als geborener Mensch, als Mensch, der einer bestimmte Rasse angehört oder einer besonderen Glaubensüberzeugung folgt –, muss seine rechtliche Würdigung Abstufungen vornehmen, sprich: müssen Menschen über Menschen entscheiden, auf welcher Stufe der Leiter rechtlicher Schutzbestimmungen der je Einzelne stehen darf. Verdient ein solches Unterfangen noch unter den Begriff des Rechtes gestellt zu werden? Beantwortet man die Frage empirisch-historisch, muss man sie zweifellos bejahen. Denn – um beim oben genannten Beispiel zu bleiben – viele Rechtsgelehrte haben die Nürnberger Gesetze seinerzeit nicht als einen Widerspruch zum ‚Recht‘ verstanden. Geht man der Frage hingegen normativ-systematisch nach, wird man sie mit aller Klarheit verneinen müssen. Denn Recht ist, was rechtens ist. Und was rechtens ist, muss in seiner Bestimmung allem menschlichen Handeln jederzeit und ausnahmslos vorausgehen, ist allem Handeln also vorgegeben und damit der beliebigen Verfügbarkeit durch Dritte entzogen – was aber nichts anderes heißt, als dass es Recht von Natur6 aus, also von allem Anfang her ist: 6
Zur historischen und systematischen Entfaltung des Naturrechtsdenkens vgl. die auf lange Zeit maßgebliche Untersuchung von Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789 – 1965), Paderborn u.a. 2005.
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ein Sollen, das ohne menschliches Zutun Recht ist und als Recht auch ohne ausdrückliche Inkraftsetzung zu gelten hat – und zwar allein kraft eigener, vernünftig ausgewiesener Autorität. Nun waren, wie wir wissen, die Mütter und Väter unserer Verfassung in ihrer großen Mehrheit davon überzeugt, dass es ein Recht von Natur her gibt.7 Diese Überzeugung ist jedoch heute, nach sechs Jahrzehnten, stark erschüttert. Wir sind schwer davon zu überzeugen, dass es ein Recht gibt, das allein aus eigener Geltung ein Sollen fordert, ohne durch unser Zutun erst einmal in Kraft gesetzt worden zu sein. Und wir sind – schwieriger noch – seitdem aufmerksam geworden auf einen Fehlschluss unseres Denkens, der vielleicht allzu schnell vom Sein auf ein Sollen8 schließt. Was den ersten Einwand anbelangt, wird noch darüber zu sprechen sein, ob es zulässig ist, ein im Sein gründendes Sollen9 anzuerkennen, welches nicht erst dank der Inkraftsetzung durch menschliche Entscheidung – beispielsweise einer parlamentarischen Majorität – zu einem Recht wurde. Der zweite Einwand, der auf den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses abhebt, ist von nicht minder großem Gewicht. Allerdings hat die philosophische Debatte gerade der letzten beiden Jahrzehnte ergeben, dass dieser Vorwurf seinerseits sich einen Vorwurf gefallen lassen muss: dass er nämlich in der Annahme, zwischen Tatsachenurteilen und Werturteilen liege eine nicht überbrückbare Kluft, den Menschen in seiner tagtäglichen Entscheidungsnot im Stich lässt. Wenn es praktische Rationalität geben soll, dann bedarf es einer Begründung des Guten, als ei7
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Vgl. beispielhaft Adolf Süsterhenn, Schriften zum Natur-, Staats- und Verfassungsrecht, hg. v. Peter Bucher, Mainz 1991. Süsterhenn war Stellvertretender Vorsitzender der Fraktion der CDU im Parlamentarischen Rat und der Wortführer der Naturrechtsdenker in den Beratungen zum Grundgesetz. Weiterführend vgl. besonders: Die Normativität des Wirklichen. Über die Grenze zwischen Sein und Sollen. Robert Spaemann zum 75. Geburtstag, hg. v. Thomas Buchheim, Rolf Schönberger u. Walter Schweidler, Stuttgart 2002. Vgl. dazu die grundlegende Arbeit von Martin Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral. Die personale Struktur des Naturgesetzes bei Thomas von Aquin: Eine Auseinandersetzung mit autonomer und teleologischer Ethik, Innsbruck 1987.
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ner, wie Philippa Foot es nennt, „natural goodness“10 , von der wir dann sprechen können, wenn der Mensch so ist, wie er zu sein hat. Es gibt Handlungsweisen, die mit der menschlichen Lebensform unvereinbar und deshalb immer schlecht sind, was nichts anderes heißt, als dass es etwas gibt, das von Natur aus – also auch ohne ausdrückliche Ermächtigung durch menschliches Zutun – von vorne herein gut oder eben schlecht ist. Anders lässt sich praktische Rationalität von ihrem Ausgang im Denken nicht begründen. Weil aber menschliches Denken irgendwo seinen Ausgangspunkt finden muss, ist dem Naturrecht in den letzten Jahren – und sei es in der Form einer axiomatischen Hypothese – eine unübersehbare Wiedergutmachung zuteil geworden, übrigens noch bevor uns die neurobiologische und epigenetische Forschung auf ihre Spur gesetzt hat, die ‚Natur‘ des Menschen nicht nur als dessen Güte – im Sinne seiner ‚natural goodness‘ – zu bestimmen, sondern auch in seiner Fähigkeit zu sehen, sich entscheiden zu können11: Ein Mensch hat mithin keine Möglichkeit, der Aufgabe auszuweichen, Herr seines Lebens zu sein. Also bedarf es eines Nachdenkens über das, was gut und schlecht ist, eines Nachdenkens, von dem wir heute – wie früher – erwarten, dass es in den Blick nimmt, was ist. Ein Urteil über das, was sein soll, kann nicht sinnvoll gefällt werden, ohne zuvor gefragt zu haben, was ist. Damit aber gründet das Denken über alles Sollen in einem Urteil über das Sein. Auch wenn man das Naturrecht, das eben diese Brücke vom Sein zum Sollen bauen will, nicht more geometrico für beweisbar hält, wie das die Naturrechtsdenker bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts noch annehmen konnten, so verhindert doch auch schon seine Präsumption jeglichen Versuch der Rechtfertigung einer umfassenden Disponibilität des Menschen. Dabei muss man gar nicht das naturrechtliche Verständnis des Menschen als creatio Dei teilen. Selbst unter Absehung von der Kreatürlichkeit des Menschen setzt die Annahme einer Korrespondenz von Sein 10 11
Philippa Foot, Die Natur des Guten, Frankfurt am M. 2004, S. 42. Peter Spork, Der zweite Code. Epigenetik – oder wie wir unser Erbgut steuern können, Rowohlt 2009; vgl. dazu: Christoph Böhr, Der alte Streit von Geist und Materie – neu gelöst?, in: Die Tagespost v. 22. Oktober 2009.
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und Sollen eine Grenze in beide Richtungen: Das Sollen kann sich nicht gegen das Sein richten, wie sich das Sein nicht der Frage nach einem Sollen verschließen kann. Ohne die vielleicht nur plausible Annahme dieser korrespondierenden Beziehung von Sein und Sollen jedenfalls ist die Gefahr groß, beide gegeneinander auszuspielen – und damit der Disponibilität des Menschen Tür und Tor zu öffnen. Zweifellos hat in der Vergangenheit, zuletzt in den Terrorregimen des 20. Jahrhunderts, die Zurückweisung naturrechtlichen Denkens mit einen Weg bereitet, an dessen Ende der Mensch in den Dienst einer vermeintlich guten Sache gezwungen wurde: als Mittel zum Zweck für jene Ziele, die als die höhere Wahrheit ausgegeben wurden. Ihnen ist bedenkenlos das geopfert worden, wofür das Naturrecht gerade Schutz fordert: die Würde und die Freiheit des Individuums sowie die Entfaltung einer vielgestaltig institutionalisierten individuellen wie sozialen Souveränität und Autonomie, die ihren Ausdruck finden in gesellschaftlichen Einrichtungen wie der Familie, den Erziehungsbefugnissen oder dem Verbandswesen mit allen ihnen zukommenden Zuständigkeiten. Sie alle besitzen subsidiär ein Recht auf Schutz, mehr noch, ein Recht auf Unterstützung.
3. Im Widerstreit von Normativität und Faktizität Gerade das letztgenannte Beispiel verweist auf den Bedeutungsunterschied von Gesetzesstaat und Rechtsstaat12 . Wer sorgt dafür, dass die Gesetze im Staat dem Recht entsprechen? Grundlegender: Wer bestimmt – und auf welche Weise –, was verbindlich rechtens sein soll? Alles in allem scheint die Beantwortung dieser Frage im demokratischen Staat einem fließenden Wechselspiel der Kräfte zwischen Gesellschaft, Gesetzgebung und Rechtspflege ausgesetzt. Sie erfolgt in gegenseitiger Beeinflussung, wird vermittelt durch die öffentliche Meinung und ist in ihren Ergebnissen offen. Das macht die Anpassungsfähigkeit der Demokratie aus, 12
Der Begriff findet hier Verwendung dem Sinn nach, wie ihn das Grundgesetz in Art. 2 und Art. 28 bestimmt.
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und kann doch zugleich zu ihrer Gefährdung werden. Aus diesem Grund ist die unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit die Lebensader jeder freiheitlichen Ordnung: Sie vermittelt Rechtsbewusstsein, Lebenswelt und Rechtsordnung miteinander im Blick auf die Bestimmung des Rechts. Wo die Politik außer Tritt gerät, weil sie unter dem Druck mehrheitlicher Veränderungserwartungen steht, und deshalb Gefahr läuft, diesen Erwartungen zu sehr oder zu wenig zu folgen, ist die Verfassungsgerichtsbarkeit am Zuge: In der Vermittlung zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und rechtlicher Deutung. Der Maßstab der Verfassungsgerichtsbarkeit ist die Verfassungsordnung selbst – ihre Bezugnahme auf das, was rechtens ist, und ihre Regeln zur Durchsetzung des Rechtes. Wo die Politik ihre Hilflosigkeit eingestehen muss, wird die Sicherung des Rechtsfriedens in die Hände der Verfassungsrichter gelegt, die gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche eine überragende Bedeutung für die Entwicklung eines Gemeinwesens haben, wenn es darum geht, die Ansprüche von Geltung und Gültigkeit des Rechts in Übereinstimmung zu bringen. Was also, so muss man fragen, ist der Maßstab, mit dessen Hilfe eine solche Übereinstimmung gefunden wird? Welcher Richtung folgt das Bemühen von Gesetzgeber, Rechtspflege und Verfassungsgerichtsbarkeit, wenn es darum geht, die Balance zu finden zwischen den Ansprüchen von Geltung und Gültigkeit? Oder ist am Ende die freiheitliche Gesellschaft doch eine Einladung zur Willkür, selbst auf die Gefahr hin, dass, was rechtens ist, unter die Räder kommt. Welche Wahrheit erkennt die freiheitliche Gesellschaft als ihre eigene, ihr unmittelbar zugehörige und sie beatmende Wahrheit? Die Suche nach dieser Wahrheit muss ein Ergebnis finden, das den Rahmen der freiheitlichen Gesellschaft zuallererst selbst aufspannt. Denn es gibt nichts, was unter den Bedingungen der Freiheit nicht der Verfügbarkeit preisgegeben wäre – außer dem, was die Freiheit als Freiheit begründet. Was also begründet die freiheitliche Gesellschaft und kann nicht preisgegeben werden, ohne damit zugleich die freiheitliche Gesellschaft selbst preiszugeben? Die Antwort auf diese Frage haben die Mütter und Väter der deutschen Verfassung mit dem allerersten Satz des Grundge-
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setzes gegeben: Die Würde des Menschen ist unantastbar. In diesem Satz – dem Bekenntnis zur unantastbaren Würde ausnahmslos jedes Menschen – findet sich die Wahrheit, durch die eine freiheitliche Verfassungsordnung, innerhalb derer eine Gesellschaft sich selbst frei bestimmt, zuallererst in Kraft gesetzt ist. Diese Wahrheit wird in der Verfassung – und dem sie begründenden Denken – anthropologisch, ja anthropozentrisch bestimmt: Das alleinige Fundament des Verfassungsstaates, seine Wahrheit, findet sich in der Freiheit seines Schöpfers, des Menschen. Es sind also die Deutung und die Auslegung dieses Satzes, genauer: die Art und Weise der Entfaltung des Verständnisses menschlicher Würde, von der Wohl und Wehe einer freiheitlichen Gesellschaft im Sinne ihres dauerhaften Gelingens abhängen. Dieser Satz bedarf der Erläuterung. Denn seinem Sinn nach versteht er den Begriff der unantastbaren Würde als Telos einer freiheitlichen Ordnung – ein Telos freilich, das die Gesellschaft wenn sie sich als freie verstehen will, sich selbst vorzugeben13 gehalten ist: ein Menschenbild, das nicht aufgegeben werden kann, wenn die Gesellschaft entschlossen bleibt, nicht den einzigen Grund ihrer Selbstgründung und Selbstbestimmung aufzugeben. Kann es also sein, dass eine freiheitliche Gesellschaft aus sich heraus Bestand und Beständigkeit entwickelt? Ich meine, wir müssen einen Weg finden, diese Frage bejahen zu können, auch wenn die herrschende Meinung in den Rechts- und Geisteswissenschaften eher zu einer Verneinung neigt. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung nimmt es nicht wunder, dass in allen freiheitlichen Gesellschaft – die immer und vorrangig dissentierende Gesellschaften sind – weltweit 13
Als Programmidee am Beginn der Neuzeit findet sich dieser Gedanke bei Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, 1496, hg. v. Herbert Werner Rüssel, Zürich 1988, S. 11: Dem Menschen ist „es gegeben, das zu haben, was er wünscht, und das zu sein, was er will.“ Pico hat diesem Satz eine Deutung des Menschen durch seinen Schöpfer vorausgeschickt, gleichsam als theologische Legitimation seiner philosophischen Anthropologie: Der Mensch ist weder als Himmlischer noch als Irdischer, weder als Sterblicher noch als Unsterblicher geschaffen, damit er selbst die Form bestimmt, in der er zu leben wünscht. Picos Bestimmung menschlicher Würde erklärt auch, warum niemandem die Würde, sich selbst zu bestimmen, genommen, sie schlimmstenfalls nur selbst verfehlt werden kann.
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über die Bedeutung des Begriffs der Würde gestritten, manchmal gar erbittert gekämpft wird. Ausgetragen wird diese Auseinandersetzung zwischen zwei Lagern: demjenigen, das dem Begriff der Würde in seiner sachlichen Bedeutung eine Teilhabe am Absoluten zuerkennt, und dem anderen, das in diesem Begriff keinen Widerspruch zum Relativismus zu sehen vermag. Je nach Verständnisweise kann der Begriff nämlich sehr Unterschiedliches bezeichnen, selbst dann, wenn ihm das bestimmende Beiwort der Unantastbarkeit zugefügt wird. So beziehen sich Befürworter und Gegner geradezu gegensätzlicher politischer Programme auf eben diesen und denselben Begriff. Das legt die begründete Vermutung nahe, dass es im Kampf um den Begriff in Wahrheit um die Frage nach dem Selbstverständnis freiheitlicher Gesellschaften schlechthin geht. Die Befürworter eines relativen Begriffsverständnisses verweisen vor allem auf seine Herkunft, die ihnen Anlass ist, den Begriff zu historisieren – als Hinterlassenschaft eines vormaligen naturrechtlichen Denkens, das sich seinerzeit selbst als unmittelbare Antwort auf die Rechtsbeugung im Dritten Reich verstanden hat. Jede Verfassung hat ihren geschichtlichen Ort, auf den diejenigen verweisen, die für ein angeblich zeitgemäßes Verständnis dieses Begriffs werben – ein Verständnis, das Deutungsspielräume eröffnet, indem eine gesellschaftliche Mehrheit festzulegen befugt ist, was hier und heute unter Würde zu verstehen ist. Dieser Anpassung an die heutigen Zeiterfordernisse folgend, wird beispielsweise der Suizid des Todkranken Ausdruck – ja vielleicht Gebot – seiner Würde, weil er ein ausdrücklich dann so genanntes ,menschenwürdiges‘ Sterben möglich macht. Andere naturalisieren den Begriff der Würde, wie das eine Minderheit der Hirnforscher tut, die ihm die Anerkennung seiner Realität verweigern, indem sie geltend machen, das Bewusstsein des freien Willens, ohne den der Begriff der unantastbaren Würde als begründender Gedanke einer freiheitlichen Gesellschaft in sich selbst zusammenfällt, beruhe auf einer unterstellten Täuschung des Ich durch sein Gehirn. Versuche, den Begriff der Würde zu historisieren oder naturalistisch zu deuten, finden sich heute in Hülle und Fülle. Diesen Versuchen widerstreitet ein Begriffsverständnis, das unter Würde – anders als die von ihr abgeleiteten Rechte, die oft
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genug gegeneinander abgewogen und miteinander vereinbart werden müssen – die Teilhabe des Menschen am Unbedingten schon innerhalb der Grenzen seiner Endlichkeit begreift. In diesem Sinne ist der Mensch Kreuzungspunkt eines Denkens, das einerseits in den Grenzen der Endlichkeit gefangen bleibt, andererseits aber auf Schritt und Tritt über diese Grenzen hinausstrebt und, getrieben von einer unstillbaren Sehnsucht nach Unendlichkeit, zwar immer der Welt des Bedingten verhaftet bleibt, gleichwohl jedoch die Ahnung des Unbedingten gewisslich in sich trägt. Immanuel Kant hat diese Grundanlage des Menschen, die ihm zu einer Grundbefindlichkeit seines Lebens wird, in einem schönen und treffenden Bild zum Ausdruck gebracht: „Wenn wir die Natur als den Continent unserer Erkenntnisse ansehen, und unsere Vernunft in der Bestimmung der Grenzen derselben besteht, so können wir diese nicht anders erkennen, als sofern wir das, was die Grenzen macht, den Ocean, der sie begrenzt, mit dazu nehmen, davon wir aber nur noch die Ufer erkennen, nämlich Gott und die andere Welt, die notwendig als Grenzen der Natur betrachtet werden, obzwar von ihnen unterschieden und für uns unbekannt.“14 Folgt man dieser Anthropologie, die der Natur des Menschen über die Bestimmung der Möglichkeiten seiner Erkenntnis Kontur verleiht, dann bringt der Begriff der Würde eben diese Fähigkeit, über die Grenzen seiner sinnlichen Wahrnehmung hinauszublicken können, zur Geltung: Als Mensch hat ein Mensch Anteil – wenn auch nur in seinen Ahnungen und seinem Glauben, oder, wie Kant sagt: in der Erkenntnis des Ufers unserer Vernunft – am Unbedingten, am Absoluten. Es ist dieser – und nicht der historisierte oder naturalistisch gedeutete – Begriff von Würde, der die metaphysische Wahrheit, die sich im Recht als Ausweis nicht nur von Geltung, sondern auch von Gültigkeit ausdrückt, als eine anthropologische Wahrheit bestimmt – und zwar nicht, wie diesem Satz von seinen Gegnern gerne unterstellt wird, im Sinne einer Ableitung der anthropologischen von der metaphysischen Wahrheit, sondern im Sin14
Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie. Aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen, hg. v. Benno Erdmann, Leipzig 1882, 1884, neu hg. v. Norbert Hinske, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, Refl. 1733, S. 822.
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ne einer Ablösung: An die Stelle einer metaphysischen tritt die anthropologische Wahrheit. Sie allein – und nur sie -kann jene Anthropozentrik 15 begründen, die wir voraussetzen müssen, wenn die freiheitliche Gesellschaft nicht als Deduktion16 (von einer höheren Wahrheit), sondern als Konstitution (ihrer selbst) – einer in allen Fragen sich selbst bestimmenden Gesellschaft – verstanden werden soll, mit Ausnahme eben jenes einzigen, sie in ihren Rechten überhaupt erst begründenden Bekenntnisses zur unantastbaren Würde. Weil sich hier die alleinige Ausnahme vom ansonsten in jeder Hinsicht dissentierenden Selbstverständnis einer freiheitlichen Gesellschaft findet, kann der Begriff der Würde nicht historisch oder naturalistisch relativiert werden, ohne dass der perspektivische Punkt einer sich aus sich selbst begründenden gesellschaftlichen Freiheit verloren geht, sondern ist im Gegenteil der vor jeder Relativierung geschützte Bezugspunkt, der erst ermöglicht, dass in der freiheitlichen Gesellschaft ansonsten und fernerhin alles relativiert, also nach Gesichtspunkten der Willkür beliebig gedeutet und gestaltet werden darf, und zwar nach Maßstäben, die ebenfalls in der Verfügungsmacht der Gesellschaft liegen – mit einer Ausnahme: Und diese Ausnahme ist der Mensch, genauer: seine Würde. Dieser Begriff, wie wir ihn heute verstehen, ist nicht das Ergebnis einer Deduktion, sondern erfüllt die Aufgabe der Konstitution. Seinem Sinn nach zielt er auf die „Manifestation des Verbots jedweder Rela15
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Vgl. Walter Schweidler, Das Uneinholbare. Zur strukturellen Bedeutung des Begriffs der Menschenwürde, in: Imago Hominis 13 (2006) 27 ff., hier S. 29 (Wiederabdruck unter dem gleichen Titel in: Walter Schweidler, Das Uneinholbare. Beiträge zu einer indirekten Metaphysik, Freiburg im Br. u. München 2008, S. 384 ff., hier S. 387): „Der Mensch wird im Konstitutionsgefüge des modernen Staates nicht deshalb vor jeder Definition geschützt, weil er keine hat, sondern weil er sie nur selbst geben kann und weil der Staat auf diese von dem Menschen selbst in seiner Freiheit gegebene, man kann auch sagen: gelebte Definition vertraut und vertrauen muss.“ Es hat fast ein halbes Jahrtausend gedauert, bis Picos Gedanke, der sich bei Schweidler wiederfindet, Eingang gefunden hat in unser amtliches Verständnis der Legitimität staatlicher Konstitution. An diesem Missverständnis der Bedeutung des Würdebegriffs für die Begründung von Gesellschaftlichkeit halten viele seiner Gegner fest; vgl. beispielhaft Franz Josef Wetz, Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwerts, Stuttgart 2005, S. 206.
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tivierung des Menschen gegenüber anderen Zwecken als demjenigen, der in seiner eigenen bewandnislosen Unableitbarkeit existiert.“17 Es ist eben jene bewandnislose Unableitbarkeit, von der Walter Schweidler spricht, die diese Präsumption – um eine solche handelt es sich zweifellos auch hier – von allen anderen Präsumptionen nicht graduell, sondern substantiell unterscheidet. Auch die Rechtsbeugung der Nationalsozialisten beruhte auf einer Präsumption, die allerdings nicht der Ermöglichung, der Freiheit, sondern ihrer Verunmöglichung, dem Zwang, diente. Unter Zwang verstehen wir die Herrschaft des Unrechts – bis zum Verlust von Leib und Leben. Freiheit hingegen meint die Herrschaft des Rechts – als die vom Menschen selbst bestimmte Regel gesellschaftlichen Lebens. Die bewandnislose Unableitbarkeit des Begriffs der Würde ist eine Präsumption im Dienst der Freiheit. Im Recht bekennt sich der Staat zur Freiheit des Menschen, anders und nüchterner gesagt: Er verpflichtet sich auf die Bedingung, dass der Mensch selbst über seine Möglichkeiten entscheidet. Alles ist erlaubt in der freiheitlichen Gesellschaft, könnte man sagen, außer dass der Mensch sich selbst als Mensch in Frage stellt. Tut er es gleichwohl, stellt er damit unverzüglich und im gleichen Atemzug den Grund (und damit sein Recht) eigener gesellschaftlicher Freiheit in Frage. Wenn nämlich deren Grund widerspruchsfrei gedacht werden soll, so gelingt das nicht ohne jene Anthropozentrik, die als Grund gesellschaftlicher Frei17
Vgl. Walter Schweidler, Das Uneinholbare, a.a.O., hier S. 28 (im Wiederabdruck S. 385); darum kommt dem Begriff der Würde im Gefüge des Selbstverständnisses zeitgenössischer Rechtsstaatlichkeit, ebd., S. 29 (im Wiederabdruck S. 387), „eine eigentümliche, im ganz strikten, präzisen Sinne transzendentale Bedeutung zu. Das heißt: Im Verhältnis zu einer politischen Ordnung … markiert der Würdebegriff eben dieses Grundprinzip innerhalb des Diskurses, der die Konstitution dieser sich so legitimierenden Ordnung rechtlich formuliert. Entsprechend … zieht der Würdebegriff dem rechtlichen Diskurs die Grenzen, auf Grund derer das Recht den Grund seiner Geltung in den entscheidenden Verboten findet, die es auch noch der rechtlichen, also seiner eigenen Zugriffsmacht auf seinen Träger, den Menschen, zieht und ziehen muss, um sich selbst zu verstehen. Die Menschenwürde … hat die Funktion, das Verbot jeder … Definition, die das Menschsein dem Urteil von Menschen aussetzen würde, zu begründen.“
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heit zugleich die Begründung ihrer Verfassungsordnung ist. Ist nicht mehr die Selbstbezeugung des Menschen jene Wahrheit, die sein Recht begründet, dann sind es andere, außerhalb seiner Selbstbezeugung liegende Wahrheiten – wie beispielsweise die Zugehörigkeit zu einer Rasse oder einer Klasse –, die allemal mehr gelten müssen und höher zu bewerten sind als das Recht, anderer Meinung zu sein, nämlich eigensinnig sein zu dürfen. Im Fall einer Verpflichtung auf eine so genannte ‚höhere‘ Wahrheit aber steht die Gesellschaft unter dem Anspruch der Hinordnung auf ein Ziel, das ihr vorgegeben ist, also nicht mehr selbstbestimmt aus der Mitte der Gesellschaft heraus, im freien Spiel der Meinungen und Überzeugungen, mithin streitig, entwickelt werden kann. Die Ausgangsfrage, die diesen Überlegungen vorangestellt war, lautete: Wer schützt das Recht? Die jetzt gefundene Antwort lautet: Der Mensch schützt sein Recht mit und gegen den anderen Menschen – aber er kann in diesem Bemühen nur erfolgreich sein, wenn er es ohne Wenn und Aber, uneingeschränkt und unbedingt tut. Das aber ist ihm nur vorbehaltlos möglich, wenn er davon überzeugt ist, dass der Grund allen Rechts, seine Würde, eben uneingeschränkt und unbedingt gilt: bedingungslos, zu jeder Zeit und unter allen Umständen. Nur der bedingungslose Grund rechtfertigt und ermöglicht den uneingeschränkten Schutz: universell und universal, anders und in den Worten von Udo Di Fabio ausgedrückt: „diskutierbar, aber eben nicht disponierbar.“18 Denn jeder Grund, der an Geltungsbedingungen geknüpft ist, unterliegt nur einer eingeschränkten Gültigkeit und unterwirft folgerichtig den Anspruch des Schutzes eben diesen Bedingungen seiner Geltung. Das aber bedeutet: So verfügbar wie die Bedingungen sind, so gestaltbar wird der Schutz.19 Mit anderen Worten: Würde besteht dann nur unter der Maßgabe ihrer Anerkennung – und wird damit zu einer attribuierten Eigenschaft, vergleichbar der Schönheit eines Menschen. Wer sich von Schönheit nicht beeindrucken lässt, für 18 19
Udo Di Fabio, Gewissen, Glaube, Religion. Wandelt sich die Religionsfreiheit?, Berlin 2008, S. 65 f. Vgl. Christoph Böhr, Wann ist der Mensch ein Mensch? Zur ethischen Konsequenz eines profanen Arguments, in: Die Tagespost v. 1. März 2008.
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sie nicht empfänglich ist oder einen besonderen Geschmack hat, kann nie gezwungen werden, sie anzuerkennen. Der Frage, wie dieser Schutz der Würde gestaltet werden kann, sollen die folgenden abschließenden Überlegungen gelten. Den Vorrang, den zum Beispiel die deutsche Verfassungsordnung dem Begriff der Würde einräumt, rechtfertigt deren Schutz durch eben die Verfassungsordnung selbst. Da sich in diesem Begriff der Prüfstein dessen findet, was die Verfassungsordnung – ihr vorgelagert, als Bedingung der Freiheitlichkeit einer gesellschaftlichen Ordnung – als rechtens erkennt, ist unter der Maßgabe eben dieser Verfassungsordnung alles geschützt, was ihrem Verständnis von Würde entspricht. So weit, so gut. Wer aber bestimmt heute – im Wissen darum, dass auch unser zeitgenössisches Rechtsempfinden so wandelbar ist, wie es das früher und immer war –, was diesem Verständnis entspricht? In der freiheitlichen Gesellschaft ist die Beantwortung dieser Frage vergleichbar der Verlebendigung des Notenmaterials einer großen Symphonie durch ein großes Orchester mit unzähligen eigenwilligen Instrumentalisten. Die erste Geige spielt dabei die Verfassungsgerichtsbarkeit. Aber diese mag noch so makellos spielen; wenn das restliche Orchester in einer Kakophonie versinkt, rettet auch das makellose Spiel der ersten Geige nichts. Andere Instrumentalisten müssen mit ihrem guten Spiel dazukommen: die gesamte Rechtsprechung, Wissenschaft und Kunst, soziale und politische Gruppen, Glaubensgemeinschaften, kurzum: die öffentliche Meinung, in der jeder Bürger eine mehr oder weniger laute Stimme hat. Hier liegt der Grund für die Zerbrechlichkeit freiheitlicher Gesellschaften und deren ständigen Bedarf an einem selbstvergewissernden Gespräch: Von Mal zu Mal und von Tag zu Tag muss die Gesellschaft, die eben die Voraussetzungen und Bedingungen ihrer Freiheitlichkeit selbst schaffen und gewährleisten muss, ihr Selbstverständnis prüfen, entwickeln und erneuern, um es dann festigen zu können. Das ist eine anstrengende, zeitraubende und nicht selten ernüchternde Klärung. Aber es ist die Bedingung der Überlebenskraft der Freiheit, dass sich ihrer täglich nicht nur im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger erinnert wird, sondern, wichtiger noch, lebhaft – und meist streitig – Regeln entwickelt, deren Sinn es ist, die Bedingungen
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gelingenden Freiheitsvollzugs zu gewährleisten. Der Preis der Freiheit ist zu zahlen in der Münze anstrengender Auseinandersetzung: als zeitraubender und kräftezehrender Streit über die Bedingungen, die sie ermöglichen. Eine Gesellschaft, die dieses Streites müde wird, steht im Begriff, ihre Freiheit zu verspielen. Denn Heimat findet Freiheit nur in der dissentierenden Gesellschaft, die jederzeit die Bedingung ihrer Möglichkeiten – und das ist der Dissens – achtet, mit der manchmal schwer erträglichen Folge, dass sie jedwedes Bedürfnis nach Harmonie erst dann und längst nicht immer zulässt, wenn die Streitfragen zuvor benannt sind.
'DV5HFKWLQGHUVLFKVHOEVWEHVWLPPHQGHQ *HVHOOVFKDIW Unser Land hat sich erst vor kurzem auf den Weg gemacht, diese Kultur für sich zu entdecken. Der Westen Deutschlands befand sich bis vor sechzig Jahren, der Osten des Landes bis vor zwanzig Jahren in einem ganz anderen politischen Paradigma: Die Gesellschaft entfaltete sich im Rahmen eines Autoritätsschemas, das nicht zuließ, letzte Fragen der Orientierung und der Identität streitig zu stellen. Seit zwei Jahrzehnten nun haben sich diese Voraussetzungen grundlegend geändert: An die Stelle eines Autoritäts- ist ein Deliberationsschema getreten: Die Gesellschaft ist seitdem auf sich gestellt: Weder Siegermächte noch Bündniszugehörigkeit, weder säkulare Gewalten noch religiöse Mächte legen Disponibilitäten und Indisponibilitäten fest. Wo oben und unten und was richtig und falsch ist, darüber kann kein Einzelner und keine Gruppe eine für alle verbindliche Auskunft mehr geben. In allem, was zu tun und zu lassen ist, muss die Gesellschaft mit sich selbst zu Rate gehen, sich mit sich selbst beratschlagen. Diese Last ist selten eine Lust. Denn im fortlaufenden Prozess der Deliberation gibt es nichts, was von einer streitigen Erwägung ausgenommen wäre: Vor allem sind es die letzten Fragen, die in diesem Prozess der Deliberation aufgeworfen werden. Das war bis 1989 anders. Bis dahin war die Vermutung, dass gerade die letzten Fragen – die Fragen
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nach der Gründung der Gesellschaft – unstreitig gestellt bleiben müssen, also der Notwendigkeit jeglicher Deliberation nicht nur fernzuhalten, sondern enthoben sind, verbreiteter Konsens in der deutschen Gesellschaft. Eine freiheitliche Gesellschaft, die sich selbst in allen ihren Teilen, ihrem Eigensinn, ihren Regeln und ihrem Verständnis selbst bestimmt, kennt solche Tabuisierungen nicht. Gerade aber aus diesem Grund muss sie sich jederzeit bewusst bleiben, auf welchem axiologischen Fundament – hier verstanden als die Legitimität aller Legalität – sie steht: als ihrem Daseins- und Ermächtigungsgrund. Die Axiologie einer freiheitlichen Gesellschaft ist schwach (in ihrem Umfang) und stark (in ihrer Wirkung) zugleich: Sie erschöpft sich im Willen zur Gesellschaftlichkeit – unter der Bedingung der Freiheit. Das klingt zunächst minimalistisch, ist aber tatsächlich eine gravierende Angelegenheit, weil ohne den Begriff der Würde dieser Wille zur Gesellschaftlichkeit unter den Bedingungen der Freiheit nicht dauerhaft aufrecht erhalten werden kann. Ohne den Begriff der Würde gibt es keine Architektur der Freiheit, weil Freiheit nur vom Begriff der Würde her zu denken ist. Dieser Satz beschreibt nicht, wie es zunächst scheinen mag, eine Tautologie, sondern erinnert daran, dass die Entscheidung zur gemeinschaftlichen Selbstbestimmung ihre Begründung nur finden kann in einem Bild vom Menschen, das diesen „in seiner Dignitas absolut und als Subjekt axiomatisch“ denkt 20: nicht als Wertentscheidung, die dieses Menschenbild selbstverständlich auch enthält, sondern zunächst und vor allem als vernünftige, in sich widerspruchsfrei gedachte Geltungs- und Gültigkeitsbedingung eines Gesellschaftsbildes, von dem gesagt werden kann, dass es freiheitlich ist: also dem Eigensinn des Menschen seinen Raum zur Entfaltung und einen Schutz vor Beeinträchtigung zusichert. Diese Begründung der freiheitlichen Gesellschaft in der Bezugnahme auf ein Menschenbild, das die Würde absolut und das Subjekt axiomatisch denkt, beinhaltet keinesfalls, wie oft vermutet, eine Entscheidung zugunsten einer Gesellschaft, die den Individualismus vergöttert und die Solidarität missachtet. 20
Di Fabio, Gewissen, Glaube, Religion, a.a.O., S. 17.
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Denn die absolut gedachte Würde ist immer auch die unmittelbare Folge der Erfahrung des Pluralismus und der Überwindung des Solipsismus zugunsten von Reziprozität: Weil Menschen sich ihrer Vernunft unterschiedlich bedienen und gleichermaßen unterschiedlichen Überzeugungen folgen – der logische wie der moralische Pluralismus ist demnach als unhintergehbares Faktum vorauszusetzen -, bedarf es grundlegender Regeln zur Gestaltung der Beziehungen zwischen Menschen auf der Grundlage wechselseitiger Achtung und Wertschätzung. Dabei ist jedoch immer im Blick zu behalten, dass nur der absolut gedachte Begriff der Würde untrennbar mit dem Gedanken einer universalen Reziprozität verbunden bleibt. Wenn Würde durch Dritte attribuiert wird, kann sie nicht ungeteilt und ausnahmslos, sondern nur nach der jeweiligen Stufe ihrer, durch Dritte erfolgenden Attribuierung gelten. Damit aber verliert der Begriff seinen Sinn als Maßstab universaler Reziprozität – und damit als Maxime für jegliche soziale Interaktion. Das Bekenntnis zur Gleichheit in der Würde als dem gemeinsamen anthropozentrischen Nenner aller Beziehungsregeln ist also mitnichten nur der Individualität, sondern ebenso der Solidarität geschuldet – und, wie sich jetzt am Ende zeigt, mehr als nur ein Bekenntnis; in ihm findet sich die denknotwendige Voraussetzung einer Freiheit, die Voraussetzung aller, jedoch ausnahmslos auf Freiwilligkeit abstellender Beziehungen ist. Deshalb kann die freiheitliche Gesellschaft Zwangsverheiratungen nicht dulden, auch wenn der Hinweis ihrer Befürworter, Eltern wüssten lebensalterbedingt oft besser, was für ihre minderjährigen Kinder gut sei, nicht wenig einleuchtend erscheint. Heute wird ein solchermaßen bestimmtes Verständnis von Freiheit gerne als fundamentalistische Verirrung abgetan. In der Tat: Dieses Verständnis ist fundamentalistisch, nämlich begründend für ein Gesellschaftsbild, das nicht die (durchaus gut gemeinte) Bevormundung, sondern die (oft lästige) Selbstbestimmung zum Kern ihres Selbstverständnisses wählt – in Folge der Entscheidung für ein Bild vom Menschen, das diesen als den schlechthin Unverfügbaren anerkennt. Es hat lange, sehr lange gedauert, bis sich im europäischen Denken diese Überzeugung durchsetzen konnte: als nämlich am Ende eines beschwerlichen Weges und nach vielen leidvollen Erfahrungen
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das Recht der Person schließlich das Recht der Wahrheit ablöste.21 Seit einem guten halben Jahrhundert folgt das europäische (und westliche) Verfassungsdenken dieser Überzeugung. Von einer befriedigenden Einlösung in den Fragen unseres Alltags sind wir allerdings noch weit entfernt – ein Grund übrigens auch, all denen, die (noch) einem anderen, in Europa inzwischen überwundenen Verfassungsdenken folgen, demütig und ohne Überheblichkeit zu begegnen: Auch wir sind in Europa (und der westlichen Welt) immer noch weit davon entfernt, die Würde des ungeborenen Menschen so zu schützen und zu achten wie die des Geborenen. Wir sind immer noch weit davon entfernt, uns dem weltweiten Menschenhandel mit allen verfügbaren Mitteln in den Weg zu stellen, obwohl seine Ausmaße die der antiken Welt um ein Vielfaches übersteigen. Wir sind weit davon entfernt, die Würde des Arbeitssuchenden so in den Mittelpunkt unserer wirtschaftlichen Überlegungen einzubeziehen, wie es der politischen Ökonomie einer Arbeits- und Erwerbsgesellschaft entsprechen könnte. Und wir sind weit davon entfernt, eine Wirtschaftsordnung zu entwickeln, die der erwarteten Kapitalrendite nicht mehr Gewicht beimisst als der menschlichen Arbeitskraft. Aber wir mühen uns in anerkennenswerter Weise, die Würde des komatösen Menschen nicht anders zu verstehen wie die Würde des quickfidelen, den Kranken in seiner Würde so zu sehen wie den Gesunden und die Würde des Armen so zu achten wie die des Reichen. Wir mühen uns um eine Gleichberechtigung von Mann und Frau, die beider gleicher Würde entspricht. Und wir mühen uns, einen Begriff von Würde zu bestimmen, der einem Menschen zukommt, wenn er mit dem Tod ringt. Kurzum: Wir stehen ganz am Anfang – und haben gerade erst begonnen, verstehen zu lernen, was es heißt, die Würde 21
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit, 11967, in: ders., Kirchlicher Auftrag und politische Entscheidung, Freiburg im Br. 1973, S. 191 ff., hier S. 192: „Damit“ – gemeint ist die Begründung subjektiver Freiheit unabhängig von einer objektiven Wahrheit, wie das sinngemäß in der Erklärung des II. Vaticanum über die Religionsfreiheit erläutert wird – „ist nun der prinzipielle Schritt vom ‚Recht der Wahrheit‘ zum ‚Recht der Person‘ getan.“
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des Menschen, uneinholbar in ihrem Grund und unableitbar in ihrer Bedeutung, als unhintergehbaren Maßstab zu achten. Wir stehen im Begriff, allmählich zu lernen, wie eine Kultur der Würde – die Kultur einer freiheitlichen, selbstbestimmten Gesellschaft – aussehen kann: eine Kultur, die in der Würde das Ziel ihrer zivilisatorischen Anstrengungen erkennt, und die doch immer wieder – wie könnte es auch anders sein? – dieses Ziel aus den Augen verliert und die gerade deshalb einer tagtäglichen Vergewisserung der Bedingungen gelingender Freiheit bedarf. Dennoch wird selbst diese Anstrengung nicht jede Unsicherheit beseitigen können, der wir uns ausgeliefert fühlen, wenn wir in diesem oder jenem Fall darüber nachdenken, was es heißt, die Würde zu achten. Der Mensch ist der schlechthin Unverfügbare. Was wird von uns erwartet, wenn wir diesen Satz bekennen? Gerade haben wir begonnen, darüber nachzudenken – und darüber zu streiten. Das kann gar nicht anders sein. Und vielleicht wird sich die freiheitliche Gesellschaft in ihrer Antwort auf diese Frage nie restlos einig sein. Das steht sogar zu vermuten. Wichtig ist dabei nur: Die Frage, was von uns erwartet wird, wenn wir uns zur Wahrheit der Person bekennen, ist keine als Zumutung von außen an uns herangetragene Frage. Es geht vielmehr um die Erwartung, die wir selbst damit verbinden, dass der Mensch – die Wahrheit der Person – zum letzten Maßstab seiner Ordnung wird: Es ist die Frage der freiheitlichen Gesellschaft nach ihrem Selbstverständnis. Niemand wird ihr die Beantwortung abnehmen können. Und je mehr Bürger Anteil daran nehmen, umso schneller lernt die Gesellschaft, sich selbst zu verstehen, und umso fester und beständiger gründet sich jenes Bild, das sie von sich selbst entwirft.
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Naturalismus und Naturrechtskritik. In welchem Sinn ist das Naturgemäße Kriterium der Gerechtigkeit? Es gibt kein Recht und wird auch keines geben, dass dem Streit der Meinungen entgeht. Dies gilt zuerst und vor allem für das positive Recht. Grundlegender Widerspruch beruft sich in letzter Hinsicht auf ein übergeordnetes Recht, dem die antiken Sophisten den Namen des „von Natur rechten“ (physei dikaion) im Unterschied zum Recht per Gesetz (nomo dikaion) gegeben haben.1 Sofern das positive Recht an diesem Maßstab zu messen ist, wird dieser selbst zum Streitobjekt. Der Streit um das positive Recht bedingt den Streit um das Naturrecht. Diese Rangfolge des Strittigen sollte man nicht übersehen. Oft genug wird der gegenteilige Eindruck erzeugt, als sei vor allem das Naturrecht der Auslöser des Streits. Es wird erst zum Streitobjekt aus seiner Beziehung auf das positive Recht, das als politisches Recht den Meinungsstreit durch Mehrheitsbeschluss, und das heißt aus Sicht der unterlegenen Partei - willkürlich - beendet. Auch die positiv rechtlichen Menschenrechtserklärungen sind davon nicht ausgenommen. Man hat darauf verwiesen, dass die deklamatorische Berufung auf die Idee der Menschenwürde selber begründungspflichtig ist. Wo eine Begründung unterbleibt, stehen auch die Menschenrechtsappelle in dem Verdacht, die „nach dem Ausfall des Naturrechts entstandene Begründungsnot mehr zu verschleiern als zu beheben“.2 Ohne metaphysische Grundle-
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Vgl. Platon, Gorgias 482e ff.: “In der Regel aber steht das miteinander im Widerspruch: die Natur (physis) und die Satzung (nomos).“ „Recht der Natur“ ist das Recht der Stärkeren, das die Mehrheit der Schwachen, um sich selbst zu schützen, positiv-rechtlich zu unterdrücken suchen. Franz Josef Wetz, Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwerts, Stuttgart 2005, S. 80.
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gung sei die Berufung auf die Würde des Menschen nur „ein als Begründung getarnter Begründungsersatz“.3 Damit ist allerdings noch ein viel weitergehender Streit eröffnet zwischen dem vorherrschenden Naturalismus und dem Geltungsanspruch der Metaphysik. Wer sich auf das Naturrecht beruft, kann die metaphysische Begründungslast zwar nicht völlig abschütteln, wohl aber einschränken auf ein nachvollziehbares Maß. Ich sehe nicht, was gegen die zweifellos „metaphysikhaltigen“, aber zugleich unmittelbar einleuchtenden Sätze Josef Piepers einzuwenden ist: „Alles Sollen gründet im Sein. Die Wirklichkeit ist das Fundament des Ethischen. Das Gute ist das Wirklichkeitsgemäße.“4 Auch das klassische Naturrecht beruht auf diesem Gedanken der Abhängigkeit des Sollens vom Sein, - von unserem Sein als Mensch, das wir immer sind und bleiben, unabhängig davon, worin wir uns sonst unterscheiden mögen. Behauptet wird ein Wissen um die menschliche Natur, das selbst naturhaft ist. Das „naturalis“, in dem Ausdruck „lex naturalis“ bezieht sich nämlich nicht nur auf das Naturgemäße als Norm des Rechts. Er meint ebenso den Modus, wie wir darum wissen.5 Was uns und anderen Menschen elementar geschuldet - „gesollt“- ist, das wissen wir unmittelbar, eben „von Natur“. Naturhaftes Wissen unterscheidet sich darin von kulturell vermitteltem Wissen. Diese Eigenständigkeit begründet seine Universalisierbarkeit und damit auch die Möglichkeit der Kritik an den jeweiligen Rechtsordnungen verschiedener Kulturen. Im Folgenden soll es nur um die Begründungsfunktion des Naturrechts gehen im Verhältnis zum positivem Recht, und das auch nur soweit, wie die positiven und negativen Rechtspflichten gegen Andere zu begründen sind. Ausgeklammert ist damit 3 4 5
Ebd. Josef Pieper, Die Wirklichkeit und das Gute; in: ders., Werke in acht Bänden (hrsg. Berthold Wald), Bd 5, Hamburg 1997, S. 49. Das ist jedenfalls das Naturrechtsverständnis bei Thomas von Aquin, für das ich im Folgenden argumentieren werde. Die praktische Vernunft geht aus von naturhaft bekannten Grundsätzen des Naturrechts (ex principiis indemonstrabilibus naturaliter cognitis), während für die Sätze des positiven Rechts gilt: sie werden erst durch die Bemühung der Vernunft gefunden (per industriam rationis inventa). (S. th. I-II, 91, 3).
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der Bereich der Moral und hier vor allem die Begründung von moralischen Pflichten gegen sich selbst, die voraussetzungsreicher ist. Klärungsbedarf ist trotz dieser Einschränkung reichlich vorhanden. Er besteht in drei Hauptpunkten: Zu klären ist, erstens, der vorausgesetzte Begriff von „Natur“ für die Frage nach der Natur als Norm des Rechts (I.), zweitens, der Modus der inhaltlichen Ableitung von Rechtsnomen aus der Natur (II.) und drittens die Rechtfertigung des verpflichtenden Charakters naturrechtlich begründeter Rechtsnormen (III.). Die Beantwortung der ersten und zweiten Frage gibt Aufschluss darüber, in welchem Sinn das Naturgemäße das fundamentalste Kriterium der Gerechtigkeit sein kann, was auch bedeutet: inhaltlicher Maßstab des Rechts und der Rechtskritik. Die Antwort auf die dritte Frage deckt die theologische Prämisse absoluter Verpflichtungen auf, die jedoch nicht bloß im Naturrecht vorausgesetzt ist.
I. Naturrecht und Naturbegriff6 Was „Natur“ im klassischen Naturrecht bedeutet wird ersichtlich, wenn man die Einwände gegen das Naturrecht analysiert. Es gibt hier zwei Typen von Einwänden: 1. Unspezifische Einwände. Das Naturrecht wird oft genug pauschal unter Metaphysikverdacht gestellt, ohne genau anzugeben, was jeweils unter Metaphysik verstanden ist. Das zeigt allerdings, worum es sich hier handelt. Die Berufung auf die Mehrheitsmeinung oder den geschichtlichen Stand des philosophischen Bewusstseins heute ist ein reines Autoritätsargument und daher nur eine Argumentationsvermeidungsstrategie unter Ausnutzung einer Grundstimmung im „postmetaphysischen Zeitalter“ (Habermas). Das ist nun nichts Neues. Dilthey hat den antimetaphysischen Affekt der Moderne in die Feststellung gekleidet, „dass zwischen dem geschichtlichen Bewusstsein der Gegenwart und jeder Art von
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Vgl. dazu Berthold Wald, Naturrecht und Naturbegriff. Ein historischsystematischer Klärungsversuch; in: Hanns-Gregor Nissing (Hrsg.), Natur. Ein philosophischer Grundbegriff, Darmstadt 2010, S. 115-130.
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Metaphysik […] ein Widerstreit“ besteht.7 „Die Natur ist uns stumm […] fremd“8, weshalb Erkenntnis „nur vermittels der Übertragung unserer inneren Erfahrung auf eine an sich tote Tatsächlichkeit“ möglich ist.9 Das Natürliche als tote Tatsächlichkeit verstanden kann nur Projektionsfläche sein und Objekt menschlicher Interessen. Es hat „für uns“ kein Für-sich-sein mehr und ist darum weder Substanz noch Subjekt. Ein solcher, aus der Selbstbeschreibung des modernen Zeitalters gewonnener Begriff der Natur sagt jedoch nichts darüber aus, ob es sich mit der Natur tatsächlich so verhält. Eben darum kann daraus auch kein tragfähiger Einwand gegen die Geltung des Naturrechts abgeleitet werden, außer in dem psychologischen Sinn, dass es heute eine Mehrheit der Zeitgenossen nicht mehr überzeugt. 2. Spezifische Einwände. Sie beziehen sich auf die Differenz von Sein und Sollen (David Hume) bzw. auf die Differenz von theoretischer und praktischer Vernunft (Immanuel Kant). Als gemeinsame Grundrichtung dieser Kritik gilt der Vorwurf des „naturalistischen Fehlschlusses“ (George Edward Moore). Er soll dann vorliegen, wenn Recht und Moral unter Berufung auf die Natur des Menschen begründet werden. Dieser Typ von Einwänden ist philosophisch weiterführend, auch wenn es in Diskussionen über das Naturrecht oft genug nur auf seine rhetorische Funktion ankommt. Als Topos neuzeitlicher Naturrechtskritik entbindet die „Sein-Sollen-Differenz“ ebenso reflexhaft von einer sachlichen Diskussion, wie die unspezifische Berufung auf das Ende der Metaphysik.10 Den Einwand gegen 7
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Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie; Gesammelte Schriften, Bd. VIII, Stutttgart/ Göttingen 1991, S. 3. Ders., Einleitung in die Geisteswissenschaften; Gesammelte Schriften, Bd. I, Stuttgart/ Göttingen 1990, S. 136. Ebd., S. 138. Vgl. dazu den Beitrag von Jörn Müller, Ist die Natur ethisch irrelevant? Zur Genealogie des naturalistischen Fehlschlusses; in H.-G. Nissing (Anm. 5), S. 99-114. Was Hume und Moore angeht, kommt Müller zu dem Schluss: „Von einer ethischen Irrelevanz der Natur auszugehen kann bei beiden mithin nicht die Rede sein. Auch für grundsätzliche is-oughtgaps und starke fact-value-distinctions, […] sind Hume und Moore mehr als dürftige Kronzeugen; de facto liefern sie eher sogar Argumente für die naturalistische Seite.“ (S. 113).
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die Ableitung des Sollens aus dem Sein ernstnehmen heißt, den Naturbegriff aufzudecken, welcher - zu Recht - die Naturrechtskritik motiviert. Die Kritik kann darum richtig sein, weil der kritisierte Naturbegriff falsch ist. Dieser Naturbegriff ist durch zwei Merkmale bestimmt. Methodisch (1) wird alles Geschehen unter einem gemeinsamen Begriff von Natur subsumiert. Das grundlegende Merkmal des neuzeitlichen Naturbegriffs ist seine Univozität. Sachlich (2) wird für die univok gedachte Natur jede kausal wirksame Zielgerichtetheit entweder als überflüssig oder als unerkennbar ausgeschlossen. Der univoke Naturbegriff ist zugleich a-teleologisch gedacht. (1) Ein univoker Naturbegriff lässt nun in der Tat keine Ableitung rechtlicher Normen zu. Das wird aus Humes Vergleich deutlich, mit dem er seine Naturrechtskritik illustriert.11 Er vergleicht die Tötung der Eltern durch ihre Kinder mit dem Absterben alter Bäume durch nachwachsende Populationen junger Bäume. Nur das eine bewerten wir als abscheuliches Verbrechen (Elternmord), obwohl im anderen Fall (Baumsterben) dieselbe Relation vorliegt (A verursacht B). Hume schließt daraus: gleiche Sachverhalte können also nicht der Grund unterschiedlicher Bewertungen sein, die wir ja gleichwohl vornehmen. Wenn es aber keinen grundlegenden Unterschied zwischen Naturvorgängen und menschlichen Handlungen gibt, kommt es nur auf unsere Interessen an. Sie allein begründen dann die Verschiedenheit im Umgang mit den Dingen. Das Interesse der Sophisten war die Unterwerfung aller unter das Gesetz der Natur (Recht des Stärkeren), das Interesse Humes die Emanzipation vom Maßstab der Natur (Moral des Mitgefühls). Beide Male wird jedoch Natur im selben Sinn verstanden als Antagonismus von Selbsterhaltung und Unterdrückung. Was nicht in den Blick kommt, ist die Frage nach der spezifischen Natur unterschiedlicher Lebewesen. In der Tat ist es so, dass die Möglichkeit moralischer Unterscheidungen aus der Natur der Sache nicht bestehen kann, wenn alles, was geschieht oder geschehen kann, unter Absehung von der spezifischen Natur der Dinge betrachtet wird. 11
David Hume, A Treatise of Human Nature (Ed. L.A. Selby-Bigge), Oxford 1978, book III, part I, section I, S. 455 – 470; 464 ff.
