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German Pages 270 [269] Year 2013
EHS
PEtEr Lang · Academic Research X XIII / 937
Theologie
Il-rye Lee, geboren 1965, ist Pastorin der Deashin Kirche in Seoul und Dozentin an der Seoul Theological University in Bucheon.
Il-rye Lee Lee · Der Streit um das Gottesbild des leidenden Israeliten
D
ie Arbeit untersucht die wichtige Rolle der Klagepsalmen für die Entwicklung des monotheistischen Glaubens an JHWH. Die Klagen der ausgewählten Psalmen sind nur selten als eine Möglichkeit angesehen worden, die zum Verstehen der Genese des Monotheismus und der Theodizeefrage beitragen könnte. Doch wenn man ihr Gottesbild untersucht wird deutlich, dass es vom Streit um die Göttlichkeit JHWHs geprägt ist. Sichtbar wird, dass ein von Not getroffener Mensch nicht nur seine Schreckensstarre als Reaktion auf die Gottesvorstellung der Feinde, sondern auch seinen Gotteszweifel überwindet, denn durch seine insistierende und unbeirrbare Treue zu JHWH entwickelt er ein neues Gottesbild. Dieses ist monotheistisch geprägt, und obwohl es die immanenten Linien der traditionellen Gottesvorstellung auszieht, geht es über sie deutlich hinaus.
ISBN 978-3-631-63852-1
Europäische Hochschulschriften
Der Streit um das Gottesbild des leidenden Israeliten Monotheismus und Theodizeefrage in ausgewählten Klagepsalmen des Einzelnen
www.peterlang.com
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ACADEMIC RESEARCH
Europäische Hochschulschriften European University Studies Publications Universitaires Européennes
Reihe XXIII Theologie Series X XIII
Theology
Série X XIII
Théologie
Band /Volume 937
Il-rye Lee
Der Streit um das Gottesbild des leidenden Israeliten Monotheismus und Theodizeefrage in ausgewählten Klagepsalmen des Einzelnen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 2012
D 294 ISSN 0721-3409 ISBN 978-3-631-63852-1 (Print) ISBN 978-3-653-02900-0 (E-Book) DOI 10.3726/978-3-653-02900-0
© Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2013 Alle Rechte vorbehalten. PL Academic Research ist ein Imprint der Peter Lang GmbH Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.peterlang.de
Für meinen Mann Young in
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde – unter dem Titel „Der Streit um das Gottesbild des leidenden Israeliten: Monotheismus und Theodizeefrage in ausgewählten Klagepsalmen des Einzelnen“ – im Wintersemester 2011/2012 an der RuhrUniversität Bochum als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung fand eine geringfügige Überarbeitung statt. Diese Arbeit hätte nicht ohne vielfältige Hilfe geschrieben werden können. An erster Stelle danke ich meiner Doktormutter, Frau Prof. Dr. Klara Butting. Sie hat mich herzlich und mit großer Geduld betreut und war auch stets bereit, kritisch auf meine Gedanken einzugehen. Es war für mich ein großes Glück, bei ihr lernen und promovieren zu dürfen. Frau Prof Dr. Beate Ego danke ich für ihr Zweitgutachten, und auch sie hat meine Arbeit interessiert und wohlwollend begleitet. Auch Herrn Prof. Dr. Frank Crüsemann gebührt Dank, da er mir den Anstoß gegeben hat, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ebenso danke ich dem Herausgeber Dr. Hermann Üblein für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe „Theologie“ der Europäischen Hochschulschriften. Besonders möchte ich Herrn Volker Sündermann-Gorland danken, denn ich habe bei der Korrektur meiner Arbeit große Hilfe von ihm erhalten. Auch den Mitgliedern der koreanischen Gemeinde in Paderborn (KEHC) gebührt Dank für ihre Liebe und Gebete. Und Dank gebührt auch Frau Kyung-Za Hutchinson (Kim) und Herrn Ulrich Jung, die das Leben meiner Familie während unserer Zeit in Deutschland liebevoll begleitet haben. Danken möchte ich auch Herrn Rev. Park, Hyun-Mo von der Deashin Kirche für den Druckkostenzuschuss und der KEHC möchte ich für ihr Promotionsstipendium danken. Mein Dank gilt auch meiner Mutter und meinen Geschwistern für ihre Liebe. Und großer Dank gilt natürlich auch meinen Kindern Yu-Kyung, Yu-Shin und Eun-Soh, die wegen meines Studium im Ausland leben mussten und das Ende meiner Arbeit geduldig abgewartet haben. Ich widme die Arbeit meinen Mann Young-In Kim, der mich trotz aller Schwierigkeiten immer wieder zur Arbeit ermuntert hat, indem er mir durch unsere Gespräche neue Gedankenwege eröffnete. Gloria in ecelsis Deo Seoul, im Winter 2012 Lee, Il-Rye
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Inhaltverzeichnis Einleitung A) Das Problem B) Zur Begründung der Auswahl von Ps 3; 38; 88 Exkurs: Ein Ein verwehrter Weg zur Einzigkeit Gottes C) Zum Forschungsstand: Theodizee und Entwicklung zum Monotheismus D) Interpretationsvoraussetzungen für das Thema I. Die Feinde im Klagepsalmen des Einzelnen 1. Zum Forschungsstand 2. Die gesellschaftlichen Verhältnisse im Spiegel des Klagepsalmen des Einzelnen 3. Chaotische Mächtigkeit in der Feindschilderung 4. Zu den Vergleichen und Metaphern Exkurs: Die Feindschilderng in Ps 22 als Beispiel 5. Ergebnis II. Not als zerbrochene Beziehung und eine religionsgeschichtliche Parallele zum Vergleich 1. Zum Hintergrund der Auseinandersetzung 2. Das Leidens- und Gottesverständnis im babylonischen Klagepsalm 3. Ergebnis III. Zusammenfassung
1 8 10 10 19 19 19 26 29 31 35 37 38 38 39 44 45
Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott A) Psalm 3: JHWH – als rettender Gott I. Der Text 1. Übersetzung 2. Der Aufbau des Psalms Exkurs: Die Theodizeefrage II. Schreckensstarre angesichts der Gottesvorstellung der Feinde: V. 2-3 1. Strukturanalyse 2. Inhaltliche Analyse a) Zur Funktion des Feindbegriffes: rc b) Die Gottesvorstellung der Feinde a) Die Vorstellung des persönlichen Gotts in der Gottesbezeichnung `Elohim b) Die Gottesvorstellung der Feinde III. Das Gegenbild in der Vertrauensaussage: V.4
48 48 48 48 51 54 54 56 56 58 59 62 64
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Inhaltsverzeichnis 1. Strukturanalyse 64 2. Inhaltliche Analyse 66 a) Wie ist hw"hy> als der eine Gott mit all dem Leiden verwoben? 66 b) Ein Weg zum Monotheismus 67 Exkurs: Der Zusammenhang zwischen der „JHWH-allein-Bewegung“ und der Familienfrömmigkeit 69 a) Die Funktion von JHWH in der „JHWH-allein-Bewegung“ und in der Familienfrömmigkeit Zusammenfassung 69 β) Die Erfahrung in der Exodusgruppe und im Lebensbereich der Familie 69 g) Deuteronomistische Reform und familiäre Religiosität 70 IV. Zusammenfassung 70 V. Das Gegenbild: Der leidende Mensch in der Heilgeschichte: V. 5-7 71 1. Die Erlösung vom Heiligen Berg: V. 5-6 71 a) Strukturanalyse 71 Exkurs: Zum Problem der Datierung von Ps 3 74 b) Inhaltliche Analyse 75 2. Der Heilszuspruch: V. 7 80 a) Strukturanalyse 80 b) Inhaltliche Analyse 82 VII. Zusammenfassung 83 VIII. Das Gegenbild in der Erfahrung des Beters: V. 8 85 1. Strukturanalyse 85 2. Inhaltliche Analyse 90 a) Ein Weg zum Monotheismus 91 b) Die Theodizeefrage an JHWH 93 IX. Das Gottesbild in der Segenszuwendung: V. 9 95 1. Der Kontext 95 2. Strukturanalyse 96 3. Inhaltliche Analyse 98 X. Zusammenfassung 100 XI. Ergebnis: Theodizee und Monotheismus des leidenden Beters 100 B) Psalm 38: JHWH – der eine Gott – Der Weg zum Leben durch das Sündenbekenntnis – 103 Vorbemerkung 103 I. Der Text 103 1. Übersetzung 103 2. Der Aufbau des Psalms 105 II. Der erste Rahmenteil V. 2-10: Schreckensstarre vor dem Leiden 107 1. Wie ist hw"hy> als der eine Gott mit all dem Leid verwoben? 109 a) Unbeirrbare Treue zu Gott: V. 2 und 10 109
Inhaltsverzeichnis a) Strukturanalyse b) Inhaltliche Analyse b) Die Theodizeefrage in V. 3 und 9 a) Strukturanalyse b) Inhaltliche Analyse c) Die Krankheitsdarstellung mit Sündenbekenntnis: V. 4 und 8 a) Strukturanalyse b) Inhaltliche Analyse 2. Wie steht der Leidende vor Gott? a) Die Sünde: V. 5 und V. 7 a) Strukturanalyse b) Inhaltliche Analyse b) Leiden und Torheit: V. 6 a) Strukturanalyse b) Inhaltliche Analyse 3. Zusammenfassung III. Der axiale Teil: V. 11-15: Schreckensstarre angesichts der Unfassbarkeit Feinde 1. Die Krankheitsschilderung: V. 11 a) Strukturanalyse b) Inhaltliche Analyse 2. Die Feindschaft der Mitmenschen: V. 12-13 a) Strukturanalyse b) Inhaltliche Analyse 3. Die Reaktion des Beters: V. 14-15 a) Strukturanalyse b) Inhaltliche Analyse 4. Zusammenfassung IV. Das Gegenbild des rettenden Gottes: V. 16-23 1. Der Selbststand in der Gottklage a) Ein Weg zum Monotheismus: V. 16 und 23 a) Strukturanalyse b) Inhaltliche Analyse b) Die Theodizeefrage: V. 17 und 22 a) Strukturanalyse b) Inhaltliche Analyse 2. Selbststand in der Feind-Klage a) Der Konflikt mit den Mitmenschen über die Krankheit: V. 18 und 21
XI 109 110 112 112 113 115 115 117 120 120 120 121 124 124 125 127 129 129 129 130 131 132 134 137 137 139 140 141 143 143 143 145 147 147 149 151 151
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Inhaltsverzeichnis α) Strukturanalyse b) Inhaltliche Analyse b) Die Unbegrenztheit Gottes: V. 19-20 a) Strukturanalyse Exkurs: Tun-Ergehen-Zusammenhang b) Inhaltliche Analyse (1) Die begrenzte Gottesvorstellung der Feinde (2) Ein Weg zum Monotheismus 3. Zusammenfassung V. Ergebnis
C) Psalms 88: JHWH – der Gott des Lebens I. Der Text 1. Übersetzung 2. Aufbau des Psalms II. Die Einleitungsbitte im ersten Teil: V. 2f 1. Strukturanalyse 2. Inhaltliche Analyse III. Erste Leidensdarstellung: V. 4 1. Strukturanalyse 2. Inhaltliche Analyse IV. Schreckensstarre angesichts der feindlichen Gottesvorstellung: V.5-6 1. Strukturanalyse 2. Inhaltliche Analyse a) Zur Funktion des Feindbegriffes: Die „Dritten“ im yTib.v;x.nSpäherVersorger zum Bösen B HERR, wie zahlreich sind meine Bedränger (2b) `yl'([' ~ymiîq' ~yBiªr:÷ A viele erheben sich gegen mich (3a) yviîp.n:òl. ~yrIám.ao é~yBir: A´ viele sagen von mir: (3b) `hl's,( ~yhiìl{abe( ALì ht'['¦Wvy>) !yaeÛ B´ “Es gibt keine Rettung für ihn bei Gott!”
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M. Widengren, The Accadian and Hebrew Psalm of Lamentation as religious Religious Documents (Diss.), Uppsala 1936, 203, und C. Westermann, Struktur und Geschichte der Klage im Alten Testament, ZAW 66, 1954, 61, warnen mit Recht davor, eine der vielen Feindbezeichnungen zum Ausgangspunkt der Feinduntersuchung zu machen. O. Keel, Feinde und Gottesleugner, 93 ff., erkennt dies zwar auch an, doch er listet die ganze Fülle der Feindbezeichnungen in den individuellen Klage- und Lobliedern auf und stellt anschließend eine Tendenz heraus. Für ihn gibt es je nach Inhalt zwei Hauptgruppen von Feindbezeichnungen. Die eine Gruppe wird vom 40-mal vorkommenden Begriff bywa (in 28 Psalmen), die andere vom 41-mal benutzten Begriff [vr (in 22 Psalmen) gebildet. Die beiden Ausdrücke dominieren eindeutig und für ihn gehört der Begriff rc zur Gruppe bywa.
Psalm 3: JHWH – als rettender Got
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Im Gebet, das mit einer Anrufung JHWHs beginnt, beklagt der Leidende seine extreme Not und die gegnerische Übermacht, 15 was er mit WBår:-hm'(16 bekräftigt.17 Seine Leidensschilderung ist aber kein unmittelbarer Aufschrei, sondern ein durch Stilfiguren geprägter Text – also reflektierte Theologie! Ein Vergleich von V. 2 und 3 zeigt,18 dass ein Chiasmus19 vorliegt, denn sowohl in V. 2b wie in 3a ist von den „Vielen“ die Rede. Er wird mit ~yBiªr in V. 2b und 3a eingeleitet. Weiterhin ist zu sehen, dass sich V. 2a eng an 3b anschließt, da der Gottesname hw"hy> in V. 2a in Relation zu ~yhiìl{abe( in V. 3b steht. In V. 2a beginnt der Beter bewusst mit dem Namen hw"hy> sein Gebet, doch er beschließt den ersten Klageabschnitt mit ~yhiìl{abe,( womit ein Paar - B und B´ - gebildet wird. V. 2b und 3a bilden also ein zentrales Paar, wobei ~yBiªr:÷ als Zentralbegriff der Struktur das zweite Paar (B und B´) voraussetzt. Neben dem Chiasmus findet sich in V. 2b und 3a auch ein Parallelismus membrorum, worin sich ihre kunstvolle Formung zeigt. Dessen beiden erste Worte vereint als Zentralbegriff ~yBiªr,:÷ die beiden Zeilen bilden einen Stabreim (Alliteration auf r), wobei drei Worte in den beiden Zeilen die gleiche Assonanz aufweisen (m, m und y). Da sie die Zeile lautlich beherrschen, intensivieren sie die Bedeutung, die den vielen Widersachern (yl'([' ~ymiîq)' 20 und Widersprechenden (yviîp.n:òl. ~yrIám.a)o zukommt, weshalb der Bezug von V. 2b auf V. 3a unübersehbar ist. Somit werden die Widersacher in V. 2b mit den Widersprechenden in V. 3a identifiziert, die Vielen (~yBiªr):÷ in V. 2b und 3a werden durch das Stilmittel mit den Bedrängern yr"_c' in V. 2a gleichgesetzt. Mit dem Vergleich in Form von Chiasmus und Parallelismus membrorum begründet der Beter im Folgenden sodann die Reihenfolge inhaltlich: Zunächst V. 2b, danach 3a und 2a, sodann 3b. 15 16
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Vgl. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 57. Vgl. Ps 22,17; 25,19; 31,14; 38,20; 56,3; 69,5; 119,157. Für H.-J. Kraus, a.a.O., 25, verweist das beteuernd feststellende WBår:-hm a'( uf die Größe der Gefahr und die ausweglose Not des Beters. Vgl. Ps 13,2; 22,2. Die beiden ersten Worte von V 2b und V 3a vereint ein sog. Stabreim (Alliteration auf r). Die Struktur kann auch als sukzessive Gabelung verstanden werden, weil die frühere durch die folgende Aussage detaillierter und konkreter wiederholt wird. (2a) yr"_c' WBår:-hm'( hw"hy> B HERR, wie zahlreich sind meine Bedränger (2b) `yl'([' ~ymiîq' ~yBiªr:÷ A viele erheben sich gegen mich (3a) yviîp.n:òl. ~yrIám.ao é~yBir: A´ viele sagen von mir: (3b) `hl's,( ~yhiìl{abe( ALì ht'['¦Wvy>) !yaeÛ B´ “Es gibt keine Rettung für ihn bei Gott!” In beiden Sätzen betonen die Ausdrücke `yl'([' ~ymiîq' ~yBiªr:÷ (2b) und yviîp.n:òl. ~yrIám.ao é~yBir: (3b) die frühere Stellung des Dichters gegenüber seinem Leid. Auf jeden Fall wird deutlich, was er durch die Form intendiert. Vgl. Ps 54,5; 86,14.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
Durch das Stilmittel konkretisiert der Beter, dass er die „vielen Bedränger“ (V. 2a) sowohl als Widersacher“ (V. 2b) als auch als „Widersprechende“ (V. 3a) versteht. Denn viele (~yBiªr)÷ in V. 2b bezieht sich aufgrund des Pl mas. auf die zahlreichen Bedränger. Auch aufgrund des Chiasmus müssen sie miteinander identifiziert werden. Nach ihrer Identifizierung geht er jetzt gezielt auf ihre Handlungen ein. Die drei Sätze (V. 2a. b. 3a) weisen bis auf die letzte Zeile (V. 3b) einen Endreim auf: y, das erste Sg. Suffix. In V. 3b erklärt er, welches Thema im Mittelpunkt steht, da er seine Gegner nun angreift.
2. Inhaltliche Analyse a) Zur Funktion des Feindbegriffes: rc Um die Feinde zu bestimmen, fragt die Forschung21 nach seiner Person. A. Weiser behauptet, dass man aus der sekundären Überschrift mit einiger Wahrscheinlichkeit erschließen könne, dass es ein Machthaber ist, der sich angesichts einer feindlichen Übermacht in einer verzweifelten Lage befindet. 22 In diesem Zusammenhang verweist B. Weber23 auf folgendes: „Die Überschrift bringt – erstmals im Psalter – einen Psalm mit David in Verbindung. Die in 2. Sam 15ff. geschilderten Begebenheiten könnten in dem Sinn zutreffend sein, dass es sich bei Ps 3 um einen in militärisch-politischer Bedrängnis entstandenen Königspsalm (vgl. auch Ps 2) handelt,24 der später als „Schutzpsalm“ auch dem ‘einfachen‘ Beter dienlich wurde.“ Die Vielzahl der Widersacher veranlasst auch die aktuelle Exegese zur Hypothese, dass der Klagende von Feinden belagert wird, 25 allerdings rechnet P. Riede für die Belagerungsmetapher mit vielschichtigen Konnotationen, die ganz verschiedene Lebensbereiche und Bedrohungen umfassen können.26 Wir miss21
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H. Gunkel, Die Psalmen, Göttingen 1968, 12; H.-J. Kraus, a.a.O., 158; vgl. auch S. Croft, The identity of the individual in the Psalms, Sheffield 1987, 18. A. Weiser, Die Psalmen ATD Bd. 14/15, Göttingen 1963, 79: Er vermutet, dass der Psalm zum Königsritual gehört, in dem die Vorstellung vom Kampf JHWHs gegen die Feinde den heilsgeschichtlichen Rahmen bildet, der für das Verständnis der Lage des Beters relevant ist. B. Weber, Werkbuch Psalmen 1- Die Psalmen 1 bis 72, Stuttgart 2001, 58. Vgl. P. Craigie, Psalms 1-50, WBC 19, 72f.; W. Gesenius, rc, GB18, 1135; W. Baumgartner/J. Stamm, rc, HAL, 984-986. R.A. Fidler A Touch of Support: Ps 3,6 and the Psalmist´s Experience, Bib 86, 193; F.L. Hossfeld/ E. Zenger, a. a. O., 57; J. Goldingay, Psalms: Psalms 1-41, Grand Rapids 2006, 110. P. Riede, Im Netz des Jägers, 47.
Psalm 3: JHWH – als rettender Got
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verstehen das Bild und die Leidenschaftlichkeit des Beters aber, wenn wir aus der ungeheuren Zahl, – „Zehntausende“ – schließen, er sei ein Heerführer, Volkshaupt oder Hoherpriester gewesen. Denn dass es sich in Wahrheit um einen Privatmann 27 handelt, beweist seine Aussage, dass er seinen ungestörten Schlaf als eine besondere Gnade Gottes ansieht.28 Darum greifen wir auf die Untersuchung von P. Riede zurück. Er fragt, warum gerade dieser Psalm mit seiner sehr allgemeinen, aber dennoch intensiven Feindschilderung am Anfang des 1. Davidpsalter steht. Einen Anhaltspunkt könnte das Stichwort ~yBiªr:÷ geben, denn: „Die ~yBiªr:÷ von Ps 3 konkretisieren sich dann in den jeweils nachfolgenden Psalmen in unterschiedlicher Form (vgl. Ps 25,19; 31,14; 38,20; ferner 56,3; 69,5; 119,157), stellen aber in ihrer Massierung eine solch große Bedrohung dar, dass nur das Bild der Belagerung geeignet ist, um die verzweifelte Situation der/s Beter/s zu verdeutlichen. Am Ende der Belagerung aber würde die Einnahme der Stadt bzw. die Abwehr der Feinde stehen. Dieses letzte Motiv klingt in Ps 3,6 an.“29 Die Klage über zahlreiche –ja zahllose– Gegner, oft metaphorisch als bedrohliche Kriegsschar beschrieben, ist im Klagelied ein häufiger und gängiger Topos. 30 Für sich genommen, hat der Begriff viele Konnotationen, weshalb die konkrete Bedeutung kontextuell zu erschließen ist. Der Beter spricht von Schreckensstarre, in die er angesichts dieser Übermacht gefallen ist (V. 2f). Hier ist es offensichtlich, dass ihm die Feinde - wie Belagerer einer von der Außenwelt isolierten Stadt - gegenüberstehen. 31 Die Metapher ist der damaligen Erfahrungswelt entnommen, da Belagerungen in der Geschichte Israels eine immer wiederkehrende Existenzbedrohung waren. Sie dient zur Manifestation einer feindlichen Gegenwelt, die auf die Gottesvorstellung des Leidenden abzielt. In dieser Notlage erhebt sich sein Protest, da es für ihn, anders als es die Feinde glauben machen wollen, dennoch einen Gott gibt, auf den er sich verlassen kann.32 Das
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K. Seybold, Introducing the Psalms, Edinburgh, 64f.: „The language of this simple prayer smacks of everyday colloquial usage [a style of prayer that] epitomizes the Psalms of the Individual.” S. a. J.S.Kselman, Psalm 3: A Structural and Literary Study, CBQ 1987, 572: „The conventionality and familiarity of its language and motifs are among the reasons for a scholarly lack of interest in this psalm.” H. Gunkel, Die Psalmen, Göttingen 1968, 12; allerdings erklärt sich das kriegerische Bild für ihn wohl aus der Nachwirkung älterer Königspsalmen; R.A. Fidler A Touch of Support: Ps 3,6 and the Psalmist´s Experience, Bib 86, Roma 2005, 192. P. Riede, Im Netz des Jägers, 49. Ps 27,3; 55,22; 56,2; 59,5; 62,4; 109,3; 120,7; 140,3.8; Jer 1,19. P. Riede, Im Netz des Jägers, 379. P. Riede, Im Netz des Jägers, 48.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
bildet eine scharfe Antithese zu der im Feindzitat zutage tretenden Verhöhnung.33 b) Die Gottesvorstellung der Feinde Wer die Psalmen in der vorliegenden Kompositionsfolge von Ps 3-14 meditiert, findet mehrfach die Thematik der Bedrückung des Gerechten und des Gerichts JHWHs (Ps 3; 4; 7; 9-10; 11; 14).34 Ihre Leidenschaftlichkeit erwächst aus der Grundüberzeugung, dass Gerechtigkeit geschehen muss – zumindest durch den Gott, der die Erde als „Lebenshaus“ für alle geschaffen hat, über dem er als „Sonne der Gerechtigkeit“, die das Böse vertreibt und den vom Tod Bedrohten Rettung bringt, aufgehen will. 35 Im Hintergrund des Einklagens des Gottesgerichts und des Appells an Gottes Verantwortung für sein Volk und seine Welt steht ein dynamisches Weltbild, welches die Schöpfung und das Leben der Völker im permanenten Hin und Her zwischen Chaos und Kosmos denkt. „Dieses Chaos wird von JHWH bekämpft (vgl. Jes 51,9f.; Ps 74; 89; Hiob 26,40f.) und beherrscht (vgl. Ps 46; 48; 93; 104).“36 Die Chaoskonzeption, die Israel mit seiner Umwelt teilt, macht in realistischer Weltsicht die täglich erfahrenen irritierenden Gefährdungen des Kosmos und deren Widersprüchlichkeit zur biblischen Rede von Gott, der alles gut geschaffen hat, bewusst. Daher bietet der Beter mit seiner Konzeption eines persönlichen Schöpfergottes einen Ansatz, um auf den Chaos-Kosmos-Kampf appellatorisch einzuwirken.
Dass der Glauben an einen Gott, der als Richter das Recht durchsetzt und wiederherstellt, in Israel die Scheidelinie zwischen dem Gerechten und seinen Feinden markiert, wird gerade in den Psalmen sichtbar. Die Feinde bedrohen und ruinieren mit ihren Praktiken alltäglicher Gewalt den Leidenden nicht zuletzt deshalb, weil sie über eine Gottesvorstellung, in der sich Gott als Richter für die Schwachen einsetzt, nur spotten können. Ihr Spott und ihre Hybris führen zum Aufschrei an Gott, dessen rettendes Handeln erfleht und eingefordert wird. Immer wieder tauchen in der ersten Psalmengruppe (3-14) Ausdrücke und Wendungen auf, die auf die Gottesvorstellung der Frevler hinweisen. So klagt der Beter von Ps 3: Viele sagen zu mir: Es gibt keine Rettung für ihn bei Gott! (~yhiìl{abe( ALì ht'['¦Wvy>) !yae)Û (V.3)
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P. Riede, Im Netz des Jägers, 380. Vgl. B. Weber, Psalmen I, 83. Vgl. E. Zenger, Gewalt überwinden, 50f. Vgl. E. Zenger, Gewalt überwinden, 51.
Psalm 3: JHWH – als rettender Got
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Noch deutlicher wird dies in anderen Psalmen: Der Gottlose denkt hochnäsig: «Er wird nicht nachforschen.» «Es ist kein Gott!» sind alle seine Gedanken.
(wyt'(AMzIm.-lK'
~yhiªla{ /÷ !yae)î (Ps 10,4.11.13)
Der Tor spricht in seinem Herzen: «Es ist kein Gott!»
(~yhi_l{a/
!yaeä ABliB.â lb'än" rm:Üa)«' (Ps 14,1=53,2)
Sie (Meine Feinde) sagen: Gott hat ihn verlassen! (Ab=z"[]
~yhiäl{a/ rmoaleâ)
Verfolgt und ergreift ihn, denn kein Retter ist da! (Ps 71:11) Ja, sie sprechen: Wie sollte Gott es wissen? (lae_-[d:(y"
hk'îyae Wrªma. w' ))> (Ps 73:11)
Die Wendungen mit der Gottesbezeichnung ~yhla bzw. (lae) finden sich in der Feindschilderung, wo eigentlich alles gegen das leidenschaftliche Festhalten des Leidenden an Gott spricht. Sie könnten demnach helfen, die mit der Richterfunktion Gottes verbundenen Konnotationen aufzuspüren. a) Die Vorstellung des persönlichen Gotts in der Gottesbezeichnung Elohim 1. Wir kommen damit zu unserem Thema, denn im Widerspruch der Feinde artikuliert sich ein zu überwindendes Gottesbild. Im Psalter wird Gott zumeist 37 einfach hw"hy>, ~yhila { / oder lae genannt. 38 Es treten aber auch Kombinationen 39 auf und oft stehen die Gottesbezeichnungen parallel zueinander. hw"hy> steht aber in den überwiegenden Fällen allein und ist die mit Abstand häufigste Anrede.40 H. Ringgren verweist auf einen Aspekt, den hw"hy> und ~yhil{a/ in anderen Zusammenhängen haben können, nämlich die Betonung dieses Gottes in oft polemischer Unterscheidung zu anderen Göttern. 41 In Psalmen ist ~yhila { / Ausdruck einer persönlichen Beziehung zwischen dem Klagenden und seinem Gott, weil er ihn als Gegenüber anspricht. Er ist der Gegenpol zur menschlichen Not oder
37 38 39
40 41
Vgl. J. Schüpphaus, Die Psalmen Salomos, 76f. C. de Vos, a.a.O., 195. 3,8;9,20f; 22,20; 28,1; 35,22; 38,16; 51,16; 69,14; 70,2.6; 71,12.22; 86,17; 88,2. Vgl. C. de Vos, a.a.O., 196. Daneben gibt es noch die Anrede ohne hw"hy> oder ~yhil{a/. Vgl. H. Ringgren, ~yhla, ThWAT I, 299; W.H. Schmidt,la, THAT I, 147f.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
aber auch ihr Verursacher, aber dennoch zugleich derjenige, dem die Macht zugetraut wird, die Not zu wenden. 42 { / als GottesIn ihren Reden benutzen die Frevler bzw. Feinde einzig ~yhila bezeichnung; 43 also ist eine programmatische Absicht ihres Sprachgebrauchs nicht zu übersehen.44 Diese Beobachtung zählt zu den fundamentalen Besonderheiten der ersten Psalmengruppe des ersten Davidpsalters, doch seltsamerweise wurde bislang kaum nach dem theologischen Proprium gefragt, das sich dahinter verbirgt. A. de Pury hat auf die theologische Transformationsleistung aufmerksam gemacht, die die Priesterschrift – vermutlich in Rezeption älterer, möglicherweise noch anders gelagerter Verwendungen von artikellosem ~yhila { / – vollbracht hat. 45 Und dieser Prozess ist wohl auch für die Psalmen anzunehmen bzw. auf sie zu übertragen. ~yhila{ / hat die Bedeutung „Gott“ oder „Götter“. Undeterminiertes ~yhila{ / ohne Artikel wäre also grundsätzlich mit „ein Gott“ oder „Götter“ zu übersetzen.46 Singularisch wird es -auch ohne Artikel - wie ein determiniertes Nomen gebraucht. Es kann allerdings auch zur Bezeichnung anderer Götter verwendet werden; da es ein grammatischer Plural ist, somit hat es oft auch die Bedeutung „fremde Götter“ (z.B. beim Dekalogsbeginn in Ex 20,3).47 In den Reden der Feinde hat ~yhil{a/ offenkundig die Bedeutung „ein Gott“, da sie es ae ls Eigennamen gebrauchen.48 Eigennamen sind Nomen, die für sich genommen hinreichend determiniert sind und somit auf den Artikel verzichten können, da die bezeichnete Größe singulär ist. Wenn man sich den artikellosen Gebrauch von ~yhila { ,/ im Sinne eines Eigennamens in der Gottesvorstellung der Frevler in aller Schärfe klar macht, dann wird deutlich, dass hier ein Vorgang von fundamentaler Wichtigkeit greifbar wird. In ihren Reden koinzidieren die Gattung ~yhila { / und ihr einziger Inhalt: Eigenschaften und Funktionen von ~yhila{ ./ 49 42 43
44
45 46 47
48 49
C. de Vos, a.a.O., 197. Vgl. N. MacDonald, Deuteronomy and the Meaning of „Monotheism“, FAT II/1, Tübingen 2003, 78-81. O. Loretz, Psalmstudien, 68, er hat aus der Tatsache, dass die Gegner in V. 3 nicht von JHWH, sondern vom „Gott“ des Klagenden sprechen, gefolgert, dass sie Nichtisraeliten seien. Für ein enges Zusammenleben von Israeliten und Nichtisraeliten komme jedoch nur die nachexilische Zeit in Frage. Vgl. Ps 9;10; 35;54;56;59. Vgl. A. de Pury, Gottesnamen, 40-44. K. Schmid, Differenzierung und Konzeptualisierungen der Einheit Gottes, 34f. R. Rendtorff, Theologie des Alten Testaments: Ein kanonischer Entwurf, Bd. 2, Neukirchen-Vluyn, 161. Vgl. de Pury, Gottesnamen, 27-29. M. Weippert, Jahwe und die anderen Götter, 11.
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Im Klagepsalm des Einzelnen sind auf der familiären Ebene mit ihrem persönlichen Gottesglauben familiäre Schutzgottheiten vorstellbar, die jeweils das Wohl sichern. Dafür spricht auch, dass sehr viele Klagelieder als ´älohim- und nicht als JHWH-Psalm überliefert worden sind.50 Hier besitzt ~yhila { / die Funk51 tion des persönlichen Gottes, der den Menschen erschaffen hat (vgl. Ps 22,10f) und ihm als Garant seines Wohlgehens sein Leben hindurch zur Seite steht. Aus diesem göttlichen Mitsein erwächst für dessen Schützling Wohlergehen und Erfolg, und es sichert ihm Nahrung und Kleidung sowie die Gunst Höhergestellter.52 2. Elohim tritt als Handelnder und Retter natürlich besonders in Notlagen auf. 53 Dabei wird die Familiengottheit nicht nur mit ihrem Eigennamen, sondern auch mit einer deskriptiven Bezeichnung – ALì ht'['¦Wvy>) !yaeÛ –, die sich auf seinen ersten oder heutigen Verehrer bezieht, angerufen.54 Die Auffassung der Gegner des Beters in Ps 3 beherrscht ein traditionelles Verständnis des Zusammenhangs zwischen Leiden und Gottesbild. 55 Die beiden Ausdrücke – die Gottesbezeichnung (~yhil{a)/ und die göttliche Aufgabenbestimmung (ALì ht'['¦Wvy>) !yaeÛ) – schöpfen aus einer gemeinsamen Sprachtradition, der familiären Glaubensauffassung. „They dismiss the Suppliant as someone cast off by God, who therefore has no prospects of deliverance and will not escape defeat or evade failure or find healing.“56 Aufgabe der göttlichen Macht ist es, Gerechtigkeit zu garantieren oder 50 51
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E. S. Gerszenberger, Warum hast du mich verlassen?, 15. H. Vorländer, Mein Gott: Die Vorstellungen vom persönlichen Gott im Alten Testament, AOAT 23, Neukirchen-Vluyn 1975, 303: Der persönliche Gott trägt insbesondere folgende Bezeichnungen: „Mein usw. Gott“ (z.B. 1Sam 30,6; Ps 22,2); „Gott meines usw. Vaters“ (z. B. Gen 13,5; 1Chron 28,9); „Gott des NN“ (z.B. Gen 31,53; 2 Chron 32,17); „Mein Hirte“ (z.B. Ps 16,2); „Mein Herr“ (z.B. Ps 16,2); „Gott meines Heils“ (z.B. Ps 18,47); „Gott meines Lebens (z.B. Ps 42,9); Saddaj/Sedu (z.B. Gen 17,1). H. Vorländer, Mein Gott, 302: „Als paradigmatische Schilderungen dafür, wie der persönliche Gott einem Menschen Fürsorge und Schutz gewährt, sind im Alten Testament die Jakoberzählungen, die Josephsgeschichte und die Geschichte von Davids Aufstieg überliefert.“ Gen 30,2.6.17.18.20.22.23; 31,7.9.16.24.42.50, A. de Pury, Gottesnamen, Gottesbezeichnung und Gottesbegriff, 45: In der Jakobsgeschichte kommt Elohim als Handelnder und Sprechender besonders in Gen 30 und 31 häufig vor. M. Weippert, Jahwe und die anderen Götter, 12: „So reden die Patriarchenerzählungen vom ‚Gott Abrahams‘, vom ‚Gott Nahors‘, vom ‚Schrecken Isaaks‘ oder vom ‚Starken Jakobs‘ [...].“ Anders argumentiert J. Goldingay, Psalms, 110: „The Suppliant´s problem is a different, consequent one, people´s action that follows on whatever has happened.” J. Goldingay, Psalms, 110.
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wiederherzustellen. Die Wendung mit der Negation „ !yae“Û zeigt, dass der feindliche Spott von der Vorstellung einer familiären Schutzgottheit geprägt ist. 57 Der Vorwurf der Frevler lautet, dass die Schutzgottheit des Beters versagt habe, denn sie hat, als Garant des menschlichen Wohlergehens, indem sie „mit“ ihm ist und ihm Hilfe zuteilwerden lässt, ihre Aufgabe nicht erfüllt. 58 Sie hat weder sein Leben, noch das der Gemeinschaft, gesichert. 59 Doch wenn die Gottheit ihrer Aufgabe aus irgendeinem Grunde nicht gerecht wird, kann sie zur Rede gestellt, mit Vorwürfen bedacht und eventuell sogar verstoßen werden. Dann müsste ein neuer Gott gefunden werden. Wie man zu einen persönlichen Gott gelangen kann, zeigt beispielhaft Gen. 28,20 f., wo auch einige seiner Funktionen genannt werden: „Wenn Gott mit mir ist und mich behütet auf diesem Weg, den ich gehe, und mir Brot zu essen und Kleidung anzuziehen gibt und ich in Frieden zurückkehre zum Haus meines Vaters, dann soll der HERR mein Gott sein. Und dieser Stein, den ich als Gedenkstein aufgestellt habe, soll ein Haus Gottes werden; und alles, was du mir geben wirst, werde ich dir treu verzehnten.“ (Gen 28,20-22)
b) Die Gottesvorstellung der Feinde
Die Beziehung zwischen knapp und eindeutig:
~yhila{ /
und dem Leidenden bestimmen die Bedränger
„Es gibt keine Rettung für ihn bei Gott! “ (~yhiìl{abe( ALì ht'['¦Wvy>) !yae)Û (V.3)
Hier geht es nun also um die Frage, ob der Wirkungsbereich von ~yhil{a/ sowohl funktional als auch persönlich begrenzt ist, denn dann wäre die Aussage im Kontext des persönlichen Familiengottes 60 zu verstehen, da der persönliche ~yhila{ / gemeint wäre. Aber V. 2f ist eine Klage, um im Konflikt eine ganz ande-
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E. S. Gerszenberger, a.a.O., 15; F. Stolz, Einführung in den biblischen Monotheismus, Darmstadt 1996, 46. Vgl. H. Vorländer, Mein Gott, 193. M. Weippert, Jahwe und die anderen Götter, 12. Vgl. E. S. Gerstenberger, Der bittende Mensch, WMANT 51, Neukirchen-Vluyn 1980; R. Albertz, Persönliche Frömmigkeit und offizielle Religion, Stuttgart 1978; derselbe, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, ATD Erg. 8, Göttingen 1992.
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re Glaubensauffassung61 zu begründen und durchzusetzen. Das Zitat beschreibt das Gottesverhältnis des Beters aus gegnerischer Sicht, 62 sie bezweifeln nicht nur, ob Gott den Beter überhaupt noch hört, da sie die Möglichkeit seiner Errettung grundsätzlich bestreiten. Zentrum des Konflikts ist deshalb „Gottes Gerechtigkeit“ angesichts der Leidensherausforderung. Die Widersacher können angesichts der Not über die Vorstellung eines Gottes, der sich als machtlos zu erweisen scheint, nur spotten. Da der Wirkungsbereich von ~yhila { / funktional begrenzt und bestimmt ist, existiert Gott nicht in einer abgehobenen Sphäre, sondern muss seine Göttlichkeit durch Erfüllung seiner Aufgaben beweisen. Das hat weitreichende Folgen für die Zeitvorstellung, da sie durch die Vorherrschaft des Modus der Gegenwart bestimmt ist, denn ein Gott der seine Göttlichkeit erst zukünftig erweisen wird, ist kein Retter aus aktueller Not. Ihre Gottesvorstellung lässt sich durch eine Betrachtung der Aufgaben erschließen. Wir stehen mit der Aussage „ ~yhiìl{abe( ALì ht'['¦Wvy>) !yaeÛ“ vor dem, was die Gegner als eine partielle und funktionale Eigenschaft von ~yhila { ? verstanden haben. Im Mittelpunkt ihrer Rede steht die Frage nach der göttlichen Macht und Gerechtigkeit, wobei ihre Gottesvorstellung unter dem essentiellen Einfluss eines polytheistischen Kontextes steht. Aber diese Vorstellung ist nicht einfach „polytheistisch“ im Sinn einer bloßen Vielgötterei. 63 Denn die Funktionsbereiche von Familien-, Orts- und Staatsreligion sind als verschiedene Ebenen eines religiösen Systems anzusehen. Zugleich wird aber auch zu Recht auf ihre enge wechselseitige Beeinflussung hingewiesen. 64 Die Familienfrömmigkeit bestand also während der gesamten Phase der Entstehung und Konsolidierung der Jahwereligion weiter 65 und blieb von ihr weitgehend unbeeinflusst. In einem Volk und an einem Ort können somit verschiedene Familien ihre jeweils eigenen Gottheiten verehren, die für ihre Alltagsprobleme zuständig sind. Daneben existieren auch die Großgottheiten, die für nationale 61
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O. Loretz, Psalmenstudien: Kolometrie, Strophik und Theologie ausgewählter Psalmen, BZAW 309, Berlin. New York, 2002, 68. Nach C. de Vos, a.a.O., 120ff. Unter Einbeziehung Gottes ist die Klage zweigeteilt: einerseits die Klage des Menschen über die Gegner: Ps 55,20; 86,14. („Hier sind es diejenigen, die ihrerseits fern von Gott sind, die dem klagenden Menschen Elend bereiten.“) und andererseits Zitate gegnerischer Äußerungen über das Gottesverhältnis des Beters: Ps 3,3; 10,4.10f; 22,9. 42,4=42,11; 71,11. Vgl. K. Schmid, Differenzierung und Konzeptualisierungen der Einheit Gottes, in: M. Oeming/ K. Schmid (Hg.), Der eine Gott und die Götter, AThANT 82, Zürich 2003, 28. O. Keel und C. Uehlinger, Göttinnen, 472. Vgl. auch J. van Oorschot, Der eine und einzige Gott Israels im Widerstreit, 135. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, 143f.
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Fragen verantwortlich sind. Man verehrt also gleichzeitig verschiedene Gottheiten, die familiäre permanent, die Staatsgottheit jedoch nur im Rahmen des Reichskultes. Die Gottesvorstellung des Beters stört aber diese „Harmonie“, da er auf der Einzigkeit seines Gottes insistiert, er entwickelt – wie gezeigt werden soll - einen Glauben, der sich zwar einerseits dem früher erfahrenen Heilshandeln verdankt, doch trotz der aktuellen Not, die er eventuell mit seinen Gegnern teilt, hält er andererseits an seinem Gott, dessen Macht sich zukünftig erweisen wird, fest. Die Gottesvorstellung der Widersacher als eine Form familiärer Frömmigkeit ist hingegen als ein Ort polytheistischer Vielfalt verstehbar, die es ihnen erlaubt, ein Gottesverhältnis auch aufzukündigen, was gerade dann akut wird, wenn die aktuelle Ohnmachtserfahrung als generelle Ohnmacht des Gottes gedeutet wird.
III. Das Gegenbild in der Vertrauensaussage: V. 4 Wie oben gezeigt, ist Ps 3 dreigliedrig. Im Gesamtaufbau dient V. 4 als Brücke zwischen den rahmenden Teilen (V. 2f und V. 8.9), weil der Beter durch Nennung des Gottesnamens nun sein Gottesbild entfaltet, wobei auch ein erstes Vertrauensbekenntnis sichtbar wird.
1. Strukturanalyse Nach der Klage über die gegnerische Gottesvorstellung, erklärt der Beter nun, worauf sich seine Argumentation stützt. In einem Vertrauensbekenntnis, das aus drei Nominalsätzen besteht, verdeutlicht er die Charakteristika seines Gottesbildes. Die Darstellung setzt mit hT'a ä w; ein:66
ydI_[]B; !gEåm' hw"hy>â hT'äa;w> `yvi(aro ~yrIïmeW ydIªAbK.
Du aber, HERR, bist ein Schild um mich her, meine Ehre, und der mein Haupt emporhebt. (V. 4)
Die Wendung in V. 4 setzt den ersten Abschnitt voraus, denn sie benötigt seine Aussagen, um ihr Thema entfalten zu können. Zudem bereitet sie die folgende Ausführung in V.7 im Zusammenhang von V. 2f und V. 5f vor. 66
Vgl. R. Albertz, Die Exilszeit, 121. In den Klagepsalmen des Volkes im babylonischen Exil ist der „Rückblick auf Gottes früheres Heilshandeln“ ein wichtiges Gattungselement. Im Unterschied zum Hymnus hat der Klagepsalm eine eigentümliche syntaktische Struktur: „Typisch für ihn sind invertierte Verbalsätze im konstatierenden Perfekt mit vorangestellten hta Du (selber) hast...(Ps 80,9-12; Ps 74,13-17; 89,10-13).“
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Durch hT'a ä w; > - „du aber“ - wird ein Gegensatz und zugleich ein Übergang von der Klage zur Vertrauensäußerung geschaffen,67 was die Argumentation neu ausrichtet. Der gegnerischen These der göttlichen Machtlosigkeit werden jetzt direkt positive Gotteseigenschaften entgegengesetzt.68 Darum wird nun auch der Gottesname hw"hy>, anstelle des gegnerischen ~yhil{a? benutzt, was Polemik gegen deren Gottesvorstellung andeutet. In scharfer Antithese gegen ihr Urteil setzt er sein Vertrauensbekenntnis, Gottes Eigenschaften fungieren als Begründung für seine Argumentation, indem er bewusst in den drei Wendungen ydI_[]B; !gEåm' und ydIªAbK.÷ sowie yvi(aro ~yrIïmeW die 1.Person Singular Suffix (y) benutzt. Der Ausdruck ydI_[]B; !gEåm'69 bezeichnet den ganz realen göttlichen Schutz.70 Gott wird metaphorisch als sein Rundschild verstanden. 71 Dies Bild taucht in größeren oder kleineren Synonymketten häufig auf, 72 die neben !gEm' auch andere Gottespitheta benutzen.73 An die Metapher schließt sich der Begriff ydIªAbK an, es bezeichnet im weitesten Sinne „das Gewichtige am Menschen“, „das, was ihn ansehnlich macht“. 74 Da die Wendung yvi(aro ~yrIïmeW altorientalisch auf den Kontext der Rechtsprechung festgelegt ist, 75 verweist sie auf die Erhebung des Hauptes. Zugleich wird so ein Motiv aus V 2 aufgegriffen, da sich dort seine Gegner gegen ihn erhoben haben. Im Rahmen eines hymnischen Lobes des Richter- und Rettergottes dienen die Bilder als Gegenbild zur Angriffs- und Belagerungsme67
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H. Gunkel, a.a.O., 232: Der Grund, auf den die Dichter der Klagelieder am liebsten und häufigsten ihre Bitte stellen, ist das Vertrauen auf JWHW. Den Gegensatz betont nicht nur hT'äa;w> , denn auch die folgenden Ausdrücke erfüllen diesen Zweck. Ps 18,3; 28,7; 119,114. H. Lamparter, Das Buch der Psalmen I, 57; vgl. H. Gunkel, a.a.O., 234. Für ihn ist im hebräischen Klagelied der Inhalt des Prädikates Ausdruck für das, was JWHW dem Beter bedeutet. „Die israelitische Gattung hat eine erstaunliche Fülle an Ausdrücken für das zu finden gewusst, was Jahwe seinen Frommen bedeutet.“ Das ist ein ganz realer Schutz Gottes, also nicht nur vor den Bedrängern sondern auch gegenüber dem Kriegsvolk (V. 7), das aber nicht mit den Feinden (V. 8) identisch ist. Siehe die Exegese von V. 4: Wie Gott ein Rundschild für ihn ist, veranschaulicht der Beter in V. 7, wo er durch die inhaltliche Gemeinsamkeit zwischen V. 4 und V. 7 seine Leidenssituation in V. 7 mit seinem absoluten Vertrauen verbindet. Vgl. D.N. Freedmann/ O´Connor,!gEm', 649 und 653. Ps 119,114, P. Riede, Im Netz des Jägers, 145. H.-J. Kraus, a.a.O., 27. Daher wird dem Menschen durch Unterdrückung und Verhöhnung seine Würde genommen. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 58; vgl. auch H.-J. Kraus, a.a.O., 161. Bei der Wendung yvi(aro ~yrIïmeW denkt W.H. Schmidt daher an einen Rechtsakt, in dem der Richter einen Beschuldigten, der sich zuvor niedergeworfen hat, vom Boden aufhebt und ihn so freispricht.
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taphorik.76 Das Geschehen bezieht sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die aktuelle Erwartung, die sich in der gegenwärtigen Aufforderung widerspiegelt, und sie benennt auch den entscheidenden Grund, warum Gott seine Gerechtigkeit verwirklichen soll und wird.
2. Inhaltliche Analyse a) Wie ist hw"hy> als der eine Gott mit all dem Leiden verwoben? In V. 4 geht es um die Frage, wo Gott angesichts der Bedrohung ist, bzw. wie hw"hy> als der eine Gott in all die Not verwoben ist. Indem hw"hy> zudem mit hT'aä w; > angerufen wird, wird an die bereits benannte Beziehung nicht nur angeknüpft, sondern so auch nachdrücklich betont,77 dass sein Gott hw"hy> ist. Diese Anrede ist nicht bloß stereotype Formel, sondern motivisch im Psalm eingebettet. 78 Deshalb steht JHWH im Kontrast zur gegnerischen Gottesvorstellung, es ist somit ein entschiedener Widerspruch, denn so wird verdeutlicht, dass es keine Vielzahl von Göttern, sondern nur den einen Gott hw"hy> gibt. Der Beter richtet sich mit seinem Vertrauensbekenntnis einzig an hw"hy>, alle anderen Götter sind aus seinem Blickfeld verschwunden. 79 In all seiner Bedrängnis bezeugt er, was er ihm bedeutet: Er ist seine Hilfe, sein Lebensgott und gerade auch sein persönlicher Gott, 80 was er jedoch metaphorisch beschreibt, und einzig von ihm erhofft er seine Rettung. Während die Gegner die Abwesenheit seines Gottes bzw. dessen ausbleibende Hilfe verspotten, erhofft er konkreten Schutz von hw"hy>, wobei sich seine Zuversicht früherer Erfahrung verdankt.81 Die Schreckensstarre angesichts der Bedrohung wird jetzt durch sein Gottvertrauen überwunden, das Gott in einem neuen Licht erscheinen lässt. 82 Denn für sein Gottesbild ist die Entdeckung der temporalen Vertrauensstruktur entscheidend, da sie das Jetzt der Erfahrung in ein Gefälle zwischen Erinnerung und Erwartung zieht. 83 Er bekräftigt sein Vertrauen, denn Gott ist immer bei ihm 76 77 78 79 80
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P. Riede, Im Netz des Jägers, 145. C. de Vos, a.a.O., 198. C. de Vos, a.a.O., 208. Ebenda. H. Vorländer, Mein Gott, 233; vgl. auch J. Goldingay, Psalms, 111; „Shield can be accompanied by reference to Yhwh´s being a help or a deliverance, as in v. 2 here, so that v. 3 directly confronts that jibe. ’About me‘ strengthens the point.“ O. Loretz, Psalmenstudien, 58; vgl. auch C. de Vos, a.a.O., 209. Vgl. W. H. Ritter/ H. Hanisch/ E. Nestler/ C. Gramzow, Leid und Gott, 46f. Vgl hierzu auch K. Butting, Unser Seufzen bekommt eine Sprache. Psalm 12, 161ff.
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als sein Schutz, seine Ehre und seine Haupterhebung. 84 Während die „Repräsentanten der Gegenwelt sein Vertrauen für ausweglos halten und es darum schadenfroh abweisen, beruft sich der Beter auf frühere Erfahrung. JHWH ließ ihm einst Gnade und Ehre zuteilwerden und wird es ihm auch in der gegenwärtigen Not erneut zuteilwerden lassen.85 Sein monotheistischer Glaube spiegelt sich in der leidenschaftlichen „recollection of Yhwh´s past acts of deliverance“86 wider.87 Für dieses Gottesbild ist gerade die erfahrene Spannung von Gottes abgründiger Verborgenheit88 und seinem innigen Nahesein89 konstitutiv. In der negativen Erfahrung wird ihm bewusst, dass Gott an all den Schrecken und Verletzungen, die seine Klage zu verarbeiten versucht, beteiligt, ja in sie verwoben ist. Sein Vertrauen ist das entscheidende Argument gegen die Anfeindungen, JHWH wird sich als sein Schild erweisen. Dies unbeirrbare Festhalten straft die Rede der Feinde Lügen, 90 und es ermöglicht ihm zugleich, die erfahrene Spannung von Gottes abgründiger Verborgenheit 91 und seinem innigen Nahesein92 durch die Klage an JHWH zu überwinden. b) Ein Weg zum Monotheismus Es geht in diesem Konflikt um monotheistisches Denken, denn der Leidende konfrontiert seinen Gott hw"hy> der gegnerischen Gottesvorstellung: Du aber, HERR, bist ein Schild um mich her, meine Ehre, und der mein Haupt _ B] ; !gEmå ' hw"hy>â hT'aä w; >) (Ps 3,4) emporhebt. (yvi(aro ~yrIïmeW ydIªAbK.÷ ydI[
In Bekenntnis- und Vertrauensaussagen finden wir den Ausdruck „Du (bist) JHWH“.93 Die Formulierung spiegelt die Erfahrung seines Eingreifenes wider. 84
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Nach H. Gunkel, a.a.O., 234, wird seine Ehre von Gott wiederhergestellt. Vgl. auch F.L. Hossfeld, a.a.O., 58: Er ist der Meinung, dass sich man weiterhin vorstellen könne, dass JWHW die öffentliche Reputation des Beters garantiert. Vgl. Spiekermann, Heilsgegenwart, 281; Chr. Markschies, „Ich aber vertraue auf dich, Herr!“ – Vertrauensäußerungen als Grundmotiv in den Klageliedern des Einzelnen, ZAW 103 (1991), 386-399, 395. J. Goldingay, Psalms, 110. P. Riede, Im Netz des Jägers, 145f. Vgl. Hiob 37,23. Vgl. Ps 138. P. Riede, Im Netz des Jägers, 146. Vgl. Hiob 37,23. Vgl. Ps 138. J. van Oorschot, Der eine und einzige Gott Israels im Widerstreit, 125.
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Hinter allen göttlichen Manifestationen steht für den Beter einzig JHWH. Zu fragen ist, wie sich dies Verständnis zur traditionellen funktionalen Gottesvorstellung der „Frevler“ verhält. In V. 4 fällt auf, welche große Bedeutung das Bekenntnis für die JHWHReligion besitzt. Seine Leidenschaftlichkeit erwächst aus der Grundüberzeugung, dass Gerechtigkeit geschehen muss, denn das Leiden provoziert die radikale Frage nach der Göttlichkeit JHWHs. Offenbar wird die Spannung zwischen seinem monotheistischen Glauben und der traditionellen Gottesvorstellung seiner Feinde. Zugleich ringt er um das Proprium der mit dem Gott JHWH verbundenen Erfahrungen. Hier werden die differetia specifica seines Gottesbildes in der theologischen Herausforderung durch die Gegner erkennbar. Der Ausgangspunkt seines monotheistischen Glaubens ist geprägt von der Erinnerung an Ereignisse der Heilsgeschichte. Die Identität des Beters ist durch das Verhältnis zu seinem persönlichen Gott aufgrund seiner persönlichen Erfahrung mit hw"hy> bestimmt, so wie die Identität Israels durch sein Verhältnis zu hw"hy> aufgrund der Exodus-Erfahrung bestimmt ist.94 Weil der Beter an ihr festhalten will, müssen neue Wege beschritten werden, um die Einzigartigkeit JHWHs im Horizont partieller, funktionaler Gotteseigenschaften zu profilieren, was es erzwingt, dass er nicht nur für die Heilsgeschichte, sondern auch das Leiden verantwortlich ist, damit JHWH nun als ein Geschichte und Kosmos fundierender Gott proklamiert werden kann – eben als der universale Gott, neben dem es keine anderen Götter gibt. Das Vertrauen zu ihm ermöglicht das Bekenntnis zur wesenhaften Erfahrung JHWHs in der Geschichte: „Rückblick auf Gottes früheres Heilshandeln“ ist ein wichtiges Gattungselement,95 wobei eine inklusive Theologie erkennbar wird.96 Zugleich vertritt der Beter eine streng exklusive Theologie, da das Böse und die Bösen nicht das letzte Wort in der Geschichte behalten dürfen, denn Welt und Geschichte gehören einzig JHWH. In der Geschichte des JHWH-Glaubens kann zwar die Existenz anderer Götter ausdrücklich vorausgesetzt sein, aber in Ps 3 wird jedoch deutlich, dass sein Vertrauensbekenntnis monotheistisch zu verstehen ist. Das leidenschaftliche Festhalten an JHWH entspringt der Einsicht, dass nur von ihm ein „rettendes Eingreifen“ erhofft werden kann (vgl. V. 8). Der Angst und der feindlichen Aggressivität wird die Vertrauensaussage über seine Einzigkeit und Wirkmächtigkeit entgegenstellt.
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Vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, 144. Vgl. R. Albertz, Die Exilszeit, 121. K. Schmid, Differenzierung und Konzeptualisierungen der Einheit Gottes, 35.
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Exkurs: Der Zusammenhang zwischen der „JHWH-allein-Bewegung“ und der Familienfrömmigkeit a) Die Funktion von JHWH in der „JHWH-allein-Bewegung“ und in der Familienfrömmigkeit
In JHWH werden unterschiedlichste Funktionen in einer Gottheit zusammengedacht.97 Seit dem 10. Jh. v. Chr. wird in JHWH ein in Israel „weitgehend monolatrisch“ verehrter Sturm- und Kampfgott erkennbar.98 In der offiziellen Theologie der Königzeit wachsen ihm, vor allem unter ägyptischen Einfluss, unterschiedlichste Eigenschaften und Funktionen zu. 99 Als Herr des Jerusalemer Tempels übernimmt er etwa die Funktion des Sonnengottes, der Recht und Gerechtigkeit garantiert. 100 Die offizielle Tempeltheologie war jedoch bis in die vorexilische Zeit hinein weder monolatrisch noch gar monotheistisch, sondern einfach polytheistisch. 101 Erst die sogenannte „JHWH-allein-Bewegung“, die in der Prophetie Hoseas im 8 Jh. v. Chr. erstmals greifbar wird, setzt durch ihre radikale Reduktion der polytheistischen Götterwelt eine radikal-intolerante JHWH-Monolatrie durch. JHWH, als Nationalgott Israels, hatte in vorexilischer Zeit sogar eine Göttin neben sich, nun aber ist er zum einzigen Gott geworden, neben dem andere keinen Raum mehr haben. 102 Er bleibt allerdings auch der Nationalgott, der sich an Israel gebunden hat, doch ist er darüber hinaus zum einzigen Weltgott geworden. b) Die Erfahrung in der Exodusgruppe und im Lebensbereich der Familie
Die traditionelle Familienfrömmigkeit bestand während der gesamten Phase der Entstehung und Konsolidierung der JHWH-Religion weiter,103 und sie zeigt sich von der neu entstandenen JHWH-Religion weitgehend unbeeinflusst. Wenn wir von ihr in der Exodusgruppe nichts hören, dann hängt das z.T. einfach mit der Überlieferungselektion zusammen, aber auch mit dem auch später noch zu beobachtenden Tatbestand, dass in gesellschaftlichen Ausnahmesituationen das politische Geschehen so sehr den Lebensbereich der Familie bestimmt, dass familiäre Vorgänge an den Rand gedrängt werden. Das änderte sich aber, nachdem die Exodusgruppe in Palästina Fuß fassen konnte und es ihr gelang nach der Kolonisierung des mittelpalästinischen Berglandes – ebenso wie ältere Stämme des 97 98 99
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K. Schmid, Differenzierung und Konzeptualisierungen der Einheit Gottes, 29. J. van Oorschot, Der eine und einzige Gott Israels im Widerstreit, 121. O. Keel, C. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbol, QD 134, Freiburg 21993, 282. J. van Oorschot, Der eine und einzige Gott Israels im Widerstreit, 121. M. Weippert, Jahwe und die anderen Götter, 11. M. Weippert, Jahwe und die anderen Götter, 15. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, 143f.
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Verbandes - für ihre Familien eine gesicherte bäuerliche Existenz aufzubauen. Damit erhielt der familiäre Lebensbereich auch für sie wieder ein besonderes Gewicht, weil die dezentrale und akephale Gesellschaftstruktur es den israelitischen Familien dieser Zeit erlaubt, im Kreis ihrer Sippe weitgehend eigenständig und unabhängig zu wirtschaften (vgl. Ri; 1.u. 2. Sam). g) Deuteronomistische Reform und familiäre Religiosität Die dtn. Reformer mussten sich der familiären Religiosität intensiv zuwenden, wenn sie die Reinheit und Einheit der JHWH-Religion durchsetzen wollten. Ein religionsinterner Pluralismus großen Ausmaßes, der dazu geführt hatte, dass in den Familien zugleich auch andere – selbst wenn es untergeordnete wären Gottheiten angebetet oder assyrische Beschwörungsriten vollzogen würden, musste den geschärften theologischen Kriterien der Reformer als völlig untragbar erscheinen. Ihre Reformparole: „JHWH, unser Gott, JHWH ist einer!“, impliziert selbstverständlich, dass auch in den Familien niemand anders als JHWH allein verehrt werden könne und der verehrte JHWH muss mit dem Gott Israels identisch sein.104 Die ganz persönliche, von einem engen Vertrauensverhältnis getragene Gottesbeziehung der familiären Religiosität wird von den Reformern „aufgehoben“, denn einerseits gibt es nun mehr keine anderen Gottheiten neben JHWH, aber andererseits wird dies enge Vertrauensverhältnis auf JHWH übertragen; und damit gewinnt die Gottesbeziehung eines jeden einzelnen Anteil an der Einzigartigkeit des Verhältnisses zwischen JHWH und Israel. 105 Dem monotheistischen Konzept liegt der sog. Monotheismus des nachexilischen Israels zugrunde, der sich als ex- und inkludierend erweist. Die große Krise nach dem Untergang Judas bzw. die Exilierung der politisch-kultischen Oberschicht nach Babylon provozierte die radikale Frage nach dem Proprium der Göttlichkeit JHWHs. Antworten gaben vor allem die Theologie Deutero-Jesajas und die Priesterschrift, 106 die JHWH, den Gott Israels, explizit und reflektiert nicht nur zum Schöpfer und Erhalter des Kosmos machten, sondern die Geschichte Israels als ein Element der von JHWH als Hauptakteuer gestalteten Weltgeschichte interpretierten.
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R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, 328. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, 331. K. Schmid, Differenzierungen und Konzeptualisierungen der Einheit Gottes, 31. Die Priesterschrift entwickelt eine inklusive Theologie, dagegen vertritt Deuterojesaja eine streng exklusive Theologie.
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IV. Zusammenfassung Im Mittelpunkt des ersten Abschnittes steht die Leidenssituation des Beters sowie der daraus resultierende theologische Konflikt. Die gegnerische Gottesvorstellung ist von einem anderen Denken geprägt, doch diesem verweigert er sich, indem er ihm sein Bekenntnis entgegensetzt. Er widerspricht aufgrund seiner persönlichen Erfahrung, die aus der Erinnerung an Gottes früheres Heilshandeln erwachsen ist. Er entwirft ein neues Gottesbild, indem er Gott mit dem Leiden verbindet, was monotheistisches Denken impliziert, weil Gott nun auch mit allen negativen Erfahrungen verbunden werden muss, um seiner Einzigkeit gerecht zu werden. Hier steht die Vollmacht Gottes, von der der Beter überzeugt ist und die er auch für die Zukunft erwartet, im Gegensatz zur völligen Ohnmacht Gottes als die das Leiden erfahren wird.107 Für seine Mitmenschen hingegen wäre es in dieser Not „vernünftiger“ aufgrund der Wahrnehmung einer Störung des Treueverhältnisses die Möglichkeit, das Gottesverhältnis aufzukündigen, da die Prinzipien einer familiären Solidargemeinschaft nicht erfüllt worden sind.
V. Das Gegenbild: Der leidende Mensch in der Heilgeschichte: V. 5-7 1. Die Erlösung vom Heiligen Berg: V. 5-6 Im Achsenteil entfaltet der Beter sein Gottesbild. Im weiteren Klageverlauf schildert er - im Zusammenhang mit den Rahmenteilen - seine Erfahrung der göttlichen Heilszuwendung, 108 und drückt durch eigene und kollektivierende Aussagen sein Gottesverständnis aus.109 a) Strukturanalyse
ar"_q.a, hw"åhy>-la, yliAqâ 107
108 109 110
x110-yiqtol111
Mit meiner Stimme rufe ich zum HERRN (V. 5a)
Vgl. T. Gut, Der Schrei der Gottesverlassenheit: Frage an die Theologie, Theologische Studien 140, Zürich 1994, 59. H.-J. Kraus, Die Psalem,161; F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Die Psalmen, 58. Vgl. C. de Vos, a.a.O., 215. Ein beliebiges nicht-verbales Satzglied.
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Avåd>q' rh:ßme ynIn“[E ]Y:)w: wayyiqtol112 und er antwortete mir von seinem heiligen Berg (V. 5b) yTibk. ªv; ' ynIïa] x-qatal113 Ich legte mich nieder (V. 6aa) hn"v"ïyaiñw") wayyiqtol und schlief (V. 6ab) ytiAc+yqih/ qatal ich erwachte (V. 6ac) `ynIkE)m.s.yI hw"åhy> yKiÞ x- yiqtol denn der HERR stützt mich (V. 6b) ~['_ tAbïbr. mI e ar"yaiâ-al{) x- yiqtol Ich fürchte nicht zehntausende Volk, (V. 7a) `yl'([' Wtv'ä bybiªs÷' rv ' rh:mß e
Mit meiner Stimme rufe ich zum HERRN (V. 5a) und er antwortete mir von seinem heiligen Berg (V. 5b).
Der Vers beginnt mit yliAq und endet symmetrisch mit Avåd>q' (außer hl's(,), indem das erste Wort mit dem ersten personalen Suffix dem letzten Wort mit dem dritten personalen Suffix entgegensetzt wird. Diese Wortverbindung – yliAq mit 111
112 113 114
Eine Verbform der Präformativkonjugation (PK); vgl.W.Gesenius/ H. Kautsch, GesK, 338-349. Eine PK-cons-Imperfekt konsekutivum, Narrativ. Verbum in der Afformativkonjugation, ein nicht-verbales Satzglied geht voraus. H. Gunkel, a.a.O., 250, Für Gunkel kann auf die Gebetsform verzichtet werden, da der Beter der Anlehnung an JWHW nicht mehr bedarf. Auch B. Weber, Werkbuch Psalmen I, 57, verweist darauf, dass er seine Erfahrung nun (V. 5-7) den menschlichen Zuhörern schildert.
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Avåd>q' – bestimmt den einheitlichen Aufbau. Die narrative Struktur über die frühere Errettung durch JHWH dient als Vertrauensaussage. Goldingay behauptet: „The account of Yhwh´s past acts of deliverance begins with a recollection of the regular shouting out to get Yhwh´s attention.” 115 Der Beter zeigt, dass seine Position mit seiner Argumentation in V. 4 verbunden ist, indem sie in V. 5 als kohärente Erzählung entfaltet wird. Seine Absicht ist es, sein Festhalten an JHWH als dem einen Gott und seine Erhörungsgewissheit auszudrücken. Hier lässt sich das PK-cons-Imperfekt mit dem Tempus des Vertrauensmotives 116 als Form des Jubelgesangs der Erfahrung verstehen. Wenn er von seiner Erhörungshoffnung spricht, 117 die wie seine frühere Erfahrung vom „heiligen Berg“ ausgehen wird, vollzieht er im Gebet (V. 5b), das aus einem PK-cons-Imperfekt besteht, 118 einen theologischen Neuansatz: Hier wird ein Gottesbild deutlich, das zugleich eine Herausforderung an Gottes Gerechtigkeit darstellt. V. 6 beschreibt das Vertrauen durch drei Verben, die mit dem Verb ynInE“[]Y:)w: aus V. 5 zusammenhängen. 119 Die Satzreihen in V. 6 zeigen eine deutliche Kohäsion mit V. 5, was am Verb hn"v"ïyaiñw") sichtbar ist. Auch durch ynIïa] und hw"åhy>, die wie dort das Vertrauen ausdrücken, verstärkt sich der kohärente Charakter des Textes:
yTibk. ªv; ' ynIïa] hn"v"ïyaiñw") ytiAc+yqih/ `ynIkE)m.s.yI hw"åhy> yKiÞ
Ich legte mich nieder (V. 6aa) und schlief (V. 6ab) ich erwachte (V. 6ac) denn der HERR stützt mich (V. 6b).
In V. 6a beschreibt der Beter mit drei gleichartigen Ausdrücken sein theologisches Thema: yTib.kªv ; ', hn"v"ïyaiñw") und ytiAc+yqih,/, was seine Argumentation bekräftigt und sein Gottvertrauen in einer lebensbedrohlichen Situation herausstellt. 120 Der Ausdruck hn"v"ïyaiñw,") wodurch direkt an die Erhörungsaussage in V. 5 angeknüpft wird, bildet das Argumentationszentrum. Das Verb hn"v"ïyaiñw") wird wie ein besonderes Glied oder weiteres Element an V. 5 angehängt; es ist als Handlung in der Folge (Progress) von V. 5 zu übersetzen, wobei sich yTib.kªv ; ' und ytiAc+yqih/ an 115 116 117 118
119 120
J. Goldingay, Psalms, 111. H. Gunkel, a.a.O., 347. Vgl. H. Gunkel, a.a.O., 346. In der Erhörungsgewissheit erscheint das Perfekt. Nach der Textkritik wird ynInE“[Y] w): : als PK-Form verstanden. Vgl. auch B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 350f. J. Goldingay, Psalms, 112. Da die Verwendung des hebräischen Perfekts nicht auf eine bestimmte Zeitstufe festgelegt ist, können die zwei Verben präsentisch übersetzt werden.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
inhaltlich anschließen. Damit zeigt er, dass sein persönliches Vertrauen mit dem Gottesbild zusammenhängt, das auf einer kollektiven Erfahrung beruht. In V. 6b formuliert er eine Begründung seiner Vertrauensäußerung. 121 Die Angaben ynIïa] in V. 6a und hw"åhy> im yK-Satz in V. 6b bilden gewissermaßen ihren Ausgangspunkt. Die Satzreihe, die aus drei Verben besteht, beginnt mit ynIïa] in V. 6a und endet in V. 6b mit dem hw"åhy> nennenden yK-Satz. Folglich ist V. 6a mit ynIïa] parallel zu V. 6b mit hw"åhy>. Hier zeigt sich eine Auseinandersetzung, ihr Schwerpunkt wird durch die Parallele zwischen den Worten ynIïa] und hw"åhy> deutlich. Die zwei Satzverbindungen bilden eine Art Klammer um das Gottesbild des Beters, dessen persönliche Frömmigkeitserfahrung von JHWH ausgeht. Durch den Zusammenhang zwischen ynIïa] und hw"åhy> veranschaulicht er abermals, dass sein Gott hw"åhy> vom „heiligen Berg“ eingegriffen hat. In V. 6b versucht er durch das Verb die Theodizeefrage zu klären, wie hw"hy>â in all das Leiden verwoben ist. Der yK-Satz mit ynIkE)m.s.yI Þ(x- yiqtol), der eine zentrale Bedeutung hat, schließt zwar an die drei Verben an, aber auch der Begründungssatz beschreibt einen generellen Sachverhalt, der im engeren Sinn in Zusammenhang mit ar"yaiâ-al{) (xyiqtol) in V. 7 steht.
hn"v"ïyaiñw")
Exkurs: Zum Problem der Datierung von Ps 3 Im Verlauf der Forschungsgeschichte ist die zeitliche Ansetzung von Psalm 3 immer mit dem Thema der ursprünglichen textologischen Einheit verknüpft worden, 122 weshalb zu fragen ist, ob eventuell vor- und nachexilische Textschichten unterscheidbar sind. „Die Vorstellung, dass Ps 3 eine ursprüngliche textologische Einheit darstelle, die nur aus einer Schicht besteht, wird sowohl von jenen verteidigt, die zwischen der Überschrift und dem Textkorpus keinen Konnex herstellen, als auch von jenen, die in der Zuweisung des Psalms zur Geschichte Davids den wesentlichen Grund für seine Entstehung sehen.“123
Da der dargestellte Konflikt gut mit der Darstellung von 2Sam 15-18 harmoniert, drängt sich der Schluss auf, dass die Autoren der midraschartigen Bearbeitung die poetischen Abschnitte als Grundlage für einen neuen Text benutzt haben.124 Es liegt daher der Schluss nahe, dass Ps 3 zwar nicht als ganzer, jedoch 121 122 123 124
Vgl. H.-J. Kraus, a.a.O., 27. O. Loretz, Psalmstudien, 58. O. Loretz, Psalmstudien, 67. Ebenda.
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in Teilen als Midrasch zur Davidgeschichte gestaltet worden ist und V. 1b in einem inneren Zusammenhang mit dem Textkorpus steht. Darum behauptet M. Millard, dass bei den Feinden in Ps 3 kein Zweifel besteht, dass der Text Davids historische Feinde meint, 125 also Absalom und seine Männer. 126 Der These hat aber schon vor langem H. Gunkel widersprochen: „Von der Angabe der Überschrift, David habe das Lied auf der Flucht vor Absalom gedichtet [...], kann keine Rede sein: der Schmerz des glorreichen, jetzt vertriebenen Herrschers und des tiefgekränkten Vaters tritt darin nicht hervor.“ 127 Da es sich jedoch beim Titel um das Ergebnis einer nachträglichen Historisierung handelt, müssen wir ihre Absicht erkunden. Ps 3 sollte daher als Klagepsalms des Einzelnen mit midraschartiger Bearbeitung verstanden sein und den nachkultischen Psalmen zugerechnet werden. In ihm geht es nicht um das Gottesgericht im Tempel über den ungerecht Bedrängten. 128 B. Bonkamp meint, dass die Gegner nicht von JHWH, sondern vom „Gott“ des Klagenden sprächen, und folgert daraus, dass sie Nichtisraeliten seinen, da für ein enges Zusammenleben von Israeliten und Nichtisraeliten nur die nachexilische Zeit in Frage komme.129 Richtig ist, dass es sich beim verfolgten „David“ um einen Leidenden in nachexilischer Zeit handelt. Das ergibt sich mit Sicherheit aus der midraschartigen Textkommentierung, die nur in der Spätzeit möglich war.130 Für die Datierung ist somit eine einseitige Entscheidung für eine Früh- oder Spätdatierung nicht akzeptabel. Am wahrscheinlichsten ist wohl eine nachexilische Datierung der Endfassung des Textes, wobei der Psalm auf eine vorexilische Tradition zurückgehen dürfte. b) Inhaltliche Analyse In V. 5f gibt es einen Gedankenfortschritt, da es zu einem Neuansatz in der Klage kommt, der sowohl durch die Wiederholung des Gottesnamens in der dritten Person als auch den Rückblick auf Heilsereignisse geprägt ist. 125 126 127
128
129
130
O. Loretz, Psalmenstudien,68. M. Millard, Die Komposition des Psalters, 130. H. Gunkel, Die Psalmen (HKII/2), Göttingen 41926, 13; vgl. auch J. Botterweck, Klage und Zuversicht, 185; P. Riede, Im Netz des Jägers, 40. O. Loretz, Psalmenstudien, 67, H. Spieckermann, Heilsgegenwart, 252, vermutet dagegen, dass eine vorexilische Individualklage den Grundbestand des vorliegenden Textes bildet. Grundlegende Differenzen bestehen über den kultischen und juridischen Charakter des Textes. B. Bonkamp, Die Psalmen nach dem hebräischen Grundtext, Gelsenkirchen-Buer 1949, er verweist auf die ähnliche Lage in Ps 9;10; 35; 54; 55; 56; 59. O. Loretz, Psalmenstudien, 69.
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Die Verherrlichung des Tempels auf dem Zion131ist das leuchtende Gegenbild, worauf sich der verlangende Blick des Klagenden als Garanten der Verheißung und Befreiung richtet. Der Beter demonstriert sein Vertrauen, da er das Erbetene – die Rettung aus der aktuellen Not -schon als erfüllt voraussetzt.132 Die Rettung ist mit JHWHs Gebetserhörung vom heiligen Berg in V. 5 verknüpft, 133 womit die altorientalische Tradition des Götterwohnsitzes auf dem Weltenberg aufgegriffen wird, die auf den Zion, den Jerusalemer Tempelberg, übertragen worden ist.134 Warum bezieht sich aber der Beter, der in seinem persönlichen Lebensbereich JHWHs Rettungshandeln erfahren hatte, auf ein öffentliches Handeln Gottes? In seiner Untersuchung zur Bedeutung des Tempels für das Volk in der Klage des Einzelnen weist R. Albertz darauf hin, dass sich die gottesdienstlichen Vorgänge im Ineinander verschiedener Gattungselemente widerspiegeln.135 Zwar beobachten schon H. Gunkel und J. Begrich in ihrer „Einleitung in die Psalmen“, dass vor allem der Gottesdienst für die Beschreibung des Sitzes im Leben wichtig ist. Doch bald trat in der Forschung die Frage nach dem „tatsächlichen“ bzw. „eigentlichen“ Sitz im Leben in dem Vordergrund, denn die gottesdienstlichen Vorgänge dürften zur Erklärung der Klage des Einzelnen nicht allein hinreichend sein. Daher soll mittels der Religionsgeschichte Israels und literaturwissenschaftlicher Gesichtspunkte untersucht werden, wie das Ineinander so verschiedener Gattungselemente zu erklären ist. Der Beter verwendet den Ausdruck Avåd>q' rh:ßme (V. 5b) ohne genauere Erklärung, was zeigt, dass ihm und seiner Umgebung der Terminus bekannt ist. In der Auseinandersetzung mit den Mitmenschen begründet er sein Vertrauen: Die religiöse Erfahrung, die er in Bezug auf „ Avåd>q' rh:ßm“e gemacht hat, gibt ihm offenbar ganz selbstverständlich das Recht dazu. Die Verherrlichung des Tempels auf dem Zion136 ist sein leuchtendes Gegenbild. Der verlangende Blick der Klagenden richtet sich auf die Verheißung und Befreiung vom „Avåd>q' rh:ßm“e . Die Ortsangabe zeigt, welches theologische Thema Interessenschwerpunkt des bedrohten Beters ist. 137 F.- L. Hossfeld begründet seine nachexilische Datierung des Psalms damit, dass vor dem Exil der Zion die Funktion der Restituierung des Gottesvolkes noch nicht erfüllt hat.138 Die Verse 3, 9b und Ps 14,7 er131 132 133
134 135 136 137 138
H. Gunkel, Die Einleitung, 349. H. Gunkel, Die Einleitung, 346. H. Gunkel, Die Psalmen, 13. Nach ihm ist der Zion zur Zeit Davids noch nicht JHWHs „heiliger Berg“. Vgl. Ps 2,6; 14,7; 15,1; 20,3; 43,3; 48,2; 87,1; 99,9. F.-L. Hossfeld, a.a.O., 58. Vgl. R. Albertz, Persönliche Frömmigkeit und offizielle Religion, 183f. H. Gunkel, Die Einleitung, 349. Vgl. H.-J. Kraus, a.a.O., 25. F.-L. Hossfeld, a.a.O., 56.
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bitten für das Gottesvolk vom Zionsgott Hilfe und Segen. Hossfelds Vorschlag ist hilfreich zur Klärung der zeitlichen Ansetzung.139 Somit orientiert sich der Beter mit seinem Hinweis auf den „heiligen Berg“ an der Theologie der Deuteronomisten, denn auch nach der Zerstörung des Jerusalemer Heiligtums ist der „heilige Berg“ ein Ort der Gegenwart JHWHs. „Der Verfasser des deuteronomistischen Geschichtswerkes, der in exilischer Zeit nach der Zerstörung des Jerusalemer Heiligtums schreibt, übernimmt zu einem Teil die Terminologie des Deuteronomiums und geht zugleich einen Schritt darüber hinaus.[...] Der Tempel ist die Stätte, an der der Name Jahwes ‚anwesend‘ ist- das bedeutet nach dem Deuteronomisten, dass das Heiligtum der Ort ist, an dem man Jahwe anrufen kann, die Stätte, auf die hin Jahwe seine Aufmerksamkeit richtet, wenn der Mensch zu ihm betet. [...] Mit dem Jerusalemer Heiligtum ist Israel ein Orientierungspunkt gegeben, auf den hin man beten und der Erhörung gewiss sein darf. Für die Situation der Exilszeit, in die hinein der Deuteronomist seine Botschaft richtet, besagt das schließlich, dass die Herrschaft des im Himmel thronenden Gottes durch die Zerstörung des Tempels unangetastet bleibt, und dass die Stätte des Jerusalemer Heiligtums auch nach der Zerstörung des von Salomo errichteten Gebäudes weiterhin der Ort für die Anwesenheit des Namens Jahwes, Gebetsstätte und Orientierungspunkt für das Gebet bleibt.“140 Im deuteronomistischen Geschichtswerk erfolgt eine Ablösung der Gottesbergvorstellung vom Tempel, weil die mit dem Heiligtum verbundene Vorstellung von der Wohnung JHWHs zu dem Missverständnis führen konnte, dass JHWH durch das Gebäude begrenzt sei. Vom Deuteronomium übernimmt der Beter zwar das Theologumenon vom „Namen“ JHWHs, vermeidet aber den deuteronomischen Ausdruck, dass der Name JHWHs im Tempel „wohne“. Er bezeichnet den Tempel vielmehr als den „Ort, von dem JHWH gesagt hat, dass sein Name dort ´sein´ solle“ (1 Kön 8,29), oder als das Haus, das Salomo dem Namen JHWHs erbaut hat (V 44. 48) So betont er die Freiheit Gottes, der nicht dauerhaft an einen Ort gebunden ist.
In der Erhörungsaussage ist leicht erkennbar, dass sich die Protagonisten nicht im Tempel befinden,141 denn die Aussage von V. 5 erfordert keine dortige Präsenz, sondern schafft nur eine gedankliche Verbindung. 142 Sowohl Beter als
139
140 141
142
Anders H.-J. Kraus, a.a.O., 25, er hält auch eine vorexilische Datierung für möglich, allerdings ohne dafür Beweise zu geben. Vgl. M Metzger, a.a.O., 21ff. C. de Vos, a.a.O., 74: „Häufig stellt der betende Mensch sein eigenes Vertrauen besonders heraus, indem er es absetzt gegen sein drohendes Schicksal oder Los oder die Einstellung zu anderen Menschen.“ F.-L. Hossfeld, a.a.O., 55.