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Eine angemessene Beschreibung der Relationen zwischen den verglichenen Sachverhalten darf wesentliche Unterschiede jedoch nicht einfach ausblenden. Als moralisch relevant sollte der Unterschied gelten, wie ein Resultat zustande kommt: als notwendige Folge eines Naturgeschehens oder als intendierte Folge einer Handlung, die auf einem Verstehen der Relationen beruht. Elternmord wird deshalb als abscheuliches Verbrechen verurteilt, weil es die extremste Form von Undankbarkeit ist, während eine nachwachsende Jungeiche nicht im Stande ist, undankbar zu sein und eben darum auch keinen Elternmord begehen kann. (2) Allerdings hat die univoke Verwendung des Naturbegriffs seit Beginn der Neuzeit durch das mechanistische Verständnis der Natur eine zusätzliche Stütze erfahren. Die Ausklammerung teleologischer Zusammenhänge im Bereich der Natur ist ebenfalls unvereinbar mit der Berufung auf die Natur als Maßstab des Rechts. Eine a-teleologisch gedachte Natur abstrahiert nicht bloß von der Verschiedenheit der Dinge zugunsten homogener Gesetze, denen alle Dinge in derselben Weise unterliegen. Negiert ist auch die Vernunft als organisierendes Prinzip der Natur. Nicht eine „intelligente Weltursache“ (Dilthey), sondern „Zufall und Notwendigkeit“ bestimmen den Lauf der Dinge. Eine vernunftlos gedachte Natur, die im Ergebnis nur das ist, was sie zufällig geworden ist, verliert ihr normatives Potential. Sie wird zum Material für menschliche Interessen, die zugleich der einzige Bewertungsmaßstab sind. Kardinal Ratzinger hat angesichts dieser Lage empfohlen, einstweilen die Berufung auf das Naturrecht zu vermeiden, und darüber nachzudenken, wie die Plausibilität einer naturrechtlichen Argumentation zurückzugewinnen ist. „Die Idee des Naturrechts setzte einen Begriff von Natur voraus, in dem Natur und Vernunft ineinander greifen, die Natur selbst vernünftig ist. Diese Sicht von Natur ist mit dem Sieg der Evolutionstheorie zu Bruch gegangen.“12 Ich glaube allerdings, dass es weiterhin möglich bleibt, zwischen Handlungsteleologie und Universalteleologie zu unterscheiden. Wo es um die konkrete Bestimmung inhaltlicher Rechtspflich12
Jürgen Habermas, Josef Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg/Basel/Wien 2005, S. 50 f.
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ten geht, genügt der Rückgang auf die Handlungsteleologie, die schon aus wissenschaftstheoretischen Gründen nicht in gleicher Weise wie die Universalteleologie in Frage gestellt werden kann.13
II. Inhaltliche Ableitung von Rechtsnormen aus der Natur des Menschen Schon die Kritik an Humes unterschiedsloser Gleichsetzung von Handlungen und Ereignissen war handlungstheoretisch begründet. Die nicht eliminierbare teleologische Struktur menschlicher Handlungen bildet nun auch den Ansatzpunkt für die Antwort auf die zweite Frage, was mit naturhafter Sicherheit im Bereich von Recht und Unrecht gewusst werden kann. Der Grund für die Unterscheidung von Universalteleologie und Handlungsteleologie ist sehr einfach. Das teleologische Moment im Handeln ist unverzichtbar, um Handlungen von sonstigen Ereignissen in der Welt abzugrenzen. Das gilt selbst und gerade dann, wenn es möglich wäre, andere Ereignisse in der Welt vollständig materialistisch zu erklären. Handeln lässt sich nicht naturalisieren und dann gleichwohl noch als Handeln verstehen. Wenigstens wir selbst müssen uns als Subjekte verstehen. Selbstobjektivierung der Subjektivität ist keine Vertiefung unseres Wissens von Subjektivität, sondern die Aufhebung unseres Wissens von uns selbst. Damit passt durchaus zusammen, dass wir Handlungen sowohl auf Vernunftgründe zurückführen können wie auf naturgegebene Bedingungen, die entscheidungsunabhängig sind. Glücklichsein zu wollen liegt außerhalb der Reichweite menschlicher Selbstbestimmung. Wir wollen „von Natur“ glücklich sein. Dieser naturhafte Wille zum Glück ist keine Einschränkung menschlicher Handlungsfreiheit, sondern deren Voraussetzung. Wählen heißt, sich entschließen, etwas Bestimmtes 13
Eine Wissenschaft, die intentionale Erkenntnishandlungen durch neurophysiologische Prozesse erklären will, entwertet sich selbst. Vgl. Jürgen Mittelstraß, Neun nachdenkliche Bemerkungen zur Frage: Was ist der Mensch? in: Detlev Ganten u.a. (Hrsg.), Was ist der Mensch, Berlin/ New York 2008, S. 179.
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zu wollen, sofern das Ziel des Handelns bereits gewollt ist. Den Anfang machen die naturhaften Neigungen, die allesamt den Charakter von Notwendigkeit haben. Sie sind nicht selbst gewählt, sondern unserer Wahl entzogen. Doch auch wenn solche Neigungen nicht von uns, sondern von anderswoher gesetzt sind – sie erreichen uns nicht als etwas Fremdes, von außen Auferlegtes. Indem es Neigungen sind, sind es unsere Neigungen. Ohne einen naturhaft wirksamen Anfang im Wollen kann auch nachträglich kein Anfang gemacht werden, dies oder jenes mit Gründen zu wollen. Diese handlungstheoretischen Vorüberlegungen führen nun unmittelbar zu der Frage zurück, wie wir denn – mit naturhafter Gewissheit – darum wissen können, was uns und anderen geschuldet ist. Beide Aspekte dieser Frage sind bei Thomas von Aquin in einem einzigen Satz miteinander verbunden, der den Erkenntnisgrundsatz des Naturrechts so formuliert: „Alles, wozu der Mensch von Natur aus geneigt ist, erfasst die Vernunft naturhaft (naturaliter) als gut und als elementares Ziel des menschlichen Handelns.“14 Jeder weiß unmittelbar von Natur um die notwendigen Erhaltungs- und Entfaltungsbedingungen seiner Existenz als Mensch, weil ihm selbst daran liegt: – zu leben – mit anderen in Gemeinschaft zu leben – die Wahrheit zu erkennen, insbesondere über Gott (wonach selbst Atheisten verlangen; sie wollen erkennen, dass Gott nicht existiert). Jeder kann daher auch ohne Belehrung durch Andere wissen, dass dem anderen Menschen an seiner Existenz ebenso viel liegt wie ihm selbst. Aus der teleologischen Bedürfnisstruktur, an die wir im Handeln anknüpfen, gewinnt Thomas die Kriterien, an denen sich jede konkrete Rechtsordnung messen lassen muss. Dabei sind die Unterlassungspflichten am offenkundigsten: das Verbot der Tötung von Unschuldigen, das Verbot der Unterdrückung von Ehe und Familie, das Verbot der Unterdrückung der Wahrheitssuche und der Suche nach Gott. Diese elementaren Pflichten gelten immer, und die entsprechenden Rechte können auch immer gewährt werden, weil die Unterlassung des Gegen14
S. th. I-II, 94, 2.
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teils, also die Unterlassung von Mord und Unterdrückung nichts kostet. Hier gibt es keine mögliche Knappheit der Ressourcen wie bei den positiven Rechtspflichten. Diese sind allerdings weniger offenkundig, aber doch vernünftigem Nachdenken zugänglich, zumindest was die Frage angeht, wie die elementaren Ziele der menschlichen Existenz bewahrt und geschützt werden. Nehmen wir als Beispiel das Recht auf Leben. Es kann nicht gewährt werden ohne das Recht auf Ausbildung, auf Erwerbstätigkeit, auf Freihaltung des Existenzminimums. Je nach dem Entwicklungsstand einer Gesellschaft und der persönlichen Leistungsfähigkeit gehören dazu auch direkte staatliche Unterstützung, kostenlose medizinische Versorgung und anderes mehr. Im Falle der Nichtgewährung solcher konkreten Rechte und Leistungen wäre die bloße Anerkennung des Lebensrechts blanker Zynismus: das Recht in Würde zu verhungern. Für die notwendige Ausbuchstabierung des Naturrechts unterscheidet Thomas zwischen dem Modus der unmittelbaren Ableitung (conclusio) als dem Bereich dessen, was man später das sekundäre Naturrecht genannt hat, und dem Modus der Konkretisierung (determinatio). Diese ist zwar weniger gewiss, aber unverzichtbar. Ohne die positive Rechtsordnung ist der naturrechtlich begründete Anspruch auf Gerechtigkeit in der konkreten Situation des Handelns nicht einzulösen.15 Bei der Bestimmung konkreter Rechte bleibt der Naturrechts-Traktat bei Thomas daher mit Absicht sehr summarisch. Eine angemessene Rechtslage zu schaffen und diese immer wieder an die 15
Vgl. S. Th. I-II, 95, 2 (Leitet sich jedes vom Menschen erlassene Gesetz vom natürlichen Gesetz her?). In S. th. I-II, 95, 4 legt Thomas dar, wie sich Völkerrecht und bürgerliches Recht zum Naturrecht verhalten. Als gemeinsamer Grundsatz gilt: „Dem menschlichen Recht ist es […] wesentlich, vom Naturgesetz hergeleitet zu sein.“ Die Differenz bezieht sich auf den Modus der Herleitung. „Denn zum Recht der Völker zählt alles, was sich aus dem Naturgesetz ergibt wie Folgesätze (sicut conclusiones ex principiis) […] Was hingegen vom Naturrecht sich herleitet nach Art besonderer näherer Bestimmung (per modum particularis determinationis) gehört zum bürgerlichen Recht; in ihm legt jedes Gemeinwesen fest, was ihm angepasst ist.“ Kein Recht, das dem Anspruch der Gerechtigkeit genügen kann, steht darum außerhalb des Naturrechts. Aber nicht alles Recht ist in derselben Weise – ein für alle Mal und unveränderlich – daraus abzuleiten.
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veränderten Umstände anzupassen, erfordert Erfahrung und Urteilsvermögen, damit die Gesetze auch angemessen bleiben. Der gelegentlich ironisch gegen ein zu konkret ausformuliertes Naturrecht erhobene Vorwurf des Naturrechts-Positivismus findet jedenfalls in Thomas keine Stütze. Er denkt, was die Verwirklichungsbedingungen des Naturrechts angeht, geschichtlich, weil Gerechtigkeit jeweils nur unter den gegebenen Umständen zu verwirklichen ist.
III. Naturrechtliche Rechtfertigung des Pflichtcharakters Grundlage des Naturrechts, so ist eingangs behauptet worden, sei der Gedanke der Begründung des Sollens aus dem Sein - genauer: dem wesenhaft unveränderlichen wie geschichtlichen Sein des Menschen. Dieser Begründungszusammenhang hat aber zwei wohl zu unterscheidende Seiten. Zum einen ist das inhaltliche Wissen darum gemeint, was wir sollen, zum anderen das Wissen darum, dass wir sollen. Meine These ist, dass eine Naturrechtslehre ihrem vollen Begründungsanspruch nur dann gerecht wird, wenn sie in beiderlei Hinsichten überzeugt. Dass die naturhaft wirksamen Grundbedürfnisse des Menschen einen Leitfaden für die inhaltliche Bestimmung von Rechten abgeben können, mag ja zugestanden werden. Aber ist das Vorhandensein eines elementaren Bedürfnisses schon Grund genug, ein Recht zu seiner Befriedigung zu begründen? Zu wissen, was ein Mensch naturhaft will und braucht, damit er wahrhaft Mensch sein kann, und verpflichtet zu sein, dies anzuerkennen, sind doch nicht dasselbe. Mit Thomas und Kant könnte man hier auf den Selbstzweckcharakter menschlicher Personalität verweisen. Sachen haben einen Wert, der sie vergleichbar und verwertbar für andere macht. Personen kommt dagegen Würde zu. Sie existieren um ihrer selbst willen und sind darum dem Wertvergleich und der Verwertung entzogen. Darin stimmen Thomas und Kant überein. Der Unterschied - und damit die Begründungsschwäche der neuzeitlichen Naturrechtslehren - wird erst deutlich, wenn
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man die Kontexte vergleicht, in denen die Berufung auf die freie Selbstverfügung der Person zur Begründung wechselseitiger Rechtspflichten erfolgt. Der Selbstzweckcharakter menschlicher Personalität als solcher ist nicht grundlegend genug, um die Begründungslast unabdingbarer Rechte als Person zu tragen.16 Alle Lebewesen sind von Natur Selbstzweckwesen, auch wenn wir das im Umgang mit ihnen erst wieder lernen müssen. Der wesentliche Unterschied besteht zwar darin, wie der Selbstzweck jeweils verwirklicht wird: Beim Tier ebenfalls von Natur und ohne reflexives Wissen – beim Menschen mit Wissen und aus Freiheit, also nicht naturhaft von selbst, sondern erst durch sein eigenes Handeln. Weil er frei ist, kann und muss er sich selbst bestimmen zu dem, was er sein will. Aber folgt daraus, weil er gar nicht anders Mensch sein kann als im Modus der Selbstbestimmung, dass ihm Freiheit und Selbstbestimmung als notwendige Voraussetzungen seiner Existenz als Mensch auch unabdingbar geschuldet sind? „Notwendig brauchen“ und „unabdingbar geschuldet“ sein sind doch zu unterscheiden. Das eine ist eine Feststellung über die Natur des Menschen: Freiheit und Selbstbestimmung machen seine Würde aus und gehören zu den Erhaltungsbedingungen seiner Existenz. Aber muss der Mensch sein, der anders als im vernünftigen Gebrauch und in der Anerkennung seiner Freiheit nicht wirklich Mensch sein kann? Die Frage ist doch: Warum muss ich unbedingt gerecht sein, was ja bedeutet: dem Anderen, das, was er notwendig braucht, als sein Recht auch zu gewähren und zu lassen? Mir scheint, dass im Kontext einer materialistischen Weltsicht eine solche Frage nur dezisionistisch beantwortet werden kann, wobei die Grenzen der Dezision fließend sind: die einen haben ein Recht zu leben, wenn sie diese und jene Eigenschaften haben, die anderen nicht. Aber auch im Kontext des neuzeitlichen Vernunftnaturrechts gibt es keine tragfähige Begründung mehr dafür, warum es Menschen geben soll, was ja heißt: jeden Menschen, sobald er existiert. Zwischen den spezifischen Erhaltungsbedingungen des Menschen (Freiheit und Selbstbestimmung) und einer Rechtsordnung zu ihrem Schutz besteht 16
Vgl. Josef Pieper, Über die Gerechtigkeit; in: ders., Werke Bd. 4, Hamburg 1999, S. 51 ff.
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zwar faktisch ein notwendiger Wirkungszusammenhang, der allein daraus nicht schon als moralisch notwendig zu erweisen ist. Mögen die inhaltlichen Grundnormen der Gerechtigkeit aus der Natur des Menschen ableitbar sein, für die unbedingte Anerkennung dieser Normen gilt das nicht, jedenfalls nicht so ohne weiteres. Ob hier das Sollen aus dem Sein folgt, hängt ganz davon ab, wie das Sein im ganzen verstanden ist. Thomas hat diesen Punkt klar gesehen. Unabhängig von der Frage, wie ich wissen kann, was einem gerechterweise geschuldet ist, muss ich auch wissen können, weshalb jemandem überhaupt etwas unabdingbar zusteht. Josef Pieper hat den zu klärenden Sachverhalt folgendermaßen formuliert: „Die Gerechtigkeit ist etwas Zweites. Der Gerechtigkeit liegt das Recht voraus. Wenn einem Menschen etwas als sein Eigen zusteht - dies Zustehen selbst kommt nicht durch die Gerechtigkeit zustande.“17 Daher geht der Untersuchung über die Gerechtigkeit bei Thomas die Vorfrage nach der Natur des Rechts voraus.18 Seine Darstellung des moralischen Naturgesetzes (lex naturalis) ist wiederum eingebettet in den Kontext des ewigen Gesetzes (lex aeterna), das sich auf die gesamte Wirklichkeit erstreckt.19 In der neueren Thomasdeutung ist die theologischmetaphysische Letztbegründung naturrechtlicher Normativität zumindest abgeschwächt, wenn nicht gar bestritten worden.20 Wenn Thomas jedoch das Naturgesetz als den der menschlichen Vernunft unmittelbar einsichtigen Teil der lex aeterna versteht, dann ist der Bezug auf das ewige Gesetz Gottes kein kontextbedinger theologischer Zusatz, der den aus sich selbst praktischen Charakter der Vernunft einschränkt. Gerade weil 17 18
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Ebd., S. 47. Vgl. S. th. II-II, 57 (De iure) und 58 – 79 (De iustitia). Pieper erwähnt, dass er „eine Reihe von Jahren“ gebraucht habe, den Grund für diese „aus der der sonstigen systematischen Ordnung fallenden [Vorordnung der] Quaestio Über das Recht“ zu bemerken (ebd., S. 48). Auch in S. th. I-II, 90 beginnt Thomas mit der Frage nach dem Wesen des Gesetzes (De essentia legis). Die nächste Quästio zu den Arten des Gesetzes wird eröffnet mit der Frage nach dem ewigen Gesetz (I-II, 91, 1; utrum sit aliqua lex aeterna), womit der Rahmen für die Normativität aller Arten von Gesetzen angeben ist. Maßgeblich ist hier das Buch von Wolfgang Kluxen gewesen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Mainz 1964.
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eine aus sich selbst praktisch sein wollende Vernunft im Sinne Kants bestenfalls zu inhaltlichen Erkenntnissen gelangt, ist die Begründung von Rechtspflichten nur im Rückgang auf eine Quelle möglich, die ihrerseits notwendig ist und Notwendigkeit auferlegen kann. Die Normativität des Seins ist für Thomas dadurch gegeben, dass die menschliche Vernunfteinsicht als Teilhabe an der göttlichen Vorsehung verstanden ist. Sein ist geschaffenes Sein. Es ist nicht einfach, sondern es soll sein als von Gott gewollt und geliebt. Aber „Sein“ ist nicht einfachhin „Seinsbestand“. Das Sein des Seienden ist wesentlich bestimmt durch ein Bezogensein auf anderes Seiendes, worin es seine ihm mögliche äußerste Verwirklichung erlangt (oder verfehlt): der Mensch vor allem in der Beziehung zum Menschen und - in der letzten Hinordnung aller Beziehungen - auf Gott. Die menschliche Natur ist, sofern sie als Vernunftnatur begriffen wird, zwar richtig, aber unvollständig bestimmt. Erst in schöpfungstheologischer Perspektive ist das Faktum seiner Vernunftnatur kein bloßes Faktum mehr, sondern etwas Gewolltes: Es soll sein, will sagen: Der Mensch, jeder Mensch, soll sein. Darum hat er auch gegen andere ein Recht auf alles, was zur Verwirklichung der ihm eigentümlichen Seinsmöglichkeiten notwendig ist, angefangen vom Recht auf Leben in seiner sozialen Dimension bis hin zur äußersten Verwirklichung seiner Existenz aus dem Bezug auf die erkannte und geglaubte Wahrheit über „Gott und die Welt“. Eben deshalb haben nun auch die Anderen, insbesondere aber der Staat, die Pflicht, dieses Recht anzuerkennen.
Fazit Carl Schmitt hat einmal gesagt, alle fundamentalen rechtspolitischen Begriffe der Neuzeit seien säkularisierte theologische Begriffe. 21 Dies gilt für den Begriff staatlicher Souveränität eben21
„Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, […] sondern auch in ihrer systematischen Struktur, deren Erkenntnis notwendig ist für eine
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so wie für seine Gegenbegriffe, und darum auch für den Begriff der Menschenrechte. Josef Pieper hat diesen Zusammenhang weniger polemisch so formuliert: das Fundament der abendländischen Kultur sei die Idee einer „theologisch gegründeten Weltlichkeit“.22 Das ist weder reduktionistisch gedacht noch bloß historisch gemeint. Pieper meint, dass Weltlichkeit als Weltlichkeit nur dann anerkannt und bejaht wird - statt (zunehmend) entwertet, negiert und manipuliert zu werden - wenn sie auch heute schöpfungstheologisch gedacht wird. Der Ton liegt auf gedacht, was von der meist unverbindlich deklamatorischen Rede von einer „Bewahrung der Schöpfung“ nicht gesagt werden kann, die ohne den Glauben an die Präsenz des Schöpfers in seiner Schöpfung auszukommen meint. Wem ein vom Schöpfungsgedanken abhängiges Naturrecht zu voraussetzungsreich ist, zu „theologisch“, der muss im Gegenzug erst einmal zeigen, wie er weniger voraussetzungsvoll den Anspruch unbedingter Gerechtigkeit begründen kann. Vor allem muss er sich über den Preis in klaren sein, wenn er von vorletzten Positionen aus argumentiert. Theoretisch folgt daraus ein Mangel an Kohärenz, und praktisch die fortschreitende Ausweitung der Macht über den Menschen mit Hilfe des Rechts. Ansätze dazu sind in der Gesetzgebung zur Abtreibung und zur Stammzellenforschung bereits zu sehen.
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soziologische Betrachtung dieser Begriffe.“ (Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin ³1985, S. 49). Josef Pieper, Was heißt „christliches Abendland“? in: ders., Werke Bd. 8,1, Hamburg 2008, S 446.
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Folgerungen aus der Natur des Menschen für die Weitergabe des Lebens und die Demokratie Zur Instruktion Dignitas Personae Seit mehr als vierzig Jahren wird in Kirche und Gesellschaft darüber diskutiert, ob sich aus der Natur des Menschen Folgerungen für die Weitergabe des Lebens ableiten lassen. Was verstehen wir unter der Natur des Menschen? Ist sie etwas Vorgegebenes, Stabiles, Erkennbares oder gehört es nicht vielmehr zur Natur des Menschen, sich ständig selbst zu überschreiten, sich zu relativieren und keinen Naturzwängen zu unterwerfen, wie Hubert Markl in der Stammzelldebatte 2001 behauptete, um dadurch die embryonale Stammzellforschung als legitim erscheinen zu lassen? Der Begriff „Mensch“ sei deshalb ein „kulturbezogener Zuschreibungsbegriff...und keine rein biologische Tatsache“.1 Dass der Mensch mehr ist als eine biologische Tatsache, darin ist Markl gewiss Recht zu geben. Aber wer die Perspektive der Biologie überschreitet, muss deshalb noch nicht bei einem kulturbezogenen Zuschreibungsbegriff, und das heißt, im Relativismus landen. Dass der Begriff „Mensch“ mehr ist als ein „kulturbezogener Zuschreibungsbegriff“ wird schnell deutlich, wenn wir der zweiten Frage nachgehen, die im Untertitel des Vortrages anklingt, ob sich nämlich aus der Natur des Menschen Folgerungen für die Demokratie ergeben. Seit dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur und des 2. Weltkrieges besteht ein überaus großer und weltweiter Konsens darüber, dass sich aus 1
Hubert Markl, Schöner neuer Mensch?, München 2002, S. 39ff.. Zum ersten Mal veröffentlicht wurde dieser Text, eine Ansprache vor der 52. Hauptversammlung der Max-Planck-Gesellschaft am 22.6.2001 in der Tageszeitung Die Welt.
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der Natur des Menschen Folgerungen für jede Form von politischer Herrschaft ableiten lassen, Folgerungen, die in der Regel in Grundrechtskatalogen zusammengefasst werden – so in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, in der Menschenrechtskonvention des Europarates vom 4. November 1950 oder in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949. Dass die darin gewährleisteten Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf Religions-, Gewissens-, Versammlungs-, Meinungs- und Forschungsfreiheit, auf Freiheit und Schutz von Ehe, Familie und Eigentum sowie die Diskriminierungsverbote Folgerungen aus der Natur des Menschen sind, unterliegt nach vielen leidvollen Erfahrungen mit den Diktaturen des 20. Jahrhunderts keinem Zweifel. Diese Rechte gelten nicht, weil verfassungsgebende oder parlamentarische Mehrheiten oder die Vollversammlung der Vereinten Nationen es so beschlossen haben. Sie sind vielmehr der, der Natur des Menschen entnommene Maßstab, an dem jede Verfassungsordnung und jede Gesetzgebung zu messen ist. Sie richten sich als Abwehrrechte gegen Legislative und Exekutive eines Staates, die bei ihren Interventionen in die Gesellschaft diese Rechte des Menschen zu respektieren haben. Aber sie sind nur deshalb Abwehrrechte, weil sie zuvor Freiheitsrechte sind, weil der Mensch als Person ein ursprüngliches und unveräußerliches Recht hat, seine Anlagen und Fähigkeiten zu entfalten und von seiner Handlungsfreiheit in einer seiner Natur entsprechenden, sittliche Verpflichtungen achtenden Weise Gebrauch zu machen. Dieses Recht ist die „Primärnorm“ der Menschenrechte, der daraus abgeleitete Abwehranspruch gegen den Staat die „Sekundärnorm“.2 „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, so beginnt Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes und Absatz 2 fährt dann fort, dass sich das deutsche Volk „darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder
2
Willi Geiger, Grundrechte: Theorie und Wirklichkeit, in: Die Neue Ordnung, 19. Jg. (1965), S. 5; ders., Grundrechte, in: Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 3, Freiburg 1959, Sp. 1124f.
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menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (bekennt)“. Was lässt sich zur Natur des Menschen sagen, die diesen Menschenrechtskatalogen zugrunde liegt und von der auch die Instruktion der Glaubenskongregation „Dignitas Personae“ über einige Fragen der Bioethik vom 8. September 2008 ausgeht? Die knappste Beschreibung dieser Natur des Menschen lautet: Der Mensch ist Person. Er hat Würde, das heißt, er ist ein Rechtssubjekt. Er hat Anspruch auf Anerkennung. Jedem kommt diese Würde zu – unabhängig von seinen Anlagen, Fähigkeiten und Leistungen, allein deshalb, weil er als Mensch geboren ist. In einer vertiefenden Betrachtung dieser Natur des Menschen lässt sich – freilich auch nur skizzenhaft – festhalten: der Mensch erfährt sich als ein Wesen, das sich selbst, seine Mitmenschen und seine Umwelt erkennt, das als körperliches und geschlechtliches Wesen Anteil hat an der materiellen Natur, das sterblich ist und sich doch nach Unsterblichkeit sehnt, das seine unverwechselbare Einmaligkeit, seine Individualität spürt und doch immer in Gemeinschaft lebt und mit anderen Menschen Freude und Leid teilen und die Gesellschaft und die Welt gestalten will. Er erfährt sich als ein Wesen, das ebenso Bedürfnisse wie Fähigkeiten hat, Bettler und Mäzen ist, das sich für bestimmte Handlungen und gegen andere entscheidet, konstruktiv und destruktiv handeln kann, also frei ist und Verantwortung trägt, schuldig werden kann und Rechenschaft für sein Tun und Lassen ablegen muss. Er erfährt sich als ein Wesen, das im Fluss der Zeit Beständiges sucht, sich nach seinem Schöpfer sehnt und auf seine Gnade und Barmherzigkeit angewiesen bleibt. In vier Spannungsbögen lassen sich diese anthropologischen Merkmale zusammenfassen. Der Mensch vereint in seiner Natur Körper und Geist, Individualität und Sozialität, Freiheit und Verantwortung, Gottebenbildlichkeit und Ambivalenz.3 Welche Folgerungen ergeben sich aus dieser Natur des Menschen für die Weitergabe des Lebens? Diese Frage beschäftigt 3
Vgl. Manfred Spieker, Das Menschenbild der katholischen Soziallehre, in: Enrique Prat, Hrsg., Ökonomie, Ethik und Menschenbild, Wien 1993, S. 52ff.
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die Kirche nicht erst seit „Dignitas Personae“. Schon „Humanae Vitae“, die Enzyklika Pauls VI. über die „rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens“ vom 25. Juli 1968 stellte sich dieser Frage, erneut dann das Apostolische Schreiben Johannes Pauls II. „Familiaris Consortio“ über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute vom 22. November 1981, die Instruktion der Glaubenskongregation über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung „Donum Vitae“ vom 10. März 1987 und nicht zuletzt die Enzyklika Johannes Pauls II. über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens „Evangelium Vitae“ vom 25. März 1995, das große Manifest der katholischen Kirche zur Kultur des Lebens. Alle Dokumente versuchen deutlich zu machen, dass die Natur des Menschen Vorgaben für die Weitergabe des Lebens enthält, die zu erkennen und zu beachten eine Bedingung für das Gelingen des menschlichen Lebens sind. Aber ist es überhaupt legitim, bei der Frage nach den Folgerungen aus der Natur des Menschen für die Weitergabe des Lebens auf diese kirchlichen Dokumente zurückzugreifen? Da sie alle von einer mit der Vernunft einsehbaren Natur des Menschen ausgehen, also naturrechtlich argumentieren und ihre naturrechtlichen Gründe durch biblische und theologische Argumente zwar stützen und vertiefen, aber nicht ersetzen, ist ihre Argumentation für unsere Frage von großem Nutzen. Die Prinzipien und Normen der Sexualethik, so erklärte die Glaubenskongregation schon 1975 in den Wirren um die rechte Empfängnisregelung nach „Humanae Vitae“, „haben ihren Ursprung keineswegs in einer bestimmten Kulturform, sondern in der Erkenntnis des Gesetzes Gottes und der menschlichen Natur. Deshalb können sie auch nicht unter dem Vorwand einer neuen kulturellen Situation als überholt angesehen oder in Zweifel gezogen werden“.4 Ergeben sich aus der Natur des Menschen Folgerungen für die Weitergabe des Lebens? Um diese Frage angemessen zu erörtern, ist nach der Bedeutung der Geschlechtlichkeit für die Natur des Menschen zu fragen. Der Mensch ist Person, aber 4
Glaubenskongregation, Erklärung zu einigen Fragen der Sexualethik vom 29. 12. 1975, Ziffer 5.
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er ist Person als Mann oder Frau. Sein Geschlecht ist nicht ein Attribut, sondern ein konstituierender Bestandteil der Person. Geschlechtlichkeit heißt, dass die Natur des Menschen auf Gemeinschaft hin angelegt ist. Schon das Buch Genesis enthält im zweiten Schöpfungsbericht eine aufschlussreiche Aussage im Zusammenhang mit der Erschaffung Evas. Es heißt dort nicht nur, dass Gott den Menschen als Mann und Frau erschuf, sondern dass er die Frau dem Manne zuführte, dass der Mann entzückt war und dass die beiden ein Fleisch wurden.5 Die Geschlechtlichkeit offenbart sich in der „Sprache des Leibes“, wie Johannes Paul II. in seiner Theologie des Leibes immer wieder betonte.6 Der Leib ist nicht nur ein Feld sexueller Regungen, sondern Ausdrucksmittel der ganzen Person. Den Sinn seines Seins und seiner Existenz verwirklicht der Mensch, wenn er Geschenk wird. Nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst kann sich der Mensch vollkommen finden. Die Selbstfindung vollendet sich in der Selbsthingabe.7 In der geschlechtlichen Vereinigung schenken sich Mann und Frau in der Sprache des Leibes. Diese Vereinigung ist nie nur ein körperlicher, sondern immer „ein untrennbar leiblicher und geistiger Akt“.8 Sie ist ein Akt gegenseitiger Vollendung durch gegenseitige, vorbehaltlose Hingabe. Die vorbehaltlose Hingabe, das biblische Sich - erkennen, setzt die umfassende gegenseitige Bejahung, die lebenslange Treue und die Bereitschaft zur Transzendierung der Beziehung in der Offenheit für neues Leben voraus. Sie setzt damit die Ehe voraus. „Nur du und du für immer“, so kennzeichnete Joseph Kardinal Höffner die Identität einer christlichen Ehe.9 Geschlechtliche Vereinigung und potentielle Elternschaft bedingen sich gegenseitig, wenn die Vereinigung zu jener perso-
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Gen 2, 22-24. Johannes Paul II., Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan. Eine Theologie des Leibes, hrsg. von Norbert und Renate Martin, 2. Aufl. Kisslegg 2008, S. 650. II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 24. Glaubenskongregation, Instruktion Donum Vitae II,4. Joseph Kardinal Höffner, Die Identität der christlichen Ehe und Familie, in: ders., In der Kraft des Glaubens, Bd. II, Freiburg 1986, S. 229.
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nalen Gemeinschaft führen soll, in der sich Mann und Frau gegenseitig vollenden.10 Sexuelle Vereinigung und Offenheit für neues Leben sind durch die hormonale Empfängnisverhütung Anfang der 60er Jahre ebenso auseinander gerissen worden wie 15 bis 20 Jahre später durch die künstliche Befruchtung im Labor der Reproduktionsmedizin. Gegenüber beiden Entwicklungen hat die katholische Kirche wiederholt an die Natur des Menschen, an die Bedeutung der Geschlechtlichkeit, an den bräutlichen Charakter des Leibes und an die gegenseitige Vollendung von Mann und Frau durch die vorbehaltlose Hingabe in der geschlechtlichen Vereinigung und der Offenheit für das Geschenk des Lebens erinnert. Von „Humanae Vitae“ über „Donum Vitae“ und „Evangelium Vitae“ bis „Dignitas Personae“ verteidigt sie die eheliche Sexualität als Ausdruck personaler Liebe und Mitwirkung an Gottes Schöpfung. Alle Dokumente fügen sich ein in die vom II. Vatikanischen Konzil in Gaudium et Spes verkündete „Förderung der Würde der Ehe und der Familie“. In diesem Text ist von der Berufung zu Ehe und Familie und von der sittlichen Würde des ehelichen Geschlechtsaktes die Rede.11 Anlässlich des 40. Jahrestages von „Humanae Vitae“ würdigten Renate und Norbert Martin, Mitglieder des Päpstlichen Rates für die Familie und Herausgeber der Katechesen Johannes Pauls II. zur Theologie des Leibes, diese positive Sicht der Geschlechtlichkeit im Konzil und in der Enzyklika Pauls VI.: „Ehe und Familie als Berufung: das war etwas ganz Neues. Vor allem die damit verbundene ‚Taufe des Eros’ und die Befreiung der ehelichen Sexualität von der ‚Kultur des Argwohns’, die dem Christentum Jahrhunderte lang eine prüde Haltung allem Geschlechtlichen gegenüber nachsagte, vermochte junge Brautleute anzuziehen und begeisterte sie, sich dem Ideal der Ehe und Familie als Heils- und Heiligkeitsweg zu verschreiben.“12 Johannes Paul II. hat diese Berufung zu Ehe und Familie in seiner Theologie des Leibes auf eine kühne Weise vertieft. Er hat 10 11 12
Paul VI., Humanae Vitae 8. II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 49. Renate und Norbert Martin, Humanae Vitae und die „herrliche Neuheit“ der Berufung zur christlichen Ehe, in: Die Tagespost vom 24.7.2008.
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sich in den Generalaudienzen zwischen 1979 und 1984 in nicht weniger als 133 Katechesen der Theologie des Leibes gewidmet. Dass sich auch die Theologie des Leibes annimmt, „darf niemand, der um das Geheimnis und die Wirklichkeit der Inkarnation weiß, verwundern oder überraschen. Dadurch, dass das Wort Gottes Fleisch wurde, ist der Leib ... wie durch das Hauptportal in die Theologie eingetreten, also in die Wissenschaft von den göttlichen Dingen.“13 Die Ehe wird zum Sakrament. Schon das Alte Testament habe, so schließt Johannes Paul II. seine 133. Katechese 1984 ab, im Hohenlied und im Buch Tobit deutlich gemacht, dass die Sprache des Leibes zur Sprache der Liturgie wird.14 Die Kooperation der Eheleute mit dem Schöpfer erreiche, so Johannes Paul II. in der Enzyklika „Evangelium Vitae“, in der Weitergabe des Lebens ihren Höhepunkt. Die Zeugung eines Kindes durch das vollkommene Sichschenken von Mann und Frau im ehelichen Liebesakt sei „ein zutiefst menschliches und in hohem Maße religiöses Ereignis, insofern sie die Ehegatten, die ‚ein Fleisch’ werden (Gen 2,24) und zugleich Gott selbst beteiligt, der dabei gegenwärtig ist“. Das Kind bringe „ein besonderes Abbild Gottes ... in die Welt: in der Biologie der Zeugung ist die Genealogie der Person eingeschrieben“. In der menschlichen Fortpflanzung sei „Gott selber in einer anderen Weise gegenwärtig ... als bei jeder anderen Zeugung ‚auf Erden’. Denn nur von Gott kann jenes ‚Abbild und jene Ähnlichkeit’ stammen, die dem Menschen wesenseigen ist, wie es bei der Schöpfung geschehen ist. Die Zeugung ist die Fortführung der Schöpfung“. Durch die Zeugung, in der Gott „sein Bild auf das neue Geschöpf überträgt“, werden Mann und Frau „zu Teilhabern am göttlichen Werk“.15 „Dignitas Personae“ sieht in der ehelichen Vereinigung, die den Menschen ins Dasein setzt und durch die sich Mann und Frau gegenseitig schenken, „einen Abglanz der dreifaltigen Liebe Gottes“.16 Die Würde der Fort13 14 15
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Johannes Paul II., Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan, a. a. O., S. 192. A. a. O., S. 723 Johannes Paul II., Evangelium Vitae 43 unter Verweis auf seinen Brief an die Familien vom 2.2.1994 anlässlich des UN- Jahres der Familie, Gravissimam Sane 9. Glaubenskongregation, Dignitas Personae (2008) 9.
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pflanzung hat ihre tiefste Begründung also in der Mitwirkung an Gottes Schöpfung, ja in der trinitarischen Liebe. Diese Mitwirkung setzt nicht ein Machen, ein produzierendes Handeln oder eine instrumentelle Vernunft, sondern eine Hingabe, ein vorbehaltloses, Leib und Seele umfassendes Sich Schenken voraus. Über die Fortpflanzung hinaus erschließt diese Mitwirkung mit dem Schöpfer sogar „den eigentlichen und tiefsten Sinn des Lebens, ... nämlich eine Gabe zu sein, die sich in der Hingabe erfüllt“.17 Warum widerspricht die künstliche Befruchtung den Vorgaben der menschlichen Natur für die Weitergabe des Lebens? Schon in „Donum Vitae“ nannte die Glaubenskongregation drei Gründe: Die künstliche Befruchtung verletzt erstens das Recht des Embryos, die geschenkte Frucht einer liebenden Vereinigung seiner Eltern zu sein. Sie macht das Kind stattdessen zum Laborprodukt eines Reproduktionsmediziners. Sie verletzt zweitens das Recht der Eheleute, dass der eine nur durch den anderen Vater oder Mutter wird. Und drittens hat sie die Zerstörung zahlreicher Embryonen (ca. 80%) zur Folge. Wie oft bei moraltheologischen und sozialethischen Positionsbestimmungen der katholischen Kirche dominierte in der öffentlichen Wahrnehmung der Instruktion das Nein, in diesem Fall das Nein zur künstlichen Befruchtung. Dass hinter dem Nein ein großes Ja stand, das Ja zur Würde der Person auch im frühesten Stadium ihrer Existenz, das Ja zu ihrem Recht auf Leben sowie zur Schutzpflicht des Staates und der Wissenschaft und nicht zuletzt das Ja zur menschlichen Sexualität, das wollte die Öffentlichkeit nicht wahrhaben. In den 22 Jahren zwischen Donum Vitae und Dignitas Personae hat die Entwicklung der Biomedizin eine Reihe von neuen Problemen aufgeworfen, auf die die Glaubenskongregation mit ihrer neuen Instruktion antworten will. Im Mittelpunkt der neuen Probleme stehen die Präimplantationsdiagnostik, die embryonale Stammzellforschung, das Klonen und die Gentherapie. Die Glaubenskongregation teilt ihre Instruktion in drei Teile ein. Sie erörtert zunächst anthropologische, theologische und ethische Aspekte der menschlichen Fortpflanzung, 17
Johannes Paul II., Evangelium Vitae 49.
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dann neue Probleme der Reproduktionsmedizin und im dritten Teil schließlich neue Therapien, die auf einer Manipulation des menschlichen Erbgutes beruhen. Dass das neue Dokument die Positionsbestimmungen von Donum Vitae sowie den Enzykliken Veritatis Splendor (1993) und Evangelium Vitae (1995) revidieren würde, wird niemand erwartet haben. Diese Positionsbestimmungen werden gleich im ersten Satz bekräftigt. „Jedem Menschen ist von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod die Würde einer Person zuzuerkennen. Dieses Grundprinzip, das ein großes Ja zum menschlichen Leben ausdrückt, muss im Mittelpunkt des ethischen Nachdenkens über die biomedizinische Forschung stehen…“(1). Es gibt keinen Punkt in der menschlichen Entwicklung, an dem aus einem Zellhaufen ein Mensch oder, um mit Robert Spaemann zu sprechen, aus einem Etwas ein Jemand wird.18 Während seines ganzen Lebens, so die Glaubenskongregation, „kann nämlich in der Beschaffenheit des Menschen weder eine Änderung des Wesens noch eine Gradualität des moralischen Wertes behauptet werden“(5). Die biomedizinische Forschung wird von der katholischen Kirche auf der anderen Seite sehr positiv gesehen. Sie ist „ein wertvoller Dienst am umfassenden Gut des Lebens und der Würde jedes Menschen“(3), wenn sie den Menschen von seiner Empfängnis an als Person achtet und zur Überwindung von Krankheiten oder Behinderungen beiträgt. Die Glaubenskongregation ermutigt die Christen, sich der biomedizinischen Forschung zu widmen, den eigenen Glauben in diesem Bereich zu bezeugen und die Früchte ihrer Arbeit allen Menschen zuteil werden zu lassen. In der zentralen Frage des Beginns des menschlichen Lebens beschränkt sich Dignitas Personae allerdings darauf, Donum Vitae zu zitieren (4). Zum Zeitpunkt des Erscheinens von Donum Vitae galt die Zygote, also die Verschmelzung von männlichem Spermium und weiblichem Ei, als der Beginn einer neuen menschlichen Existenz. Dies ist auch heute noch die geläufige Ansicht. Neuere Forschungsergebnisse in der Embryologie (von Günter Rager, Magdalena Zernicka18
Robert Spaemann, Wann beginnt der Mensch Person zu sein?, in: Manfred Spieker, Hrsg., Biopolitik. Probleme des Lebensschutzes in der Demokratie, Paderborn 2009, S. 42.
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Goetz oder Maureen Condic) legen aber die Annahme nahe, dass es gute Gründe gibt, den Beginn des menschlichen Lebens bereits früher anzusetzen.19 Wenn das Spermium in das Ei eingedrungen und die zweite Reifeteilung erfolgt ist, liegt bereits das neue Genom vor. Der Prozess bis zur Verschmelzung der Eikerne dauert dann noch 12 bis 18 Stunden. In der Konsequenz dieser Forschungsergebnisse offenbaren sich „Lücken im Lebensschutz“.20 Auch das Embryonenschutzgesetz in Deutschland müsste neu auf den Prüfstand, weil es zwar das Einfrieren von Embryonen, nicht aber von Vorkernstadien verbietet und auch die Präimplantationsdiagnostik in Form der Polkörperdiagnostik ermöglicht. Die Instruktion ignoriert leider diese Forschungsergebnisse. Sie setzt sich aber andererseits sehr kompetent mit neuen Problemen der biomedizinischen Forschung, auch sehr kritisch mit jenen Positionen von Naturwissenschaftlern und Philosophen (Theologen nicht ausgenommen) auseinander, die die Entwicklung der biomedizinischen Technologien mit einer „eugenischen Perspektive“ betrachten, die mit anderen Worten den Embryo „auf die Summe seiner Zellen reduzieren“, ihm die Würde der Person absprechen, ihn als Ressource für die Forschung oder medizinische Therapien freigeben und in der Gentechnologie eine Chance zur Optimierung der menschlichen Natur sehen. Diese Positionen gefährden nicht nur die Würde der Fortpflanzung und das Lebensrecht des Embryos, sondern auch die rechtsstaatliche Demokratie, weil sie die ontologische Gleichheit der Menschen zerstören. Sie schaffen zwei Klassen von Menschen – die künstlich erzeugten, die den Qualitätskriterien der Erzeuger entsprechen müssen, um leben zu dürfen, und die Erzeuger, die ohne diese Qualitätsprüfung ins Leben getreten sind. Dies unterhöhlt die anthropologische Gleichheit, die Grundlage der Demokratie ist. Dies deutlich gemacht zu
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Maureen Condic, When Does Human Life Begin? A Scientific Perspective, Westchester White Paper 2008; Vgl. Auch Robert P. George/Christopher Tollefsen, Embryo. A Defense of Human Life, New York 2008. Mareike Klekamp, Lücken im Lebensschutz, Humane Vorkernstadien und Präimplantationsdiagnostik aus der Sicht der Christlichen Soziallehre, Paderborn 2008.
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machen, ist nicht das geringste Verdienst der neuen Instruktion. Dignitas Personae unterstreicht erneut, dass der Ursprung des menschlichen Lebens seinen authentischen Ort in Ehe und Familie hat. Eine gegenüber dem Ungeborenen verantwortliche Zeugung muss die „Frucht der Ehe“ und der liebenden Vereinigung seiner Eltern sein.21 Dignitas Personae verteidigt die menschliche Sexualität und den Geschlechtsakt, in dem sich Mann und Frau einander in Liebe schenken, gegen jene Reproduktionsmediziner, die in den Spuren von Aldous Huxleys Roman „Schöne neue Welt“ dazu neigen, die Fortpflanzung durch einen Geschlechtsakt als Merkmal einer barbarischen Zivilisation zu betrachten und die Eltern auf die Rolle von Gametenspendern oder Rohstofflieferanten zu reduzieren. Dignitas Personae sieht im Geschlechtsakt dagegen einen „Abglanz der dreifaltigen Liebe Gottes“. Die Instruktion tritt dem unausrottbaren Gerücht von der Leibfeindlichkeit des Christentums auch durch den Hinweis auf Christus entgegen, der durch seine Menschwerdung gezeigt habe, dass er „die menschliche Leiblichkeit nicht verschmäht, sondern ihre Bedeutung und ihren Wert voll enthüllt“ hat.22 Die Instruktion greift hier auf die Theologie des Leibes von Johannes Paul II. zurück. Medizinische Eingriffe zur Beseitigung von Hindernissen, die der natürlichen Zeugung entgegenstehen, hält die Instruktion für sittlich verantwortbar. Sie nennt auch eine Reihe von Beispielen für solche Hindernisse. Alle Techniken der heterologen und der homologen künstlichen Befruchtung werden dagegen, wie schon in Donum Vitae, verworfen, weil sie den ehelichen Akt, und das heißt, das gegenseitige Sich-Schenken in der ehelichen Vereinigung, nicht erleichtern, sondern ersetzen.23 Darüber hinaus sind sie alle mit dem Tod unzähliger Embryonen verbunden. Daran habe sich in den Jahrzehnten seit Einführung der künstlichen Befruchtung nichts geändert. Mit Recht kritisiert die Instruktion deshalb die staatlichen Gesundheitsbehörden, die in keinem anderen Bereich der Medizin eine 21 22 23
Dignitas Personae 6. Dignitas Personae 7. Dignitas Personae 12 und 16.
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Technik bzw. eine Therapie „mit einer so hohen Rate an negativen, tödlichen Ausgängen“ zulassen würden (15). In der Tat ist es schwieriger, die Zulassung für ein neues Grippemedikament zu erlangen als für eine neue Technik der Reproduktionsmedizin. Mit der Würde der Fortpflanzung verteidigt Dignitas Personae zugleich das Fundament des demokratischen Rechtsstaates, das in der ontologischen Gleichheit der Menschen besteht. Die künstliche Befruchtung macht den erzeugten Menschen zum Produkt der Erzeuger. Sie errichtet „eine Herrschaft der Technik über Ursprung und Bestimmung der menschlichen Person. Eine derartige Herrschaftsbeziehung widerspricht in sich der Würde und der Gleichheit, die Eltern und Kindern gemeinsam ist“ (17), umso mehr dann, wenn zur künstlichen Befruchtung auch noch die Präimplantationsdiagnostik mit ihrer „eugenischen Mentalität“ (22) oder die Gentherapie mit ihrer Absicht, einen neuen, genetisch optimierten Menschen zu schaffen, hinzukommt (27). Die Absicht, mittels der Gentherapie den Menschen zu optimieren, gefährdet, so Dignitas Personae mit Recht, das friedliche Zusammenleben unter den Menschen. Sie drängt die Frage auf, „wer bestimmen könnte, welche Veränderungen positiv und welche negativ wären oder welche Grenzen man bei den einzelnen Wünschen nach angeblicher Verbesserung ziehen müsste“. Das zwingt logischerweise zu der Schlussfolgerung, dass jede Genmanipulation zu Optimierungszwecken „früher oder später dem Gemeinwohl schaden und zur Herrschaft des Willens einiger über die Freiheit anderer führen würde“.24 Eine derartige eugenische Mentalität führe automatisch zu Diskriminierungen von Kranken und Behinderten sowie allen, die den Qualitätscheck der Reproduktionsmedizin nicht bestehen. Aus einer säkularen Perspektive hatte bereits Jürgen Habermas in seinem Buch „Die Zukunft der menschlichen Natur“ 2001 vor dieser Entwicklung gewarnt. Jede menschliche Existenz, die von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht wird, widerspreche der Symmetrie der Beziehungen, die eine wesentliche Voraussetzung für interpersonale Beziehungen und für den egalitären Umgang von Personen sei. Dignitas Personae ist mit der Kritik an der eugenischen Mentalität der Biomedizin ein eindrucks24
Dignitas Personae 27.
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volles Manifest gegen jede Diskriminierung und für die Verteidigung des demokratischen Rechtsstaates, dessen naturrechtliche Basis die gleiche Würde und das gleiche Lebensrecht aller Menschen von der Empfängnis – in vitro wie in utero – bis zum natürlichen Tod ist. Im Hinblick auf die Stammzellforschung kommt die Instruktion zu wichtigen Klarstellungen. Keinen Zweifel lässt sie daran, dass die viel versprechende Forschung mit adulten Stammzellen ethisch unproblematisch und deshalb zu unterstützen sei. Sie zeige außerdem „positivere“ Ergebnisse als die Forschung mit embryonalen Stammzellen. Aus Geweben des erwachsenen Organismus oder aus Nabelschnurblut Stammzellen zu entnehmen, sei ethisch ebenso unproblematisch wie die Entnahme aus dem Gewebe von Föten, die eines natürlichen Todes gestorben sind (32). Verwerflich aber sei es, mit embryonalen Stammzellen zu forschen, weil die Gewinnung dieser Stammzellen immer die Tötung eines Embryos voraussetze. Embryonen oder Föten als Versuchsobjekte zu verwenden, sei „ein Verbrechen … gegen ihre Würde als menschliche Geschöpfe“ (34). Auch Versuche mit Hybriden seien verwerflich und ein „Beleidigung der Menschenwürde …, weil genetische Elemente von Mensch und Tier vermischt werden und so die spezifische Identität des Menschen beeinträchtigt wird“ (33). Ungewöhnlich ausführlich geht die Instruktion auf „die Verwendung von biologischem Material unerlaubten Ursprungs“ ein. Unter diesem umständlichen Titel präsentiert die Glaubenskongregation eine deutliche Kritik an der deutschen Biopolitik, genauer am Stammzellgesetz, das ja die Herstellung von Stammzelllinien in Deutschland entsprechend dem Embryonenschutzgesetz von 1990 verbietet, aber die Forschung mit den importierten Früchten der verbotenen Tat, also mit Stammzellen aus dem Ausland erlaubt. Dieser deutsche Sonderweg wird als „Mitwirkung am Bösen“, die Ärgernis hervorruft, verworfen (32/34). Eine rote Karte also für die Bundesforschungsministerin, die sich so gern auf ihr katholisches Gewissen beruft. Dignitas Personae schließt an die große Zahl jener Dokumente aus dem Pontifikat Johannes Pauls II. an, die jenen eine Stimme gaben, die keine eigene Stimme haben. Die Instruktion ist, wie schon Humanae Vitae, Donum Vitae und Evangeli-
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um Vitae ein Manifest zur Verteidigung des Lebensrechts, der Würde von Mann und Frau und der ganzheitlichen, personalen Sexualität. Sie ist ein Manifest zur Verteidigung des demokratischen Rechtsstaates. Sie ist eine Hilfe zur Unterscheidung von Gut und Böse und ein kraftvoller Beitrag zu einer neuen Kultur des Lebens. Der Einsatz für eine Kultur des Lebens ist der rote Faden nicht nur von Dignitas Personae, sondern auch der Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Schon in seiner ersten Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 2. Oktober 1979, ein Jahr nach seinem Amtsantritt, versuchte Johannes Paul II. den Blick der Welt auf dieses Problem zu lenken: „An der Sorge für das Kind noch vor seiner Geburt, vom ersten Augenblick seiner Empfängnis an ... erkennt man zuerst und grundlegend das Verhältnis des Menschen zum Menschen“.25 Im Lebensschutz sah Johannes Paul II. deshalb die zentrale Legitimitätsbedingung der rechtsstaatlichen Demokratie. Mit seinem Kampf für die Kultur des Lebens versuchte er „eine Selbstzerstörung der Demokratien zu verhindern“.26
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Johannes Paul II., Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York am 2.10.1979, Ziffer 21, in: VAS 13, S. 83. George Weigel, Zeuge der Hoffnung. Johannes Paul II.. Eine Biographie, Paderborn 2002, S. 797.
Aussprache Leitung: Dr. Johannes Hattler Hattler: Die Beiträge der Herren Professoren Böhr, Wald und Spieker beschäftigten sich zwar zentral mit dem Streit um Naturrecht, thematisieren aber zugleich jeweils auch die Menschenwürde und die Gefahr, dass deren unbedingte Geltung gefährdet sei, wenn wir das Naturrecht gänzlich aufgeben. In der akademischen Debatte wird zunehmend zwischen Mensch und Person unterschieden und dies mit weitreichenden theoretischen Implikationen und praktischen Konsequenzen. Im Entwurf der Grundrechtecharta der Europäischen Union aus dem Jahre 2000 – in den Fassungen von 2004 und 2007, letztere ist nun auch mit dem Lissabonvertrag bindend, wurde dies glücklicherweise zurückgenommen – heißt es in Art. 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Bereits lt. Art. 2 und 3 kommt das Recht auf Leben und das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit aber nur Personen zu. Herr Böhr, wie lässt sich dieser Herausforderung nicht nur theoretisch, sondern auch politisch-praktisch begegnen? Dr. Christoph Böhr: Die Verwendung beider Begriffe ist nur sinnvoll, wenn man konstatiert, dass jeder Mensch von Anfang an Person ist. Gegen die lange Tradition, auf die Professor Wald eingeht, gibt es allerdings in den letzten 20 Jahren tatsächlich den Versuch, die Personalität des Menschen von vital-biologischen Prozessen abzukoppeln und auf gewisse Funktionen, letztlich Bewusstseinsäußerungen, zu beschränken. Die Diskussion ist spätestens dann ad absurdum geführt, wenn über den Grad des Bewusstseins geurteilt wird, der zum Einstieg in die volle Rechtsgemeinschaft erforderlich sein soll. Selbst die Befürworter der Unterscheidung können da keine Grenzziehung angeben – etwa im Fall der Debilität oder bei Komatösen, gar bei Langzeitkomapatienten. Die praktischen Schwierigkeiten in lebensrechtlichen Fragen werden unübersehbar.