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auch Bedränger haben die Erinnerung an die heilige Stadt gemeinsam. 143 V. 5 bezieht sich daher auf eine konkrete gegenwärtige gemeinsame Wirklichkeit aller Beteiligten. Der „heilige Berg“ bedeutet für den Beter sowohl die Erinnerung an die heilige Stadt, als auch die künftige Erlösung, die von ihm ausgehen wird. Für seine Gegner aber gibt es nur noch die Erinnerung, Zukunftshoffnung geht vom zerstörten Tempel nicht mehr aus, sie muss darum woanders gesucht werden. Nachdem im Vertrauensbekenntnis von V. 4 JHWH als Lebensgott sowie persönlicher Gott bestimmt worden ist,144 erscheint Gott in V. 5 sowohl als individueller Retter wie auch heilsgeschichtliche Größe, 145 was die Exklusivität der JHWH-Religion herausstellen soll. Die Tatsache, dass er in seiner Not vertrauensvoll an JHWH vom „heiligen Berg“ festhält, 146 ist Zentrum seiner kritischen Gegenrede. Die für die offizielle JHWH-Religion charakteristische heilsgeschichtliche Größe des „heiligen Bergs“ wird nun auch in die Vertrauensbeziehung der persönlichen Frömmigkeit hineingenommen, womit die Diastase zwischen familiärer und offizieller Religion ein Ende findet. Denn mit der Aufnahme des Topos des Götterwohnsitzes auf dem Weltenberg setzt der Beter der partiellen, funktionalen Gottesvorstellung von ~yhla das kommende überlegene Eingreifen von hwhy entgegen. Hier konfrontiert er JHWH als persönlichen Gott und als Gott Israels mit seinem Leiden. Dieser theologische Zusammenhang ist durch eine starke räumliche Komponente geprägt: den Tempel auf dem Zion in Jerusalem, in dem und von dem aus JHWH uneingeschränkt in der Welt präsent ist. JHWHs Gegenwart, schon in V. 4 im Mittelpunkt des theologischen Interesses, wird unter verändertem Aspekt auch in V. 5 betont. Hier kommt die Dialektik von Präsenz und Kontingenz der Gottesgegenwart zum Vorschein, was für die Tempeltheologie typisch ist (vgl. Ps 48,2; 24,3).147 Hier wird ein monotheistisches Denken formuliert, da Hilfe einzig von JHWH erwartbar ist. Vor dem Hintergrund der Exklusivität der JHWH-Religion wird in V. 6 in drei Verbalsätzen das treue Festhalten an Gott beschrieben, wobei sich auch ein zeitlicher Handlungsfortschritt zeigt. Nach allgemeiner Auffassung ist V. 6 als
143
144 145 146 147
D.h., dass es im Rahmen der drohenden Notsituation keine Schilderung der privaten Lage des Beters gibt. Der Dichter schildert in diesem Text nämlich nicht Angst, Sorge, Trauer oder körperliches Leiden. Aus dieser Beobachtung kann noch einmal der Erweis erbracht werden, dass der Beter sich nicht in einer privaten Notlage befindet, sondern dass er primär unter der Anklage der vielen Bedränger leidet. H. Vorländer, Mein Gott, 233. Vgl. auch B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 350; H. Gunkel, Die Psalmen, 14. Vgl. R. Albertz, Persönliche Frömmigkeit und offizielle Religion, 184. Vgl. H. Spieckermann, Heilsgegenwart, 223.
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Vertrauensaussage anzusehen,148 denn die Ausdrücke bkv, !vy und #yq gelten als Vertrauensbetonung. Die Wendungen bkv und !vy werden zumeist mit „niederlegen“ und „schlafen“ übersetzt. 149 Das dritte Verb #yq bekräftigt die Argumentation und kündigt zugleich eine positive Wende an. 150 Der Beter erfährt erstaunlicherweise ein Erwachen, das ihn aus der Dunkelheit geführt hat, was eventuell auch eine mögliche generelle Wendung seines Geschicks andeutet. Trotz der Erfahrung des Todesschlafes in der Not konnte er sich aufgrund seiner absoluten Gewissheit der Abhängigkeit von JHWH ruhig niederlegen, schlafen und erwachen. Anschließend beschreibt er in V. 6b den Vertrauensgrund durch den yK-Satz, der Gottes Unterstützung schildert, was die Erfüllung der göttlichen Gerechtigkeit betont. Die Aussage wird durch den Zusammenhang zwischen ynIïa] und hw"hy> verstärkt, die in V. 6a und b die zentrale Rolle spielen. Aber es ist zu fragen, warum gerade diese Wendungen benutzt werden. Das Nachtmotiv findet sich innerhalb der Daviderzählung in 2Sam 17,1.16, und 2Sam 17,13 belegt das Motiv der Stadteroberung. Gerade der Zeitgewinn von einer Nacht ist für Davids Sieg am nächsten Tag entscheidend. 151 Und dementsprechend hängt in Ps 3 die Rettungsgewissheit mit dem Überstehen einer Nacht zusammen. 152 Angesichts der massiven feindlichen Bedrohung wirkt das Schlafmotiv anscheinend verharmlosend, aber Nacht und Dunkelheit sind eben auch Metaphern für das Bedrohliche und den Tod,153 womit elementare Ängste zur Sprache gekommen wären. Im Hinweis auf die frühere Errettung durch JHWH erinnert der Beter mit aller Leidenschaft an ihren Urheber. 154 Vor diesem Hintergrund formuliert er sein leidenschaftliches Festhalten an dem einen Gott.155 Die bedrohliche Gegenwart wird auf die ruhig verbrachte Nacht projiziert,156 denn, wenn der Beter trotz seiner Not ruhig schlafen kann, bedeutet dies, dass sein Gottvertrauen größer ist als jede Furcht. In der Situation der absoluten Ver148 149 150
151 152 153 154 155
156
C. de Vos, a.a.O., 75; H.-J. Kraus, a.a.O., 27; F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 58. W. Beuken, bkv ,ThWAT VII, 1311. W. Beuken, bkv ,ThWAT VII, 1311. Für yTib.kªv ; ' ist die metaphorische Bedeutung ’sterben, tot sein’ belegt. Auch das sich anschließende !vy dient im Alten Testament zur bildlichen Veranschaulichung des Todeszustandes, wodurch der Gedanke des Wiederaufstehens zum Leben bereits angedeutet ist. M. Millard, Komposition, 130. Vgl. B. Janowski, JHWH der Richter, 57. C. de Vos, a.a.O., 75. I. Baldermann, Einführung in die Bibel, Göttingen 31988, 91. Vgl. E. Zenger, Gewalt überwinden, in: K. Butting (Hg.), Träume einer gewaltfeien Welt, 51; siehe auch C. de Vos, Klage als Gotteslob aus der Tiefe, 1. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 58.
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zweiflung ist das Eingreifen Gottes seine einzige Hoffnung, Gott wird seinen Gerechtigkeitswillen erweisen. Er vertraut trotz allem auf Gott,157 von dem er Beistand erwartet.158 Im monotheistischen Denken wird JHWH nicht länger mehr mit anderen Göttern verglichen, denn dann wäre ihre Existenz ja vorausgesetzt.159 Stattdessen bekennt der Beter vielmehr die Einzigkeit JHWHs, 160 die durch die Existenz des Heiligtums JHWHs inmitten Israels als Zeichen des Bundesverhältnisses dargestellt wird.161 Das Heiligtum als Zeichen göttlicher Präsenz bestimmt das monotheistische Denken auch im Bereich der persönlichen Frömmigkeit des Beters, der so die offizielle JHWH-Religion aufnimmt. Die Erinnerung an die Heilgeschichte lässt ihn das zeitenüberdauernde Wirken JHWHs erkennen und erwarten. Die frühere Erfahrung wirkt über die Zeiten hinweg und hilft ihm, seine Not in Worte zu fassen. Die Aussage illustriert seinen Selbststand. 162 Dabei werden zwei Aspekte sichtbar: Zum einen das Festhalten am einen und einzigen Gott und der Rückblick auf die Heilsgeschichte,163 die mit dem gewissen Vertrauen auf die zukünftige Hilfe JHWHs verbunden ist. 164 Und zum andern geht es um seine Überwindung der Schreckensstarre, da ihm der Angriff der Feinde zunächst die Sprache verschlagen hat.
2. Der Heilszuspruch: V. 7 a) Strukturanalyse
`yl'([' Wtv'ä bybiªs'÷ rv hm'ÛWq« (V.8b) `yh;ªl{a/ ynI[EÜyvi«Ah (V.8a)
Erfleht wird– vor allem mit dem Zentralbegriff
ynI[EÜyvi«Ah –JHWHs Gerechtigkeit.
hm'ÛWq als Begriff für die Bitte und den Wunsch, das Unheil zu wenden, tritt in imperativischer Form achtmal in Psalmen auf: Ps 9,20; 10,12; 44,24; 74,22; 82,8 (Klagelied des Volkes) und 3,8; 17,13 (Klagepsalm des Einzelnen) sowie Ps 132,8 (Wallfahrtslied). Die Datierung der Klagen des Volkes wie in Ps 44,27 und 74,22 ist naturgemäß schwierig, doch immerhin ist es für diese zwei Texte, die mit Sicherheit zu 183 184
Anders: G. Neuhaus, Menschliche Identität, 44. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 58.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott dieser Gattung gezählt werden können, wahrscheinlich, dass sie aus der Exilszeit stammen, bzw. in ihr ihre entscheidende Ausprägung erhalten haben. 185
V. 8 ist mit V. 2f durch eine Wiederholung verbunden, was die Abschnitte thematisch ausdrücklich verknüpft.186 Hier wird durch hm'Wq der Widerspruch zur gegnerischen Position (~ymiîq' in V. 2b) bekräftigt: Dem Beter geht es um das kommende Eingreifen Gottes bzw. das spezifische Profil JHWHs, was er durch die Wendung yh;ªla { / ynI[EÜyvi«Ah betont. Das Derivat von [vy wird dreimal benutzt: V. 3.8.9.187 [vy und das Derivat ynI[EÜyvi«Ah werden zur Beschreibung des göttlichen Eingreifens benutzt.188 H. J. Boecker meint, dass dahinter wie in 2 Sam 14,4 und 2 Kön 6,26 die „Rechtsinstitution des Notgeschreis“ 189 steht. „Der mit dem Imperativ hi. der Wurzel formulierte Hilferuf gehört ursprünglich ins alttestamentliche Zetergeschrei […].“190 In V. 8 dient die Verbindung von [vy als explizites Bekenntnis des Beters zu JHWH, in V. 9 ist sie Bestandteil einer Abschlussformel. 191 Der Ausdruck für die göttliche Hilfe findet sich auch an zahlreichen anderen biblischen Stellen.192 Hier geht es um die Bitte um JHWHs Hilfe in einer konkreten Notsituation, die im Wechselgespräch ausgedrückt wird. Im Kontrast zum gegnerischen Urteil stellt in V. 8 der kausative Hiphil-Stamm des Verbs JHWH als „Wirkmächtigen“ heraus. Das Thema „JHWH ist die Hilfe“ bestimmt die V. 8-9, womit sich die Frage nach dessen Gerechtigkeit stellt. Neben demselben Lexem hm'Wq und h['Wvy> wird V. 8 mit dem Gottesnamen hw"“hy> im Unterschied zu ~yhil{a/ in V. 3b eingeleitet. So will der Beter im letzten Abschnitt die entscheidende Richtung seiner Argumentation zeigen. Die impera185
186 187
188 189 190 191
192
Vgl. R. Albertz, Die Exilszeit: 6. Jahrhundert v. Chr., Biblische Enzyklopädie, Bd. 7, 118f. J. Goldingay, Psalms, 113; P. Craigie, Psalms 1-50, 74. Vgl. M. Mark, Meine Stärke und mein Schutz ist der Herr: Poetologisch-theologische Studie zu Psalm 118, Forschung zur Bibel Bd. 92, Würzburg, 1999, 264f. Die Lexemverbindung [vy mit dem Derivat h['Wvy> findet sich auch an anderen Stellen: Ps 21,1.6.14; 68,20.21.29.34.35.36; 86,16; 118,14.15.21.25; 140,8; Ex 15,2.13; Jes 12,2.3; 26,1. H. J. Fabry/ J.F. Sawyer: Art. [vy, 1053. H. J. Boecker, Redeformen, 62-64. H. J. Boecker, Redeformen, 66. M. Mark, a.a.O., 265: „Oft bildet die Wurzel [vy hiph oder ihr Derivat h['Wvy den Bestandteil einer Abschlußformel: 2 Sam 22,51; Ps 28,9; 42,12 = 43,5; 53,7; 86,16.“ M. Mark, a.a.O., 265: „Der locus classicus der ‚heilsgeschichtlichen‘ Verwendung [von [vy hiph/ h['Wvy] ist Ex 14, wo Israels ungewöhnlicher Sieg über die Ägypter am Roten Meer mit jesuat JHWH beschrieben ist.“
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tivische Bitte in V. 8a.b begleiten die mit yKi eingeleiteten Sätze (V. 8c.d), in den zweifachen Afformativkonjugationsformen t'yKiähi und T'rB > v): i: (V.8c)
yxil,_ yb;äy>ao-lK'-ta, t'yKiähi-yKi( (V.8d) `T'r>B:)vi ~y[iäv'r yNEßvi
Besonders seit H. Gunkel sind die Perfektformen von V. 8c.d mit dem yKi-Satz Gegenstand exegetischer Bemühung. Er versteht sie als Gewissheitsausdruck,193 denn die Gewissheitsbekundungen, die sich im Klagepsalm des Einzelnen finden, formulieren grundsätzlich Sätze, deren Verb im Perfekt steht. 194 Für ihn erschaut der triumphierende Beter so, der Zeit weit vorauseilend, schon als erfüllt und vollendet, was er so sehnlich erbeten hat (V. 8). 195 Auch H.-J. Kraus versteht die Form als einen futurischen Ausdruck unbedingter Gewissheit. 196 Ebenso meint F.-L. Hossfeld, dass die Bitte mit der Vorwegnahme des Sieges motiviert wird.197 Für ihn gehören in V. 8 Bitte und Motivation zusammen, weil durch die Bitte der Wechsel vom Bericht in V. 5-7 zur Anrede JHWHs in V. 8f herbeigeführt wird. Diese Hypothesen sind jedoch problematisch, weil sie wichtige Bedeutungsnuancen nicht erklären können, denn es geht um die kontextuelle Bedeutung der Perfektformen und die Rolle des yKi-Satzes.198 Die Bedeutung der Perfektformen im yKi-Satz verbirgt sich darin, dass der Sprachgebrauch im yKi-Satz vor dem Hintergrund des Rahmenteils inhaltlich gegen das Gottesbild der Geg-
193 194
195
196 197 198
H. Gunkel, Die Psalmen, 14. H. Gunkel, Die Einleitung, 245: „Das Tempus, in dem er redet, ist deshalb das Imperfekt. Den höchsten Grad der Gewissheit aber, der überhaupt erreichbar ist, sprechen Sätze aus, deren Verb im Perfekt steht.“ H. Gunkel, Die Einleitung, 245f, er fragt: „Wodurch erklärt sich der jähe Wechsel der Stimmung, der bei diesem Motiv wahrnehmbar ist? Handelt es sich um einen inneren Vorgang in der Seele des Beters, wo nach allem hin und her des inneren Kampfes, nach dem Verzagen oder der Verzweiflung schließlich Stille und Zuversicht in sein Herz einzieht, oder ist dieser Wechsel durch ein äußeres Geschehen bedingt?“ H.-J. Kraus, a.a.O., 163. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 55. F. Crüsemann, Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel, WMANT 32, 32: „Sofern er [ein yKi-Satz] eine große Fülle von Bedeutungsnuancen hat, ist dieses aber von vornherein und aus dem Sinn heraus von allein keineswegs zu klären. Daher können erst der jeweilige Kontext und sein Sinn die exakte Bedeutung dieser Partikel erklären.“
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ner gerichtet ist.199 Der so eingeleitete Satz wird im Allgemeinen als „Begründung“ verstanden, 200 seine genauere Bedeutung ist also kontextabhängig. K. Seybold behauptet, dass der Beter nach der Bitte von der Bestätigung erfahrener Hilfe spricht. Für ihn drückt er in einem Beieinander von Bitte und yKi -Satz die Bestätigung erfahrener Hilfe in Bezug auf V. 8a. b aus, indem er den yKi -Satz mit dem zweimaligem Perfekt – t'yKiähi und T'r>B:)vi – verknüpft. 201 Tatsächlich drückt der Beter in seiner Verbindung von Bitte und yKi -Satz die Besiegung der Feinde als erzählendes Hauptstück mit dem Perfekt (V. 8c. d) aus.202 Also wird die Kombination der Bitte mit einem motivierenden yK-Satz als Ausdruck für das Vertrauen bzw. für die besondere Beziehung JHWHs zum Beter verstanden. Daher wird erkennbar, dass die Umdeutung des Perfekts problematisch ist: Weder die Umdeutung des Perfekts in V. 8 (prekatives Perfekt) noch eine literarkritische Trennung von Bitte und yK –Satz, noch die Annahme eines vorausgesetzten priesterlichen Heilsorakels bzw. eines kultischen Gerichtsurteils nach der Bitte vermögen das Nebeneinander zu klären. Schließlich werden die mit yKi eingeleiteten Perfektsätze (V. 8c.d) durch die unmittelbare Nachbarschaft von Bitte und ihrem Grund verstanden.203 Die früher erfahrene Hilfe begründet die jetzige Bitte.204 Der Beter stellt den Grund für die Bitte in V. 8a.b durch die Feindvernichtung in V. 8 c. d dar, die durch die Perfektsätze geschildert wird. Damit zeigt er, dass sein Vertrauen auf die Erfüllung der göttlichen Gerechtigkeit früherer Erfahrung entspringt. Nun sind die Feindschaftsbegriffe ybiy>ao und ~y[iv'r. zu untersuchen. Die Feindschilderung erscheint nach allgemeiner Auffassung sowohl in der Schilderung der Bedränger (V. 2) als auch in der Darstellung der Feinde und Frevler (V. 8).205 Aber nach unserer Auffassung geht es hier um zwei ganz verschiedene Feindschilderungen! Indem der Beter in V. 8 c. d sein Vertrauen auf die konkrete Erfüllung der göttlichen Gerechtigkeit durch die Feindvernichtung darstellt, unterscheidet er die Feinde in V. 8 von den Bedrängern in V. 2f. Der Beter bildet durch die Feindschilderung den Textrahmen, aber es ist zu erkennen, dass 199
200 201 202
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J. Goldingay, Psalms, 113: „The second line once again makes explicit that this plea bases itself on the way Yhwh has acted in the past. It thus takes vv. 3-6 further, as the previous line took vv. 1-2 further.” Anders IBHS 30.5.4cd. K. Seybold, Die Psalmen, 36. Anders F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, 55f. sie behaupten, dass das Perfekt in V. 8c.d den Sieg als gegenwärtig voraussetzt, weiterhin wird auch die Errettung antizipiert. Vgl. ebd. und Ps 22,22; 36,12f. Vgl. F. Baethgen, Die Psalmen,1904, 8f. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 58; J. Goldingay, Psalms: Psalms 1-41,114; vgl. auch P. Craigie, Psalms 74.
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der Beter durch seine Stilmittel eine Differenz expliziert. Um sie zu untersuchen, müssen allerdings die Feindbegriffe yb;äy>ao und ~y[iäv'r> in V. 8c. d im Zusammenhang mit den Verbalsätzen gedeutet werden. Da sie hinter der Bitte in V. 8a stehen, verbinden sie ihr Subjekt mit der Anrufung. In V. 8c und 8d liegt demnach ein Chiasmus vor:
t'yKiäh-i yKi( A yb;yä a> -o lK'-ta B yxil_, C yNEßvi C´ ~y[iäv'r> B´ `T'rB> v): i A´
Ja206, du hast geschlagen alle meine Feinde auf die Backe (V 8c) die Zähne der Frevler du hast zerschmettert (V 8d)
Man kann im Chiasmus deutlich eine Beziehung zwischen yb;äy>ao und ~y[iäv'r erkennen, d.h., die Frevler sind „meine Feinde“. Dabei lässt sich ihre Wechselbeziehung durch die inhaltliche Gemeinsamkeit von yxil_, und yNEßv belegen. In beiden Fällen sind Gottesstrafen bzw. ein Handeln Gottes erkennbar. Die beiden Verse 8c.d bestehen als Verbalsatz aus zwei Verben der 2 Sg. Form mit Endreim t'. In beiden Sätzen werden durch den Chiasmus die Ausdrücke t'yKiähi (du hast > v): i (du hast zerschmettert) als ein feststehendes Paar bestätigt. geschlagen) und `T'rB Die Analyse verdeutlicht, dass die Partizipialform von yb;äy>ao überhaupt nicht das Tun der Feinde schildert, d.h. es dient nicht zur Charakteristik des Subjekts auf Grund seiner Handlungen,207 sondern vielmehr dient die Form zur Charakteristik des Objekts auf Grund der Handlungen Gottes. Hier wird augenscheinlich das Beziehungsgefüge zwischen Gott und den Feinden erkennbar, während die drei Beziehungsgefüge zwischen Gott, den Bedrängern und dem Beter in V. 2f präsentiert werden. Die Unterscheidung zwischen den Feinden in V. 8 und den Bedrängern in V. 2-3 ist also deutlich erkennbar. Was schon die literarkritische Analyse beider Begriffe ergab, bestätigt sich durch die semantische Betrachtung. Da yb;äy>ao und ~y[iäv'r>208 im weiteren Sinne als zwei Hauptgruppen von Bezeichnungen der gleichen Gruppe zuzuordnen
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Das Wort übersetzen A. Weiser, Die Psalmen, ATD Bd. 14/15, 79; H.-J. Kraus, Psalmen, 157, mit „Ja“. Anders übersetzen: F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Psalmen I: 51-100, 57; B. Weber, Psalmen I: Die Psalmen 1 bis 72, 56. O. Keel, a.a.O., 98. Vgl. O. Keel, a.a.O., 93.
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sind,209 muss geklärt werden, wie sie zu analysieren sind,210 um die Feindschilderung zu verstehen. Für O. Keel bezeichnet [vr den in einer Auseinandersetzung211 als schuldig Erwiesenen.212 Auch im Klagepsalm des Einzelnen bewertet es die Widersacher moralisch, im Unterschied dazu hat bywa eine gegensätzliche Bedeutung. Zur Verdeutlichung verweise ich auf die beiden Verbalsätze t'yKih ä i (du hast geschlagen) und `T'rB > v): i (du hast zerschmettert), denn sie rühren an das zentrale Problem der Gotteserfahrung. Die beiden Sätze in Perfektform zeigen nicht, dass die Bitte durch Vorwegnahme des Sieges motiviert wird,213 sondern die Bitte in V. 8a.b bezieht sich auf die frühere Gotteserfahrung in V. 8.214 Das Hauptproblem der Verbalsätze ist, dass in ihnen ein thematisch eigenständiges Element in den Gesamtaufriss von V. 8 einbezogen wird, weshalb das Perfekt erscheint, das das Erbetene nicht nur als schon vollendet vorausnimmt, sondern es als auch identitätsstiftende vorausgehende Erfahrung formuliert. 215 Aus der Bedrängnis heraus richtet sich der verlangende Blick des Beters auf die Erfüllung der göttlichen Gerechtigkeit.
2. Inhaltliche Analyse Im letzten Abschnitt (V. 8) formt der Beter einerseits durch Wiederholungsfiguren einen Zusammenhang mit dem ersten Abschnitt, und andererseits wird sein Gottesbild abermals als eigenes Thema präsent, denn er entwirft mit drastischen Bildern ein hochdramatisches „Weltbild“, um zu zeigen, wie JHWH mit einer Welt voller Unrecht und Gewalt verwoben ist.
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O. Keel, a.a.O.,129. Die Bezeichnungen für die Widersacher lassen sich inhaltlich in zwei Gruppen, nämlich [vr und bywa, aufteilen. Vgl. Janowski, a.a.O.,105. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass nach der gewöhnlichen Auffassung die drei Begriffe yr"_c' , yb;äy>ao und ~y[iäv'r> zu einer Gruppe gehören. O. Keel, a.a.O., 109, teilt die Pss ganz schematisch aufgrund der Bezeichnungen der Widersacher des Beters ein, die folgenden Texte rechnet er den bywa –Psalmen zu: Ps 13; 18,2-31; 23; 30; 38;41; 57; 61; 70 = 40,14-18; 102; 142; 142; zu den [vr - bywa – Psalmen gehören sodann: Ps 3; 5; 6; 7; 9/10; 17; 25; 27; 31; 40; 42/43; 54; 55;56; 59;64; 69;71; 86; 109; 119 und reine [vr –Psalmen sind: Ps 11; 12; 14 = 53; 26; 28; 32; 34; 36; 39; 52; 58; 62; 63; 73; 94; 123; 125; 139; 140; 141. Vgl. Ex 2,13; 9,27.Vgl. O. Keel, a.a.O., 109. Vgl. Gen 18,23.25; Ex 23,1.7; Dtn 25,1f. F.-L Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 58. J. Goldingay, Psalms: Psalms 1-41, 114. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 58.
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a) Ein Weg zum Monotheismus In V. 8 ist das monotheistische Denken an der Gottesbezeichnung und dem Gottesnamen erkennbar, denn der Gottesname hw"hy> und die Gottesbezeichnung ~yhila{ / fordern dazu auf, JHWH als den persönlichen Gott (yh;ªla{ )/ des Beters zu verstehen. In individuellen Gebeten finden wir häufig derartige Bekenntnisse und Vertrauensaussagen:216 „Du (JHWH) bist mein Gott“.217 Die Formulierung spiegelt den Verheißungssatz „Ich bin JHWH, dein/euer Gott“ wider, da der Mensch so auf Gottes Zusage antwortet. Hier zeigt sich die Intention des Beters, denn er will JHWH als alleinigen Gott proklamieren, da sein Gott yh;ªla { / (V.8a) und JHWH (V.8b) einer ist, und zwar ein und derselbe. 218 Sein Gott ist kein anderer als JHWH selbst. Daher zielt die Argumentation des Verses darauf, sowohl die Einheit als auch die Einzigkeit JHWHs zu behaupten. Andererseits hängt das monotheistische Denken mit der Wurzel ~wq zusammen. Indem ~wq im letzten Abschnitt wiederum aufgegriffen wird, verarbeitet die Klage abermals das gegnerische Urteil, da dessen unausgesprochene Voraussetzung die Annahme ist, dass ein Gott, so er seine Aufgabe nicht erfüllt, sogar abwählbar ist. In V. 8 erinnert der Beter an diesen Konflikt (V. 2f). Er stellt dem gegnerischen Gottesbild (V. 2f) die Wendung in V. 8a.b gegenüber, wodurch sich seine Polemik konkretisiert. Hier kritisiert er wiederum, dass die falsche Gottesvorstellung seiner Mitmenschen durch ein funktionales Verständnis der göttlichen Eigenschaften strukturiert ist, 219 wogegen er die Einzigkeit JHWHs setzt.220 In V. 2f sind die Bedränger Subjekt des Verbs (~wq) gewesen, im Gegensatz dazu ist es in V. 8 nun hw"“hy>. Die im Klagepsalm belegte Aufforderung an JHWH hm'ÛWq221« ist ursprünglich als Imperativ im Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen zu lokalisieren, 222denn es ist „an ancient battle cry“. 223 JHWH soll nun
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J. van Oorschot, Der eine und einzige Gott Israels im Widerstreit, 125. Das sogenannte Schema Jisrael in Dtn 6, 4-6. Ps 22,11; 31,15; 63,2; 86,2; 140,7 und 143,10. Vgl. K. Schmid, Differenzierungen und Konzeptualisierung der Einheit Gottes, 31. Vgl. J. van Oorschot, Der eine und einzige Gott Israels im Widerstreit, 127. Vgl. K. Schmid, Differenzierungen und Konzeptualisierung der Einheit Gottes, 29; P. Craigie, Psalms 74; J. Goldingay, Psalms, 113; J. van Oorschot, Der eine und einzige Gott Israels im Widerstreit, 127. Vgl. Ps 3,8; 7,7; 9,20; 10,12; 17,13; 35,2. Ps 9,20; 10,12; 17,13; 35,2. P. Craigie, Psalms, 1983, 125.
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auch jetzt gegen seine Feinde bzw. die des Beters einschreiten. 224 hm'ÛWq ist die an JHWH gerichtete Aufforderung zum Kampf als Hilfe für die Bedrohten.225 Aber wichtig für die Interpretation des Imperativs ist vor allem auch der Ladespruch in Num 10,35f, wo das Erheben JHWHs mit der Zerstreuung bzw. Flucht der Feinde verbunden ist. 226 „Der beim Aufheben der Lade gebrauchte Spruch bringt das erbetene Sich-Erheben JHWHs eindeutig mit dessen rettendem Eingreifen im Kriege in Verbindung.“227 Man kann somit einen traditionsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen dem Ladespruch der offiziellen Religion und der Bitte in der persönlichen Frömmigkeit vermuten,228 denn der Beter rezeptiert die Gattung des Ladespruchs: „In the psalmist´s prayer, he uses the opening words of this ancient prayer. […] During the time of the Davidic kings, the ark probably remained in Jerusalem, but the theology remained the same.“ 229 Mit der Aufforderung hm'ÛWq knüpft er an das monotheistische Denken der offiziellen JHWH-Religion an. Wichtig ist hier vor allem der Gedanke, wer bzw. welcher Gott gegen die Feinde streitet.230 Durch den Ladespruch (hm'Wq) wird die wesenhafte Einheit JHWHs bekannt. Der Beter vertritt eine streng exklusive Theologie – es gibt keinen Gott außer JHWH, alle anderen Götter sind „Nichtse“. Monotheismus ist der Glaube an einen einzigen Gott, was im Gegensatz zu Monolatrie und Henotheismus den Glauben an die Existenz anderer Götter grundsätzlich ausschließt.231 „Das ist das Proprium des JHWH-Monotheismus, das seine bleibende religionsgeschichtliche und theologische Relevanz ausmacht.“232 Es zeigt sich so nämlich in der Tiefenstruktur des Zusammenhanges zwischen V. 3b und 8a, dass hinter dem Einklagen des Gottesgerichts und dem Appell an Gottes Verantwortung für sein Volk und seine Welt ein dynamisches Weltbild steht: Der Gott, der als JHWH sowohl der persönliche Gott des Beters als auch der Gott Israels ist, rettet auch aus dem Chaos des persönlichen Leidens. Der Gott Israels und der aus dem Leiden Errettende sind identisch. 224 225 226 227
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P. Riede, Im Netz des Jägers, 120. H. P. Müller, mqwm ´lm, 118. P. Craigie, Psalms 74. H. P. Müller, mqwm ´lm, 119; s. auch P. Craigie, Psalms 74: „But the symbol of God´s presence amongst his people was ark of the covenant.“ Anders: P. Riede, Im Netz, 120; vgl. auch C. de Vos, a.a.O., 171; A. Aejmelaeus, The Traditional Prayer in the Psalm (BZAW 167), Berlin, New York 1986, 33. P. Craigie, Psalms 74. Anders: P. Riede, Im Netz, 121. M. Albani, Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen: Zur Begründung des Monotheismus bei Deuterojesaia im Horizont der Astralisierung des Gottesverständnisses im Alten Orient, ABG 1, Leipzig 2000, 8. E. Zenger, Ist der Glaube Feind der Freiheit?, 52.
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b) Die Theodizeefrage an JHWH Vor diesem Hintergrund verlangt die Begründung seines Gottesverhältnisses vom Beter die Erfüllung besonderer Forderungen. 233 Er verbindet sein monotheistisches Gottesbild mit Gottes Gerechtigkeit (V. 8a. b), und er drückt so zugleich seine Rettungsgewissheit und Hoffnung auf die künftige Gottesherrschaft aus, 234 wodurch sich der Streit zuspitzt. Er sieht keinen anderen Ausweg, als dass JHWH, der Gott der Gerechtigkeit, nicht nur zu seinem alleinigen Gott wird, sondern dem aller wird. In V. 8a. b geht es um das Gott-Sein JHWHs, von dessen Eingreifen mittels hm'Wq und ynI[EÜyvi«Ah gesprochen wird. Der Leidende, der zu Gott aufschreit, damit dieser der Gewalt ein Ende setzt, proklamiert im Vertrauen darauf, dass hw"hy> das letzte Wort haben wird, die Befreiung aus Rechtlosigkeit, Unterdrückung und Entwürdigung. Er eröffnet sein Thema durch die Wendung [vy (V. 8b), wodurch sich sein Eintreten für die Gerechtigkeit Gottes gegenüber dem Desinteresse der Bedränger an der Theodizeefrage konkretisiert (V. 3b). Indem durch yh;ªla { / und ynI[EÜyvi«Ah die Aufforderung der Präsenz Gottes (hw"“hy> hm'ÛWq«) im Leiden unterstrichen wird, verschärft sich die Auseinandersetzung über das Gottesbild und die Theodizeefrage. Der Beter will wissen, wie sich das Dasein Gottes angesichts des Schrecklichen im Leben rechtfertigen lässt, womit sich die Frage nach dessen Gerechtigkeit stellt. Mit der Bitte um Gottes Hilfe (V. 8a.b) wird eine entscheidende Antithese gegen die Gottesvorstellung bzw. gegen das Desinteresse seiner Bedränger an der Theodizeefrage formuliert (V.3b). Auszugehen ist von der Erinnerung an frühere Siege über die Feinde durch Gott, die für den Beter eine identitätsstiftende Erfahrung bilden. 235 Entscheidend ist, dass sein Gottesbild auf einem Rückblick auf Gottes früheres Heilshandeln basiert, was seine Vertrauensäußerung ermöglicht und fundiert.236 Für die Theodizeefrage bedeutet das, dass Got233 234 235
236
Vgl. W. Thiel, Gedeutete Geschichte, BTHSt 71, 12. J. Goldingay, Psalms, 113. Vgl. G. Neuhaus, Frömmigkeit der Theologie: Zur Logik der offenen Theodizeefrage, Freiburg 2003, 94f. Vgl. auch H. Gunkel, Die Psalmen, 349. Aus der Not der Gegenwart, die aus den Klagen und Bitten der Klagelieder spricht, richtet sich der verlangende Blick der klagenden Gemeinde Jahves auf die Verheißungen der Endzeit mit ihrem leuchtenden Gegenbild. Er verweist darauf, dass die eschatologische Gedankenwelt im Klagelied des Volkes in der Erhörungsgewissheit (Ps 10, 16-18) und dem Vertrauensmotiv (Ps 125,3.) erscheint. Vgl. H. Gunkel, a.a.O., 130, er fasst Aussagen wie Ps 44,2-4 mit Sätzen wie z.B. 44,5 „Du bist mein König und mein Gott“, 74,12 „Aber Gott ist mein König von alters her“, Jer 14,8 „Du Hoffnung Israels, du Retter in Zeit der Not“ als „Beweggründe göttlichen Einschreitens“ zusammen; C. Westermann, Loben Gottes, 42-44, ist der Auffassung,
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tesvorstellung und ausstehende Gerechtigkeitserfüllung verbunden sind. Der Leidende erinnert sich an konfessorische narrative Erfahrungsniederschläge, um im Leid mit hw"hy>â als seinem Gott ~yhil{a/ umzugehen.237 Das erfahrungsorientierte Bekenntnis spielt deshalb eine zentrale Rolle,238 da es als entscheidendes Element einer „heilsamen Kraft“ anzusehen ist. Der Beter erinnert Gott an seine früheren Machttaten, um ihn aufzufordern, seine Macht aufs Neue zu erweisen.239 Das zeigt zugleich, wie er JHWHs Gott-Sein versteht und worauf sein monotheistischer Glauben beruht. Hier geht es um die Konkretion des Anspruchs des Gottes JHWH, d. h. um die Sehnsucht, dass die Bedränger nicht das letzte Wort haben dürfen. 240 Die imperativische Aufforderung (V. 8a.b) fordert Gottes Reaktion auf den Widerspruch (V. 8c.d), den die Bösen in einer an sich von Gott beherrschten Welt verkörpern. Die Erinnerung an die Errettung ist sein theologisches Basisaxiom schlechthin. Angesichts der Erfahrung eines vom Leid angegriffenen Glaubens und einer zerstörten Weltordnung will er durch seine frühere Gotteserfahrung zeigen, dass Gott nicht nichts mit dem Leid zu tun hat, sondern auf ganz andere Weise damit in Verbindung gebracht werden kann. Er glaubt an den Gott, zu dem er in der Situation der Schreckensstarre flüchten und zurückkehren kann. Das Bekenntnis ist sein bevorzugter Modus, um die Frage nach Gott und Leid zu bewältigen.241 Insofern eröffnet der Beter in seinem Glauben zwar einen deutlichen Blick auf seinen „Kampf“, aber er begreift JHWHs Gott-Sein nicht lediglich als Antithese zur Vielzahl anderer Götter, sondern expliziert die göttliche Einzigartigkeit JHWHs mit der Antithese der Gerechtigkeit Gottes, um das das Desinteresse seiner Gegner an der Theodizeefrage abzuweisen.242 Hier macht er deutlich, dass
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dass zwischen dem „Hinweis auf JHWHs früheres Heilshandeln“ und dem „Bekenntnis der Zuversicht“ genauer zu unterscheiden ist. „Dort wird auf bestimmte, in der Vergangenheit vorliegende Fakten bzw. Daten verwiesen, während hier die Zuversicht jenes früher erfahrene Handeln Gottes für sein Volk glaubend und lobend in die Gegenwart holt.“ Vgl. W. H. Ritter/ H. Hanisch/ E. Nestler, Leid und Gott: Aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen, Göttingen 2006, 41. Vgl. F. Crüsemann, Der Gewalt nicht glauben, in: F. Crüsemann/M. Crüseman/C. Janssen/R. Kessler und B. Wehn, Dem Tod nicht glauben: Sozialgeschichte der Bibel. Festschrift für Luise Schottroff zum 70. Geburtstag Gütersloh, 265, er zeigt, dass in neueren Arbeiten zur Traumatabehandlung der Begriff des „sicheren Ortes“ eine zentrale Rolle spielt. Vgl. W. H. Ritter/ H. Hanisch/ E. Nestler/ C. Gramzow, a.a.O., 46. E. Zenger, Gewalt überwinden, 53. Vgl. W. H. Ritter/ H. Hanisch /E. Nestler/ C. Gramzow, Leid und Gott, 41. Vgl. E. Zenger, Ist der Glaube Feind der Freiheit?, 47.
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der Glaube an einen einzigen Gott und die sich in der Gottesfrage ausdrückende Empörung vereinbar sind. Gott ist auch für die Bedrängnis bzw. die daraus resultierende eigentliche Not verantwortlich,243 wie in seiner erfahrungsbezogenen Rede deutlich geworden ist. Aber sein Bekenntnis offenbart, dass es Rettung für ihn trotzdem nur bei dem einen Gott gibt. So bewältigt er sein Leid und bleibt zugleich Gott treu. In dieser Treue hat er seinen Selbststand gefunden und kann die Theodizeefrage stellen, was sein monotheistisches Denken erweist. Damit wird die Stufe der familiären Religion, die zur Ergebung in das Unabänderliche zwänge, überwunden, und vor allem werden so Widerstandskräfte aktiviert, die den Glauben der gewachsenen Kleingruppe transformieren können. Der Beter stellt der traditionellen Vorstellung, nach der ein Gott, der die Hilfserwartung nicht erfüllt, durch eine andere Gottheit ersetzt werden muss, seine Treue zu JHWH durch sein Bekenntnis entgegen. Somit zielt seine Polemik gegen die tendenziell polytheistische gegnerische Gottesvorstellung. In seinem Gottesbild verbinden sich die Gerechtigkeit von Israels Gott JHWH mit den konkreten Lebenschancen des einzelnen Menschen. Indem er sich im Leiden direkt an JHWH wendet, geht sein Verständnis über das traditionelle Gottesbild einen entscheidenden Schritt hinaus, da es ihm um die prinzipielle Möglichkeit geht, vor Gott Recht zu bekommen, indem er sich aufgrund seines monotheistischen Glaubens an JHWH wendet, der endlich seine Macht erweisen soll.
IX. Das Gottesbild in der Segenszuwendung: V. 9244 1. Der Kontext In V. 9 werden sprachliche Charakteristika der beiden bisher besprochenen Teile – V. 2-4. 8 und V. 5-7 – gleichzeitig verwendet. Erneut werden die Motive von Rahmen und axialem Teil aufgegriffen. Als „spannungsreich“ wird der Gegensatz zwischen Aussage und Anrede in V. 9a-b empfunden. Die Anrede Gottes in der zweiten Person in V. 9b verweist auf die Rahmenteile. Im Gegensatz dazu wird in V. 9a der Gottesname in der dritten Person wie im Mittelteil benutzt. Daher lässt sich V. 9 zweiteilen, wobei sich der Effekt ergibt, dass V. 9a dem Mittelteil und V. 9b dem Rahmen zugeschrieben werden kann. Wie ist diese stilistische Auffälligkeit zu verstehen? Ist es ein
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Vgl. F. Crüsemann, Der Gewalt nicht glauben, 263. H.-J. Kraus, a.a.O., 28.
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Verweis auf die Tiefenstruktur und Kohärenz des Textes oder muss V. 9b als redaktioneller Anhang verstanden werden?245 Zwei konträre Verstehensmöglichkeiten sind demnach möglich: Aus der scheinbaren Inkohäsion ergibt sich die heute allgemein vertretene Auffassung, dass das Gebet eigentlich in V. 9a mit einem Bekenntnis endet, weshalb 9b als redaktioneller Anhang oder Erweiterung gilt. Aber m. E. darf er jedoch nicht so verstanden werden, weil V. 9a ohne ihn seine rhythmische Struktur verlöre. Die Schwierigkeit, durch die es zur Inkohäsion der Versoberfläche kommt, verbirgt sich in der Kohärenz des Textes, die durch die inhaltliche Thematik bestimmt wird. Der Gottesnamenwechsel kann dadurch erklärt werden, dass V. 9 zur Verbindung von Rahmenteilen und axialem Teil dient. Deshalb enthält er sowohl Anfangssignale für das zweite Teilthema (V. 5-7) als auch Schlusssignale für das erste Teilthema (V. 2-3 und V. 8). Somit ist ein thematischer Zusammenhang bzw. eine thematische Progression erfassbar. Im zweigeteilten Schlussvers trägt der Beter nochmals die in seiner Argumentation entwickelten Feststellungen vor. V. 9a bildet sein Bekenntnis vor dem Auditorium, aber er beendet sein Gebet erst mit dem Segenswunsch in V. 9b. So wird deutlich, dass jede thematische Einheit aus einem bekannten Thema und einem neu hinzukommenden Element (V. 9a und V. 9b) besteht. Die lineare thematische Progression ist so darstellbar:
Thema 1 (V. 2-4, 8) + Rahmen (V. 9b, 9a) + Thema 2 (V. 5-7).
2. Strukturanalyse Die Aussage von V. 9a schließt einerseits an die Rahmenteile an, obwohl JHWH nicht so wie dort angesprochen wird. Andererseits ist sie mit der Polemik gegen die Gottesvorstellung der Bedränger im Anschluss an das zweite Thema (V. 5-7) verknüpft. V. 9a grenzt dabei durch die Gottesbezeichnung die beiden Textteile – V. 2-4.8. und 5-7 – gegeneinander ab und verbindet sie zugleich durch den Zentralbegriff [vy, denn bestimmte sprachliche und inhaltliche Zeichen funktionieren als Verbindungselemente. Drei Verse werden also durch [vy verbunden, und sie bilden den Höhepunkt der Auseinandersetzung: 245
Anders: F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 58: „Der redaktionelle Anhang V. 9b ist gemäß den Parallelen in Ps 128,8 vgl. Ps 28,9; 51,20 als Segensbitte oder Segenswunsch zu verstehen –hier mit Blick auf das gesamte Gebet wiederum in die Anrede an JHWH gekleidet.“
Psalm 3: JHWH – als rettender Got
h['W_ vy>h; hw"hï yl; ~yhiìl{abe( ALì ht'['¦Wvy>) !yaeÛ h;ªl{a/ ynI[EÜyvi«Ah hw"“hy> hm'ÛWq
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Bei dem HERRN ist die Rettung. (V. 9a) Es gibt keine Rettung für ihn bei Gott! (V. 3b) Steh auf, HERR! Rette mich, mein Gott! (V. 8a)
«
In V. 9a zeigt sich die Vielfältigkeit des Zentralbegriffes [vy. Die Aussage von V. 3b.8a und 9a lässt sich mit Hilfe der Wiederholungen des thematischen Terminus ermitteln. ht'['¦Wvy>) tritt in V. 3b ohne Artikel auf, im Gegensatz dazu hat es in V. 9a einen Artikel. 246 Der Unterschied soll verdeutlichen, dass sich h['_Wvy>h; in V. 9a auf 3b bezieht. Das Bekenntnis in V. 9a widerspricht damit abermals der gegnerischen These. Während in V. 8a Gott mit ynI[EÜyvi«Ah zum Eingreifen aufgefordert wird, gilt h['_Wvy>h; in V. 9a als Nominalsatz, der eine entscheidende Information in Verbindung mit dem Erzählverlauf von V. 5-7 markiert. Zwischen ynI[EÜyvi«Ah in V. 8a und h['_Wvy>h; im Nominalsatz von V. 9a scheint ein Perspektivwechsel stattzufinden. Die beiden Verse bilden durch den Gottesnamen hw"“hy> und den Rückverweis auf die Gottesvorstellung in V. 3b den Höhepunkt. Während in V. 3b.8a die Gottesbezeichnung ~yhil{a/ steht, wird in V. 9a hw"“hy> benutzt. Die unterschiedliche Bezeichnung verstärkt den Unterschied der Gottesvorstellungen in Hinsicht auf die göttliche Gerechtigkeit. hw"“hy> in V. 8a und V. 9a steht auch in Verbindung zur Gottesbezeichnung ~yhil{a/ von V. 3b. Damit widerspricht der Beter der gegnerischen Behauptung, und er greift das konkrete in V. 8a. 9a thematisierte Eingreifen Gottes erneut auf. V. 9b schließt das erste Thema ab (V. 2-4 und V. 8). So heißt es bei J. S. Kselman: „ This link by inclusion of v 9 with vv 2-3 is underlined by the syntactic fact that vv 2b-3a are both nonverbal sentences, as are both cola v. 9.”247 Der Beter wünscht dem Volk Gottes Segen, d.h., er beendet das erste Teilthema des Gebets, vor dem Auditorium stehend, mit einem Segenswunsch:
`^th; hw"ïhyl; und weist so die Behauptung seiner Mitmenschen, die sagen ~yhiìl{abe( ALì ht'['¦Wvy>) !yaeÛ (V. 3b), zurück. Den Bedrängern, die ihn verspotten, entgegnet er, dass er gerade bei seinem Gott hw"“hy> Hilfe (h['_Wvy>h;) finden wird. Das gleiche Phänomen erscheint im Zusammenhang zwischen V. 8 und V. 9a. Im Vergleich zur starken Aufforderung zum Eingreifen Gottes mit ynI[EÜyvi«Ah im imperativischen Satz (V. 8) zeigt sich im Nominalsatz h['_Wvy>h; in V. 9a, dass seine Aufforderung in Lob und Dank mündet. In V. 8 (yh;ªl{a/ ynI[EÜyvi«Ah Ÿhw"“hy> hm'ÛWq«) fordert er den Erweis der Gerechtigkeit Gottes durch Gottes Tat. In V. 9a fasst er sein Gottesbild ( h['_Wvy>h; hw"ïhyl; ) zusammen. Vor diesem Hintergrund verdeutlicht er durch die Verbindung mit dem zweiten Thema (V. 5-7) erneut sein monotheistisches Denken. Ein entscheidender Grund, weshalb die Gottesvorstellung der Bedränger so stark kritisiert wird, ist, dass ihm die freundliche Zuwendung Gottes unterbrochen scheint, aber sie besteht ja dennoch fort. Das Antlitz ist zwar abgewendet, es kann sich aber jederzeit wieder zuwenden. Darum hält der leidende Beter leidenschaftlich an hw"“hy> fest. 248 249
250 251 252
H. Gunkel, Die Psalmen, 15. Vgl. Ps 128,6; 130,7f. Siehe auch. C. de Vos, a.a.O.,215f. A. Weiser, Die Psalmen, 80, er weist darauf hin, dass die Situation des Bundeskults in V. 9 erkennbar sei, weshalb er vermutet, dass sich der königliche Beter im Segenswunsch mit dem Gottesvolk zusammenschließt. H.-J. Kraus, a.a.O., 28. J. S. Kselman, Psalm 3: A Structural and Literary Study, CBQ 49, 1987, 580. M. Weippert, Jahwe und die anderen Götter, 13.
Psalm 3: JHWH – als rettender Got
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Damit ist der Kern dessen berührt, was dieser Psalm und seine Sprache ausdrücken. Die Klage spricht den abwesenden Gott nicht nur an, sondern fordert die Zuwendung seines Antlitzes, um so den erfahrenen Abgrund zu überbrücken. Gott ist abgewendet und unsichtbar, er scheint nicht zu hören und sehen, aber, der Beter kann auch den Abwesenden anreden, kann vom Nichthörenden Zuhören verlangen, vom Abgewendeten Zuwendung. Er beschreibt durch die Wendung in V. 9a, welchen Glauben das Volk gewinnen soll, 253 denn er bezeugt vor ihm: JHWH ist der „Retter“. Er beendet seine Klage mit dem Übergang vom persönlichen Bekenntnis zum allgemeinen Segenswunsch.254 Er bekräftigt durch ^ßM.[;-l[ (auf dein Volk) in V. 9b sein Interesse, während die vielen Bedränger durch den Ausdruck ht'['¦Wvy>) !yaeÛ: mit Al (für ihn) in V. 3b zuvor das ihre gezeigt haben. Hier ist ein Wechsel im Sprechakt unübersehbar. So heißt es bei J. S. Kselman: „And this final prayer of the psalm is linked by inclusion to the began with a group or collectivity, the many enemies opposing the psalmist, so it ends with another collectivity to which the psalmist belongs, the people of Yahweh, to whom come his salvation an blessing.”255 Daraus lässt sich folgern, dass das Volk mit seinen Mitmenschen bzw. Gegnern identisch ist, aber der Beter wünscht am Ende, dass Gottes Segen gerade auch ihnen gilt. Dadurch konkretisiert der Beter sein Gottesbild, für ihn hängt nämlich alles vom Segen ab. 256 Der Segen steigert nicht nur die Lebenskraft des Gesegneten, 257 sondern ist Grundvoraussetzung des Lebens. Die Segensbitte drückt in seinem monotheistischen Denken ein Vertrauensbekenntnis aus, dem sich auch das Volk, als Segensempfänger, anschließen soll. 258 Denn in der Wendung – Dein Segen komme auf dein Volk – fordert er zugleich, dass sich das Volk nun
253
254 255 256 257
258
Vgl. H.-J. Kraus, a.a.O., 28. Wie sein Hinweis zeigt, spiegelt die Formulierung h['_Wvy>h; hw"ïhyl; die persönliche Erfahrung in einem allgemein verbindlichen Credo wider. H. Gunkel, Die Psalmen, 15. Vgl. Ps 128,6; 130,7f. Siehe auch C. de Vos, 215f. J. S. Kselman, Psalm 3: A Structural and Literary Study, CBQ 49, 1987, 580. Vgl. A. Weiser, a.a.O., 80. Siehe H. Gunkel, Die Einleitung, 293 ff. Es ist der Zweck des Segens, dem Gesegneten einen Vorteil zu verschaffen oder eine Steigerung seiner Lebenskraft zu bewirken. Wenn der Segensempfänger keine konkrete Person ist, wird eine genauere Kennzeichnung durch einen Relativsatz oder ein Partizip notwendig. Zudem wird erklärt, warum ihm der Segen zuteilwerden soll. J. Goldingay, Goldingay, Psalms: Psalms 1-41,114. Für R. Albertz, a.a.O., 113, ist die entscheidende theologische Innovation der Exilszeit die Entdeckung des Monotheismus durch die Deuterojesajagruppe.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
doch auch seinem Gott als ihrer aller Gott zuwenden möge. 259 JHWH allein ist zu ehren und zu fürchten260 und ihm ist ohne alles Wanken zu vertrauen. 261
X. Zusammenfassung Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Gottesbild des Beters einen Wendepunkt verkörpert, da es der traditionellen Harmonie zwischen Großgottheit und familiärer Religion ein Ende setzt. Die Theodizeefrage muss neu formuliert werden, wenn das monotheistische Denken in den Familienbereich eindringt – ja eigentlich stellt sie sich nun erstmals. Der Beter stellt sie aufgrund seines monotheistischen Denkens, das die traditionelle Gottesvorstellung überwindet. Die Stärke des Gebetes als ein entscheidender Schritt zum Monotheismus besteht darin, dass obwohl Gottes Zuwendung zur Welt unterbrochen zu sein scheint, sie dennoch als verborgene präsent ist, was gerade die Stärke der Bildsprache des Psalms ausmacht. Deshalb hält der Leidende an Gott fest, indem er seine Klage vor ihn bringt, um dessen erneute Zuwendung zu erflehen. Das ist aber nur in einem monotheistischen Denkhorizont möglich und zugleich der entscheidende Grund für die Möglichkeit die Theodizeefrage zu stellen, die paradoxerweise - somit auch schon beantwortet ist. Die Theodizeefrage wird nämlich nicht gelöst, indem das Leid mit einem insgesamt sinnvollen Weltganzen verrechnet wird, sondern Gottes Macht wird sich in der Zukunft bewahrheiten und dem Leid ein Ende setzen! Dies Bekenntnis überbrückt den gegenwärtigen Abgrund.262 Darum stehen am Ende Lob und Dank und Gottes Segen für das Volk, zu dem dann auch die Bedränger gehören werden, was den Konflikt endgültig beendet.
XI. Ergebnis: Theodizee und Monotheismus des leidenden Beters Psalm 3 schildert einen Streit um das Gottesbild, und um seine Schreckensstarre angesichts der gegnerischen Gottesvorstellung zu überwinden, entwickelt der 259
260 261
H. Gunkel, Die Einleitung, 297. Für ihn wendet sich derjenige, der JHWHs Segen empfängt, nicht fremden Göttern zu. Vgl. auch Ps 40,5. Vgl. Ps 112,1; 128,1; Prov 28,14. Vgl. Ps 2,12; 34,9; 40,5; 84,6.13; 91,2; 146,5; Jes 30,1.8; Jer 17,7.
Psalm 3: JHWH – als rettender Got
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Beter in seinem Widerstand und Protest eine neue Theologie. Sein Interesse zielt auf die Bewahrung der Glaubenstreue zu JHWH, was ihn dazu nötigt, monotheistische Gedanken mit der Theodizeefrage zu verbinden. In V. 2f wird die gegnerische Gottesvorstellung aufgegriffen, um gegen sie zu polemisieren und zu argumentieren. Darum thematisiert er sein Gottesbild als Gegenbild in der Vertrauensaussage, um sich von seinen Ängsten und Schmerzen zu befreien. Aber der Leidensgrund steht nicht im Zentrum seines Interesses, was darin sichtbar wird, dass sich seine Position nur als Protest gegen die Bedrängnis bzw. eigenen Ängste interpretieren lässt.263 Sein Gottesbild wird zur Anklage gegen seine Widersacher. Darum kommen seine elementaren Ängste zur Sprache - der Beter sucht mit aller Leidenschaft nach der Befreiung von ihnen und ihren Urhebern. 264 Der Psalm ist Ausdruck der Sehnsucht, dass das Böse und die Bösen nicht das letzte Wort in der Geschichte haben dürfen, denn die Welt und Geschichte gehören Gott.265 Deshalb geht seine Klage unmittelbar in Zuversichtsaussagen über, die sich der Erinnerung an Gottes früheres Heilshandeln verdanken (V. 4). Seine existentielle Erfahrung göttlicher Machttaten 266 dient ihm im gegenwärtigen Leid als Gegenbild; denn auch jetzt darf wie früher Gottes Heilshandeln erwartet werden. Die Vertrauensaussage ist nicht nur persönlich zu verstehen, denn es besteht ein traditionsgeschichtlicher Zusammenhang zur kollektiven Gotteserfahrung, 267 da das Motiv des Heiligen Berges in seine persönliche Bitte eingegangen ist. Die Erinnerung an frühere, vor allem eben kollektive Gotteserfahrungen, steht in scharfer Antithese zur Geschichtslosigkeit der Widersacher, deren Blick in die Zukunft versperrt ist, denn weil sie sich nicht mehr zu erinnern vermögen, ist ihnen auch die Zukunft verschlossen, was ihr Dasein auf den Modus der bloßen Gegenwart reduziert. 263
264 265 266
267
Das gegnerische Urteil in V. 3b will den Beter davon überzeugen, dass entweder er selbst oder Gott für das Leiden verantwortlich ist. Weil er aber die Leidensverantwortung gar nicht problematisiert, interessiert er sich auch nicht für den Tun-ErgehenZusammenhang! I. Baldermann, Einführung in die Bibel, Göttingen 31988, 91. E. Zenger, Gewalt überwinden, 53. Dies Verständnis findet sich in der Untersuchung von G. Neuhaus, Menschliche Identität angesichts des Leidens, 44f: „Diese Erinnerung gilt nicht nur einer singulären Erfahrung in der geschichtlichen Ereignisfolge, sondern einer identitätsstiftenden Urerfahrung, weil diese Erfahrung mit jeder Gegenwart gleichzeitig wird und auf diese Weise den kontrastierenden Hintergrund abgibt, vor dem erst der gegenwärtige Weltzustand zum Gegenstand der Klage werden kann. Und als solche identitätsstiftende Urerfahrung befähigt die Erinnerung an die Machttaten, die Gott an den Vätern gewirkt hat, zu der Zuversicht, dass das geschehene geschichtliche Unrecht nicht das letzte Wort sein kann.“ F. Crüsemann, Der Gewalt nicht glauben, 264.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
Der Beter rührt an das zentrale Problem seines Selbststandes, bei dem es um die Erinnerung von Rettung und an Zeiten der Zuwendung geht. Das Wirken JHWHs, das von seinem Heiligtum ausgehen wird, erwartet er auch für die Zukunft. Diese Hoffnung ermöglicht es ihm, als Leidender einen neuen Selbststand vor Gott zu finden,268 wobei es die Stärke seines Selbstandes ist, dass sie gerade nicht in sich selbst, sondern in Gott begründet ist. Er orientiert sich nicht mehr länger an der partiellen, funktionalen Gottesbeziehung und –erkenntnis der familiären Religion, um sein Leid zu bewältigen, sondern er „löst das Problem“ durch den Glauben an JHWH, der nun sowohl persönlicher Gott269 als auch alleiniger Gott von Israels offizieller Religion ist. Im Protest gegen die gegnerische Gottesvorstellung wird der Glaube an den einen Gott neu verarbeitet, denn der bisherige religiöse Dualismus ist aufgehoben worden. Im Festhalten am einen einzigen Gott kann er seine Ängste überwinden. Seine Erinnerung an die Erfahrung der Machttaten Gottes ermöglicht dem Beter einen Selbststand, der ihn dazu befähigt, das gegenwärtige Geschehen bzw. „die eigentliche Not“ zu verarbeiten.270 Das Ringen um den Selbststand in Gottes erhoffter Zuwendung durchzieht angesichts der Herausforderung durch die feindliche Gewalt die ganze Klage. Er überwindet den aus seiner Leiderfahrung resultierenden Widerspruch zwischen behaupteter Gottesmacht und erfahrener göttlicher Abwesenheit durch seine unbeirrbare Treue zu JHWH. Er sprengt so den Bereich der Familienreligion, indem er der offiziellen Religion in ihrer Krise nicht nur treu bleibt, sondern sie streng monotheistisch versteht, so dass der eine Gott zum Gott aller Lebensbereiche geworden ist. Er setzt diesen Glauben gegen die erfahrene Wirklichkeit, weshalb seine Antwort auf die Theodizeefrage gerade in ihrer Härte ein Vertrauensakt ist, dem Gott zukünftig entsprechen wird. Der Beter hält so an Gottes Gerechtigkeit fest, zu diesem Gott kann er jederzeit fliehen oder zurückkehren, um seine Bedrohungen und Nöte zu bewältigen. Im Zentrum der Theodizeefrage steht sein monotheistischer Glauben, der es ihm ermöglicht, Gott als seine Hoffnung zu erfahren, was ihm Hilfe und Rettung verbürgt.
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E. Zenger, Gewalt überwinden, 53. H. Vorländer, Mein Gott, 233; vgl. auch J. Goldingay, Psalms, 111. Vgl. G. Neuhaus, a.a.O., 44f: „Und als solche identitätsstiftende Urerfahrung befähigt die Erinnerung an die Machttaten, die Gott an den Vätern gewirkt hat, zu der Zuversicht, dass das geschehene geschichtliche Unrecht nicht das letzte Wort sein kann.“
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B) Psalm 38: JHWH – der eine Gott – Der Weg zum Leben durch das SündenbekenntnisVorbemerkung: Psalm 38 ist durch eine andere Konstellation als Psalm 3 geprägt, denn es wird hier zwar auch über das Gottesbild gestritten, aber die Antagonisten beziehen sich auf denselben Gott. Allerdings zwingt das erfahrene Leid den Beter dazu, den gemeinsamen Gott anders als seine Gegner zu verstehen, da er nicht wie sie dazu bereit ist, seine Not durch den Tun-Ergehen-Zusammenhang zu deuten. Auf den ersten Blick scheint der Beter zwar das klassische Deutungsmuster durch sein Sündenbekenntnis zu bestätigen, doch im Text finden sich plausible Indizien, um eine unverschuldete Not, die auf Gott selbst zurückgeht, zu erweisen. Dies nötigt den Beter zur Theodizeefrage, wodurch sich sein Gottesbild von dem der Gegner unterscheidet, da für sie zwischen ihrer Gottesvorstellung und Wirklichkeitserfahrung kein Gegensatz besteht, der sie dazu nötigte beide Größen zu reflektieren!
I. Der Text 1. Übersetzung 1 Ein Psalm Davids zum Gedächtnis. 2 HERR, strafe mich nicht in deinem Zorn, und züchtige mich (nicht) in deinem Grimm! 3 Denn deine Pfeile sind in mich eingedrungen, und deine Hand hat sich auf mich herabgesenkt. 4 Nichts Unbeschädigtes ist an meinem Fleisch wegen deines Zorns, nichts Heiles an meinen Gebeinen wegen meiner Sünde. 5 Denn meine Sünden übersteigen meinen Kopf, wie eine schwere Last sind sie schwer für mich. 6 Meine Wunden stinken, eitern wegen meiner Torheit. 7 Ich bin gekrümmt, sehr gebeugt, den ganzen Tag gehe ich trauernd einher. 8 Denn meine Lenden sind voller Brand,
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott und keine heile Stelle ist an meinem Fleisch1. 9 Ich werde matt und bin ganz zerschlagen, ich brülle aus dem Stöhnen meines Herzens. 10 Herr, vor dir ist all mein Begehren, und mein Seufzen ist nicht vor dir verborgen. 11 Mein Herz pocht, meine Kraft hat mich verlassen, und das Licht meiner Augen, auch das gibt es nicht bei mir. 12 Meine Lieben und meine Gefährten stehen fernab von meiner Plage und meine Verwandten stehen ferne. 13 Die nach meinem Leben trachten, legen Schlingen, und die mein Unglück suchen, reden von Verderben, und sinnen auf Betrug den ganzen Tag. 14 Ich aber höre wie ein Tauber nicht, und wie ein Stummer, der den Mund nicht auftut. 15 Ich bin wie ein Mann, der nicht hört, und in dessen Mund keine Entgegnungen sind. 16 Denn auf dich, HERR, harre ich du, du wirst antworten, HERR, mein Gott. 17 Denn ich sprach: dass sie sich nicht über mich freuen, beim Wanken meines Fußes großtun gegen mich. 18 Denn ich bin nahe am Straucheln, und mein Schmerz steht mir ständig vor Augen. 19 Denn ich bekenne meine Schuld, ich bin bekümmert wegen meiner Verfehlung. 20 Meine lebendigen Feinde sind stark, und zahlreich sind, die ohne Grund mich hassen, 21 sie vergelten Gutes mit Bösem, sie feinden mich an, weil ich dem Guten nachjage. 22 Verlass mich nicht, HERR, mein Gott, sei nicht fern von mir! 23 Eile zu meiner Hilfe, Herr, meine Rettung!
1
Andere Übersetzungsmöglichkeit: Es gibt nicht etwas Unbeschädigtes an meinem Fleisch.
Psalm 38: JHWH – der eine Gott
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2. Der Aufbau des Psalms Psalm 38 beginnt, nach der Anrufung des Gottesnamens, mit einer Bitte, einem typischen Klageliedelement, 2 woran sich eine Elends- und Krankheitsschilderung anschließt. Allerdings ist sie hier mit einem Bekenntnis der Torheit bzw. Sünde verknüpft. Ein weiteres Charakteristikum ist die Feinddarstellung bzw. der Konflikt mit seiner Umwelt (V. 12f. und 20f.). Die Hoffnung auf Gottes Eingreifen benennt V. 16. Am Ende steht die gattungsgemäße Schlussbitte. All diese typischen Merkmale erweisen ihn als individuelles Klagelied. 3 Der Argumentationsgang Der Psalm gliedert sich in drei Blöcke: V. 2-10 als erster, V. 11-15 als zweiter und V. 16-23 als dritter Abschnitt. Die chiastisch strukturierten Verse des ersten und dritten Teils bilden einen Rahmen um den zweiten Abschnitt, was eine symmetrisch-axiale Anordnung bewirkt. 4 Themen der Rahmenteile sind die Klage gegenüber Gott und die Polemik gegen das gegnerische Gottesverständnis. Im Mittelteil beklagt der Beter die Reaktion der Umwelt auf seine Not.5 Der 1.Außenteil: V. 2-106 Der Abschnitt hat zwei Themen: Krankheit und Bekenntnis der Sünde als Torheit, doch die eigentliche Klage setzt erst mit V. 6 ein: V. 2 und 10: Treue zu Gott trotz aller negativen Erfahrungen V. 3 und 9: Theodizeefrage V. 4 und 8: Krankheitsdarstellung V. 5 und 7: Charakterisierung der Sünde V. 6 dient als Zentralvers: Leiden und Torheit.
Der Mittelteil: V. 11-157 Diese fünf Verse, die auch eine wichtige Rolle für die Rahmenteile spielen, bilden den axialen Teil: V.11: Krankheitsschilderung als Einleitung V. 12-13: Feindschilderung 2 3
4 5 6 7
H. Gunkel, Die Einleitung, 212. Vgl. K. Seybold, Die Psalmen: Eine Einführung, 99. Im Klagepsalm des Einzelnen sind Elendsschilderungen und Bitten mit Vertrauensaussagen, Dank- und Lobgelübden und den sog. Stimmungsumschwüngen des Beters verbunden. K. Seybold, Die Psalmen: Eine Einführung, 99. J. Goldingay, Psalms I, 545. Der Abschnitt wird künftig mit I bezeichnet. Der Abschnitt wird künftig mit II bezeichnet.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott V.14-15: Reaktion auf die Feinde.
Der 2. Außenteil: V. 16-238 Der Abschnitt hat drei Themen, nämlich Krankheit, Sündenbekenntnis und Feindklage: V. 16 und V. 23: Orientierung auf Gott V. 17 und V. 22: Theodizeefrage V. 18 und V. 21: Auseinandersetzung über die Krankheit V. 19 und V. 20: Polemik und Sündenbekenntnis.
Die Struktur verdeutlicht die Auffälligkeit, dass sich Themen wiederholen, wobei auch identische Stilfiguren benutzt werden, um den engen Zusammenhang der Rahmenteile (I/ III) hervorzuheben, allerdings kommt es auch zu Erweiterungen. Denn während sich der Beter im ersten Teil (I) auf Gott konzentriert, wird im axialen Teil (II) das Hauptthema der Feind-Klage mit der Krankheitsdarstellung verbunden. Im zweiten chiastischen Teil (III) bilden die Feindhandlungen wiederum ein neues Thema. Nachdem der Beter zuvor im Mittelteil die Feinde bestimmt hat, schildert er nun im Abschnitt III ihre konkreten Handlungen durch drei Verspaare. Zu fragen ist, welche Zusammenhänge bestehen, und woraus sich das neue Thema jeweils entwickelt. Um den Psalm angemessen zu verstehen, muss die jeweils unterschiedliche Leidensperspektive der Antagonisten analysiert werden, wobei auch konträre Gottesvorstellungen sichtbar werden, was den Kern des Konflikts bildet. Die Konstellationen in diesem Paar sowie die grundsätzlichen Relationen der Antagonisten seien durch folgendes Schema illustriert:
8
Der Abschnitt wird künftig mit III bezeichnet.
Psalm 38: JHWH – der eine Gott
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II. Der erste Rahmenteil V. 2-10: Schreckensstarre vor dem Leiden Der Text schildert den körperlichen Zustand des Kranken sehr plastisch und verbindet dies sowohl mit der Selbstbezichtigung der Torheit, einem umfangreichen Sündenbekenntnis sowie der Anklage gegen Gott. Das Torheitsbekenntnis ist für die Leidenserklärung zentral. Die inhaltlichen Schwerpunkte decken sich weitgehend mit der poetischen Struktur. Im Abschnitt ist deutlich ein chiastischer Aufbau erkennbar: Er besteht aus A, B, C und D und ihren „echoes“9 A´, B´, C´, D´ sowie dem zentralen Vers E. Die chiastische Form besteht also aus vier Paaren (acht Versen) – dem ersten Paar V. 2 und 10, dem zweiten V. 3 und 9, dem dritten V. 4 und 8, dem vierten V. 5 und 7 sowie dem zentralen V. 6. Es ist auch auffällig, dass ein Satz aus V. 4a in 8b gewissermaßen refrainartig10 wiederholt wird, was ihm einen besonderen Akzent verleiht. Diese Wiederholung ist ein erstes Indiz, dass der Abschnitt als chiastischer Aufbau 11 einer Einheit zu verstehen ist. Zudem finden sich noch weitere Belege: Beim Vergleich von V. 3b (B) und 9a (B´) fällt auf, dass die Formulierung vom Herabsinken der Hand Gottes in V. 3b (B) und das Unterdrückt sein (ytiyKeäd>nIw>:) in 9a (B´) harmonieren. 12 Weiterhin zeigt sich, dass V. 2 mit V. 10 ein Paar bildet, weil beide mit der Anrufung des Gottesnamens einsetzen. Die Bitte beginnt mit hw"©hy>) in V. 2, und der erste Abschnitt endet in V. 10 mit der Gottesbezeichnung yn"doa].13 Neben den genannten stilistischen Indizien kann dafür aber auch ein inhaltlicher Beweis geführt werden. Durch Wiederholungen, nämlich durch V. 4a und 8b, V. 4b (D) und 8a (D´), schildert der Beter seine Krankheit. V. 5a und 7b schildern das Übersteigen der Sünde und die daraus resultierende Trauer. In der chiastischen Struktur deutet jede Strophe die inhaltliche Verbindung des Verspaars durch das Begründende yKi an, denn jedes Paar beginnt jeweils mit einem 9
10 11
12
13
Y. T. Raddy, Chiasmus in Hebrew Biblical Narrative, in: J.W. Welch (Hg.), Chiasmus in Antiquity: Structures, Analyses, Exegesis, Hildesheim 62005, 50. Vgl. N. Ridderbos, Die Psalmen, 279. Vgl. Y. T. Radday, Chiasmus in Hebrew Biblical Narrative, 50ff.; W. G. Watson, Chiastic Patterns in Biblical Hebrew Poetry, 118 ff. Dieser Symmetrievorschlag durch MT ist unproblematisch, denn einige hebr. Handschriften bemühen sich, die Vorstellung des Herabsinkens der Hand Gottes in V. 3b und das Unterdrückt sein (ytiyKeäd>nIw> :unterdrückt sein) in Einklang zu bringen. Vgl. C. de Vos, a.a.O., 47. Für sie setzt der Beter mit der Anrede yn"doa] erneut ein und betont sein Gottvertrauen; dies Phänomen erscheint auch im dritten Abschnitt, er beginnt mit hw"hy> in V. 16 und endet mit yn"doa] in V. 23. So wird unübersehbar, dass die Abschnitte I und III die Leidensschilderung in V. 11-15 umklammern.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
Begründungssatz (yKi). In zwei Paaren (V. 5/ 7; V. 4/ 8) findet sich eine gemeinsame Sprachgestaltung, da zuerst die Begründung durch den yKi- Satz gegeben wird, woran sich die Schilderung anschließt. Nun ist aber noch folgender möglicher Einwand abzuweisen: Da V. 5 mit dem yK-Satz beginnt, ist er nach allgemeiner Auffassung14 die Begründung für V. 4. Analog dazu könnte der yK-Satz in V. 8 Begründung für V. 7 sein. Aber die Analyse des chiastischen Aufbaus ermöglicht ein neues Verständnis, denn V. 5 ist nicht Begründung für V. 4, sondern für V. 7, denn die Begründung für V. 4 wird vielmehr erst durch V. 8 gegeben. Die Krankheitsschilderung in V. 9 und 8 findet ihre Begründung in V. 3 und 4 mit yK. Ebenso wird die Traurigkeit des Beters in V. 7 mit V. 5 begründet. Somit ergibt sich folgende Struktur:
ynIxE+ykiAt ^ïP.c.q,B.-la; hw"©hy>) A (2b) `ynIrE)S.y:t. ^ït.m'x]b;W¥ (3a) ybi_ Wtx]nIå ^yC,xiâ-yKi( B (3b) `^d als der eine Gott mit all dem Leid verwoben? a) Unbeirrbare Treue zu Gott: V. 2 und 10 a) Strukturanalyse Das erste Paar beginnt mit Invocatio15 und Bitte.16 Die vorgegebene Bittform in V. 2a und b ist nach H. Gunkel durch den gattungstypischen Imperativ17 eingeleitet und durch zwei negierte Imperative, nämlich Vetitive, 18 gestaltet. Dabei erscheinen zwei Endreime mit ynI und ^; also wird als poetisches Mittel ein Parallelismus membrorum verwendet:19 (2a)ynIxE+ykiAt ^ïP.c.q,B.-la; hw"©hy>) A (2b) `ynIrE)S.y:t. ^ït.m'x]b;W¥ (10a) yti_w"a]T;-lk' ^ïD>g>n< yn"doa] 10b) `hr"T'(s.nI-al{
^ïM.mi ytiªx'n>a;w>÷
A´
Die Bitte in V. 10 beginnt mit einer Anrufung Gottes, jedoch mit yn"doa], die allerdings auf den Gottesnamen hw"©hy>) in V. 2 bezogen ist, wodurch das Gottvertrauen abermals unterstrichen wird. 20 V. 10 bildet analog zu V. 2 einen Parallelismus membrorum durch ^ïDg> n> < und ^ïMm . i, die die gleiche Bedeutung haben. Das betont das Anliegen, d.h. der Beter spricht in seinem Sehnen und Seufzen21 seine beklagenswerte Lage vor Gott aus.22 Die beiden Wendungen „mein Sehnen bzw. " T] -; lk') und „mein Seufzen“ (ytiªx'n>a;w)>÷ verweisen auf zwei einanWünschen“ (ytiw_ a der entgegengesetzte Zeitaspekte, nämlich künftige Hoffnung und gegenwärtig erfahrenes Leid. Im ersten Verspaar kommt eine inhaltliche Spannung zwischen dem Zorn JHWHs und dem Leidensbekenntnis zum Ausdruck, was für die Argumentation relevant ist: Trotz des gefürchteten Zorns von hw"©hy>) bekennt der
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16
17 18 19 20 21 22
H. Gunkel, a.a.O., 212. Das Klagelied des Einzelnen beginnt mit der Anrufung des Namens Jahwes. H. Gunkel, a.a.O., 218. Die Bitte ist das wichtigste Klageliedelement. Der Anrufung Jahwes und dem Hilfeschrei kann die Klage folgen. Der Klage folgt sodann die Bitte; der Beweglichkeit der Stimmung kann die der Form entsprechen. Ebenda. W. Richter, Recht und Ethos, 71ff. Vgl. Ps 6. Vgl. C. de Vos, a.a.O., 47. Vgl. Ps 6,7; 22,2; Hiob 3,24. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 244.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
Beter gegenüber weiß.
yn"doa]
all sein Leid, weil er sich gänzlich von Gott abhängig
b) Inhaltliche Analyse Ps 38, 2 weist eine inhaltliche und syntaktische Parallele zu Ps 6,2 auf. 23 Dies ist wohl überlieferungskritisch zu erklären, da die Mehrfachüberlieferung eine vorliterarische Überlieferungsgestaltung vermuten lässt. Wenn dem Beter von Ps 38 die mündliche Vorstufe vorgelegen hat, bleibt aber zu fragen, nach welchen Prinzipien die gemeinsame Überlieferung spezifiziert wurde? Nach allgemeiner Auffassung besteht der Text aus einem Gerüst, in dem die Notsituation als göttliche Strafe der Sünde betrachtet wird. 24 Für F.-L. Hossfeld z.B. versteht der Beter „diese Krankheit als Strafe Gottes für seine Sünden und wertet sie als pädagogische Maßnahme JHWHs in der Hoffnung und Absicht seines klagenden Bittens, von JHWH die Beendigung seiner Züchtigung, d.h. die Heilung zu erreichen.“25 Obgleich Bitt- und Klagegebete einzelner die weitaus größte Gruppe der 150 Psalmen ausmachen, begegnet das Motiv des göttlichen Zorns allerdings – überraschenderweise! - nur in sieben Psalmen: 6; 27; 30; 38; 77; 88; 102. 26 Nach W. Groß spricht einzig der Krankenpsalm 38 neben dem Zorn Gottes (V.2) auch von der Sünde des Beters, den der Zorn getroffen hat (V.4.5.19); Sünde und Zorn werden so parallelisiert, dass die Sünde als Auslöser des Zorns und die Krankheit als dessen Folge erscheint. 27 Das ist jedoch fraglich, weshalb der Zusammenhang von Sünde und Zorn im jeweiligen Kontext genauer analysiert werden muss. Auffälligerweise verknüpfen die anderen sechs Psalmen gerade nicht das Motiv des Zorns mit der Sünde, weshalb sie weder ein Sündenbekenntnis noch die Bitte um Sündenvergebung oder gar Unschuldsbeteuerungen
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25
26 27
K. Seybold, Die Psalmen, 72. Vgl. F. Delitzsch, Biblischer Kommentar über die Psalmen, 297; siehe auch K. Butting, Gewalt überwinden – nicht verschweigen. Ein Plädoyer für Rachepsalmen, in: K. Butting, G. Minnaard, T. Nauerth, C. Reiser (Hg.), Träume einer gewaltfreien Welt, Knesebeck 2001, 58-69. Diese Position vertreten J. Goldingay, Psalms Bd. 1; Psalms 1-41, Grand Rapids 2006, 538-539; K. Seybold, Die Psalmen, 72 und C. de Vos, a.a.O., 46. Für sie deutet der Kranke in Ps 38 seine Leiden als Folge von Gottes Zorn über seine Sünde. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 239; F. Lindström, a.a.O., 245. Das Nomen ist im Munde Gottes der Strafe bewirkende Urteilsspruch, durch den sich das Gericht vollzieht. Vgl. Ps 39,12; 73,14. Gottes tx;k;wT O vernimmt der Beter in schwerer Krankheit, den Gott bestraft hat, um etwas Bestimmtes zu erreichen. W. Groß, Studien zur Priesterschrift und zu alttestamentlichen Gottesbildern, 224. W. Groß, a.a.O., 224; anders F. Lindström, a.a.O., 245.
Psalm 38: JHWH – der eine Gott
111
enthalten. 28 Dieser Begründungszusammenhang darf dann aber nicht stillschweigend in sie eingetragen werden! In Ps 38,2 scheint das Gottesbild des Beters durch Zorn, Strafe und Züchtigung charakterisiert zu sein. Durch die zwei Imperative macht er sichtbar, dass Gott ihn in seinem Zorn und Grimm straft und züchtigt.29 Aber Sünde und Zorn werden nicht so parallelisiert, als dass ein Kausalverhältnis postuliert werden müsste. Deshalb behauptet F. Lindström: „There is neither in this assertion nor in its context anything which supports the view that the petitioner interprets suffering with the concept of divine punishment of sin.” Stattdessen gibt es diesen Zorn einfach, und er versehrt den JHWH-Verehrer. 30 JHWH ist jedoch nicht schlechterdings zornig, denn es gibt immer auch noch eine Seite jenseits seines Zorns, der aber jetzt die dem Sprecher zugewandte und einzig von ihm erfahrene ist.31 In V. 2 ist zwar unübersehbar, dass der Beter sich gestraft fühlt, aber sein Gedankengang erweist nicht, dass er wegen einer Sünde an seiner Krankheit als vergeltender Aktion Gottes leidet.32 An den wiederholten Imperativen wird offenkundig, dass er lebensvernichtendes Leid erfahren haben muss (vgl. V. 3 und 9). Er erlebt darin die Wucht des göttlichen Zorns und kann nichts dazu beitragen, dass dieser vergeht; sondern er kann JHWH lediglich anrufen, in der Hoffnung, dass dieser ebenso unerklärlich wieder Gnade walten lässt.33 Die Gottesvorstellung in V. 10 zeigt, wie der Lei. i als auch -lk' dende vor Gott steht. Sowohl durch die Wendungen ^ïDg> n> < und ^ïMm yti_w"a]T; und ytiªx'n>a;w>÷ wird expliziert, dass er seine Errettung durch JHWH erhofft (V. 10), dem er aber zugleich eindeutig die Verantwortung für sein Elend zuschreibt. Die Klage ist also sein Versuch, das gegenwärtige Geschehen zu bewältigen.34 Das erste Verspaar durchläuft einen Weg von Erstarrung, Verzweiflung und Klage (V. 2) hin zu Vertrauen, Hoffnung und Festhalten an Gott (V. 10).35 Dabei 28 29 30 31 32
33
34 35
W. Groß, ebenda. F. Lindström, a.a.O., 245. W. Groß, a.a.O., 224. Ebenda. Vgl. F. Lindström, Suffering and Sin, 245: „The introductory negative prayer, not to be an objekt of YHWH´s wrath (pcq/ hmx, V. 2 ), is, in its formulation, very similar to the secondary expansion Ps 6,2.” F. Lindström, a.a.O., 151f: „Wrath no solution to the problem of the painful absence of God. Rather, this motif accentuates the mysterious, sudden, and uncalculated aspect of the removal of YHWHs saving presence.“ Vgl. G. Neuhaus, a.a.O., 44f. K. Seybold, Die Psalmen, 159: Der Beter appelliert an JHWHs Gnade, um ihm mildernde Umstände einzuräumen. Die Wiederholung der klagenden Tonfolgen verstärkt die dringende Bitte.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
wird das Gottesbild des Beters sehr deutlich, indem er in zwei Bitten mit Nennung des Gottesnamens sowohl seinen Zustand als auch seine diesem – ihm rätselhaftgewordenen! - Gott geltende Hoffnung ausdrückt. b) Die Theodizeefrage in V. 3 und 9 a) Strukturanalyse Gemäß dem chiastischen Aufbau bilden V. 3a (B) und 9b (B´) ein Paar:
ybi_ Wtx]nIå ^yC,xiâ-yKi( (3b) `^d stehen kann. Der Beter zeigt vor allem mit dem Zentralbegriff !wO[' seine Intention (vgl. V. 19). !wO[' umfasst sowohl die Sündentat als auch das daraus resultierende Schuldverhängnis.98 K. Koch hat in seiner Wortuntersuchung gezeigt, dass es in den sieben Klagepsalmen des Einzelnen, die von persönlicher Schuld sprechen, aber einen ganz anderen Stellenwert besitzt, da es hier Übeltat meint. Der Frevler findet den !wO[', und macht ihn zur Triebkraft seines Verhaltens (36,3). 99 Die Sünden des Betenden (yt;nOwO[)] kommen auf sein Haupt und drücken ihn nieder 94 95 96 97
98 99
Vgl. F. Lindström, a.a.O., 241. Vgl. P. Craigie, Psalms 1-50, WBC 19, 303. Vgl. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger. a.a.O., 263. H. Gunkel, Die Psalmen, 161; F.-L. Hossfeld, Die Psalmen 1, 244; H.-J. Kraus, Psalmen 1, 445; vgl. auch C. de Vos, a.a.O., 46. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Psalm 1-50, 243. K. Koch, Art. !wO[,,' ThWAT V, 1160.