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Die Unterscheidung von Mensch und Person kann letztlich deshalb nicht gelingen, weil Personalität als Kern des Menschseins sich gerade über den Begriff der Würde bestimmt – und umgekehrt. Den Würdeschutz eines Menschen abhängig davon zu erklären, ob er sozusagen zusätzlich zum Menschsein – in welchem Sinne auch immer – Person ist, würden folglich Linguisten eine sinnlose Aussage nennen. Ohne rigoristisch zu sein, ist jede Position, die für die Würde Ausnahmen zulässt, problematisch, weil sie zu einem Dammbruch führt. Dies ist – auch jenseits religiös motivierter Entscheidung – Ergebnis der vernünftigen Überlegung mit Blick auf die Folgen. Eine Ausnahme führt zu weiteren. Im Bereich des Lebensschutzes warne ich daher davor, selbst scheinbar unproblematische Ausnahmefälle zuzulassen. Spieker: Im Englischen, so etwa im Europarat, wird vom human being gesprochen. Für uns ist damit der Mensch gemeint, im Englischen jedoch das, was erst nach der Geburt existiert, nicht bereits vorher. Und das stellt ein vielleicht noch größeres Problem dar. Insofern kann man nur betonen, dass der Mensch vom Moment der Zeugung an Mensch ist. Zudem ist nach verbreitetem englischem Sprachgebrauch ein „human being“ noch keineswegs „human person“. Dagegen ist zu betonen: Wer Mensch ist, ist Person – der biologischen Anlage wie der Genealogie nach. Rainer Klawki: Mehrfach war die Rede vom „Schutz des menschlichen Lebens“. Wieso ist dieser Begriff in die Sprache eingezogen? Unter „menschliches Leben“ fällt auch das Herz, das transplantiert wird. Der Schutz gilt doch dem lebendigen Menschen und nicht einzelnen Organen. Spieker: Beim menschlichen Herzen würde ich nicht von menschlichem Leben sprechen. Es ist ein Organ. Das Unbehagen hinter ihrer Frage, Herr Klawki, kann ich aber gut nachvollziehen. Die Unterscheidung scheint mir wichtiger bei einer anderen, weit verwirrenderen Sprechgewohnheit. Der Mensch in-vitro wird gern als menschliches Leben bezeichnet. Man versteht, es werde wohl erst noch zum Menschen. Der Mensch ent-
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stehe erst mit der Implantation. Unter den Verfechtern dieser Unterscheidung könnte ich mehr als ein halbes Dutzend evangelischer Sozialethiker nennen, voran Johannes Fischer in Zürich, der in Ethikkommissionen eine große Rolle spielt. Dort hat die Behauptung, es handelt sich zwar um menschliches Leben, aber noch nicht um einen Menschen, letztlich nur den Zweck, die Forschung am Menschen bzw. am menschlichen Leben zu ermöglichen. Darauf antworte ich mit Robert Spaemann: Menschliches Leben existiert nur als Mensch. Dr. Hans Thomas: Was also macht das Menschsein aus? Davon haben wir alle eine einigermaßen klare Vorstellung. Grundsätzlich übrigens auch davon, wie man mit Menschen umgehen soll, nämlich „human“. Quelle ist unsere Selbsterfahrung als Menschen: als Personen mit Vernunft, Willen und Gewissen. Hiervon gehen wir auch aus, wenn wir etwas außerhalb von uns – unbelebte Dinge, Pflanzen oder Tiere – wahrnehmen oder etwa begründen sollen, warum man Tiere töten darf, aber nicht Menschen. Daraus haben wir die Existenz natürlicher Moral und von Naturrecht gefolgert. Beides steht in der Kritik. Im Namen derselben Vernunft, die uns sagt, wie wir als Menschen sind und behandelt werden wollen, sollen wir beides in Frage stellen. Entgegen der Devise der Vernunft, Unbekanntes auf Bekanntes zurückführen, sollen wir uns jetzt auf den umgekehrten Weg einlassen. Wir sollen das uns Bekannte – uns selbst – neu bestimmen und dabei ausgehen von der außerhalb wahrgenommenen Wirklichkeit. Ist das nicht eine Falle? Zudem kommen in der wahrgenommenen Außenwirklichkeit Vernunft, Wille und Gewissen nicht vor. Kein Wunder also, wenn wir belehrt werden, eine eigene „Natur des Menschen“ – mit Vernunft, Willen und Gewissen – sei nicht logisch fassbar, ihre Annahme vielmehr regelmäßig gespeist aus metaphysisch beladenen oder gar religiösen Vorurteilen. Ein Zweifel, ob „metaphysisch beladen“ nicht gerade die Entfernung von Vernunft, Wille und Gewissen aus den Bestimmungsmerkmalen sei, erscheint eher unbeachtlich. Was bleibt, ist ein materiell-biologisch bestimmtes Menschsein. Hieraus Moral oder gar Recht abzuleiten gilt, insoweit folgerichtig, als „naturalistischer Fehlschluss“, denn aus (solcherart) Sein ein
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Sollen zu folgern sei nicht möglich. Der leider früh verstorbene Reinhard Löw erzählte mir nach einem Gespräch mit Hans Jonas in New York, dieser habe dazu spontan bemerkt: „Wer auf einer Fensterbank im dritten Stock eines Hauses rittlings ein Baby sitzen sieht, weiß, was er tun soll, und zwar sofort.“ Wald: Philippa Foot hat 2001 ein sehr schönes Buch geschrieben mit dem Titel „Natural Goodness“, das sich gegen die Kritik des naturalistischen Fehlschlusses richtet. Es wird deutlich gemacht, dass wir den Begriff „gut“ überhaupt nicht sinnvoll verwenden können, wenn nicht immer schon im Kontext einer bestimmten Lebensform. Man kann also nicht sinnvoll sagen, was gut ist, wenn man nicht weiß, gut für wen? Das ist ganz evident. Das ist die alte Einsicht, die wir schon bei Platon finden. Philippa Foot bezeichnet sich selbst als gläubige Atheistin, sagt aber auch, dass sie das allermeiste Thomas v. Aquin verdankt. Zum Metaphysikverdacht: Wer Metaphysik verdächtigt, Ideologie zu sein, kann dabei zwei Strategien verfolgen. Entweder verdächtigt er konkret eine Position, nach der wir ein grundsätzliches Wissen über das Wesen der Dinge besitzen: Substanzmetaphysik. Oder, und hier gibt es prominente Beispiele, so David Hume und John Locke, deren eigene Position bei näherem Hinsehen allerdings selbst auch eine Form von Metaphysik offenbart, jedoch eine schlechtere: eine Eigenschaftsontologie, welche als die primäre Wirklichkeit annimmt, was ich empirisch beobachten, messen und zählen kann. Wer sie vertritt, muss dann allerdings seine Zuflucht zur Substanzmetaphysik nehmen, wenn er nachts nicht ermordet werden will. Das wäre nämlich zulässig, weil ihm gemäß seiner eigenen Position im Schlaf relevante Eigenschaften fehlen, die ihn allererst zur Person machen: Selbstbestimmung, Bewusstsein, etc. Der hier beliebte Rückgriff auf das sogenannte Potentialitätsargument – „ich könnte morgen wieder aufwachen“ – setzt wiederum die klassische Substanzmetaphysik voraus. Das Argument, die Eigenschaftsontologie sei dasjenige, was durch die empirische Forschung alleine gerechtfertigt sei, überzeugt nicht. Der Schluss ist nicht zwingend. Alternativ legen die Eigenschaften die Frage nach dem Grund nahe, der Eigenschaften ermöglicht. Dann ist man bei der Natur einer Sache und der
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Substanz. Eine Auffassung, die scheinbar ohne Metaphysik operiert, setzt anstelle des metaphysischen Kerns die Dezision irgendeines Subjekts. Treffend hat C.S. Lewis einmal bemerkt, es sei falsch zu meinen, dass der Mensch über sich selbst bestimmt. Es seien stets die einen, die über die anderen bestimmen. Ignatius Kordecki: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Professor Wald, dann gibt es auf Grund der anthropologischen Komponente nur den metaphysischen Weg – im Unterschied zu Kant. Können wir die lex naturalis unfehlbar erkennen? Wald: In der Beschreibung sind Thomas v. Aquin und Kant völlig einig. Mit der richtigen Beschreibung liefere ich aber, selbst wenn es nicht anders sein kann, noch keine hinreichende Erklärung, dass es so sein soll. Wie etwa Elisabeth Anscombe in ihrem Artikel Three Philosophers sehr schön nachgewiesen hat, können wir rein philosophisch nur bestimmen, was für einen Menschen zuträglich ist. Auf dieser Grundlage lässt sich ein „should“, ein Sollen begründen. Ein unbedingtes Sollen im kantischen Sinne, als Selbstverpflichtung, lässt sich ohne objektive Grundlage nicht rational nachvollziehen. Ich kann nicht selbst die Instanz sein, die mich verpflichtet. Das meint Carl Schmidt, wenn er von der Säkularisierung theologischer Begriffe spricht. Im gesellschaftlichen Kontext mag das gehen, solange die Institutionen noch Selbstverständlichkeiten vermitteln. Wenn das Selbstverständliche aber als prägende Einflussgröße wegbricht, dann müssen die Voraussetzungen auf den Tisch. Und hier ist die strategische Position der Metaphysikkritiker keinesfalls die bessere. Kordecki: Ist es nicht, Herr Dr. Böhr, eine relativistische Position, wenn wir unsere Intuition als Grundlage des Wissens von dem ansetzen, was Recht und Unrecht ist? Böhr: Zu sagen, wir wissen, bereitet mir immer Probleme. Herrn Spieker wird es vielleicht nicht gefallen, aber ich habe einmal einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel: Wir wissen nicht, ab wann der Mensch ein Mensch ist. Womöglich liege ich hier aber nicht falsch, denn nach Herrn Spiekers Ausführungen waren ja
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die Daten, auf Grund derer wir ursprünglich meinten zu wissen, ab wann der Mensch Mensch ist, empirisch nicht zweifelsfrei. Die Lösung für die Frage nach dem Wissen über Recht und Unrecht kann man mit Johannes Paul II. und im Rückgriff auf Kant im Gewissen fest machen. Bei Kant ist die Rede von einer einzigen Instanz, die apodiktisch spricht. Für die Intuition ist das Gewissen die verantwortliche Instanz, die uns wissen lässt, was rechtens ist. Intuition ist zugegebenermaßen ein unterschiedlich zu verstehender Begriff. Ich kann auch nicht beweisen, dass das, was mein Gewissen mir sagt, richtig ist. Ich weiß nur, dass es vor mir selbst nicht verhandelbar ist. Sicher gibt es Fälle, in denen die Gewissensurteile verschiedener Personen in Bezug auf denselben Sachverhalt differieren können. In Gewissen steckt Wissen. Gewissen ist darüber hinaus noch mehr. Betonen will ich nur, dass jeder Mensch in sich eine Stimme hat, die er zwar übertönen, aber nie ganz ausschalten kann. Und das, denke ich, geben Sie mir ungeachtet möglicher Problematisierungen zu. Wald: Wenn man über das Gewissen spricht, muss man eine Unterscheidung treffen, die schon sehr alt ist. Sie hilft, das Sichere vom Zweifelhaften und auch Missbräuchlichen zu trennen: Synderesis hieß das eine und conscientia das andere. Synderesis meint, das Wissen um die Unterscheidung zwischen gut und böse in dem Sinne, dass wir das Gute tun und das Böse unterlassen sollen, sei uns unverlierbar eingeschrieben. Was allerdings jeweils das Gute und das Böse ist – conscientia –, wissen wir nicht immer so ohne weiteres. Vieles hängt hier von Erziehung, Umgang, Erfahrung ab. Wenn Thomas sagt, dass wir naturhaft wissen, dass wir nicht töten sollen, so ist das richtig. Das weitere aber wissen wir nicht naturhaft. Und deswegen müssen wir natürlich fragen, wie bilden sich die weiteren Gewissensurteile. Das Verräterische heute bei der Berufung auf das Gewissen ist, dass man nicht mehr vom Gewissensurteil, sondern von der Gewissensentscheidung spricht, so als folge das Gute daraus, dass es durch das Gewissen bestimmt ist. In Wirklichkeit ist es umgekehrt: das Gute bindet deswegen, weil es im Gewissen
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erkannt ist. Das heißt: das Gute wird nicht durch das Gewissen erzeugt. Das ist der Fehlschluss heute. Natürlich gibt es dann auch das Problem des irrenden Gewissens. Aber das darf man nicht zur Matrix machen, um die Funktion des Gewissens zu rekonstruieren. Zwar darf ich nicht gegen mein Gewissen handeln. Indem ich jedoch etwas tue, was objektiv falsch ist, schade ich gleichwohl mir und anderen. Man kann eine Parallele sehen zur theoretischen Philosophie. Protagoras sagte, der Mensch ist das Maß aller Dinge. Wenn demnach etwas dem einen so und dem anderen anders erscheint, liege in der Selbstbeziehung der letzte Maßstab dafür, was ist und was nicht ist. Ähnlich verstehen viele Leute das Gewissen in dem Sinne, dass sie in der Beziehung zu sich selbst das Gute oder Böse finden. Und das ist in der Tat eine gefährlich missbräuchliche Berufung auf das Gewissen. Auf sein Gewissen sollte man sich da besser mit Furcht und Zittern berufen. Es könnte nämlich irren. Zudem ist die Berufung auf das Gewissen inzwischen auch ein Diskussionsstopper: „Bitte bleib mir vom Leib, das hat mein Gewissen entschieden.“ Sehr verdächtig! Böhr: Ganz und gar stimme ich der Ablehnung einer missbräuchlichen Berufung auf das Gewissen zu. Gleichwohl behaupte ich: Die letzte Instanz für die Unterscheidung von gut und böse ist das Gewissen. Nicht als ob es vom Himmel fiele und auch nicht in Sekundenschnelle. Gewissensurteile sind vielmehr oft schwierige Entscheidungsprozesse. Kant spricht nicht umsonst vom forum internum, also von einer Art Gerichtsverfahren. Dr. Markus Schulze Schwering: In der Instruktion Dignitas personae habe ich keine positive Beurteilung der künstlichen Befruchtung gefunden. Diese Methode ließe sich ja wohl auch ohne vorherige Selektion durchführen. Was, Herr Professor Spieker, sagt die Kirche Menschen, die auf diesem Wege entstanden sind? Spieker: Diese Frage ist leicht zu beantworten. Diese Menschen sind genauso gottgewollt, wie alle anderen, wie es etwa auch
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Kinder sind, die durch eine Vergewaltigung entstanden sind. Hier ist der Ursprung der Zeugung sicher ein Verbrechen, aber die Frucht des Verbrechens ist dafür nicht zu strafen. Es ist ein Mensch. M.W. heißt es schon in Donum vitae, dass diese Menschen genauso zu lieben sind. Wolfram Kröger: Wenn ich Sie, Herr Böhr, richtig verstanden habe, dann sehen sie das Bundesverfassungsgericht als Garant für den Schutz der Menschenwürde. Nun werden seit Jahrzehnten im Rahmen der Embryonenforschung Embryonen verbraucht. Dadurch hat sich zweifellos eine Veränderung des Rechtsbewussteins vollzogen – des unseren, aber auch desjenigen der Verfassungsrichter. Meine Frage: Wieso hat das Verfassungsgericht sich noch nicht mit der Frage, insbesondere der überzähligen Embryonen befasst? Spieker: Mit dieser Frage direkt hat sich das BVerfG noch nicht beschäftigt. In seinem Urteil von 1975 zu § 218 hat das BVerfG jedoch deutlich gesagt, der Embryo ist von Beginn seiner Existenz an Mensch. In der Sache also hat es entschieden, auch wenn die konkrete Streitfrage noch nicht behandelt wurde. Ihr Lob auf das BVerfG, Herr Böhr, war mir etwas zu rund. Es gab zu viele Urteile mit eklatanten Widersprüchen, vor allem in Fragen des Abtreibungsstrafrechts. 1987 hat etwa Frau Süßmuth die Debatte in Richtung der Gewissensentscheidung gelenkt: Es sei eine Entscheidung der Frau. Damit wollte sie das erreichen, was Sie, Herr Wald, kritisiert haben, dass darüber nicht mehr diskutiert wird. 1993 sagte das BVerfG, wenngleich etwas umständlich, wer ein ungeborenes Kind töte, könne sich nicht auf Art. 4, Abs. 1 GG (Religions- und Gewissensfreiheit) berufen. Zu deutsch: Niemand, der ein ungeborenes Kind tötet, kann sich auf sein Gewissen berufen. Das war sehr positiv. So etwas hätte ich mir von den deutschen Bischöfen gewünscht. Caritasrichtlinien tendierten mehr in Richtung einer Gewissensentscheidung. Nach dem Urteil des BVerfG, das dann so viel den Lebensschutz Aushöhlendes enthielt, war allerdings diese Debatte entschieden. Das letzte Mal, als ich hier auf dem Podium saß, das war im Juli 1993. Wir haben hier über das Urteil des Verfassungsge-
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richts mit Frau Graßhof diskutiert, einer der führenden Richterinnen im zweiten Senat, die dieses Urteil mitgeschrieben hatte. Sie selbst sprach hier vom Spagat des zweiten Senats bei der Findung dieses Urteils. D.h. viel Positives, aber auch viel Schäbiges. Von daher ist mein Urteil über das BVerfG zwiespältig und mein Lob angestrengt. Ernst Benda, langjähriger Präsident des BVerfG, war über dieses Urteil entsetzt und sagte: Wenn das BVerfG meint, der strikte Lebensschutz des ungeborenen Kindes hätte in der Gesellschaft keinen Rückhalt mehr, dann ist es die Aufgabe des Verfassungsgerichtes nicht, wie ein Notar die gesellschaftliche Meinung zu beurkunden, sondern gegen Gesellschaft und Gesetzgeber die Verfassung zu verteidigen.
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Unverzichtbarkeit und Ungenügen des Naturrechts Über Politische Philosophie in der Tradition des Naturrechts
.ODVVLVFKHV1DWXUUHFKWXQGSROLWLVFKH3KLORVRSKLH Das Naturrecht, so formulierte vor Jahren Robert Spaemann, „kann heute nicht mehr als ein Normenkatalog, eine Art Metaverfassung aufgefasst werden. Es ist eher eine Denkweise, und zwar eine alle rechtliche Handlungslegitimation noch einmal kritisch prüfende Denkweise.“1 Dieser Formulierung trifft einen wesentlichen Aspekt der Gedanken, die ich im Nachfolgenden darlegen möchte. Meine These lautet: Das Naturrecht ist zugleich unverzichtbar und ungenügend. Es ist unverzichtbar, vorausgesetzt man ist nicht bereit, Recht mit Macht gleichzusetzen, also einen Rechtspositivismus ohne jegliche Legitimation seiner eigenen metarechtlichen und damit moralischen Grundlagen zu vertreten. Zugleich ist das Naturrecht ungenügend, will man nicht der Illusion verfallen, Recht und Gerechtigkeit könnten in einem gleichsam abstrakt-vorpolitischen Raum a priori bestimmt oder aber aus einer uns vorliegenden Natur eindeutig „abgelesen“ werden, so dass dann positives Recht nur noch die Umsetzung eines so verstandenen naturrechtlichen Normenkataloges wäre. Im Unterschied zum neuzeitlichen Vernunftrecht, aber auch zu einigen Formen der neuscholastischen Naturrechtslehre, bewegte sich die klassische naturrechtliche Tradition stets inner1
R. Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), in: Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie, Stuttgart 1977, 198; und: Spaemann, Philosophische Essays, Stuttgart 1983, 78.
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halb dieser beiden Pole. Ihr war klar, dass positive Gesetze, ja die gesamte positive Rechtsordnung, einer moralischen Legitimationsbasis bedürfen, dass es also ungerechte Gesetze geben kann, Gesetze, die nicht Recht, sondern eher Gewaltanwendung sind, ein positivrechtlich perfekt durchstrukturierter, geordneter und formal einwandfreier Unrechtsstaat also möglich ist. Zugleich war ihr jedoch auch immer der Gedanke gegenwärtig, dass das Naturrecht die konkrete Gestalt und die Inhalte der positivrechtlichen Ordnung noch nicht abschließend determiniert, ja offen ist für eine Vielzahl geschichtlich bedingter Realisationsmöglichkeiten und Konkretionen. Naturrecht normiert abschließend höchstens in negativer Weise, indem es eindeutige Grenzen des moralisch Möglichen und damit auch des politisch-rechtlich Zulässigen setzt. Naturrechtliches Denken ist Bestandteil eines bestimmten Typus politischer Philosophie. Dieser Typus versteht sich selbst wesentlich als politische Ethik und ist als solche mehr als nur bloßes „Naturrecht“. Die Aussage, Naturrecht gehöre zur politischen Philosophie und sei wesentlich politische Ethik, ist also nicht trivial. Da jegliche Ethik sich mit der Sphäre des konkreten Handelns beschäftigt, impliziert diese Aussage nämlich, dass Naturrecht konkret werden muss, ohne jedoch selbst die eindeutigen Bestimmungskriterien solcher Konkretion bereits in sich zu enthalten. Mit anderen Worten: Der naturrechtliche Typus politischer Philosophie enthält bereits von seinem Wesen her den Gedanken, dass Naturrecht sowohl unverzichtbar wie auch ungenügend ist. Der naturrechtliche Typus politischer Philosophie gründet deshalb auf dem Naturrecht, führt aber gleichzeitig auch darüber hinaus; er verlangt nach solcher Konkretion, kann also gerade als naturrechtliches Denken nie nur bei den Prinzipien des Naturrechts stehenbleiben. Mit anderen Worten: Um zur Konkretheit des positiven Rechts und politischer Gestaltung zu gelangen, muss eine naturrechtlich gegründete politische Philosophie und Ethik die Ebene des rein naturrecht lich eindeutig Bestimmbaren oder gar Ableitbaren übersteigen. Eine solche Programmatik scheint zunächst mit der Tradition des katholischen Naturrechtsdenkens und der damit eng verbundenen, vom kirchlichen Lehramt vorgelegten katholi-
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schen Soziallehre in Konflikt zu geraten. Denn diese beschränken sich – ihrem Selbstverständnis gemäß – auf allgemeine bzw. fundamentale Prinzipien, ohne in die Details der politisch-praktischen Konkretion einzusteigen, denen gegenüber es „Indifferenz“ bewahren will. Dieses Denken steht in gewisser Weise in der Tradition des Satzes von Augustinus: „Was liegt viel daran, unter wessen Herrschaft der dem Tode entgegengehende Mensch lebt, wenn ihn nur die Herrscher nicht zu gottlosen und ungerechten Taten zwingen?“2 Solange die als grundlegend erachteten naturrechtlichen Erfordernisse erfüllt sind – so formulierte man traditionellerweise – verhält sich die katholische Soziallehre gegenüber den verschiedenen praktisch-politischen Realisierungen, sprich: Staatsformen indifferent (eine Lehre, die mit der Enzyklika „Centesimus Annus“, 1991, stark modifiziert, wenn nicht sogar grundlegend revidiert worden ist, da jetzt nur noch eine Indifferenz gegenüber verschiedenen Formen der verfassungsstaatlichen und grundlegende Menschenrechte anerkennenden Demokratie gelehrt wird3). Die traditionelle katholische Indifferenzlehre hatte den Vorzug, dass sie es – ganz im Unterschied etwa zum deutschen Protestantismus – dem politischen Katholizismus ermöglichte, sich nach dem Ersten Weltkrieg problemlos mit einer republikanischen und demokratischen politischen Kultur zu identifizieren und darin aktiv zu werden. Sie barg in sich aber auch die Gefahr, allzu leicht auch autoritäre Regierungsformen bzw. Diktaturen zu akzeptieren, sofern eben „die grundlegenden Erfordernissen des Naturrechts“ gewahrt blieben (die in der Praxis sehr oft mit den „Rechten der Kirche“ – vor allem in den traditionell als neuralgisch betrachteten Bereichen des Schulwesens und des Eherechtes – identifiziert wurden). Politische Philosophie nun, die als eine naturrechtlich begründete verstanden wird, wie sie uns seit Platon und Aristoteles be2 3
Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat (De civitate Dei), übersetzt von W. Thimme, München 1985, Fünftes Buch, 17, 256 Vgl. z. B. Johannes Paul II. Enzyklika “Centesimus Annus” Nr. 47: “Die Kirche achtet die berechtigte Autonomie der demokratischen Ordnung. Es steht ihr nicht zu, sich zugunsten der einen oder anderen institutionellen oder verfassungsmäßigen Lösung zu äußern. Der Beitrag, den sie zu dieser Ordnung anbietet, ist die Sicht von der Würde der Person, die sich im Geheimnis des Mensch gewordenen Wortes in ihrer ganzen Fülle offenbart.“
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kannt ist, unterscheidet sich jedoch ganz wesentlich von einem „Naturrecht“, das letztlich nicht an der konkreten Gestaltung der irdischen Stadt interessiert ist, sondern lediglich daran, die Fundamentalbedingungen dafür zu klären, dass diese Stadt nicht durch Gottlosigkeit und Verpflichtung zur Ungerechtigkeit ein Hindernis für das ewige Heil des Menschen wird bzw. die Kirche daran hindert, ihre eigenen Zuständigkeiten wahrzunehmen. Dieser Unterschied ist für die Reflexion über das politische Ethos des modernen demokratischen Verfassungsstaates und entsprechende politisch-ethische Implikationen von nicht unwesentlicher Bedeutung. Dieses politisch-rechtliche Ethos, das zu konkreten verfassungsrechtlichen und rechtspolitischen Gestaltungen geführt hat, ist nämlich in der Tat eine eigentliche politische Konkretion des Naturrechtsdenkens. Sie besitzt eine eigene und spezifische Legitimität, die in neuzeitlichen geschichtlichen Erfahrungen und Lernprozessen gründet. Es scheint mir wichtig, dieses Ethos gerade auch als eine solche Konkretion naturrechtlichen Denkens zu interpretieren, die aber, wie gesagt, eben nicht einfach aus naturrechtlichen Normenbeständen ableitbar ist, sondern einer Applikation solcher normativer Vorgaben auf konkrete Verhältnisse entspringt. Diese Herkunft des politischen Ethos der Moderne aus der naturrechtlichen Tradition ist offensichtlich, auch wenn diese Herkunft zunehmend in Vergessenheit zu geraten scheint. Im Folgenden möchte ich das Gesagte etwas genauer ausleuchten und insbesondere begründen, weshalb, erstens, das Naturrecht unverzichtbar ist, ja wir um ein Naturrecht als, wie Spaemann formuliert, „kritisch prüfende Denkweise“ und als Legitimationsinstanz positiv-rechtlicher Normierungen in der einen oder anderen Form gar nicht herumkommen (das werde ich anhand einer Gegenüberstellung von Hobbes und Kelsen, beides Rechtspositivisten, zeigen). Zweitens möchte ich genauer begründen, weshalb das Naturrecht von seinem Wesen her aber auch ungenügend ist, da sich Konkretionen aus naturrechtlich geltenden Beständen und Normen nie eindeutig ableiten lassen und naturrechtliches Denken deshalb immer eine gewisse praktisch-politische Ambivalenz aufweist (letzteres werde ich vor allem am Beispiel der Religionsfreiheit aufzuzeigen versuchen).
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2. Die Unverzichtbarkeit der Idee des Naturrechts Politische Philosophie, die ein Naturrecht, das heißt ein unabhängig von positiv-rechtlichen Normierungen und konkreten politischen Institutionen bestimmbares „Recht“ anerkennt, unterscheidet sich wesentlich von einer politischen Philosophie, welche sich der Existenz eines „von Natur aus Rechten“ verschließt. Anerkennung von „Naturrecht“ im fundamentalsten Sinne impliziert folgende Aussagen: 1. Es existiert, unabhängig von ihrer konkreten politisch-rechtlichen Verfasstheit, ein Bonum commune – ein „gemeinsames Gut“ – der Gesellschaft bzw. der in einer Gesellschaft zusammenlebenden Menschen. 2. Die Beachtung und Förderung dieses Bonum commune ist Aufgabe der politischen Institutionen (dazu gehören auch die Gesetze). 3. Die Legitimität politischer Gewalten hängt nicht nur von ihrer faktischen Existenz und immanenten Kohärenz ab, sondern immer auch von ihrer tatsächlichen Ausrichtung auf dieses Bonum Commune und seiner Respektierung. 4. Da diese legitimitätsstiftenden Eigenschaften Rechtscharakter besitzen, ist politische Gewalt der Idee des Rechtes untergeordnet und ihr verpflichtet. Selbst eine politische Theorie wie diejenige von Thomas Hobbes – um hier den äußersten und gerade deshalb besonders aufschlussreichen Grenzfall anzuführen –, respektiert noch die eben genannten Erfordernisse der Idee des Naturrechtes.4 Denn gemäß Hobbes ist das Recht der Natur ein einziges: Das aus der Selbsterhaltung folgende Recht eines jeden, alle Mittel zu nutzen, um sich am Leben zu erhalten. Die Vernunft gebietet nun mit den verschiedenen, von ihr gefundenen „Naturgesetzen“, dies durch die Suche nach Frieden und der Ermächtigung eines Souveräns, der für Recht und Ordnung sorgt, zu bewerkstelligen. Einmal eingesetzt, bestimmt allein der Souverän, was 4
Vgl. auch N. Bobbio, Hobbes e il giusnaturalismo, in: Rivista Critica di Storia della Filosofia, 17 (1962), 470-485.
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Recht und was Unrecht ist. Das positive Recht steht also ganz im Dienste des natürlichen Rechts auf Überleben, kann aber selbst nicht noch einmal aufgrund naturrechtlicher Prinzipien auf seine Gerechtigkeit hinterfragt oder kritisiert werden: Auctoritas non veritas facit legem.5 So verstanden bleibt „Naturrecht“ allerdings letztlich ein allzu formales Prinzip, das, wie im Falle Hobbes‘, auch dazu dienen kann, einen dezidierten Rechtspositivismus zu begründen.6 Dennoch enthält auch eine solche rein formale Bestimmung von „Naturrecht“ bereits ein Minimum unverzichtbarer materialer Gehalte, nämlich die implizite Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer politischer Gewalt; die prinzipielle Suprematie des Rechtes über die Macht; die Suprematie des nichtpositiven Rechtes über das positive Recht, deren Quintessenz das Widerstandsrecht ist. Auch letzteres gilt im Grunde noch für Hobbes, dessen Originalität ja gerade darin besteht, das gesamte positive Recht mit dem aus dem natürlichen Recht auf Selbsterhaltung abgeleiteten „natürlichen Gesetz“ zu identifizieren, indem er ersteres als Realisationsbedingung und faktische Realisation des zweiten aufzuweisen sucht. Damit bleibt zwar nur noch gerade ein einziger Fall realer Konfliktmöglichkeit zwischen Naturrecht und positivem Recht (bzw. souveräner Gewalt) bestehen: Die unmittelbare Lebensgefährdung oder Todesbedrohung durch den Souverän: Da ja der Souverän gerade und allein dazu autorisiert wurde, das natürliche Recht auf Selbsterhaltung im Interesse eines jeden Vertragspartners effizient zu wahren, ist das in seiner physischen Existenz unmittelbar bedrohte Subjekt auf Grund seines natürlichen Rechtes nun legitimiert, im Namen des Naturrechtes sein nacktes Leben mit allen Mitteln zu verteidigen.
5
6
T. Hobbes Malmesburiensis Opera Philosophica quae Latine scripsit Omnia, 5 vol.. ed. W. Molesworth, London 1839-1845 (Reprint: Aalen 1962-1966), vol. 3, 202 Vgl. etwa die Darstellung bei M. Villey, La formation de la pensée juridique moderne – Cours d‘historie de la philosophie du Droit, nouvelle édition corrigée, Paris 1975, 677 ff.
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Das zeigt, dass auch Hobbes noch in der Tradition des Naturrechts argumentiert.7 Selbstverständlich gilt dies in noch vermehrtem Maße für die, sich auf die Idee der unveräußerlichen Menschenrechte gründende politische Konzeption des Verfassungsstaates, eine Konzeption, die sich ganz wesentlich von derjenigen Hobbes’ unterscheidet. Diese Konzeption stammt zwar ursprünglich nicht aus der Idee des Sozialvertrags (die bekanntesten Kontraktualisten, Hobbes, Spinoza, Pufendorf, Rousseau waren sämtlich keine Theoretiker des Verfassungsstaates, nicht einmal Locke war es wirklich, obwohl er von den Verfassungsvätern der Vereinigten Staaten von Amerika dann in diesem Sinne gelesen wurde 8). Sie stammt vielmehr aus dem Geist des Widerstandsrechts und der darauf aufbauenden angelsächsischen Rechtstradition der rule of law. Das Widerstandsrecht reklamiert nun eben gerade gegen konkrete politische Gewalt und positive Rechtssetzung ein Recht, auf das sich der Mensch unabhängig von aller positiven Normierung zu berufen vermag. Der die Grundrechte des einzelnen schützende Verfassungsstaat ist gleichsam eine qualifizierte Institutionalisierung des Widerstandsrechts. Es stimmt zwar, wie C. J. Friedrich9 betont, dass eine ganze Reihe sogenannter Grundrechte bereits die Existenz einer staatlichen Ordnung und entsprechender Institutionen voraussetzt, Grundrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, in gewissem Sinne auch die Religionsfreiheit also erst im Kontext einer staatlichen Ordnung überhaupt Sinn machen und einen bestimmbaren Gehalt haben. Dennoch sind diese Rechte sämtlich rückbezogen auf die Idee, dass der Mensch an sich schon Rechte besitzt; dass man ihm also auch aufgrund von ordnungsgemäß erlassenen positiven Gesetzen durchaus Unrecht zufügen kann. 7
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Dies wurde schon vor langer Zeit vor allem hervorgehoben durch M. Oakeshott, Introduction to Leviathan, Reprint in: M. Oakeshott, Hobbes on Civil Association, Oxford 1975. Vgl. dazu M. Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 4. Aufl. Opladen 1990. C. J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin 1953 (Constitutional Government and Democracy, 3. ed. Boston 1951), 182.
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Wohl auf nachdrücklichste Weise wurde jeglicher Rückbezug des positiven Rechts auf eine ihm transzendente Gerechtigkeitsnorm von Hans Kelsen geleugnet. In seiner den modernen Rechtspositivismus zum wissenschaftlichen System erhebenden Reinen Rechtslehre leugnet Kelsen jegliche Möglichkeit, unabhängig von positiver Normierung irgendwelche Maßstäbe von Gerechtigkeit finden zu können. Um diese Behauptung durchzuhalten, muss Kelsen allerdings einen für seine Theorie gravierenden Widerspruch hinnehmen und die auch bei ihm durchaus vorhandenen naturrechtlichen Voraussetzungen verschleiern. Für Kelsen steht nämlich das Recht im Dienste kollektiver Sicherheit, die wiederum auf Frieden zielt, wie er in der Reinen Rechtslehre erklärt: „Das Recht ist eine Ordnung des Zwangs, und als Zwangsordnung eine – seiner Entwicklung nach – Sicherheits-, und das heißt Friedensordnung“.10 Damit definiert Kelsen Wesen und Funktion des Rechts in bester hobbesianischer Tradition: Gerecht ist, was kollektiver Sicherheit und damit dem Frieden dient. Die Idee des Rechtes ist identisch mit der Idee des Staates als Instanz der Friedenssicherung. Positives Recht erhält durch seine Funktion, Sicherheit und Frieden zu schaffen, seine materiale Legitimation. Man würde nun meinen, daraus ergebe sich, legitimes Recht und legitime Rechtssetzungspraxis seien solche, die nun tatsächlich Sicherheit und Frieden dienten. Damit hätte dann Kelsen ein transzendentes, vorpositives – und damit naturrechtliches –, wenn auch äußerst utilitaristisch-pragmatisches Gerechtigkeitskriterium anerkannt, zwar nicht für einzelne Rechtsnormen, wohl aber für das Rechtssystem bzw. den Staat insgesamt. Dem ist aber nicht so. Kelsen erklärt nämlich in seiner Reinen Rechtslehre fast zweihundert Seiten später, dass auch die rechtliche Grundnorm des Rechtssystems sich auf keine ihr transzendente Regel beziehen könne. Ob eine Ordnung „gerecht oder ungerecht sei“ könne man gar nicht fragen. Und dann „auch nicht, ob diese Rechtsordnung tatsächlich einen relativen Friedenszustand innerhalb der durch sie konstituierten
10
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1960, 39.
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Gemeinschaft garantiert. In der Voraussetzung der Grundnorm wird kein dem positiven Recht transzendenter Wert bejaht“.11 Das ist nun freilich ein eklatanter Widerspruch, denn aufgrund eines solchen Wertes (Frieden und Sicherheit) wurde ja gerade Wesen und Funktion des Rechtes überhaupt definiert. Kelsen behauptet in der Tat, dass man an eine Rechtsordnung prinzipiell gar nicht die Frage stellen könne, ob sie überhaupt dem Wesen und der Funktion des Rechtes entspreche. Man könne allein die „immanente“ Frage nach der inneren logischen Kohärenz des positiven Rechtssystems stellen. Kelsen wäre gut beraten gewesen, Hobbes genauer zu lesen. Trotz seiner inadäquaten Bestimmung der Beziehung von Recht und Macht ist nämlich gerade Hobbes privilegierter Zeuge dafür, dass auch der Rechtspositivismus als eine Geltungstheorie des positiven Rechts entweder naturrechtlich, das heißt in einer dem positiven Recht transzendenten Rechtsnorm begründet werden muss, oder aber gänzlich unbegründet bleibt. Auch Kelsen ist dafür ein – freilich unfreiwilliger – Zeuge. Die Anerkennung irgendeiner Form von „Naturrecht“ ist also unvermeidbar. Selbst ein Rechtspositivismus bedarf, will er auf eine Begründung nicht völlig verzichten, letztlich einer naturrechtlichen Begründung. Verzichtet er auf eine Begründung, so muss er dafür plädieren, Recht und Macht gleichzusetzen und sich dabei lediglich auf rechtstechnische Kohärenz beschränken. Die Rede von einem „Unrechtsstaat“ würde dann keinen Sinn mehr machen. Falls der Rechtspositivismus jedoch eine Begründung erfährt, dann ist er gar nicht mehr so „positivistisch“, wie er den Anschein machen will. Er muss sich dann ehrlicherweise damit bescheiden, sich als eine Geltungstheorie des positiven Rechts zu verstehen, das sich dann aber immer schon der Frage nach seiner Legitimität und Gerechtigkeit zu stellen hätte und diese Frage auch stets zulassen muss, ansonsten er in eine Apologie der bloßen Macht verfiele. Diese Frage jedoch ist wiederum naturrechtlicher Art. Hobbes, und darin liegt die von ihm ausgehende Faszination, ist ihr keineswegs ausgewichen; seine gesamte politische Theorie, zu der auch die
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Ebd., 204 (Hervorhebung nicht im Original).
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Anthropologie gehört, ist eine Antwort auf sie.12 Diese Antwort mag schockierend sein und bestimmt ist sie in ihrer doktrinären Einseitigkeit falsch und wurde als solche auch von Zeitgenossen und „Schülern“ abgelehnt; sie ist aber im Gegensatz zu Kelsens Position auf ihre normativen und anthropologischen Grundlagen hin transparent und deshalb grundsätzlich widerlegbar. Eine Theorie jedoch, die sich wie die Kelsensche argumentationstechnisch gegen normative Begründungsdiskurse abschottet, macht sich selbst unangreifbar. Ähnliches, wenn auch aus ganz anderen Gründen und mit vielen Nuancierungen, ließe sich auch über John Rawls‘ Begriff des „Öffentlichen Vernunftgebrauchs“ (Public reason) sagen, wie er ihn in seinem zweiten Hauptwerk „Politischer Liberalismus“ entwickelt und später noch verfeinert.13 Rawls‘ Public reason schottet sich ebenfalls auf zunächst nicht ganz durchsichtige Weise gegenüber der Idee des Naturrechts ab. Dies geschieht durch einen, bereits in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ verwendeten, allen anderen Argumentationsschritten zugrunde gelegten Begriff der Gesellschaft als „System der Kooperation von freien und gleichen Individuen zum gegenseitigen Vorteil“.14 Damit werden Personen von Anfang an und ausschließlich als Bürger-Individuen betrachtet. Und das heißt: Ihre vorpolitischen Eigenschaften als Angehörige anderer, nicht politischer Sozialverbände – wie etwa die Familie oder die Nachbarschaft – und entsprechende, für solche Kommunitäten konstitutive Ungleichheiten – Geschlechterdifferenz, ElternKind Beziehung usw. – wie auch die Rechte Ungeborener fallen für die Praxis des öffentlichen Vernunftgebrauchs und damit als Kriterien für politische Gerechtigkeit aus dem Raster.15 12
13 14 15
U. Weiss, Das philosophische System von Thomas Hobbes, Stuttgart-Bad Canstatt 1980; Martin Rhonheimer, La filosofia politica di Thomas Hobbes – Coerenza e contraddizioni di un paradigma, Rom 1997. J. Rawls, Politischer Liberalismus (übersetzt von W. Hinsch), Frankfurt a. M. 1998 (orig.: Political Liberalism, New York 1993; 1996). Vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (übersetzt von H. Vetter), Frankfurt a. M. 1979. Vgl. dazu M. Rhonheimer, Grundrechte, Moralgesetz und Lebensschutz im Demokratischen Verfassungsstaat, in: M. Rhonheimer, Abtreibung und Lebensschutz. Tötungsverbot und Recht auf Leben in der politischen und medizinischen Ethik, Paderborn, 2003, 27-89.
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Diese Kriterien werden sogar im Gegenteil durch ein allein auf Personen als „freie und gleiche“ Individuen bezogenes fundamentales politisches Gerechtigkeitskriterium, nämlich dem der Reziprozität, beständig im individualistisch-egalitaristischen Sinne uminterpretiert bzw., wie im Falle der Ungeborenen, einfach ignoriert.16 Die rawlssche Immunisierungsstrategie gegenüber dem Naturrecht lässt sich jedoch nicht durchhalten, wie sich gerade in seinen letzten Äußerungen zum Thema „öffentlicher Vernunftgebrauch“ gezeigt hat.17 Kurz zusammengefasst: Naturrecht impliziert in seinem grundlegendsten Sinne unverzichtbare formale Gehalte, die sich erstens auf die Legitimation von politischer Herrschaft und derjenigen der Rechtsordnung beziehen und, zweitens, diese selbst auf materiale Grundgehalte des Guten festlegt bzw. Schranken des moralisch Möglichen und damit des politisch Zulässigen formuliert.
3. Politisch-philosophisches Ungenügen der Naturrechtslehre Die genannten formalen Gehalte der Idee des Naturrechts und einer naturrechtlichen Denkweise, aber auch ihre grundlegenden materialen Gehalte sind nun jedoch für politische Philosophie in keiner Weise ausreichend. Politische Philosophie ist praktische Philosophie, das heißt, Reflexion über Praxis mit dem Ziel, konkretes politisches Handeln und Gestalten zu orientieren. Bei jeder Praxis, auch der politischen, geht es um die konkreten Mittel, mit denen man bestimmte Ziele erreichen will. Es geht um Handlungen. Dies gilt auch für jede praktische Wissenschaft. Selbst die aristotelische Ethik ist keineswegs einfach nur eine Lehre über die Ziele menschlichen Handelns (Glückseligkeit, tugendhaftes Leben). Im Gegenteil: Davon ist 16 17
So bei J. Rawls, Politischer Liberalismus, a.a.O. 349 (Anm. 32) Siehe dazu M. Rhonheimer, The Political Ethos of Constitutional Democracy and the Place of Natural Law in Public Reason: Rawls’ “Political Liberalism” Revisited (Notre Dame Law School, Natural Law Lecture 2005), in: American Journal of Jurisprudence» 50 (2005), 1-70.
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in Anbetracht der fundamentalen Bedeutsamkeit dieser Ziele eigentlich wenig die Rede. Auch die aristotelische Ethik ist eine Lehre über die Mittel, das heißt über die menschlichen Handlungen, mit denen Ziele wie „Glückseligkeit“ und „Tugend“ überhaupt erreichbar werden. Im Bereich politischen Handelns erscheint es deshalb äußerst problematisch, zwischen „moralischen Prinzipien“ und sogenannten „technischen Aspekten“ eine klare Trennlinie behaupten zu wollen, in der Meinung, im Bereich politischer Theorie und Philosophie ließe sich allein schon dadurch etwas praktisch Bedeutsames sagen, dass man sich lediglich auf Aussagen über „moralische Prinzipien“ beschränkt. Die sogenannten „technischen Aspekte“ sind ja gerade jene, die sich auf das Handeln erstrecken. Moralische (sprich: naturrechtliche) Prinzipien genügen nicht, um etwas zu tun. Damit praktische Prinzipien operativ, das heißt zu handlungsbestimmenden Prinzipien werden können, bedarf es der Bestimmung „technischer“ Mittel, wobei freilich das Prädikat „technisch“ hier eigentlich ungeeignet ist (es handelt sich ja in den wenigsten Fällen um Fragen der „Technik“). Die „Mittel“ stecken vielmehr jenen Bereich ab, in dem Moralität überhaupt erst konkret und praktisch wird. Solche Mittel sind in der Politik z. B. Gesetze, Rechtsinstitutionen, verfassungsrechtliche Ordnungsprinzipien, insbesondere die institutionelle Garantie von Grundrechten, der Markt als rechtlich-politische organisiertes Mittel der Allokation von Ressourcen usw. Sie sind nicht Technik, sondern Praxis, bzw. institutionalisierte und institutionelle Praxis. Deshalb genügt es nicht, auf der Ebene des Naturrechts, Prinzipien oder Ziele zu formulieren, die dann, auf der „technischen“ Ebene, als abschließendes Kriterium der Legitimität der Mittel fungieren. Das heißt, es genügt nicht, jeweilige Mittel einfach aufgrund ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit diesen Prinzipien zu beurteilen ohne sie selbst, in ihrer Eigenschaft und Angemessenheit als Mittel, zu bewerten. Die Frage nach der (moralischen) Legitimität der Mittel ist ja nicht die einzige Frage; hinzu kommt die Frage nach ihrer konkreten, immer auch historisch bedingten Notwendigkeit und Praktikabilität. Und in diesem Horizont stellt sich dann sehr oft auch die Frage nach ihrer moralischen Legitimität ganz
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neu und je wieder anders. Denn das abstrakt-moralisch Geforderte und von seinem Werte her Höhere ist unter Umständen praktisch-politisch nicht nur unrealisierbar, sondern auch dysfunktional und kontraproduktiv; das Realisierbare und Funktionale kann jedoch gerade, trotz seiner moralischen Ambivalenz – wie dies bei politischen Freiheiten, die zum Guten und zum Schlechten gebraucht werden können, generell der Fall ist – das praktisch-politisch Gebotene und damit auch das moralisch Richtige sein. So lässt sich etwa fragen: Welcher Norm des Naturrechtes widersprächen eigentlich ein autoritäres Regime oder gar eine Diktatur ohne Gewaltenteilung, demokratische Repräsentativkörperschaften und ohne verfassungsmäßige Garantien von Grundrechten und unabhängigen richterlichen Instanzen, um ihre Verletzung einklagen zu können? Es könnte wohl kaum eine „Norm des Naturrechts“ angegeben werden, der dies in offensichtlicher Weise widersprechen würde, und dennoch lässt sich meiner Ansicht nach unschwer zeigen, weshalb unter konkreten historischen und gesellschaftlichen Bedingungen gerade solche Formen politischer Realisation gerade aus naturrechtlichen Gründen illegitim sind. Doch dazu bedarf es der politischen Philosophie, welche Naturrecht in praktisch-konkreten Gestaltungen denkt. Politische Philosophie erstrebt Aussagen darüber, wie wir in einer real existierenden Welt handeln sollen, in einer kontingenten Welt mit ihrer jeweiligen historischen Bedingtheit. Als praktische Wissenschaft beschäftigt sich demnach politische Philosophie nicht nur mit Prinzipien, sondern gerade auch und vornehmlich mit ihrer Realisierung im Bereich der Mittel, die nun gerade den Bereich des Handelns bilden. Politische Praxis ist aber bereits die Schaffung von konkreten Institutionen, von Verfassungen und positiven Gesetzen. Gerade dies ist eine der nachhaltigsten Lektionen des Aristoteles. In der späteren europäischen Geschichte sollte sie nie mehr in Vergessenheit geraten. Denn Aristoteles hat jene Tradition politischer Theorie inauguriert, in der immer auch die anthropologischen, historischen, soziologischen, ökonomischen und psychologischen Realbedingungen politischer Gestaltung mitreflektiert werden. Der naturrechtliche Typus politischer Philosophie weist genau
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deshalb über die naturrechtlichen Prinzipien hinaus. Politische Philosophie ist, auch wenn sie sich auf dem Naturrecht gründet bzw. dieses in ihren Begründungsdiskurs integriert, immer mehr als nur Naturrecht. Auch für einen weiteren Aspekt lässt sich – um noch einmal auf den Philosophen von Malmesbury zurückzukommen – durch eine sozusagen therapeutische Hobbes-Lektüre ein geschärfter Blick gewinnen. Hobbes sah mit kompromissloser Deutlichkeit, dass aus den Schriften von Juristen, Moralphilosophen und Theologen noch keine geltenden Gesetze zu gewinnen sind. Wer nämlich, so ist die Frage, ist der autorisierte Interpret dessen, was nun gelten soll? Wer richtet darüber? Dies setzt voraus, was Hobbes – übrigens nicht anders als die mittelalterliche Kanonistik – als Kennzeichen von Souveränität behauptet. Noch einmal heißt es hier: Auctoritas, non veritas facit legem. Die bloße Anwendung bzw. Umsetzung von naturrechtlichen Prinzipien in konkrete Gesetzesnormen bedarf bereits einer konkreten politischen Ordnung, ist ein institutionelles Problem, ein Problem also auf der Ebene der Mittel. Hobbes hat das unbezweifelbare Verdienst, den Blick für das Problem der politischen Realisation unter den Bedingungen des Konflikts – heute würden wir sagen: des gesellschaftlichen und weltanschaulichen Pluralismus – geschärft zu haben, den rechtspolitischen Blick also für die politisch-praktischen Bedingungen, unter denen so etwas wie „Naturrecht“ überhaupt institutionelle Geltung und damit auch praktische Relevanz erhalten kann. Die Lösung Hobbes‘ ist allerdings keine Grundlage für die politische Kultur des demokratischen Verfassungsstaates. Denn bei Hobbes konkretisiert sich das Naturrecht allein in der Person des Souveräns und einer von ihm allein zu verantwortenden Ordnung des positiven Rechts, die dann als solche nicht mehr naturrechtlich hinterfragt und kritisiert zu werden vermögen. Der Hobbessche Leviathan ist gerade kein Verfassungsstaat, in dem alle Macht von Personen Institutionen des Rechts untergeordnet sind, das Widerstandsrecht also rechtlich institutionalisiert ist und deshalb, im Rahmen dieser Institutionen, die Aus-
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übung von Macht auch wiederum naturrechtlich hinterfragt werden kann.18
,OOXVWUDWLRQDP%HLVSLHOGHU5HOLJLRQVIUHLKHLW Das genannte Ungenügen einer naturrechtlichen Prinzipienlehre lässt sich unschwer am Beispiel der Religionsfreiheit verdeutlichen. Dieses Beispiel zeigt nämlich wie kaum ein anderes, wie es möglich ist, mit denselben naturrechtlichen Prinzipien zu ganz verschiedenen, ja sogar miteinander unvereinbaren politisch-praktischen Konkretionen zu gelangen, von denen nun beide für sich beanspruchen, den Forderungen des Naturrechts zu entsprechen. Diese Verschiedenheit wiederum verdankt sich nicht unterschiedlichen Auffassungen über den Inhalt des entsprechenden natürlichen Rechtes, sondern einer Divergenz der von „Naturrecht“ eben zu unterscheidenden politischen Philosophie, auf deren Grundlage jeweils entsprechende naturrechtliche Prinzipien konkret appliziert, das heißt in politische Realisation übergeführt werden. Dies ist gerade deshalb so, weil – es sei wiederholt – politische Philosophie immer auch eine Konzeption über die Mittel einschließt, die nun gerade auf der Ebene der Applikation von Prinzipien explizit oder aber implizit zum Tragen kommt. Wir können das naturrechtliche Prinzip „Religionsfreiheit“ definieren als das natürliche Recht eines jeden Menschen, ohne jeden äußeren Zwang jener Religion anzuhängen und sie auszuüben, die er in Freiheit und seinem eigenen Gewissen gemäß als die wahre erkannt hat. Wir können sogar noch die Zusatzbehauptung anführen, dieses Recht gründe in der Verpflichtung eines jeden Menschen, die religiöse Wahrheit zu suchen und der erkannten Wahrheit zu folgen. Aus diesem Prinzip nun können zwei sich gegenseitig ausschließende praktisch-politische Folgerungen gezogen werden. Die erste – sie entspricht der klassischen katholischen Toleranz18
Vgl. dazu M. Rhonheimer, Autoritas non veritas facit legem: Thomas Hobbes, Carl Schmitt und die Idee des Verfassungsstaates, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie», 86 (2000), 484-498.
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lehre, die heute im Kontext der Frage der Religionsfreiheit von der Kirche selbst aufgegeben worden ist – gründet auf der politischen Philosophie in der Tradition Aristotelischer „Polisethik“, die sich als umfassende Lebensordnung versteht, in welcher das Gesetz im Dienste des tugendhaften Lebens der Bürger steht. Gemäß der aus den mittelalterlichen Transformationen antiker Polisethik stammenden „christliche Polisethik“ der res publica christiana, die dann in der Neuzeit zum konfessionellen Fürstenstaat mutierte, fällt der die öffentliche Ordnung zu wahrenden Staatsgewalt zunächst die Aufgabe zu, die Wahrheit (die wahre Religion) zu bekennen und zu beschützen. Nicht Personen haben hier zunächst Rechte, sondern die Wahrheit. Jene Personen, die sich im religiösen Irrtum befinden sind jedoch in der Ausübung ihrer Religion zu tolerieren, und dies zur Wahrung höherer Güter (etwa der Vermeidung von Gewissenszwang oder der Wahrung des gesellschaftlichen Friedens). Die politische Möglichkeit der Durchsetzung einer solchen Prozedur allerdings ist an die Existenz einer keinerlei positiv-verfassungsrechtlichen Schranken unterworfenen souveränen Gewalt gebunden, einer Gewalt also, die nach freiem Ermessen solche Toleranz zu gewähren oder zu verweigern vermag. Sobald jedoch diese Instanz durch Positivierung von Rechtsansprüchen (auf Freiheit der Religionsausübung) in ihrem Ermessensspielraum beeinträchtigt würde, wäre dann auch die politische Realbedingung dahin, aufgrund derer eine solche Toleranzdoktrin praktisch relevant wäre und durchsetzbar bliebe19. Eine zweite, damit unvereinbare Konzeption – jene, die der heutigen politischen Konzeption des „Rechts auf Religionsfrei19
Wie leicht ersichtlich ist, setzt diese klassische Lehre auch die Anerkennung einer „potestas indirecta“ der Kirche seitens des Souveräns voraus. Sie funktioniert selbstverständlich nur in einem „katholischen Staat“. Die implizite Option für ein mehr oder weniger konkretes Modell politischer Ordnung ist evident. Zur ganzen, überaus komplexen, Problematik und den ideellen wie auch historischen Voraussetzungen der damaligen kirchlichen Position vgl. Josef Isensee, Die katholische Kritik an den Menschenrechten. Der liberale Freiheitsentwurf in der Sicht der Päpste des 19. Jahrhunderts, in: E.-W. Böckenförde und R. Spaemann, (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis (Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Stuttgart 1987, 138-174.
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heit“ entspricht – hat hingegen die politische Philosophie des Verfassungsstaates zur Voraussetzung. Dieser beschützt nicht die (religiöse) Wahrheit, sondern Personen, ihre Rechte und ihre Freiheit. Jegliche Souveränität ist hier von Anbeginn der Anerkennung von Rechten von Individuen unterworfen und durch sie beschränkt. „Toleranz“ ist hier nicht mehr eine Sache des Ermessens; eigentlich kann gar nicht mehr von „Toleranz“ gesprochen werden (denn diese ist immer Gewährung „von oben nach unten“), sondern nur noch von einklagbaren Rechten von Individuen (der Prozess läuft hier gewissermaßen „von unten nach oben“), durch welche der Handlungsspielraum politischer Gewalten – die nun nicht mehr souverän sind – durch das Recht von vornherein eingeschränkt ist. Auch hier ist allerdings Religionsfreiheit nicht unbeschränkt oder beliebig. Sie kann jedoch nur aufgrund der strikt politisch-juristischen Rationalität des Verfassungsstaates selbst limitiert werden. Diese Rationalität und die entsprechenden politischen Güter sind insbesondere die Wahrung der öffentlichen Ordnung (wobei das Kriterium der Wahrheitsprotektion selbstverständlich ausfällt), die öffentliche Sittlichkeit (Religionen, die Menschenopfer fordern, werden sich auf kein Freiheitsrecht berufen können) sowie die Gleichheit der Freiheit der Mitbürger. Die katholische Kirche hat mit dem Zweiten Vatikanum nicht ihre Auffassung über die Religionsfreiheit als Naturrecht, sondern ihre Lehre über Religionsfreiheit als politisches Recht, als ius civile verändert; immer schon hatte die Kirche gelehrt, dass kein Mensch gegen seine Überzeugung zum Bekenntnis einer Religion gezwungen werden darf. Die genannte Veränderung der kirchlichen Lehre jedoch ging nicht ohne tiefgreifende Abkehr von ihren früheren Optionen auf der Ebene impliziter politischer Philosophie. Mit der Erklärung Dignitatis humanae über die Religionsfreiheit des Zweiten Vatikanums und schließlich mit dem fünften Kapitel der Enzyklika“ Centesimus Annus Johannes Pauls II. hat sie sich eine politisch-philosophische Position zu Eigen gemacht, die der politischen Philosophie der Menschenrechte und des Verfassungsstaates adäquat ist. „Religionsfreiheit“, und „Toleranzlehre“ gleichermaßen, sind also in Wirklichkeit nicht einfach „naturrechtliche“ Positionen; sie sind bereits immer mehr als dies, nämlich Bestandteile ei-
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ner politischen Philosophie bzw. rechtspolitische Konzeptionen. Auf der Ebene des „bloßen“ Naturrechts sind klassische Toleranzlehre und moderne Lehre von der Religionsfreiheit gar nicht notwendigerweise verschieden. Sie unterscheiden sich erst auf der Ebene jener – zumindest impliziten, aber immer vorausgesetzten – politischen Philosophie, die dazu führt, aus einem Naturrecht verschiedene politische Folgerungen zu ziehen. Der Unterschied liegt also auf der Ebene der politisch-philosophischen und rechtlichen Implikationen und das heißt auch: auf der Ebene der Lehre über Natur und Funktion des Staates.20
5. Schlussfolgerungen: Die praktisch-politische Ambivalenz des Naturrechts Keine Naturrechtslehre ist deshalb imstande, aus sich selbst schon Kriterien über die politische Praxis – die „Mittel“ – hervorzubringen. Dazu bedarf es zusätzlich einer Konzeption der spezifischen moralischen Rationalität politischer Praxis (z.B. gesetzgeberischer Praxis). Erst dann kann ein Urteil über die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer solchen Praxis mit naturrechtlichen Prinzipien gefällt werden. Dies auch deshalb, weil ja eine Vielfalt solcher Prinzipien existiert und keineswegs von Anfang an immer klar ist, mit welchem Prinzip nun eine konkrete Praxis in Übereinstimmung zu stehen hat und welches Prinzip gerade als entscheidend anzusehen ist. Es gibt ja auch Prinzipien, die selbst wiederum in gegenseitiger Spannung stehen, man denke an die beiden, gerade von der katholischen Soziallehre hochgehaltenen naturrechtlichen 20
Vgl. Isensee Die katholische Kritik an den Menschenrechten, a.a.O.; E.W. Böckenförde, Religionsfreiheit. Die Kirche in der modernen Welt (Schriften zu Staat-Gesellschaft-Kirche, III), Herder, Freiburg-Basel-Wien 1990; M. Rhonheimer, Wahrheit und Politik in der christlichen Gesellschaft, in: Rhonheimer, Verwandlung der Welt, Köln 2006, 111-150; ders., Cristianesimo e laicità: storia ed attualità di un rapporto complesso; in: Pierpaolo Donati (ed.), Laicità: la ricerca dell’universale nella differenza, Bologna, 2008, 27-138; ders. Die „Hermeneutik der Reform“ und die Religionsfreiheit, in: Die Tagespost vom 26. 9. 2009; und: Kath. Net vom 29. 9. 2009: http://www.kath.net/detail.php?id=24068.
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Prinzipien der universalen Bestimmung der Güter („die Güter dieser Erde sind für alle Menschen da“) und des Rechts auf Privateigentum. Ohne politische Philosophie, die im eben genannten Fall auch relevante Aspekte ökonomischer Rationalität – wie etwa die Funktion sowie die rechtlich-institutionellen und ethischen Funktionsbedingungen von Märkten – mit einzubeziehen hätte, würden Schlüsse aus naturrechtlichen Prinzipien auf praktisch-politische Folgerungen leicht zu einem willkürlichen Geschäft. Es bedarf hier, um das auch ökonomisch Richtige auszumachen, des ökonomischen Sachverstandes. Eine solche Spannung existiert auch trotz der traditionellen und wichtigen Unterscheidung zwischen dem sogenannten primären und dem sekundären Naturrecht.21 Während etwa das Prinzip der universalen Bestimmung der Güter dem primären Naturrecht zugerechnet wird, also ein Prinzip ist, das sozusagen vorgeordnet und absolut ist, so ist das Recht auf Privateigentum sekundärer, abgeleiteter Art: Es ergibt sich aus der zusätzlichen Einsicht in die anthropologischen Realbedingungen menschlicher Existenz sowie grundlegender ökonomischer Sachzwänge – wie etwa Knappheit der Ressourcen – und ist der konkrete Verwirklichungsmodus des ersten Prinzips. Das Recht auf Privateigentum liegt also auf der Ebene der sowohl anthropologisch wie auch ökonomisch optimalen Realisation des primären Naturrechts. Das Recht auf Privateigentum, so lautet die Begründung, ist sowohl der optimale Modus der Realisierung des Prinzips, dass die Güter dieser Erde für alle bestimmt sind, wie auch dadurch gegebene letzte Sinngebung und Finalisierung des Privateigentums, auf Grund dessen etwaige Einschränkungen dieses Rechts zu begründen sind. Dennoch genügt auch das nicht, um Spannungen und die Gefahr entsprechend willkürlicher Gewichtungen, etwa hinsichtlich eventueller Einschränkungen des Rechts auf Privateigentum zugunsten der allgemeinen Bestimmung der Güter, zu vermeiden. Willkürlich wäre die Auflösung der Spannung dann, wenn man es unterließe, die politische Philosophie und damit auch die politische Ethik explizit zu machen, die unver21
Professor Lothar Roos, Bonn, sei dafür gedankt, dass er im Gespräch noch diesen Aspekt einbrachte.
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meidlich auch jeder sich auf das Naturrecht berufenden Lösung zugrundeliegen. Dies vermochte gerade das Beispiel der Religionsfreiheit zu verdeutlichen, aber es gilt auch, um ein Beispiel aus dem Wirtschaftleben zu nehmen, für das klassische Zinsverbot. Freilich könnte sich das Naturrecht darauf beschränken, nun einfach zu verteidigen, was für die Wahrung menschlicher Würde als unverzichtbar erscheint. Es könnte also seinen Diskurs auf Grenzfälle beschränken, ohne in die konkreten Gestaltungsprobleme politischer und ökonomischer Praxis einzutreten. Ob dies möglich ist, ist eine andere Frage. In Wirklichkeit jedoch auferlegt sich keine bekannte, sich als praktischpolitisch relevant verstehende Form naturrechtlichen Denkens eine solche Selbstbeschränkung; ebenfalls nicht das sogenannte „katholische Naturrechtsdenken“.22 Auch wenn dieses das Prinzip betont, nicht über sogenannte technische Aspekte sprechen zu wollen, so ist sein Diskurs im Rahmen der kirchlichen Soziallehre doch immer auch ein solcher über die Mittel gewesen. Denn sie spricht ja nicht nur über Rechte des Menschen, sondern auch darüber, wie diese rechtlich-institutionell geschützt bzw. implementiert werden sollen und welche Arten von rechtlichen Regelungen – etwa im Bereich des Lebensschutzes – als unzulässig zu betrachtet sind. Damit ist man aber bereits auf der Ebene der „technischen“ Realisation, der Mittel also, angelangt. Aus allen diesen Gründen hat der Diskurs der kirchlichen Soziallehre, trotz der Kontinuität seiner grundlegenden Prinzipien, im Laufe der Zeit in einigen Bereichen ja auch beachtliche Wandlungen durchgemacht, gerade etwa in der Einstellung zur Demokratie und zur Religionsfreiheit, aber auch in der Wertung der Marktwirtschaft und der kapitalistischen Produktionsweise. Damit ist gesagt: Naturrecht, das „konkret“ werden will, muss sich implizit auch immer schon einer bestimmten politischen Philosophie (und auch des ökonomischen Sachverstands) bedienen. Wird dies nicht erkannt, wird sie sich dennoch ei22
Dazu: Böckenförde, Kirchliches Naturrecht und politisches Handeln, in: Böckenförde, Kirchlicher Auftrag und politisches Handeln. Analyse und Orientierungen (Schriften zu Staat-Gesellschaft-Kirche, II), Herder, Freiburg-Basel-Wien 1989, 161-191; 173 ff.
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ner impliziten politischen Philosophie bedienen – allerdings in unkontrollierter und nichtreflektierter Weise. Naturrechtliches Denken verfällt dann jedoch leicht der scheinbaren Evidenz dessen, was in Wirklichkeit nur die unbestrittenen Vorurteile einer Epoche oder aber die geteilten Überzeugungen einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe oder einer Glaubensgemeinschaft sind. In diesem Falle jedoch würde das Naturrecht zu einem bloßen Rechtfertigungsdiskurs für nicht weiter hinterfragte Vorurteile, was sich genau dann zu einem akuten Argumentationsnotstand ausweitet, wenn Überzeugungen, die einmal als Commonsense erschienen waren, aufgrund eines Wandels des öffentlichen Bewusstseins die Evidenz des Selbstverständlichen verlieren.
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Unfreiheit ist wider die Menschenwürde – eine rechtshistorische Miniatur* I. Die Rechtsordnung als Heilsordnung 1. Recht als Weisung Gottes Im Buch Deuternomium heißt es: Und nun, Israel, höre die Gesetze und Rechtsvorschriften, die ich euch zu halten lehre. Hört, und ihr werdet leben, ihr werdet in das Land, das der Herr, der Gott eurer Väter, euch gibt, hineinziehen und es in Besitz nehmen. … ihr sollt auf die Gebote des Herrn, eures Gottes, achten, auf die ich euch verpflichte. … Wenn sie dieses Gesetzeswerk kennenlernen, müssen sie sagen: In der Tat, diese große Nation ist ein weises und gebildetes Volk. … Oder welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsvorschriften, die so gerecht sind wie alles in dieser Weisung, die ich euch heute vorlege?1 Das Gesetz, um das es hier geht, ist nicht eine menschliche Handlungsnorm, sondern es ist göttliche Weisung (tora). Sie zu befolgen, ist dem auserwählten Volk aufgetragen. Sie ist unlösbar verbunden mit einer zukunftsgerichteten Verheißung: der Verheißung des Heils: Ihr werdet das Land in Besitz nehmen und ein weises und gebildetes Volk sein. Das Heil ist denen verheißen, die der Weisung des Herrn folgen. Das Rechtsdenken wie im Buch Deuteronomium war dem Mittelalter selbstverständlich . Zugleich war man allerdings mit dem Phänomen * 1 2
Paul Mikat zum 85. Geburtstag gewidmet. Deuteronomium 4, 1-2.6.8. Zum mittelalterlichen Rechtsbegriff jetzt: Peter Landau, Recht als Grundlage für die Lebensrealität des Mittelalters, in: Grundlagen für ein neues Europa. Das Magdeburger und Lübecker Recht in Spätmittelalter und
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der Unfreiheit konfrontiert, einem Zustand der vollständigen und dauerhaften Abhängigkeit des Betroffenen vom Willen eines anderen, einem Zustand der Rechtlosigkeit . Passt die Unfreiheit aber vor dem Hintergrund der göttlichen Weisung des Rechts überhaupt in eine Rechtsordnung – erst Recht dann, wenn die Rechtsordnung „Heils“-Ordnung sein soll? Der Sachsenspiegel ist dieser Frage nicht ausgewichen, sondern hat gegen den überkommenen Zustand auf der Grundlage der Erkenntnis der Natur der Dinge, wie sie sich für den Autor des Sachsenspiegels aus der göttlichen Schöpfung ergibt , opponiert. Das Naturrecht hatte für den Autor des Sachsenspiegels also rechtskritisches Potential.
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Früher Neuzeit, hrsg. von Heiner Lück; Matthias Puhle; Andreas Ranft, Köln 2009, S. 141-161; Martin Pilch, Der Rahmen der Rechtsgewohnheiten. Kritik des Normensystemdenkens entwickelt am Rechtsbegriff der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, Wien 2009. Hans Fehr, Die Staatsauffassung Eikes von Repgau, in: ZRG Germ. Abt. 37 (1916), S. 131-260, hier S. 204-206, hat dargelegt, auch der Unfreie sei nach Sachsenspiegel Rechtsperson gewesen. Das ist vom Standpunkt des Sachsenspiegels (Ssp.), wie er sich in Landrecht (Ldr.) III, 42 äußert, auch völlig konsequent. Die Sachsenspiegelglosse hingegen setzt die Leibeigenschaft rechtlich mit dem Tod gleich, cf. die Nachweise bei Bernd Kannowski, Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch’sche Glosse, Hannover 2007, S. 302. Zwar, so meint die Glosse zum Sachsenspiegel, dürfe man einen Leibeignen nicht „sieden und braten“, aber rechtlich sei er „varende haue“ (Fahrnis), also eine übertragbare Sache, cf. die Nachweise bei Kannowski (l. c.), S. 309. Kannowski, Umgestaltung (Fn. 3), S. 330 f. weist auf den Unterschied im „Naturrechtsdenken“ zwischen dem Autor des Sachsenspiegels und dem wissenschaftlichen Glossator des Sachsenspiegels im 14. Jahrhundert, hin. In der Glosse habe das Naturrecht keine normative Qualität, sondern beschreibe nur Tatsachen. Dreimal hat Eike aus naturrechtlichen Erwägungen den Rechtszustand seiner Zeit verworfen: (1) Ssp. Ldr. II 61: Niemand kann Leben und Gesundheit an einem Tier verwirken. Der Ssp. folgert das aus dem ursprünglich gleichen Herrschaftsrecht aller Menschen über die Tiere, wie es Genesis 1, 28 beschreibt. Cf. Karl Schilling, Das objektive Recht in der Sachsenspiegelglosse, Berlin 1931, S. 77 f.; Kannowski, Umgestaltung (Fn. 3), S. 324-327. (2) Ldr. III 42: Unfreiheit; dazu im folgenden. (3) Ldr. III 78: allgemeines Widerstandsrecht; cf. Kannowski, Umgestaltung (Fn. 3), S. 249 ff. und 327 f.; Gerhard Dilcher, Art. Widerstandsrecht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte [=HRG] V (1998), Sp. 1351-1364.
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2. Der Sachsenspiegel als Quelle Im Hochmittelalter entstanden in ganz Europa eine Reihe wichtiger Rechtsaufzeichnungen . Der Sachsenspiegel reiht sich in diesen Prozess der Verschriftlichung des Rechts ein. Er gilt nicht nur als eines der ältesten, sondern zugleich auch als das bedeutendste deutsche Rechtsbuch des Mittelalters. Seine Bedeutung lässt sich an seiner Verbreitung ablesen: Zunächst wirkte das Buch im Elb-Saale-Gebiet, wo es entstanden war . Es wurde dann vor allem im süddeutschen Raum Vorbild für einige Parallelwerke. Der Sachsenspiegel wurde außerdem ins Lateinische, Niederländische, Polnische, Tschechische und Russische übersetzt. Er war in Köln ebenso bekannt wie in Bres-
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Cf. Christian Armbrüster, Deutschrechtliche Exegese: Zum Erbrecht des Sachsenspiegels, in: Juristische Schulung 2006, S. 1113-1119 mwN. Bernhard Pahlmann/Jan Schröder, Art. Eike von Repgow, in: Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, hrsg. von Gerhard Kleinheyer und Jan Schröder, 5. Aufl. Heidelberg 2008, S. 128; diese Beobachtung steht nur scheinbar in Widerspruch zur Feststellung von Alexander Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow, Paderborn 1984, S. 21, der schrieb: „Für sich betrachtet, ist das Buch [i.e. der Sachsenspiegel] ein Kuriosum: eine wirre Sammlung archaischer Rechtsaltertümer, von denen der unbefangene Leser bestenfalls staunend zur Kenntnis nimmt, daß sie einmal Rechtswirklichkeit waren.“ Auch Ignor sieht im Ssp. einen wirkmächtigen Ausdruck eines bestimmten, mittelalterlichen Rechtsdenkens auf der Grundlage ausführlicher Welterfahrung. Die Verbreitung der Sachsenspiegel-Handschriften dokumentiert ausführlich: Ulrich-Dieter Oppitz, Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters, Bd. 1-3, Köln 1990-1992; Elisabeth Nowak, Die Verbreitung und Anwendung des Sachsenspiegels nach den überlieferten Handschriften, Diss. phil. Hamburg 1965. – Bemerkenswert ist, dass der Sachsenspiegel nebst Glosse schon 1474 von Bernhard Richel in Basel gedruckt wurde, cf. Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), S. 30 Fn. 8 mit Nachweisen. Nähere Einzelheiten z. B. bei Heinrich Brunner, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, Leipzig 1901, S. 99 f., wiedergegeben bei Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), S. 28 Fn. 6a. Versio Vratislaviensis, bearbeitet von dem deutschen Notar Konrad von Oppeln, Ende des 13. Jahrhunderts. Dazu Karl Kroeschell, Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit: Das Beispiel des Sachsenspiegels, in: Recht und Schrift im Mittelalter, hrsg. von Peter Classen, Sigmaringen 1977, S. 349-380, hier S. 370. Zum folgenden cf. nur Erik Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl. Tübingen 1963, S. 1-29, hier S. 25 f.
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lau. Der märkische Hofrichter Johann von Buch hat um 1325 eine wissenschaftliche Glosse zum Sachsenspiegel verfasst, die große Verbreitung gefunden hat. Am Ende des 15. Jahrhunderts erklärten die Sendboten der Reichsstadt Mühlhausen auf dem Reichstag in Freiburg, dass ungefähr ein Drittel der deutschen Nation den Sachsenspiegel als Rechtsquelle verwende. Der Sachsenspiegel ist von Eike von Repgow um 1225 verfasst worden, der praktische Erfahrung mit dem Recht gesammelt hatte. Wie der Name des Werkes schon sagt, verstand sich Eike nicht als Erfinder der dort aufgeschriebenen Regeln, sondern er wollte das vorgefundene Recht „spiegeln“ . Der Spie12
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Heute maßgebliche Edition: Frank-Michael Kaufmann, Glossen zum Sachsenspiegel - Landrecht - Buch‘sche Glosse, Hannover 2003, auch online greifbar unter: http://bsbdmgh.bsb.lrz-muenchen.de/dmgh_new/ app/web?action=loadBook&bookId=00000681 (Zugriff 15.9.2009); zur Glosse selbst: Frank-Michael Kaufmann, Die Glossen zum Sachsenspiegel-Lehnrecht - Handschriftliche Überlieferung, Textstufen, Verfasserfragen, in: ZRG Germ. Abt. 123 (2006), S. 284-290; zur Entstehung, zum Inhalt und zur Überlieferung der Glosse grundlegend: Kannowski, Umgestaltung (Fn. 3). Zur Fortwirkung des Sachsenspiegels in der frühen Neuzeit cf. Harry Schlip, Das sächsische und magdeburgische Recht und seine Literatur in Deutschland vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Studien zur Geschichte des sächsisch-magdeburgischen Rechts in Deutschland und Polen, hrsg. von Dietmar Willoweit und Winfried Schich, Frankfurt am Main 1980, S. 163-192. Zum Einfluß des römisch-kanonischen Rechts auf den Sachsenspiegel cf. Helmut Coing, Römisches Recht in Deutschland (IRMAE V, 6), Mailand 1964, S. 108-113. Georg Cohn, Der Kampf um den Sachsenspiegel, in: Universität Zürich. Festgabe zur Einweihung der Neubauten, 18. April 1914, Bd. 2: Rechts-, staats- und handelswissenschaftliche Fakultät, Zürich 1914, S. 23-53, hier S. 42 f. Zur Biographie Eikes zusammenfassend: Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), S. 54-92; Rolf Lieberwirth, Art. Eike von Repgow (um 1180-nach 1233), in: HRG² I (2007), Sp. 1288-1292; Pahlmann/Schröder, Art. Eike (Fn. 7); immer noch lesenswert: Erik Wolf, Eike von Repgow, in: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, hrsg. von Erik Wolf, 4. Aufl. Tübingen 1963, S. 1-29; zu den Quellen des Autors: Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), S. 196-226, sowie jetzt vor allem: Peter Landau, Der Entstehungsort des Sachsenspiegels. Eike von Repgow, Altzelle und die anglo-normannische Kanonistik, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 61 (2005), S. 73-102. Herbert Kolb, Über den Ursprung der Unfreiheit. Eine Quaestio im Sachsenspiegel, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 103 (1974), S. 289-311, hier S. 292. – Weitere Bemerkungen zum Namen
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gel sollte aber nicht nur die gelebte Rechtswirklichkeit abbilden, sondern mehr noch zeigen, wie es nach Auffassung des Spieglers sein sollte, da das Recht – wie im Buch Deuteronomium – zugleich Weisung des richtigen Weges ist. In dem Spiegel sollte „das von Gott Gewollte und Vorbedachte“ eingefangen werden.
3. Der Prolog des Sachsenspiegels20: Gott als Herr der Welt und des Rechts Über das Rechtsdenken Eikes gibt der Prolog des Sachsenspiegels, der bereits in den ältesten Handschriften überliefert ist, vorzüglich Auskunft. Dort heißt es: Des heiligen geistis minne, der sterke mine sinne: Das ich recht unde unrecht der Sachsen bescheide, noch gotis hulden unde noch der werlde vrumen. Des enkan ich alleine nicht getun.
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Die Liebe des Heiligen Geistes stärke meinen Verstand: Damit ich über Recht und Unrecht der Sachsen Auskunft gebe gemäß der Gnade Gottes und zum Nutzen (Frommen) der Welt. Dies vermag ich indessen nicht allein zu vollbringen.
bei Sten Gagnér, Sachsenspiegel und Speculum ecclesiae, in: Niederdeutsche Mitteilungen 3 (1947), S. 82-103, hier S. 86 ff., wieder abgedruckt in ders., Abhandlungen zur europäischen Rechtsgeschichte, hrsg. von Joachim Rückert, Michael Stolleis und Maximiliane Kriechbaum, Goldbach 2004, S. 1-20. Heinrich Mitteis, Rechtsgeschichte und Machtgeschichte, in: Die Rechtsidee in der Geschichte. Gesammelte Abhandlungen und Vorträge von Heinrich Mitteis, Weimar 1957, S. 273 f. Gerhard Theuerkauf, Lex, speculum, compendium iuris. Rechtsaufzeichnung und Rechtsbewußtsein in Norddeutschland vom 8. bis zum 16. Jahrhundert, Köln/Graz 1968, S. 105 und 334, spricht von der „Vor-Bild“Funktion des Rechts. Kolb, Über den Ursprung (Fn. 16), S. 291. Der Sachsenspiegel-Text folgt hier und später: Eike von Repgow, Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift, Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2°, Textband, hrsg. von Ruth Schmidt-Wiegand, Berlin 1998, hier fol. 9v.
130 Dar umme bitte ich czu helfe alle gute lute, di rechtis gern, ab keine rede begeine, di min tumme sin vormid, und da dis buch nicht von en spricht, das si das noch rechte bescheiden noch irme sinne, so sis rechste wissen.
Von rechte ensal nimant wisen liebe noch leide, zcorn noch gift.
Got is selber recht, dar umme is im recht lip. Dar umme sen si sich alle vor di, den gerichte von gotis halbin bevolin si, das si also richten, alse gotis zcorn unde sin gerichte genediclich ubir si irgen musen.
Tilman Repgen Deshalb bitte ich um Unterstützung alle rechtschaffenen Leute, die nach Recht streben, wenn ihnen irgendeine Rechtssache begegne, die mein schwacher Verstand übersehen, so dass dieses Buch darüber nichts enthält, dass sie diese nach Recht entscheiden gemäß ihrer Einsicht, wie sie es am besten kennen. Vom Recht soll sich niemand abbringen lassen, weder durch Liebe noch Leid, Zorn noch Gabe (Bestechungsgeld). Gott ist selber Recht21, deshalb ist ihm Recht lieb22. Deshalb sollen sich alle diejenigen, denen von Gott das Gericht anbefohlen ist, bemühen, dass sie so richten, dass Gottes Zorn und sein Gericht über sie gnädig ergehen mögen.
Niemand soll sich vom Recht abbringen lassen, wenn er nicht am jüngsten Tage dem Zorn Gottes verfallen möchte, da Gott selber Recht ist23. Die Quelle deutet auch an, mit welchem Inst21
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Cf. Thomas v. Aquin, Summa theologiae, I qu. 21, 1, ad secundum: … Deus autem sibi ipsi est lex. Thomas spricht von der lex, nicht vom Recht, cf. Kannowski, Umgestaltung (Fn. 3), S. 594. Darin liegt allerdings keine wirkliche Differenz. Cf. auch Psalm 10,8: „quoniam iustus Dominus et iustitiam dilexit“; zur Prologstelle auch Ignor, l. c., S. 165 Zur Ausdeutung dieser Stelle auch Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), S. 183, wonach für Eike das Recht seinen Ursprung in Gott hat, weil der Mensch nur an der göttlichen Rechtssetzung teilnehme. Diese Lehre ist im Mittelalter auch schon vor Eike bekannt. Die u. a. damals auch in der Zisterzienser-Bibliothek in Altzelle aufbewahrte Rhetorica ecclesiastica (um 1160 bereits in Hildesheim entstanden) sagt ganz am Anfang: „Deus et dominus noster aequitatem diligit, iniquitatem odit, ut ait propheta: iustus dominus et iustitias dilexit“, cf. Ludwig Wahrmund, Rhetorica ecclesiastica, 1906, S. 1. Dazu: Peter Landau, Der Entstehungsort des Sachsenspiegels, in: DA 2005, S. 94. Zum Hintergrund in der Bologneser Legistik (Aequitas Lehre des Martinus): Peter Landau, Die Rhetorica ecclesiastica, in: Summe – Glosse – Kommentar. Juristisches und Rhetorisches in Kanonistik und Legistik, hrsg. von Frank Theisen und Wulf Eckart Voß, Osnabrück 2000, S. 125-139 sowie grundle-
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rument wir das, was Recht ist, erkennen: mit dem Verstand (… was „mein schwacher Verstand übersehen“ hat und „… entscheiden gemäß ihrer Einsicht, wie sie es am besten kennen“). Ein Verstoß gegen das Recht ist zugleich ein Verstoß gegen die göttliche Ordnung, ist normalerweise Sünde; Eike spricht das in der Reimvorrede zum Sachsenspiegel aus (Vers 133-13724): Swe buten miner lere gat, / he sprikt lichte, des he laster hat, / Unde dut sunde jegen Got; /went he brikt der e bot / Swe so recht verkeret.
Wer sich außerhalb meiner Lehre bewegt, kann leicht so Recht sprechen, dass es ihm zur Unehre gereicht und dass er sich Gott gegenüber versündigt. Wenn er das Recht verdreht, bricht er den Bund [mit Gott].
Unrecht ist also Sünde und steht dem Heilsplan Gottes entgegen.
4. Der Text des Prologs Ein letzter Abschnitt aus dem Sachsenspiegel-Prolog soll die Einbindung des Rechts in die Heilsordnung verdeutlichen: Got, der da is begin unde ende aller guten dinge, der machte alrest himel unde erde unde machte den menschin in ertriche unde saczte en in das paradis. Der brach den gehorsam, uns allin czu schaden. Dar umme ginge wir irre alse di hertelosin schaf, wen an di czit, das he uns irloste mit siner marter.
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Gott, der da Beginn und Ende aller guten Dinge ist, der schuf zuerst Himmel und Erde und den Menschen im Erdreich und setzte ihn in das Paradies. Der brach den Gehorsam, uns allen zum Verderben. Deshalb sind wir in die Irre gegangen wie hirtenlose Schafe, bis zu der Zeit, als er uns erlöste durch sein Martyrium.
gend Linda Fowler-Magerl, Ordo iudiciorum vel ordo iudiciarius, Frankfurt am Main 1984, S. 46-56. Da die Wolfenbütteler Handschrift (Fn. 20) nicht die Reimvorrede enthält, folgt der Text insoweit der Ausgabe von Clausdieter Schott, 2. Aufl. Zürich 1991, S. 16.
132 Nu abir wir bekart sin unde uns got wider geladin hat, nu halde wir sine e unde sin gebot, das uns sine wissagin gelart habin unde gute geistliche lute unde ouch cristine kunige habin gesaczt, Constantin unde Karle, in Sachsinlande noch sines rechtis nucz.
Tilman Repgen Jetzt aber, wo wir bekehrt sind, und Gott uns wieder gerufen (wörtlich: eingeladen) hat, nun halten wir sein Gesetz25 und sein Gebot, das uns seine Propheten gelehrt haben und fromme geistliche Leute und das auch die christlichen Könige gesetzt haben, Konstantin (d. Gr.) und Karl (d. Gr.), im Sachsenland zum Nutzen seines Rechtes.
Der Text liest sich wie eine Kurzfassung der Heilsgeschichte, deren fester Bestandteil das Recht ist; nur wer sich an das Recht hält, wird das Heil finden.
II. Unfreiheit ist unrechte Gewalt, Ssp. Ldr. III, 4226 Auf den ersten Blick könnte es erstaunen, dass der Sachsenspiegel über die Rechtsverhältnisse der Dienstleute, also der Eigenleute der Grundherren keine Auskunft gibt, obgleich doch eine sehr große Zahl von Menschen davon unmittelbar betroffen war. Die Auslassung geschah mit Bedacht: Eike hielt die Leibeigenschaft für Unrecht. In einem Rechtsbuch hatte ihre Darstellung deshalb nichts verloren. Die aufschlussreiche Begründung des Eike im Stile einer scholastischen Quaestio27 in Ldr. III, 4228 25 26 27 28
e = Gesetz. Weiterführend: Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), S. 167 ff. Der Text folgt hier der Wolfenbütteler Bilderhandschrift (Fn. 20), fol. 46v. Dazu Kolb, Über den Ursprung (Fn. 16), S. 302-305. Die Freiheitsstelle im Sachsenspiegel (Ldr III 42) ist seit langem als einzigartiges Zeugnis bekannt und entsprechend oft behandelt worden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige bibliographische Hinweise: Siegfried Brie, Die Lehre vom Gewohnheitsrecht, Bd. 1: Geschichtliche Grundlegung (bis zum Ausgang des Mittelalters), Breslau 1899 (ND Frankfurt a. M. 1968), S. 250 f., Fn. 63. Eugen Frhr. von Müller, Der Deutschenspiegel in seinem sprachlichstilistischen Verhältnis zum Sachsenspiegel und zum Schwabenspiegel, Heidelberg 1908, S. 171 ff. (Kolb, Über den Ursprung [Fn. 16], S. 309, hält die Interpretation von Müllers für „abwegig und verständnislos“). Fehr, Staatsauffassung (Fn. 3), S. 140, 204-206 und 240 (prinzipielle Einwände gegen Fehr bei Ignor, Rechtsdenken [Fn. 7], S. 41-46). Alexander James Carlyle, A History of medieval political theory in the West, vol. III, London-Edinburgh 1926, S. 89.
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ist zugleich ein bemerkenswertes Plädoyer für die aus der Menschenwürde resultierende Freiheit aller: Schilling, Das objektive Recht (Fn. 5), S. 11, 14 f., 21-24, 74, 77-79, 82 f., 88, mit Besprechung von Guido Kisch, in: ZRG Germ. Abt. 52 (1932), S. 383-388. Hans Christoph Hirsch, Eike von Repgow, Der Sachsenspiegel, Berlin und Leipzig 1936, S. 10 f. Hans von Voltelini, Der Gedanke der allgemeinen Freiheit in den deutschen Rechtsbüchern, in: ZRG Germ. Abt. 57 (1937), S. 182-209. Hans Rost, Die Bibel im Mittelalter. Beiträge zur Geschichte und Bibliographie der Bibel im Mittelalter, Augsburg 1939, S. 293. Guido Kisch, Sachsenspiegel and Bible, Indiana 1941, S. 133-146; Gagnér, Sachsenspiegel (Fn. 16); die Arbeit geht vor allem der Frage nach den Quellen Eikes nach, kritisch dazu aber Schmidt (s. u.) und Kolb, Über den Ursprung (Fn. 16), S. 297; klar zustimmend zu Gagnér Joachim Rückert, Zum wissenschaftlichen Werk von Sten Gagnér, in: Abhandlungen (wie zuvor), S. 759-786, hier S. 762 f. Erich Molitor, Der Gedankengang des Sachsenspiegels. Beiträge zu seiner Entstehung, in: ZRG Germ. Abt. 65 (1947), S. 15-69, hier S. 44. Roderich Schmidt, Studien über Eike von Repgow und den Sachsenspiegel, maschinenschriftliche Diss. phil. Greifswald 1951, S. 63 ff. Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1: Frühzeit und Mittelalter, 2. Aufl. Karlsruhe 1962, S. 395. Erik Wolf, Eike von Repgow, in: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. Tübingen 1963, S. 1-29, hier S. 10-12. Theuerkauf, Lex (Fn. 18), S. 273 f. und S. 340. Kolb, Über den Ursprung (Fn. 16), S. 289-311. Adalbert Erler, Ältere Ansätze zur Überwindung der Sklaverei, Wiesbaden 1978, S. 8-11; dort S. 26-39 auch eine Wiedergabe der Glosse zu Sachsenspiegel Ldr. III, 42 nach der Ausgabe von Johannes Gigas, Leipzig 1589 mit erläuternden Angaben. Der Text von Gigas hat gegenüber dem von Kaufmann (Fn. 12) editierten den Vorteil, sprachlich dem Hochdeutschen näherzustehen. Wilhelm Kölmel, „Freiheit-Gleichheit-Unfreiheit“ in der sozialen Theorie des späten Mittelalters, in: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, Halbband 2, hrsg. von Albert Zimmermann, Berlin-New York 1980, S. 389-408. Peter Bierbrauer, Das Göttliche Recht und die naturrechtliche Tradition, in: Bauer, Reich und Reformation. Festschrift für Günther Franz zum 80. Geburtstag am 23. Mai 1982, hrsg. von Peter Blickle, Stuttgart 1982, S. 210-234, hier S. 223 f. Johannes Fried, Über den Universalismus der Freiheit im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 313-361, hier S. 358. Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), insbesondere S. 234-237. Karl Kroeschell, Rechtswirklichkeit und Rechtsbücherüberlieferung Überlegungen zur Wirkungsgeschichte des Sachsenspiegels, in: Text-BildInterpretation. Untersuchungen zu den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, hrsg. von Ruth Schmidt-Wiegand, München 1986, S. 1-10.
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1. Ldr. III, 42 § 1 – Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen Eike beginnt mit einer thesenartigen Feststellung: § 1. Got hat den man noch im gebildit unde mit siner martir irlost, den einen als den andern; im was29 der arme also liep30 alse der riche.
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Gott hat den Mann nach seinem Ebenbild geschaffen und durch seine Marter erlöst, den einen wie den anderen; ihm war der Arme genauso lieb wie der Reiche31.
Gabriele von Olberg, Auffassungen von der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung in Text und Bild des Sachsenspiegels, in: Text-Bild-Interpretation (wie zuvor), S. 155-170, hier S. 160 f. Claus-Dieter Schott, Zur bildlichen Wiedergabe abstrakter Textstellen im Sachsenspiegel, in: Text-Bild-Interpretation (wie zuvor), S. 189-203, hier S. 191. Ulrich Drescher, Geistliche Denkformen in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, Frankfurt am Main usw. 1989, S. 260-380, liefert insbesondere eine detaillierte Analyse der Bildstreifen zu Ldr. III, 42 in den vier Bilderhandschriften. Bernhard Töpfer, Naturrechtliche Freiheit und Leibeigenschaft. Das Hervortreten kritischer Einstellungen zur Leibeigenschaft im 13.-15. Jahrhundert, in: Sozialer Wandel im Mittelalter, hrsg. von Jürgen Miethke und Klaus Schreiner, Sigmaringen 1994, S. 335-354, hier S. 338-345. Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter, Frankfurt am Main – New York 1996, S. 86-91, vorwiegend allerdings zur parallelen Schwabenspiegel-Stelle Art. 308. Hans Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 4. Aufl. Heidelberg 2004, Rn. 873. Franz Dorn, Der Unfreiheitsdiskurs in deutschen Rechtsbüchern des Hoch- und Spätmittelalters, in: Unfreie Arbeits- und Lebensformen von der Antike bis zur Gegenwart. Eine Einführung, hrsg. von Elisabeth Herrmann-Otto, Hildesheim 2005, S. 167-205. Kannowski, Umgestaltung (Fn. 3), S. 286 ff. Bernd Kannowski, Art. Freiheit, in: HRG² I (2008), Sp. 1745-1758, hier Sp. 1748-1750. Hiram Kümper, Sachsenrecht. Studien zur Geschichte des sächsischen Landrechts in Mittelalter und früher Neuzeit, Berlin 2009, S. 491-498, insbesondere auch zur parallelen Schwabenspiegel-Stelle. In älteren Handschriften: „is“ statt „was“, cf. Drescher, Denkformen (Fn. 27), S. 290; die ältere Lesart verstärkt mithin die Aussage, weil die gleiche Gottesliebe zu allen nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart ist. Ältere Handschriften schreiben hier „besvas“ statt „liep“, wörtlich übersetzt dann: „zugehörig, nahe, verwandt“, cf. Drescher, Denkformen (Fn. 27), S. 290.
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Indirekt spricht Eike die These aus, dass alle Menschen vor dem Recht gleich sind, da sie alle gleichermaßen nach Gottes Ebenbild geschaffen und von Jesus Christus erlöst worden sind.31
2. Ldr. III, 42 § 2 – Dienstleuterecht Der zweite Paragraph enthält eine kurze Erläuterung, warum Eike nicht über das Recht der Dienstleute spricht: Es sind scheinbar die verwirrend unterschiedlichen Formen: § 2. Nu last uch nicht wundirn, das dis buch so luzzil sait von dinstlute rechte, wenne is ist so manchvalt, das is nimant zu ende kumen kann. Undir iclicheme bischove unde epte unde eptischinnen haben dinstlute sundirlich recht. Dar umme enkan ich is nicht bescheiden.
Nun wundert euch nicht, dass dieses Buch so wenig vom Recht der Dienstleute enthält, denn dieses ist so mannigfaltig, dass es niemand zu Ende bekommen kann. Unter jedem Bischof und unter den Äbten und Äbtissinnen haben die Dienstleute besonderes Recht. Deshalb kann ich euch darüber nicht berichten.
Eike wird die Leibeigenschaft als Unrecht ablehnen. Die Verwirrtheit des tatsächlichen Zustands ist für ihn dann leicht erklärlich, da er nicht rechtlich begründbar ist32 . Aus diesem Grund ist kein Platz dafür in einem Rechtsbuch.
3. Ldr. III, 42 § 3 – Unfreiheit ist Unrecht. Keine biblische Begründung für die Unfreiheit Der sich anschließende dritte Abschnitt beginnt mit der eigentlichen Kernaussage: Im Anfang gab es keine Unfreiheit und sie widerspricht der wahren Einsicht in die Natur des Menschen. Dass im übrigen der Verstand die Instanz zur Erkenntnis des 31
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Cf. z. B. Jakobusbrief 2,1-5; zur Korrelation von arm und reich im Hinblick auf die Gleichheitsidee cf. Barbara Frenz, Gleichheitsdenken in deutschen Städten des 12. bis 15. Jahrhunderts: Geistesgeschichte, Quellensprache, Gesellschaftsfunktion, Köln usw. 2000. Cf. Kolb, Über den Ursprung (Fn. 16), S. 300; Drescher, Denkformen (Fn. 27), S. 370.
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Rechts ist, hatte Eike im Prolog angedeutet. § 3. [1] Da man ouch recht sazte von erst, da enwas kein dinstman, alle lute waren vri, da unse vordern her zu lande quamen. An minen sinnen enkan ich is nicht usgenemen nach warheit, das iemant des andern sulle sin. Ouch enhabe wirs keine urkunde.
Als man zum ersten Mal Recht setzte, da gab es keinen Dienstmann; alle Leute waren frei, als unsere Vorfahren hierher in das Land kamen. Mit meinem Verstand kann ich es nicht für Wahrheit halten, dass jemand des anderen Eigentum sein solle.33 Auch haben wir keine Beweise hierfür.
Dass es aber keine autoritativen Beweise gibt, erörtert Eike nun, indem er zunächst vier Argumente aus der in der Bibel überlieferten Heilsgeschichte widerlegt. Dabei folgt er dem Schema, zunächst die Gegenposition zu schildern (hier unter 2a, 3a, 4a, 5a), um dann mit Hilfe der Autorität der Bibel diese Überlegungen zurückzuweisen (2b, 3b, 4b, 5b)34 .
a) Der Brudermord des Kain [2a] Doch sagen sumeliche lute, die der warheit irre gen, das sich eigenschaft irhube an Kaine, der sinen bruder irslug. [2b] Kains geslechte wart vortiliget, da di werlt mit wassere zuging.
Doch behaupten manche Leute, die an der Wahrheit vorbeigehen, dass die Unfreiheit mit Kain beginne, der seinen Bruder erschlug35. Kains Geschlecht wurde vernichtet, als die Welt durch Wasser unterging36.
Die Auslöschung der Schuld Kains durch die Sintflut entspricht einer antiken jüdischen Sichtweise, die – vermittelt durch die
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Cf. auch die Lehre des Paucapalea (um 1140-1148): „iure enim naturali omnes homines liberi nascebantur“, zitiert nach Wolf, Große Rechtsdenker (Fn. 27), S. 11. Die Zählweise folgt Kolb, Über den Ursprung (Fn. 16), S. 298, 300. Cf. Genesis 4, 3-16 Cf. Genesis 6, 1-9 und 29.
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Kirchenväter – auch im Christentum Verbreitung fand 37.
b) Die Söhne des Noah, Genesis 9, 19 ff. [3a] Ouch sait man, das eigenschaft queme von Kamme, Noe sone. [3b] Noe seinte zwene son, an de dritten gewog he keiner eigenschaft. Kam besas Affricam. Sem bleip in Asia. Jafet, unse vordere, besazte Europam. Sus enbleip ir kein des anderen.
Es behaupten auch einige, dass die Unfreiheit von Ham, Noahs Sohn käme. Noah segnete zwei seiner Söhne, von dem dritten erwähnte er keine Leibeigenschaft38. Ham besetzte Afrika39. Sem blieb in Asien. Japhet, unser Vorfahre, besetzte Europa. Es blieb also keiner von ihnen dem anderen zueigen.
Seit der Spätantike wurde gelegentlich die Unfreiheit mit dem Schicksal des zweiten Sohns des Noah begründet, der verflucht worden sei40. Noah hatte einst zuviel getrunken und lag nackt auf seinem Lager. Dies entdeckte Ham und lachte darüber. Als Noah das später erfuhr, sprach er nach dem Bericht der Genesis: „Verflucht sei Kanaan und sein gesamtes Geschlecht soll Diener und Knecht meiner beiden anderen Söhne sein.“41 Hierauf spielt auch Gratian an, wenn er meint, es gäbe heute keine Leibeigenschaft, wenn es keine Trunkenheit gegeben hätte42 . Eike sieht in 37
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Cf. Peter Comestor, Historia Scholastica, Liber-genesis, c. 36 (Migne, PL 198, 1080 C); Erler, Ansätze (Fn. 27), S. 24 f. Fn. 6; Kisch, Sachsenspiegel (Fn. 27), S. 77 und 137. Cf. Genesis 9, 18-29. Genesis 10, 6. Den Zusammenhang zwischen dieser Bibelstelle und der Sklaverei hat schon Basilius der Große (ca. 330-379) hergestellt, cf. Otto Schilling, Naturrecht und Staat nach der Lehre der alten Kirche, Paderborn 1914, S. 80; Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 199. Prominent hat Augustinus, De civitate Dei, XIX, cap. 15, PL 41 (1900), S. 643 f., diese Vorstellung weitergeführt, zugleich aber eine naturrechtliche Begründung der Sklaverei zurückgewiesen, cf. Drescher, Denkformen (Fn. 27), S. 305 ff., 372; Kolb, Über den Ursprung (Fn. 16), S. 306 mit Hinweis auf die Dichtung Hugo von Trimbergs („Der Renner“). Genesis 9, 25. Dist. 35, cap. 8, § 3: … Non esset hodie seruitus, si ebrietas non fuisset. …
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der Erzählung der Genesis (9, 25-27) keinen Beweis für die Unfreiheit, weil eben nicht Ham, sondern sein Sohn Kanaan verflucht worden sei43. Auf das Schicksal des Ham selbst ließ sich deshalb die Unfreiheit nicht zurückführen44 . Wichtiger aber noch wird für Eike der Umstand, dass nach dem 10. Kapitel der Genesis die drei Söhne des Noah jeweils unterschiedliche Erdteile bevölkert haben, so dass niemand des anderen Knecht bleiben konnte (3b)45.
c) Ismae [4a] Man sait ouch, eigenschaft queme von Ismahele. [4b] Di heilige schrift heist Ismahele der dirnen son, andirs enlutet si keiner eigenschaft von im.
Man behauptet auch, die Unfreiheit käme von Ismael. Die Heilige Schrift bezeichnet Ismael als Sohn der Magd [Dienerin]; sonst lässt sie nichts über ihn in Bezug auf Unfreiheit verlauten46.
Hagar, die Magd der Sarah, wurde zusammen mit ihrem Sohn Ismael verstoßen (Gen. 16 und 21,9-21), aber die Bibel berichtet nicht davon, dass Ismael unfrei geworden wäre. Eher im Gegenteil, da Gott aus ihm ein „großes Volk“ machen möchte 47.
d) Esau Das vierte alttestamentliche Argument für die Existenz der Unfreiheit wurde aus der Geschichte von Jakob und Esau abgeleitet.
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Zur Vorlage cf. Gagnér, Sachsenspiegel (Fn. 16), S. 93, unter Zurückweisung der von Kisch (Sachsenspiegel [Fn. 27], S. 77, 137 f.) behaupteten Anlehnung an die Historia Scholastica des Petrus Comestor. Cf. auch Kolb, Über den Ursprung (Fn. 16), S. 308; Drescher, Denkformen (Fn. 27), S. 315 ff. Kolb, Über den Ursprung (Fn. 16), S. 309, folgert zurecht: „… mit dem „bleiben“, das ein „gewesen“ voraussetzt, gibt Eike zu erkennen, daß er den Verknechtungsfluch über Chanaan wohl kennt … Doch er erklärt ihn, secundum rationem schließend, für aufgehoben und unwirksam gemacht durch den Lauf der Weltgeschichte, die für ihn natürlich Heilsgeschichte bedeutet.“ Cf. Gen. 16, 11. Gen. 21, 18.
Unfreiheit ist wider die Menschenwürde [5a] So sait man ouch, ist queme von Esau. [5b] Jacob wart geseint von sineme vatere unde hies en herre wesin bobin sime brudere Esau, envorvluchte he nicht noch eigenschaft gewog he nicht.
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So behauptet man auch, sie [die Unfreiheit] käme von Esau48. Jacob wurde von seinem Vater gesegnet und dabei geheißen, Herr über seinen Bruder zu sein; doch weder verfluchte er Esau noch erwähnte er Unfreiheit49.
In Genesis 27, 37 heißt es: „Ich habe ihn (Jakob) zum Herrn über dich gemacht…“. Das scheint nun auf die Knechtschaft Esaus hinzuweisen. Gleichzeitig darf man aber nicht das Schlusswort Isaaks übersehen (Gen. 27, 40): „Von deinem Schwert wirst du leben. Deinem Bruder wirst du dienen. Doch hältst du durch, so streifst du ab sein Joch von deinem Nacken.“ Die Unfreiheit ist jedenfalls vorübergehender Natur.
4. Ldr. III, 42 § 3 [5c] – Keine wirksame Selbstversklavung Nachdem Eike bislang allein die Autorität der Bibel für sich sprechen ließ, weist er die Rückführung der Leibeigenschaft auf Noah und Isaak zusätzlich mit einem rechtlichen Argument zurück. [5c] Wir haben ouch noch in unseme rechte, das nimant sich selbe zu eigene gegeben mag, is widerlege sin erbe wol. Wi mochte da Noe oder Isaac einen andern zu eigene gegeben, sint sich selbe nimant zu eigen gegeben mag?
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Cf. Gen 25,25. Cf. Gen 27, 1-40.
Wir haben auch noch in unserem Recht [den Satz], dass sich niemand selbst in die Leibeigenschaft begeben kann, wenn dem sein Erbe widerspricht. Wie konnten da Noah oder Isaak einen anderen zu Eigen geben, wenn sich selbst niemand zu Eigen geben kann?
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5. Positive Argumente gegen die Unfreiheit Ging es bislang um die Widerlegung von biblischen Argumenten für die Unfreiheit, so fügt Eike noch zwei weitere Überlegungen an, die die Unmöglichkeit dauerhafter Leibeigenschaft belegen sollen: Das Freiwerden durch Zeitablauf und die Pfennigperikope.
a) Ldr. III, 42 § 4 – Freiwerden durch Zeitablauf § 4. Och habe wir urkundes me: Got rugete den sibinden tag, di sibende woch gebot he ouch czu haldene, da he den juden di e gab unde uns sante sinen geist. Den sibendin manden gebot he ouch zu haldene unde das sibinde jar, das heist das jar der losunge. So solde man ledig lasin unde vri alle, di gevangen waren unde in eigenschaft gezogen, mit sulcheme rechte, so man si vieng, ab si ledig unde vri wolden sin. Ubir siben mal siben jar quam das vunfczigeste jar, das hies das jar der vrouden, so muste aller menlich ledig und vri sin, he wolde oder enwolde.
Auch haben wir noch mehr Beweise: Gott ruhte am siebten Tage; die siebte Woche gebot er auch zu halten, als er den Juden das Gesetz gab und uns seinen Geist sandte. Den siebten Monat gebot er auch zu halten und das siebte Jahr, das das Jahr der Freilassung heißt50. Da sollte man alle ledig und frei lassen, die gefangen und in die Unfreiheit geraten waren und zwar mit jenem Recht, das sie besaßen, als man sie fing – wenn sie ledig und frei sein wollten. Nach sieben mal sieben Jahren kam das fünfzigste Jahr, das hieß das Jahr der Freuden51; da musste jedermann ledig und frei sein, ob er wollte oder nicht.
Die Darstellung knüpft an Levitikus 25, 8-1052 an. Allerdings greift Eike auf den Anfang der Heilsgeschichte, die Schöpfung zurück, um die Heiligkeit der Siebenzahl zu betonen53. Das
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Cf. Exodus 21, 2. Cf. Levitikus 25, 9. Zur Etymologie cf. Drescher, Denkformen (Fn. 27), S. 340. Levitikus 25, 10: „Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig, und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus! Es gelte euch als Jubeljahr. …“ Drescher, Denkformen (Fn. 27), S. 331 ff.