122
Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
(38,5), sie erweisen sich als stärker als er selbst (65,4) und bewirken so sein Schicksal.100 Der Betende wird durch sie niedergebeugt (107,17) und gerät ins Straucheln (31,11), oder er versinkt schließlich in ihnen (106,43). Da ~n")wO[]B; zahlreicher sein können als die Haare seines Hauptes, vernichten sie ihn unausweichlich (40,3). Der Begriff ist aber jeweils kontextuell zu bestimmen. In diesem Zusammenhang ist C. de Vos Urteil zu beachten: In der Auslegungsgeschichte des individuellen Klagepsalms ist zumeist davon ausgegangen worden, dass die Not die Strafe für begangene Verfehlungen ist, eine Voraussetzung, die sich in den Texten selbst jedoch kaum belegen lässt.101 Daher muss das Sündenbekenntnis anders verstanden werden. 102 Es ist daher zu fragen, ob das Sündenbekenntnis und die Trauerbräuche im Tun-Ergehen-Zusammenhang begründet oder vielmehr als Sühneverhalten zu verstehen sind. 103 Sowohl der Kontext als auch einige Sachparallelen sprechen dafür, dass es als Sühneverhalten zu verstehen ist. 104 Die Sünde umgibt den Beter wie eine niederdrückende Atmosphäre, sie steigt bis über seinen Kopf (vgl. Esra 9,6), so dass er darin zu versinken droht und ihn die Sündenlast erdrückt (vgl. Klgl. 1,14).105 Das Bekenntnis ist im Zusammenhang mit den Trauerbräuchen in V. 7 zu betrachten: Der Beter geht „in Sack und Asche“ (V. 7), und anderswo heißt es: er wandelt gekrümmt (Ps 35,14), gebeugt (Jes 21,3; Spr 12,8) und geht trauernd umher (Ps 35,14 und Ps 42,10; 43,2; Hiob 30,28; Mal 3,1). Was für das Verhalten mit der Trauer- oder Bußkleidung106 von V. 7 gilt, das gilt in analoger Weise auch für die beiden korrespondierenden Feindklagen von Ps 35,13f. (vgl. auch Ps 42,10; 43,2): 13 Ich aber zog ein Bußkleid an, als sie erkrankten, und quälte mich ab mit Fasten Nun kehre mein Gebet zurück in meine Brust. 14 Als wäre es ein Freund oder ein Bruder, so ging ich betrübt umher, wie man Leid trägt um die Mutter,
100 101 102 103 104
105 106
Ebenda. C. de Vos, a.a.O., 68. F. Lindström, a.a.O., 242. K. Koch, aJx, ThWAT II, 861. F. Lindström, a.a.O., 251; vgl. auch P. Craigie, Psalms 1-50, WBC 19, 303; J. Goldingay, Psalms Bd. 1; Psalms 1-41, 541. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Psalm 1-50, 243. C. de Vos, a.a.O., 47; F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Psalm 1-50, 270.
Psalm 38: JHWH – der eine Gott
123
trauernd und tief gebeugt.
Im Gegensatz zum gegenwärtigen Verhalten der Feinde hat der Beter Traueroder Bußkleidung angelegt 107 als sie erkrankt waren, hat er sich solidarisch verhalten. Er ist zum Zeichen seiner Trauer in „Sack und Asche“ gegangen (Ps 30,12; 69,12) und hat sich durch Fasten kasteit (s.a. Ps 69,11; 109,24; Vgl. Jes 58,5). Obwohl sie ihm nicht persönlich nahestanden, verhielt er sich so als ob sie seine Nächsten wären. Die Ich-Klage in Ps 42,10 bietet hingegen ein anderes Bild: Ich sage zu Gott, meinem Fels: „Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich trauernd umhergehen, von meinem Feind bedrängt?“
Mit der wiederholten „Warum“-Frage legt der Beter die ganze Widersprüchlichkeit seiner Existenz dar. Er will in Gemeinschaft mit Gott leben, doch dieser entzieht sich ihm, so dass er wie ein von Unglück oder Tod Geschlagener in Trauer- oder Bußkleidung umhergehen muss.108 Schalten wir an dieser Stelle eine kurze Zwischenüberlegung ein: E. Dassmann verweist darauf, dass nur Sünden Gott dazu veranlassen können, sich abzuwenden, denn er kennt diejenigen, die zu ihm gehören.109 Jene Unwürdigen sind dann einzig seiner Heimsuchung würdig.110 Man könnte also der Ansicht sein, dass für die Beter von Ps 35,14; 38,7; 42,10 das Tragen der Trauer- oder Bußkleidung zur Erfahrung der Gottesferne gehört. Das ist eine Erklärung, die plausibel zu sein scheint. Dennoch ist zu fragen, ob zum Verständnis des Schuldbekenntnisses und der Trauer- oder Bußkleidung in Ps 38,5.7 die Vorstellung eines vergeltenden Gottes gehört,111 und ob sich der Beter in der Situation der Erfahrung der Gottesfer107 108 109 110 111
F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Psalm 1-50, 221. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Psalm 1-50, 270. Ebenda. E. Dassmann, Die verstummte Klage bei den Kirchenvätern, JBTh 16,149. J. Goldingay, Psalms 1-41, 541; C. de Vos, a.a.O., 67. In den sieben Klagepsalmen des Einzelnen - Ps 25; 31; 38; 41; 51; 69 -, in denen der Beter von seiner Schuld spricht, hat das Schuldbewusstsein jeweils einen sehr unterschiedlichen Stellenwert.
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ne einen vergeltenden Gott vorstellt.112 Die Einsicht in seine Sünde und die damit einhergehende Erfahrung der Gottesferne führt ihn zur Klage an JHWH. Sie ermöglicht ihm somit den Zugang zu einer religiösen Handlung zur Wiedergutmachung einer Tat, zur „Einsicht, vor Gott schuldig zu sein“ 113. Entscheidend ist dabei, was dies für sein Selbstverständnis bedeutet, denn es geht ihm nicht so sehr um den Tun-Ergehen-Zusammenhang, sondern um das „Bußverhalten“. In diesem Verspaar wird sein Selbststand deutlich: Der Mensch kann von sich aus zwar nichts zur Wiederherstellung der gestörten Gottesbeziehung beitragen. 114 Doch er klagt in der Tiefe seines Schmerzes wegen der Sünde und verbindet das Sündenbekenntnis und die Trauerriten erneut mit seinem Festhalten an Gott. b) Leiden und Torheit: V. 6 a) Strukturanalyse Der Beter „beendet“ den ersten chiastischen Abschnitt mit V. 6, dem Zentralvers des I. Teils. Er verknüpft nun die beiden Begriffe – Krankheit und Torheit – in der Perspektive des dritten und vierten Verspaares:
`yTil( W. a: i ynEP© m. i÷ yt'_roWBx; WQm;n"â Wvyaiäb.hi (V. 6) F. Lindström vermutet für V. 6b sowohl eine stilistische als auch inhaltliche Redaktion,115 wofür er auf die Verbindung von V. 6a mit 7ab verweist. Wenn V. 6 an V. 7a anknüpfte, wäre er in der Tat eine formal und sachlich den Kontext im ersten Abschnitt störende Einfügung. Doch aus meiner Sicht gehört V. 6 zum Grundtext. G Der Beter konkretisiert seine neue Erfahrung, indem er nun tl,W Wi ÷ (Trug) haben (V. 13), unterscheiden sie sich von denen in V.12, die ergänzungslos gewesen sind. Vor allem beschreibt V.13 eine konkrete Handlung, nämlich „die hinterlistige und unverhohlene Aggression Dritter“,154 wobei die Jagdmetaphern 155 die Todfeindschaft herausstellen. Das LebensfeindlichDestruktive und Tötende ihres Redens wird durch den Vergleich oder die Gleichsetzung ihrer Zungen und Frevlerlippen mit allerlei Waffen und Mordinstrumenten drastisch illustriert. 156 Folglich gibt es eine inhaltliche Spannung in 151 152 153 154
155 156
Vgl. Ps 27,10; 31,12; 35,13f; 41,6f.10; 55,14f; 69,9; 88,9.19. C. de Vos, a.a.O., 47; J. Goldingay, Psalms, 545. O. Keel, Feinde und Gottesleugner, 164. C. de Vos, a.a.O., 48. Vgl. auch K. Seybold, Die Psalmen, 160, für ihn handelt es sich um die Aggressivität von Fernstehenden. Das Schlingenlegen erscheint z. B. in Ps 9,17 und 109,11. O. Keel, Feinde und Gottesleugner, 166.
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der Feindschilderung, denn V. 13 nennt konkrete Handlungen, während V. 12 lediglich die Umweltdistanzierung schildert. Deshalb sind die Verse seit H. Gunkel Gegenstand exegetischer Debatten. Die Identitätsschilderung und Handlungsbeschreibung wird oft nicht als Einheit, sondern jeweils separat verstanden.157 Z.B. stellt K. Seybold es so dar, dass sich die Nahestehenden distanzieren (V. 12), während die Aggressivität hingegen Fernstehenden zugeschrieben wird (V. 13).158 Er deutet deshalb das unfassbare Tun der Feinde als Handlung unbestimmter Dritter. Für C. de Vos ist die Schilderung der Reaktion des sozialen Umfelds als Distanzierung 159 für den Klagepsalm des Einzelnen sehr typisch, um die ausbleibende Solidarität zu beschreiben. In V.13 hingegen wird für sie eine hinterlistige und unverhohlene Aggression Dritter dargestellt. 160 Aus diesem Grund sollen offensichtlich zwei unterschiedliche Gruppen – treulose Freunde/Verwandte in V. 12 und „Feinde im eigentlichen Sinn“ 161 in V. 13 – unterschieden werden. Mit B. Janowski kann man das Phänomen als die generalisierende bzw. typisierende Sprache der Klage bezeichnen. 162 Er stellt heraus, dass das Subjekt, das den Beter bedroht, ganz oft nur undeutlich im Hintergrund bleibt. Im Vordergrund steht hingegen die Geschehensschilderung, 163 denn für den Beter der Klage- und Danklieder stellt die Feindbedrohung offenbar etwas Elementares dar, denn sie verkörpert die Macht des Todes.164 Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass die Feindbeschreibung zwei verschiedenen Gruppen gilt. Die drei Verben in V. 13 bezeichnen jeweils ein Subjekt, das die Dritten meint. Dementsprechend veranschaulicht der Beter ihre Handlungen durch die charakteristischen Verben mit ihren Prädikatsergänzungen. Er geht dabei nicht auf ihre Identität, sondern nur auf ihre ihm unfassbaren Handlungen ein. Im Unterschied dazu bestimmt er in V. 12 vor allem die Identität der Feinde, nämlich die entfremdeten engsten Familienangehörigen, seine Liebsten und Gefährten. Indem er hier die Identität der konkreten Subjekte mit dem gleichen Verbum (dm[) erweist, betont er die drei Substantive bewusst. Es besteht folglich eine Verbindung zwischen den in V. 12 genannten drei Subjekten und 157
158 159 160 161 162 163 164
K. Seybold, Die Psalmen, 160; C. de Vos, a.a.O., 48; vgl. auch J. Goldingay, Psalms, 545: „The first responses of human beings to the illness of others are often withdrawal (cf. Luke 23:49) or attack.“ K. Seybold, Die Psalmen, 160. C. de Vos, a.a.O., 47. C. de Vos, a.a.O., 48. Vgl. O. Keel, Feinde und Gottesleugner, 164. B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 108. B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 111. Vgl. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 109.
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den drei Verben in V. 13. Der Beter deutet die Identität der Feinde in V. 13 durch die in V. 12 dargestellten drei Subjekte an. V. 13 ist also eine Parallele zu V. 12, der dessen Voraussetzung beschreibt.165 b) Inhaltliche Analyse Nachdem er seine Ohnmacht und sein Leiden vor Gott beklagt hat, geht der Beter nun durch die Feindschilderung auf die zerstörte Beziehung zu seinen Mitmenschen ein. Was für Handlungen, die so drastisch beschrieben werden, sind jedoch gemeint: „die nach dem Leben trachten“ und „die sein Unheil suchen.“? Ist das Reden der Feinde also ihre Waffe?166 V. 13 beschreibt sie so: Sie spinnen Ränke und schmieden unheilvolle Pläne, denn all ihr Denken und Sinnen ist nur auf mein Unheil gerichtet (vgl. Psalm 56,5). Die Feinde sind ja geradezu „die mein Unheil Suchenden“ (vgl. yt[r ybvx „die auf mein Unheil Sinnenden“).167 Diese Charakterisierung ist jedoch auch typisch für die akkadische Maqluserie, denn dort werden die Zauberer ähnlich dargestellt. „Sie denken in böser Absicht an den Beter und immer wieder werden sie als ,Ränkeschmiede‘ und ,Plänemacher‘ denunziert. In den mesopotamischen Gebetserhörungsparadigmen wissen die Beter sehr ausführlich von den bösen Absichten ihrer Feinde zu berichten.“ 168 Auch in Ägypten werden jene, die sich des Schadenzaubers bedienen, regelmäßig als solche bezeichnet, „die Ränke spinnen“.169 Neben ihren schlimmen Absichten und Plänen werden oft auch Lügen und Verleumdungen genannt. In Analogie hierzu behauptet S. Mowinckel, dass auch die Feinde des Beters Zauberer seien, 170 deren Schadenzauber die ursprüngliche Not 171 bzw. Krankheit bewirkt haben soll. 165
166 167 168 169 170 171
Vgl. J. Goldingay, Psalms, 546, er behauptet zu V. 13a: „The second colon then may refer to more active enemies or may refer to the same people, who are now actively attacking as well as distancing themselves.“ F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Die Psalmen, 244. Vgl. Ps 35,4; vgl. 41,8; 71,10; 140, 3; Jer 11,19; 18,18. O. Keel, Feinde und Gottesleugner, 164. Ebenda. Vgl. auch S. Mowinckel, Psalmenstudien I. Vgl. F. Crüsemann, Netz, 139. In diesem Zusammenhang ist sehr deutlich zu erkennen, worüber die Beter der individuellen Klagepsalmen klagen. Er übernimmt zwar einerseits die These Gunkels, dass sich in diesem Stil die Herkunft der Gattung aus kultischen Formularen geltend macht, aber andererseits weist er deutlich auf ihre Grenzen hin. Zu fragen ist, warum die Not so vielfältig beschrieben wird. Die Frage, welche bestimmten Nöte im Sinne des jeweils konkret-einzigartigen Anlasses hinter der Klage stehen, geht aber an den Aussagen der Mehrzahl der Klagepsalmen vorbei. Denn wegen
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Aber es gibt gewichtige Einwände, denn der Beter beschreibt die Feinde nicht als unbekannte Zauberer, sondern als seine konkreten Mitmenschen, 172 die sein Leid vergrößert haben. Zwar ist es auffällig, dass hier für die Unfassbarkeit ihres Tuns das suggestive Motiv des Schadenzaubers benutzt worden zu sein scheint. Darum ist zu fragen, wozu es dient. Warum soll so die Unfassbarkeit des feindlichen Tuns entlarvt werden.GWorum ist es denjenigen zu tun, die ihm nach dem Leben trachten? Das Phänomen ist selten,173 weshalb die Feindschilderung exegetisch umstritten ist H. Gunkel behauptet z.B., dass die Wendung yti['r"â yveär>dow> yviªp.n: yveìq.b;m. „die nach meinem Leben trachten“ und „die mein Unglück suchen“ als ein falsch ergänztes Explicitum betrachtet werden soll.174 Die Schilderung ihres Handelns benutzt in V.13 das Bild der Schlingen, womit sie an V. 3 anschließt, denn hier wird die Wendung vqn ebenso wie #xe in V. 3 verwendet. Wenn Jagdmotivik im Alten Testament anklingt, wird allerdings zumeist nicht die Perspektive des Jägers, sondern vielmehr – wie auch hier - die Perspektive des Gejagten eingenommen. 175 Die Arbeit des Fallenstellers, der Vögel mit dem Klappnetz fangen will, wird mit dem Verb vqy176 (Jer 50,24 u.ö.) oder mit der dazugehörigen Nebenform vqn177 ausgedrückt. Mit Hilfe dieser Techniken konnten Wildtiere aus dem Versteck über weite Strecken hinweg erlegt werden, ohne dass sie die Witterung des Jägers aufnehmen konnten. 178 Wild konnte auch durch das Auslegen von Netzen oder Fallgruben erbeutet werden (vgl. Ez 19,4; Jer 48,43f; Ps 57,7; Jer 18,20.22).179 Der Fallensteller, der seine Fallen auf dem Weg auslegt, heißt vWqy"/ vWqy"180 (vgl. Hos 9,8; Jer 5,26; Prov 6,25). Das von vqy abgeleitete Nomen vqeAm kann mitunter ein Klappnetz bezeichnen, zumeist aber das Wurfholz, das als Jagdwaffe vor allem zum Vogelfang181 häufig benutzt worden ist. 182. Daneben
172
173 174 175 176 177 178 179
180 181 182
der Vielzahl der Faktoren darf man die Not gerade nicht monokausal verstehen, denn angesichts der Art, wie sie die Not beschreiben, ist die Annahme einer einzigen Verursachung unrealistisch. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 244; J. Goldingay, Psalms, 546;C. de Vos, a.a.O., 48. Vgl. auch K. Seybold, Die Psalmen, 160. O. Keel, a.a.O., 166. H. Gunkel, Die Psalmen, 162. M. Oeming, Art. dWc, ThWAT VI (1989), 930-936. Vgl. HAL, 413. Vgl. HAL, 682. P. Riede, a.a.O, 340. E. Ebeling, Fallgrube, RLA III, 5; L. Wächter, Der Tod im Alten Testament, Berlin 1967, 39. Vgl. HAL, 411. P. Riede, a.a.O., 343f. Vgl. W. Decker, Art. Wurfholz, LÄ VI (1986), 1299f.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
wurden auch die Schleuder (Hi 41,20) sowie Pfeil und Bogen (vgl. Ps 38, 3) bei der Jagd auf Vögel eingesetzt. Doch wenn Netze oder Gruben erwähnt werden, ist immer ein Moment des Tückischen und Verderblichen im Spiel. 183 Die Feinde gehen zielgerichtet vor, um ihren Gegner zu verderben, der wie ein Beutetier hilflos ihren Machenschaften ausgeliefert ist und sich nicht aus eigener Kraft wehren, geschweige denn aus ihren Fallen befreien kann. Die für die Feinde gebrauchten Bilder verdeutlichen diese Todesbedrohung.184 Im Licht seiner Klage deutet das Todesmotiv an, dass er in den Augen seiner Feinde bereits von chaotischen „Strömen des Verderbens“ erfasst und allseits umgeben ist. 185 Da die Wendungen WvÜq.n:y>w: und tAmªrm> Wi ÷ tAW=h; WråBD. I einen Bezug zum Chaotischen besitzen, bezeichnen sie vorzugsweise das Gottfeindliche und Gemeinschaftswidrige.186 In der Feindbedrohung erfährt der Beter die Macht des Todes, denn sie stellt ihn in seinen elementaren Bezügen in Frage, so dass er in Ohnmacht gerät wie der Taube (V. 14) durch die, die „nach meinem Leben trachten“ und „die mein Unglück suchen“. Diese Erlebnisweise zeigt ein projektives Denken. O. Keel spricht deshalb vom „projektiv-partizipativen Ich“ des Beters; d.h. er projiziert sein Erleben auf die Umwelt und nimmt so an ihren Lebensäußerungen teil. BereitsG oUG Gunkel hat Entscheidendes zum Phänomen des Zusammenschlusses von Innen- und Außenwelt formuliert, denn es sei oft schwer, zu ermitteln, „[…] welche bestimmten Nöte hinter der Klage stehen, und wie wenig Greifbares sich über die äußere Situation der Psalmisten sagen läßt. […] Diese Einheit dürfte in der seelischen Verfassung des Dichters liegen.“ In diesem Kontext behauptet B. Janowski, dass der Beter das Agieren der Feinde daraufhin auslegt, was es in seinem Inneren auslöst: nämlich die Angst, einem ungreifbaren, aber dennoch realen Überwältigungswillen ausgeliefert zu sein. 187 Mit der Einbindung des einzelnen in Natur und Gesellschaft hängt zugleich ein bestimmtes Personenverständnis zusammen, denn er ist mit allen Fasern seiner Person - mit Leib und Seele - eingebunden in seine Gemeinschaft 183
184 185 186
187
I. Scheftelowitz, Das Schlingen- und Netzmotiv im Glauben und Brauch der Völker (RVV XII/2), Gießen 1912, 3; N. Lohfink, Lobgesänge der Armen. Studien zum Magnifikat, den Hodajot von Qumran und einigen späten Psalmen (SBS 143), Stuttgart 1990, 51; L. Ruppert, Der leidende Gerechte und seine Feinde. Eine Wortfelduntersuchung, Würzburg 1973, 145. P. Riede, a.a.O., 354. Vgl. B. Otzen, Art. l[;Y:liB., ThWAT I, 1973, 656. Vgl. R. Schäfer, Die Poesie der Weisen. Dichotomie als Grundstruktur der Lehr- und Weisheitsgedichte in Proverbien 1-9, WMANT 77, Neukirchen-Vluyn 1999, 162; s. a. B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 193. B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 109.
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und in die ihn umgebende Natur. Da er dem Treiben der „Feinde“ ungeschützt ausgesetzt ist, ist die Klage oft seine einzige „Waffe“, um die Unfasslichkeit des Bösen zu bewältigen. Die ausführliche Darstellung der Feindschilderung der Psalmenforschung durch die besondere Innen-Außen-Relation fordert dazu heraus, noch einmal den inhaltlichen Akzent erneut in Augenschein zu nehmen. Die Feindbedrohung kann zwar als eine „eigentümliche Innen-Außen-Relation“ angesehen werden, aber oft wird dabei leider nicht thematisiert, worum es denjenigen zu tun ist, die dem Leidenden nach dem Leben trachten. Die Feinde sind anfangs Schweiger, aber im Lauf der Zeit wenden sie sich vom Beter ab, sie werden so zu Fernstehenden und noch später zu Verleumdern.188 „One´s enemies will also be members of one´s community or even of one´s family.”189 Die zum Feind gewordenen Nächsten gehen sodann zum Angriff über.190 Der Wechsel in der Feindschilderung wird oft so erklärt, dass unter den vielen Feinden einer besonders hervorrage. Durch die terminologische und inhaltliche Vielfalt werden sie sehr unterschiedlich beschrieben, 191 und der Angriff von verschiedenen Seiten verstärkt die Bedrohlichkeit der Not. Aber der Beter will durch die scheinbare Unbestimmtheit der Feinde etwas ganz anderes entlarven, nämlich die Unverstehbarkeit der Aggressivität seiner Mitmenschen, die ihm nun wie feindliche Fremde entgegenstehen. Aber in der Klage geht es nicht nur um die soziale Isolation auf Grund verweigerter Solidarität, sondern vor allem um eine theologische Herausforderung. Das Ziel der Feind-Klage des Beters ist eine indirekte Selbstbeschreibung, die Schilderung des zerstörten Ichs, das in Schreckensstarre gefallen ist, was gerade auch die feindliche Gottesvorstellung ausgelöst hat. In der Feindschilderung verbirgt sich eine Auseinandersetzung, was im jeweils unterschiedlichen Gottesund Leidensverständnis manifest wird (V. 16-23).
3. Die Reaktion des Beters: V. 14-15 a) Strukturanalyse Die Darstellung der Reaktion auf das feindliche Treiben in V. 14f steht stilistisch in engem Zusammenhang mit der Feinddarstellung von V. 12f. In beiden 188
Vgl. H. Gunkel, Die Psalmen, 162: „[...] am leichtesten entfernt man yti['r"â yveär>dow> yviªpn. : als ein falsch ergänztes Explicitum; in Wirklichkeit sind das Subjekt die Feinde von 12.“ J. Goldingay, Psalms, 546. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 244. C. de Vos, a.a.O., 54f.
yveìq.b;m.
189 190 191
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Versen tritt eine Doppelung auf, die aber nicht literarkritisch eliminiert werden sollte, denn durch die Wiederholung soll der Aussage Nachdruck verliehen werden. 192 Zudem lässt sich ein externer Parallelismus erkennen,193 denn die Verse sind durch ihre sprachlich- stilistische Ähnlichkeit parallel. Die in V. 14 geschilderte Taubheitsmetaphorik wird durch parallele Ausdrücke formuliert, wobei ynIåa]w: im Zentrum steht. Sie wird mittels zweier Imperfekt-Formen ausgedrückt, außerdem steht der Vers durch die Negation al parallel zu den zwei Imperfekt-Formen in 14a und 14b, was eine sukzessive Versgabelung bewirkt: (V. 14a)
[m'_v.a, al{å vrExek.â ynIåa]w: (V. 14)
(V. 14b)`wyPi(-xT;p.yI
al{å ~Leªaki W. ÷
ynIåa}w: in V. 14 als Personalpronomen der 1. Pers. Sg. enimmt gemäß der „sukzessiven Gabelung die zentrale Stellung“ 194 ein. Damit stellt sich der Beter deutlich in Gegensatz zu denen, die ihn bedrohen (V. 12f). 195 Seine Ohren und sein Mund sind geschlossen, er ist wie ein Tauber und Stummer, denn er will sich so seiner Umwelt verschließen. V.15 beginnt mit dem Verb, nach dem alle Ausdruckselemente unproblematisch angeordnet sind. Während V. 14 das Subjekt direkt genannt hat, wird es nun durch einen Relativsatz, in Partizip-Form, beschrieben: `tAx)kA' T wypiªB.÷ !yaeîw> [:me_vo-al{ rv, yn"d ï ao ] und yh'l( a{ “/ in V. 16 gewinnen durch yn"©doa]÷ in V. 23 ihre konkrete Bedeutung. Die primäre Funktion der wiederholten Gottesbezeichnungen ist es, einen chiastischen Aufbau zu ermöglichen. Dazu passt die Nennung der Negationen: !P, in V. 17 und a;l“ in 22 präziser, denn die Ausdrücke kommen nur in diesem Abschnitt vor. Somit verbleibt rq,v(' in V. 20 im Rahmen der Topik von !mi in V. 19. Die Präposition leitet üblicherweise eine Begründung ein. Deshalb dürfte deutlich geworden sein, dass in der Themendarstellung bzw. Polemik in V. 16-23 ein chiastischer Aufbau erkennbar ist: er besteht aus A, B, C und D und ihren „echoes“ A´, B´, C´. D´. Es gibt also vier Paare (acht Verse) – dem zentralen (V. 19 und 20), dem zweiten (V. 18 und 21), dem dritten (V. 17 und 22) und dem letzen Paar (V. 16 und 23). Als Ausgangspunkt dient das Charakteristikum, dass die Sätze (V. 16-19) in auffälliger Weise mit den folgenden vier Sätzen je ein Paar bilden. Wenn hier also diese Struktur benutzt wird, ist es notwendig, dass auch der Aufbau dieses Teils einen chiastischen Aufbau aufweist, wie die Krankheitsdarstellung im ersten Abschnitt:218 A
Denn auf dich, HERR, harre ich (V.16) du, du wirst antworten, HERR, mein Gott.
214 215 216 217 218
H. Gunkel, Die Psalmen,160ff. H.-J. Kraus, Psalmen 1, 296. N. Ridderbos, Die Psalmen, 282. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Die Psalmen, 240. Vgl. K. Seybold, Die Psalmen, 60. Eventuell kann der Aufbau des Teils auch als „sukzessive Versgabelung“ verstanden werden.
Psalm 38: JHWH – der eine Gott
143
B Denn ich sprach: dass sie sich nicht über mich freuen, (V.17) beim Wanken meines Fußes großtun gegen mich. C Denn ich bin nahe am Straucheln, (V.18) und mein Schmerz steht mir ständig vor Augen. D Denn ich bekenne meine Schuld, (V.19) ich bin bekümmert wegen meiner Verfehlung. D´ Meine lebendigen Feinde sind stark, (V.20) und zahlreich sind, die ohne Grund mich hassen, C´ Sie vergelten Gutes mit Bösem, (V.21) Sie feinden mich an, weil ich dem Guten nachjage. B´ Verlass mich nicht, HERR, (V.22) mein Gott, sei nicht fern von mir! A´ Eile zu meiner Hilfe, (V23.) HERR, meine Rettung!
Der zweite chiastische Aufbau hat also folgende Struktur und Themen:
Thema
Paar
Reaktion
Vertrauen
(V.16)
V.16+23
Gott
(V.23)
Feinde
(V.17)
V.17+22
Gott
(V.22)
Krankheit
(V.18)
V.18+21
Feinde
(V.21)
Sündenbekenntnis (V.19)
V.19+20
Feinde
(V.20)
1. Der Selbststand in der Gottklage a) Ein Weg zum Monotheismus: V. 16 und 23 a) Strukturanalyse
Im ersten Paar formuliert der Beter seine Bitte um das göttliche Eingreifen (V.16) und die Schlussbitte (V.23). Er beginnt den dritten (III) wie den ersten Teil (I), nämlich mit dem Gottesnamen hw"hy>, wobei sich ein chiastischer Aufbau zeigt:
144
Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
hw"hå y> ^ål-. yKi( yTilx. A_' h hn und die dazu parallel stehenden Gottesbezeichnungen yn"ïdoa] und yh'l ( {a/ -, was die Basis seiner Theologie bildet, nämlich sein unbeirrbares Gottvertrauen, das sogar der gegenwärtigen Erfahrung zu trotzen vermag.220 Der Beter bekennt zuerst sein Vertrauen zu hw"hy>, was durch ^l. betont wird. Er steigert seine Aussage sodann in V. 16b durch den dreimaligen Bezug auf hw"hy> in V. 16a durch hT'a; und die Doppelinvocatio „yn"da o “] und „~yhila{ “/ , um so die Intensität seines Bekenntnisses zu betonen.221 Der chiastische Aufbau verdeutlicht das theologische Interesse, denn indem er hw"hy> als Objekt von yTil.x'_Ah ich harre und yh'(l{a/ als Subjekt von hn[,l;. yn"doa]; yti(['WvT.) verdeutlicht das enge Gottesverhältnis. 226 Damit unterstreicht er, dass der eine und einzige Gott im Zentrum seiner Klage steht.227 Die existentielle Besinnung durch vWx in V. 23a entspricht der früheren Erinnerung228 an Gott durch h['WvT. in V. 23b. Der Anhaltspunkt dafür ist sein Vertrauensbekenntnis in V. 16, wodurch sichtbar wird, wie er Gott in sein Leiden hineinzieht. b) Inhaltliche Analyse
Er beschreibt sein Festhalten an Gott und bestimmt seinen Gott (yh'(l{a)/ als JHWH (hw"hy>). 1. Schon das erste Verspaar prägt sein Vertrauensbekenntnis zu hw"hy>. Die Klage des Einzelnen weist inhaltlich und formal eine große Anredevielfalt auf. In den meisten Fällen wird Gott mit hw"hy>, ~yhila { / oder lae angerufen, aber es gibt auch Kombinationen der Gottesbezeichnungen. Allerdings gibt es daneben auch die Anrede ohne hw"hy> oder ~yhila { ./ Oft stehen Anreden parallel zueinander, was Aufschluss über das jeweilige Gottesbild gibt.229 Bei Kombinationen ist also zu fragen: Welche Gottesvorstellung hat der Klagende, auf welche Erfahrungen greift er zurück und welche Erwartungen und Anliegen finden so ihren Ausdruck?
225
226 227
228 229
Tod „Mit Gott ums Leben kämpfen“, JBTh 19, 64. Mit Tod ist in den Psalmen meistens nicht der biologische Tod als Ende der menschlichen Lebenszeit gemeint, sondern eine bedrohliche Macht, die das Leben des Beters zu zerstören droht. E. S. Gerszenberger, Psalms: Part 1: with an introduction to cultic poetry, 163; K. Seybold, Die Psalmen, 161. Vgl. E. S. Gerszenberger, Warum hast du mich verlassen?, 24. K.-M. Beyse, Art. vWx, ThWAT II, 821: „Von einem spezifisch theologischen Ge brauch von vWx muss in jedem Fall bei den folgenden Psalmen [Ps 22,20; 40,14; 72,2; 71,12] gesprochen werden, in denen JHWH das Subjekt des Verbums vWx ist.“ W. H. Ritter, Leid und Gott, 39. C. de Vos, a.a.O., 195.
146
Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
Der Gottesname hw"hy> (V. 16a) steht parallel zu den dreimaligen Bezugsworten auf Gott: hT'a;, yn"doa] und ~yhila { / (V. 16b). hw"hy> entspricht die Doppelinvoca{ ./ Der Beter betont so seine Beziehung zu JHWH als seinem tio yn"doa] und ~yhila persönlichen Gott,230 wobei die Anredeform auf V. 2 u.10 zurückgreift:231 In V. 2 hat er sich auf die bestehende und zu erneuernde Beziehung zu hw"hy> berufen und den erfahrenen Zorn und Grimm auf ihn bezogen. Auch die Anrede yn"doa] in V. 10 sollte sein Vertrauen betonen. Im Vergleich hierzu bildet V. 16 eine Steigerung, denn durch den gleichzeitigen Gebrauch des Namens hw"hy> und der Got{ / wird sein Interesse am Objekt des Wartens (lx;y)" tesbezeichnung yn"doa], ~yhila und am Subjekt von (hn ,l. und yti(['WvT., welche offenkundig Grundlage seines Glaubens sind. V. 23 wirft bei ihm jedoch nicht die Frage auf, wie sich sein Gottesbild mit dem Leiden vereinbaren lässt, denn durch yti_r"z>[,l. und yti(['WvT. wird vor allem seine gänzliche Ausrichtung auf Gott illustriert.
230 231 232 233 234
E. S. Gerszenberger, Psalms I, 1988, 162. C. de Vos, a.a.O., 49. Vgl. C. Barth, Art. lx;y", ThWAT III, 607. Vgl. H. Hübner, Wer ist der biblische Gott?, 95. C. de Vos, a.a.O., 51.
Psalm 38: JHWH – der eine Gott
147
2. Im ersten Verspaar bekräftigt er durch die Verbindung von V. 16 mit V. 23 235 seine Position, denn seine vertrauensvolle Gewissheit von V. 23 basiert auf V. 16. Offenkundig ist, dass in der Aussage über die Wirkung von lxy, hn"[' und vwx der Beter nicht danach fragt, ob sein Leiden beendet wird,236 sondern wer antworten wird bzw. wer verantwortlich ist. Dies geschieht in der chiastischen Struktur mit der Grundaussage über die heilende und befreiende Kraft von JHWH als persönlichem Gott. Sie beschreibt einerseits das erhoffte Handeln Gottes, aber andererseits verhilft sie dem Betenden auch zu seinem „Selbststand“.237 Der Grund für Gottes rettendes Handeln bildet also nicht mehr das Sündenbekenntnis, wie im Tun-Ergehen-Zusammenhang; sondern entspringt seiner existentiellen Klage an JHWH, die sein Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ausdrückt. Die Bitte um Erhörung begründet den Selbststand des Beters und ermöglicht ihm die Aussage, dass Gott Urheber der Schrecken, die sein Gebet zu bewältigen versucht, ist.238 Hier spricht der Beter von seiner Hinwendung zu JHWH. 239 Im Vergleich zum vorhergehenden Teil ist also von einer negativen Gotteserfahrung - nämlich der seiner Verborgenheit - nicht mehr die Rede. Zur Leidensdeutung eignet sich also weder das Schema von Tun und Ergehen noch die Vorstellung eines vergeltenden Gottes,240 denn er bietet er vielmehr eine neue theologische Sicht, da sein Selbststand auf dem Festhalten an dem einen und einzigen Gott beruht, selbst wenn ihm dieser zum Feind geworden zu sein scheint. b) Die Theodizeefrage: V. 17 und 22 Die Klage erweitert sich nun von zwei auf drei Beziehungsgefüge, da nun neben Gott auch die Umwelt in die Verhandlung einbezogen wird. a) Strukturanalyse
In diesem Verspaar expliziert der Beter sein Gottesbild mittels des Beziehungsgefüges zwischen ihm und seinen Mitmenschen und Gott. Er veranschaulicht den Konflikt durch zwei Verbalsätze über seine Aussage (V. 17a) und die feindliche Prahlerei (V. 17b):
yli_-Wxm.f.yI-!P, yTir>m;a'â-yKi( (V. 17a) 235 236 237 238 239 240
Vgl. Ps 22,20; 27,9; 35,2; 40,14.18; 70,2; 71,12. Vgl. B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 351. Vgl. E. Zenger, Gewalt überwinden, 53. Vgl. F. Crüsemann, Der Gewalt nicht glauben, 263. H.-J. Kraus, Psalmen I, 1978, 449. C. de Vos, a.a.O., 69.