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fünfzigste Jahr war ein „Jubeljahr“54 wo man frei wurde. Es begründete eine vollständige Wiederherstellung der Freiheit aller [Israeliten]55. Selbst im einzigen von Eike als biblisch anerkannten Fall der Unfreiheit, nämlich infolge von Kriegsgefangenschaft 56 , tritt also nach Ablauf von 49 Jahren Befreiung ein.
b) Ldr. III, 42 § 5 – Die Pfennigperikope Mit der Pfennigperikope (Mt 22, 15-22) kehrt Eike wieder zu seinem Ausgangspunkt, zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen zurück, die für ihn das zentrale Argument ist. § 5. Ouch gab uns got urkunde an eime phenninge, da man en mit vorsuchte, da he sprach: Lasit den keiser sines bildes gewaldig unde gotis bilde gebit gote. Da bi is uns kundig von gotis wortin, das der mensche gotis bilde is unde gotis wesin sal. Wer en im anders zusagit denne got, der tut wider gote.
Auch gab uns Gott einen Beweis mehr mit einem Pfennig, als man ihn damit versuchte, wozu er sagte: „Lasst den Kaiser über sein Bild Gewalt haben und Gottes Bild gebt Gott.“57 Daran ist uns Gottes Wort offenbar geworden, daß der Mensch Gottes Ebenbild ist und Gott gehören soll. Wer ihn jemand anderem als Gott zuspricht, der handelt gegen Gott.
Jesus soll zur Erlaubtheit der kaiserlichen Kopfsteuer sprechen, die in Judäa seit 6 n. Chr. vom römischen Statthalter für alle 12/14-65jährigen Einwohner gefordert wurde. Die Pointe in der Antwort Jesu weist auf den Vorrang der Stellung Gottes hin. Dem Kaiser das Kaiserliche, aber Gott das Göttliche. Gottes Wille beansprucht unbedingte Beachtung. Der Sachsenspiegel hebt die Perikope in einen anderen, mindestens ebenso interessanten Zusammenhang hinein, indem er an die Bildlichkeit 54 55
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Gagnér, Sachsenspiegel (Fn. 16), S. 95, hat als Vorlage die Pfingstpredigt des Honorius (963) ausgemacht. Levitikus 25, 44 ff.; cf. Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 185. Er weist S. 191 darauf hin, dass Platon die Sklaverei unter Griechen abgelehnt habe. Also auch dort eine Differenzierung nach der Volkszugehörigkeit. Der „Freund“ kann nicht unfrei sein. Schon Heraklit leitete die Sklaverei aus der Kriegsgefangenschaft ab, cf. Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 191 mwN. Cf. Mt 22, 19-21; Mk 12, 17.
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anknüpft, die Jesus vordergründig zum Entscheidungskriterium macht: Aus dem Bild auf der Münze wird auf die Berechtigung der Forderung geschlossen, auf eine Art der Eigentümerstellung. Es resultiert aus dem Bild ein Herausgabeanspruch. Wenn dem Kaiser gebührt, was sein Bild trägt, dann gehört der Mensch Gott allein, weil er sein Ebenbild ist. Also, schlussfolgert Eike, handelt wider Gott, wer einen Menschen jemand anderem zuspricht. Der Mensch gehört allein Gott.
6. Ldr. III, 42 § 6 - Schlussfolgerung Am Ende steht die leidenschaftlich verneinende Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage, ob Leibeigenschaft rechtens sei. § 6. Noch rechtir warheit so hat eigenschaft begin von getwange unde von gevengnisse unde von unrechter gewalt, di man von aldir an unrechter gewonheit gezogen hat unde nu vor recht haben wil.
Nach rechter Wahrheit hat Unfreiheit ihren Ursprung in Zwang und Gefangenschaft und unrechter Gewalt, die man von alters her zu unrechter Gewohnheit hat werden lassen und nun für Recht erachten will.
7. Der Gedankengang Die Ausgangsfrage ist: Wieso übergeht der Ssp. die Rechtsverhältnisse der Dienstleute? Die Antwort ist: weil es sich in Wahrheit um ein „Unrechts“verhältnis handelt. „Mit meinem Verstand kann ich es nicht für Wahrheit halten, dass jemand des anderen Eigentum sein solle“ 58 . Der Verstand wird hier zum Maßstab des Rechts gemacht59. 58 59
Ldr. III 42, 3. Cf. Udo Wolter, Die „consuetudo“ im kanonischen Recht bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, in: Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter, hrsg. von Gerhard Dilcher u.a., Berlin 1992, S. 87-116. – Ohne Begründung bleibt die These von Erik Wolf (Rechtsdenker, S. 10, ähnlich auch S. 14 f.), Eike habe hier nicht den Verstand bemühen wollen, sondern sich auf „christliche Wahrheit“ berufen. Einerseits ist darin
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Sodann erwägt der Sachsenspiegel alle Legitimationsversuche für Leibeigenschaft. Ihnen ist der heilsgeschichtliche Hintergrund gemeinsam. Eike weist diese Argumente jedoch sämtlich zurück. Zentrale Bedeutung hat die Imago Dei-Lehre: der Mensch ist Gottes Ebenbild und soll Gott gehören – kann also, so muss man fortdenken, nicht einem anderen Menschen gehören. Wie als eine Bestätigung erscheint Eike die Antwort auf die berühmte Steuerfrage aus den synoptischen Evangelien, die Gottes Eigentum für Gott reklamiert. Sehr im Einklang damit steht die Auffassung, dass diese Würde allen Menschen gleichermaßen zukomme, ob arm oder reich. Schon der Jakobusbrief (2, 1-5) warnte vor unrechten Unterscheidungen und erinnerte daran, dass Gott gerade die Armen auserwählt habe. Die Freiheit, jenes zentrale Element des Privatrechtsgedankens, dient der Verwirklichung der Menschenwürde. Nur ein freier Mensch kann sich als Persönlichkeit entfalten. Freiheit ist nicht Selbstzweck, sondern sie ist notwendige Bedingung für menschenwürdiges Leben. Diese Erkenntnis ist zuerst in der Heilsgeschichte ausgesprochen. Wie anders wäre es zu erklären, dass die Erlösung durch Jesus Christus sich im freiwilligen Kreuzesopfer vollzieht. Wie anders wäre aber auch die Liebe als zentrale Form der Persönlichkeitsentfaltung denkbar, die sich jedem Zwang entzieht. Die conclusio des Eike lässt nicht an Deutlichkeit zu wünschen übrig: Eike lehnt die Unfreiheit als Unrecht ab. Unrecht verstößt als solches gegen die göttliche Ordnung. Die Unfreiheit ist folglich Sünde . Sie ist Produkt von Zwang und Gewalt – mit Tradition, aber doch nicht mit Recht. Denn Tradition allein genügt nicht, sondern es braucht rechte Wahrheit. Eike hat
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kein Gegensatz zu erblicken, andererseits bleibt bei Wolf die Wortwahl des Sachsenspiegels unerklärt. Auch im Prolog des Sachsenspiegels wird die Vernunft zum Maßstab der Rechtskritik, wenn es dort heißt: „Deshalb bitte ich alle frommen Leute, … wenn … irgendeine Rechtssache begegnet, … die … in diesem Buch nicht enthalten ist, dass sie diese, dem Recht entsprechend und nach ihrer Einsicht entscheiden mögen, so wie sie es als gesetzmäßig kennen.“ Die Wahrheit des Rechts muss gedeutet werden. Das Instrument dazu ist für den Sachsenspiegel die Vernunft, cf. Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), S. 182. Vgl oben bei Fn. 24. Cf. Drescher, Denkformen (Fn. 27), S. 372.
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ein weitreichendes Programm formuliert: Freiheit für alle! Und zwar Freiheit im Sinne der Unabhängigkeit von der Willkür eines anderen, gegründet auf die gleiche Würde. Es sind im wesentlichen drei Gedanken, die den Beweis Eikes stützen: die Gottesebenbildlichkeit; der Tod Christi zur Erlösung aller, wodurch jedenfalls die Unfreiheit als Folge der Erbschuld ausgeschlossen wird und die Gleichheit des Menschen vor Gott. Unterstützend tritt die Freiheit des Menschen im Urzustand als naturrechtliches Argument hinzu.
III. Vorläufer Man hat längst darauf aufmerksam gemacht, dass trotz aller „Außergewöhnlichkeit“ der Position Eikes die natürliche Gleichheit und Freiheit des Menschen keine völlig neue Einsicht war. Schon der biblische Kontext der Argumentation des Eike könnte darüber belehren, dass Eike keine neue Idee formuliert. Der ideengeschichtliche Hintergrund kann hier nicht ausgeleuchtet werden. Als Vorläufer außerhalb der Bibel wer-
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Erler, Ansätze (Fn. 27), S. 12 hat auf die interessante Anwendung dieser Idee kurze Zeit später in Bologna aufmerksam gemacht, wo 1256 in großem Umfang servi aus den benachbarten Territorien freigekauft wurden, weil – wie es einleitend heißt – das Paradies keine Unfreiheit kannte, der Sündenfall aber durch die Erlösung geheilt sei. Cf. Kannowski, Freiheit (Fn. 27), Sp. 1749; Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 208 spricht von einem „Eindruck des Eigentümlichen“, zustimmend: Kolb, Über den Ursprung (Fn. 16), S. 295; Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), S. 237. Ignor resümiert (S. 239): „Der Sachsenspiegler, dem es darum ging, die Ordnung der Menschen darzustellen, betonte mit der Freiheit vielmehr eine Grundkategorie des rechtlichen und gesellschaftlichen Daseins, und zwar die, auch in den Augen der Zeit, einzig menschenwürdige.“ Voltelini meint an anderer Stelle (l.c., S. 185), bezogen auf den Satz, die Leibeigenschaft sei unrechte Gewalt: „Es ist ein revolutionärer Satz, gerichtet gegen die Gesellschaftsordnung nicht nur seiner Zeit.“ Insbesondere Voltelini, Gedanke (Fn. 27) sowie Erler, Ansätze (Fn. 27) ; cf. auch Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), S. 235 f.; Schmidt, Studien (Fn. 27), S. 106 ff.; Kölmel, Freiheit (Fn. 27), S. 391 ff. Sehr streng im Urteil Gagnér, Sachsenspiegel (Fn. 16), S. 103, der in Eike gerade keinen hervorragenden, selbständiger Denker erblickt, sondern eher einen Kompilator aus einigen Florilegien.
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den genannt: Platon und Heraklit , Laktanz , Dion Chrysostomos , Gregor von Nyssa, Ambrosius, Smaragdus von St. Mihiel (um 800), Jonas von Orléans, Hrabanus Maurus, Adalbero von Laon , Agobard von Lyon (826), Rather von Verona (um 938). Auch die Institutionen Justinians aus dem 6. Jahrhundert kannten die ursprüngliche Freiheit des Menschen ge-
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Gagnér, Sachsenspiegel (Fn. 16) hat das Speculum ecclesiae des Honorius Augustodunensis aus dem ersten Viertel des 12. Jahrhunderts und die Benediktbeurer Predigtsammlung unter dem Namen Speculum ecclesiae ebenfalls aus dem 12. Jahrhundert als mögliche Vorlagen Eikes identifiziert. Danach steht mindestens fest, dass dort eine Menge paralleler Gedanken zu finden sind. Insbesondere ist hinzuweisen auf die Weihnachtspredigt des Honorius, in der dieser die Gottesebenbildlichkeit des Menschen betont und die Knechtschaft abgelehnt hat (cf. Gagnér, l. c., S. 94). Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 191. Div. Inst. V 15; dazu: Kölmel, Freiheit (Fn. 27), S. 391 f., dort auch weitere Hinweise auf den Gleichheitssatz bei Johannes Chrysostomos (12. Homilie über 1. Tim 4,4), Augustinus und Isidor von Sevilla. Oratio XV, ed. Dindorf, cf. Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 193. Eccl. hom. 4, in: Migne, PG 44, 664; cf. Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), S. 236. Exhortatio Virginitatis I, 3, in: Migne, PL 16, 352 A; cf. Drescher, Denkformen (Fn. 27), S. 272. Via Regia, in: Migne, PL 102, 931-970, c. 30 (967); cf. Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), S. 235; Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 207; Kölmel, Freiheit (Fn. 27), S. 393 mit Quellenzitat. Cf. zu den drei zuletzt genannten die Nachweise bei Drescher, Denkformen (Fn. 27), S. 271, dort S. 272 ff. auch noch etliche weitere, hier nicht erwähnte Namen. Epistola ad proceres palatii, in: Migne, PL 104, 173-178, hier S. 177; cf. Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), S. 235: der innere Mensch sei niemandem (außer Gott) unterworfen. Praeloquorum libri sex, in: Migne, PL 136, 145-344, hier, S. 166; übersetzter Text bei Ignor, Rechtsdenken (Fn. 7), S. 235 Fn. 38 und Kölmel, Freiheit (Fn. 27), S. 393; zu Rather bereits Carlyle (Fn. 27), S. 88 f. mit Zitat des lateinischen Textes.
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mäß Naturrecht (Inst. 1.2.2). Und doch ist es symptomatisch: Die Unfreiheit wird dort nicht als Unrecht zurückgewiesen, sondern nur in ihrer Naturwidrigkeit beobachtet und dem ius gentium zugeordnet. Die mittelalterliche Literatur ist dem weithin gefolgt. Und das ist bei Eike anders. Er weist die Unfreiheit explizit als Unrecht zurück. Jedenfalls für den Bereich der Rechtsliteratur kann man sagen: erstmals! Hatten noch die Kirchenväter die Unfreiheit als eine Sündenstrafe interpretiert, so bleibt hierfür bei Eike kein Platz mehr. Unfreiheit ist vielmehr selbst Sünde und daher Unrecht.
IV. Fortwirkungen? 1. Zeitnahe Fortwirkungen Der Freiheitstraktat des Sachsenspiegels hat zeitgenössisch keine Spuren in der politischen Wirklichkeit hinterlassen. Die Un-
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Inst. 1.2.2: „… bella etenim orta sunt et captivitates secutae et servitutes, quae sunt iuri naturali contrariae. iure enim naturali ab initio omnes homines liberi nascebantur.“ Dazu Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 195 f. mit Hinweisen auf Interpolationen. Cf. Ulpian D. 1.4.4; Florentin D. 1.5.4.1: „Servitus est constitutio iuris gentium, qua quis dominio alieno contra naturam subicitur“; aus der griechischen Antike vgl. die Messenische Rede des Alkidamas aus Elaia (um 450-400 v. Chr.): Ἐλευθέρους ἀφῆκε πάντας θεός, οὐδένα δοῦλον ἡ φύσις πεποίηκεν, zitiert nach Karl Bayer, Vorsokratiker, Bamberg 1977, S. 61 (Frei hat Gott alle geschaffen; keinen hat die Natur zum Sklaven bestimmt). Auch dem römischen Recht ist der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit nicht fremd, wenngleich es daraus nicht die Folgerungen wie Eike zog. Die Konstitution C. 9.47.17 aus dem Jahre 315 verbot das Brandmarken ins Gesicht des Gefangenen, quia facies ad similitudinem pulchritudinis caelestis est figurata, cf. Erler, Ansätze (Fn. 27), S. 9 f. Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 202 ff. Das gilt auch für Thomas von Aquin, der hierin Aristoteles gefolgt ist, Voltelini, l. c., S. 206 mwN. Zur Kanonistik cf. Rudolf Weigand, Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten von Irnerius bis Accursius und von Gratian bis Johannes Teutonicus, München 1967, S. 259 ff. Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 207 urteilt schärfer: Niemand (vor Eike) habe die Unfreiheit grundsätzlich abgelehnt. Z. B. Augustinus (Fn. 40). Drescher, Denkformen (Fn. 27), S. 372.
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freiheit wurde weiterhin als Selbstverständlichkeit aufgefasst81. Zwar ist die Lehre Eikes in den abhängigen Rechtsbüchern wiederzufinden82 , aber die Rechtspraxis kümmerte sich darum wenig, wie eine Gandersheimer Urkunde vom 10. Februar 1400 zeigt, in der es um eine Angelegenheit der Leibeigenschaft von Ministerialen ging. Die Äbtissin Lutgarda III. entschied unter Bezugnahme auf den Sachsenspiegel: In deme sulven Capitele steit ghescreven, dat de denstman neyn recht en hebben, wenne alse de Here one gift, das se under gheboren sin …83
In demselben Kapitel steht geschrieben, dass die Dienstleute kein [anderes] Recht haben, als das, was der Herr ihnen gibt, unter dem sie geboren sind.
'LHVH$XVVDJHZLUGPDQQXQNDXPPLWXQVHUHU6DFKVHQVSLHJHO 6WHOOHEHJUQGHQN|QQHQ'LHbEWLVVLQVDKNHLQ3UREOHP. 81
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Das gilt auch außerhalb von Deutschland, cf. Philippe de Beaumanoir (Ende des 13. Jahrhunderts) hat in seinen Coutumes de Beaumanoir die Entstehung der ständischen Gliederung der Gesellschaft und der Unfreiheit aus Kriegen und Gewalttaten begründet, cf. Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 207 f.; Carlyle, Political Theory (Fn. 27), S. 90 mit wörtlichem Quellenzitat. Dort auch ein Zitat von Bracton für die Situation in England. Darauf weist bereits Fehr, Staatsauffassung (Fn. 3), S. 140 Fn. 1 hin. – Cf. Schwabenspiegel Art. 308 (Friedrich L. A. Frhr. v. Laßberg, Der Schwabenspiegel, Tübingen 1840, S. 131-133; hochdeutsch bei Harald Rainer Derschka, Der Schwabenspiegel, München 2002, S. 186-188); Deutschenspiegel Art. 279 f. (online: http://bsbdmgh.bsb.lrz-muenchen.de/dmgh_new/app/ web?action=loadBook&bookId=00000676); ferner Sächsisches Weichbildrecht Art. II (Alexander von Daniels und Franz von Gruben, Sächsisches Weichbildrecht und Jus municipale Saxonicum, Bd. 1, Berlin [1853], S. 65 mit Glosse, ebd. Sp. 187-192); Görlitzer Rechtsbuch II, cap. XXXI § 2 und cap. XXXII § 1 (Carl Gustav Homeyer, Des Sachsenspiegels zweiter Teil, Bd. 2, Berlin 1844, S. 178-180); Freisinger Landrechtsbuch cap. 197 (Georg Ludwig Maurer, Das Stadt- und Landrechtsbuch Ruprechts von Freising, Stuttgart und Tübingen 1888, S. 213 f.); Frankenspiegel II 55 (Hermann Ernst Endemann, Das Keyserrecht nach der Handschrift von 1372, Kassel 1846, S. 93 f.); weiterführend: Dorn, Unfreiheitsdiskurs (Fn. 27). Urkunde von 10.2.1400 „An Sunte Scholasticken“, in: Historia ecclesiae Ganders-hemensis cathedralis ac collegiatae diplomatica, hrsg. von Johann Christoph Harenberg, Hannover 1734, S. 1169, hier zitiert nach Kannowski, Umgestaltung (Fn. 3), S. 289. Immerhin wird man für den Ssp. selbst sogar einräumen müssen, dass er an anderen Stellen keine Einwände gegen die Unfreiheit vorbringt. Cf. Kannowski, Umgestaltung (Fn. 3), S. 288 unter Hinweis auf Ldr III 32, I 16 § 1; I 51 §§ 1, 2; II 19 § 2; III 45 § 9; III 69 § 2; III 73 § 2; III 80 § 2.
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Anders erging es dem Glossator des Sachsenspiegels, Johann von Buch, im 14. Jahrhundert, der sich von Eike mit der Forderung nach Anerkennung von Freiheit schlechthin konfrontiert sah. Das römische Recht lehrte, die Einteilung der Personen sei so zu denken, dass alle Menschen entweder Freie oder Sklaven seien – und genauso sah es der Glossator des Sachsenspiegels, der den seit der Antike gespurten Wegen der Interpretation von zweierlei Recht folgte: neben der natürlichen Freiheit stand danach unbeeinträchtigt das positive Recht. Johann von Buch behauptete, Eike wolle hier nur disputieren: „mer he sprickt se dor disputerendes willen“ und zwar „alse en mester under sinen scholeren“ . Nichts spricht nach dem wohlbegründeten Urteil von Kannowski für diese Deutung. Eike meinte es durchaus ernst. Leibeigenschaft, so urteilte Johann von Buch, sei nicht rechtswidrig, denn die Menschen seien vor Gott nicht gleich, wie Aristoteles gewusst habe, der auf die unterschiedliche Intelligenz der Menschen abgestellt habe . Zentrale Bedeutung hat bei Johann die Widerlegung des Erlösungsarguments: Die Erlösung betreffe nur die Seelen der Menschen, die körperlichen Mühen aber seien als Folgen der Erbschuld nicht durch die Erlösung aufgehoben worden. Daher bleibe es auch bei der Strafe der Leibeigenschaft. Die Freiheit, von der Eike spreche,
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Eingehend Kannowski, Umgestaltung (Fn. 3), S. 286 ff. Inst. 1.3 pr.: Summa itaque divisio de iure personarum haec est, quod omnes homines aut liberi sunt aut servi.“ – Gleichzeitig ist auch dem römischen Recht die natürliche Gleichheit aller Menschen präsent, cf. Ulpian D. 50.17.32: „Quod attinet ad ius civile, servi pro nullis habentur: non tamen et iure naturali, quia, quod ad ius naturale attinet, omnes homines aequales sunt.“ – Die Widersprüchlichkeit löst das römische Recht durch die Differenzierung des ius naturale vom ius gentium. Mit einem einheitlichen Rechtsbegriff, wie er dem Sachsenspiegel vor Augen steht, ist das nicht vereinbar. „Vortmer sind alle lude entwer eghen edder vry“ (III 42, Vnde weren alle lude vry, in: Buch’sche Glosse [Fn. 12], S. 1188, Zeile 13 f.); cf. Kannowski, Umgestaltung (Fn. 3), S. 287. So schon Schilling, Das objektive Recht (Fn. 5), S. 11, 15, 21 ff. III 42, God hefft den man, in: Buch’sche Glosse (Fn. 12), S. 1183, Z. 11. Cf. bereits Erler, Ansätze (Fn. 27), S. 10. III 42, God hefft den man, in: Buch’sche Glosse (Fn. 12), S. 1183, Z. 15 f. Kannowski, Umgestaltung (Fn. 3), S. 291 ff. III 42, God hefft den man, in: Buch’sche Glosse (Fn. 12), S. 1184, Z. 13-15.
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beziehe sich richtigerweise nur auf die Seele. Erst vor Gottes Richterstuhl gelte, so Johann, die Gleichheit vor Gott .
2. Ausblick und Schluss In der Rechtswissenschaft bleibt die im Mittelalter vorgezeichnete und auch von der Glosse zum Sachsenspiegel letztlich nicht verlassene Dichotomie erhalten: Zwar sind die Menschen von Natur aus gleichermaßen frei, aber das positive Recht akzeptiert die Unfreiheit95. Konrad Lagus (1500-1546)96 referierte in seinem Kompendium des sächsischen Rechts zwar auch die Haltung des Eike zur Unfreiheit, aber er resümierte: „… also ist das recht, das die Sachsen anfenglichen vor unrecht gehalten … in eine gewohnheit gezogen, die darnach vor recht gehalten worden ist“. Das anfängliche Unrecht hat sich nach Lagus zur rechten Gewohnheit gewandelt . Und noch 1789 schildert Hieronymus Christoph Meckbach in seinem Sachsenspiegel-Kommentar die
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III 42, God hefft den man, in: Buch’sche Glosse (Fn. 12), S. 1185, Z. 131186, Z. 6; cf. Kannowski, Umgestaltung (Fn. 3), S. 293 f. Zur Trennung von Leib und Seele bei Johann, cf. Umgestaltung (Fn. 3), S. 331 und 493 f. und Schilling, Das objektive Recht (Fn. 5), S. 22. III 42, God hefft den man, in: Buch’sche Glosse (Fn. 12), S. 1187, Z. 3 ff.; ähnlich die Argumentation Johanns zur Pfennigperikope: der Leib gehört dem Kaiser, die Seele Gott. III 42, Ok gaff uns God, in: Buch’sche Glosse (Fn. 12), S. 1201, Z. 1-14. So auch das gelehrte Recht im Anschluss an die römischen Quellen (cf. oben Fn. 87). Nicht anders die scholastische Soziallehre bei Thomas von Aquin, STh. II, 94,6 ad 3: „distinctio possessionum et servitus non sunt inductae a natura, sed per hominum rationem ad utilitatem vitae.“ Dazu Kölmel, Freiheit (Fn. 27), S. 398 f. Zu diesem: Theodor Muther, Doctor Conrad Lagus, in: Zur Geschichte der Rechtswissenschaft und der Universitäten in Deutschland, Gesammelte Aufsätze von Theodor Muther, Jena 1876, S. 299-351. Konrad Lagus, Compendium juris civilis et Saxonici. Ein gründlicher, ordentlicher auszug, begriff und einhalt des Keyserlichen und Sächsischen Rechten…, Magdeburg 1597, S. 45, hier zitiert nach Theuerkauf, Lex (Fn. 18), S. 275. Weitere Zitate und Einzelheiten bei Theuerkauf, Lex (Fn. 18), S. 275 ff.
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Unfreiheit als eine (natur)rechtmäßige Konsequenz der Kriegsgefangenschaft. Politische Umsetzung erlangte das Freiheitsprogramm, sieht man einmal von dem Sonderweg der Städte ab100, erst in der Reformatio Sigismundi (1439)101 oder den Forderungen in den Bauernkriegen102 . Auch dort leitete man die Freiheit aller aus der gleichen Würde aller Menschen ab. Im Text vom Jahre 1525 heißt es103: 99
Hieronymus Christoph Meckbach, Commentar über den Sachsen-Spiegel, in welchem vom Staats- Lehn- Geist- Pein- und Bürgerlichen Rechte gehandelt, 2. Aufl. Weimar 1789, S. 760 f. 100 Die Freiheit des städtischen Bürgertums wurde zum Vorbild für die allgemeine bürgerliche Freiheit im modernen Verfassungsstaat, cf. Gerhard Dilcher, Bürgerrecht und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter, 1996, S. 75; zust. Kannowski, Freiheit (Fn. 27), Sp. 1752. 101 In der Reformatio Sigismundi liest man: „wir stan in glicher fryheit zů hymel; darumb wys jederman, wer der is, der getar sprechen: „Du bist myn eigen!“ der ist nit cristen.“ (Reformation Kaiser Siegmunds, hrsg. von Heinrich Koller, Stuttgart 1964, S. 279; zu der Reformschrift: Dieter Werkmüller, Art. Reformatio Sigismundi, in: HRG IV [1990], Sp. 457459). Cf. Kannowski, Freiheit (Fn. 27), Sp. 1753 mit weiteren Nachweisen. – Auf die Beziehung zwischen Sachsenspiegel und Reformatio Sigismundi hat bereits Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 187 f., hingewiesen. Er. sieht auch bei Martin Luther Anleihen an den Sachsenspiegeltext. – Schon eine französische Ordonnanz von 1315 wünscht, dass die Tatsachen mit dem Wort gleicher Freiheit übereinstimmen sollten, cf. Kölmel, Freiheit (Fn. 27), S. 395 mit Quellenzitat. Kölmel sieht im 13. und 14. Jahrhundert eine starke Tendenz zur Freiheit (S. 394), konstatiert aber zugleich einen Zwiespalt zwischen der anthropologischen Einsicht und „den rauhen, andrängenden Fragen der sozialen Wirklichkeit“ (S. 397). Für den Horizont des Begriffs der Freiheit ist der Hinweis von Kölmel auf die Armutsbewegung seit Franz von Assisi sehr wertvoll. Die Armutsbewegung hat ein Programm innerer Freiheit verwirklicht (S. 399 ff.). Drescher, Denkformen (Fn. 27), S. 375, sieht in der Armutsbewegung einen relevanten ideengeschichtlichen Hintergrund für die Position Eikes. 102 Cf. Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 182, 189; weiterführend Bierbrauer, Das göttliche Recht (Fn. 27). 103 Zwölf Artikel und Bundesordnung der Bauern, Flugschrift „An die versamlung gemayner pawerschafft“. Traktate aus dem Bauernkrieg von 1525, übertragen von Christoph Engelhard, mit einer Einführung von Peter Blickle über Memmingens Rang in der Geschichte der Reformation (Materialien zur Memminger Stadtgeschichte, Reihe A Heft 2, hrsg. vom Stadtarchiv Memmingen), Memmingen 2000 = online unter http://stadtarchiv. memmingen.de/918.html (Zugriff 14. September 2009). Zu den Zwölf Artikeln: Peter Blickle, Die Zwölf Artikel der Schwarzwälder Bauern von 1525, in: Reformation und Revolution: Beiträge zum politischen Wandel
Unfreiheit ist wider die Menschenwürde Zu(o)m dritten ist der brauch byßher gewesen, das man vns für jr aigen leüt gehalten haben, wo(e)lchs zu(o) erbarmen ist, angesehen, das vns Christus all mitt seynem kostparlichen plu(e)tvergu(e)ssen erlo(e)ßt vnnd erkaufft hat, Den || hyrtten gleych alls wol alls den ho(e)chsten, kain außgenommen. Darumb erfindt sich mit der geschryfft, das wir frey seyen vnd wo(e)llen sein. Nit das wir gar rey wo(e)llen seyn, kain oberkait haben wellen. Lernet vnß gott nit, wir sollen in gepotten leben, nit yn freyem fleyschlichen mu(o)twilen, sonder got lieben, jn als vnserrn herren jn vnsern nechsten erkennen, vnnd alles das, so wyr auch gern hetten, das vnns got am nachtmal gepotten hat zu(o) ainer letz. Darumb sollen wir nach seinem gepot leben. Zaigt vnd weißt vns diß gepot nit an, das wir der oberkkait nit korsam seyen? Nit allain der oberkait, sunder wir sollen vns gegen jederman diemu(e)tigen, das wir auch geren gegen vnser erwelten vnd gesetzten oberkayt (so vns von got gesetzt) jn allen zimlichen vnd christlichen sachen geren gehorsam sein. Seyen auch onzweyfel, jr werdendt vnß der aigenschafft als war vnnd recht christen geren endtlassen oder vns jm euangeli des berichten, das wirß seyen.
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Zum Dritten ist es bisher Brauch gewesen, dass man uns für Leibeigene gehalten hat, was zum Erbarmen ist, angesichts dessen, dass uns Christus mit seinem kostbaren Blut erlöst und freigekauft hat – den Hirten genauso wie den Höchsten, keinen ausgenommen. Darum ergibt sich aus der [Heiligen] Schrift, dass wir frei sind und sein wollen. Wir wollen gar nicht frei sein [in dem Sinn], dass wir keine Obrigkeit haben wollen. Lehrt uns nicht Gott, dass wir nach den Geboten leben, nicht nach freiem fleischlichem Mutwillen, sondern Gott lieben, ihn als unseren Herrn in unserem Nächsten erkennen und alles das (zu tun), wie auch wir es gerne hätten, wie es uns Gott beim Letzten Abendmahl geboten hat. Darum sollen wir nach seinem Gebot leben. Zeigt und weist uns dieses Gebot an, dass wir der Obrigkeit nicht gehorsam sind? Nicht allein der Obrigkeit, sondern wir sollen uns gegenüber jedermann demütigen, dass wir auch gerne gegenüber unserer erwählten und gesetzten Obrigkeit (so sie uns von Gott gesetzt wurde) in allen gehörigen und christlichen Sachen gehorsam sind. Seien auch noch Zweifel, ihr werdet uns als wahre und rechte Christen aus der Leibeigenschaft entlassen oder uns aus dem Evangelium berichten, dass wir [leibeigen] sind.
und den sozialen Kräften am Beginn der Neuzeit. Festschrift für Rainer Wohlfeil zum 60. Geburtstag, hrsg. von Rainer Postel u. a., Stuttgart 1989, S. 90 ff.; zur Beziehung zum Sachsenspiegel: Paul Freedman, The German and Catalan Peasant Revolts, in: The American Historical Review 98 (1993), S. 39-54, hier S. 47.
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Gefordert wird die Anerkennung der gleichen Freiheit für alle. – Hier ist nicht der Weg des Freiheitsbegriffs von den Naturrechtstheorien hinein in den modernen Verfassungsstaat nachzuzeichnen104 . Ganz auffällig ist, dass die Wegbereiter der Menschenrechtserklärungen die Grundlage der rechtlichen Gleichheit vor allem im Vertrag sehen. Paradigmatisch sei an den Contrat social von Rousseau (1762) erinnert. Nicht die göttliche Ordnung der Schöpfung gleich würdiger Menschen, sondern der Vertrag ist für ihn das Fundament des Rechts105. Das verdeckt die Wurzel der Freiheit im Schöpfungswerk Gottes. Allerdings setzt der Gesellschaftsvertrag die gleiche Rechtsfähigkeit der Parteien bereits voraus – und diese folgt nun einmal aus der Personalität des Menschen, die nicht nur begriffsgeschichtlich auf das engste mit der gleichen Menschenwürde verbunden ist. Das realisiert auch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, die wiederum auf die Schöpfung zurückverweist: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“
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Zu den frühen Zeugnissen zählt: Nikolaus von Cues, De concordantia catholica, lib. II, c. 14, Basel 1555, p. 730; cf. Voltelini, Gedanke (Fn. 27), S. 187. 105 Ausführlich zum Weg der Freiheit seit der Aufklärungszeit: Joachim Rückert, „Frei und sozial“ als Rechtsprinzip, Baden-Baden 2006; zusammenfassend Kannowski, Freiheit (Fn. 27), Sp. 1753-1756.
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Stefan Mückl
Vor- und außerpositive Grundlagen des Verfassungsstaates Der Staat ist – so prägnant Carl Schmitt – die politische Einheit eines Volkes1. Ihre nähere rechtliche Ausgestaltung findet diese Einheit in der Verfassung: Sie verfasst als die höchste (geschriebene) Rechtsquelle den Staat als die Bündelungsgröße des politischen Gemeinwesens. Ihrem Inhalt nach verhält sich die Verfassung zu den grundlegenden Fragen der Verfasstheit des Gemeinwesens (und überlässt die weniger grundlegenden anderen Instanzen zumeist dem Gesetzgeber). Solche grundlegenden Fragen betreffen im modernen Verfassungsstaat, wie er sich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Frankreich herausgebildet hat, üblicherweise zwei Komplexe: Regelungsbedürftig ist zum einen die Organisation des Staates, auf der anderen Seite das Verhältnis des Staates zum einzelnen. Betrifft ersteres etwa die Frage der Staatsform, die Aufteilung der Staatsgewalt und ihre gegenseitige Ausbalancierung, geht es im zweiten Fall um die Festschreibung von Grund- oder Menschenrechten. Da die Verfassung Rechtsquelle ist, enthält sie vor allem juristisch handhabbare Regelungen, die gegebenenfalls auch von den (Verfassungs-)Gerichten kontrolliert werden. Da sie höchste Rechtsquelle ist, verhält sie sich zugleich zu den Ursprüngen und Bedingungen, Prägungen und Zielen des Gemeinwesens. Sie regelt das „Heute“, indem sie – aufbauend oder abgrenzend – das „Gestern“ im Blick behält und eine Perspektive für das „Morgen“ vorzeichnet. Eine derartige „Grundmelodie“ intoniert nahezu jede Verfassung, oftmals ausdrücklich in Form eines Vorspruchs (Präambel). Statt dessen oder auch zusätzlich erklingt sie zudem aus dem Zusammenspiel einzelner Bestimmungen, sei es mittels an 1
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sich unjuristischer („volkskatechetischer“) Programmsätze, sei es im Wege der im Wege juristischer Methodik gewonnenen Freilegung der umfassenderen historischen, ethischen und sozialen Hintergründe ihrer Rechtssätze. Für das Grundgesetz, als Verfassungstypus mehr „Juristen-“ denn „Pastorenverfassung“2, ist der letztgenannte Weg einzuschlagen: In seinem Stil enthält es sich, auch in der Präambel, jeglicher Erbauungsrhetorik. Es formuliert Rechtssätze, keine Programmsätze. Gleichwohl verfasst das Grundgesetz den Staat nicht technizistisch oder minimalistisch: Das Grundgesetz beinhaltet eine „Werteordnung“, das von ihm konstituierte Staatswesen ist zwar weltanschaulich neutral, aber nicht wertneutral 3.
I. Notwendigkeit von Wertegrundlagen Das Recht umschreibt nach einer bekannten Formulierung des Staatsrechtlers Georg Jellinek ein bloßes „ethisches Minimum“. Seinen Funktionen nach ist es auf die Herstellung eines gedeihlichen Zusammenlebens der Menschen ausgerichtet, indem es (unter anderem) denkbare Konflikte bereinigt (Friedensfunktion), regelungsbedürftige Sachverhalte rechtlich ordnet (Regelungsfunktion), im Interesse des Gemeinwohl positive oder negative Anreize für die Rechtsgenossen setzt (Steuerungsfunktion) und all diesen Regelungen durch funktionsfähige Organe, insbesondere die Rechtspflege, tatsächliche Durchsetzung verleiht (Überwachungsfunktion). Alle diese Funktionen kommen in besonderer Weise der Verfassung als der höchsten Rechtsquelle des Staatswesens zu, des weiteren die Funktion der Integration: Verfassung und Recht haben nur dann dauerhaft Bestand, wenn sich der Staat als
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„Heimstatt aller Staatsbürger“4 erweist. Damit verbieten sich zwei denkbare Optionen, sowohl diejenige des alle denkbaren Lebensbereiche regelnden Staates wie auch diejenige des sich aus ihnen zurückziehenden Staates: Ersterer wäre totalitär, der zweite relativistisch. Ein Staat, der von seinen Bürgern – auch und gerade in Zeiten der Krise und der Gefahr – wirklich getragen werden will, bedarf um seines Fortbestands willen zwingend gemeinsamer Fluchtpunkte. Er benötigt Fundamente, welche die auf ihnen errichtete Konstruktion des Staatswesens auch dann noch halten, wenn diese von inneren oder äußeren Anstürmen erschüttert wird. Derartige Grundlagen, auf die alle Bürger (oder zumindest doch eine überwältigende Mehrheit) sich bei allen unterschiedlichen Überzeugungen und Anschauungen im übrigen verständigen können, speisen sich aus gemeinsamen Vorstellungen über eine gerechte Verfasstheit des Gemeinwesens – aus Werten. Aus ihnen, ob offen zutage liegend oder erst im Wege der Verfassungsauslegung gewonnen, erschließt sich, was die Verfassung im Innersten zusammenhält.
II. Herkunft von Wertgrundlagen Einen ersten deutlichen Hinweis auf ihre Wertgrundlagen geben Verfassungstexte nicht selten in ihren Vorsprüchen (Präambeln). Vielfach schöpfen diese aus historischen Erfahrungen. So stellen sich die unmittelbaren Nachkriegsverfassungen der (west-)deutschen Bundesländer nach 1945 als bewusste Gegenentwürfe zur überwundenen nationalsozialistischen Gewaltherrschaft dar: Die Verfassung des Freistaates Bayern (1946) verweist auf das „Trümmerfeld, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen … geführt hat“. Auf gleicher Linie liegt es, wenn die Verfassung der Freien Hansestadt Bremen (1947) sich „erschüttert von der Vernichtung, die die autoritäre Regierung der Nationalsozialisten unter Missachtung der per4
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sönlichen Freiheit und der Würde des Menschen … verursacht hat“ zeigt. In der Substanz gleich, wiewohl in der Diktion zurückhaltender, verficht auch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (1949) eine anti-totalitäre Stoßrichtung, indem es sich historisch sowohl gegen den Nationalsozialismus als auch zeitgenössisch gegen den Kommunismus abgrenzt. Diese Beispiele aus der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte lassen sich zu einer übergreifenden Überlegung verdichten: Wenn der Staat es unternimmt, nicht nur sämtliche Lebensbereiche seiner Bürger rechtlich zu regeln, sondern auch noch, bestimmte Grundüberzeugungen (noch schärfer: Ideologien) verbindlich zu machen und sie mit den Zwangsmitteln des Rechts durchzusetzen, wird er totalitär. Diese Option versagt ihm nicht nur das geltende deutsche Verfassungsrecht mit seiner anti-totalitären Stoßrichtung, sondern überdies die freiheitliche Verfassungsstaatlichkeit selbst. Für die Frage nach der Herkunft von Wertegrundlagen des Staatswesens kann damit eine wichtige Weiche gestellt werden: Der Staat selbst taugt als Schöpfer von Werten nicht. Gewiss: Er kann sich Werte zu eigen machen oder sie ablehnen, er kann bestimmte auswählen und andere unberücksichtigt lassen. Doch all dies hat zur Bedingung, dass er die Werte bereits vorfindet, sie möglicherweise erst wieder zum Vorschein bringt (so sie verschüttet waren), sie gegebenenfalls auch veränderten Notwendigkeiten anpasst (so es zeitlose von überholten, zeitbedingten Elementen zu trennen gilt). Der freiheitliche Verfassungsstaat unterscheidet sich vom absolutistischen wie vom aufgeklärten Wohlfahrtsstaat (erst recht vom totalitären Staat) durch seine Bescheidung und Begrenzung. Er erfasst den Menschen nicht in allen seinen Lebensbereichen, sondern nur insoweit, als es zur Erreichung seines primären Zwecks – Herstellung des gedeihlichen Zusammenlebens der Menschen – erforderlich ist. Andere, teilweise dem Staat voraus liegende, Lebensbereiche wie die Religion, die Kultur, die Wirtschaft oder die Kommunikation folgen ihren eigenen Gesetzlichkeiten. Der freiheitliche Verfassungsstaat respektiert sie, räumt ihnen einen geschützten Wirkungsbereich ein (in den er tunlichst nur dann interveniert, wenn elementare Interessen gefährdet sind) und ist darüber hinausgehend
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bestrebt, diese Eigengesetzlichkeiten sich selbst zunutze zu machen: Der freiheitliche Verfassungsstaat ist sektoraler Staat.5 Diese grundsätzlichen Überlegungen finden im geltenden Verfassungsrecht ihren Niederschlag: Das Grundgesetz verbietet die Staatskirche. 6 Damit ist der Staat als „Heimstatt aller Staatsbürger“ zur religiös-weltanschaulichen Neutralität verpflichtet. Ebensowenig darf eine Staatswirtschaft bestehen,7 eine Staatskunst oder Staatskultur. Für einen wesentlichen Teil der Kommunikation, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, hat das Bundesverfassungsgericht das Gebot ihrer „staatsfreien“ Organisation aufgestellt. Der freiheitliche Verfassungsstaat gewinnt seine – auch (und gerade) für ihn notwendigen – Werte auf andere Weise: Er greift sie aus der Mitte seiner Bürger auf. Dies freilich hat eine zweifache Voraussetzung: Die Anerkennung der Trennung von Staat und Gesellschaft sowie die Ermöglichung von Freiheit zur Entfaltung jener Anschauungen und Verhaltensweisen, aus denen Werte erwachsen können. Der Staat seinerseits muss sich vor einer doppelten Gefahr hüten: Einmal, der Versuchung zur Herstellung einer „Identität von Regierenden und Regierten“ (im Sinne von Jean Jacques Rousseau) zu erliegen, zum anderen, den Begriff der Freiheit rein negativ (Freiheit „von“) zu verengen. Diese Aussagen lassen sich idealtypisch anhand des Verhältnisses von Staat und Kirche (oder allgemeiner: Religion) verdeutlichen: – Infolge des Verbots der Staatskirche (Grundsatz der Säkularität) und der daraus fließenden Verpflichtung zur religiösweltanschaulichen Neutralität ist es dem Staat verwehrt, sich mit einer bestimmten Kirche oder Religion zu identifizieren. Das gilt freilich gleichermaßen für die entgegengesetzte Position; der Staat ist auch daran gehindert, eine kirchen- oder re5
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ligionsfeindliche Haltung einzunehmen oder eine bestimmte Weltanschauung zu verfechten. Von Verfassungs wegen ist der Staat gehalten, die (zumeist ihm voraus liegenden) Phänomene „Kirche“ und „Religion“ zur Kenntnis zu nehmen, ebenso, dass erhebliche Teile seiner Bürger ihre Überzeugungen aus diesen Quellen schöpfen. – Die Eigengesetzlichkeit dieser Lebensbereiche stattet er mit rechtlicher Freiheit aus8 – und zwar auch dann, wenn sie nach anderen Grundsätzen organisiert sind als der Staat. Im politischen Raum bisweilen erhobene Forderungen nach „Demokratie“ oder „Menschen“- (zumal: „Frauen“-)Rechten in der Kirche (neuerdings auch: im Islam) offenbaren allein Unkenntnis moderner Staatlichkeit wie geltenden Verfassungsrechts. – Die Grundsätze der Säkularität und Neutralität sowie das Grundrecht der Religionsfreiheit hindern den Staat daran, dem Bürger Vorgaben über Glauben und Religion zu setzen. Er darf ihn dazu weder veranlassen noch davon abhalten: Der Bürger selbst hat in Freiheit für sich die Entscheidung zu treffen, woran er sich halten möchte. Für den Staat bedeutet dies, dem Bürger diese Auswahl zu ermöglichen: So bietet er an den öffentlichen Schulen Religionsunterricht an – gestattet aber die Abmeldung,9 er ermöglicht in öffentlichen Anstalten (Streitkräfte, Strafanstalten, Krankenhäusern) seelsorgliche Handlungen – verbietet dabei aber jeden Zwang.10 Allein die Ermöglichung dieser Auswahl ist wirklich neutral (das lateinische Adjektiv „neuter, neutrum“ bedeutet: „keiner von beiden“, „keines von beiden“). Der freiheitliche Verfassungsstaat gibt also in erster Linie seinen Bürgern und – diese bündelnd – den gesellschaftlichen Kräften Raum und Freiheit zur Entfaltung ihrer Überzeugungen und Werte. Ihnen gegenüber ist er grundsätzlich zur Neutralität verpflichtet, ausnahmsweise aber auch zum Eingreifen berechtigt: Benutzte eine gesellschaftliche Kraft ihre Freiheit dazu, die Freiheit anderer in Frage zu stellen, kann dies der 8
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Staat ebenso wenig hinnehmen, wie wenn sie es versuchte, dem Staat ihre Überzeugungen und Werte zu oktroyieren.
III. Verbindlichkeit von Wertegrundlagen Neutralität bedeutet indes nicht Wertefreiheit und Relativismus. Auch wenn der freiheitliche Verfassungsstaat sich primär auf die Werte aus der gesellschaftlichen Sphäre stützt, ist damit nicht gesagt, dass er selbst keine besäße. Er vermag solche Werte aufzugreifen und mit rechtlicher Verbindlichkeit auszustatten. Eine derartige Verbindlichkeit ergibt sich freilich nicht schon aus dem tatsächlichen Bestehen bestimmter Werte: Sie bedürfen vielmehr der zusätzlichen Verankerung in der staatlichen Rechtsordnung. Hierfür kommen in besonderer Weise diejenigen Werte in Betracht, die sich für das Staatswesen und seinen primären Zweck als grundlegend erweisen und durch die zwei hinzutretenden Faktoren der (rechts-)kulturellen Überlieferung sowie der Anerkennung durch die überwiegende Mehrheit der Rechtsgenossen in gesteigertem Maße legitimiert sind. Das Grundgesetz enthält vielfältige Anklänge an Wertvorstellungen. Es ergeht „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“11 und stellt an seine Spitze die Unantastbarkeit der Menschenwürde.12 Es bekennt sich „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“.13 Es schützt in einem umfangreichen Katalog von Grundrechten die persönliche, soziale und gesellschaftlich-politische Sphäre des Bürgers – sieht dabei aber auch eine Vielzahl von Einschränkungsmöglichkeiten vor, etwa das „Sittengesetz“.14 Es stellt Ehe und Familie unter den „besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“.15 Es gewährleistet die Berufs- und Eigentumsfreiheit,16 spricht aber auch den gesetz11
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lichen Schutz der Sonn- und Feiertage als „Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“17 sowie die Verpflichtung des Eigentums auf das „Wohl der Allgemeinheit“18 aus. Es lässt die Aufstellung von Streitkräften – auch im Wege der allgemeinen Wehrpflicht – zu, jedoch nur „zur Verteidigung“ und unter ausdrücklicher Ächtung des Angriffskrieges.19 Diese – keineswegs abschließende – Aufstellung macht einerseits deutlich, dass das geltende Verfassungsrecht auf den Grundlagen bestimmter Wertvorstellungen errichtet worden ist. Andererseits ist auch in den Blick zu nehmen, dass die Inbezugnahme derartiger Wertvorstellungen nicht selten mit Einschränkungen und Relativierungen verbunden ist. Weiter fällt auf, dass bestimmte dieser Wertvorstellungen konkret benannt werden und ihren ideellen Hintergrund unschwer erkennen lassen (Menschenwürde, Ehe und Familie, Sonntagsschutz). Andere wiederum sind allgemeiner und offener formuliert, ihr Bedeutungsgehalt erschließt sich nicht ohne weiteres und aus sich selbst heraus (Sittengesetz, Wohl der Allgemeinheit). Recht und Ethik, Verfassung und Werte bilden also offenbar nur zum Teil deckungsgleiche Größen. Somit lassen sich „verrechtlichte“ von „metarechtlichen“ Wertgrundlagen unterscheiden, was nunmehr näher zu entfalten ist:
1. „Verrechtlichte“ Wertegrundlagen Eine Vielzahl von Werten sind im Grundgesetz gewissermaßen zu Verfassungsrecht geronnen: Am deutlichsten offenbart sich dies in den Aussagen zur Unantastbarkeit der Menschenwürde, des Rechts auf Leben und des Schutzes von Ehe und Familie. Bei aller Bedeutsamkeit dieser wie anderer Einzelaussagen soll der Blick zunächst auf die übergreifenden Fundamente des Staatswesens gerichtet werden: – Das Grundgesetz erteilt der Vorstellung eines omnipotenten Staates eine Absage: Der Staat ist, entgegen idealistischer 17 18 19
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Überhöhung im 19. Jahrhundert (Hegel) und erst recht entgegen den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, kein in sich ruhender Selbstzweck. Zwar fand die in den Herrenchiemseer und Bonner Verfassungsberatungen formulierte Maxime „Der Staat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Staat“, da zu „volkskatechetisch“, keine Aufnahme in den Verfassungstext. Gleichwohl trifft sie das Staatsverständnis des Grundgesetzes. Die Relativierung staatlicher Befugnisse offenbart sich in weiteren Bestimmungen: Die Pflege und Erziehung der Kinder sind nicht nur „das natürliche Recht der Eltern“, sondern auch „die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“.20 Dem Staat kommt hier – nur, aber immerhin – ein ergänzendes „Wächteramt“ zu, das er indes allein bei Versagen der Erziehungsberechtigten oder drohender Verwahrlosung der Kinder zu einem Eingriff nutzen darf.21 Eines der Hauptkennzeichen des modernen Staates ist seine primäre Verantwortung für die schulische Ausbildung und Erziehung. Dementsprechend stellt das Grundgesetz das gesamte Schulwesen unter die Aufsicht des Staates.22 Damit wird aber keineswegs ein staatliches Schulmonopol begründet: Die Freiheit zur Errichtung privater Schulen wird ausdrücklich gewährleistet.23 – Auch wenn der Staat grundsätzlich zum Handeln berechtigt ist, hat er doch in vielen Beziehungen den Handlungsvorrang der sachnäheren, unteren Einheit – ob staatlich oder nichtstaatlich – zu beachten. Ohne der Frage näher nachzugehen, ob das Grundgesetz allgemein einen Grundsatz der Subsidiarität enthält,24 erweisen sich wesentliche Verfassungsbestimmungen als von diesem Gedanken geprägt: Grundsätzlich sind die Länder (nicht der Bund!) zur Gesetzgebung berechtigt;25 auch wenn dem Bund eine Gesetzgebungsbe20
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fugnis ausdrücklich eingeräumt ist, kann er sie in wesentlichen Bereichen nur ausüben, wenn eine bundesgesetzliche Regelung „erforderlich“ ist.26 Die Regelung von „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ ist gänzlich den Gemeinden zugewiesen;27 nur aus gewichtigen Gründen des Gemeinwohls kann der Staat eine gemeindliche Aufgabe an sich ziehen. Dem Subsidiaritätsgedanken folgt schließlich auch der genannte Mechanismus der Ersetzung des elterlichen durch ein staatliches Erziehungsrecht. – Mit der Gewährleistung von Grundrechten erkennt der Staat Rechtspositionen des einzelnen an, die dem Staat selbst voraus liegen. Der Staat stellt die Grundrechte unter seinen Schutz, „schafft“ sie aber nicht. Grundrechte sind vor-staatlich und wurzeln in der menschlichen Person, ihrer Würde und ihrer Einzigartigkeit. Um des gedeihlichen Zusammenlebens der Menschen willen können die Grundrechte – in unterschiedlichem Umfang – zwar eingeschränkt, aber in keinem Fall „in seinem Wesensgehalt angetastet“ werden.28 Gleiches gilt für dasjenige Rechtsgut, das die Verfassung an ihre Spitze gestellt hat: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“. – Dieses Prinzip der Personalität findet seine Fortsetzung und Erfüllung im Prinzip der Freiheit: Die Grundrechte gewährleisten die Entfaltung der Persönlichkeit – durch die Ausübung der Religion, das Äußern von Meinungen, die Gründung einer Familie, das Abhalten von Versammlungen, den Zusammenschluss zu Vereinen, die Entfaltung im Beruf, die Bildung von Eigentum etc.29 Charakteristisch für den freiheitlichen Verfassungsstaat ist das von Carl Schmitt so bezeichnete „Verteilungsprinzip“: Die Freiheitssphäre des einzelnen ist prinzipiell unbegrenzt, die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre dagegen prinzipiell begrenzt:30 Der Bürger schuldet dem Staat grundsätzlich keine Rechen26
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schaft im Rechtssinne über die Wahrnehmung seiner Freiheit – auch wenn sie sich als belanglos, trivial oder unvernünftig darstellen mag. Der Staat seinerseits darf erst dann eingreifen, wenn die Rechtsgüter anderer oder wichtige Gemeinschaftsgüter bedroht sind. Der Hintergrund dieser übergreifenden Fundamente – Staatsskepsis, Subsidiarität, Personalität, Freiheit – vermag für das rechtliche Verständnis einzelner der „verrechtlichten“ Werte eine Hilfestellung zu geben: Es gehört zum Wesen von Rechts-, zumal von Verfassungsbegriffen, dass sie auslegungsfähig und -bedürftig sind: Was genau bedeutet „Würde des Menschen“? Wann beginnt und endet das „Leben“? Aus verfassungsrechtlicher Sicht stellen sich derartige Wendungen als „Schleusenbegriffe“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde) dar, denen sich je nach Vorverständnis des Interpreten unterschiedliche Inhalte entnehmen lassen. Am deutlichsten offenbarte sich dies vor zehn Jahren bei der Verabschiedung einer „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“: Die Gewährleistungen der einzelnen Grundrechte wurden nicht mit der in Grundrechtskatalogen üblichen Wendung „Jeder hat das Recht …“ eingeleitet, sondern mit der Formulierung „Jede Person hat das Recht …“. Versteht man „Person“ als gleichbedeutend mit „Mensch“, bleibt der sachliche Aussagegehalt unverändert. Knüpft man aber mit manchen Tendenzen in Teilen der Philosophie den „Person“-Begriff an bestimmte materielle Voraussetzungen – etwa an die Fähigkeit und den Willen zur Selbstbestimmung (so namentlich der Australier Peter Singer) –, erhielten die Grundrechte einen völlig anderen Gehalt: Ungeborene und Säuglinge, Wachkomapatienten und Demente würden dann nicht mehr unter grundrechtlichem Schutz stehen. Welche Bedeutung sich genau hinter einem konkreten „verrechtlichten“ Wert verbirgt, erschließt sich erst aus einer detaillierten Auslegung der jeweiligen Verfassungsbestimmung. Eine solche Auslegung wird gerade hier in Rechnung zu stellen haben, dass derartige Begriffe (rechts-)kulturellen Wurzeln
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entspringen,31 die zu kappen dem Rechtsanwender nicht freisteht: Recht, auch Verfassungsrecht, ist – jedenfalls wenn es um grundlegende Aussagen geht – keineswegs bloßes Ergebnis einer willkürlich getroffenen Entscheidung, die auch anders hätte ausfallen können, sondern Ausfluss historisch-kultureller, auch religiös beeinflusster, Gegebenheiten. Es gehört zu den Entstehungszusammenhängen des Rechts, dass Befunde aus dem tatsächlichen Lebensbereich aufgegriffen und nach den genannten Kriterien geformt werden. Greift die Verfassung sie auf, gelten sie, weil die Verfassung es so bestimmt. Der Einwand, jener Bedeutungsgehalt sei aus bestimmten historischen, kulturellen oder religiösen Zusammenhängen gespeist, mag dabei zutreffen, vermag aber den der Verfassung bekannten und von ihr gewollten Inhalt nicht nachträglich im Wege der Interpretation zu verändern. Eine solche Veränderung ist dem Staat zwar nicht grundsätzlich verwehrt – sie vorzunehmen ist Ausfluss seiner Souveränität –; sie müsste aber dann im Wege einer Verfassungsänderung getroffen werden. Doch selbst dann wäre der Preis hoch: Die Abnabelung von den historisch-kulturellen Wurzeln des Rechts wäre eine in den Formen des Rechts erfolgende Kulturrevolution. Konkret: Der verfassungsrechtliche Schutz der Ehe beruht – in säkularisierter Form – auf dem christlichen Menschenbild. Der von der Verfassung übernommene Ehe-Begriff zeichnet sich jedenfalls durch drei charakteristische Merkmale aus: Die Monogamie, die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner sowie die grundsätzliche Unauflöslichkeit. Unter der Geltung des Grundgesetzes ist damit die Polygamie ebenso ausgeschlossen wie die Öffnung des Instituts der Ehe für Personen gleichen Geschlechts. Nach einer Mehrheits-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts soll der „besondere“ Schutz der Ehe den Gesetzgeber nicht daran hindern, für Personen gleichen Geschlechts ein eigenständiges Institut (die sogenannte „eingetragene Lebenspartnerschaft“) einzuführen, das bis auf Marginalien der Ehe nachempfunden ist.32 Ob man die Erwägung des Gerichts, 31 32
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jener Personenkreis sei für das Institut der Ehe gleichsam konstitutionell nicht erreichbar, für überzeugend halten muss, sei dahingestellt. Dass die Wertentscheidung des Grundgesetzes zugunsten der Ehe mit dieser Entscheidung gestützt wird, lässt sich nicht nur bezweifeln – die Auspizien weisen eher in die entgegengesetzte Richtung. Ähnliches gilt etwa im Hinblick auf den Schutz des Lebens. Dass dieser auch und gerade an den zeitlichen Grenzen der menschlichen Existenz seine Wirkung entfaltet und damit grundsätzlich die Abtreibung ebenso verbietet wie die Euthanasie, ist nicht etwa eine bloße Position partikularer Moralvorstellungen, der sich der Staat nach Belieben entledigen könnte. Unbeschadet ihrer religiös geprägten Herkunft sind sie für den Staat kraft dessen eigener Entscheidung verbindlich, mehr noch, im Laufe der rechtskulturellen Entwicklung zum Gemeingut des Staates selbst geworden. Diesen Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht selbst in seinem – im Ergebnis fragwürdigen und zu Recht kritisierten – Kruzifix-Beschluss aus dem Jahr 1995 anerkannt:33 „Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein.“
2. „Metarechtliche“ Wertegrundlagen Andere Bestimmungen der Rechtsordnung nehmen Wertegrundlagen eher indirekt in Bezug: So kann das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit durch das „Sittenge33
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setz“ eingeschränkt werden.34 Im Ordnungsrecht kann die Polizei einschreiten, wenn eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu besorgen ist. Im Zivilrecht ist ein Rechtsgeschäft bei Verstoß gegen die „guten Sitten“ nichtig, 35 das gesamte Rechtgebiet (mehr noch: die gesamte Rechtsordnung) steht unter dem Regime jenes „königlichen Paragraphen“, der die Beachtung von „Treu und Glauben“ verlangt.36 Anders als die „verrechtlichten“ Werte erschließt sich der Gehalt derartiger Generalklauseln und Verweisungen auf außerrechtliche Verhaltensmuster noch nicht einmal im Wege der Auslegung. Sollen sie in ihrer unbestimmten Weite rechtlich handhabbar werden, erfordert dies notwendigerweise eine mehrfach abgestufte Konkretisierung: Am Anfang steht der Versuch einer allgemeinen Definition (der mitunter in einer Umschreibung steckenbleibt, deren Erkenntnisgewinn durchaus fraglich ist.37 Dann erhebt sich die Aufgabe, zu ermitteln, ob und inwieweit der außerrechtlichen Verweisung auch rechtlicher Gehalt zukommt (oder ob es mit der Bewertung eines Sachverhalts nach außerrechtlichen Maßstäben nicht sein Bewenden haben kann). Gerade bei der Inbezugnahme auf sittlich-ethische Überzeugungen kommt es dann entscheidend auf ihre allgemeine oder doch überwiegende Verbreitung an, ehe ein Sachverhalt anhand dieses Maßstabs auch rechtlich bewertet werden kann. Die praktische Bedeutung derartiger „metarechtlicher“ Werte sinkt in dem Maße, in dem einerseits die rechtlichen Kriterien für die Beurteilung eines Sachverhalts zunehmen und andererseits die allgemeine Akzeptanz sittlicher Kriterien abnimmt. Pointiert formuliert: Diese Kategorie der Wertegrundlagen gerät zwischen Skylla und Charbydis, zwischen rechtliche (Über-) Regulierung und Werteverfall. Beispielhaft aufzeigen lässt sich dies an der Schranke des „Sittengesetzes“ in Art. 2 Abs. 1 GG: In der Praxis des Bundes34
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verfassungsgerichts hat sich lediglich eine Entscheidung (aus dem Jahr 1957) auf diese Wendung gestützt und sich zur empirischen Absicherung auf „die beiden großen christlichen Religionsgemeinschaften, insbesondere die beiden großen christlichen Konfessionen, aus deren Lehre große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen“, bezogen.38 Derartige Aussagen gehören, schon weil ihre tatsächlichen Annahmen nicht mehr zutreffen, längst nicht mehr in das Repertoire verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Vielmehr greift das Gericht regelmäßig auf die (rechtlich präzisere) Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung“ zurück. Eine ähnliche Entwicklung war bei der Wendung „öffentliche Ordnung“ im Ordnungsrecht zu verzeichnen: Herkömmlich als Gesamtheit jener Regeln definiert, „die nach den herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben innerhalb der Gemeinschaft angesehen wird“, wurde die Formel zu Beginn der 1990er Jahre aus manchen „fortschrittlichen“ Polizeigesetzen gestrichen. Kurze Zeit später fand sie eine erstaunliche Renaissance: Politisch unerwünschte, aber rechtlich nicht zu beanstandende Demonstrationen bestimmten Personenkreise (konkret: von Rechtsextremisten) sollten nun gegen die öffentliche Ordnung verstoßen und deshalb verboten werden können. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Form der Umdeutung von politischen Überzeugungen in „Werte“ und deren anschließende Gleichsetzung mit Recht nicht akzeptiert und statt dessen dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit überwiegend als missliebig beurteilter Personengruppen den Vorzug gegeben.39
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IV. Gefährdungslagen Wie das zuletzt genannte Beispiel verdeutlicht, ist das Beziehungsgeflecht von Recht und Werten zweischneidig: Einerseits bedarf das Recht zur Begründung wie Erhöhung seiner Geltungskraft stabiler Wertegrundlagen. Umgekehrt ist es wenigstens problematisch, verbindliches Recht durch – mitunter noch nicht einmal in ihrer allgemeinen Akzeptanz verlässlich geklärte – „Werte“ in Frage zu stellen. Wird – in der „Normallage“ des freiheitlichen Rechtsstaats – das Recht gegen „Werte“ ausgespielt, können beide Größen nur verlieren. Vor allem in zwei Konstellationen sind derartige Gefahren zu besorgen: In der Aufladung des Rechts durch „Werte“ sowie in ihrer Usurpation durch den Staat: Eine zentrale „Grundpflicht“ des Bürgers40 liegt darin, die bestehenden Gesetze zu befolgen. Bereits dies ist ein – auch sittlich oder religiös (siehe nur das 13. Kapitel des Römerbriefes) relevanter – Wert. Gewiss sind Fälle vorstellbar, in denen jene Gesetzesbefolgungspflicht an ihre Grenzen stößt, wiewohl diese in der „Normallage“ des freiheitlichen Rechtsstaates die extreme Ausnahme bilden werden. Zumeist aber erweist sich der Anspruch, aus „höheren“, „besseren“ oder „überwiegenden“ Gründen von der Bindung an die Gesetze freigestellt zu werden, 41 als elitäre Anmaßung, als Begehren nach einem gleichheitswidrigen Privileg. Dies gilt für die Ebene des einzelnen ebenso wie für gesellschaftliche Gruppen. Auch hier zeigen sich Bestrebungen einer Aufladung des Rechts durch „Werte“: Der Aussage des Grundgesetzes, alle Menschen seien vor dem Gesetz gleich und niemand dürfe wegen bestimmter Merkmale benachteiligt oder
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bevorzugt werden,42 wird ein überwölbender „Wert“ der „Antidiskriminierung“ untergeschoben. Dieser angebliche Wert wird sodann gegen geltendes Recht in Stellung gebracht, sei es, um den von der Verfassung ausdrücklich angeordneten „besonderen“ Schutz von Ehe und Familie zu untergraben, 43 sei es, um den Vertrag als zentrales Moment der Freiheit Privater in die Bahnen des gesellschaftlich-politisch Erwünschten zu lenken.44 Im freiheitlichen Verfassungsstaat erwachsen die Wertegrundlagen, wie dargelegt, zu allererst aus der gesellschaftlichen Sphäre. Die hier tätigen Träger und Vermittler von Werten, zumal die Kirchen, haben ersichtlich an Bindekraft und Akzeptanz eingebüßt. Diesen unabweisbaren Befund versucht nun aber der Staat (für den eine Gewissenserforschung, ob dieser Befund nicht – auch – auf sein Zutun zurückzuführen sein könnte, durchaus lohnend wäre) mit einem ersichtlich ungeeigneten Mittel zu therapieren, wenn er es selbst unternimmt, die bestehende Lücke füllen zu wollen: Der freiheitliche Rechtsstaat, „Heimstatt aller Staatsbürger“, gründet sich gerade nicht auf eine staatsverordnete „Wahrheit“, sondern auf die den Bürgern eingeräumte Freiheit, jene Anschauungen und Überzeugungen auszubilden, die zum gesellschaftlichen Konsens erstarken und dann als Wertegrundlage für das Staatswesen fungieren können. Der Staat, der – anstatt die Träger und Vermittler in der Gesellschaft zum Tätigwerden zu ermuntern – auf diesem Feld selbst tätig werden will, übernimmt sich. Der einst im brandenburgischen Landtag im Zuge der Beratungen des Unterrichtsfaches „LER“ von einem SPD-Abgeordneten erhobene Anspruch „Was Werte sind, bestimmen wir“, mutet in seiner Hybris fast schon wieder erheiternd an.
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Vergleichbare Tendenzen sind seit geraumer Zeit im Lande Berlin zu beobachten: Dort fühlt sich offensichtlich der Senat zur schulischen Sinnstiftung und Wertevermittlung berufen. Da in Berlin der Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach ist45 – ein dies bezweckender Volksentscheid scheiterte im April 2009 (nicht zuletzt auch aufgrund der massiven Intervention des Berliner Senats und der ihn tragenden Parteien) – versucht der Staat das von ihm festgestellte Wertevakuum selbst zu füllen, indem er einen „Werteunterricht“ eingeführt hat. Von ihm können sich – anders als selbst in Brandenburg – auch diejenigen Schüler nicht abmelden, die den kirchlichen Religionsunterricht besuchen. Um so „offener“ zeigt sich der Berliner Senat hingegen, wenn es um die Förderung bestimmter weltanschaulicher Vereinigungen und Unternehmungen geht: Die örtliche politische Klasse, personell mit einschlägigen Gruppierungen wie der „Humanistischen Union“ eng verflochten, hegt keine Bedenken, die Tätigkeit derartiger Vereinigungen zu über 90% aus Steuermitteln zu alimentieren.46 Die Grenzen, welche die Grundsätze der Säkularität und der Neutralität dem Staat setzen, sind hier, ganz offensichtlich bewusst und gewollt, weit überschritten.47
V. Perspektiven Der freiheitliche Rechtsstaat ist sektoraler Staat. Er beschränkt seinen Aktionsradius auf innerweltliche Aufgaben. Für deren Bewältigung benötigt er zwar die Rückbindung an grundlegende, für das Gemeinwesen konstitutive Werte. Diese Werte vermag er aber nicht selbst zu schaffen, sondern ist darauf be45
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schränkt, sie vorzufinden, aufzunehmen, in seine Rechtsordnung zu integrieren und ihre weitere Wirksamkeit zu ermöglichen. Der Versuchung, die Entsagung von der Beantwortung der religiösen Wahrheitsfrage durch einen säkularisierten Ersatz einer „Zivilreligion“ zu kompensieren, muss der Staat widerstehen, will er seine Freiheitlichkeit für alle Bürger bewahren.48 Die Verantwortung für die Wertegrundlagen im Gemeinwesen liegt in erster Linie bei den Bürgern und den gesellschaftlichen Kräften. Der Staat verbürgt ihnen ein hohes Maß an individueller und kollektiver Freiheit und räumt ihnen einen beträchtlichen Spielraum zur Entfaltung ihrer Überzeugungen und Anschauungen ein. Damit verbindet sich freilich auch die Erwartung, dass Bürger und gesellschaftliche Kräfte von ihren Freiheiten Gebrauch machen und sie auch in den Dienst des Ganzen stellen. Letztlich ist das Staatswesen ein Spiegelbild seiner Bürger: Ihre Werte und Überzeugungen sind es, die zum kulturellen und rechtlichen Fundament der Verfassungs- und Rechtsordnung erstarken – wenn sie überzeugend und authentisch gelebt werden.
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Aussprache Leitung: Dr. Hans Thomas Repgen: Stefan Mückl hat dargelegt, so fasse ich mal verkürzt zusammen, dass unsere Werteordnung im Grundgesetz sozusagen durch die Geschichte gegeben ist. Folglich brauchen wir nur in die Herrenchiemsee-Protokolle zu schauen, um zu wissen, wes Geistes Kind die Väter unseres Grundgesetzes waren. Gewiss würde ein Verfassungsrechtler das niemals so platt formulieren. Die erwähnte Stelle im Sachsenspiegel lehrt uns allerdings auch Vorsicht beim Rückblick in die Geschichte. Eike sagt, eure Tradition – er könnte auch sagen, eure Geschichte – zeugt von Unrecht. Die Geschichte ist also manchmal trügerisch. Das macht die Schwierigkeit beim Naturrecht aus, wenn wir es aus der Geschichte heraus begründen wollen. Aus dieser Zwickmühle können wir, so meine These, nicht heraus. Wir müssen die Geschichte zu Hilfe nehmen, um unsere eigene Standortbestimmung vorzunehmen. Natürlich können wir aus der Geschichte keine Handlungsrezepte hier und jetzt ableiten, aber an ihr doch eine ganze Menge studieren. In der Ausblendung der Geschichte liegt ein Ungenügen der Diskussion über Naturrecht, die wir in der Vergangenheit geführt haben und in der dieser Zusammenhang vielleicht nicht richtig gesehen wird. Heute ziehen sich die Juristen wie Graf Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf. Wir betreiben heute Rechtskritik, indem wir das Bundesverfassungsgericht fragen, ob dies oder das richtig ist. Das Bundesverfassungsgericht antwortet mit Blick in die positive Rechtsordnung des Grundgesetzes und behauptet, das wäre Rechtskritik. Das mag praktikabel sein, aber als Rechtskritik befriedigend ist es eigentlich nicht. Denn, wie Herr Rhonheimer darlegte, brauchen wir, um das Recht zu kritisieren, einen Ankerpunkt außerhalb des Systems. Eine Binnenkritik bleibt im System gefangen und kann keinen Weg zur Unterscheidung zwischen richtig und falsch weisen. Insofern könnte die Geschichte doch eine wichtigere Rolle spielen, als sie es bei den einigermaßen geschichtsvergessenen Juristen tut.
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Aussprache
Mückl: Dem würde ich kaum widersprechen. Ich habe schon darauf verwiesen, dass bloße Tradition oder Historitizität nicht ausreicht, um eine positiv-rechtliche Begründung abzuliefern. Nur stehen wir in der Tat vor der Crux – auch in der Rechtsund Verfassungsanwendung bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht –, dass wir nicht mehr über eine gesicherte Verfassungsauslegung und Kriterien für die Methodik verfügen. Das hängt eben sehr stark von den Zufälligkeiten einer konkreten Entscheidung der jeweiligen Rechtsanwender ab, von dem etwa, was acht Richter eines Senates für Verfassungsrecht halten. Der Befund ist nicht neu. Ihn hat schon einer der Väter der nordamerikanischen Verfassungsgebung in den Satz gefaßt: the constitution is what the judges say it is (Die Verfassung ist, was die Verfassungsrichter dazu erklären). Und das tun sie vielfach nicht nach Kriterien, die allgemein offengelegt werden. Das ist, glaube ich, genau der Bündelungspunkt. Darunter finden sich historische, vielleicht gar historisierende Erwägungen ebenso wie rein faktische Beobachtungen oder reine Empirie. Es gibt eine einsame Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus den 1950er Jahren, die den Begriff des Sittengesetzes in Art. 2 Satz 1 GG rechtlich operationabel machen wollte. Damals hat das Bundesverfassungsgericht verwiesen auf die beiden großen christlichen Kirchen, ihre Moralvorstellungen und den Umstand, dass weite Teile der Bevölkerung daraus auch ihre eigenen sittlichen Maßstäbe beziehen würden. Einen so sicherlich zeitgebundenen Interpretations-Topos würde das Bundesverfassungsgericht sich heute nicht mehr zu eigen machen. Was die eigentlichen Kriterien der Verfassungsauslegung sind, ist in der Tat eine immer wieder komplizierte Frage. Rhonheimer: Der Blick in den Sachsenspiegel hat in lehrreicher Weise gezeigt: Das Naturrecht bewegt sich in einer Dialektik zwischen Geschichte und Vernunft. Dort sieht man, wie die Rechtsvernunft das Gewohnheitsrecht durchbricht. Das zeigt auch der Prozess im Früh- und Hochmittelalter, den Harold Berman in „Recht und Revolution“ dargestellt hat. Dort hat das naturrechtliche Denken – stark beeinflusst auch vom Decretum Gratianum – das germanische Gewohnheitsrecht durchbrochen. Im Namen der Vernunft, Wahrheit, Gleichheit usw.
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wurde in ganz wesentlichen Bereichen die Gleichstellung oder doch eine gewisse Gleichbehandlung von Mann und Frau, etwa im Eherecht, befördert. Letzteres selbstverständlich auch unter dem Einfluss der Kirche. Hier zeigt das Naturrecht eine ganz klare Linie. Im Mittelalter wurde, wie Brian Tierney herausgearbeitet hat, auch ein erster Begriff der subjektiven Rechte entwickelt. Mit eindeutig emanzipatorischer Funktion tritt oft das Naturrecht im Namen einer höheren Wahrheit gegen das überkommende Recht auf. Auf der anderen Seite steht Naturrecht immer in Verbindung mit historisch Gewachsenem. Denn dort, wo es konkret wird, kann man nicht absehen von dem, was in einer Gesellschaft vorgefunden wird. Darüber kann sich die Rechtsordnung nicht hinwegsetzen. Der Jurist kann nicht einfach auf Grund von naturrechtlichen Gesetzen Recht sprechen. Aber er muss diese Doppelpoligkeit von historisch Gewachsenem und Naturrecht vor Augen haben. Naturrecht ist zwar immer konkretisiert in Geschichte, tritt aber auch als Instanz der Kritik des historisch Vorgefundenen und dem Anspruch wahren Rechts auf. Mückl: Ich habe ausdrücklich gesagt: Der Verfassungsstaat nimmt das Vorgefundene zum Ausgangspunkt. Das Vorgefundene verstehe ich dabei nicht im Sinne einer Gültigkeit, sondern als Antithese zu der Selbstschaffung von Grundlagen, Werten durch den aktuellen Staat. Er kann sich das Vorgefundene zu eigen machen, kann es ablehnen, kann es reinigen, kann es läutern. Konkret: Wird das Institut der Unfreiheit vorgefunden, wird naturrechtlich dagegen argumentiert, es sei falsch. Thomas: Frau Professor G.E.M. Anscombe aus Cambridge begegnete hier 1975 einer ähnlichen Fragestellung über den Staat und sagte sinngemäß, Kaiser Trajan in Rom sei ein guter Kaiser gewesen, ohne Schuld daran, dass in der Rechtsordnung Roms die göttliche Verehrung des Kaisers mit Weihrauch verankert war. Das war Gewohnheitsrecht. Er konnte es nicht ändern. Was er innerhalb der Gesetzgebung tun konnte und getan hat, war die Anordnung, nach den Christen, die sich verweigerten, nicht zu fahnden. Um die Rechtsordnung zu ändern, habe es der Martyrer bedurft.
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Aussprache
Prof. Dr. Lothar Roos: Bei Thomas von Aquin heißt es: „Alle Menschen sind von Natur aus gleich, die Güter der Erde sind grundsätzlich von Gott für alle Menschen geschaffen, müssen deshalb allen Menschen zugute kommen, in angemessener Weise“. Diese „angemessene Weise“ den sehr unterschiedlichen geschichtlich sich wandelnden Umständen zu überlassen, ist problematisch. Will man das nicht, muss man prinzipielle Kriterien angeben. Im 2. Satz dieser Lehre sagt Thomas dann, nicht das Gemeineigentum – das er als Bettelmönch lebte –, ist die richtige Form für die Gesellschaft, sondern die potestas procurandi et dispensandi soll möglichst vielen selbstverantwortlich handelnden Personen übertragen werden. Etwas modern formuliert: Das persönliche Eigentums- und Verfügungsrecht über die Güter. Damit würde der Zweck der destinatio communis besser erreicht als wenn allen alles gemeinsam wäre. Wie damit verfahren wird, ist nun nicht beliebig. Die primärnaturrechtliche Forderung lautet: „die Güter der Erde sind für alle Menschen da“. Im Umgang mit ihr ist man im Laufe langer historischer Erfahrung zu bestimmten Einsichten gekommen, wie man das besser oder schlechter machen kann. Die daraus resultierenden Grundsätze, das sekundäre Naturrecht, bleiben ein Stück weit offen, aber beliebig sind sie nicht. Das sogenannte sekundäre Naturrecht konstituiert die wesentlichen Aussagen unserer Soziallehre. Sie resultiert damit auch aus einem historischen Lernprozess und ist insofern offen. Aber hinter sie zurückfallen dürfen wir nicht. Letztlich können rechtliche, staatliche, wirtschaftliche, familiäre, etc. Strukturen nur funktionieren, wenn sie von entsprechenden Tugenden gestützt werden. Oder noch grundsätzlicher: Es entstehen überhaupt erst jene Strukturen, die das primäre Naturrecht geschichtlich realisieren, wenn die entsprechenden Tugenden den Rahmen dafür vorprägen. Prof. Dr. Martin Schlag: Das Naturrecht ist ohne Zweifel eine Wirklichkeit und dazu ein Instrument, das wir brauchen. Aber sollte man nicht terminologisch einen Trennungsstrich ziehen zwischen dem früher historischen und dem gegenwärtigen Gebrauch als Begründungs- und Kritikinstrument. Man denke
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nur an die Kritik des Missbrauchs der potestas-indirecta-Lehre (indirekte Autorität der Kirche in weltlichen Fragen), an die Schwierigkeit direkter Erkennbarkeit von Naturrecht, an die neuzeitliche, auf Hobbes zurückgehende Trennung von Recht und Moral mit den daraus folgenden Schwierigkeiten für klassische Naturrechtsbegründungen. Diesen Trennungsstrich mag auch Josef Ratzinger im Sinn haben: Noch im Gespräch mit Habermas hat er geäußert, Naturrecht sei eine Waffe, die stumpf geworden ist. Jetzt als Papst fordert er ein neues Naturrechtsdenken. Rhonheimer: Kardinal Ratzinger hat in der Bayerischen Akademie den Vorschlag gemacht, nicht mehr von Naturrecht zu sprechen. Auch etwa wegen der Evolutionslehre, so meinte er, ist eine Normativität der Natur nicht mehr durchgehend verständlich. Man sollte jedoch meiner Ansicht nach den Begriff des Naturrechts nicht auf die Vokabel Naturrecht begrenzen. Seit Jahrhunderten spricht man auch von ius naturale, lex naturalis, usw. Dabei müßte man allerdings differenzieren. Einen Verzicht auf das Wort „Naturrecht“ halte ich aus rein pragmatischen Gründen für nicht möglich und nicht ratsam. Die gesamte Tradition würde damit abgeschnitten. Wir werden also wohl weiter mit dem Begriff Naturrecht operieren müssen. Statt den Begriff abzuschaffen sollte man ihn zurückführen auf seinen Ursprung aus der griechischen Rechtsphilosophie: Widerstand gegen die sophistische Identifizierung von Recht und Macht bzw. von Recht und nomos. Das Naturrechtdenken hat auch Wurzeln in der Erfahrung des Pluralismus der Rechtssysteme, in der Einsicht, dass es ein Recht gibt, das alle verbindet, obwohl die Rechtsordnungen in verschiedenen Stadtstaaten entstanden sind. Das mittelalterliche Naturrecht ist die Kritik im gewohnheitsrechtlichen Namen eines höheren Rechtes, das auch etwas mit Wahrheit zu tun hat. Ein Naturrecht wie das neuzeitliche, das quasi ein ganzes Normensystem ist, fast ein naturrechtlicher Kodex, brauchen wir tatsächlich nicht. Dr. Johannes Hattler: Die normativen Leitbilder unserer Verfassung, wie Schutz des Lebens, von Ehe und Familie, bislang Schuldposten des Menschenwürdeprinzips, werden zuneh-
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mend relativiert durch gesellschaftliche de-facto-Veränderungen und das Recht orientiert sich stattdessen am empirischen Spiegelbild. Was soll nun, Herr Mückl, der Staat tun? Dem Trend mit möglichen Verfassungsänderungen folgen oder den Verlust der Wurzeln unserer Rechtskultur verhindern, also den Bürger vor sich selbst schützen und dabei quasi absolutistisch zum neuen Leviathan werden? Oder soll er auf die List der Vernunft, auf die Gnade oder die gesellschaftlich Kräfte hoffen? Mückl: Genau das ist die Crux, präzise das Problem, auf das ich auch keine befriedigende Antwort finden kann. Hierzu hat ja schon vor über 40 Jahren Böckenförde seinen bekannten Ausspruch formuliert, dass der freiheitliche moderne Staat von Voraussetzungen lebt, die er selber nicht garantieren kann. Wenn er erkennt, dass die tatsächlichen Voraussetzungen wegbrechen, kann er das entweder resigniert zur Kenntnis nehmen oder den Verfassungstext anpassen: Verfassungsänderung. Oder ihn einfach nicht mehr anwenden: Verfassungswandel. Das Ergebnis ist das gleiche. Oder er versucht selber, autoritativ das von ihm für richtig Erachtete wieder normativ zu stärken und zur Geltung zu bringen – womit er sich aber überheben würde. Der Staat steht somit vor einem Dilemma – so die Überlegung von Böckenförde. Ich halte sie für richtig, aber auch für objektiv unzureichend. Eine bessere fällt mir allerdings angesichts der Gebrochenheiten der menschlichen Existenz nicht ein. So bleibt wohl der Staat darauf verwiesen, immer wieder auf die Kräfte seiner Bürger zu vertrauen, sie zu stärken und nicht die Werte, die vorhanden sind, noch zu zersetzen – wie es mitunter leider in den vergangenen Jahrzehnten geschehen ist. Dr. Andreas Püttmann: Die Frage, was kann der Staat tun, um die Aufweichung seiner Wertgrundlagen durch die Gesellschaft zu verhindern? Gewiss: Wir müssen zwischen Staat und Gesellschaft unterscheiden. Ich würde ergänzen: Wir müssen sie auch zusammen und ineinander denken. Denn das Problem wird akut, wenn der Staat nicht die Kraft hat, dieser Aufweichung entgegenzutreten oder es in der Demokratie gar nicht will. Mit anderen Worten: Die Richter und Politiker sind Kinder ihrer Zeit, kommen aus der Gesellschaft und sind ihr Spiegel. Inso-
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fern finde ich die Staatsdefinition von Jose Ortega y Gasset sehr lehrreich, der im „Aufstand der Massen“ sagt: „Der Staat ist der Status, die Statik, die Gleichgewichtslage der Meinungen“, was heißt, das Schicksal des Staates entscheidet sich im Meinungskampf. Man kann das sehr schön und konkret nachvollziehen bei der Abtreibungs-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Wenn man deren Veränderungen parallelisiert mit den Meinungsumfragen zur Abtreibung, die sich ja sehr gut nachzeichnen lassen, sieht man, dass die Meinungsveränderungen in der Bevölkerung mit einer Zeitverzögerung von fünf bis zehn Jahren Niederschlag in der Verfassungsgerichtssprechung gefunden haben. Also fühlen wir uns nicht zu sicher mit dem Grundgesetz, sondern: tua res agitur. Die Wertgrundlagen des Staates müssen nicht durch den Staat, sondern in der Gesellschaft im Meinungskampf verteidigt werden. Dr. Christoph Heger: Herr Professor Rhonheimer, Ihrer These von der Unverzichtbarkeit und dem Ungenügen des Naturrechts will ich gar nicht widersprechen. Nicht ganz passend erscheint mir nur Ihr Beispiel der Religionsfreiheit. Die Erklärung von Religionsfreiheit bleibt logisch leer, solange wir nicht definieren, was alles eine Religion ist. Drei konkrete Beispiele: 1. Scientology ist in den USA als eine Religion akzeptiert. Leute, die bei uns wegen Scientology benachteiligt werden, bekommen dort Asyl. 2. Ist der Islam eine Religion oder nicht eher als eine politische Bewegung zu betrachten, und zwar als eine, die klar verfassungsfeindlich ist? 3. Das Bekenntnis zum Holocaust ist inzwischen durch Paragraph 130 StGB wie durch eine quasi-religiöse Mauer geschützt. Rechtgläubigkeit setzt hier der Staat durch. Ich finde, es ist nicht geklärt, was eine Religion ist. Zudem kommt mir Ihr Versuch, Kontinuität herzustellen zwischen der alten Lehre der Päpste über die Religionsfreiheit und der jetzigen, als seien beide im Prinzip dasselbe, recht gewalttätig vor. Rhonheimer: Zwischen der vorkonziliaren und der konziliaren Lehre über die Religionsfreiheit habe ich klar eine Diskontinuität festgestellt, und zwar auf einer ganz bestimmten Ebene, nämlich gerade derjenigen der politischen Philosophie, der Anwendung. Im dogmatischen Sinne nicht. Aber das Recht auf Religionsfrei-
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heit ist eben keine dogmatische Frage, es ist eine politisch-rechtliche Frage. Ich denke, der Staat muss nicht definieren, was Religion ist, es sollte ihm gelten, was seine Bürger als Religion bezeichnen. Aber es gibt Grenzen der Religionsfreiheit. Wenn Scientology in Deutschland unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht, dann nicht um abzuklären, ob es sich um eine Religion handelt oder nicht, sondern nur um zu prüfen, ob die Praktiken dieser Gemeinschaft, wie auch immer sie sich versteht, gegen irgendwelche Prinzipien der Verfassung, gegen die öffentliche Ordnung oder die Grundrechte verstoßen. Historisch war die Diskussion um das Recht auf Gewissens-, Religions-, Kultusfreiheit eine eigentlich christliche Diskussion. Es ging um die christlichen Konfessionen. Der Islam ist da neu. Auch ein Sonderfall. Auf der einen Seite ist er eine Religion, auf der anderen aber auch eine Gesellschaftsordnung, mit hierarchischem Gesellschaftssystem, differenzierter Rechtsordnung usw. – eine große Herausforderung. Die Aggressivität des Islam besteht ja nicht darin, dass er die Menschen bekehren will, damit die Christen Muslime werden. Christen, die nie Muslime waren, mussten Tribut zahlen. Das islamische Herrschaftssystem gründete geradezu auf den Tributzahlungen der Nicht-Muslime. Als die Muslime nach Indien kamen hat man den Hinduismus zur Buchreligion erklärt, damit man die Hindus tributpflichtig machen konnte. Sonst hätte man nämlich jene, die sich nicht zum Islam bekehren wollten, töten müssen. Hier bei uns sollte man den Islam einfach als Religion behandeln und jene Gehalte, die gegen unsere Rechtsordnung verstoßen, die wir nicht als legitime religiöse Praktiken und Inhalte anerkennen können, im Kontext des säkularen Rechts zurückweisen. So lässt sich eine ganz klare Grenzlinie ziehen, ohne dass der Staat definieren muss, was eine Religion ist und was nicht. Das nämlich wäre sehr gefährlich. Mückl: Herrn Hegers Einwand zur Definition von Religion hat im juristischen Bereich einen wahren Kern. Innerhalb der deutschen Staatsrechtslehre wird seit Jahrzehnten sehr kontrovers diskutiert, ob hier das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers entscheidend ist oder die Definition durch den Staat. Ich
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selbst habe wiederholt die Meinung vertreten, dass der Staat sehr wohl die Kompetenz einer äußeren Rahmendefinition hat. Selbstverständlich kann der Staat nicht sagen, was die wahre, die richtige, die staatlich oder gesellschaftlich zweckmäßige Religion ist. Dennoch: Was er nicht definieren kann, das kann er auch nicht schützen. Um überhaupt zu einem Verständnis von Religion zu gelangen, braucht er neutrale, typologische Kriterien. Religion am Maßstab einer weltlich-rechtlichen Ordnung zu messen, geht allerdings regelmäßig schief. Das haben wir in der Geschichte an vielen Beispielen und auch im Neuen Testament gesehen. Der römischen Staatsgewalt galt das Christentum am Anfang als eine Sekte und war des Atheismus verdächtig. In der Apostelgeschichte finden wir den Satz: „Von dieser Sekte ist uns bekannt, dass sie überall auf Widerspruch stößt.“ Kordecki: „Wir brauchen Naturrecht“ oder „Naturrecht als Instrument der Kritik“, also bloße Methode, das überzeugt mich nicht. Sie, Professor Rhonheimer, haben das Ungenügen des Naturrechts an der schwierigen Erkennbarkeit im Konkreten festgemacht. Brauchen wir, um am Naturrecht trotz aller Schwierigkeiten auch heute festzuhalten, nicht doch evidente Einsicht, zumindest handfest anthropologische Kriterien? Rhonheimer: Über die Frage, worin nun das Naturrecht konkret besteht, welches die naturrechtlichen Wahrheiten sind, habe ich nicht gesprochen. Mir ging es darum zu zeigen, dass die Prinzipien des Naturrechts schon mehr erfordern als unumstößliche Rechtssätze. Sie müssen immer wieder konkretisiert werden, denn politisches Denken hat immer auch etwas mit dem geschichtlich Realisierbaren und Notwendigen zu tun. Selbstverständlich ist Naturrecht selbst nicht nur eine kritische Methode. Es hat immer mit der Wahrheit über den Menschen zu tun. Naturrechtliche Kritik am Gewohnheitsrecht beruht auf einer Vernunft, die den Anspruch erhebt, etwas normativ Richtiges zu sagen auf der Grundlage dessen, was der Mensch ist, was seiner Würde entspricht. Leibeigenschaft wird hinterfragt im Namen der natürlichen Gleichheit. Sie ist eine anthropologische Aussage.
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Das Naturrecht hat immer einen anthropologischen Rückbezug. Es muss sich in der historischen Realität konkretisieren, denn hier geht es um konkrete politische und rechtliche Gestaltung. Das kann nicht einfach aufgrund naturrechtlicher Prinzipien geschehen. Dazu muss man verstehen und in Rechnung stellen, was das Ethos des demokratischen Verfassungsstaates, was eine pluralistische Gesellschaft, was politische Freiheit, was ein Markt ist, usf. Das alles ist viel mehr als nur Naturrecht, aber notwendig, damit Naturrecht überhaupt zu konkreten Realisationen führen kann. Maria Kübel: Vor der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution darf man von der ersten Menschenrechtserklärung vielleicht bei den Zehn Geboten sprechen. Die meisten Menschenrechte sind jedenfalls kompatibel mit der Verkündigung auf dem Berg Sinai. So hängt zum Beispiel das Erziehungsrecht der Eltern durchaus zusammen mit dem 4. Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“, das 5. Gebot „Du sollst nicht töten“ mit dem Recht auf Leben, der verfassungsrechtlich garantierte Schutz der Ehe mit dem 6. Gebot, das Recht auf Guten Ruf und das Recht auf Eigentum mit dem 7. und 8. Gebot. Das 9. und 10. Gebot wiederum schützen Eigentum und Ehe. Von daher würde es mich interessieren, ob die Zehn Gebote als Rechtsquelle angesehen werden oder praktisch auf sie in Rechtsordnungen Bezug genommen worden ist. Zusatzfrage: Die Zehn Gebote gehören zur Schöpfungs- und Heilsordnung. Offenkundig harmonieren sie mit dem Naturrecht, während mit Recht gesagt worden ist, dass sich das Naturrecht eben nicht aus der säkularen Geschichte ohne weiteres ableiten lässt. Das Naturrecht hängt aber nicht in der Luft. Heißt das, Schöpfungs- und Heilsordnung seien doch letztlich Grundlagen oder eine Art spirituelle Quelle für unsere Rechtsordnungen? Repgen: Herzlichen Dank für diese Frage, auf die viel zu sagen wäre, ich mich aber mit Wenigem begnügen muss. Das Wichtigste: Bis mindestens in die Neuzeit hinein herrschte auch bei denen, die institutionell zuständig waren, die Vorstellung, dass das Recht nicht etwas ist, was man erfindet, irgendwie positiv setzt, sondern dass das Recht etwas ist, was schon da ist.
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Dass Sie die Zehn Gebote für die erste Menschenrechtserklärung halten, will ich Ihnen nicht ausreden, auch wenn ich es für wissenschaftlich einigermaßen problematisch halte. Aber sowohl auf dem Sinai wie im Römischen Recht, im Kirchenrecht, in den germanischen Rechtsquellen ist man immer wieder der Meinung gewesen, man formuliere nur etwas, was schon da sei. So wie wir ja auch nicht sagen, dass Newton die Fallgesetze erfunden habe. Er hat sie erkannt und beschrieben. Was wir bei unserer Diskussion über Naturrecht oder über Inhalte von Naturrecht festhalten müssen: Bis in die jüngere Vergangenheit hinein herrscht die Vorstellung, dass das Recht etwas Gegebenes ist, das es nur zu erkennen gilt, so ähnlich wie ein Naturgesetz im Sinne der Naturwissenschaften. Dass man es ausformulieren muss war klar. Dass wir eine Verjährungsfrist in der Kaufmängelgewährleistung nicht direkt aus der Heilsgeschichte ableiten können, ist auch schon immer erkannt worden. Mit Blick auf die Prinzipien zeigt die heutige Diskussion jedoch ein Defizit, nämlich wenn man meint, das Recht könne auch ohne sie gesetzt werden. In gewissem Umfang gelingt das auch, aber eben auch nur in gewissem Umfang. Rhonheimer: Die Zehn Gebote enthalten zwar Naturecht, drücken Naturrecht aus, sind aber selbst nicht Naturrecht, sondern positives, nämlich göttliches Recht, lex divina positiva, geoffenbartes, göttlich gesetztes Recht. Weil, so Thomas von Aquin, gewisse naturrechtliche Prinzipien, die zwar durch die Vernunft erkennbar sind, durch die Situation des Menschen nach dem Sündenfall schwieriger erkannt werden, hat Gott auch einige dieser Prinzipien offenbart bzw. selbst in der Rechtsordnung Israels positiv festgesetzt. Also gehört formal der Dekalog zum positiven Recht und nicht zum Naturrecht. Auch das deutsche Recht enthält Sätze wie, dass es verboten ist zu stehlen, zu morden. Auch das ist Naturrecht, aber nur inhaltlich. Formal ist es positives Recht. Deshalb kann der Dekalog keine Rechtsquelle z.B. für das Deutsche Bundesgericht sein. Er stammt aus einer anderen Rechtsordnung, nämlich aus der theokratischen Rechtsordnung Israels. Aber das Naturrecht, das dahinterliegt, ist unabhängig von aller Setzung. Das heißt: Auch wenn der Dekalog nicht existierte, das Naturrecht gilt dennoch.
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Martin Rothweiler: Nochmals, Herr Professor Rhonheimer, zur Frage Religionsfreiheit als Naturrecht. Die unterschiedliche Auffassung vor und nach dem Zweiten Vatikanum, sagten Sie, liege an der unterschiedlichen Staatsphilosophie: vormals Betonung des Rechts der Wahrheit, später des Rechts der Person. Meine Frage: Ist nicht im Naturrecht oder konkret beim Recht auf Religionsfreiheit grundsätzlich und allererst das individuelle Recht – auf freie Religionsausübung etwa – gemeint? Gibt es da wirklich die Abhängigkeit von einer politischen Philosophie? Rhonheimer: Pius VI. hat 1791 die französische Menschenrechtserklärung verurteilt, weil das, so argumentierte er, die Apostasie einer ganzen Nation bedeute. In einem katholischen Land wie Frankreich, so der Papst, könne man nicht sagen, die Bürger hätten das Recht, irgendeiner Religion anzugehören. In einem Staat von Ungläubigen oder Juden war für Pius VI. die Religionsfreiheit kein Problem, weil das die Freiheit bietet, Christ zu werden. In einem christlichen Staat hingegen könne man diese Freiheit nicht gewähren, weil das Freiheit zur Apostasie bedeuten würde. Der Staat hat nach dieser Sicht die Verpflichtung, den Anspruch der wahren Religion, auch gesellschaftlich durchzusetzen bzw. der Pflicht der getauften Christen, ihrem Glauben treu zu bleiben, Achtung zu verschaffen. Und diese Auffassung, dem Staat komme die Aufgabe zu, weltlicher Arm der Kirche zu sein, hat sich geändert. Genau das ist der Punkt, den etwa die Anhänger von Erzbischof Lefebvre nicht anerkennen. Sie behaupten auch heute noch, der Staat könne dieses Recht nicht gewähren. Im idealen Fall müsse er eben katholisch sein und habe als solcher die Verpflichtung, auch die Rechte der wahren Religion zu wahren. Allen Religionen gleiches Recht einzuräumen, sei Indifferentismus, Relativismus. Der Kern des Dissenses besteht also gar nicht in der Auffassung über die Aufgaben der Kirche, sondern derjenigen des Staates. Das Prinzip Freiheit der Religionsausübung bestimmt noch nicht eindeutig, was es nun rechtlich-politisch bedeutet. Hierfür mitentscheidend ist auch die jeweilige Auffassung von der Rolle und den Aufgaben des Staates, insbesondere von der Beziehung zwischen Staat und Kirche.
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Ulrich Bonse: Seit längerem beschäftigt mich der Fall einer Schul- und Internats-Initiative katholischer Eltern gemeinsam mit einer kirchlichen Kommunität in Westfalen. Die interessierten Eltern erwarten in der Schule einen Geist, der durchaus mit dem anderer Schulen kontrastiert und sehen sich in ihrer Initiative von örtlichen Behörden unentwegt behindert. Konflikte zwischen Recht und Pflicht der Eltern zur Erziehung und dem Anspruch des Staates, das Schulwesen zu regeln, nehmen heute zu. Inzwischen sind die Initiatoren auf dem Rechtsweg in Karlsruhe angelangt. Welche Aussichten messen Sie, Herr Professor Mückl, derartigen Musterprozessen vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe bei? Mückl: Prinzipiell sind auf hoher See und vor Gericht Voraussagen schwierig. Erst recht bei einem Prozess vor dem Bundesverfassungsgericht. Das elterliche Erziehungsrecht steht in einem Spannungsverhältnis zu dem Anspruch des Staates, für die schulische Erziehung zu sorgen. Dass verschiedene Verfassungsrechtsbelange zueinander nicht immer in Harmonie stehen, ist im Verfassungsstaat nichts Außergewöhnliches. Es gilt dann, beide Positionen in einen möglichst schonenden Ausgleich zu bringen, so dass möglichst beide Seiten damit leben können. Bisher hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung auch die staatliche Schule berechtigt, bestimmte Erziehungsziele selbst gegen den Willen mancher Eltern zu verfolgen, wenn und soweit der Gegenstand in einer sachlichen und nicht indoktrinierenden Weise dargeboten wird. Aber man kann immer darüber streiten, wann die Grenze zur Indoktrination, zur sachlichen Unausgewogenheit überschritten wird. Ist das nach Meinung der Eltern der Fall, bleibt noch als Reservat, dass die Eltern Privatschulen anregen und begründen können. Das ist Rechtswirklichkeit nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Ländern. Wenn der Staat mitunter versucht, solcher Initiative der Eltern Hürden in den Weg zu legen, bleibt nur der Rechtsweg. Hedwig von Beverfoerde: Derzeit wird politisch eine Pflicht zum Besuch des Kindergartens vorbereitet. Unter anderem steht sie schon im Grundsatzprogramm der CDU. Das Erziehungsrecht
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der Eltern ist in Art. 6 als das natürliche Recht der Eltern festgeschrieben und für mich das Naturrecht schlechthin. Nun interessiert mich ganz konkret, Herr Professor Mückl, in Bezug auf die Kindergartenpflicht, wo die Grenze liegt, ab der ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet ist? Mückl: Auf die konkrete Frage, wann der Wesensgehalt angetastet sei, kann ich nur kurz und lapidar erwidern: Das weiß keiner. Darüber werden gewöhnlich Doktorarbeiten geschrieben, die viele Anregungen enthalten, ihren Praxistest aber nie bestanden haben und es gibt mindestens genau so viele positivrechtlich argumentierende Juristen, die ganze Bibliotheken mit dem lapidaren Satz füllen: „Diese Frage hat das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden.“ Also kann ich Ihnen auf diese konkrete Frage leider keine Antwort geben. Was die Frage eines Pflichtbesuches im Kindergarten angeht, hätte ich große verfassungsrechtliche Bedenken. Im Grundgesetz ist ausdrücklich festgehalten, dass Vorschulen verboten sind. Ferner ist es auch eine kompetenzrechtliche Problematik, ob der Bund oder die Länder eine solche Pflicht vorsehen könnten. Das hinge von der Klassifizierung des Kindergartens ab, ob er eher eine Bildungseinrichtung ist – eine Auffassung, die das Bundesverfassungsgericht einmal ausdrücklich verworfen hat – oder ob es nicht vielmehr eine sozial-fürsorgerische Einrichtung ist. Das ist ein sehr komplexes Problem.
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Der Grund des Naturrechts: das Bedürfnis nach materialer Gerechtigkeit* Wer sich heute auf das Naturrecht als Argument beruft, stößt auf unüberwindliche Skepsis: Niemand könne mit hinreichender Gewissheit sagen, was Naturrecht sei. Unter den Bedingungen des Pluralismus liefen die vorpositiven Rechtsüberzeugungen hoffnungslos auseinander. Die Verfechter der Naturrechtslehren arbeiteten mit inkonsistenten Prämissen und wechselten mit der Bedeutung von „Natur“ als Natur der Sache oder als Natur des Menschen, als biologische oder als ontologische (Wesens-) Natur, mit der Bedeutung von „Recht“ als überzeitliches oder als geschichtliches Recht, als Erfahrungstatsache oder als rationales Konstrukt, als verbindliches Gesetz oder als ethisches Postulat. Triebkraft des Naturrechtsdenkens ist die Frage nach dem richtigen Recht. Die Frage geht allem geltenden Recht voraus, und alles geltende Recht muss sich der Frage stellen. Sie drängt so mächtig, dass sie die Skepsis der Widersacher des Naturrechts wie die Defekte seiner Lehren hinter sich lässt. Der Elan, der den naturrechtlichen Doktrinen abhanden gekommen ist, wirkt wie eh und je im Grund des Naturrechts weiter: das Bedürfnis nach materialer Gerechtigkeit.
I. Sozialethisches Navigationssystem der menschlichen Natur Der Diskurs über die Gerechtigkeit ist so alt wie die Menschheit überhaupt, und er wird so lange währen, wie es sie geben wird. Alles Wesentliche über das Thema ist längst gesagt. Wo aber kei*
Der nachfolgende Text wurde erstmals veröffentlicht unter dem Titel „Gerechtigkeit – die vorrechtliche Idee des richtigen Rechts“ in der Festschrift für Detlef Merten, Heidelberg 2007, S. 3 - 22
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ne neuen Wahrheiten zu entdecken sind, ist es immer noch angebracht, sich der alten Wahrheit neu zu vergewissern. Jeder Mensch hat das seelische Bedürfnis, von den Mitmenschen gerecht behandelt zu werden. Er leidet, wenn ihm Ungerechtes widerfährt. Dass er seinerseits den anderen Gerechtigkeit schuldet, ist die sittliche Grundpflicht, die sich von selber versteht. Der Sinn für Gerechtigkeit ist dem Menschen angeboren. Er gehört zu seiner moralischen Grundausstattung. Er bildet gleichsam sein sozialethisches Navigationssystem. Der Sinn für existentielle Gerechtigkeit geht der Reflexion über Gerechtigkeit voraus. Schon im Kinde angelegt, erwacht und wächst er mit seiner Vernunft. Schon mit wenigen Jahren lernt es, gegenüber seinen Eltern und größeren Geschwistern seine körperliche Unterlegenheit durch Gerechtigkeitsargumente zu kompensieren, sich der Zumutungen der Älteren zu erwehren und die eigenen Interessen durchzusetzen. Die Eltern werden unversehens von ihrem vier Jahre alten Sprössling mit den elementaren Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit konfrontiert, die das Kind anwendet, ohne dass irgendein Erwachsener sie es gelehrt hätte. Die Kindersprache reicht aus, um die Kategorien in handfeste juridische Gründe umzusetzen: – „Ich habe es gar nicht getan.“ – Handlungsverantwortung. – „Ich kann aber nichts dafür.“ – Haftung nur für Verschulden. – „Ich habe die Tür nicht aufgemacht, ich muß sie auch nicht schließen.“ – Verursacherhaftung. – „Ich auch.“ „Immer nur ich.“ – Gleichheit, Diskriminierungsverbot. – „Die anderen Kinder dürfen es aber.“ – Allgemeinheit der Normen, Beachtlichkeit von Berufungsfällen. – „Du hast es aber versprochen.“ – Bindung an das eigene Wort; pacta sunt servanda. – „Du tust es doch selber nicht.“ – Konsequenz der Norm für den Normgeber, seine Verpflichtung, die eigene Norm zu erfüllen und vorzuleben. – „Du lügst.“ – Pflicht zur Wahrheit. Die Reihe ließe sich fortsetzen, etwa mit dem Prinzip des Vertrauensschutzes und dem Schutz vor Demütigung (hier fallen
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allerdings weniger Worte als Tränen). Am Ende der kindlichen Lektionen in Rechtsphilosophie sind die Kategorien, auf denen das Recht gründet, die aber ihrerseits nicht begründbar sind, vollständig abgehandelt. Sie brauchen nicht anerzogen zu werden: ab einer bestimmten Entwicklungsstufe sind sie präsent und wirksam. Über sie entfaltet und behauptet sich das Kind seinen Eltern gegenüber als Person. Durch sie setzt es diese bei ihren erzieherischen Maßnahmen unter Rechtfertigungszwang. Die Kriterien der Rechtfertigung sind Eltern wie Kind gemeinsam vorgegeben. Sie denken und sprechen die gleiche moralische und (virtuell) rechtliche Sprache. Was der Erzieher dem Zögling zu vermitteln hat, ist vor allem, dass er den Gerechtigkeitsanspruch, den er gegen die anderen erhebt, seinerseits einzulösen hat. Die Goldene Regel „Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“1 bedarf allerdings einer pädagogischen Nachhilfe, die das Gewissen schärft, weil normalerweise der moralische Eigennutz kräftiger entwickelt ist als der Sinn für das Recht des anderen. Die natürliche Mitgift an Gerechtigkeitssinn wird im Laufe der geistigen Entwicklung des Einzelnen durch die soziale Umwelt ausgeprägt, angereichert und kulturell ausdifferenziert 2 . In dem Maße, in dem sich der Lebenskreis des jungen Menschen weitet und entwickelt, bewährt sich sein Gerechtigkeitsempfinden. Er fordert von seiner sozialen Umwelt Gerechtigkeit ein und misst deren Forderungen am Maßstab der Gerechtigkeit. Nur wenn sie diesem genügen, nimmt er sie innerlich an. Mit wachsender Reife kontrolliert er sein eigenes Verhalten zu den Mitmenschen, den Normen und Institutionen am Leitbild der Gerechtigkeit. Anders gewendet: dadurch, dass er seine Umwelt am Prinzip der Gerechtigkeit misst, trotzt er dem gesellschaftlichen Leben einen sittlichen Sinn ab. Die schlichte pädagogische Beobachtung bestätigt Ciceros Lehre, dass die Grundgedanken 1 2
Mt. 7, 12. Ein erziehungswissenschaftliches Stufenmodell der moralischen Entwicklung des Kindes in seinem Gerechtigkeitsdenken, in seinen universalen und kulturspezifischen Bedingungen entwirft Lawrence Kohlberg, Moral Development, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, 1968, S. 483 ff. (dt. Ausgabe: Moralische Entwicklung, in: Wolfgang Althof [Hg.], Lawrence Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, 1995, S. 7 ff.).