148
Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
`WlyDI(g>hi yl;î[' yliªg>r:÷ jAmïB. (V. 17b) Er drückt durch den Verbalsatz yTir>m;a' seine Intention aus, was durch das Verb Wxm.f.yI (Imperfekt) mit dem !P,-Satz verstärkt wird.241 Und er formuliert sodann durch WlyDI(g>hi (Perfekt) die Anklage gegen die Feinde. H. Gunkel behauptet, dass in V. 17 zwischen den zwei Verbalsätzen (Wxm.f.yI und WlyDI(g>h)i eine Inkohäsion besteht, da WlyDI(g>hi in Verbindung mit dem !P,-Satz, nach dem sonst immer das Imperfekt stehe, anstößig wirkt. 242 Aber es besteht trotz der scheinbaren Inkohäsion keine inhaltliche Trennung. Ein Lösung ermöglicht yTir>m;a'â-yKi. V. 17 bildet die Einleitung dieses Teils und markiert somit einen Neuanfang (vgl. auch Ps 41,5). Wir können jetzt feststellen, dass der Beter sein Begehren nur hier verhältnismäßig konkret ausdrückt (vgl. V. 2.10.16.22); denn während er sonst das Verlangen geheilt zu werden, nirgends ausdrücklich vorbringt, äußert er es nun aber durch den Wunsch, dass seine Feinde nicht über ihn frohlocken mögen, zumindest indirekt. 243 An den die Feind-Klage einleitenden V. 17 schließt sich V. 22 an, 244 und die ganze Wendung ist durch ihre formale Gestaltung als dringende Aufforderung oder Mahnung geformt:
ynIbEïz>[;T;(-la; hw"h+ y> yh;ªla{ ÷/ `yNIMm)< i qx;rî T> -i la; (V. 22) Die Schlussbitte wird durch die zweimaligen parallelen Vetitive geformt,245 die mittels zweier Gottesanrufungen verknüpft sind, wobei ein Chiasmus erkennbar ist, was die Gottesvorstellung verdeutlichen soll: Er redet von JHWH (hw"+hy)>) und seinem Gott (yh;ªla { /÷). Damit stehen die zwei Vetitive in V. 22 zur Darstellung in V. 17 parallel und dieser literarische Befund ist plausibel, weil die Verse im chiastischen Aufbau ein Paar bilden. 241 242 243 244
C. de Vos, a.a.O., 49. H. Gunkel. Die Psalmen, 162. N. Ridderbos, Die Psalmen, 282. Anders: H. Gunkel, Die Psalmen, 162, Er behauptet, dass mit V. 17 eine neue Stimmung einsetzt, Sorge und Zweifel nach dem Vertrauen von V. 16, und das Kennzeichen des Neueinsatzes ist , weshalb er streichen will. Vgl. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 150. Beispielsweise „nehmen die Bitten von Ps 22,20 Ps 22,2.12 auf und sind konventionell formuliert.“
yTir>m;a'â
245
yK
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b) Inhaltliche Analyse
Nun begründet der Beter sein Gottesbild mittels dreier Beziehungsgefüge, wobei die terminologische und thematische Verbindung zwischen den Versen sehr konkret ist. Durch Aussagen über die feindlichen Mitmenschen und die Verborgenheit Gottes artikuliert er sein „Ich“. Mit der Feindschilderung in V. 17 reagiert er auf die feindliche Herausforderung. In V. 17a führt er ein neues Motiv ein: den von ihm und Gott (!) nicht wünschbaren Sieg der Feinde.246 C. de Vos meint, dass ein Selbstgespräch wiedergegeben wird, das auf die drohende Möglichkeit verweist, dass sich die Gegner voll Schadenfreude größer wähnen könnten als der Betroffene. 247 In V. 17b beschreibt der Ausdruck „Prahlerei der Feinde“ das mitmenschliche Verhalten. Das Verständnis der Feinde hängt an der Bestimmung der Wurzel jwm. Als Grundbedeutung ist wanken oder schwanken anzunehmen, wobei durchweg an etwas Festes gedacht wird, den menschlichen Körper oder den Erdboden. Die Standfestigkeit des Menschen ist vor allem dann bedroht, wenn seine Füße ausgleiten oder auf andere Weise ins Wanken geraten. (vgl. Deut 32,35; Ps 17,5 66,9; 94,18; 121,3).248 In Texten aus dem Umfeld der Jerusalemer Tempeltheologie und Weisheit wird die Erfahrung des Chaotischen in den Formen von Feindbedrängnis, Krankheit oder Rechtsnot mit dem Verb jwm ausgedrückt (Ps 46,3.6f; 82,5; 96,10; 104,5), während die Erfahrung der Gotteshilfe durch Negation des Verbs wiedergegeben wird (Ps 10,6; 15,5; 30,7; 112,6; Spr 10,30). 249 Da die Gegenwart für den Beter durch sein Leiden bestimmt ist und der Feind sein Todesgeschick zu vollenden sucht, meint „Wanken“ hier die Manifestation der Schreckensstarre bzw. sein Trauma, 250 was dem in V. 22 beklagten Lebensentzug durch JHWH entspricht. 251 Es geht also hier nicht nur um die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern es ist auch darüber hinaus zu zeigen, welches Gottesbild das Leiden bedingt. Seine Argumentation intensiviert sich, da V. 17 eine Voraussetzung für V. 22 bildet. Der Beter führt seine Argumentation mit den negierten Jussiven in V. 22 fort. 252 Er bekräftigt seinen Wunsch, durch die zweimalige Anrufung des Na246 247 248 249 250 251
252
F.-L. Hossfeld, a.a.O., 244. C. de Vos, a.a.O., 49. A. Baumann, Art. jwm, ThWAT IV, 732. B. Janowski, Das verborgene Angesicht Gottes, 38. Vgl. O. H. Steck, Psalm 13, 63. Vgl. O. H. Steck, Friedensvorstellungen im alten Jerusalem. Psalmen – Jesaja – Deuterojesaja, ThST 112, Zürich 1972, 37. Vgl. Ps 22; 70. Während die zentrale formelhafte Wendung: „Eile zu meiner Hilfe“ in den verschiedenen Texten identisch ist, sind die negierten Jussive jeweils verschieden.
150
Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
mens JHWHs. Hier wird sichtbar, dass er diese traditionelle Wendung zielgerichtet mit dem eigenen Interesse verknüpft.253 Seine drängende Bitte an Gott thematisiert aber nicht nur die Hoffnung auf ein Ende der Not, 254 denn wichtig ist ihm auch, dass die feindliche Prahlerei widerlegt wird, indem sein Verlassensein durch Gott endlich ein Ende findet. Die zwei Vetitive formulieren also zugleich auch eine Anklage gegen die feindliche Prahlerei. 255 Er bekennt sich trotz der Manifestation des Chaotischen in seinem Leben zu seinem Gott yh;ªla { /÷ als JWHW (V. 22). Nach U. Berges „konzentrieren sich im theologischen Gebrauch die Belege für „verlassen“ auf die Bundestradition, wo es den Abfall bzw. die Aufkündigung der Bundesverpflichtungen anzeigt, und die Klage, wobei Gott den Beter verlassen hat (Ps 22,2) bzw. er ihn doch nicht verlassen möge (Ps 27,9; 38,22; 71,9).256 In den zentralen Bitten von Ps 27,9 erscheinen beide Elemente, das Verlassen Gottes und sein Zorn. Doch anders als dort beginnt Ps 38 mit der Klage über den Zorn und die Strafe Gottes, am Ende des Textes erscheint jedoch die Bitte um das Nicht-Verlassen Gottes.257 Weiterhin kann beobachtet werden, dass das Verbergen des Angesichts mit Gottes Zorn verbunden ist. Die Wendung begegnet z.B. in Ps 22,20; 27,9; 70,6 in gleicher oder ähnlicher Ausformung. Die Wendung in Ps 70,6 beginnt mit zwei Nominalsätzen, worauf die Leitbegriffe: „O Gott, eile zu mir! Mein Helfer und mein Retter bist du! Herr, zögere nicht!“ folgen. Diese Leitbegriffe erscheinen auch in Ps 22,20. Somit kann ein traditionsgeschichtlicher Zusammenhang zwischen den Motiven von Leiden und Verlassensein durch Gott im Klagepsalm des Einzelnen vermutet werden. Die Klage über die Wirklichkeit wird dabei zur Anklage gegen Gott.
Der Beter verdeutlicht sein existentielles Leiden in diesem Paar, es schildert das ganze Geflecht von Krisen und Problemen, womit er zu ringen hat. Das Verspaar enthält biographische Zeugnisse, 258 weshalb es möglicherweise nicht das Bestreben hat, ins Allgemeine und Typische vorzustoßen, indem es das individuelle Leiden zum paradigmatischen Leiden, zum „Urleiden der Gottesverlas-
253
254
255
256 257 258
Vgl. „Verlass mich nicht, HERR; mein Gott, sei nicht fern von mir!“ (Ps 38,22) „Du aber, HERR, sei nicht fern!“ (Ps 22.20) „Verbirg dein Angesicht nicht von mir!“ (Ps 27,9) Vgl. B. Janowski, Das verborgene Angesicht Gottes, in: M. Ebner (Hg.), Klage, JBTh 16, Neukirchen-Vluyn 2001, 30. Vgl. F.-L-Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 185. Das alte Israel hat mit Hilfe der altorientalischen Kult- und Gebetssprache typische Elemente seines JHWH-Glaubens formuliert. F.-L. Hossfeld, a.a.O., 245; U. Berges, Klagelieder, 298. W. Groß, a.a.O., 187. O. H. Steck, Friedensvorstellung, 39.
Psalm 38: JHWH – der eine Gott
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senheit“259 steigert und das Auftreten des persönlichen Feindes als Manifestation des Chaotischen im Leben des Beters darstellt.260 Dass Gott den Beter nicht verlassen soll und ihm eben nicht fern sein soll, ist nicht nur eine Heilungsbitte, sondern für ihn zugleich der entschiedene Widerstand gegen die Feinde. Gottes dunkle Seite wird nicht verdeckt oder vorschnell aufgelöst, sondern deutlich zur Sprache gebracht, denn der Hilferuf „Verlass mich nicht, HERR, mein Gott, sei nicht ferne von mir!“ist Beschreibung der göttlichen Abwesenheit, wodurch auch die Ursache des Leidens weder rationalisiert oder gar verschwiegen wird. Dem Beter kommt es gerade darauf an, seinen Gott mit dem Leiden zu verbinden. Die Klage vor JWHW soll erweisen, dass hw"hy> als der eine Gott mit seinem Leiden verwoben ist, womit im monotheistischen Glauben, den wohl auch die Gegner teilen dürften, die Theodizeefrage aufgeworfen wird.261
2. Selbststand in der Feind-Klage a) Der Konflikt mit den Mitmenschen über die Krankheit: V. 18 und 21 Wegen des chiastischen Aufbaus wird sichtbar, dass das Feind-Verhalten (V. 21) auf seine Klage (V. 18) bzw. Krankheit reagiert. Der Klagende stellt heraus, dass ihr Verhalten sein Leben beeinträchtigt und zerstört hat, was zugleich auch Anklage des gegnerischen Gottesbildes ist. a) Strukturanalyse Die Klage ist als Nominalsatz formuliert, der die Krankheit beschreibt. Der Satz mit ynIa] in V. 18 deutet das Argumentationsziel an:
yKi-
`dymi(t' yDIäg>n< ybiÞAak.m;W !Ak+n" [l;c,äl. ynIa]â-yKi( (V. 18) Der Beter schildert vor allem mit ynIa] seinen Schmerz und seine Not.262 Die gewählten Worte wirken aber paradox, 263 denn es ist ja unübersehbar, dass gerade er nicht fest steht. !Ak+n" kommt von !wk (feststehen, sicher sein), während !Ak+n" 259 260 261
262 263
G. von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, Gütersloh 101992, 413. B. Janowski, Das verborgene Angesicht Gottes, 41. Vgl. E. S. Gerszenberger, Warum hast du mich verlassen?, 15. Seine Theodizeefrage ist in Analogie zu den Klageliedern des Einzelnen auf den förmlichen Bund JHWHs mit seinem Volk bezogen, weil der Beter von JWHW (hw"+hy>) und seinem Gott (yh;ªl{a/÷) spricht. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, a.a.O., 245. J. Goldingay, Psalms, 548.
152
Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
hingegen bedeutet: Er ist dabei zu fallen. Man könnte also wörtlich so übersetzen: ich bin festgesetzt zum Fallen. C. de Vos fragt, ob der „Sturz“ ethisch (Sünde) oder physisch (Krankheit) zu deuten sei, wobei sie letzteres befürwortet.264 „Sturz“ ist allerdings nicht nur eine physische, sondern auch psychische Krankheitsmetapher.265 Die geschilderte Not ist für den Beter der Grund für die in V. 21 beschriebene Handlung. Das Kausalverhältnis der beiden Sätze ist Ausgangspunkt seiner Polemik gegen die Feinde. Der Verbalsatz ist durch einen Parallelismus membrorum geformt, 266 da tx;Tä; und bwj in V. 21a parallel zu V. 21b stehen:
hb'A_ j
tx;Tä;
(V. 21ab)
h['r"â ymeäL.v;m.W (V. 21aa)
`bAj)-ypiAdr> tx;T;ä
(V. 21bb)
ynIWn©j.f.y÷I
(V. 21ba)
In V. 21a werden die Feinde charakterisiert und anschließend wird ihr Tun in V. 21ba durch das Verb ynIWn©j.f.y÷I beschrieben. Weiterhin wird ein Nominalsatz mit Infinitiv in V. 21bb benutzt, der den Beter charakterisiert. Die beiden Sätze – V. 21a und 21bb – bilden eine Art Klammer um die Erzählung des Verbs ynIWn©j.f.y,÷I das axial steht. Die zwei Sätze in V. 21, die vom Verbalsatz ynIWn©j.f.y÷I (V. 21ba) abhängig sind, erfüllen mit einer Partizip-Form meL ä v. m; . (V. 21a) die Rolle des Subjekts von ynIWn©j.f.y÷I (V. 21ba), dabei dient der Kausalsatz mit dem Infinitiv ypiAdr> (V. 21bb) als Akkusativ zu ynIWn©j.f.y÷I (V. 21ba). Dabei fällt auf, dass der Beter die Charaktere der beiden Sätze durch einen Parallelismus membrorum vergleicht, und die beiden Elemente in V. 21a und 21bb das Verb in V. 21ba fokussieren. So wird der Gegensatz267 zwischen V. 21a und 21bb formuliert, der durch die polaren Begriffspaare268 [[r (V. 21a) 264 265
266 267 268
C. de Vos, a.a.O., 49. F.-L. Hossfeld/E. Zenger, a.a.O., 245. Im Zusammenhang damit legt sich durch die Parallelen von Ps 35,15;Jer 20,10 und Hiob 18,20 ein Sturz als Krankheitsverständnis nahe. Vgl. De Vos, a.a.O., 49. Für sie liegt im Psalm keine scharfe Alternative vor, weil die Schilderung des körperlichen und seelischen Zustandes und das Eingeständnis der eigenen Sünde als Ursache seiner Not zu sehr miteinander verwoben sind. Diese Auffassung könnte aus dem Missverständnis der Struktur des zweiten Teils resultierten. Vgl. K. Seybold, Die Psalmen, 57. Vgl. K. Seybold, a.a.O., 62. C. Dohmen, ThWAT VII, 585f. Wegen des sehr großen semantischen Spektrums des polaren Begriffspaars ist die Wortbedeutung nur aus dem jeweiligen Kontext erhebbar. In der religiösen Grundfrage nach den Verhältnis zum Guten begegnet das Problem des Böse im sum., babyl.-assyr. und ugar. Kulturraum (Theodizee und Tun-Ergehen-
Psalm 38: JHWH – der eine Gott
153
und bwj (21bb) verschärft wird. Der Beter erweist die Bosheit der Feinde, indem er nun polemisch behauptet, dass das Gute auf seiner Seite, das Böse aber auf ihrer Seite sei. Durch die Verbindung von [[r mit dem Oppositum bwj,269 erklärt er, dass alle Handlungen der Feinde (V. 21a) im Gegensatz zu seinem „Nachjagen des Guten“ stehen (21bb). Nun wird im Nebensatz mit dem Inf.cs in V. 21bb (bAj)-ypiAdr>) der Grund genannt, weshalb das Subjekt die Stellung des Feindes einnimmt (V. 21ba). Die Wendung enthält die konkrete Bestimmung eines kausales Verhältnis durch die Konjunktion tx;T; (21bb), was die Argumentation bekräftigt. Durch die Konjunktion stehen die beiden Charaktere in scharfer Antithese zueinander, und durch den direkten Vergleich werden die unterschiedlichen Leidensauffassungen sowie Reaktionen kritisch beurteilt. b) Inhaltliche Analyse
Durch die Verbindung von V. 18 mit 21 zeigt der Beter, wie und warum die Mitmenschen in Reaktion auf seine Not zu Feinden geworden sind. Er beschreibt sie als solche, die Gutes mit Bösen vergelten. In V. 18 beschreibt er seinen drohenden Zusammenbruch, denn sein physischer und psychischer Zustand ist desolat. Das bedeutet jedoch nicht, wie F.-L. Hossfeld meint, dass die Schilderung des körperlichen und seelischen Zustandes zu sehr miteinander verwoben ist.270 Der Beter schildert vielmehr, wie C. de Vos mit Recht urteilt,271 seine Lage als die eines Menschen, der kurz vor dem Zusammenbruch steht.GG In V. 21 veranschaulicht er das gesellschaftliche Phänomen, nämlich wie und warum seine Mitmenschen angesichts seines drohenden Sturzes mit Feindschaft reagieren. Der syntaktische Befund, dass sich ynIWn©j.f.y÷I in V. 21ba auf die Wendung von V. 18 bezieht, ist unumstritten: der Grund des Konflikt mit der Umwelt ist seine Krankheit. Mit der Aussage ynIWn©j.f.y÷I (sie feinden mich an) knüpft der Beter an seine frühere Feindschilderung an (V. 12f). Der Gegensatz zwischen V. 21a und 21bb bewirkt, dass die Feinde auf der Seite des Bösen stehen, der Beter hingegen auf der des Guten, und mit dieser Entgegensetzung erreicht der Konflikt seinen Höhepunkt. G
269 270 271
Zusammenhang). Das zahlenmäßig größte Vorkommen entfällt auf die Zusammenstellung von [[r mit dem Oppositum bwj. Gen 44,4; 1 Sam 25.21; Ps 35,12; 38,21; 109,5; Spr 17,13. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Die Psalmen, 245. C. de Vos, Klage als Gotteslob aus der Tiefe, 49.
154
Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
Zu fragen ist, wie sich das Feindwerden der Mitmenschen zeigt, wobei zum Verständnis des Verspaares ein Blick auf Ps 35,11-16 hilfreich ist: 272 Es treten gewalttätige Zeugen auf; was ich nicht weiß, fragen sie mich. Sie vergelten mir Böses für Gutes; vereinsamt ist meine Seele. Ich aber, als sie krank waren, kleidete mich in Sacktuch; ich kasteite mit Fasten meine Seele. Ach, daß mein Gebet in meinen Schoß zurückkehrte! Als wäre er mir ein Freund, ein Bruder gewesen, so bin ich einhergegangen; wie leidtragend um die Mutter habe ich mich trauernd niedergebeugt. Sie aber haben sich über mein Straucheln gefreut und sich versammelt, Schläger haben sich versammelt gegen mich, und ich kannte sie nicht; sie zerreißen und hören nicht auf. Unter Gottesverächtern verspotten sie meinen Rückzugsort, sie knirschen gegen mich mit ihren Zähnen.
Diese Klage berichtet von einer früheren Erkrankung der jetzigen Feinde und dem damaligen Verhalten des Beters, der nun selbst schwer erkrankt ist, woraus seine Widersacher nun aber rasch eine „alte Schuld“ ableiten, um ihn nicht beistehen zu müssen.273 Der Klagende empfindet ihr Vorgehen als bösartig und asozial, denn sie vergelten ihm, der nun Unterstützung benötigt, seine damalige Hilfe mit Undank. Diejenigen, die einst von ihm Gutes erfahren haben, verletzen die Solidarität, da sie sich über sein Elend freuen. 274 In dem dreifachen Beziehungsgefüge geht es um die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Beter, seinen Feinden und Gott. Über die theologische Herausforderung angesichts des Leidens kommt es zum Streit zwischen den Antagonisten. Dabei steht das Verständnis des Leidenden, der „dem Guten nachjagt“, zum Verständnis seiner Umwelt, die „Gutes mit Bösem vergilt“, in scharfer Antithese. Die Bedrängnis resultiert demnach nicht nur aus der Krankheit, sondern auch aus sozialer Not, in Missachtung, Desintegration und Einsamkeit, kurzum in der Zerstörung seiner Lebenswelt. 275 Dementsprechend spiegelt das Verspaar das jeweils unterschiedliche Leidensverständnis wider. Der Beter verurteilt durch seine Behauptung, dass die Feinde Guten mit Bösem vergelten, ihr Verhalten und erklärt zugleich seine Unschuld, denn sein Leiden ist nicht länger 272 273 274 275
Vgl. F. Crüsemann, Der Gewalt nicht glauben, 257. H.-J. Kraus, Die Psalmen I, 429. F.-L. Hossfeld, Die Psalmen, 221. B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 180.
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durch den Tun-Ergehen-Zusammenhang zu deuten, weshalb sie ihm beizustehen hätten, doch durch ihr Handeln fällen sie eigentlich kein Urteil über ihn, sondern über sich selbst! b) Die Unbegrenztheit Gottes: V. 19-20 Der Beter polemisiert in diesem zentralen Verspaar primär – im Anschluss an die Feindschilderung – gegen die gegnerische Gottesvorstellung. Dazu wiederholt er in den yKi-Sätzen das Sündenbekenntnis des ersten Abschnitts und die Feindschilderung, wodurch er die Klagethemen weiterführt und beendet. a) Strukturanalyse
Das Verspaar formuliert die zentrale Aussage des Abschnitts, sie beginnt mit dem Sündenbekenntnis in V. 19 und endet mit der Feindschilderung in 20. Die Feindhandlungen in V. 20 scheinen aus der Handlung des Beters zu resultieren, da der yK-Satz als Begründung zu verstehen ist. Sie wird durch die zweimalige verbale Perfekt- und Partizipform als Subjekt ausgedrückt, während die zwei Verben in V. 19 Imperfektformen sind:
`yti(aJ'x;me( ga;ªd>a,÷ dyGI+a; ynIïwO[]-yKi( Wegen des chiastischen Aufbaus dient V. 19 zur Begründung von V. 20. In V. 19 werden für das Sündenbekenntnis Termini aus V. 4.5 aufgegriffen. 276 Die Feinddarstellung in V. 20 wird bei der Identitätsbestimmung der Feinde verallgemeinert, sie verdeutlicht diejenige von V. 12f abermals. Betrachtet man V. 20 im Kontext des Psalms, ist unübersehbar, dass die Umwelt das Leiden in dieser Abfolge versteht: zuerst die Sünde als Ursache und sodann das Leiden als gerechte Folge. Aber es besteht nun aber - scheinbar unvermittelt - eine thematisch-inhaltliche Spannung, da in V. 20b behauptet wird, „die ohne Grund mich hassen“, was eine Unschuldsbeteuerung zu sein scheint. Dies passt ganz und gar nicht zur Abfolge von Sünde und Leiden, weshalb F.-L. Hossfeld an der Ursprünglichkeit von V. 20 zweifelt;277 während H.-J. Kraus meint, das so die Verleumdung der Feinde aus 13 zurückgewiesen würde, womit er versucht, den Vers in den Textzusammenhang einzubetten. 278 C. de Vos meint jedoch, es sei nicht leicht, eine Verbindung zu den bereits erwähnten Gegnern zu ziehen. 279
276 277 278 279
F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Die Psalmen, 245. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Die Psalmen, 240. H.-J. Kraus, Psalmen I, 61989, 449. C. de Vos, a.a.O., 50.
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Deshalb ist die Feindschilderung erneut zu untersuchen. Der Vers ist chiastisch aufbaubaut:
~yYIåx; yb;y>aow>â)(V. 20a) Wmce_[' WBßr:w> `rq,v(' ya;nä f> o (V. 20b) Er besteht aus dem Ausdruck der Feindschilderung ~yYIåx; yb;y>aow>â) und ihren „echoes“280 „rq,v(' ya;nä f > o“ sowie den zentralen Begriffen „Wmce_[“' und „WBßrw: >“. Die chiastische Form besteht also aus zwei Paaren. Die Darstellung der feindlichen Aktivität (V. 20a) erfolgt durch den Ausdruck „die ohne Grund mich hassen“ (V. 20b). Hier ist ein dreigliedriges spannungsreiches Beziehungsgefüge erkennbar: das Sündenbekenntnis des Beters (V. 19), die feindliche Aktivität (V. 20a) sowie als Reaktion die heftige Kritik des Beters (V. 20b). Exkurs: Tun-Ergehen-Zusammenhang Für K. Koch wird der Zusammenhang von Sünde und Unheil bzw. Guttat und Heil „in allen alttestamentlichen Traditionen mit dem Handeln JHWHs in Verbindung gebracht“.281 Die enge Verknüpfung von Tat und Folge übernimmt er von K. H. Fahlgren, doch anders als dieser verbindet er den Tun-ErgehenZusammenhang mit dem Wirken JHWHs. Hingegen versteht ihn Fahlgren als eine urtümliche Lebensauffassung, die jedoch unter dem JHWH-glauben einer Wandlung unterworfen war: JHWH galt zunehmend als Hüter der Gemeinschaft und ihrer Lebenszusammenhänge; weshalb Tat und Ergehen zunehmend, wenn auch nie völlig in Vergehen und Strafe auseinandertraten.282 Ausgangspunkt für Kochs Erwägungen ist die Selbstverständlichkeit, mit der vom Vergeltungsglauben im Alten Testament geredet wird, da er meist als gewiss vorausgesetzt wird.283 Er behauptet, dass die Auffassung der schicksalsentscheidenden Tat im
280
281 282
283
Y. T. Raddy, Chiasmus in Hebrew Biblical Narrative, in: J.W. Welch (ed.), Chiasmus in Antiquity: Structures, Analyses, Exegesis, Hildesheim 62005, 50. K. Koch, Vergeltungsdogma, 31. K. H. Fahlgren, Sedaka, nahestehende und entgegengesetzte Begriffe im Alten Testament, Uppsala 1932, 91. K. Koch, Vergeltungsdogma, 1f.
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Psalter, besonders in den individuellen Klage- und Dankliedern entfaltet wird. 284 Er findet Hinweise, dass bereits in Ps 38,5f und 40,13 zum Ausdruck komme, dass eine Tat substantiellen Charakter besitze.285 K. Koch stellt heraus, dass die Psalmisten bei der Rede vom Richten JHWHs, nicht daran dachten, dass JHWH „die menschlichen Taten an einer >>objektiven>Wer eine Grube gräbt …â) in V 20 wird inhaltlich die frühere Schilderung aufgegriffen. 296 Die Beobachtung verdeutlicht, dass ein direkter Zusammenhang besteht, da die erste die zweite Schilderung vorbereitet. So wird ersichtlich, dass der Beter in V 20 erklärt, was die Todfeindschaft der Mitmenschen (V. 12f) bedeutet 297 und was ihr Anlass gewesen ist. Nachdem die erste Feindschilderung die Identität der Feinde erwies, zeigt die zweite die Richtung der Auseinandersetzung. In Bezug auf das Gottesbild vergleicht der Beter zunächst seine Perspektive mit der seiner Mitmenschen. Im 292 293 294 295 296 297
E. Otto, Ethik, 153. G. Freuling, >>Wer eine Grube gräbt …fo „die ohne Grund mich hassen“ ist durch die für Feindschilderungen typische Partizip-Form wiedergegeben. Da zum Suffix nicht auch noch ein adnominaler Genitiv treten kann, ist rq,v' als adverbialer Akkusativ zu deuten. 298 Nicht ihre Identität, sondern das feindliche Handeln wird mit rq,v' qualifiziert, was Lüge299 und Trug bedeutet. 300 Allerdings ist die Grundbedeutung von rq,v'( ya;än>f „treulos handeln“.301 Zur Feindklage der Psalmen gehört als typisches Motiv der Vorwurf der falschen Anklage und Aussage sowie die Verfolgung.302 Hier begründet der Beter die unterschiedlichen Gottesvorstellungen: Einerseits durch die Rezeption des Schemas von Tun-Ergehen und andererseits durch die Polemik gegen dessen Verständnis durch die Feinde: Das Sündenbekenntnis steht im Zentrum des Widerspruchs, denn die feindlichen Handlungen entspringen der Verkennung seines Sündenbekenntnisses.303 Die Feinde konnten nur so zahlreich werden, weil sie es falsch verstanden haben. Der Beter weist zwar darauf hin, dass er ein Sündenbekenntnis abgelegt hat, aber das ermöglicht ihm seinen Selbststand vor Gott. Daher steht das Sündenbekenntnis in V. 19 zur Reaktion der Feinde in V. 20a in scharfer Antithese, was sich in V. 20b nochmals zuspitzt. Das traditionelle Verständnis des Sündenbekenntnisses geht davon aus, dass das Grundproblem die Gerechtigkeit im Primärgruppenbereich ist; aber der Denkhorizont des Beters ist weiter: Es geht ihm um die Möglichkeit, vor Gott Recht zu bekommen und um eine neue göttliche Wesensbestimmung. 304 Seine Umwelt will jedoch nicht in einer Welt leben, in der die Menschen das göttliche Handeln nicht restlos nach zu Dogmen geronnenen Erfahrungssätzen deuten können, weshalb ihre Argumentation immer wieder auf den persönlichen „Tun298 299 300 301
302 303
304
O. Keel. Feinde und Gottesleugner, 98. Ps 52,5; Pr 17,4; Hi 36,4. Jer 6,13; 8,10; 9,2; Jes 28,15; Vgl., Ps 7,15; 33,17. H. Seebass/ S. Beyerle/ K. Gründwaldt, Art. rqv ThWAT VIII 1995, 469-470, hier 466. H. Seebass/ S. Beyerle/ K. Gründwaldt, Art. rqv ThWAT VIII 1995, 469f. K. Seybold, Die Psalmen, 138: „Denn für seine Gegner gilt: Die Alten dachten in organischen Kategorien von der Frucht der bösen oder guten Tat und von der geradezu natürlichen Wirkung, die von allem Handeln ausgeht, das sich fortpflanzt in Handlungsfolgen, einem entsprechenden Ergehen.“ Vgl. E. S. Gerszenberger, Warum hast du mich verlassen?, 26.
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Ergehen-Zusammenhang“ zurückgreift (V. 19-20a). Darum ist für sie der Vorwurf, dass Gottes Handeln nicht immer mit dem klaren Maß von gerecht oder ungerecht zu verstehen sei, ganz unverständlich. Vielmehr macht es das Leiden für sie evident, dass der Kranke schuldig und daher verantwortlich ist. Wegen dieser Voraussetzung erweist sich für sie die Frage nach Gottes Gerechtigkeit als unberechtigt und überflüssig, denn für das Leiden ist ihnen einzig der Beter verantwortlich. In V. 19 und 20 zielt der Beter auf folgendes: Er korrigiert nicht die Versuche, aus dem Sündenbekenntnis eine Leidensursache abzuleiten, sondern er erkennt in ihrem Glauben, dass Gott ihn wegen seiner Sünde leiden lässt, ein begrenztes bzw. falsches Gottesbild. (2) Ein Weg zum Monotheismus Hier wird erkennbar, dass ein durch Not getroffener Mensch im Gegensatz zu seiner Umwelt durch sein Schuldbekenntnis ein neues Gottesbild entwickelt. Diese deutet Krankheit und Schuldbekenntnis nach dem Schema von TunErgehen, doch dem widerspricht der Beter vehement. 305 Der Beter ist nicht daran interessiert, ob der leidende Mensch für die Krankheit verantwortlich ist, oder ob nun Gott angesichts des Leidens gerechtfertigt werden muss. Vielmehr macht er durch das „Aufbrechen“ 306 dieses Schemas deutlich, dass hw"hy> als der eine Gott in all sein Leiden verwoben ist, um es so zu überwinden. Dies bezeichne ich als den Selbststand des Beters, den er sowohl durch die Gott- und Feind-Klage als auch die Ich-Klage gewinnt. JHWH wird so als der einzige Gott postuliert, er ist nun allein für Gesundheit und Krankheit verantwortlich. Aber dann muss er angesichts unverschuldeten Leids gerechtfertigt werden, denn es ist nicht auf andere Gottheiten zurückzuführen, denn es kann nicht länger ein Gott gegen den anderen gesetzt werden. Zugleich entsteht so ein neues Zeitverständnis, denn der Glaubende kann angesichts der Wirklichkeit des Leidens, die auf den sich abgewendeten Gott zurückgeht, nur auf den sich künftig wieder zukehrenden errettenden Gott vertrauen.
305
306
Vgl. K. Seybold, Die Psalmen, 139. Vgl. auch Die Feind-Klage in V. 12-13, 17, 20-21, sie „gehört in den Bereich des Rechtsstreites als Anklage oder Unschuldsbeteuerung (Ps 35,12; 38,21; 109,5 u.ö.). I. Höver-Johag, a.a.O., 330: In den individuellen Klageliedern trägt der unschuldige Angeklagte seinen Rechtsstreit gegen den Frevel und die Lüge falscher Zeugen vor Gott aus. C. de Vos, a.a.O., 64: „In individuellen Klagepsalmen beteuert der Betende auf unterschiedliche Weise seine Unschuld. Er begründet durch die Unschuldsbeteuerungen die Berechtigung seiner Bitte an Gott.“ (Vgl. Ps 7,4-6; 17,1; 26,6; 59,4-5.) B. Janowski, JHWH, 77.
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Dies Vertrauen zeigt, wie ein durch Not getroffener Mensch im Gegensatz zu seiner Umwelt durch sein Schuldbekenntnis ein neues Gottesbild entwickelt. Der Beter hält an dem für ihn einen einzigen Gott JHWH fest und geht so über die traditionelle Gottesvorstellung seiner Umwelt hinaus.
3. Zusammenfassung In der Schilderung von Krankheit und Umweltreaktion wird das Gottesbild des Beters anschaulich. Um Gott zum Eingreifen zu seinen Gunsten zu bewegen, stellt der Leidende aufgrund seines monotheistisch geprägten Glaubens die Theodizeefrage, denn die Anfechtung durch die Mitmenschen hat sich durch das Ausbleiben der erhofften Rettungstat JHWHs verschärft (V. 17.22). Mit der Gottesfrage tritt ein tiefer Riss zwischen den Mitmenschen und ihm zu Tage (V. 18.21), denn ihm stehen diejenigen gegenüber, die in ihrem Gottesbild auf den starren Zusammenhang von Tun-Ergehen beharren (V. 19f.). Dies bedeutet einen theologischen Bruch, denn die individuelle Erfahrung von Leid und Ungerechtigkeit und der Glaube an eine göttliche Weltlenkung haben sich vom Prinzip des Tun-Ergehen-Zusammenhangs gelöst. Der Beter grenzt sich somit von der Gottesvorstellung seiner Mitmenschen ab und dank seiner personalen Vertrauensbeziehung hält er unbeirrbar an JHWH fest (V. 16. 23). So wird „auf JHWH harren“ zum Synonym für „sich zu JHWH halten“, „auf JHWH vertrauen“. (Ps 125,1). 307 Dadurch wird seine Theodizeefrage zum Ausdruck seiner Frömmigkeit,308 und ihre Zulassung bereitet nicht nur ein Neuverständnis des Tun-Ergehen-Zusammenhangs vor, sondern gerade auch ein solches der gesamten Wirklichkeit. Mit dem monotheistisch geprägten Verständnis des Festhaltens an dem einen einzigen Gott JHWH verändert sich nicht nur das Leidensverständnis, sondern auch die Gottesvorstellung. Gottes Wahrheit wird sich nun in der Zukunft erweisen, da die gegenwärtige dunkle Gotteserfahrung nicht die seines wahren Wesens ist.
V. Ergebnis 1. Religionsgeschichtlich und theologisch ist Ps 38 unbestreitbar durch den Horizont des Tun-Ergehen-Zusammenhangs geprägt, weshalb in der Forschung nicht selten gefragt wird, inwieweit seine Klage zum Verstehen des Gedankens beitrüge. So behauptet z.B. J. Goldingay: „Briggs suggested that the allusions to sin are secondary, and Lindström has revived this argument. Even if one or other of 307 308
R. Albertz, Persönliche Frömmigkeit und offizielle Religion, 195. G. Neuhaus, Frömmigkeit der Theologie, 91.
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their constructions of an earlier version of the psalm is correct, we are left with the question of interpreting the psalm as it stands. Its distinctiveness suggests that we should not conform it to other psalms that do not make the link between sin and suffering.”309 Der Psalm wird so zum exemplarischen Beispiel der Auffassung, dass die Krankheit des Beters aus dessen Sünde zu erklären ist, aber seine Aufnahme in den Psalter erweise nicht, dass dieser als Ganzer diese Sicht akzeptiert, 310 obwohl er seine Sünde anerkennt, die sich in Fehlern, Eigenwilligkeit und Dummheit ausdrücke.311 Aber der Ausdruck der Reue bzw. das Sündenbekenntnis ist im Text mit anderen Textelementen verbunden und ist als Krankheitsursache deshalb nicht zentral! Theologisch relevant ist deshalb nicht die theoretische Entfaltung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs und auch nicht eine unvermittelte Übernahme vorgegebener Traditionen, 312 sondern das Neuverständnis der leidenden Existenz, das in der Gottesvorstellung des Beters entfaltet wird. Das wichtigste Element der Klage ist das unbeirrbare Festhalten des Leidenden an Gott. Sein Selbststand, den sein Sündenbekenntnis ermöglicht hat, zeigt, wie sich der leidende Mensch versteht, bzw. ob er eine Möglichkeit besitzt, selbst etwas zur Wende seiner Not beizutragen:313 In seiner Klage hält der Beter, der vor Gott ganz und gar im Unrecht ist und deshalb Sünder genannt zu werden verdient,314 durch seinen Selbststand an seinem einen und einzigen Gott fest. 2. Seine Gottesvorstellung wird in einem dreifachen Beziehungsgefüge entwickelt, worin sich zugleich die theologische Herausforderung spiegelt. C. Craigie verweist auf folgendes: „The first consequence of sickness is to create a sense of guilt and distance from God, while the second consequence is the development of a sense of alienation from fellow human beings.”315 In der Feind-Klage werden die Entscheidungen aus der Perspektive des Festhaltens an Gott getroffen, aber es wird auch die ganz andere Perspektive der Mitmenschen unter diesem Gesichtspunkt kritisiert. Seine Polemik steht konträr zu ihrem traditionellen Leidensverständnis, was auch dazu nötigt, ihre Gottesvorstellung zu kritisieren.316 In der Feind-Klage taucht als Gegenbild das Gottesbild des Beters mehrfach auf. Hinter dem Handeln der Feinde steht ein anderes Verständnis von Leiden, 309 310 311
312 313 314 315 316
J. Goldingay, Psalms, 539. P.C. Craigie, Psalms 1-50, 303. J. Goldingay, Psalms Bd. 1; Psalms 1-41, Grand Rapids 2006, 550. Anders als in den vorherigen „Penitiential Psalms“ Ps 6; 32. J. Goldingay, Psalms, 538. Anders: C. de Vos, Klage als Gotteslob aus der Tiefe, 224. E. Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung, 4. P.C. Craigie, Psalms 1-50, 304. W. Groß, Zorn Gottes- ein biblisches Theologumenon, SBAB 30, 224.
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Sünde und Gott. Durch seine Klage über die Unfassbarkeit ihres Tuns entfaltet der Beter seinen Widerstand. Was die Feindschaft verschärft hat, ist der Konflikt über das Gottesverständnis. 3. Das Verstehen der Not durch das Wirken des Tun-Ergehen-Zusammenhangs bestimmt sowohl die Gottesvorstellung des Beters als auch die seiner Mitmenschen.317 Er weiß, dass ihre feindliche Haltung einen religiösen Grund hat, denn sie verstehen seine Not einzig durch den traditionellen Tun-ErgehenZusammenhang, wonach Krankheit Sündenfolge ist. Somit gibt es für sie für den Sünder prinzipiell keine Möglichkeit, vor Gott Recht zu bekommen. Diese Position hat notwendigerweise Desinteresse am Theodizeeproblem. Demgegenüber kritisiert der Beter ihre begrenzte Gottesvorstellung. Es gibt zwar auch für ihn eine Verbindung zwischen Sünde und Leiden, aber es deutet sich an, dass sich sein Verständnis über diesen Gedankengang hinaus bewegt. 318 Er macht deutlich, dass sein Gottesbild nicht auf die Logik von Sünde und Leidenfestgelegt ist, denn ihre Verbindung dient ihm vielmehr als Mittel, um an seinem einen und einzigen Gott festzuhalten. Darin kommt sein unbeirrbarer Glauben zum Ausdruck, denn es gehört zu seinem Selbststand, dass sich Gottes Vergeltung und Zorn nicht mehr auf einen Leidenden richten können, der vor Gott in dieser Not mit absoluten Verstrauen steht. hw"hy> steht dem Leidenden ohne Ansehen der jeweiligen Sünden gegenüber. Mit der Theodizeefrage ist das unveränderliche Festhalten des Beters an seinem einen und einzigen Gott hw"hy> verbunden. Es geht nicht um die Verantwortung des Beters, sondern um die Unbegrenztheit JHWHs: Gott lässt sich nicht so begrenzt verstehen, wie es bislang im Tun-Ergehen-Zusammenhang geschehen ist. Im Blick auf das Thema der „Theodizee“ zeigt sich beim Beter,319 „to articulate the pain fully, to insist on God´s reception of the speech and the pain, and to wait hopefully for God´s resolution” 320. Der Beter bezeugt so, auf welche Weise sein Gottesbild das Maß des menschlich Fassbaren sprengt. Gewagt formuliert er dies in seiner Klage, die im 317
318
319
320
J. Goldingay, Psalms, 538: „The Psalm was more likely created by someone who knows about sin and suffering and is well-acqaintecd with the Israelite tradition of prayer, and is thus in a position to compose a prayer that people undergoing suffering could use to express their pain, their trust, their repentance, and their plea. This would explain both the variety in the imagery and the general nature of the confession.“ J. Goldingay, Psalms, 551. Die Exegeten sprechen oft vom „ancient belief“, wonach es eine Verbindung zwischen Sünde und Leiden gibt, und deuten so zugleich an, dass sich das Verständnis des Alten Testament über diesen Glauben hinaus bewegt hat. W. Brueggemann, A Shape for Old Testament Theology, II, 402; siehe auch ders., A Shape for Old Testament Theology, I, 28-46. W. Brueggemann, A Shape for Old Testament Theology, II, 398.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
Streit mit der Umwelt sein neuartiges Leidens- und Gottesverständnis entwickelt – was die Theodizeefrage und monotheistische Denkfiguren impliziert. Er hört in seiner anhaltenden Klage und durch sie nicht auf, an dem einen und einzigen Gott festzuhalten. Durch das Sündenbekenntnis findet er seinen Weg zum Leben.