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der Gerechtigkeit dem Menschen angeboren sind: ideae innatae, von der Natur mitgegeben als „natürliches Licht“ und als Grundlage umfassender Übereinstimmung aller in elementaren sittlichen Fragen.3 Im Leitbild der Gerechtigkeit stimmen die Menschen aller Zeiten und Zonen überein. Es verbindet sie über alle Unterschiede der Rechtskulturen hinweg und begründet die Möglichkeit gleicher inhaltlicher Rechtsüberzeugungen sowie weltweit geltender Rechtsnormen.4
II. Praktische Gewissheit – Unsicherheit der Theorie Die Idee der Gerechtigkeit scheint so einfach zu sein, dass sie jedermann einleuchtet, und zugleich so schwierig, dass der Gelehrte vor ihr resigniert. Alle wollen, dass Gerechtigkeit herrsche. Nach der jeweiligen Lage seiner rechtlichen Interessen meint jedermann, er könne beurteilen, was gerecht sei, was ungerecht. Doch gerät er in Verlegenheit, wenn er sagen soll, was Gerechtigkeit eigentlich sei und was er unter ihrem Inhalt verstehe. Die Sache, deren er sich intuitiv so sicher gewesen ist, entzieht sich ihm, wenn er sie begrifflich fassen will. Er macht die gleiche Erfahrung wie Augustinus, als er das Wesen der „Zeit“ bestimmen sollte: „Was also ist ,Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Will ich es aber einem Fragenden erklären, so weiß ich es nicht.“5 Der Rechtslaie ist schnell bei der Hand, sich auf die Gerechtigkeit zu berufen, sowie er seine Belange wahren oder durchsetzen will. Parteiprogramme, Gewerkschaftsrhetorik, kirchliche Denkschriften – sie alle reklamieren, was wahre Gerechtigkeit sei. Freilich fordern sie in der Regel Gerechtigkeit auf Kosten anderer, die jedoch ihrerseits für sich Gerechtigkeit einfordern. Wo Gerechtigkeitspositionen kollidieren, liegt das Arbeitsfeld des Juristen. Der professionelle Jurist aber zögert, auch nur das Wort Gerechtigkeit zu verwenden, weil es ihm un3 4 5
Marcus Tullius Cicero, De finibus bonorum et malorum, V 21, 59; 23, 66; ders., Tusculanae Disputationes, 24, 57; 13, 30; 15, 35; III 1, 2. Zu den interkulturellen Gemeinsamkeiten Otfried Höffe, Gerechtigkeit, 3 2007, S. 9 ff. Aurelius Augustinus, Confessiones, XI, 14, 17.
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sicher, unklar, vieldeutig erscheint und er sich vor den Implikationen des Begriffes fürchtet, die er nicht übersieht. Er begibt sich nicht gern auf metarechtliches Glatteis. Vielmehr hält er sich an die Normen des positiven Rechts, die er nach den Regeln seines Handwerks handhaben kann. Repräsentativ für Strenge und Vorsicht juridischer Argumentation steht Detlef Merten: Ergebe sich ein rechtliches Ergebnis bereits aus dem formellen Prinzip rechtsstaatlicher Berechenbarkeit, das „Einsehbarkeit“ sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne gewährleiste, so bedürfe es keines Rückgriffs auf „das vage und normativ unsichere Prinzip materieller Gerechtigkeit“.6 Was ist denn Gerechtigkeit? Wie vermag man sie zu erkennen? Die klassische Antwort der Philosophie lautet: jedem das Seine zu geben, Gleiches gleich zu behandeln, niemanden in seinem Recht zu schädigen. Doch wer versucht, aus diesen abstrakten Maximen konkrete Handlungsanweisungen abzuleiten, scheitert. Denn diese Maximen sind formal. Ihre Substanz beziehen sie aus dem Rechts- und Sozialsystem, innerhalb dessen sie angewendet werden. So spiegelt die materiale Gerechtigkeitsethik des Aristoteles die Ordnung der griechischen Polis, die des Aquinaten die mittelalterliche Ordnung von Staat und Kirche, die rechtsphilosophischen Entwürfe von John Rawls die amerikanische Demokratie, versetzt mit linksliberaler (vulgo sozialdemokratischer) Programmatik. Der Rechtstheoretiker Hans Kelsen prüft die Formeln der philosophischen Tradition, die das Wesen der Gerechtigkeit fassen sollen, und kommt zu dem Ergebnis, sie alle seien inhaltsleer: das Gebot des „suum cuique“, die richtige Mitte zwischen den ungewollten Extremen, das Prinzip der Vergeltung, die Gleichheit im rechtsstaatlichen wie im kommunistischen Verständnis, die Goldene Regel, Kants kategorischer Imperativ.7 Absolute Gerechtigkeit, so resümiert er, sei ein irrationales Ideal. „Vom Standpunkt rationaler Erkenntnis gibt es nur menschliche Interessen und daher Interessenkonflikte. Deren Lösung stehen nur zwei Wege zur Verfügung: entweder das eine Interesse auf Kosten des anderen 6 7
Detlef Merten, Verfassungsprobleme der Versorgungsüberleitung, 1993, S. 26 f. Grundlegend ders., Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 10 f. Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, 1953, S. 23 ff., 32 f., 34 ff.
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zu befriedigen oder einen Kompromiss zwischen beiden herbeizuführen. Es ist nicht möglich, zu beweisen, dass nur die eine oder die andere Lösung gerecht ist.“8 Was der erkenntnistheoretische Agnostizismus registriert, sind lediglich irrationale Gerechtigkeitsbedürfnisse des Einzelnen: ein „schöner Traum der Menschheit“,9 aber eben nur ein Traum. Vollends provoziert die seit dem 19. Jahrhundert wirksamste Erscheinungsform des Gerechtigkeitsgedankens, die soziale Gerechtigkeit, die wissenschaftliche Kritik. Der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich August von Hayek spricht von dem „Wieselwort der sozialen Gerechtigkeit“. Wie ein räuberisches Wiesel ein Ei aussauge, ohne dass man diesem die innerliche Beschädigung ansehen könne, so werde dem Begriff Gerechtigkeit durch ein falsches, schon logisch unpassendes Attribut unmerklich der Sinn entwendet.10 Das begriffliche Vakuum wird gefüllt mit fremder Substanz aus Sozialutopie, Sozialpolitik, Sozialressentiment. Gerechtigkeit erscheint den Skeptikern als Irrlicht, allenfalls als psychologisch heilsame Illusion.11 Ist also in der Theorie unrichtig, was für die Praxis taugt? Kant hatte seinerzeit Einsichten der Theorie gegen den Vorwurf mangelnder Praxistauglichkeit verteidigt.12 Hier ist die Frontstellung umgekehrt. Es ist die Praxis, die der Apologie bedarf; genauer, das Leitbild der Praxis, in ihm auch der Gegenstand philosophischen Bemühens über die Jahrtausende. Wer sein liebgewordenes Ideal retten will, mag gegen Kelsen den Argwohn richten, dass er die Kritik übermäßig dosiere, wie ein allzu scharfes Fleckenwasser, das nicht nur die Flecken ohne Rückstand beseitige, sondern zugleich die Kleidung. Der Verteidiger tradierter Gerechtigkeitslehre könnte auch Schützenhilfe bei Aristoteles suchen, der die Grenzen der Sinnhaf8 9 10
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Kelsen (N 7), S. 40. Kelsen (N 7), S. 43. Friedrich August von Hayek, The fatal conceit: the errors of socialism, zugl.: The collected works of Friedrich August Hayek, hg. von William Warren Bartley III, Bd. 1, London 1988, S. 114 ff. Zur Skepsis gegenüber der Gerechtigkeit Höffe (N 4), S. 34 ff. Immanuel Kant, Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), in: ders., Werke (hg. von Wilhelm Weischedel), Bd. VI, 1964, S. 125 ff.
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tigkeit des wissenschaftlichen Diskurses aufweist: „Man soll nicht jedes Problem und nicht jede These untersuchen, sondern nur solche, bei denen es zur Lösung obwaltender Zweifel der Vernunft bedarf, nicht aber solche, bei denen der Zweifler die Züchtigung verdient, und nicht solche, bei denen die gesunden Sinne die Lösung finden. Wer etwa daran zweifelt, ob man die Götter ehren und die Eltern lieben soll, bedarf der Züchtigung, und wer zweifelt, ob der Schnee weiß ist, bedarf der gesunden Sinne.“13 Züchtigung und gesunde Sinne vermögen freilich den Agnostizismus nicht zu bannen. Gleichwohl braucht die theoretische Vernunft nicht zu beweisen, was als existentielle Kraft des Rechtslebens von jeher wirksam ist und was die praktische Vernunft von jeher einfordert.
III. Das Recht als Gegenstand und als Grenze der Gerechtigkeit Gerechtigkeit bildet das höchste Leitbild der ethischen Richtigkeit der Rechtsnormen und des rechtlich gebundenen Handelns. Sie sagt, wie das Recht sein und wie es nicht sein soll. Sie ist Idee. Als solche ist sie nicht Teil des positiven Rechts, das sie zu leiten beansprucht. Vielmehr geht sie dem positiven Recht voraus. Sie bildet die Regel der Regeln des Rechts. Sie lässt sich nur von ihrem Gegenstand her inhaltlich fassen und begrenzen. Ausschließlicher Gegenstand ist das Recht, nicht nur das aktuell geltende, sondern überhaupt das als geltend denkbare Recht. Gerechtigkeit bezieht sich nur auf Sachverhalte, die der rechtlichen Regelung zugänglich sind und ihrer bedürfen. Das aber sind nur jene, die überhaupt möglicher Verfügung und Verantwortung des Menschen unterliegen, also die gesellschaftlichen Beziehungen. Natur und Schicksal sind kein Thema der Gerechtigkeit.14 Die Vor- und Nachteile des Kli13 14
Aristoteles, Topik, 105a (I, 11). Abwegig ist es, Gerechtigkeit für Tiere oder gar für die unbelebte Natur einzufordern. Wenn der Tierschutz überhaupt mit Gerechtigkeit in Berührung gebracht werden kann, dann in der Verteilung seiner Lasten auf Menschen und der Einforderung von Rechtsgehorsam (iustitia legalis) in bezug auf Vorschriften des Tierschutzes. Zu weit geht Höffe (N 4), S. 92 f.
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mas, die Launen des Wetters, die Naturkatastrophe sind weder gerecht noch ungerecht, ebensowenig Gnade oder Ungnade des Zeitalters, in dem man geboren, und Gunst oder Ungunst der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen man aufgewachsen ist. Die Kategorie der Gerechtigkeit erfasst nicht die ungleiche Verteilung der Eigenschaften und Fähigkeiten unter den Individuen, die Ungleichheit von Geschlecht, Alter, Aussehen, Gesundheit, Intelligenz, Tüchtigkeit, Charisma. Das Leben als solches ist kein Thema der Gerechtigkeit, sondern die Bedingung ihrer Möglichkeit. Sie tritt erst auf den Plan, wenn die Vorgaben der Natur und des Schicksals nicht hingenommen, sondern gesellschaftliche Konsequenzen gezogen, Chancen und Risiken verteilt, reale Ungleichheit mit den Mitteln des Rechts verfestigt, ausgeglichen oder ignoriert werden. Für den Eremiten in der Wüste ist Gerechtigkeit kein Thema. Wo Menschen beziehungslos nebeneinander leben, bedarf es nicht des Rechts. Seine Notwendigkeit erhebt sich erst dort, wo Interessen kollidieren und Handlungsbereiche voneinander abzugrenzen sind. Nach Aristoteles ist Recht im eigentlichen Sinne da vorhanden, wo ein Gesetz ist, das das gegenseitige Verhältnis bestimmt; ein Gesetz wiederum da, wo Personen sind, die einander Unrecht tun können.15 Das Bedürfnis nach Recht und Gerechtigkeit, so lässt sich auch bestimmen, lebt dort auf, wo Erwartungen enttäuscht und Vorkehrungen gegen die Enttäuschung getroffen werden können. Wo zwischen Menschen spontane Übereinstimmung besteht, und wo allein die Liebe waltet, schweigt die Gerechtigkeit. Sie meldet sich allerdings zu Wort, wenn Eintracht und Liebe zerbrechen und sich die Beteiligten auf ihre unterschiedlichen und schwer vereinbaren Belange besinnen. In einer paradiesischen Welt allseitiger Zufriedenheit hat sie nichts zu sagen. Ein Gedankenspiel von David Hume: Angenommen, die Natur hätte die Menschen mit einer so üppigen Fülle an äußeren Gütern ausgestattet, dass keine mühselige Arbeit, nicht Ackerbau, nicht Schifffahrt nötig wäre, dann blühte und verzehnfachte sich jede andere soziale Tugend – „doch von der bedachtsamen, argwöhnischen Tugend der Gerechtigkeit wäre noch nicht einmal im 15
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134a (V, 10).
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Traume die Rede“.16 In der Tat greift Gerechtigkeit erst ein, wo das Gesetz der Knappheit waltet, die Ressourcen hinter dem Bedarf und den Begehrlichkeiten zurückbleiben, und die Verteilung zum Problem wird.17 Gerechtigkeit ist ihrem Anspruch nach handlungsrelevant. Sie leitet die Rechtsetzung und die Rechtsanwendung, bezieht sich also auf die Maßstäbe rechtlichen Handelns. Sie bezieht sich aber auch auf die handelnden Personen und bildet so eine Tugend. „Gerecht“ kann jedermann sein, gleich, ob Inhaber eines staatlichen Amtes oder einfacher Bürger. Gerechtigkeit fordert nicht nur äußerliche Beachtung der Gesetze, Legalität im Sinne Kants, sondern auch rechtliche Gesinnung, Moralität. Diese bezieht sich auf die Idee des Rechts. „Gerecht“ ist, wer seiner Grundhaltung nach sich von der Idee des Rechts in seinem Denken und Tun leiten lässt. Die fundamentalen Imperative gerechten Handelns, die gleichermaßen für Bürger wie Amtsträger gelten, werden vom Corpus Iuris Civilis klassisch formuliert: „Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alte rum non laedere, suum cuique tribuere.“18 Den antiken wie den mittelalterlichen Philosophen galt Gerechtigkeit als eine der vier Kardinaltugenden, neben der Klugheit, der Tapferkeit und dem richtigen Maß. Aristoteles stellt sie sogar über alle anderen, weil sie sich in der Beziehung zu anderen Menschen bewähre und ihr Glanz „den Abend- und den Morgenstern“ übertreffe.19 Heute steht die subjektive (personale) Seite der Gerechtigkeit im Schatten der objektiven als Leitbild der Rechtsordnung. Gleichwohl kommt sie zum Ausdruck im Amtseid der Richter, der nicht allein die Pflicht der Treue zu Verfassung und Gesetz, also zum positiven Recht enthält, sondern auch die Rechts- und Tugendpflichten der Gerechtigkeit: „nach bestem Wissen und Gewissen, ohne Ansehen der Person, zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen.“20 Der Bundespräsident 16
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David Hume, Enquiry concerning the Principles of Morals (1777), (dt.) Untersuchung über die Prinzipien der Moral (hg. von Carl Winckler), 1962, III, 13 (S. 19 f.). Dazu Höffe (N 4), S. 26 ff. Ulpian, Digesten 1, 1, 10. Aristoteles (N 15), 329b (V, 3). Art. 38 Abs. 1 DRiG.
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und die Mitglieder der Bundesregierung schwören, Gerechtigkeit gegenüber jedermann zu üben.21 Zum Schwur der höchsten Staatsorgane gehört aber auch die Verpflichtung, ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden, kurz: die Verpflichtung auf das Gemeinwohl. In seiner vorrechtlich-ethischen Qualität ist das Gemeinwohl der Gerechtigkeit verschwistert. Es hält sich auf gleicher Abstraktionshöhe wie diese. Die Thematik beider Prinzipien überschneidet sich. Denn zum bonum commune gehört, dass im staatlichen Gemeinwesen Gerechtigkeit herrsche. Die Gerechtigkeit aber beschränkt sich nicht auf den Bereich des Staates. Sie erfasst alle rechtlichen Beziehungen, die öffentlichen wie die privaten. Das Gemeinwohl dagegen erschöpft sich nicht im Rechtlichen. Vielmehr richtet es sich auf das Ganze des guten staatlichen Lebens in seinen rechtlichen wie außerrechtlichen Momenten.22
IV. Legitimation oder Delegitimation des Rechts durch Gerechtigkeit Recht und Gerechtigkeit sind aufeinander verwiesen.23 Die Normen des positiven Rechts suchen sich aus der Idee der Gerechtigkeit sittlich zu rechtfertigen und sich vor den Personen, an die sie sich richten, als zustimmungswürdig zu erweisen. Die Idee der Gerechtigkeit aber bedarf der Umsetzung durch positive Normen. Über sie kann sie zu konkreter Gestalt, zur Erkennbarkeit und Eindeutigkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit finden.24 Allein das positive Recht vermittelt Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit. Die Idee der Gerechtigkeit ruft nach Rechtssicherheit, die ihr als Idee abgeht. Sie findet sie im positiven Recht. Doch zwischen Recht und Gerechtigkeit waltet nicht prästabilierte Harmonie. Wie die Idee der Gerechtigkeit das positive 21 22 23 24
Art. 56 S. 1, Art. 64 Abs. 2 GG. Dazu Josef Isensee, Salus publica – suprema lex?, 2006, S. 9 ff.; ders., Gemeinwohl im Verfassungsstaat, in: HStR IV, 32006, § 71 Rn. 1 ff. (45). Dazu exemplarisch Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 51956, S. 170. Näher Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 637 ff.
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Recht legitimieren kann, so vermag sie auch, ihm Legitimation zu entziehen. Sie taugt gleichermaßen zu Affirmation wie zu Kritik. Auf die Idee der Gerechtigkeit beruft sich, wer das geltende Recht stützen, wie der, der es stürzen will. Sie taugt als geistige Waffe für die Verteidiger der bestehenden Ordnung wie für ihre Widersacher. Gerechtigkeit ist der Legitimationsausweis für den Revolutionär und das hohe Ideal, für das der Terrorist sein eigenes Leben und das anderer in die Luft sprengt.25 Nietzsche prophezeite, dass der Sozialismus, „der phantastische jüngere Bruder des fast abgelebten Despotismus“, den er beerben wolle, sich im Stillen zur Schreckensherrschaft vorbereite und den halbgebildeten Massen das Wort „Gerechtigkeit“ wie einen Nagel in den Kopf treibe, „um sie ihres Verstandes völlig zu berauben (nachdem dieser Verstand schon durch die Halbbildung sehr gelitten hat) und ihnen für das böse Spiel, das sie spielen sollen, ein gutes Gewissen zu verschaffen.“26 Der moderne Staat stellt ein wohlkonstruiertes und wohlfunktionierendes Regelwerk bereit zur Schaffung und Durchsetzung, zur Änderung und Abschaffung von positiven Normen. Ein solches Regelwerk gibt es nicht für die Vorstellungen über die Gerechtigkeit. Im Reich der Ideen waltet Anarchie. Hier steht keine Institution bereit, um die Idee der Gerechtigkeit verbindlich auszulegen und zu sagen, was sie in einer konkreten Angelegenheit erheischt. Keine Behörde sorgt für eine geordnete und effektive Vollstreckung. Ein vormoderner Intellektualismus ging davon aus, dass der Inhalt der Gerechtigkeit dem Menschen auf ehernen Tafeln vorgegeben und seiner Vernunft zugänglich sei. Was sich nicht für jedermann von selbst verstand, erschloss sich dem Philosophen, dem Theologen, dem Rechtsgelehrten, der weisen Autorität. Doch in der Moderne waltet der Voluntarismus. Das apriorische Vertrauen in Autoritäten ist zerbrochen. Jedermann ist sein eigener Gerechtigkeitsinterpret. Jedermann kann an die Idee appellieren, ohne dass er eines Mittlers bedarf. Damit gerät die Frage nach der 25 26
Profunde Deutung von Kleists Michael Kohlhaas als Typus des Terroristen: Horst Sendler, Über Michael Kohlhaas – damals und heute, 1985, S. 21 ff. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (1886), 473, in: ders., Werke, 1. Bd., 1963, S. 435 (684).
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Gerechtigkeit in den Kampf der Interessen, Meinungen und Weltanschauungen. Im Kampf um die interpretatorische Hegemonie sucht jede Partei, den Konsensbegriff zu besetzen und in ihrem Sinne zu deuten. Gerechtigkeit bietet ein diffuses Bild: wolkig und vieldeutig, lockend und bedrohlich, halb Leitbild, halb Trugbild. Die Vielfalt und die Widersprüche der Gesellschaft gehen in die Interpretation der Gerechtigkeit ein. Die Idee, die beansprucht, die Streitigkeiten zu überwinden, wird Gegenstand des Streits, sie entfacht ihn und heizt ihn an. Das ist freilich kein modernes Phänomen. Heraklit stellt fest, dass Gerechtigkeit in der Lebenswelt auch Zwietracht bedeutet: καί δίγηυ έςιν. Damit ist das Dilemma perfekt: das positive Recht sucht nach Legitimation aus der Gerechtigkeit. Diese aber entzieht sich seinem Zugriff. Sie weigert sich, mit ihm ein dauerhaftes, verlässliches Bündnis einzugehen.
V. Bewältigung des Gerechtigkeits-Dilemmas im Verfassungsstaat 1. Friedenseinheit trotz Gerechtigkeitsdissens „Und das Werk der Gerechtigkeit wird der Frieden sein“, so verheißt der Prophet Isaias.27 Das ist gleichsam die politische Utopie des Alten Testaments, die sich die Christenheit zu eigen macht: dass, wenn die Gerechtigkeit zur Herrschaft gelangt, der Friede sich von selbst ergibt,28 und, mit dem Worte des Psalmisten, „Friede und Gerechtigkeit sich küssen“.29 Das politische Trauma der Neuzeit sind die Bürgerkriege, die der Glaubensspaltung im 16. Jahrhundert folgen: die Erfahrung, dass Gerechtigkeit und Frieden sich fliehen, wenn die Bürger religiös entzweit sind und religiös begründete Ansprüche auf absolute Gerechtigkeit ein27 28 29
„Et erit opus iustitiae pax“, Is 32, 17. Vgl. auch Is 54, 13-14. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung wird jedoch im Jakobusbrief umgekehrt (Jak 3, 18). Ps 85, 11. Vgl. auch Ps 71, 1-4. Die Verbindung von Justitia und Pax gehört zu den großen allegorischen Themen der Malerei von der Gotik bis zum Barock.
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ander unversöhnlich gegenüberstehen. Der moderne Staat, der wählen muss zwischen Gerechtigkeit und Frieden, wählt den Frieden. Wenn er die zerbrochene Einheit der religiösen Überzeugungen nicht wiederherzustellen vermag, so kann er doch dafür sorgen, dass die Menschen in Frieden miteinander leben können gleich, welcher Religion sie auch angehören. Um des Friedens willen zieht er sich aus dem Streit um die Wahrheit in den letzten Dingen wie um die Wahrhaftigkeit zurück und begnügt sich damit, praktischen Belangen des Diesseits zu dienen. Können die Bürger sich nicht darüber verständigen, wie eine Angelegenheit, die alle berührt, zu regeln ist, so muss der Staat für alle verbindlich entscheiden. Die Verbindlichkeit ergibt sich nicht daraus, dass die Entscheidung gerecht ist, sondern daraus, dass der Staat die zuständige Entscheidungsinstanz ist. Das ist die provozierende Alternative, die Thomas Hobbes dem modernen Staat auf den Weg gibt: authoritas, non veritas facit legem.30 Übersetzt in die heutige Begrifflichkeit: das Gesetz legitimiert sich nicht aus der Richtigkeit des Inhalts, sondern aus der Kompetenz dessen, der es erlässt. Quis iudicabit? Quis interpretabitur? – mit diesen Fragen setzt das moderne politische Denken ein. Dem modernen Gesetzgeber bleibt unbenommen, sich nach inhaltlichen Leitvorstellungen von Gerechtigkeit auszurichten. Doch unterwirft er sich deshalb nicht dem Urteil des Bürgers, ob das Gesetz die Leitvorstellungen auch wirklich getroffen hat oder ob die Leitvorstellungen als solche der Gerechtigkeit entsprechen. Der Bürger fragt nach der Kompetenz. Die Frage der materialen Gerechtigkeit ist damit abgeschnitten. Lakonisch stellt Hobbes fest, das bürgerliche Gesetz bestimme, „was ehrenhaft und unehrenhaft, gerecht und ungerecht und allgemein, was gut und böse ist“.31 Wer entscheiden soll, darüber können sich alle leicht verständigen. Dagegen ist offen, wie zu entscheiden und was gerecht ist. Der richtige Inhalt ist, zumindest potentiell, Thema des Streits und Grund zur Zwietracht. Um des Friedens willen muss eine einzige Instanz bereitstehen, die entscheidet und die Macht hat, 30 31
Thomas Hobbes, Leviathan, lateinische Fassung, Amsterdam 1670, c. 26. Hobbes, Leviathan, englische Fassung, London 1651, c. 46 (dt. Ausgabe hg. von Iring Fetscher, 1966, S. 510).
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die Entscheidung gegebenenfalls gegen Widerstände durchzusetzen. Zu diesem Zweck beansprucht der moderne Staat für sich das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit.32 Er verwehrt seinen Untertanen, ihre Rechtsauffassung mit Androhung und Anwendung körperlichen Zwangs durchzusetzen. Legitimation also nicht aus Gerechtigkeit, sondern aus dem Erfordernis des Friedens. Das ist die große Errungenschaft des modernen Staates: den Bürgerkrieg durch das Gewaltmonopol strukturell überwunden zu haben. Die begriffliche Voraussetzung besteht darin, dass der Begriff des Friedens negativ verstanden wird als Abwesenheit von physischer Gewalt und damit abgesetzt wird von inhaltlichen Staatszielen, zumal von dem der materialen Gerechtigkeit. Alle Strebungen, den Begriff des Friedens positiv zu bestimmen und mit Gerechtigkeitssubstanz zu füllen und den Gegenbegriff der Gewalt vom physischen Zwang auf sozialen Zwang und etablierte soziale Ungerechtigkeit auszuweiten („strukturelle Gewalt“), unterminieren die bestehende staatliche Friedensordnung und bereiten den Rückfall in den Bürgerkrieg vor.33 Frieden als der fundamentale Zweck des modernen Staates bedeutet also ganz unemphatisch Abwesenheit von Gewalt. Für den Bürger erscheint er als Gesamtzustand der Sicherheit vor den Übergriffen der Nebenmenschen. Er bietet den ungestörten Genuss von Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum. Der staatlich gesicherte Frieden ist die Bedingung der Möglichkeit, dass die Bürger ohne Furcht voreinander über Gerechtigkeit reden und in den Wettbewerb um die gerechteste Lösung der politischen Probleme eintreten. So kann denn, in Umkehrung des Propheten-Wortes, das Werk des Friedens die Gerechtigkeit sein. Auch diese Einsicht ist biblisch belegbar, und zwar im Jakobusbrief: „Die Frucht der Gerechtigkeit wird in Frieden gesät für jene, die Frieden halten.34
32 33 34
Richtungweisend Detlef Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 29 ff. Fundierte Kritik an einschlägigen Tendenzen Merten (N 32), S. 45 ff. Jak 3, 18.
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2. Ausklammerung der Gerechtigkeitsfrage durch Vorkehrungen des Verfassungsstaates a) Demokratische Legitimation Die liberale Demokratie beansprucht nicht, die Frage nach der „wahren“ Gerechtigkeit beantworten zu können. Sie stellt nur die Freiheit für alle Bürger bereit, die Frage zu stellen und die Antworten zu suchen. Überdies bietet sie das staatliche Verfahren an, in dem die Frage verbindlich entschieden werden kann. Was Gerechtigkeit ist und was sie in der konkreten Situation erheischt, darüber wird in der Demokratie legitim gestritten, im privaten wie im öffentlichen Diskurs. Die politischen Parteien versuchen, den Begriff der Gerechtigkeit für ihre Zwecke zu besetzen, und konkurrieren in Programmen für „mehr Gerechtigkeit“. Die Entscheidung fällt im staatlichen System der parlamentarischen, gewaltenteiligen Demokratie nach dem Mehrheitsprinzip. Dieses verbürgt nicht, dass das Ergebnis gerecht ist. Vielmehr sichert es nur, dass, wenn unter dem Zwang der Entscheidung schon nicht alle ihren Willen verwirklichen können, wenigstens die meisten zum Zuge kommen.35 Das demokratische Gesetz beansprucht den Rechtsgehorsam des Bürgers, weil es sich aus dem Willen des Volkes, wie er sich in der Parlamentswahl geäußert hat, legitimiert und den Kompetenz und Verfahrensregeln der Verfassung Genüge getan wurde. Dagegen kommt es nicht darauf an, ob es seinem Inhalt nach gerecht ist und ob seine Adressaten es als gerecht anerkennen oder nicht. Auch in der Demokratie gilt: authoritas, non veritas. Die Frage der Gerechtigkeit bleibt diskutabel, auch nachdem der demokratische Gesetzgeber gesprochen hat. Jedem ist es unbenommen, das Gesetz zu kritisieren, seine Aufhebung zu fordern oder auf seine Verbesserung (im Sinne dessen, was der Einzelne für gerecht hält) hinzuarbeiten. Der Normadressat schuldet nur die äußere Befolgung des Gesetzes, nicht aber den Glauben, dass dieses gerecht sei. Der demokratische Rechtsstaat insistiert auf normgemäßem Verhalten der Bürger 35
Dazu Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 55 ff.
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und greift nicht zu auf seine Gesinnung. Kantianisch gesprochen: er verlangt Legalität, nicht Moralität. Die Beziehung des Bürgers zum Rechtsstaat reduziert sich auf gesetzlich definierte Rechte und Pflichten. Die Tugend bleibt außen vor. Die formale Entscheidungsmacht des demokratischen Gesetzgebers ist die Grundlage des positiven Rechts, auf das die moderne Gesellschaft angewiesen ist. Die Positivität des Rechts gewährleistet Rechtssicherheit. Der moderne Staat nimmt nicht hin, dass jeder Einzelne die Geltung eines ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes in Frage stellen kann mit dem Einwand, es sei ungerecht. Prinzipiell geht die Rechtssicherheit vor, wenn sie in Konflikt mit der materialen Gerechtigkeit gerät. Die Legitimation staatlicher Normen ergibt sich nicht mehr aus Inhalten, sondern aus Kompetenz und Verfahren. Die inhaltliche Entleerung wird zu letzter theoretischer Konsequenz geführt in Niklas Luhmanns Doktrin einer „Legitimation durch Verfahren“, dass ein außenstehender Beobachter eines Prozesses weiter nichts erkenne als „symbolisch-zeremonielle Arbeit am Recht“, die der Richter leiste.36 Als Thema verbleibt die (demokratisch offene) Frage nach der richtigen Verfassung des Staates. Nach liberaler Staatsphilosophie werden die Menschen nicht zum Staat vereint durch ihre Tugenden, sondern durch ihren vernunftgesteuerten Eigennutz. Sie müssen ihre bösen Gesinnungen nicht überwinden und sich nicht moralisch läutern. Vollends brauchen sie sich nicht in Engel zu verwandeln, um gute Bürger einer Republik zu werden. Das Problem der Staatseinrichtung, so Kant, ist „selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar“. Es genüge, den Staat gut zu organisieren, um die selbstsüchtigen militanten Neigungen, welche die Menschen von Natur aus beherrschen, so zu lenken, „daß sie sich unter Zwangsgesetze begeben, einander selbst nötigen und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen“.37 Im Ver36 37
Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 21975, S. 36 f., passim. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), in: ders., Werke (hg. von Wilhelm Weischedel), Bd. VI, 1964, S. 191 (224). Zu Kants Teufel-Metapher Michael Pawlik, Kants Volk von Teufeln und sein Staat, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 14 (2006), S. 269 ff.
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fassungsstaat, so scheint es, haben die Menschen die Lösung gefunden, wie sie, ohne sich einer moralischen Anstrengung zu unterziehen, ihr Zusammenleben staatlich organisieren, und zwar auf eine Weise, dass sie ihre Freiheit möglichst wenig einschränken und ihren Eigennutz möglichst wenig zurücknehmen müssen: durch die institutionellen Vorkehrungen des demokratischen Mehrheitsprinzips, der Gewaltenteilung, der Machtbegrenzung durch Grundrechte. Bildsymbol der liberalen Demokratie ist nicht mehr die Figur der Gerechtigkeit mit Waage und Schwert,38 sondern die Fackel oder Fahne schwingende Freiheitsstatue. Der Verfassungsstaat hat sich so einen Ausweg aus dem Gerechtigkeits-Dilemma gebahnt, dahin, dass jedermann kompetent ist, zu sagen, was gerecht sei, was ungerecht, doch dass sich daraus keine rechtsverbindlichen Folgen für andere oder gar für die staatliche Allgemeinheit ergeben. Er ist so organisiert, dass er die Frage nach der wahren Gerechtigkeit dahinstehen lassen kann, weitgehend jedenfalls.
b) Grundrechtliche Legitimation Die Grundrechte gewährleisten die Freiheit des Privaten gegenüber der Staatsgewalt als negative Freiheit, die nicht durch vorgegebene Zwecke und Pflichten determiniert ist.39 Die Ausübung der grundrechtlichen Freiheit bedarf keiner Rechtfertigung, auch nicht vor dem Prinzip der Gerechtigkeit. Vielmehr bildet sie den Legitimationsgrund privaten Handelns40 und setzt den staatlichen Eingriff unter Rechtfertigungszwang.41 Die Grundrechte gewährleisten die Privatautonomie, in ihr die Vertragsfreiheit. 38 39 40
41
Zur Ikonographie Hasso Hofmann, Bilder des Friedens oder die vergessene Gerechtigkeit, 1997, S. 49 ff. Ein Leitgedanke im Œuvre von Detlef Merten. Exemplarisch: Negative Grundrechte, in: HGR II, 2006, § 42 Rn. 42 ff. Zur grundrechtlichen und demokratischen Legitimation als den Legitimationstypen des Verfassungsstaates: Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie. Die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen (s. o. S. 13 ff.); Christian Starck, Grundrechtliche und demokratische Freiheitsidee, in: HStR III, 32005, § 33 Rn. 1 ff., 14 ff. Vgl. Detlef Merten, Das Prinzip Freiheit im Gefüge der Staatsfundamentalbestimmungen, in: HGR II, 2006, § 27 Rn. 22, passim.
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Das Rechtsgeschäft des Privaten legitimiert sich aus dessen Freiheit, nicht aus seiner Richtigkeit sub specie ‚materialer Gerechtigkeit. Ein Kaufvertrag ist das Werk konzertierter Grundrechtsausübung von Käufer und Verkäufer. Mithin braucht er kein Unbedenklichkeitsattest der Tauschgerechtigkeit. Anders allerdings das rechtsphilosophische Ideal, dass die iustitia commutativa Leistung und Gegenleistung wägt und darauf hinwirkt, dass die Waagschalen Gleichgewicht halten. Der „gerechte Preis“ soll sich aus dem Wert der Sache ergeben, ohne Rücksicht auf die Person des Tauschpartners. Das Ideal ist plausibel, die Realisierung prekär. Äquivalenz kann praktisch nur bestimmt werden, wenn Leistung wie Gegenleistung objektiv bewertet werden können und dafür Maß und Gewicht bereitstehen. Der Wert einer Ware oder einer Dienstleistung steht aber nicht ontologisch fest und gründet nicht in der Natur der Sache. Er wird, soweit der Staat nicht regulierend eingreift, durch den Markt bestimmt. Dieser folgt den ökonomischen Gesetzen von Angebot und Nachfrage, die sich durch ethische Argumente nicht beiseite schieben lassen. Die Lehre vom „gerechten Preis“ erweist sich als Utopie.42
VI. Gewährleistung materialer Gerechtigkeit durch den Verfassungsstaat 1 .... tarnen usque recurret Der Verfassungsstaat weist der materialen Gerechtigkeit die Tür. Doch sie kehrt durch eine andere Tür wieder zurück. Der Bürger, der eine Baugenehmigung beantragt oder einen Zivilprozess führt, gibt sich nicht damit zufrieden, dass eine staatliche Entscheidungsinstanz „symbolisch-zeremonielle Arbeit am Recht leistet; er sähe sich sogar um sein Recht geprellt, wenn der Behördenchef oder der Richter eine solche Amtsauffassung zu er42
Zur Geschichte der Lehre vom iustum pretium: Max Kaser, Römisches Privatrecht, 161992, S. 194; Winfried Trusen, Äquivalenzprinzip und gerechter Preis im Mittelalter, in: Festgabe für Günther Küchenhoff, 1967, S. 247 ff.; Andreas Wacke, Circumscribere, Gerechter Preis und die Arten der List, in: Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung, 94 (1977), S. 184 ff.
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kennen gäbe. Zuvörderst erwartet der Verfahrensbeteiligte, dass das Verfahren als solches Regeln der Fairness einhält, etwa rechtliches. Gehör, Beteiligung der Betroffenen, Unparteilichkeit der Entscheidungsorgane, Gewähr des gesetzlichen Richters, kurz: Verfahrensgerechtigkeit. Diese verlangt auch zeitnahe Entscheidung. Wenn das Gericht zu lange die Gründe und Gegengründe wiegt und wägt, wenn es zu spät das Schwert der richterlichen Entscheidung betätigt, hat auch das inhaltlich bestmögliche Urteil seinen Sinn verloren. Aus gutem Grunde zeigt der neapolitanische Maler Luca Giordano die barocke Allegorie der Gerechtigkeit als thronende Schönheit, die Füße gestützt auf den Vogel Strauß, den schnellsten aller Laufvögel; als Gegenbild aber die „entwaffnete Gerechtigkeit“: ihrer Insignien der Waage und des Schwertes beraubt, zu ihren Füßen der verendete Vogel Strauß.43 Überhaupt erreicht ein Verfahren die ihm mögliche legitimatorische Kraft nur, wenn es seinerseits ein Mindestmaß an prozeduraler Gerechtigkeit einhält. Das gilt übrigens auch für das Verfahren politischer Wahlen. Diese führen dem Gewählten nur dann Legitimation zu, wenn elementare Grundsätze eingehalten worden sind: die Allgemeinheit und Gleichheit der Wahlberechtigung, die Freiheit und die Geheimhaltung der Stimmabgabe. Mutatis mutandis gilt das auch für Verträge. Ihre Legitimationsgrundlage sind heute nicht mehr Prinzipien einer vorgegebenen iustitia commutativa, die Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung, der „gerechte“ Preis, sondern der Wille der Vertragspartner, die sich privat autonom verständigen. Die Privatautonomie aber baut ihrerseits auf realen wie rechtlichen Voraussetzungen, der Parität der Partner und der Einhaltung von Regeln der Fairness. Allgemein gilt, dass die Ergebnisse des Marktes, die nicht vorgegebenen Gerechtigkeitsmaximen entspringen, sondern einer Mischung aus Glücks- und Geschicklichkeitsspiel, nur hingenommen werden, wenn sich der Wettbewerb in den Bahnen der Verfahrens~ und Konkurrenzgerechtigkeit bewegt. 43
Reproduktion der Pariser und der Londoner Fassung der „Gerechtigkeit“ in: Wilfried Seipel (Hg.), Luca Giordano 1634-1705, Napoli/Wien 2001, S. 265. Reproduktion der negativen Allegorie Giordanos (Budapest), ebd., S. 201. Bilderläuterung von Eva Nyerges, ebd., S. 199 f.
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Über die Verfahrensgerechtigkeit hinaus richtet sich die Erwartung auf die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung. Freilich streiten im Gerichts- wie im Verwaltungsverfahren unterschiedliche Vorstellungen vom richtigen Recht wider einander, so dass am Ende Enttäuschungen unvermeidbar sind. Um diese aufzufangen, bedürfen Urteile und Verwaltungsakte der Begründung. Die Begründung dient nicht zuletzt dazu, dem Verlierer des Prozesses die Einsicht zu vermitteln, dass die Entscheidung so, wie sie ausfällt, notwendig und richtig ist. Nicht jedermann wird überzeugt. Doch der Verlierer muss wenigstens sehen können, dass die Stelle, die entschieden hat, sich um Richtigkeit bemüht hat. Käme der Eindruck auf, das Gericht oder die Behörde habe nur ein Ritual abgespult, Willkür mit Fachjargon umnebelt und ein juridisches Schamanentum praktiziert, so wäre es um die Akzeptanz der Entscheidung geschehen. Im Einzelfall lässt sich der Normbefehl zwar erzwingen, nicht jedoch auf ganzer Linie. Kant weist den Weg, wie der strikte Rechtsgehorsam und der „Geist der Freiheit“ zum praktischen Ausgleich finden können: Der nicht-widerspenstige Untertan müsse annehmen können, sein Oberherr wolle ihm nicht Unrecht tun.44 Darin setzt sich Kant von Hobbes ab, der lehrt, der Staat könne nicht Unrecht tun.45 Der Verfassungsstaat, der wegen der Freiheit seiner Bürger nur beschränkte Machtbefugnisse hat, ist auf die Akzeptanz seiner Handlungen angewiesen. Mithin müssen seine Amtsträger für alle erkennbar nach bestem Wissen und Gewissen die richtige Entscheidung suchen. Das gilt auch für den Gesetzgeber. Die parlamentarische Mehrheit, die das Gesetz beschließt, bemüht sich schon aus Klugheit, die Zustimmung aller Bürger, in welchem politischen Lager auch immer, zu finden und ihre Entscheidung aus übergreifenden Gesichtspunkten, nicht zuletzt aus solchen der Gerechtigkeit, zu begründen.
44
45
Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1798), in: ders. (N 40), Bd. VI, 1964, S. 124 (161). Thomas Hobbes, De cive, 1647, c. 7, § 14.
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2. Positivierte Gerechtigkeitssubstanz: das Verfassungsgesetz Das Verfassungsgesetz enthält in hohem Maße Normen von rechtsethischer Bedeutung. Es lässt sich deuten als Tafel von Gerechtigkeitsprinzipien, in denen die Nation sich einig ist oder doch einig sein will. Elemente materialer Gerechtigkeit sind vornehmlich in den Grundrechten und den Staatszielen enthalten: Menschenwürde und Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit, physische Sicherheit vor den Übergriffen Privater und soziale Sicherheit in den Risiken des Marktes.46 Diese Elemente ergeben jedoch kein geschlossenes Konzept der Gerechtigkeit. Sie stehen auch zueinander in Widerspruch, so die liberalen zu den sozialen Faktoren, die Meinungsfreiheit zum Persönlichkeitsrecht auf Ehre, der besondere Schutz der Ehe zum Gebot der Gleichstellung unehelicher Kinder. Diese Gegensätze bedürfen des Ausgleichs durch Interpretation, nicht zuletzt durch politische Entscheidung des Gesetzgebers. Das Gesetz ist schon deshalb unentbehrlich, weil die Verfassungsnormen durchwegs abstrakt, offen, inhaltlich unvollständig und technisch unfertig gefaßt sind. Da die Verfassung nur Bruchstücke zu einer Konzeption von materialer Gerechtigkeit liefert, kommt den Organisationsregelungen über Demokratie, Gewaltenteilung, Föderalismus um so größere Bedeutung zu. In ihnen verkörpert sich die aus der Sicht der Verfassung „richtige“ Verteilung der Kompetenzen. Schließlich gewährleistet die Verfassung Verfahrensgerechtigkeit vom Wahlverfahren bis zum Strafprozess. Die vielfältigen Kontrollen, denen die Staatsgewalt von Verfassungs wegen unterworfen ist, nicht zuletzt der grundrechtlich garantierte Rechtsschutz des Bürgers, zeigen, dass der Rechtsstaat sich seiner eigenen Fehlbarkeit bewusst ist. Freilich kommt am Ende, wenn alle rechtlich möglichen Mittel erschöpft sind, auch im Rechtsstaat die Notwendigkeit des Rechtsgehorsams zum Zuge, mag die Entscheidung den Betrof46
Zu den Schwierigkeiten, das soziale Staatsziel mit seinen Gerechtigkeitsimplikationen und Ausgleichserfordernissen zu fassen: Detlef Merten, Grenzen des Sozialstaats, in: VSSR 1995, S. 155 (157 ff.).
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fenen auch immer noch als ungerecht erscheinen. Nur so ist der Staat als Entscheidungs- und Friedenseinheit funktionstüchtig.
3. Grenzen des Rechtsgehorsams und des Gewaltverbots Doch der Rechtsgehorsam, den die konstitutionelle Demokratie einfordert, ist nicht blind, und er ist auch nicht unbedingt. Im Grenzfall des krassen und evidenten Verstoßes des positiven Gesetzes gegen ein Gebot materialer Gerechtigkeit endet der Rechtsgehorsam. Im deutschen Verfassungsstaat hat sich die „Radbruch‘sche Formel“ durchgesetzt: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“47 Praktische Konsequenzen zieht das Recht des öffentlichen Dienstes. Der Beamte kann sich nicht darauf berufen, dass Befehl eben Befehl sei; vielmehr ist er persönlich für sein amtliches Handeln verantwortlich. Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit hat er auf dem Wege der Remonstration geltend zu machen. Auch bestätigende Anordnung entlastet ihn dann nicht von der persönlichen Verantwortung, wenn das ihm aufgetragene Verhalten strafbar oder ordnungswidrig ist oder die Würde des Menschen verletzt.48 Im äußersten Fall, wenn der Verfassungsstaat aus den Fugen gerät und seine berufenen Amtsträger nicht mehr fähig oder nicht mehr willens sind, ihn aufrechtzuerhalten, lebt gemäß Art. 20 Abs. 4 GG das Widerstandsrecht für alle Bürger auf, das die Möglichkeit des Rechtsbruchs und der privaten Gewalt entbindet. Es handelt sich jedoch, worauf Detlef Merten hinweist, um ein Recht der „qualifizierten Nothilfe für den Staat“, 47
48
Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1946, S. 105 (107). - Dazu Helmut Lecheler, Unrecht in Gesetzesform? Gedanken zur „Radbruch‘schen Formel“, 1994; von Arnauld (N 24), S. 637 ff. (weit. Nachw.). § 38 BRRG, § 56 BBG. Vgl. auch § 11 SoldG.
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um Verfassungshilfe, um ein Recht mit konservierendem, nicht revolutionärem Charakter.49 Das Widerstandsrecht ist kein Rechtstitel für anarchische Massen, ihre Vorstellungen von „wahrer Gerechtigkeit“, an der parlamentarischen Volksvertretung vorbei, auf eigene Faust zu exekutieren. Das Ausnahmerecht zur Eigenmacht darf nicht auf die Normallage übergreifen. Es taugt nicht dazu, die wirklichen oder scheinbaren Gerechtigkeitsverstöße des Gesetzes zu beseitigen. Soweit kein taugliches Verfahren des Rechtsschutzes oder der Normenkontrolle bereitsteht, sind die Verstöße um der Rechtssicherheit und des Friedens willen in der Regel hinzunehmen. Obwohl höchste Norm der staatlichen Rechtsordnung, öffnet und unterwirft sich das Grundgesetz dem überpositiven Recht, der „unantastbaren“ Würde des Menschen sowie den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“50 Diese verfassungsstaatliche Demut bekundet sich auch in dem Bekenntnis des Verfassunggebers zu seiner „Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Der Verfassunggeber stößt in seiner „Souveränität“ auf äußerste Grenzen materialer Gerechtigkeit, die er selber nicht überschreiten darf, ohne Gefahr zu laufen, dass seine Regelungen nichtig sind („verfassungswidriges Verfassungsrecht“). Das Bundesverfassungsgericht hält einen solchen Fall immerhin für möglich; die theoretische Möglichkeit komme freilich bei originären Verfassungsnormen einer praktischen Unmöglichkeit gleich.51 In Grenzfällen darf das positive Recht um überpositiver Werte willen durchbrochen, die Legalität zugunsten der Legitimität suspendiert werden und die materiale Gerechtigkeit den Vorrang vor der Rechtssicherheit erlangen. Wer einen solchen Grenzfall annimmt und ein Ausnahmerecht für sich in Anspruch nimmt, bedarf jedoch der Urteilskraft, des Mutes und 49 50 51
Merten (N 32), S. 59. Dazu Josef Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: HGR 11, 2006, § 26 Rn. 80 ff.; Merten (N 41), § 27 Rn. 10 ff. BVerfGE 3, 225 Ls. 2 (232 f.). Vgl. auch 1, 14 (32 f.); 4, 294 (296); 23, 98 (106 f.); 84, 90 (121).
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eines guten Gewissens. Denn ihm selbst wie dem Gemeinwesen drohen hohe Risiken.
4. Meta-Verfassung des Grundgesetzes Jedes Verfassungsgesetz versucht, auf seine Weise der Idee der Gerechtigkeit Genüge zu tun und einzelne ihrer Forderungen in positivrechtliche Normen umzusetzen. Doch damit rührt es nicht an die Gerechtigkeit als Idee. Diese bleibt außen vor. Dazu neigt aber ein deutscher Verfassungsenthusiasmus. Ihm gilt das Grundgesetz als der rechtliche Safe der Gesellschaft, in den sie alles, was ihr hehr und teuer ist, eingebracht hat. Er erkennt nur die Rechte und Werte an, die sich von der Verfassung her beglaubigen. Quod non est in constitutione, non est in mundo. So soll dem Grundgesetz denn die Idee der Gerechtigkeit einverleibt werden. Das Bundesverfassungsgericht weist ihr einen Platz im Rechtsstaatsgedanken zu.52 Andere verorten sie in Art. 20 Abs. 3 GG, als Komponente des „Rechts“, das neben dem „Gesetz“ die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung bindet.53 Doch die Rolle der Gerechtigkeit lässt sich nicht mit den Mitteln des positiven Rechts einfangen. Die Idee als solche liegt notwendig dem positiven Recht voraus. Ihr semantischer Einbau in den Gesetzestext könnte jedoch als dynamische Verweisung auf die jeweils obwaltenden Gerechtigkeitsvorstellungen gedeutet werden - mit Gefahren für die Stabilität und Identität des Verfassungsgesetzes. Das Wort „Gerechtigkeit“ erscheint freilich im Text des Grundgesetzes. Die vorstaatlichen Menschenrechte werden als Grundlage der „Gerechtigkeit in der Welt“ bezeichnet (Art. 1 Abs. 2 GG). Doch hier wird die Gerechtigkeit als solche nicht geregelt und nicht gewährleistet. Vielmehr fällt das Wort im Kontext des Bekenntnisses, das der Verfassunggeber zu den „vorverfassungsrechtlichen Rechten“54 ablegt, die ihrerseits auf die Gerechtigkeit als Idee bezogen sind. Die „Gerechtigkeit gegen jedermann“, die zu üben der Bundespräsident schwört (Art. 52 53 54
BVerfGE 7, 89 (92); 7, 194 (196); 21, 378 (388); 102, 254 (299, 301 f.). Gegenposition: Merten (N 32), S. 10 ff. (Nachw.). Ablehnend nach eingehender Auseinandersetzung Merten (N 32), S. 22 ff. Merten (N 41), § 27 Rn. 13.
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56 S. 1 GG), steht im Eidestext neben der Wahrung des Grundgesetzes und der Gesetze. Die Verpflichtung zur Gerechtigkeit hat also eigenständige Bedeutung, die über bloße Legalität hinausweist: auf das Ethos des Amtes, das allen positivrechtlich ausformulierten Pflichten voraus liegt. Die Idee der Gerechtigkeit hat ihren Ort in der ungeschriebenen Meta-Verfassung, die hinter dem geschriebenen Verfassungsgesetz steht.55 Sie hat als solche keinen naturrechtlichen Charakter. Sie ist aber auch kein beliebiges Konstrukt einer Verfassungstheorie. Vielmehr bildet sie den vorpositiven Grund, auf dem der Bau der positiven Verfassung errichtet ist. Die Meta-Verfassung umfasst die Leitgedanken, an der das Verfassungsgesetz sich ausrichtet, die es in der einen oder anderen Weise durch einzelne Vorschriften berührt, umsetzt oder konkretisiert, ohne aber ihr kreatives wie kritisches Potential auszuschöpfen und sie als solche sich zu inkorporieren. Zur MetaVerfassung des Grundgesetzes gehören neben dem Prinzip der Gerechtigkeit die Prinzipien des Gemeinwohls und des Amtes, der Solidarität und der Subsidiarität, das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip, Menschenwürde und Menschenrechte.56 Die Grenzen möglicher Positivität zeigen sich darin, dass das positive Gesetz der Auslegung unterliegt, diese aber aus sich heraus nicht zu lenken vermag. Die Gesetzesauslegung ist kein reiner Erkenntnisakt, sondern ein nachschöpferischer Prozess. Die juristische Methodenlehre vermag ihn nicht zielsicher zu steuern. Denn ihre Regeln sind nicht präskriptiv, sondern deskriptiv. Deren Auswahl und Anwendung wird in der Praxis weithin vom Ergebnis her determiniert, also retrospektiv, nicht prospektiv. Das umspielt der klassische Philologe Reinhold Merkelbach mit einem etymologischen Bonmot: Methode leite sich ab von μέθ᾽ οδον („nach dem Weg“); „Methode ist der Weg, nachdem man ihn gegangen ist.“57 – Was der Methode an 55 56
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Dazu Isensee (N 22), S. 47 ff. Zum Ideencharakter der Menschenrechte und der Menschenwürde Isensee (N 50), § 26 Rn. 80 ff.; ders., Menschenwürde – die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, in: AöR 131 (2006), S. 173 (209 ff.). Zitat bei Wolfgang Dieter Lebek, Nachruf auf Reinhold Merkelbach, in: Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 2007, S. 166 (177).
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Steuerungsfähigkeit fehlt, hat das Ethos des Interpreten auszugleichen. Interpretation des Rechts fordert über alle technische Fertigkeit hinaus Ethos, damit die Ausrichtung auf die Idee der Gerechtigkeit, wie sie die Norm, gemäß den Vorgaben der Verfassung, im Ganzen der Rechtsordnung vermittelt. Am Ende ist die Gerechtigkeit auch als Tugend im alteuropäischen Sinne rehabilitiert: Kardinaltugend, deren der Rechtsstaat bedarf, die er aber von sich aus nicht zu organisieren vermag.
VII. Relativierung der Gerechtigkeitsidee 1. Wasser in den Wein der reinen Gerechtigkeit Sie habe Gerechtigkeit erhofft und den Rechtsstaat erhalten, so klagte nach der deutschen Wiedervereinigung eine vormalige Bürgerrechtlerin der DDR und sprach vielen ihrer Landsleute aus dem Herzen.58 Doch die Alternative zwischen Gerechtigkeit und Rechtsstaat ist falsch. Der Rechtsstaat strebt danach, materiale Gerechtigkeit zu verwirklichen; aber er weiß auch, dass seine Bemühungen unzulänglich und diskutabel bleiben. Als Ausgleich gewährleistet er Machtbegrenzung, Rechtssicherheit, Freiheit. Das unterscheidet ihn vom totalitären Gerechtigkeitsstaat. Der Rechtsstaat muss revolutionäre Hoffnung auf Veränderung und auf radikale Vergeltung enttäuschen. Die Hoffnung hätte nur eine gewaltsame Revolution einlösen können; die Revolution der Deutschen von 1989 aber verlief friedlich. Der Rechtsstaat kann das nicht nachholen. Ihm fehlten die fanatische Gewissheit über die Sache der Gerechtigkeit, wie sie Revolutionären eignet, die Einseitigkeit des Urteils, die Unbedenklichkeit in der Wahl der Mittel, der Blutrausch. Skeptisch in dem, was „wahre“ Gerechtigkeit sein soll, der eigenen Fehlbarkeit bewusst, distanziert zu den gesellschaftlichen Konflikten, resistent gegen Hass, Neid und Begeisterung, wahrt er Form und Maß und erkennt sie alle als Rechtssubjekte und als Inhaber von Grundrech-
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Dazu Josef Isensee, Rechtsstaat – Vorgabe und Aufgabe der Einung Deutschlands, in: HStR IX, 1997, § 202 Rn. 22 ff.
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ten an: die mutmaßlichen Opfer des Unrechtsstaats wie die mutmaßlichen Täter. Dagegen verhieß der weiland real existierende DDR-Sozialismus absolute Gerechtigkeit, nicht behindert durch juristische Förmlichkeiten, nicht gehemmt durch Legalitätsskrupel. Was gerecht war, das ergab sich nicht aus philosophischer Schau einer Idee, sondern aus dem Machtwillen der Partei und diente dazu, deren Diktatur zu legitimieren und einen moralischen Begriff politisch zu besetzen.59 Auf einen Schelmen anderthalbe: in der unvollkommenen Welt lässt sich die Gerechtigkeit nicht vollkommen verwirklichen. Gerechtigkeit pur ist noch nicht einmal ein Wunschtraum – es sei denn für den Terroristen, der seinem absoluten Ideal alles zu opfern bereit ist. Aus der mittelalterlichen Papstgeschichte wird berichtet, dass ein römischer Prälat sich an oberster Stelle beschwert habe über ungerechte Behandlung. Die Antwort: „Mein Sohn, Du klagst vergebens. Auf Erden regiert die Ungerechtigkeit. Gerechtigkeit herrscht noch nicht einmal im Himmel. Dort regiert die Liebe. Gerechtigkeit gibt es nur in der Hölle.“ Die Idee der Gerechtigkeit kann eine Neigung zu moralischer Hybris, zu inhumaner Härte, zu starrer Regelhaftigkeit entbinden. Die Verabsolutierung von Gerechtigkeitsansprüchen erzeugt Unrecht. Summum ius summa iniuria. In der mittelalterlichen Philosophie wird daher die Gerechtigkeit flankiert von den Kardinaltugenden: der Mäßigung und der Klugheit. Sie hat in der Tat deren Gesellschaft nötig, wie sie sich auch mit der Tapferkeit verbinden muss, um reale Wirksamkeit zu erlangen. Damit der Traum von Gerechtigkeit nicht umschlägt in einen Alptraum, wird in den Wein der Gerechtigkeit immer viel Wasser gegossen: Nachsicht, Augenmaß, Opportunität als taktische Toleranz gegenüber dem Unrecht und die Kunst, Fünfe gerade sein zu lassen, Erfordernisse der Rechtssicherheit, Formgesetzlichkeit, Ökonomie der Rechtsverwirklichung. Aristoteles warnt den Rechtsgenossen, „in kleinlicher Genauigkeit sein Recht so lange zu verfolgen, bis es Unrecht wird“, und legt ihm nahe, auch wenn das Gesetz auf seiner Seite stehe, 59
Näher Isensee (N 58), § 202 Rn. 54 ff.
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sich eher mit einem bescheideneren Teil zu begnügen, als sein Recht auf die Spitze zu treiben. 60 So wird das allgemeine Gesetz in seiner Schroffheit unter bestimmten Voraussetzungen abgemildert durch den Dispens. Behutsam gehandhabt, verstößt er nicht gegen die Idee der Gerechtigkeit. Vielmehr bringt er sie im Einzelfall gerade zur Geltung.61 Der staatlichen Strafgewalt korrespondiert von jeher die Gnade, als Ausdruck der Demut und Eingeständnis, dass irdische Gerechtigkeit nicht vollkommen ist und nicht zu sein beansprucht. Gnade entzieht sich den strengen Regeln des Rechtsstaats. Wenn er die Gnade verrechtlicht, verliert sie freilich ihren Charakter und wird zur normativen Strafmilderung.62 – Das Recht trägt seiner Zeitgebundenheit wie der vita brevis der Rechtsgenossen Rechnung durch Einrichtungen wie die Verjährung oder das Verbot der Rückwirkung. Das heute vorherrschende Rechtsempfinden reibt sich an der unvermeidlichen Härte des allgemeinen Gesetzes und findet sich nicht ab mit der Einsicht „dura lex, sed lex“. 63 Vielmehr neigt es dazu, die Strenge des Gesetzes aufzuweichen. Das Bundesverfassungsgericht macht es vor, indem es einerseits den Vorbehalt des Gesetzes immer weiter dehnt, andererseits die Allgemeinverbindlichkeit des Gesetzes ablöst durch Güterabwägungen im Einzelfall im Namen der Grundrechte, die jedoch keine Maße und Gewichte abgeben, so dass die Allgemeinheit, Gleichheit, Berechenbarkeit, Transparenz und Rationalität der Rechtsanwendung Schaden nehmen. Am Ende bleiben Erwägungen der Gerechtigkeit im Einzelfall, die sich nicht auf verallgemeinerungsfähige Maßstäbe zurückführen lassen. Das Prinzip Gerechtigkeit wird abgelöst vom Prinzip Zufall, der darüber entscheidet, ob der Beschwerdeführer aus der Karlsruher Abwägungslotterie einen Treffer zieht oder eine Niete. 60 61
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Aristoteles (N 15), 1138a (V, 14). Dazu Josef Isensee, Normalfall oder Grenzfall als Ausgangspunkt rechtsphilosophischer Konstruktion?, in: Winfried Brugger/Jörg Haverkate (Hg.), Grenzen als Thema der Rechts- und Sozialphilosophie, ARSP Beiheft Nr. 84, 2002, S. 51 (55 f.). Eingehend Detlef Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, 1978. Zu einem klassischen Paradigma harter, konsequenter Strafgerechtigkeit Detlef Merten, Der Katte-Prozeß, 1980.
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2. Hochkonjunktur der Gerechtigkeitspostulate Im christlichen Äon erfüllte sich die Idee der Gerechtigkeit in der vollkommenen Gerechtigkeit Gottes im Weltgericht, die ihrerseits aufgehoben war in der Liebe zu seinen Geschöpfen. Die Hoffnung auf die Gerechtigkeit im Jenseits erleichterte dem Christen, sich mit der unvollkommenen Gerechtigkeit im Diesseits abzufinden und dem allfälligen Unrecht gelassen zu begegnen. Das biblische Gleichnis vom Himmelreich als einem Weinberg64 lehrt, dass die menschlichen Vorstellungen von Tauschund Verteilungsgerechtigkeit zunichte werden an der höheren Gerechtigkeit Gottes. Eine transzendenzlose Philosophie wie die Schillers oder Hegels deutet die Weltgeschichte als das Weltgericht und sucht hier die endgültige, irdische Gerechtigkeit zu finden. Doch Individuen und Völker lassen sich nicht mit geschichtsphilosophischem Trost abspeisen. Der „Hunger nach Gerechtigkeit“ nimmt zu in dem Maße, in dem die Bereitschaft des Menschen abnimmt, sich in sein Schicksal zu fügen. Die säkulare Gesellschaft neigt dazu, jedwede Form realer Ungleichheit, schicksalhafte wie gewillkürte, Glück wie Unglück im Leben am Maßstab der Gerechtigkeit zu messen, von der Einkommensverteilung bis zum Urlaubswetter. Selbst Ereignisse und Zustände der Geschichte, die Jahrhunderte zurückliegen wie Kreuzzüge und Inquisition, die Unterdrückung der Frau im Mittelalter und der Sklavenhandel der frühen Neuzeit, werden an den heutigen Gerechtigkeitsmaßstäben der Menschenrechte und des Völkerrechts gemessen und danach be- und verurteilt. Die Nachfahren der vormals Geschädigten rufen nach Ausgleich. Für einen ideellen Ausgleich sollen die neuartigen Bußrituale sorgen, denen sich die Nachfolger einstiger Tatverantwortlicher unterziehen, vom US-Präsidenten65 bis zum Papst.66 Die Suche nach historischer Ungerechtigkeit wird zur Quelle von Entschädigungsforderungen präsumtiver Erben des Unbills. Die Welt64 65 66
Mt 20, 1-16. Dazu mit vielen Beispielen Hermann Lübbe, „Ich entschuldige mich“, 2003. Dazu Konrad Repgen, Kirche, Schuld, Geschichte, in: Die Neue Ordnung 53 (1999), S. 293 ff.
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geschichte verwandelt sich damit zwar nicht in das Weltgericht, wohl aber in eine Fundgrube von Kompensationstiteln. 67 Das Problem der Gegenwart ist es, die Idee der vollkommenen Gerechtigkeit den unvollkommenen Bedingungen der Lebenswelt so anzupassen, dass sie nicht in Inhumanität umschlägt. Kants vielzitierte rigide These „Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben“, 68 verträgt und fordert Abmilderung: Gerechtigkeit darf nur in der Gestalt und in dem Maß gefordert werden, wie sie dem Weiterleben der Menschen zuträglich ist.
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Als Präsident Clinton auf einer Afrikareise sein Bedauern über den einstigen Sklavenhandel geäußert hatte („we are wrong in that“), forderte The African World Reparation and Repatriation Truth Commission ,,777 trillion dollars in reparation for enslavement“. Dazu Lübbe (N 65), S. 51 ff. Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 11797, S. 197.
Aussprache Leitung: Dr. Johannes Hattler Ignatius Kordecki: Sie haben Thomas Hobbes als naturrechtlichen Denker herausgestellt. Hobbes fordert aber die Aufgabe meiner natürlichen Rechte um des gesellschaftlich verträglichen Friedens willen. Die richtige Moral im Sinne dieses Friedens diktiert er dann und setzt hierzu auch noch die Religion ein. Ajatollah Ali Chamenei stellt den Staat in den Dienst der Religion, Hobbes die Religion in den Dienst des Staates. Isensee: Hobbes ist unstreitig der Vater des Positivismus. Seine Rechts- und Staatsphilosophie gründet er aber auf Prämissen: Notwendigkeit des Friedens und Schutz des Lebens. Kann der Staat nicht mehr schützen, kann er auch keinen Gehorsam mehr verlangen. Das ist kein Positivismus mehr. Hobbes leugnet nicht die Wahrheit der Religion. Er leugnet nur, dass der Bürger als Normadressat mit Berufung auf diese Wahrheit die staatlichen Normen aushebeln kann. Die Hobbes’sche Lösung ist sehr kompliziert. Am Anfang des modernen Positivismus steht keineswegs eine schlichte Formel wie „Befehl ist Befehl“ im Sinne einer Art Dschingis-Khan- oder Kim Il-sung-Moral. Kordecki: Für eine Bestimmung des Naturrechts in concreto, so habe ich Sie verstanden, sei die Frage grundlegend, was das Naturrecht leistet. Läuft das nicht auf eine pragmatistische Konstruktion hinaus? Demnach dürfte das Naturrecht auf den Plan treten, wenn das positive Recht versagt, wenn es an Gerechtigkeit mangelt. Um zu wissen, dass Kinder ein Recht haben, gut behandelt zu werden, muss es doch nicht erst Krieg oder Misshandlungen geben. Wenn ich ein Kind sehe, weiß ich das einfach. Der Philosoph Levinas spricht von der Epiphanie des Antlitzes. Das bietet ein Verständnis für das Naturrecht auch in Normalzeiten. Isensee: Ein existentielles Grundverständnis des Menschen übersteigt den Pragmatismus. Pragmatismus setzt erst ein,
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wenn ein rational begründetes Systems keine Lösungen bringt. Mit der Kategorie des Pragmatismus würde ich nur bedingt arbeiten. Kordecki: Bei Ihrem Hinweis auf das Widerstandsrecht kommen mir Antigone und Sophie Scholl in den Sinn. Wie konnten die sich ihres Rechttuns so sicher sein? Isensee: Die bloße Überzeugung des Rechttuns genügt nicht und ist in ihrer Richtigkeit unsicher. Denn Überzeugungen sind höchst unterschiedlich. Wir haben die strafrechtliche Figur des Überzeugungs-, des Gesinnungstäters. Er ist eine besonders gefährliche Erscheinung. Der Terrorist ist der Prototyp des Überzeugungstäters, des idealistischen Verbrechers: idealistisch, weil er einem Ideal folgt, dem er sich selber opfert, verbrecherisch, weil auf Kosten anderer, die er in Schrecken zu halten sucht. Dazu ein Bonmot von Oskar Wilde: „Unsinn wird nicht dadurch zu Sinn, dass einer dafür stirbt“. Wenn wir von Naturrecht reden, wird eine verschwisterte Idee angepeilt, die Idee der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls. Die Realisierung wird aber der Vernunftkontrolle überlassen. Insoweit enthält Naturrecht immer einen Trend zum System. Das System kann allerdings die Ideen, denen es entspringt, nie ganz aufzehren. Und dieses System wird in jeder geschichtlichen Situation neu entwickelt. Aristoteles hatte andere Vorstellungen als Thomas von Aquin, die spanischen Scholastiker wiederum andere als ihr dominikanisches Vorbild im Hochmittelalter. Die Naturrechtsdenker des 17. und 18. Jahrhunderts, Grotius, Pufendorf u.a., gingen von ganz bestimmten rationalistischen Prämissen aus. Alle aber strebten letztlich an, dass ihre Konstrukte sich in positives Recht verwandeln. Was vorher philosophisch diskutabel war, sollte nunmehr verbindlich und autoritativ durchsetzbar sein. Das zeigen die großen Kodifikations-Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts, in die die Naturrechtsysteme eingebracht wurden, etwa das Preußische Allgemeine Landrecht und der Code civile. Nichts anderes gilt für die zündende Naturrechtsidee der Moderne: die Menschenrechte. Am Anfang philosophisches Postulat, dann Gegenstand von Deklarationen und Proklama-
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tionen, entwickelten sich seit dem 18. Jahrhundert zu positivrechtlichen Normen. In deren immer weiterer Gestalt ist die Uridee dann letztlich im Einzelnen nicht mehr erkennbar. Die Idee strebt also nach Positivierung, um Wirkung zu erzielen. Ist sie positiviert, gewinnt sie eine Eindeutigkeit, die sie wieder in ganz anderer Weise kritisierbar macht: Ihre Fundierung lässt sich in Zweifel ziehen. Manche Metastasen der Menschenrechtsidee sind ja heute allseits spürbar. Ich denke etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, an das Frauenrecht auf Abtreibung. Gegen das Positivierte wird dann wiederum mit vorrechtlichen Überzeugungen argumentiert. Je konkreter also, um so geschichtlicher und bedingter wird die Idee des Naturrechts. Ist Naturrecht erfolgreich in positives Recht umgesetzt, teilt es seinerseits das Schicksal des positiven Rechts. Insofern gibt es nicht nur die ewige Wiederkehr des Naturrechts, sondern auch die ewige Wiederkehr der Positivität – Folge der Tendenz des Naturrechts, positiv-rechtliche Gestalt anzunehmen. Dr. Lothar Häberle: In der Erklärung zur Religionsfreiheit hat die Katholische Kirche zwischen sich und dem Staat unterschieden: Der Staat ist nicht für die Wahrheit zuständig, sondern für den Rahmen, in dem jeder um die Wahrheit ringen und sie suchen soll. Sie wird nicht vom Staat definiert. Darf sich Thomas Hobbes posthum etwas bestätigt fühlen? Isensee: Die Erklärung über die Religionsfreiheit bringt zweifellos eine Wende in die Einstellung der Katholischen Kirche zum modernen Staat und zu den liberalen Menschenrechten. Sie hat im 18. und 19. Jahrhundert im Kampf gegen die modernen Ideen die Maxime vertreten: „keine Freiheit für den Irrtum“. Der Satz von Augustinus gewann große politische Bedeutung. In einem langen Prozess, der schließlich im II. Vatikanum zum Abschluss kam, hat die Kirche sich mit dem empfindlichsten Punkt des Dissenses, der Religionsfreiheit für alle und der Gewissensfreiheit für jedermann, versöhnt und zugleich die richtige Distinktion gefunden, die Päpste wie Gregor XVI. und Pius IX. nicht gefunden hatten, dass nämlich der Staat sich nicht mit letzten Wahrheiten identifiziert, aber den Rahmen gibt, inner-
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halb dessen der einzelne nach bestem Wissen und Gewissen den Weg zur Wahrheit sucht, letzteres aber auf Grund der religiösen Grundpflicht des Einzelnen, an der erkannten Wahrheit festzuhalten. Diese Grundpflicht zur Wahrheit ist im Gewissen verankert, nicht aber im staatlichen System. Der Staat schafft nur die Rahmenbedingungen. Diese Distinktion, in der die Kirche ihren Kernanspruch in den modernen Staat einbringt, bedeutet: Die Kirche ist nicht neutral; sie identifiziert sich mit letzter Wahrheit, wie sie sie versteht, auch wenn sie Spielräume belässt. Bleibt folglich die Frage, was nun einheitsstiftend, identitätsbegründend ist und was nur zu den Akzessorien gehört. Hier hat die Kirche heikle Lehren aus den letzten Jahrhunderten ziehen müssen. Aber eines muss klar sein: Gewisse theologische Richtungen von heute, die die Regeln, die für den Staat gelten, auf die Kirche übertragen wollen, mißdeuten diese Unterscheidung. Die Kirche legitimiert sich aus ihrem Wahrheitsanspruch, der Staat legitimiert sich aus seiner Freiheitsgarantie, die er jedermann bietet. Die Kirche aber versteht sich nicht als „Kirche der Freiheit“ – auch wenn das nicht ökumenisch korrekt klingen mag – sondern als die Kirche Jesu Christi. Prof. Dr. Lothar Roos: Eine heftig geführte Diskussion über die Enzyklika caritas in veritate (CV) geht um die Frage, ob sie auf das Naturrecht Wert legt oder im Gegenteil die Auffassung vertritt, wir bräuchten das Naturrecht heute gar nicht mehr. Man trifft auch auf die Kritik, dass Benedikt XVI. diesen altmodischen Begriff des Naturrechts noch verwendet. Auf der anderen Seite formulierte Kardinal Cordes, die Enzyklika habe die katholische Soziallehre vom Kopf des Naturrechtes auf die Füße des Glaubens gestellt. Kardinal Cordes meint, dass durch die menschgewordene Liebe Gottes in Christus sich der Mensch überhaupt erst begreifen kann. Die Liebe Gottes beginnt mit der schöpferischen Liebe, aus der wir unser Sein haben. Dieses unser von Gott geschaffene Sein verweist auf die Natur des Menschen. So heißt es in CV 59: „In allen Kulturen gibt es besondere und vielfältige ethische Übereinstimmungen, die Ausdruck derselben menschlichen, vom Schöpfer gewollten Natur
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sind und die von der ethischen Weisheit der Menschheit Naturrecht genannt wird. […] Die Zustimmung zu diesem in die Herzen eingeschriebenen Gesetz ist daher die Voraussetzung für jede konstruktive soziale Zusammenarbeit.“ Gegenüber dem von Hans Küng propagierten Dialog der Religionen sieht man den alternativen Ansatz bei Benedikt, der an anderer Stelle sagt, die Religionen könnten sogar ein Hindernis auf dem Weg zur Einheit der Menschheit darstellen. Die Frage also: Hat Benedikt Recht damit, dass wir eine Grundlage für den Dialog und den Umgang der Kulturen und Religionen miteinander in der gemeinsamen Menschennatur finden können? Isensee: Hier wird man zunächst einmal fragen: Wer ist Adressat der Päpstlichen Enzyklika? Ist das der Kreis der katholisch Gläubigen oder ist es eigentlich die Menschheit? Die Enzyklika geht über den engeren Kreis hinaus. Also kann sie sich nicht allein auf spezifische Offenbarungsgehalte beziehen. Und soweit sie auf Offenbarungsgehalte zurückgreift, müssen diese in einer Weise vermittelt werden, die allseits verstehbar, also auch befolgbar werden können, mindestens zumutbar sind. Die hergebrachten Prinzipien der Katholischen Soziallehre wie Subsidiarität und Solidarität sind Prinzipien, die aus dem Fundus der allgemeinen Vernunft gezogen sind. Versuche, diese zurückzubeziehen auf irgendwelche Schriftstellen, haben alle – mit Verlaub – etwas Krampfhaftes. So ist denn auch letztlich die kirchliche Verkündigung von sozialen Botschaften immer eine Verkündigung, die zwar vom Glauben ausgeht, aber sich doch der Vernunft bedient. Und wenn es je einen Papst gegeben hat, der das Zusammenwirken von Glaube und Vernunft zur Prämisse seiner Lehren wählt, dann ist das der jetzige Papst. Er hat sich zu eigen gemacht, was Anselm von Canterbury einmal „Fides quaerens intellectum“ nannte: der Glaube sucht nach Vernunft. Heute, wo Naturrecht auch in Mißkredit geraten ist, mag es unklug sein, sich darauf zu berufen. Aber es ist klug, sich auf die Vernunft des Menschen zu berufen, der ja das Naturrecht letztlich entspringt. Es ist doch von der Vernunft einsehbar und zwar ohne notwendige Vermittlung von Glaubenssätzen. Hier gilt also ein sowohl als auch. Ich halte ein entweder oder für müßig. Die Darstellung zumal sollte danach streben, durch Ver-
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nunft auch ohne Glaubensakt begriffen zu werden. Der jetzige Papst hat das doch nun immer deutlich gesagt. Dr. Andreas Püttmann: Bei wenigen Themen ist man als cives et christianus so hin- und hergerissen wie bei diesem Konflikt zwischen Naturrecht und Positivismus. Soll man sich auf die eine oder andere Seite schlagen? Man sucht dann nach vermittelnden Haltepunkten. In den 1980er Jahren gab es den Quasi-Anspruch einer ökopazifistischen Wahrheit gegen Mehrheit. Nach dieser Erfahrung „ökopazifistischen Naturrechts“ scheue ich mich, überhaupt noch vorgängige Wahrheiten zu behaupten. Wäre die Radbruch’sche Formel so ein vermittelnder Haltepunkt? Radbruch sagt, zunächst einmal habe die einzelne Norm auf Grund ihrer schieren Gesetztheit die Vermutung für sich, auch Gehorsamsanspruch zu erheischen. Das sei aber nur denkbar bis zu einer gewissen Grenze. Gerate das übernatürliche Recht zu positivem Recht in einen Widerspruch, der die Grenze überschreite, verliere das positive Recht sozusagen seine Gültigkeit. Die Formulierung zeigt schon, dass man auch da in eine Aporie gerät, aber es ist zumindest mal ein Versuch, beide Positionen zu vermitteln. Isensee: In der modernen Gesellschaft ist der bestimmende Maßstab zunächst einmal die Legalität des positiven Rechts. Meistens wird es sich als unerläßlich erweisen, dem zu folgen, zumal ein erheblicher Teil der Normen technischen Charakter haben. Aber auch dort, wo sie ins Ethische stoßen, wird man größte Vorsicht walten lassen. Immerhin sieht es im Rechtsstaat ja auch das positive Recht vor, dass Konflikte mit dem Gewissen des Einzelnen tunlichst zurückgedrängt werden. Zudem verlangt das Recht des Verfassungsstaates nicht Gesinnung. Es verlangt nur äußeres Verhalten. Unrecht muss in gewissem Maße allgemein einsehbar, es muss eine überindividuelle Vernünftigkeit vorhanden sein. In verbleibenden Konflikten besteht das Schwierige darin, dass es keinen gemeinsamen Richter gibt, der zwischen dem Abweichler und der staatlichen Ordnung entscheidet – vorausgesetzt natürlich, die innerstaatlichen Vorkehrungen der Gewaltenteilung, des Rechtsschutzes, usw. sind erschöpft. Diese Situation
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hatte nicht erst Radbruch vor Augen. Bereits John Locke, der Vater des modernen Rechtsstaates, hat sie bedacht. Er geht davon aus, dass man sich durch Gesellschaftsvertrag in eine staatliche Ordnung begibt und einen Teil seiner Freiheit um des friedlichen Zusammenlebens willen opfert – aber nur soviel, wie unerläßlich ist. Trotz Gewaltenteilung, die er vorsah, gibt es immer noch Raum für Konflikte, in denen sich zeigt, dass ein nicht-staatliches, ungesichertes, unfriedliches Leben das geringere Übel ist gegenüber einer despotisch-ungerechten Ordnung. Locke definierte als erster das Problem, das darin liegt, dass es in dem Konflikt keinen gemeinsamen Richter gibt, der unbefangen entscheidet zwischen dem Dissenter, der sich auf Gerechtigkeit und Naturrecht beruft, und der staatlichen Ordnung, die ihren Ordnungsanspruch verteidigt und sich ihrerseits auf Naturrecht und Gerechtigkeit beruft. Im Unterschied zu Hobbes’ ist Lockes Lösung nicht, dass man dann schweigenden Gehorsam übt, sondern dass man in diesem äußersten Fall an Gott appelliert. Und dieser Appell bedeutet, dass heiliger Ernst und strengste Gewissensprüfung walten muss. Triebkraft darf also nicht Aufgeregtheit, Fanatismus, modische Widerstandsattitüde sein, die wir als Volk der verspäteten und nachträglichen Widerstandskämpfer ja so lieben. Die Gedanken von Locke findet man in poetischer Übersetzung in der Rütli-Szene des Wilhelm Tell, in der die Schweizer Eidgenossen einander prüfen, ob sie diesen Widerstand gegen die Herrschaft der Habsburger ausüben können, „wenn der Bedrängte nirgends Recht kann finden, wenn übermäßig wird die Macht“. Dann gilt der Rückgriff auf die „ewigen Gesetze die droben hangen, unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst“. Das ist der Appell an Gott. Dann erst – das ist das Problem, so bei Locke, so bei Schiller, „kehrt der alte Urstand der Natur wieder, wo Mensch dem Menschen gegenübersteht“. Das ist kein Idyll, das ist eine Schreckenswelt, in der es keinen staatlichen Friedensgaranten und in der es kein positives Recht gibt. Dann eben kann man gegebenenfalls sogar zur Gewalt greifen. Aber das sind extreme Lagen. Der normale Gesinnungstäter, der Terrorist, kann sich darauf nicht berufen. Im übrigen stehen alle Maßnahmen unter dem
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Gebot der Güterabwägung. Man muss prüfen, ob das Übel, das man erleidet, wirklich so viel größer ist als das Übel, das man bewirkt. Das liegt insbesondere dann vor, wenn man das Gewaltmonopol des Staates aufkündigt. Püttmann: Protestanten scheinen deutlich weniger das Naturrecht zu vertreten als Katholiken. Es mag sein, dass dann anderes die Lücke füllt, z.B. – wenn ich an Karl Barth denke – Berufung auf die Königsherrschaft Christi, um von hier aus absolute Forderungen zu formulieren. Ein Einwand lautet dann allerdings, das Problem seien die Vizekönige. Sind in der Diskussion aus Ihrer Sicht auch konfessionelle Spezialitäten von Belang? Isensee: Das protestantische Element rührt wohl aus einer Tradition, die die Erbsündigkeit des Menschen extrem betont. Damit wird die Einsichtsfähigkeit der Natur in einem hohen Grade angezweifelt. Ein solch anthropologischer Pessimismus findet dann keinen Weg zu einem Naturrecht. Die menschliche Vernunft ist so getrübt, dass sie sich die relative Gewissheit vorpositiver Äußerungen nicht zutrauen darf. Folge ist die letztlich vorbehaltlose Unterwerfung unter das staatliche Recht. Das ist eine lutherische Tradition, die in Deutschland besonders wirksam ist. Sie kann aber auch in das Gegenteil umschlagen: in unvernünftigen, permanenten Widerstand, in dem man sich gegenüber der Institution selbst bestätigt. Ein Mittelweg zwischen Skylla und Charybdis ist der Versuch, eine Balance zu finden zwischen dem Vernunftvertrauen einerseits und andererseits dem Wissen um die Erbsündigkeit der menschlichen Natur wie auch um die Unsicherheit, die allem Entscheiden unter den Bedingungen der Ungewissheit unvermeidlich anhaftet. Aber diesen Mittelweg nenne ich eigentlich den katholischen. Dr. Hans Thomas: Wo ist der Ort der Gerechtigkeit? Die erwähnte kindliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist wohl die Erwartung einer konkreten Person gegenüber, die eben gerecht ist, urteilt und handelt. Im Kontext des Rechtsstaates ist dies eine institutionelle Fragestellung. Eine persönliche Qualität – oder sagen wir Tugend – zu übersetzen in die Erwartung an
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ein System der Staatsordnung birgt Risiken. Tugend basiert auf freiwilligen Handlungen, Gesetze haben Zwangscharakter. Lässt sich das Verhältnis von Gerechtigkeit als Tugend und als Gesetzesnorm präziser verdeutlichen? Isensee: Die Antike sah Gerechtigkeit in erster Linie als Tugend. Tugend, die der einzelne übte, der die Sache des Rechts verinnerlichte, der sie lebte und nach außen auch verwirklichte. Das haben wir auch im Sprachgebrauch noch bewahrt, wenn wir vom gerechten Richter, gerechten Prüfer, gerechten Verwalter sprechen. Gleichwohl haben sich die Akzente verschoben. Völlig neu ist daran aber nichts. Auch die Tugend der Gerechtigkeit war im Blick auf Normen gedacht. Die Idee ist von je her geläufig. Heute versteht man Gerechtigkeit – nicht ausschließlich, aber primär – als eine staatliche Vorleistung über seine Gesetze, als Vorleistung eines Arbeitgebers oder irgendeiner Institution und nicht eigentlich als die Leistung, die jedermann gegenüber jedermann zu erbringen hat. Aber beides hängt zusammen. Beides ist aufeinander angewiesen. Man kann das eine nicht gegen das andere ausspielen, vor allem kann man nicht etwa die Tugend als das Höhere nehmen. Die Tugend kann nur existieren im Blick auf Normen, die ihr vorausliegen. Es bleibt die Frage, wo in der Verfassung der Sitz der Gerechtigkeit ist. Das ist gar nicht so einfach. Im Grundgesetz wird man an einigen Stellen das Wort Gerechtigkeit lesen, zum einen in den Eiden, die der Bundespräsident, der Bundeskanzler und die Bundesminister zu leisten haben, Gerechtigkeit gegenüber jedermann zu üben. Dann findet sich in Art. 1 Abs. 2 das Wort Gerechtigkeit: Das deutsche Volk bekennt sich zu den Menschenrechten als Grundlage der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt. Ist damit die Gerechtigkeit eine Norm des Grundgesetzes geworden, so wie das Wahlrecht oder die Meinungsfreiheit oder gar das Recht der Bundestagsabgeordneten auf Freifahrt mit der Bahn? Natürlich nicht. Hier verweist das Grundgesetz auf eine Metaebene. Hinter der Verfassung haben wir eine Meta-Verfassung. Das gleiche gilt für die Idee des Gemeinwohls. Auch wenn diese Ideen im Text hier und da aufscheinen, sind sie damit nicht positiviert. Sie werden als Ideen in Erinnerung gebracht, die hinter
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dem Grundgesetz stehen. Denn was an Grundrechten auf allen möglichen staatlichen, kontinentalen und globalen Ebenen zu Papier gebracht ist, ist ja schon die Positivierung der Idee der Menschenrechte. Das Bekenntnis der positiven Verfassung zu dieser Idee macht damit deutlich, dass sie nicht autark sein will. Trotz Nennung des Positiven im Text ist es ein Triumph des Vorpositiven über das Positive. Das war im Jahr 1949 leichter zu begreifen als heute, wo der Verfassungspositivismus sich bereits in den Verfassungsgerichts-Positivismus verwandelt hat. Das Grundgesetz gibt zu erkennen, zumal in der Berufung auf die Verantwortung vor Gott, dass es nicht perfekt, nicht autark sein will, sondern dass hinter ihm Ideen stehen, denen es sich unterwirft. Das wiederum bedeutet, dass auch seine Auslegung – wie jede Normauslegung – diesen Ideen verpflichtet ist. Keine Norm ist so perfekt, dass sie ohne das Ethos des Interpreten auskommt. Der Interpret wiederum braucht diese regulativen Ideen, an denen er sich orientiert. In welchem Teil der Verfassung steckt die Gerechtigkeit? Positivrechtlich steckt sie, soweit sie das Leitbild des richtigen Rechts ist, im Rechtsstaatsprinzip. Rechtsstaat ist Form und Verfahren. Gerechtigkeit ist auch Substanz, Leitbild der Demokratie: Teilhabe von jedermann an der Herrschaftsausübung und der Legitimation aus dem Willen des Volkes. Damit geht die Vorstellung einher, dass die Herrschaft durch das Volk Herrschaft für das Volk ist. Ferner meint das Prinzip des Sozialen einen Faktor von Gerechtigkeit. So missbrauchsanfällig und rhetorisch abgenutzt soziale Gerechtigkeit auch sein mag: sie, die im Grundgesetz nur in einem Adjektiv zum Ausdruck kommt, ist ein wesentliches Element der Gerechtigkeit. Ihre Realisierung ist indes dem Gesetzgeber überlassen. Das heißt, man trifft überall auf sie. Aber noch einmal: Diese Ideen ersetzen nicht das positive Recht. Das gilt auch für die Idee des Gemeinwohls. Man darf sich auf das eine wie das andere nicht voreilig berufen. Um vorsichtig mit den höchsten Ideen umzugehen, sollte man sich vom vielgeschmähten Carl Schmitt warnen lassen. Als er von Josef Pieper gefragt wurde, warum er denn trotz seiner katholischen Herkunft nie vom Gemeinwohl gesprochen habe, antwortete er: „Wer Gemeinwohl sagt, will betrügen“.
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Fernando Simón Yarza: Manchmal stehen heute die Menschenrechte quasi synonym für Naturrecht. Sind sie dafür nicht zu individualistisch oder subjektivistisch imprägniert? Menschenrechte bezeichnen subjektive Rechte des einzelnen. Im Naturrechtsdenken gilt der Vorrang der Wahrheit und der Sache. Isensee: Wenn Sie die Nähe von Naturrecht und Menschenrechten in Frage stellen, haben Sie ein ganz bestimmtes Bild vom Naturrecht. Zum Naturrechtverständnis in der aristotelischen Tradition – etwa bei Thomas von Aquin – gehört ein universalistisches Weltbild. Es geht vom Ganzen aus. Auch das von der Person des je einzelnen Menschen ausgehende Naturrecht hat Anspruch darauf, Naturrecht zu sein, wenngleich ein ganz anderer Ansatz zugrundeliegt. Die moderne Welt ist eben sehr stark individualistisch geprägt. Es gibt kein Naturrechtsmonopol des Thomas von Aquin. Ein universalistisches Bild des Naturrechts, wie es der aristotelischen Tradition entspricht und sich bei Thomas erneuert, findet seine moderne und genialste Verkörperung bei Hegel, dem größten Aristoteliker. Aber das ist nicht der breite Strom. Der Moderne empfehle ich, den landläufigen Individualismus nicht zu ignorieren. Naturrecht birgt einen breiten Fächer von Denkmöglichkeiten eines Leitbilds für das richtige positive Recht kraft menschlicher Vernunfteinsicht und menschlicher Erfahrung. Das aber ist eine unabgeschlossene und unabschließbare Aufgabe, die jede Generation neu zu bewältigen hat.
Biographische Notizen Christoph Böhr, Dr. phil., geb. 1954 in Mayen/Eifel, verheiratet, Studium der Politikwissenschaften, Germanistik, Philosophie, Neuere Geschichte. Neben wissenschaftlicher Tätigkeit Kommunalpolitik (CDU), 1983-89 Bundesvorsitzender der Jungen Union, 1988 CDU-Fraktionsvorsitzender in Trier, 1987-2009 MdL Rheinland-Pfalz:,1994-2006 Fraktionsvorsitz, 1997-2006 CDULandesvorsitzender, 1999-2006 Vorsitzender der Wertekommission und 2002-06 stellvertretender Vorsitzender der Bundes-CDU. 2007 Vorsitzender der Deutschen Cusanus-Gesellschaft. Seit 2008 Lehrbeauftragter an der Heinrich-Heine-Univiversität Düsseldorf. Zahlreiche philosophisch-politische Veröffentlichungen. Johannes Hattler, Dr. phil., geb. 1974 in Würzburg, verheiratet, drei Kinder. Studium der Philosophie, Soziologie und Philosophie der Naturwissenschaften in Bierbronnen und Freiburg; 2004 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Freiburg. Anschließend tätig als stellvertretender Geschäftsführer und Organisationsleiter in Kevelaer, seit 2006 Wissenschaftlicher Referent am Lindenthal-Institut in Köln mit den Schwerpunkten Wissenstheorie, Allgemeine und Angewandte Ethik. Josef Isensee, Professor Dr. iur., Staatsrechtler und Staatsphilosoph, geb. 1937, Studium der Rechtswissenschaft und Philosophie in Freiburg im Breisgau, Wien und München., 1962-70 wissenschaftlich tätig an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, dort 1967 promoviert zum Dr. iur. („Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht: eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft“, 2. Aufl. 2001), 1970 habilitiert mit Lehrberechtigung für die Fächer Staats- und Verwaltungsrecht sowie Steuerrecht. 1971 Lehrstuhl für Staatsund Verwaltungsrecht III der Universität des Saarlandes, 1975 bis zu seiner Emeritierung am 1. August 2002 Professor am Institut für Öffentliches Recht an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Im Wintersemester 2002/2003 war er Gastprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, im Wintersemester 2003/2004 Gastprofessor an der Freien Universität Berlin.
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Stefan Mückl, Professor Dr. iur., geb. 1970 in Hechingen. Studium in Passau und Freiburg im Freiburg (Stip. Bayer. Begabtenförd.), 1995 Erstes, 1999 Zweites Juristisches Staatsexamen, 1998 Promotion zum Dr. iur. in Freiburg; 1995-99 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, 1999-2005 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Öffentliches Recht; 2005 Habilitation: Lehrbefugnis für Deutsches und Ausländisches Öffentliches Recht, Kirchenrecht, Europarecht. 2008 Ernennung zum apl. Professor Rechtswissenschaft an der Universität Freiburg. Forschungsgebiete: Staatsund Verwaltungsrecht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Europarecht, Europäisierung der nationalen Rechtsordnung, Staatskirchenrecht, Kirchenrecht. Tilman Repgen, Professor Dr. iur., geb. 1964 in Saarbrücken, verheiratet, zwei Kinder. Studium in Trier und Köln, Referendarexamen 1990 in Köln, Assessorexamen 1994 in Düsseldorf, Promotion 1993 und Habilitation 2000 in Köln bei Prof. Dr. Klaus Luig; venia legendi für Bürgerliches Recht, Römische und Deutsche Rechtsgeschichte. Nach Lehrstuhlvertretungen in Mainz, Tübingen und Augsburg seit April 2002 Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit und Bürgerliches Recht an der Universität Hamburg. Martin Rhonheimer, Professor Dr. phil., geb. 1950 in Zürich. Studium der Geschichte, Philosophie, der Politischen Wissenschaften und der Theologie in Zürich und Rom. Promotion in Philosophie an der Universität Zürich bei Hermann Lübbe, dessen Assistent er von 1972-1978 war. 1983 Priesterweihe. Seit 1990 Professor für Ethik und Politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Verfasser einer großen Zahl wissenschaftlicher Publikationen, darunter mehrere Bücher, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Manfred Spieker, Professor Dr. phil., geb. 1943 in München, verheiratet, sechs Kinder. Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte an den Universitäten Freiburg, Berlin und München. 1968 Dipl.-Politologe an der Freien Universität Berlin. 1973 Promotion zum Dr. phil. in München. 1982 Habilitation für das Fach Politische Wissenschaft an der Universität Köln. Seit 1983 Professor für Christliche Sozialwissenschaften an
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der Universität Osnabrück. Gastprofessuren in Erfurt, Valparaiso/Chile, Santiago de Chile und Vilnius. 1995-2001 Beobachter des Hl. Stuhls im Lenkungsausschuss für Sozialpolitik des Europarates sowie bei Konferenzen der Sozialminister des Europarates. 2002-2007 Präsident der Association Internationale pour l’Enseignement Social Chrétien (AIESC). Hans Thomas, Dr. med., geb. 1937 in Aachen. Studium der Medizin und Philosophie in Bonn, Düsseldorf und Wien. 1966 Promotion in Bonn (Neuropathologie). 1967-86 ehren- u. hauptamtliche Engagements in Bildungs- und Wissenschaftsförderung. 1973 Mitgründer, seitdem Direktor des Lindenthal-Instituts in Köln (interdisziplinäre Forschung zu Wissenstheorie, Ethik in der Medizin, Anthropologie der Arbeit). 1977 Mitgründer und Geschäftsführer des Rhein-Donau-Stiftung e.V. (Hilfsprojekte in Entwicklungsländern, vor allem im Bildungssektor). Vorstandstätigkeit in weiteren Hilfsorganisationen und Stiftungen. Berthold Wald, Professor Dr. phil., geb. 1952 in Wipperfürth, verwitwet, 3 Kinder. Studium der Philosophie, Germanistik, Pädagogik, Katholische Theologie in Freiburg und Münster. 1986 Promotion in Philosophie, anschließend wissenschaftlicher Assistent, 1992-98 Lehrbeauftragter in Münster, 1996 Gastprofessor an der Lateranuniversität in Rom. 2002 Habilitation und Professor für Systematische Philosophie an der PhilosophischTheologischen Fakultät in Paderborn. Seit 2010 Rektor der Theologischen Fakultät Paderborn. Herausgeber der Gesamtwerke Josef Piepers.
Das Lindenthal-Institut Das Lindenthal-Institut ist ein privates wissenschaftliches Institut. Es widmet sich interdisziplinären Forschungen in den Bereichen/Sektionen: * * * *
Wissenstheorie (z.B. Naturwissenschaft/Philosophie) Ethik (insbesondere Ethik in der Medizin, Bioethik) Kultur der Arbeit (einschließlich Wirtschaftsethik) Familie, Demografie, Familienpolitik
und in angrenzenden Gebieten. Zur laufenden Tätigkeit gehören Expertengespräche, Fachtagungen, internationale Colloquien sowie eigene Buchveröffentlichungen. Außerdem veröffentlichen Mitarbeiter und Mitwirkende im eigenen Namen. Auf Wunsch von Interessenten veranstaltet das Institut ergänzend Seminare und Arbeitskreise für Ärzte, Medienschaffende, Leitende in Unternehmen sowie für Studierende, in denen Themen aus den Arbeitsgebieten des Instituts vermittelt und vertieft werden. Hier will das Institut auch motivieren. Es bietet jungen Köpfen eine Möglichkeit, neben dem offiziellen Wissenschafts- und Bildungsbetrieb anthropologische Grundfragen zu stellen, miteinander zu denken und nach zukunftsweisenden Antworten auf drängende Fragen der Gegenwartskultur zu suchen. Nach Überzeugung der Institutsleitung wachsen zukunftsfähige Antworten aus christlichen Wurzeln. Das Institut verdankt sich der Initiative eines Freundeskreises von Hochschullehrern und Hochschulangehörigen, die es 1973 ins Leben riefen. Das Institut finanziert sich durch Spenden von Freunden und Förderern. Es ist weder konfessionell festgelegt, parteilich gebunden noch einer Interessengruppe verpflichtet. Träger des Instituts ist die Lindenthal Stiftung (Köln).
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Das Lindenthal-Institut
Direktor des Instituts Dr. Hans Thomas
Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. phil. Alberto Gil, Saarbrücken (Sprache/Kommunikation) Prof. Dr. med. Gerhard van Kaick, Heidelberg (Medizin) Prof. Dr. iur. Winfried Kluth, Halle (Staats-/Verf.-Recht) Prof. Dr. iur. Adolf Laufs, Heidelberg (Medizinrecht) Prof. Dr. phil. Nikolaus Lobkowicz, Eichstätt (Polit. Philos.) Prof. Dr. phil. Thomas M. Osborne, Houston (Philosophie) Prof. Dr. phil. Horst Pietschmann, Hamburg (Geschichte) Prof. Dr. phil. Manfred Spieker, Osnabrück (Christl. Sozialwiss.)
Vorstand der Lindenthal Stiftung Prof. Dr. Manfred Spieker, Präsident Dr. Ruthard von Frankenberg, Generalsekretär Dr. Hans Thomas, Geschäftsführer Dr. Johannes Hattler
Anschrift des Instituts Friedrich-Schmidt-Straße 20a 50935 Köln (Lindenthal) Tel.: +49 (0)221 40 10 92 Fax: +49 (0)221 40 60 588 [email protected] www.lindenthal-institut.de
Das Lindenthal-Institut
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Publikationen Glaube und Gesellschaft Gefährden unbedingte Überzeugungen die Demokratie? Hans Thomas / Johannes Hattler(Hg.), Darmstadt: WBG 2009 Mit Beiträgen von: Rocco Buttiglione, Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Lothar Häberle, Christian Hillgruber, Winfried Kluth, Walter Schweidler, Robert Spaemann, Hans Thomas
Ethik im Dienst der Unternehmensführung Hans Thomas / Johannes Hattler (Hg.), Marburg: Metropolis-Verlag 2008 Mit Beiträgen von: Franz Borgers, Antonio Argañdona, Ursula SchützeKreilkamp, Ludwig Engels, Horst Albach, Mª Nuria Chinchilla, André Habsich, Carlos Cavallé, Joanne B. Ciulla
Ärztliche Freiheit und Berufsethos Hans Thomas (Hg.), Dettelbach: Verlag J.H. Röll 2005 Mit Beiträgen von: Edmund D. Pellegrino, Jörg-Dietrich Hoppe, Adolf Laufs, Nikolas Matthes, Winfried Kluth, Christian Hillgruber, Hans Thomas, Robert L. Walley, John Keown, William B. Hurlbut, Gerhard van Kaick
Ontologie und Metaphysik Rafael Hüntelmann / Erwin Tegtmeier (Hg.), St. Augustin: Academia Verlag 2000 Mit Beiträgen von: Kevin Mulligan, Johanna Seibt, Uwe Meixner, Herbert Hochberg, Reinhardt Grossmann, Bojan Borstner, Erwin Tegtmeier, Käthe Trettin
Die Lage der Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts Hans Thomas (Hg.), Dettelbach: Verlag J.H. Röll 1999 Mit Beiträgen von: Boris Groys, Eduard Beaucamp, Fernando Inciarte
Wirklichkeit und Sinnerfahrung Grundfragen der Philosophie im 20. Jahrhundert Rafael Hüntelmann (Hg.), Dettelbach: Verlag J.H. Röll 1998 Mit Beiträgen von: Bernhard Braun, Wolfhart Henckmann, Rafael Hüntelmann, Karl-Heinz Lembeck, Uwe Meixner, Erwin Schadel, Georg Scherer, Erwin Tegtmeier
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Das Lindenthal-Institut
Kondratieffs Zyklen der Wirtschaft An der Schwelle neuer Vollbeschäftigung? Hans Thomas / Leo A. Nefiodow (Hg.), Herford: Verlag BusseSeewald 1998 Mit Beiträgen von: Werner Dostal, Christopher Freeman, Wolfgang Glaubitz, Ernst Helmstädter, Alfred Kleinknecht, Francisco Louçâ, Harry Maier, Cesare Marchetti, Rainer Metz, Leo A. Nefiodow, Carlota Perez, Jan Reijnders, Winfried Schlaffke, Hans Thomas, Bernardo M. Villegas, Helmut Volkmann
Bevölkerung, Entwicklung, Umwelt Hans Thomas (Hg.), Herford: Verlag BusseSeewald 1995 Mit Beiträgen von: Lord Peter Bauer, Herwig Birg, Jean-Claude Chesnais, Gérard-François Dumont, Jesus P. Estanislao, François Geinoz, Sankaranarayana Gireesan, Wolfgang Rothenberger, Josef Schmid, Julian L. Simon, Gunter Steinmann, Hans Thomas, Michel Tricot
Das zumutbare Kind Hans Thomas / Winfried Kluth (Hg.), Herford: Verlag BusseSeewald 1993 Mit Beiträgen von: Karin Graßhof, Karl Heinrich Friauf, Manfred Spieker, Peter Lerche, Udo Steiner, Winfried Kluth, Wolfram Höfling, Herbert Tröndle, Adolf Laufs, Ruth Esser, Michael Gante, G. Elizabeth M. Anscombe, John M. Finnis
Menschlichkeit der Medizin Hans Thomas (Hg.), Herford: Verlag BusseSeewald 1993 Mit Beiträgen von: Volker Diehl, Felix Ermacora, Luke Gormally, Gonzalo Herranz, Bernhard Kerdelhué, Winfried Kluth, Detlef Bernhard Linke, Markus v. Lutterotti, Hassan Nour Eldin, Jan Helge Solbakk, Robert Spaemann, Hans Thomas
Unternehmenskultur Leitbild der Darstellung oder Abbild der Einstellung Géza Czomós / Hans Thomas (Hg.), Herford: Verlag BusseSeewald 1992 Mit Beiträgen von: Albert Gil, Boris Groys, Augustinus Graf Henckel von Donnersmarck, Wolfgang Paul, Hans Thomas
Amerika Eine Hoffnung, zwei Visionen Hans Thomas (Hg.), Herford: Verlag BusseSeewald 1991 Mit Beiträgen von: Antonio Annino, Boris Groys, Georg Kamphausen, Anthony Pagden, Horst Pietschmann, Josep-Ignasi Saranyana, Walter Schweidler, Victor Tau Anzoátegui, Hans Thomas, Hermann Wellenreuther
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Naturherrschaft Wie Mensch und Welt sich in der Wissenschaft begegnen Hans Thomas (Hg.), Herford: Verlag BusseSeewald 1991 Mit Beiträgen von: Patrick Bahners, John S. Bell, Gottfried Küenzlen, Reinhard Löw, Peter Mittelstaedt, Günther Pöltner, Herwig Schopper, Dietmar Stehlik, Antoine Suarez, Hans Thomas, Anton Zeilinger
Chancen einer Kultur der Arbeit Abschied von der Entfremdung Hans Thomas (Hg.), Herford: Verlag BusseSeewald 1990 Mit Beiträgen von: Rafael Alvira, Franz Borgers, Rocco Buttiglione, Boris Groys, Georg Kamphausen, Josef Stingl, Hans Thomas
Die Welt als Medieninszenierung Wirklichkeit, Information, Simulation Hans Thomas (Hg.), Herford: Verlag BusseSeewald 1989 Mit Beiträgen von: Gianfranco Bettetini, Sir John C. Eccles, Boris Groys, Fernando Inciarte, Martin Kriele, Hans Thomas
Ethik der Leistung Hans Thomas (Hg.), Herford: Verlag BusseSeewald 1988 Mit Beiträgen von: Rocco Buttiglione, Boris Groys, Joseph Kardinal Höffner, Peter Koslowski, Martin Rhonheimer, Rolf Langhammer, Perez Lopez, Hans Thomas, Bernardo M. Villegas, Peter Zürn
Persönliche Verantwortung Peter T. Geach / Fernando Inciarte / Robert Spaemann Köln: Adamas-Verlag 1982
Familie – Feindbild und Leitbild José Manuel Fontes / Bernhard Hassenstein / Nikolaus Lobkowicz / Martin Rhonheimer Köln: Adamas-Verlag 1979
Recht auf Gerechtigkeit John M. Finnis / Otto Gritschneder / Antione Suarez Köln: Adamas-Verlag 1978
Der Mythos von der Überbevölkerung Colin Clark Köln: Adamas-Verlag 1975
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Das Lindenthal-Institut
Globale Gesellschaft und Zivilisation Elisabeth Anscombe / Peter Berglar / Colin Clark Köln: Adamas-Verlag 1975
Altes Ethos – Neues Tabu Viktor E. Frankl / Josef Pieper / Helmut Schoeck Adamas-Verlag, Köln, 1974
Die Herausforderung der Vierten Welt Joseph Kardinal Höffner / Fernando Inciarte / JérÔme Lejeune Köln: Adamas-Verlag 1973