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C) Psalms 88: JHWH – der Gott des Lebens I. Der Text 1. Übersetzung 1 Ein Lied. Ein Psalm. Von dem Korachiten. Dem Musikmeister. Nach Machalath zu singen. Ein Maskil. Von Heman, dem Esrachiter. 2 HERR, Gott meines Heils! Des Tages habe ich geschrien und des Nachts vor dir. 3 Es komme vor dich mein Gebet! Neige dein Ohr meinem Schrei. 4 Denn gesättigt mit Übeln ist meine Seele, und mein Leben hat die Totenwelt berührt. 5 Zugeordnet worden bin ich denen, die in die Grube hinabsteigen, ich werde geachtet, wie ein Mann, in dem keine Kraft mehr ist. 6 Unter den Toten ein Freigelassener, wie Erschlagene, die im Grab liegen, derer du nicht mehr gedenkst, sind sie doch von deiner Hand abgeschnitten. 7 Du hast mich in die tiefste Grube gelegt, in Finsternis, in Tiefen. 8 Auf mich hat sich gelegt dein Grimm und mit allen deinen Brechern hast du (mich) niedergedrückt. Sela 9 Du hast entfernt meine Bekannten von mir, du hast mich gemacht zum Abscheu für sie, Ich bin eingeschlossen und kann nicht herauskommen. 10 Mein Auge verschmachtet vor Elend. Ich habe dich gerufen, HERR, den ganzen Tag. Ich habe zu dir hin meine Hände ausgebreitet. 11 Wirst du an den Toten Wunder tun? Oder werden die Gestorbenen aufstehen, dich preisen? 12 Wird von deiner Gnade erzählt werden im Grab,
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott im Abgrund von deiner Treue? 13 Werden in der Finsternis bekannt werden deine Wunder, und deine Gerechtigkeit im Land des Vergessens? 14 Ich aber, zu dir HERR, rufe ich hiermit um Hilfe, und am Morgen trete mein Bittgebet vor dich hin. 15 Warum, HERR, verstößt du meine Seele, verbirgst du dein Angesicht vor mir? 16 Ich bin elend und todkrank von Jugend an, ich habe getragen deine Schrecken, ich erstarre. 17 Über mich sind deine Zorngluten hingegangen, deine Schrecknisse haben mich zum Verstummen gebracht. 18 Sie haben mich umgeben wie Wasser jeden Tag, sie haben mich umringt allesamt. 19 Du hast von mir Freund und Gefährte entfernt, meine Bekannten sind Finsternis.
2. Aufbau des Psalms Der Psalm gehört zur Gattung der Klage des Einzelnen, da er dessen typische Formelemente aufweist: Klage mit Anrufung Gottes, sowie Not- und Feindschilderung. 1 Er ist im Rahmen der Gattung als Gebet eines Schwerkranken zu verstehen,2 weil Vereinsamung und soziale Desintegration auch sonst typische Merkmale der Krankheitssituation sind.3 1 2
3
Das Element der Feindschilderung wird für Ps 88 exegetisch oft bestritten, weshalb es im Kontext der Exegese erwiesen werden soll. K. Seybold, Das Gebet des Kranken im Alten Testament, 113. K. Seybold, Das Gebet des Kranken im Alten Testament, 115; E. Zenger, Die Psalmen II, 482. Vgl. auch E. Haag, a.a.O., 149f, Die Aussagen berühren sich sowohl sprachlich als auch sachlich mit dem Buch Hiob. Vgl. auch H. D. Preuß, Psalm 88 als Beispiel alttestamentlichen Redens vom Tod, in: A. Strobel (Hg.), Der Tod - ungelöstes Rätsel oder überwundener Feind?, Stuttgart 1974, 63-79; H.-J. Kraus, Psalmen II, 773; B. Janowski, Der Gott des Lebens, 216f, „Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Gottesbild von Ps 88 enthält Hiobs Rede in Hi 16,7-14 (vgl. 19,8-12; 30,12-14): da knirscht Gott gegen Hiob mit den Zähnen (V. 9), wie es in den Feindpsalmen die Feinde gegen den Beter tun, er liefert ihn dem Spott feindseliger Mitmenschen aus (V. 10f.), er hat ihn mitten in seinem ruhigen Leben durchgerüttelt und zerstückelt (V. 12) und rennt gegen ihn an wie ein feindlicher Kriegsheld (V. 14).“
Psalm 88: JHWH – der Gott des Lebens
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Der Psalm gliedert sich in zwei Teile:4 Eine erste Klage mit Notschilderung in V. 2-9 und eine dazugehörige Parallelaussage in V. 10-19.5 Durch die Stichworte vp,n< (V.4a/V.15a) und qxr (V.9aa/19a.ba)6 sind beide Teile fest aufeinander bezogen.7 Der erste Teil besteht aus vier Elementen: Einleitungsbitte (V. 2-3), Notschilderung (V. 4), Klage über Dritte (V. 5-6) 8 und Gott-Klage (V. 7-9). Entsprechend zum ersten ist der zweite Teil als Parallelaussage formuliert: Der Klage über Dritte in V. 5-6 korrespondiert die Schilderung der Toten in V. 11-14 und der Gott-Klage von V.7-9 korrespondiert die Gott-Klage in V. 15-19, die das Motiv der „Finsternis“ wieder aufgreift. Überdies entspricht die Notschilderung von V. 10 im zweiten Psalmteil der ersten Notschilderung, da ihre Einleitungsbitte (V. 10b und 10c) die des ersten Teils (V. 2f) aufnimmt. Der Psalm ist gänzlich von einer fundamentalen Todesbedrohung beherrscht. In ihm wird ein neues Gottesbild ersichtlich, da das traditionelle Verhältnis von Gott, Not und Tod überwunden wird. Dies Gottesbild wird gegen das der Dritten gestellt, denn weil unterschiedliche Leidens- auch unterschiedliche Gottesvorstellungen evozieren, versucht der Beter, sie zu überzeugen, um so ihr Verständnis zu gewinnen und zugleich seine Isolation zu überwinden. Die Konstellationen in diesem Paar sowie die grundsätzlichen Relationen der Antagonisten seien durch folgendes Schema illustriert:
4 5
6 7 8
O. Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott: Studien zur spätbiblischen Weisheit und Hermeneutik, BZAW 392, Berlin 2008, 225. Diese abweichende These wird im Verlauf der Exegese erwiesen werden, wobei die Neubewertung von V. 10-14 eine Schlüsselrolle einnimmt. Nach allgemeiner Auffassung ist der Psalm hingegen dreiteilig, denn er soll durch den dreimaligen Klageschrei an JHWH gegliedert sein. Vgl. W. Gross, Gott als Feind des einzelnen? Psalm 88, 164, in: ders., Studien zur Priesterschrift und zu alttestamentlichen Gottesbildern. Er vertritt eine Dreiteilung, da der Psalmist dreimal seinen Klageschrei vor JHWH erhebt, um ihn anzurufen: 88,2f; 10bc; 14. Diese Verse leiten für ihn drei Psalmabschnitte ein, woraus sich notwendig diese Gliederung ergibt: 88, 4-10a; 11-13; 15-19. Der kurze mittlere Abschnitt bildet für ihn die Achse des Psalms. S. a. B. Janowski, a.a.O., 205. In der Gliederung des Psalms beginnen die Abschnitte jeweils mit einer einleitenden Klage, einer Invocatio in V. 2f., V. 10ab und V. 14: die erste Notschilderung bildet V. 4-10aa, der Appell an JWHW findet sich in V. 11-13 und die zweite Notschilderung bilden V. 15-19. Vgl. B. Janowski, a.a.O., 206. Vgl. W. Groß, Gott als Feind des einzelnen?, 164. Vgl. C. de Vos, Klage als Gotteslob aus der Tiefe, 24.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
Der Psalm lässt sich aber auch in fünf thematische Passagen gliedern: 1. Einleitungsbitte in der Ich-Klage (V. 2-3) mit der Leidensschilderung (V. 4) 2. Das Urteil der Dritten in der Feind-Klage (V. 5-6) 3. Die Gott-Klage über die Versetzung in die Totenwelt (V. 7-9) 4. Fragen angesichts der Machtexpansion Gottes in den Totenbereich (V. 10-14) 5. Die Warum-Frage und das Vertrauen auf Gott (V. 15-19)
Schon im ersten Abschnitt wird durch die verzweifelte Anrufung Gottes das Gottesbild des Psalmisten ersichtlich. Es ist durch die Hoffnung, dass Rettung nur von Gott kommen kann, charakterisiert, obwohl seine Lage eigentlich hoffnungslos zu sein scheint. Dies Vertrauen trägt ihn noch, obwohl die Notschilderung zeigt, dass seine Qual kaum noch zu ertragen ist, weshalb er die Nähe des Todes beklagt. Der zweite Abschnitt wird eingeleitet durch das vom Beter wiedergegebene Urteil der Dritten, worin auch ihr Gottesbild sichtbar wird. Für sie ist er schon so gut wie tot, und die Toten gelten ihnen als von Gott verlassen. Dies Urteil benennt das Thema des Konflikts, es geht um ein anderes Verständnis von Gottes Verhältnis zu den Toten. Im dritten Abschnitt (V. 7-9) schildert er die Gefährdung seines Lebens in der Sphäre des Todes. Dabei unterscheidet sich sein Leidensverständnis von dem der Dritten, denn seine Not hat ihn – trotz aller scheinbar ersichtlichen Evi-
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denz - nicht von Gott isoliert, denn sie wird von ihm auf Gottes Handeln zurückgeführt. Seiner von Gott bewirkten Gottverlassenheit korrespondiert zudem seine soziale Isolation. Und insofern besteht im Text ein dreifaches Beziehungsgefüge zwischen Gott, dem Beter und den Dritten. Im vierten Abschnitt (V. 10-14) kommt es zur „Neubestimmung“ des Gottesbildes, da Gottes Macht nun auch bis in die Totenwelt reicht. Dies geschieht allerdings indirekt durch seine Fragen, die die Motive des zweiten und dritten Abschnitts aufgreifen, womit er zugleich die gegnerische Gottesvorstellung kritisiert. Im fünften und letzten Abschnitt (V.15-19) vertieft er seine Notschilderung, wobei er abermals sein Elend auf Gott zurückführt. Er will das Gottesbild der Feinde kritisieren und sie umstimmen, indem er nun nach der Gerechtigkeit und Treue Gottes fragt, wodurch er ihnen nochmals sein Gottesbild entgegenstellt.
II. Die Einleitungsbitte im ersten Teil: V. 2f 1. Strukturanalyse Die Bitte wird durch die gattungstypische Anrufung Gottes – hier aber mit hw"hy> statt bloßem ~yhiìl{a - eingeleitet. Die Charakterisierung als Gott meines Heils (V. 2) ist eine programmatische Invocatio, 9 die im scharfen Kontrast zur geschilderten Not steht. Sie wirkt darum auf den Leser zuerst gewissermaßen sarkastisch, da er seine Qualen anschließend auf Gott zurückführt; dieser Gott des Unheils muss sich erst noch als Gott des Heils erweisen:
`^Dn< hl'y>L:åb; yTiq.[;Þc'-~Ay (V.2b) yti_['Wvy> yheäl{a/ hw"hy>â (V.2a) `yti(N"rIl. ^ªnz> a> ÷'-hJe(h; (V.3b) ytiL_ p' Ti . ^yn, die Possessivpronomen „mein“ und „dein“ benennen eine Beziehung. Intendiert ist ein Dialog mit Gott, denn dessen Antwort wird erfleht. Zur Anrede yti_['Wvy> yheäl{a/ hw"hy>â HERR, Gott meines Heils meint M. E. Tate : „[…] it seems to me that V. 2 should be read as complaint rather than as a statement of confidence.”15 M. Krieg meint hingegen, dass das Wort „Hilfe“ ein Vertrauens- oder Lobelement enthält, so dass schon die Anrede das Vertrauen des Beters ausdrückt. 16 Dagegen behauptet C. de Vos, dass ein Stichwort allein noch keine Vertrauensaussage ausmacht, 17 was aber m. E. jedoch nicht richtig ist, denn in dieser Anredeform bedeutet die Kombination der Gottesbezeichnung ein Vertrauensbekenntnis. Der Beter baut mit dieser Invocatio eine Erwartung auf, die die Argumentationsbasis des Psalms bildet. Die Anrede drückt zugleich eine Spannung aus, denn zwischen der Charakterisierung Gottes und der aktuellen Erfahrung klafft ein enormer Widerspruch. Somit steht die Anrede in Kontrast zum Kontext. Die Anrufung als permanentes Schreien18 lässt keinen Zweifel daran, dass im Moment des Be11 12 13 14 15 16 17 18
Vgl. z. B. Ps 38. B. Janowski, Der Gott des Lebens, 205. C. de Vos, a.a.O., 97. C. de Vos, a.a.O., 27. M. E. Tate, Psalms, 1990, 396. M. Krieg, Todesbilder, Zürich 1988, 282. C. de Vos, a.a.O., 25. K. Seybold, Die Psalmen, 344.
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tens Gott gerade nicht als Retter erfahren wird, denn vielmehr gilt das Gegenteil. Gott soll so aber dazu gedrängt werden, sich als der zu erweisen, als der er angerufen wird.19 Man muss also von der Frage ausgehen, welchen Herausforderungen die Gottesvorstellung in seiner Leidenssituation unterliegt. Dass sein Gott hw"hy> der Gott des Heils ist, ist Voraussetzung und Ziel des Gebets.20 Damit betont er ihre gegenseitige Zugehörigkeit, denn er und sein Gott hw"hy> gehören trotz des Augenscheins zusammen. Er wünscht die Nähe hw"hy>s, denn er ist sein persönlicher Gott. Ein weiterer Anhaltspunkt zur Bestimmung seines Gottesbildes ist das Suffix in der Einleitungsbitte, in ihr stellt das Suffix das Objekt des nomen rectum dar. Der Leitbegriff Gott „meines Heils“ (yti_['Wvy>)21 beschwört die große Gottestradition Israels.22 Der Begriff „yti_['Wvy>“ bezeichnet ursprünglich die Retterhilfe eines Bundesgenossen im Kampf gegen weit überlegene Feinde (z.B. 2Sam 10) und ist ein Proprium JHWHs (z.B. Ex 3-10; Dtn 26,6-8), das hier individualisiert erscheint.23 Allerdings muss kein traditionsgeschichtlicher Zusammenhang zwischen Retterhilfespruch und der Bitte im Klagepsalm angenommen werden, da beide Gattungen wohl vielmehr aus einer gemeinsamen Sprachtradition schöpfen. W. Groß spricht in diesem Zusammenhang von zwei einander widerstreitenden Gottesbildern: von dem Gott, an den der Beter aufgrund seiner religiösen Tradition glaubt und den er „Gott meiner Rettung“ nennt, und von dem Gott, den er als Verursacher seiner Leiden erfahren hat. 24 Aber beide Bilder beziehen sich auf denselben Gott, er wendet sich an den fernen Gott und bittet ihn, sich ihm wiederum zuzuwenden. Er versteht JHWH als den Gott, der eine Beziehung zu ihm besitzt, weshalb er auf seine Hilfe hoffen kann.25 JHWH ist sowohl sein persönlicher als auch der Gott Israels, wodurch er eventuell auch seine erfahrene Gottesferne mit Gottes Abgewandheit in den Krisen von Israels Geschichte verknüpft. Der Beter wagt es, im Gebet hw"hy> Dinge zu sagen, was, wenn es in anderer Sprachform geschähe, wohl schwer erträglich wäre. Durch das Verb q[c mit der Zeitangabe (~Ay und hl'yl > ) schreit er sein Leid heraus, es ist für ihn eine fast unlösbare existentielle Verstrickung, was die Erfahrung unerträglichen, unerklärlichen und lebensvernichtenden Leidens erkennbar werden lässt. Mit der in 19 20 21 22 23 24 25
C. de Vos, a.a.O., 205. H. D. Preuß, Erfahrung im betenden Umgang mit Psalmen, Stuttgart 1983, 52. Vgl. W. Groß, Ein Schwerkranker betet, 111f. Vgl. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Psalmen 51-100, HThKAT, 567. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Psalmen, HThKAT, 571. W. Groß, Ein Schwerkranker betet, 111f. C. de Vos, a.a.O., 209.
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V. 3 folgenden jussivischen Bitte aAbåT' und dem Imperativ hJeh ( ; erreicht sein Hilfeschrei den Höhepunkt. Der Beter beschreibt durch die beiden Imperative sein Gottesbild, er fordert ihn auf, seine Nähe zu erweisen. Da er hier aber nicht nur um sein Leben, sondern im selben Atemzug auch um das Gottsein seines Gottes ringt, sind seiner Rede kaum Grenzen gesetzt.26
III. Erste Leidensdarstellung: V. 4 1. Strukturanalyse Das in V. 4 geschilderte Leiden ist der Grund, Gottes Eingreifen zu erflehen. Der Beter schildert seine Not nicht nur als physische Krankheit sondern auch als seelisches Leiden,27 und er markiert mit yvi_p.n: und yY:©x;w einen neuen Ansatz>:
h['bä f. -(' yKi( (V. 4a) tA[år"b. yvi_p.n: yY:©x;w> lAaïv.li `W[yGIh) i (V. 4b) V. 4 hat eine chiastische Struktur, wobei yvi_p.n: und yY:©x;w> die beiden Zentralbegriffe sind. Ihre Verdoppelung bewirkt Aufmerksamkeit. yvi_p.n: bezieht sich auf den „vom Übel Gesättigten“ (V. 4a), yY:©x;w> auf die Sphäre des Todes (V. 4b). Die Verdoppelung bewirkt aber nicht Eintönigkeit, 28 denn die Stilfigur hebt die Not hervor, und der sich anschließende Abschnitt lässt sich inhaltlich zweiteilen: einerseits V. 4a und 5-6 als Beschreibung des seelischen Leidens; und andererseits V. 4b und 7-9 als die des physischen Leidens. Dementsprechend erklärt der Be26 27
28
W. Groß, Gott als Feind, 159. Anders H.-J. Kraus, Psalmen II, 773. Obwohl das Gebet in die Gruppe der Krankheitsund Heilungspsalmen einzuordnen ist, fehlt eine exakte Krankheitsdarstellung, weil vielmehr die Darstellung eines seelischen Leidens beabsichtigt ist (V. 4). N. Ridderbos, Die Psalmen - Stilistische Verfahren und Aufbau: Mit besonderer Berücksichtigung von Ps 1-41, 1972, 80: „Die Verdoppelung hat im Aufbau der Psalmen eine außerordentlich wichtige Funktion: die weitaus meisten Verszeilen sind Doppelstichen (Vgl., Ps 3,2f; 5,8.10.11; 6,5; 27,1.3; 35,4.5f; 40,7).“
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ter die „Fülle des Übels“ durch V. 5f. und verortet sein Leben im Bereich des Todes durch V. 7-9. Anhand der Exegese ist zu zeigen, wie die Themen entfaltet werden.
2. Inhaltliche Analyse V. 4 kommt im Abschnitt von V. 2-9 die Schlüsselposition zu. Die Leidenssituation wird als überwältigendes Übel (V. 4a) und durch ihre Nähe zur Totenwelt (V. 4b) beschrieben. 29 Sättigung mit Übel bezeichnet einen unerträglichen Zustand, den der Beter nicht viel länger zu ertragen vermag. Gesättigt - [b;f' - ist er eben nicht durch ein erfülltes Leben (vgl. Gen 25,8; 35,29; 1Chr 23,1; 29,28; 2Chr 24,15; Hi 42,17, Ps 96, 16) 30 oder durch eine besondere Gottesgemeinschaft (Ps 16,11, Ps 17,15; 63,6; 65,5), 31 sondern durch die Übel h['r'. 32 Die formale Analyse von V. 4a wird durch die semantische bestätigt: Zuerst konzentriert sich der Beter auf seine seelische Not. Damit ist der Kern dessen berührt, was seine Ich-Klage ausdrückt. Mit dem Bild der Sättigung illustriert er eindrücklich, dass ein unmittelbares Eingreifen Gottes notwendig ist, 33 denn sein Leid und dessen Beurteilung durch die Dritten sind ihm schier unerträglich geworden. Anschließend beschreibt er sein Leben als nahe der Totenwelt (V. 4b). Durch den Begriff yY:©x;w> schildert er nun sein körperliches Leid.34 Er fühlt sich in die tiefste Grube (V. 7) versetzt. Es wird deutlich, dass sich die Topik der Totenwelt im Rahmen des Raumverständnisses der damaligen Zeit bewegt, das Todesgeschick des Beters ist also „nicht bildlich übertreibend oder als theoretische Fiktion, sondern ganz realistisch“ 35 zu verstehen.
29 30 31 32 33 34 35
H.-J. Kraus, Psalmen II, 773. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Psalmen 51-100, HThKAT, 571. G. Warmuth, Art. [b;f', ThWAT 7 (1993) 693-704, hier 696ff. B. Janowski, Der Gott des Lebens, 209. Anders B. Janowski, Der Gott des Lebens, 209. H.-J. Kraus, Psalmen II, 773. B. Janowski, Der Gott des Lebens, 210; H.W. Wolf, Anthropologie des Alten Testaments, München 31977, 160; C. Barth, Die Errettung vom Tod, 93. Er behauptet, dass „der Bedrängte [...] weder ein Toter noch ein im vollen Sinne Lebendiger ist; irgendwo in der Mitte hält er sich auf. Das Entscheidende für ihn ist aber nicht, dass er noch lebt, sondern dass er nahe beim Totenreich ist.“ Vgl. M. Emmendörffer, Der ferne Gott. Eine Untersuchung der alttestamentlichen Volksklagelieder vor dem Hintergrund der mesopotamischen Literatur, FAT 21, Tübingen 1998, 237.
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Die Zentralbegriffe verweisen nicht nur auf unterschiedliche Erlebnissphären, denn sie hängen auch mit verschiedenen Motiven zusammen, die die Krise seiner Existenz aufzeigen. Dadurch, wie er sein Leben bewertet, wird die Intensität seiner Frage nach Gott deutlich. Ihm ist bewusst, dass sich seine Existenz in einem Zustand befindet, wo Leben für ihn unmöglich geworden ist. Dies hat zentrale Bedeutung für die Gottesfrage. Der Beter unterstreicht so den Zusammenstoß mit seinem Gott JHWH. Insofern verdeutlicht er, dass die Theodizeefrage dort unabweisbar wird, wo das Leiden als nicht mehr tragbar empfunden wird, da es unerklärlich geworden ist, denn die klassischen Schuldmuster haben für ihn versagt bzw. treffen auf ihn nicht zu.
IV. Schreckensstarre angesichts der feindlichen Gottesvorstellung: V. 5-6 1. Strukturanalyse Der Beter eröffnet mit V. 5f einen neuen Abschnitt, der sich an V. 4a anschließt. Er besteht aus drei Strophen, er beginnt mit dem Verb yTib.v;x.n÷ dA[+ ~T'rä k> z; > al{å rv z; > und Wrz")g>n:I
dA[+ ~T'rä k> z; > al{å rvAyæ-~[i) und in V. 6a (~ytiªMeB); das Objekt der Handlungen JHWHs (~T'r ä k> z; )> in V. 6c.d sind. Der Beter beschreibt in V. 6d die Gottesvorstellung der Dritten in Relation auf die Totenwelt mit der Wendung Wrz"g) n> I ^ïdY> m " i. Zugleich wird die Situation des „Ichs“ in dieser Aussage veranschaulicht, denn es zeigt sich eine deutliche Spannung zwischen den Menschen in der Totenwelt und dem Ich. Es geht um das Urteil der Dritten, ob das Vergessen-sein und das Abgeschnitten-sein von Gott für „das Ich“ gilt, sowie auch darum, wie sich dieser Zustand auf dessen Totenweltvorstellung bezieht. Der Beter fühlt sich durch ihr Urteil (V. 6c.d), in dem sich auch ihre Gottesvorstellung ausdrückt, vernichtet. Der Abschnitt ist somit so zu gliedern:
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V. 5a: das Ich in der Totenwelt im Urteil der Dritten V. 5b: das Ich wie tot bzw. ein ohnmächtiger Mann V. 6a: das Ich bei den Toten (Vgl. die Menschen in der Totenwelt) V. 6b: das Ich wie in der Totenwelt V. 6c: die Menschen in der Totenwelt der Vergessenheit von Gott V. 6d: die Menschen in der Abgeschnittenheit von Gott.
2. Inhaltliche Analyse In V. 5f stellt der Beter die Wirkung des Urteils der Dritten dar: Schreckensstarre angesichts ihrer Gottes- und Totenweltvorstellung. a) Zur Funktion des Feindbegriffes: Die „Dritten“ im yTib.v;x.n i (V. 9a) `acea( e al{wå > aluªK÷' Aml'_ tAbå[eAt ynIT:åv; (V. 9b) Die Wiederholung von ynIT:åv bewirkt einen Refrain, und so entsteht ein Abschnitt, der aus drei Stichen bzw. Verszeilen besteht. Die beiden refrainartigen Sätze formen eine Art Klammer um die Klage (V. 7b-9a). Und der formale Aufbau verweist auch auf inhaltliche Parallelen. Der Beter expliziert sein theologisches Thema: Er geht vom Wort ynIT;v; aus, um in Konfrontation zum Leidensverständnis der Dritten sein Gottesbild zu explizieren, indem er nun seine Totenweltvorstellung konkretisiert. Er macht dabei unmissverständlich klar, dass 92
93
R. Liwak, Art. ~yaipr ' >, ThWAT VII (1993), 625-636; B.B. Schmitt, Israel’s Beneficent Dead: Ancestor Cult and Necromany in Ancient Israelite Religon and Tradition (FAT 11), Tübingen 1994. B. Janowski, Der Gott des Lebens, 215.
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die erfahrene Not als Nähe der Totenwelt von Gott ausgegangen ist, da dieser unmittelbar auf die Totenwelt einwirkt. Die Beschreibung der Handlung Gottes in der Totenwelt (V. 7.9b) wird durch die mittleren Verse (V. 8-9a) deutlich unterbrochen. Das bedrohliche Wasser wird zum Bild einer negativen Gotteserfahrung, die durch das Stichwort rAB in V. 7a und seine folgende Erläuterung ausgedrückt wird. Indem er seine Notsituation mit rAB beschreibt, das auch schon in der Urteilsschilderung der Dritten benutzt worden ist, stellt er einen Zusammenhang mit V. 5f her. In diesem Abschnitt werden für das Leiden häufig besondere Ausdrücke mit Pronominalsuffixen benutzt, die sich auf die erste Person (Beter) und die zweite Person (Gott) beziehen: yl;['â (V. 8a)94 korrespondiert mit ^ bei ^t zum Eingreifen herauszufordern, da er trotz seiner Not grundsätzlich an ihm als seinem Gott festhält. Die Gott-Klage in V. 2f, die das Vertrauensbekenntnis selbstverständlich voraussetzt, ist also Ausgangspunkt für die Polemik gegen das gegnerische Gottesbild. Dabei lässt er allerdings keinen Zweifel am Ursprung seiner Not, denn er weiß, dass Gott ihn in die Totenwelt versetzt hat (V. 4b. 7-9). Er nimmt so das Urteil der Dritten auf, und er will so zugleich eine andere Betrachtung seines Lebens durchsetzen. Hierin zeigt sich der Versuch, seine Schreckensstarre zu überwinden. Dabei nimmt die jeweils unterschiedliche Totenweltvorstellung der Antagonisten den meisten Raum in V. 2-9 ein. Mit ihrem Vergleich formuliert der Beter sein Thema. Indem er sein Leiden auf Gott zurückführt, unterstreicht er die Kontinuität seiner Gottesbeziehung. Dies steht jedoch im Kontrast zum Verständnis der Dritten, welche sein Elend als unüberwindbare Distanz zu Gott verstehen. Die Totenweltdarstellung von V. 7-9, worin er sich unmittelbar an Gott wendet, bildet den Kern seiner Kritik. Der Beter kritisiert ihr Urteil, da sie gemäß der traditionellen Leidensdeutung seine Krankheit als Ergebnis eines zerbrochenen Gottesverhältnisses betrachten, was polytheistische Implikationen hätte. Das monotheistische Denken des Beters verbindet hingegen seine Leidenssituation mit Gott, der ihm aber nun auch endlich zum Retter werden soll. Wenn nach Auffassung der Dritten die Not des Beters die vollkommene Trennung von Gott bedeutet (V. 6b), könnte ihn nur ein anderer Gott erretten; in dieser Vorstellung kommt ein polytheistisches Moment zum Tragen. Dagegen steht das monotheistische Denken des Beters, der ihr polytheistisches Denken kritisiert, indem er JHWH zum Herrn der ganzen Wirklichkeit macht. Für den Beter ist sein Schicksal gänzlich von Gott abhängig, denn dieser ist alleinige Ursache seines Leidens. Durch diese These, fragt er zugleich nach Gottes Gerechtigkeit, und er stellt so seine Theodizeefrage.
VII. Gegenbild II: V. 10-14 1. Der Kontext von V. 10-14 1. Wie wir sahen, ist der Text nach bisheriger Auffassung dreiteilig gegliedert. Diese Hypothese bedeutet, dass die beiden äußeren Abschnitte V. 4-10aa und V. 15-19 das Mittelstück von V. 11-13, was als die Sinnachse des Psalms gilt, rah-
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men.108 Aber diese Auffassung ist abzuweisen, denn der Psalm ist in lediglich zweigliedrig, 109 denn der Abschnitt von V. 5f. bezieht sich auf den Abschnitt V. 10-14 des zweiten Teils. Dementsprechend bezieht sich der Abschnitt von V. 79 auf den Abschnitt von V. 16-19. Anhand einer formalen und inhaltlichen Analyse, ist zunächst zu zeigen, wie der Zusammenhang zwischen V. 5f und dem Abschnitt von V. 11-13 samt V. 10 und V. 14 entfaltet wird. Es besteht ein enger lexikalischer Zusammenhang zwischen der Klage über die Dritten (V. 5f.) und der Fragenreihe in V. 11-13, die mit dem Fragepartikel (h-interrogativum) eingeleitet wird, was eine inhaltliche Verknüpfung bewirkt:
V. 5
rAb= ydEr>Ayæ-~[
rb,QBå< ;
V. 12
V. 6
~ytiªMeB
~ytiMî le h; ]
V. 11
Rb,q,ª
rb,QBå
^ytiaä r"q. (V. 10b) `yP'(k; ^yl,äae yTix.J;Þvi (V. 10c) Es ist deutlich, dass er mit !yI[; ((1. Pers. Sing.) in V. 10 an das Wortspiel !z ; (V. 2) und „den ganzen Tag“ ~Ay=-lk'B. (V. 10b). Mit dem Gottesnamen hw"hy>â und der Gottesbezeichnung yheäl{a/ in V. 2 und hw"åhy> in V. 10 expliziert er sein theologisches Interesse, indem er seine Klage an hw"hy> als seinen persönlichen Gott (yhel ä a{ )/ richtet. Vor allem die coram Deo-Relation „vor dir“ ^D < (V. 2) „zu dir“ ^yl,äae (V. 10c) verdeutlicht sein Interesse. Vom Klagenden geht eine Bewegung zu Gott aus, denn er breitet seine Hände in Gebetshaltung zu ihm aus.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
b) Inhaltliche Analyse In V. 10 formuliert der Beter die Einleitungsbitte mit einer thematischen Progression, da zwischen V. 2 und 10 eine fortlaufende Verkettung besteht, denn jede thematische Einheit (V. 10) besteht aus einem bereits genannten (V. 2) und einem neu hinzukommenden Element. In dieser Form steigert sich die Darstellung des Gottesbildes in V. 10, sowohl durch die Krankheitsschilderung (V. 10a) als auch durch das Festalten an hw"hy> als einzigen Gott. Dies verleiht ihm die Kraft, der Gottesvorstellung seiner Umwelt widerstehen zu können. Der Beter formuliert vor allem durch den Zusammenhang des Zentralbegriffes !yI[; mit „!zYm" i in V. 6b die Beziehung zu Gott in der Totenwelt unterbrochen ist.
3. Die Aussagen über die uneingeschränkte Macht Gottes in der Fragereihe: V. 11-13 Der Beter eröffnet seine Argumentation in V. 11 mit der Frage nach dem Gottesbild, und verdeutlicht mit vier aufzählenden Substantiven in V. 12f in den Fragen Gottes Eigenschaften in Bezug auf die Totenwelt. Indem er seine Fragereihe der Totenweltvorstellung der Dritten gegenüberstellt, entwickelt er sein Gottesbild, das in scharfer Antithese zu ihrem steht. a) Rhetorische oder echte Fragen? Der Fragenreihe ist in vielerlei Hinsicht eine Sonderstellung in der Forschung zugeschrieben worden, wo sie seit H. Gunkel 116 über Jahrzehnte hinweg als „rhetorische Fragen“ betrachtet worden ist. 117 Viele Ausleger sehen sich ganz selbstverständlich zur Annahme genötigt, dass die Antwort auf sie nur „Nein“ lauten könne. Dies Verständnis gründet vor allem in der Auffassung einer dreigliedrigen Textstruktur, wobei die Fragen die „Achse des Psalms“ 118 bilden. 119 Z.B. behauptet W. Groß, dass der Beter hier nicht ausdrücklich von sich, sondern lediglich allgemein von den Toten spreche. Er sieht in der JHWH-Ferne der Scheol und ihrer Bewohner ein argumentum ad deum, weshalb es sich für ihn also um rhetorische Fragen handelt. 120 Dies Verständnis findet sich ebenfalls bei B. Janowski, der die Verse als theologisches Mittelstück deutet. Er behauptet, dass die Beziehungslosigkeit zwischen JHWH und dem Beter hier ins Grundsätzliche
116 117
118 119
120
H. Gunkel, Die Psalmen, 383. Vor allem spricht W Groß von rhetorischen Fragen angesichts der „Achse des Psalms“; s. ders., Gott als Feind des einzelnen? Psalm 88, 164, Von „rhetorischer Fragen“ sprechen auch F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Die Psalmen. Psalmen 51-100, 573; B. Janowski, Der Gott des Lebens, 219; C. de Vos, a.a.O., 30; J. Schiller, Für die Toten wirst Du ein Wunder tun, in: Protokolle zur Bibel, 14 (2005), 61-66, hier 63. Vgl. a. H. W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 161. W. Groß, Gott als Feind des einzelnen? Psalm 88, 164. J. Schiller, Für die Toten wirst Du ein Wunder tun, in: Protokolle zur Bibel, 14 (2005), 63. W. Groß, Gott als Feind des einzelnen? Psalm 88, 164.
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gewendet wird, was stilistisch durch drei Fragen formuliert wird, die mit „Nein“ zu beantworten sind.121 Die Voraussetzung dieser Position ist die Annahme, dass der Gott dieses Psalms und verwandter Psalmen die Toten nicht mit „Wundern“ erreichen kann, da sie von ihm dauerhaft und gänzlich getrennt sind. 122 In diesem Kontext lohnt sich ein Blick auf die Entwicklung der Auffassung der Todesgrenze in Israel. B. Janowski meint, dass gerade Psalm 88 einen neuen Schritt im Todesverständnis einleitet. 123Aber er formuliert zugleich eine grundsätzliche Einschränkung, da in den Klageliedern des Einzelnen lediglich die Hoffnung auf Errettung aus Todesgefahr oder auf Bewahrung vor vorzeitigen und unheilvollen Tod artikuliert wird.124 Er meint, dass der Psalm zwar die Erfahrung einer von Gott gewirkten Errettung aus dem Tod bezeugt, aber nicht im Allgemeinen das Heil im Tod. Er betont, dass in den Klage- und Dankliedern des Einzelnen die Leidenserfahrung mit der Berührung des Todes identisch ist. Hierzu stellt C. Barth allerdings kritisch fest, dass es entsprechend dieser Erfahrung der Wirklichkeit des Todes die Gegenerfahrung gibt, durch Eingreifen Gottes „nicht nur aus Lebensgefahr, sondern aus dem Tode, aus dem Innern des Totenreichs und aus der Gewalt des Todes“ errettet worden zu sein.125 In diesem Kontext ist die Tatsache zu berücksichtigen, dass der Mensch die Errettung aus Krankheit als radikales Heilshandeln Gottes am Individuum versteht, da Gott ein Gott des Lebens, der Schöpfer allen Lebens, der Begründer und Erretter Israels ist, und nicht als der Gott der Toten verstanden und erlebt worden ist.126 Durch die Errettung durch Gott wird der Mensch aus der Resignation gerissen, das SichErgeben in den Tod wird so verhindert. Dieser monotheistische Glaube hat im Todesverständnis Israels einen Erkenntnisschub bewirkt. Indem der Beter die Erfahrung einer von Gott gewirkten Errettung aus dem Tod bezeugt, zeigt er, dass der JHWH-Glaube, der ein Heil jenseits der Todesgrenze bislang nicht gekannt hat, sich weiter entwickelt hat. Und unter maßgeblichem Einfluss weisheitlichen Denkens wird längerfristig von einer neuen Daseinsform gesprochen: „ewiges Leben“, „Unsterblichkeit der Gottesbeziehung“.127 Dieser Einfluss zeigt sich nach D. Michel in zweifacher Hinsicht:128
121 122 123 124 125 126 127 128
B. Janowski, Der Gott des Lebens, 219. F. Crüsemann, Rhetorische Fragen!?, 347. B. Janowski, Der Gott des Lebens, 233. Vgl. Ps 6,6; 30,10; 115,17; Jes 38,18f; Sir 17,27f. C. Barth, Errettung von Tode, 93. Vgl. H. Gese, Tod, 41f. B. Janowski, a.a.O., 232. D. Michel, Ich aber bin immer bei dir. Von der Unsterblichkeit der Gottesbeziehung (1987), in: Ders., Studien zur Überlieferungsgeschichte alttestamentlicher Texte TB 93, Gütersloh 1997, 155-179, hier 159.
Psalm 88: JHWH – der Gott des Lebens
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„Mit zunehmender Veränderung der sozialen und politischen Verhältnisse während des 4. des 5 Jh.s vor Chr. kam es immer häufiger vor, dass Menschen, die sich erkennbar nicht an JHWHs Gebote und an allgemeine ethische Forderungen hielten, dennoch ein gutes Leben führten“.129 Dadurch wurde die Frage nach der Geltung und Reichweite der Gerechtigkeit Gottes unabweisbar. „Diese Frage musste zu einer Aporie führen, wenn man die Antwort lediglich im Diesseits, also im Leben vor dem Tod´, suchte. Denn bei einer solchen Beschränkung auf das Diesseits musste der Glaube an JHWHs Gerechtigkeit und damit an der letzten Sinngebung der ‚Welt‘ verzweifeln.“130 Da JHWH als der Grund aller Wirklichkeit geglaubt und erfahren wurde, musste der JHWH-Glaube jetzt auch die Grenze zum Jenseits, zum Bereich des Todes, überschreiten, indem er auch diesen Bereich für seinen Gott usurpiert. Dass die Vorstellung einer Beziehung zwischen JHWH und den Toten oder gar einer Überwindung des Todes im Sinn der Auferstehungshoffnung erst in hellenistischer Zeit aufkam, vertritt hingegen B. Janowski. D.h. ab der zweiten Hälfte des 4.Jh.s v. Chr. werden Stimmen laut, die die Überschreitung der Todesgrenze explizit thematisieren. Gott wird den Tod besiegen (Jes 25,8a) und die/ alle Toten werden auferstehen. Am Ende des großen Gebets um das Endgericht in Jes 26,7-21 erscheint das apokalyptische Motiv von der Geburt des Gottesvolkes bei der Ankunft des Königsgottes JHWH auf dem Zion. Hier ist auch die Entwicklung zum Monotheismus zu lokalisieren, die Krise der Auffassung vom Tun-Ergehen-Zusammenhang und die wachsende Bedeutung der Klage- und Danklieder des Einzelnen mit ihrer neuen Sprache vom Tod. Vor dem Hintergrund des Bekenntnisses zur Einheit und Einzigkeit Gottes ist es alles andere als verwunderlich, dass in den späten Texten wie Jes 25,8; 26,19; Ps 22,28-32 und Dan 12,2f erstmals im Alten Testament von einer Auferweckung der Toten und damit von einer „endgültigen Überschreitung dieser Grenze“131 die Rede ist. Denn wäre die Totenwelt ein Bereich, der außerhalb der Macht JHWHs läge, wäre er nicht der einzige Gott, neben dem es keine andere Macht gibt, sondern lediglich der Herr des Lebens, dessen Macht an der Grenze zum Tod endet. In diesem Zusammenhang verweist F. Crüsemann darauf, dass der Psalm 88 keine einlinige zeitliche Folge belegt, keine Rekonstruktion der Entwicklung vom „theologischen Vakuum“ zum apokalyptischen Auferstehungsglauben ermöglicht, sondern dazu beiträgt, zu verstehen, dass „die Entstehung einer radikalen Alleinverehrung des israelitischen Gottes in der Tat der entscheidende Einschnitt ist.“132
Das bisher gängige Verständnis als rhetorische Fragen hat F. Crüsemann massiv in Frage gestellt, 133 denn er geht davon aus, dass hinter der Ansicht vieler Aus129 130 131 132 133
Ebenda. Ebenda. D. Michel, Unsterblichkeit, 159. F. Crüsemann, Rhetorische Fragen!?, 359. Vgl. J. Schiller, Für die Toten wirst Du ein Wunder tun, 61: „Zum einem führe es dazu, die Frage einfach als (negative) Aussagen der Beziehungslosigkeit zwischen JHWH und
198
Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
leger Annahmen stehen, die kategorial grundlegend Verschiedenes verbinden. Die bisherige Forschungsauffassung „verbindet sich mit einer Reihe von anderen Vorstellungen zu einem recht geschlossenen Bild des alttestamentlichen Redens von Gott und seinem Verhältnis zum Tod.“134 „Im Zentrum steht dabei so etwas wie ein „theologisches Vakuum“.135 F. Crüsemann weist darauf hin, dass aufgrund der poetischen Gestalt 136 im Zentrum von Psalm 88 in V. 11-13 eben gerade nicht Behauptungen, sondern Fragen stehen.137 Aber es sind keine rhetorischen, sondern „echte Fragen“ 138. Er macht darauf aufmerksam, dass der genauere Blick auf ihr Aussageprofil lohnend ist: „Nur wenn Gott an Toten Wunder tut, tun kann und tun wird, nur wenn Gott zum Schweigen Gebrachte neu zum Loben und Danken bringt, nur dann kann auch das hier betende Ich wieder dazu gehören“.139 Die übliche Voraussetzung, es handele sich um unechte Fragen, führt dazu, sie wie Aussagen zu behandeln.140 Aber seiner Meinung nach sind V. 11-13 keine Behauptungen, was viele Exegeten vertreten: „An Toten […] tut Jhwh keine Wunder mehr […] Tote stehen auch nicht auf, um Gott zu preisen […]“141 Basis der Auffassung von F. Crüsemann ist nicht nur seine Beobachtung der Textbesonderheiten, sondern gerade auch die Exegese der Gott-Klage: Denn wo die Distanz zu Gott durch ihn selbst bewirkt ist, kann sie auch durch ihn rückgängig gemacht werden. 142 Diese Argumentation weist für J. Schiller aber ein Defizit auf, insofern hier nur der Beginn der Fragenreihe im Blick ist, weshalb er Einwände erhebt: „Mit der Betonung des Handelns Gottes gelingt der Bezug allein auf V. 11, und nur mit einiger rhetorischer Gewalt lassen sich auch die übrigen Verse in diese Deutung einbeziehen.“143
134 135 136
137 138 139 140 141 142 143
den Toten misszuverstehen, zum anderen werde dadurch von vornherein die Möglichkeit ausgeschlossen, JHWH könnte auch im Totenreich handlungsfähig sein – eine Vorstellung, für die es durchaus Belege gibt (1Sam 2,6; Am 9,2; Ps 139,8).“ J. Schiller, Für die Toten wirst Du ein Wunder tun, in: Protokolle zur Bibel, 61. F. Crüsemann, Rhetorische Fragen!?, 347. F. Crüsemann, Rhetorische Fragen!?, 350, verweist auf folgendes: „Es gehört zu den Eigenheiten dieses Textes, die schon immer aufgefallen sind, dass keine Bitten formuliert werden - außer denen, die indirekt in der Beschreibung des Rufens und Klagens selbst liegen, also in V.V. 2f, 10b und 14.“ F. Crüsemann, Rhetorische Fragen!?, 350. F. Crüsemann, Rhetorische Fragen!?, 347. F. Crüsemann, Rhetorische Fragen!?, 351. B. Janowski, Psalm 88, 18. So die Paraphrase von H. D. Preuß, „Psalm 88“, 66-70. F. Crüsemann, Rhetorische Fragen!?, 360. J. Schiller, Für die Toten wirst Du ein Wunder tun, 62.
Psalm 88: JHWH – der Gott des Lebens
199
Die Verständnisschwierigkeit wurzelt primär in der Sonderstellung von V. 11-13. Wie wir gesehen haben, herrscht in der Forschung nach wie vor der Konsens, V. 11 sei so zu verstehen, dass nur allgemein von den Toten geredet wird, so dass der Beter nicht explizit vorkommt. 144 b) Strukturanalyse Der Beter wendet sich gegen die Gottesvorstellung seiner Umwelt und eröffnet die Auseinandersetzung sowohl mit ihr als auch mit Gott durch die mit hinterrogativum und ~ai eingeleiteten Fragen:
al,P-_, hf,[T] ; ~ytiMî le h; ] (V. 11a) `hl'S(, ^WdìAy ŸWmWqÜy" ~yaiªpr' ->÷ ~ai (V. 11b) Der Fragesatz enthält durch die inhaltliche Wiederholung und den gleichen Endreim (~y) der beiden Substantive (~ytiîMel;h] in V. 11a und ~yaiªp'r÷-> ~ai in V. 11b) einen „synonymen“ Parallelismus. 145 Mit dem Schwerpunktbegriff mytm (V. 11a) beginnt die weitere Auseinandersetzung mit den „Dritten“. Als Handlungssubjekte werden sowohl Gott (al,P_,-hf,[T ] ;) als auch die Menschen in der Totenwelt (~yaiªp'r)> in den Blick genommen, denn es geht um ihr Verhältnis. Wo JHWH Subjekt des Satzes ist, tritt das Tun (al,P-_, hf,[T ] ;) Gottes in den Vordergrund. Die thematische Organisation von V. 11a und b lässt sich mit Hilfe der Entwicklung des thematischen Terminus ermitteln. Ausgangspunkt dafür sind die aus dem Vorhergehenden entwickelten und mit drei verschiedenen Verben formulierten Aussagesätze. Vom Satzbau her auffällig sind die beiden Verben ~wq und hdy am Versende, die grammatikalisch asyndetisch nebeneinander stehen, aber assonantisch durch paenultima-Betonung auf langen „W“ sowie die Lautsequenz der Vokale /a-u-u/ respektive /o-u-a/ miteinander verzahnt sind. 146 Die Abfolge der Verbwurzeln zeigt eine Entwicklung, die vom ] ;) Gottes in V. 11a zum Aufstehen und Preisen der konkreten Tun (al,P-_, hf,[T Menschen in der Totenwelt reicht. Nach der einleitenden Frage stellt der Beter noch zwei weitere Fragen (V. 12f), um die Handlungsmacht Gottes im Totenreich abermals zu thematisieren. 147 In jeder der vier Zeilen (mit interlinearen Parallelismen) wird je ein 144 145
146 147
Vgl. J. Schiller, Für die Toten wirst Du ein Wunder tun, 63. H. Utzschneider, Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung: Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, Gütersloh 2001, 96. B. Weber, Klangmuster in Psalm 88, OTE 20/2 (2007), 480. Dagegen behauptet B. Janowski, Die Toten loben JHWH nicht, 219, schon in V. 6 hat sich der Beter mit den Toten und Erschlagenen verglichen. Diese Beziehungslosigkeit
200
Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
Heilsbegriff einer Todescharakterisierung gegenübergestellt, die Beschreibung der Totenwelt kontrastiert somit den Eigenschaften Gottes. In V. 12 wird ein Chiasmus gebildet, wobei die zwei Nomina ds,x, und hn"Wma/ (Güte und Treue JHWHs) als Zentralbegriffe fungieren und ein Paar bilden:
rb,QBå< ; rP:så yu h> ; (V. 12) ^D #r t; . ytiLî p' Ti (. rq,Bªbo ;W÷ (V. 14b) Zu Beginn der Anrede schildert er mit dem emphatischen „ich aber“ 184 sein Gottesbild angesichts des Leidens. Der Ausdruck ist ein Gattungselement, das einen scharfen Übergang bildet. 185 In dieser Struktur ist der Übergang ein Wechsel von der bitteren Klage (V. 10) und Bitte (V. 11-13) zum Vertrauensmotiv,186 in dem er seinen Glauben an JHWH demonstriert. Der Beter drückt sein Verhältnis zu Gott durch folgenden lexikalischen und syntaktischen Bezug aus: Die zentralen Begriffe ynIÜa]w: und yTi[.W:+vi im Blick auf sich selbst stehen parallel zu den Begriffen ^yl,äae (Präposition Suffix 2 Pers. Sg. Mask.) und hw"h å y im Blick auf 180 181 182
183 184 185
186
Vgl. E. Haag, Psalm 88, 162. Anders: E. Haag, Psalm88, 162. Anders, B. Janowski, Der Gott des Lebens, 205; K. Seybold, Das Gebet des Kranken im Alten Testament, 117. C. de Vos, a.a.O., 31. F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Die Psalmen 51-100, HThKAT, 573. H. Gunkel, Einleitung in die Psalmen, 241. Nach seiner Auffassung sind „du aber“ und „ich aber“ als Gattungselemente zu verstehen, die Übergänge erkennbar werden lassen. Anders: H. Gunkel, Einleitung in die Psalmen, 241. Für ihn wird auf diese Art und Weise von der Bitte und dem Vertrauensmotiv zurück zur bitteren Klage geleitet (Vgl. Ps 22,7; 40,18; 69,30).
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
JHWH. Er versteht JHWH als seinen persönlichen Gott. 187 Seine Hilfeschreie bewirken (yTi[.W:+v)i eine Begegnung zwischen ihm und Gott, die von beiden Seiten ausgehen kann. Der Beter kann sich nur JHWH als seine einzige Sicherheit denken, zu dem er in seiner Not um Hilfe ruft. In V. 14b expliziert der Beter ein Vertrauensbekenntnis. Dies beschreibt er mit einer faszinierenden Metapher, die mit der Wendung rq,Bªb o ; (am Morgen) eingeleitet wird. Die folgenden Wendungen beziehen sich auf V. 14a: Er bezieht sich mit &'mD )< q> t; . in V. 14b auf yTi[.W:+vi in V. 14a, sowie mit ytiLî p' Ti (. in V. 14b auf den Gottesnamen hw"åhy> in V. 14a, der durch ^yl,äae in der Verwendung der 2. Sg. als Präposition die persönliche Beziehung erkennbar macht. Hier bringt er sein Gottesbild mit der Verwendung des Gottesnamens hw"åhy> in V. 14a hinsichtlich der Bitte von V. 10 zum Ausdruck. Ist die formale Beziehung der beiden Begründungen erkannt, lässt dies auch inhaltliche Beziehungen vermuten. c) Inhaltliche Analyse Die ausführliche Darstellung der Bitte um Erhörung des Hilferufs durch ynIÜa]w: und der Gottesname hw"åhy> fordern dazu heraus, noch einmal den inhaltlichen Akzent und die Verbindung mit V. 10b-d zu betrachten. Indem in den Rahmenteilen der Gottesname JHWH wiederholt wird, der durch den lexikalischen und syntaktischen Vergleich zusätzlich in den Vordergrund rückt, wird der Gedankengang deutlich. Der Beter begründet das für ihn maßgebliche Gottesbild, welches er durch den Gottesnamen und das Pronomen deutlich charakterisiert, indem er angesichts seiner Not nur von JHWH spricht. Er richtet am Anfang eines neuen Tages seine Bitte um Rettung an Gott.188 Nach traditioneller Interpretation bedeutet diese Wendung das Ende des Unheils, 189 denn nach altorientalischem und biblischem Verständnis beginnt der Tag als die Zeit des lebensfördernden Lichts, der Rettung und der aufgehenden Gerechtigkeitssonne. 190
5. Zusammenfassung Wurde das Gottesbild des Leidenden im Abschnitt von V. 10-14 anhand der Gottesvorstellung in der Totenwelt erläutert, so sollen die gewonnenen Resultate nun zusammengefasst werden. Der Beter behauptet durch die Fragereihe, dass JHWHs Macht auch die Totenwelt umfasst. Er veranschaulicht dessen Wirk-
187 188 189
H. Vorländer, Mein Gott, 231. Vgl. C. Barth, Art. rq,Bo, in: ThWAT I, 754. C. de Vos, a.a.O., 32; F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Die Psalmen 51-100, HThKAT, 485.
Psalm 88: JHWH – der Gott des Lebens
211
mächtigkeit, indem sich Gott in der Totenwelt mit seinen positiven Eigenschaften und Aktionen an den Toten (V. 11a) und Gestorbenen (V. 11b) offenbart. Der Beter erhofft ein Wunder Gottes, deshalb will er aufstehen, um ihn zu loben (V. 11), indem er von seiner Huld, Treue und Gerechtigkeit erzählt. Im Mittelpunkt des Gedankens steht sein monotheistisches Denken. Die Argumentation orientiert sich an dem einen Grundprinzip, dass sein Gott JHWH ist (V. 10.14). Der Beter versteht ihren Gedankengang nicht nur als ein Bild für die Bitte um Reaktion JHWHs (V. 11-13), sondern das Motiv des Eingreifens Gottes verbindet sich mit dem einen und einzigen Gott hw"hy> (V. 10.14). Dementsprechend drückt er die Hoffnung aus, dass alle Not durch hw"hy> beendet werden wird. Das so geschilderte Gottesbild ist auf ein monotheistisches Denken zurückzuführen, was auch F. Crüsemann vertritt: „Religionsgeschichtlich spricht alles dafür, dass mit der Entstehung eines radikalen Alleinverehrungsanspruchs des israelitischen Gottes, also wahrscheinlich seit der Zeit der Elias, dieser Gott auch dem Totengott überlegen ist und also Macht über Tod und Totenreich hat. Dafür sprechen u.a. Erzählungen über Totenerweckungen und Entrückungen, aber auch israelitische Grabinschriften schon der Königszeit. Die Fragen in Psalm 88 sind also echte Fragen an Gott und enthalten in nuce die spätere Sprache der Auferstehung.“191
Nicht durch eigene unmittelbare Behauptungen, sondern durch die Fragereihe zur Vorstellung vom Handeln Gottes in der Totenwelt bewirkt er eine theologische Herausforderung der Dritten und formuliert seine Kritik an ihrem Urteil. Das Gottesbild in der Auseinandersetzung zwischen dem Beter und den Dritten spitzt sich also durch den Gebrauch des Gottesnamen und die Personalpronomen in V. 10-14 zu. Sein monotheistisches Denken zeigt sich darin, dass er sich an JHWH als seinen Gott wendet. Hier wird auch sein Selbststand erkennbar, insofern er aufgrund seines Glaubens das Eingreifen Gottes in der Totenwelt erwartet, ganz im Gegensatz zum Urteil der Dritten.
VIII. Gegenbild III: Die Vertrauensaussage: V. 15-19 1. Der Kontext Bei diesem Abschnitt sind sich zahlreiche Exegeten darin einig, dass er einer der dunkelsten und schwermütigsten Psaltertexte ist, denn hier dominiert einerseits 191
F. Crüsemann, Rhetorische Fragen!?, 360.
212
Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
die Klage gegen Gott, der im Erleben des Beters lebensbedrohlich wirkt, 192 und andererseits, wird am Ende des Gebets vorwiegend sein persönliches Leiden geschildert, ein Leben, das offenbar von Jugend an verhängnisvoll gewesen ist, weshalb jegliche Lebenskraft verloren gegangen ist. 193 Wenn aber die Passage jedoch sowohl sachlich als auch formal im Kontext des theologischen Problems des Beters verstanden wird, muss sich diese Auffassung ändern. Die Beschreibung der lebensbedrohlichen Not am Ende - obwohl sie im Klagepsalm des Einzelnen normalerweise am Anfang steht und am Ende die Vertrauensaussage erfolgt – wirft die Frage auf, warum hier nicht die übliche Ordnung eingehalten ist. Mit welcher Absicht wird die Not nochmals beschrieben, und warum scheint die düstere Stimmung das ganze Gebet zu überlagern? Um den Abschnitt richtig zu verstehen, sollte gefragt werden, mit welcher Absicht der Beter seine eigentliche Not am Ende abermals beschreibt; und inwieweit ihm bewusst war, dass diese düstere Stimmung sein ganzes Gebet dominiert. Meines Erachtens ist jedoch Ps 88 – und gerade auch die Verse 15-19 – nicht nur als schwermütig zu verstehen, wofür formelle und inhaltliche Gründe sprechen. Im letzten Abschnitt veranschaulicht er nochmals ausführlich sein Gottesbild. Er verbindet die Theodizeefrage mit dem monotheistischen Gedanken, wie er es schon in seiner Leidensschilderung (V. 7-9) getan hat. Sein Ziel ist es, ein neues Gottesverständnis zu vermitteln, um das traditionelle der familiären Religion zu überwinden, da es polytheistische Implikationen aufweist. Der Abschnitt gliedert sich in drei Teile, die wiederum mit dem dritten Psalmabschnitt (V. 7-9) verbunden sind, da dessen Aussagen aufgenommen werden: 1. Die Warum-Frage in V. 15 ist ein Einleitungssatz 2. Das Elend in der Ich-Klage in V.16 bezieht sich auf V. 7 3. Die Aggression Gottes und seine Zornesglut in der Gott-Klage in V. 17f. beziehen sich auf V. 8 4. Das feindselige Handeln der Dritten in der Feind-Klage in V. 19 bezieht sich auf V. 9.
Somit ergibt sich ein struktureller und thematisch-inhaltlicher Zusammenhang mit dem dritten Abschnitt. Dessen Gottesbild wird nun ausführlicher erläutert und das Gebet schließt mit der Theodizeefrage. 192 193
C. de Vos, Klage als Gotteslob aus der Tiefe, 24. E. Haag, Psalm 88, in: E. Haag/ F.-L. Hossfeld (Hg.), Freude an der Weisung des Herrn: Beiträge zur Theologie der Psalmen, SBB 13, Stuttgart 1986, 149.
Psalm 88: JHWH – der Gott des Lebens
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Der Abschnitt beginnt mit der Anklage Gottes, die durch eine mit hM'l' eingeleitete Warum-Frage gestaltet ist.194 V. 15 bereitet die „sukzessive Versgabelung“ von V. 16-19 vor, denn der Beter benennt nun das Thema des letzten Abschnitts, d.h. der Vers dient sowohl als Einleitungssatz für den Gesamtabschnitt, als auch für die Einzelthemen der folgenden Verse. Von der Warum-Frage gehen folgende „Zweige“ ab: 1. Die Ich-Klage in V. 16 2. Die Gott-Klage in V. 17-18 3. Die Feind-Klage in V. 19.
In der Ich-Klage berichtet der Beter, dass er von Jugend an schwach und dem Tode nahe gewesen ist. Er beschreibt parallel zu V. 7 den zentralen Aspekt seines Leidens und rückt als Thema die Verantwortungsfrage ins Zentrum. Formell gesehen verbindet er durch die Du-Aussage die Ich-Klage in V. 16 sowohl mit der Gottesfrage in V. 7 als auch mit der in V. 15.195 Seine Not wird vor JHWH gebracht, womit sein monotheistisches Denken zum Ausdruck kommt, 196 denn er wird sehr hartnäckig konkret und umfassend für sein Schicksal verantwortlich gemacht. Der Gott, der ihn in die Totenwelt versetzt hat, ist nach seiner realistischen Sicht diejenige Kraft, die für sein Leiden verantwortlich ist. Damit vertritt er eine deutlich andere Vorstellung als die „Dritten“.
2. Die Warum-Frage: V. 15 a) Strukturanalyse Beim Zusammenhang mit dem dritten Abschnitt (V. 7-9) handelt es sich in erster Linie um das dort erläuterte Gottesbild angesichts des Leidens. In diesem Abschnitt schließt der Beter seine Ausführung zur Theodizeefrage ab, indem er nun die Anklage Gottes eröffnet:197 194
195
196 197
V. 15 besitzt auch eine Parallele zu V. 4, weil durch vpn eine Wortverwandtschaft zwischen V. 4a und 15a besteht. Anders interpretiert W. Groß, Studien zur Priesterschrift und zu alttestamentlichen Gottesbildern, 165. Ps 88 zeigt für ihn die für Israel typische Konzentration auf JHWHs Verhalten. Diese Perspektive wird beim Kranken konsequent auf die Spitze getrieben, aber dabei wird nur der negative Aspekt wahrgenommen, da JHWH die Krankheit verursacht hat. W. Groß, a.a.O., S. 167. In der Anklage ringt der Leidende um die Wendung zum Guten. hM'l' in Gott-Klage findet sich in Ps 10,1; 22,2; 42,10 (43,2); 44,24; 74,11 (74,1). Die Warum-Frage erscheint in folgenden Texten: Ps 43; 44; 47; 77; 80; 89 bzw. 13,2; 30,8; 69,18; 102,3; 143,7.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott (V. 15b)
`yNIM in V. 15. b) Inhaltliche Analyse Da der Beter sein Gottesbild bisher in kritischem Vergleich zur gegnerischen Gottesvorstellung, welche durch implizit polytheistische Denkmotive geprägt ist, veranschaulicht hat, stellt er in diesem Abschnitt abermals sein Gottesbild dar. 1. Der Beter formuliert durch die Warum-Frage mit dem Gottesnamen hw"hy> sein Thema in Bezug auf das Gottesbild angesichts seines Leidens, das er auch in V. 16-19 und auch in V. 7-9 beklagt hat: Dadurch schafft er im Gedankengang zwischen beiden Teilen (V. 15-19 und V. 7-9) eine klare Verbindung. Dies zeigt, dass die Tiefenstruktur der Teile kohärent in Relation zum theologischen Thema ist. So deutet sich an, mit welcher Absicht er seine Klage in einer fortlaufenden Verkettung formuliert. Indem er nun seine Warum-Frage auf „das Verbergen des Gesichtes Gottes“ bezieht, veranschaulicht er die Theodizeefrage. In Zusammenhang mit dem theologischen Aspekt von V. 7-9 wird eine thematische Entwicklung deutlich,
198
B. Janowski, Der Gott des Lebens, 215f.
Psalm 88: JHWH – der Gott des Lebens
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denn Gott ist mit all den vielfältigen Schrecken des Beters verbunden: Die vorwurfsvolle Frage hat zentrale Bedeutung für sein Gottesbild, denn in der Empörung über sein als ungerecht empfundenes Leiden bezieht er hw"hy> in die Verhandlung ein.199 Seine gewagte Aussage richtet sich also sowohl gegen als auch an hw"hy>,, denn der Beter nimmt ihn als Garanten seines Rechts in die Pflicht und spricht darum im Namen JHWHs.200 Hier taucht ein Problem in Bezug auf die gattungsmäßige Verwendung des Gottesnamens auf. E. Gerstenberger behauptet, dass die Bittenden Gott zwar als Garanten für das eigene Recht in die Pflicht nehmen, aber nicht um ein Urteil in Übereinstimmung mit der Weltordnung oder abstrakten Rechtsprinzipien oder allgemeinen Denknormen bitten, sondern lediglich im Namen einer für Gott und die Gruppenmitglieder verbindlichen Gemeinschaftstreue reden. 201 Für ihn erscheint zwischen den Zeilen des Gebetes ein möglicher Vorwurf an die Schutzgottheit, denn sie habe ihre Beistandspflicht gegenüber dem Angegriffenen nicht ernst genug genommen. Dies ist meines Erachtens aber durch den Text aber nicht zu bestätigen! Der Beter knüpft mit dem Gottesnamen hw"hy> unmittelbar an den Gedankengang des vierten Abschnitts (V. 10-14) an. Zur Gotteszeichnung verwendet er ausschließlich „Du-Aussagen“. Und er benutzt den Gottesnamen hw"hy> in seiner Klage sparsam, nämlich lediglich vier Mal: Außer in der Eingangsbitte und in V. 15 wird er nur im vierten Abschnitt (V. 10-14) benutzt, wo der Beter gegen die gegnerische Gottesvorstellung polemisiert, weil für ihn Gott auch in der Totenwelt wirkt. Hinter diesem inhaltlichen Zusammenhang verbirgt sich seine Absicht. Und zwar verdeutlicht er implizit durch die Gottesnennung im letzten Abschnitt seinen Gedankengang bzw. sein Gottesbild, das nicht mehr mit dem Verständnis einer lokalen und somit beschränkten Schutzgottheit identifiziert werden kann, denn sein Gedanke geht von der Einzigkeit Gottes aus. 2. Dieses monotheistische Denken erscheint wiederum in der Warum-Frage, wodurch ein Argument der vorhergehenden Gedankengänge noch einmal aufgegriffen wird. V. 15 kritisiert den Gedankengang der Dritten (vgl. V. 5-6), denn die Aussagen in V. 15-19 stehen in Zusammenhang mit denen in V. 7-9, in denen die Kritik am Urteil der „Dritten“ aus V. 5-6 aufgegriffen wird, was eine thematische Progression der drei Klageteile bewirkt. 199
200
201
Vgl. E. S. Gerszenberger, Warum hast du mich verlassen?, in: M. Nüchtern (Hg.), Warum läßt Gott das zu?: Kritik der Allmacht Gottes in Religion und Philosophie, Frankfurt a. M. 1995, 15-21. Anders E. S. Gerszenberger, a.a.O., 22f. Parallelen zu dieser Sprechform finden sich in Ps 44; 88 und bei Hiob. Ebenda.
216
Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
In der Klage würde man gattungsmäßig eigentlich ein Sündenbekenntnis erwarten,202 aber auffälliger Weise bezichtigt sich der Beter trotz seiner Gebetsrufe keiner Sünde.203 Mit Emphase hält er an seiner Unschuld fest, er lässt sich keine Schuld einreden und verweigert die Selbstanklage. Stattdessen wählt er die aggressive Anklageform der Warum-Frage, womit offensichtlich wird, dass er sich im Bewusstsein seiner Unschuld an Gott wendet und dies zugleich seinen Feinden verdeutlichen will. Hier entsteht der Kontrast zwischen dem Bewusstsein seiner Unschuld und der Gottesvorstellung der Dritten in Bezug auf die Totenweltvorstellungen in den vorherigen Abschnitten. In dieser Konstellation kommt der „Warum-Frage“ theologische Relevanz zu. Sie kritisiert den Glauben an einen Gott, wie er im Alten Orient verbreitet war,204 dem offenbar die „Dritten“ bzw. seine Feinde weiterhin anhängen. In der Charakterisierung der beiden Zustände spiegelt sich somit wieder, dass nach Auffassung der „Dritten“ der Beter selber für sein Leiden verantwortlich ist, und er daher zu Recht von Gott getrennt ist. Daraus resultiert ihr Desinteresse an der Theodizeefrage. Dies problematisiert der Beter mit seiner Warum-Frage, indem er das Theodizeeproblem einführt. Die Gottesvorstellung der „Dritten“ in V. 6 macht offenbar, dass sie meinen, dass die Gottheit für das Leiden verantwortlich und in der Lage ist, den Zustand zu beeinflussen. 205 Weil der Mensch unrecht gehandelt hat, wird er von Gott nicht mehr vor Unglück geschützt. 206 Aufgrund dieser Überlegung wird erwartet, dass man sich der Gottheit durch ein Schuldgeständnis nähern muss, um errettet werden zu können. 207 Dieser Glaube pflegt ein enges Verhältnis zur persönlichen Schutzgottheit, die in die Familie eingebunden ist. Die Leidenden wenden sich an sie in der Hoffnung auf individuelle Hilfe im Rahmen der Gruppe. 208 „Die Schutzgottheit schafft und garantiert das Einzelleben der Gemeinschaft.“ 209 Im altisraelitischen Alltag ist das Schicksal nach den Vorstellungen der damaligen Zeit durch Fremdeingriffe und eigene Taten bedingt. 210
202 203
204
205 206 207 208 209 210
W. Groß, a.a.O., 187. W. Groß, a.a.O., 188: „Angesichts des für Krankenpsalmen gattungstypischen Elements Sündenbekenntnis ist dies ein schreiendes Schweigen.“ E. S. Gerszenberger, Warum hast du mich verlassen?, in: M. Nüchtern (Hg.), Warum lässt Gott das zu?, 15. Vgl. E. S. Gerszenberger, a.a.O., 20. Vgl. etwa Num 5,12-31; Jos 7. Vgl. die Psalmen 38; 51; 130. E. S. Gerszenberger, a.a.O., 18. Ebenda. E. S. Gerszenberger, a.a.O.,19.
Psalm 88: JHWH – der Gott des Lebens
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Die Gottesvorstellung der Dritten setzt daher voraus, dass der Beter selbst Verursacher seines Unglücks ist, weil er sich der Gottheit nicht nähern kann, um errettet zu werden. 211 Hier gilt die Gottesvorstellung einer Schutzgottheit, an welche das Gebet gerichtet ist, um sie mit in die Verantwortung hineinzunehmen unter der Annahme, dass ohne ihre Zustimmung die Zustände nicht so schlimm hätten werden können. Zentrum des Verständnisses ist das Schuldproblem. 212 Vor diesem Hintergrund versucht der Beter, sich mit den „Dritten“ über das Theodizeeproblem auseinanderzusetzen. Er äußert sich zunächst nicht zum Problem des unschuldigen Leidens, sondern beschreibt sein Festhalten an JHWH als seinen Selbststand. Er orientiert sich in seiner Not weiterhin an Gott, aber die Gotteserfahrungen seines Lebens sind durch und durch negativ. Deshalb ist seine Theodizeefrage aber auch ein besonders fruchtbarer Versuch, mit dem er gegen die Vorstellung der Feinde polemisieren und sein eigenes Gottesbild bzw. seinen Glauben ausdrücken kann. Er veranschaulicht durch die Theodizeefrage sein monotheistisches Denken, was ihn mit dem einen und einzigen Gott verbindet, mit dem er es angesichts des Leiden zu tun hat, weil Gott Ursache all des vielfältigen Schreckens ist, der in diesem Gebet verarbeitet wird.
3. Die Ich-Klage: V. 16 a) Strukturanalyse Die Anklage Gottes (V. 15) zielt ab auf die Aussage–„JHWHs Schrecken“ in V. 16, denn Gott hat sich konsequent als Feind des Beters erwiesen. Er beschreibt seine Not mit einer genauen Zeitangabe – von Jugend an r[;NO=m,i, was die Bedrohung durch Gott unterstreicht. Der Zentralbegriff – deine Schrecken ^ym,äae - benennt das gottgewirkte Leiden:213 (V. 16b)
`hn"Wp)a' ^ym,aä e ytiaf'nÞ "
(V. 16a) r[;NO=mi
[:AEågw> ynIåa] ynIÜ['«
hm'yae, „Schrecken“, steht in dieser Form nur hier. Er geht aber nicht vom Menschen aus, sondern explizit von Gott. Die Klage bringt diese Not vor JHWH, der
211 212
213
Vgl. Ps 38; 51; 130. E. S. Gerszenberger, a.a.O., 20. Altorientalische Gebete benutzen in solchen Fällen gerne die Formel: „Meine erkannte und unerkannte Schuld löse“. Aber in Fällen, wo man nicht wissen konnte, ob man nicht selbst in unheilbringendes Tun verstrickt war, musste der Nachdruck auf der Bekämpfung der Fremdeinwirkungen liegen. C. de Vos, Klage als Gotteslob aus der Tiefe, 24.
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Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
für sie verantwortlich ist. 214 Der Beter schildert sein Leiden im Zusammenhang mit V. 7, da erkennbar ist, dass V. 15f inhaltlich parallel zu V. 7 steht. Für ihn ist der eine und einzige Gott JHWH die Kraft, die ihn in die Totenwelt versetzt hat und darum für seine Not verantwortlich ist. b) Inhaltliche Analyse In der Ich-Klage wird die Argumentation der Gottesrede in der Wiederaufnahme des Themas von V. 7 und 15 bekräftigt. Um sein Leiden auszudrücken, bedient sich der Beter mit dem Ausdruck „Erstarren“ eines Ausdrucks aus dem Wortfeld des Todes. Sein elender Zustand nötigt ihn, die Theodizeefrage zu stellen, denn dieser ist durch Gott selbst verursacht. Dies spitzt sich durch die Verbindung mit der Warum-Frage (hM'l) zu. Der Beter veranschaulicht die anhaltende Not mit r[;NO=m,i von Jugend an. Die Konsequenz der Not ist auch am Begriff [wg (umkommen) als tödlich zu erkennen. Aber die Tiefe der Not und die Lebensbedrohung ist nicht nur als Situation des Grabes und Gefängnisses zu verstehen, sondern auch als Gottesnot. Ihr Schwerpunkt liegt im Problem, dass die Erstarrung des Leidenden nicht mehr nur als Handlungsfolge begriffen werden kann. Die Theodizeefrage wird in der Ich-Klage gestellt, aber nicht vorschnell beantwortet, denn es wird keine alles versöhnende Antwort gegeben, da sie vielmehr als unablässige Rückfrage an Gott bestehen bleibt. Sie kann aber als Versuch einer „Vertrauenssicherung“ verstanden werden,215 indem nach Ziel und Sinn des Leidens gefragt wird und damit zugleich das Festhalten an dem einen einzigen Gott hw"hy> zum Ausdruck gebracht wird. Es geht somit um die Frage, wie und ob überhaupt angesichts der abgründigen Leidensgeschichte von Gott zu reden sei. Die Frage nach Gott ist somit keine passive Hinnahme, sondern gerade seine Gegenwehr gegen die lebensbedrohliche Not bzw. ein Überlebenskampf im Glauben an Gott. Deshalb ist seine Reaktion auf die Theodizeefrage nicht nur Klage über eine reale Erfahrung, sondern auch Anklage des einen und einzigen Gottes. Seine Empörung entspringt einem Gottesbild, in dem JHWH in die Verhandlung einbezogen wird. In diesem Sinne kann die Ich-Klage deshalb als ein Vertrauensbekenntnis identifiziert werden. Wie wir gesehen haben, will der Beter im Gegensatz zum Urteil der Dritten darstellen, dass sein ganzes Leben grundsätzlich von Gott abhängig ist, womit er dann aber auch keinen Zweifel am Ursprung seiner Not 214
215
W. Gross, a.a.O., 167. In der Anklage ringen die Leidenden um die Wendung zum Guten. M. Ebner, Klage und Auferweckungshoffnung im Neuen Testament, in: M. Ebner/ I. Fischer u.a., Klage, JBTh 16, Neukirchen-Vluyn 2001, 78.
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lässt. Er will in seiner ganzen Klage eine andere Sichtweise seines Lebens gegenüber dem gegnerischen Urteil durchsetzen.
4. Die Gott-Klage: V. 17-18 a) Strukturanalyse In V. 17 richtet der Beter mit der Du-Aussage abermals den Blick auf JHWH. Indem er die Zornesgluten und Schrecken Gottes als Zentralbegriffe mit yl;['â verbindet (vgl. V. 8),216 kommt es zu einer thematisch-inhaltlichen Kohärenz. Die inhaltlichen Schwerpunkte decken sich weitgehend mit der poetischen chiastischen Struktur:
Wråb.[' yl;['â (V. 17) ^yn) [:rE_w" bheäao yNIM,miâ T'q.x;är>hi (V. 19) Durch T'qx . rä; h> i und yNIM ab. Er behandelt dabei nicht nur das größte Unheil229 in der Ich-Klage und die Ferne des rettenden Gottes bzw. seine Verborgenheit in der Gott-Klage, 230 sondern in der Feindklage eröffnet er sich auch einen Weg, um gerade mittels seiner negativen Erfahrungen für sein 226
227 228
229
230
Vgl. C. Barth, Die Errettung vom Tode: Leben und Tod in den Klage- und Dankliedern des Alten Testaments. Zürich 21987, 89ff. K. Seybold, Die Psalmen, 346. W. Groß, Ein Schwerkranker betet, 107. Dabei führt der Beter hier einen Argumentationsgang mit den Dritten im Gottesdienst. Nicht unbekannte oder dämonische Mächte haben ihn bedrängt, sondern JHWHs Schrecken hat ihn umzingelt. W. Groß, Das verborgene Gesicht Gottes, in: Studien zur Priesterschrift und zu alttestamentlichen Gottesbildern, 30 u.186. W. Groß, a.a.O., 187.
224
Hauptteil: Leidenschaftliches Festhalten an JHWH als den einen Gott
Gottesbild zu argumentieren. Im Mittelpunkt der Frage steht das Erlangen von Leben und Heil durch Gott sowie die Zurückführung in die Gemeinschaft: In seiner Not dient ihm die Theodizeefrage als Gegenwehr bzw. als Waffe im Überlebenskampf mit dem einen und einzigen Gott. Durch die Frage nach dem verborgenen Gott hält er im Leiden an seinem Gott fest. Er richtet deshalb immer wieder seine Anklage und Klage an hw"hy>, denn diese Anrede ermöglicht ihm einen dauerhaften Umgang mit Gott.> Die Gottesvorstellung der „Dritten“ versteht das Leiden als Isolation von Gott, denn dieser habe sich vom Leidenden getrennt oder ihn gar vergessen. Der Beter geht dagegen davon aus, dass die von Gott bewirkte Distanz auch nur durch den Gott hw"hy> selbst rückgängig gemacht werden kann. Damit erreicht der Konflikt seinen Höhepunkt, da die Gottesvorstellung der Dritten durch das monotheistische Gottesbild des Beters in Frage gestellt wird.
IX. Ergebnis 1. In seiner Not nähert sich der Beter in Konfrontation zur Gottesvorstellung der Dritten einem monotheistischen Gottesverständnis, wobei zugleich Gottes Machtbereich auf eine Sphäre, die bislang als gottlos galt oder von anderen Mächten beherrscht wurde, ausgeweitet wird. Die traditionelle Totenweltvorstellung wird somit überwunden, Gott ist nun auch der Gott der Toten. Die Beurteilung seiner Situation aus der Umweltperspektive spiegelt den gesellschaftlichen Konflikt wider, da heterogene Leidens- und Gottesvorstellungen miteinander kollidieren, der Beter fordert seine Gegner dazu auf, ihr Gottesbild zu korrigieren. Nach Auffassung der Dritten ist er in der Totenwelt von jeder Beziehung zu Gott abgeschnitten (besonders V. 6c-d).231 So erinnern sie ihn zunächst daran, dass er in seiner Kraftlosigkeit dem Grabe schon so nahe ist, weshalb ihn seine Umgebung schon zu den Toten rechnet, die aus allen menschlichen und göttlichen Bindungen entlassen sind. In ihrer Gottesvorstellung gibt es gegenüber den Toten keinerlei Mächtigkeit Gottes. Der Tod begrenzt für Gott und die Gruppenmitglieder die Gemeinschaftstreue. 232 In diesem Kontext entwirft der Beter eine andere Totenweltvorstellung, um dieses Gottesbild abzuweisen. Sein Ausgangspunkt ist die Rückführung seines Leids, das keine Folge einer Verfehlung ist, auf Gott selbst, sie hingegen verstehen es als völlige Trennung von Gott. Indem er für seinen „Tod“ Gott verantwortlich macht, grenzt er sich von ihrer Totenweltvorstellung ab und wider231 232
O. Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 226f. E. S. Gerszenberger, a.a.O., 22f.
Psalm 88: JHWH – der Gott des Lebens
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spricht zudem ihrer Gottesvorstellung. Er veranschaulicht sein Gottesbild durch zwei Argumentationsgänge zur Leidensverantwortung und Totenweltvorstellung. Er macht Gott für seine Versetzung in die Totenwelt verantwortlich, und deshalb kann er auch seine Errettung durch denselben Gott „einklagen“. Dies ist die Konsequenz aus seiner Einsicht in Gottes Machtausweitung, denn gottfreie Räume – wie die Scheol – bestehen nicht mehr. Der Beter wendet sich in seinem Leiden an den einen einzigen Gott hw"hy>, denn der Machtbereich dieses Gottes „hw"hy>“ umfasst nun auch die Totenwelt.233 Dies spricht zugleich auch dafür, dass sogar die Toten im Grab hw"hy> anvertraut werden dürfen; sie können sich auch im Tod seiner Huld empfehlen und von ihm Rettung erwarten. Die gemeinsame Grundvorstellung von der Solidargemeinschaft zwischen Gottheit und der Gemeinschaft beider Antagonisten wird durch den Beter fundamental neu bestimmt, denn sie wird nun auf bislang gottferne Bereiche erweitert. Das Verständnis der göttlichen Gemeinschaftstreue der Dritten ist hingegen beschränkt, da sie die göttliche Macht über den Bereich des Todes leugnen, was entweder polytheistische Implikationen hat, da dort dann andere Mächte herrschen, oder es kommt zu einer Machtbegrenzung Gottes, da er nicht Herr aller Bereiche ist, wobei diese dann „ausgeblendet“ werden müssten, wodurch Gott dann nur Herr über die Lebenden wäre. In seiner Leidenssituation bewahrt der Beter sein Vertrauen zu seinem persönlichen Gott hw"hy> und richtet an ihn die drängende Bitte um Hilfe und Wiederherstellung des guten, heilvollen Zustandes. In seiner Klage ist es entscheidend, dass er grundsätzlich nur hw"hy> (V. 2.10.14) und dessen Macht in der Totenwelt anruft. Sein monotheistisches Denken vertraut auf den dauerhaften Umgang mit Gott auch in der Totenwelt, was zugleich überhaupt erst seine Anklage ermöglicht. Im ersten Psalmteil (V. 2-9) ist er zu einer tieferen Einsicht in Wesen und Wahrheit des den Tod überwindenden Gottes JHWH gelangt.234 Entscheidend ist, dass er dabei sogar die Vorstellung einer Errettung durch hw"hy> nicht nur vom Tod, sondern auch aus dem Tod entwickelt. 235 2. Im zweiten Teil (V. 10-19) beginnt der Beter seine vertrauensvolle Gegenwehr im Überlebenskampf gegen das Leiden im Glauben an einen machtvollen Gott durch seine Klage im Rahmen seines monotheistischen Denkens. Hier vertieft sich sein theologischer Gedankengang zu seinem Selbststand. Weder das 233 234
235
Vgl. D. Michel, Ich aber bin immer bei dir, 156. Vgl. G. Kittel, Befreit aus dem Rachen des Todes, Tod und Todesüberwindung im Alten und Neuen Testament, Göttingen 1999, 92. Anders B. Janowski, Die Toten loben JHWH nicht, 231-237; E. Zenger, Das alttestamentliche Israel und seine Toten, 132-152. Vgl. auch J. Schiller, Für die Toten wirst Du ein Wunder tun, in: Protokolle zur Bibel, 14 (2005), 61-66.
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Verständnis der Mitmenschen, denen der Schwerkranke als tot gilt, noch ihr Urteil, dass mit dem Tod seine Gottesbeziehung endet, noch ihre Feindschaft, denn der Kranke wird von ihnen nicht umsorgt, sondern gemieden, 236 zerstören seinen Selbststand. Er besitzt ein neues Zeitverständnis, denn Gott muss seine Göttlichkeit in und gegen die Wirklichkeit erweisen, womit die Bedeutung der Zukunft immens gesteigert wird, da Gott sich ihm im Horizont des Vertrauens und Festhaltens bewahrheiten wird. Er erkennt aufgrund der Wirklichkeit der Macht Gottes in der Totenwelt die Errettung durch hw"hy> aus der Totenexistenz (V. 10-14). Er ringt deshalb mit Gott und setzt sich indirekt mit der Auffassung seiner Mitmenschen auseinander. Er konkretisiert sein Gottesbild und bekennt sich zu der Güte, Treue, und Gerechtigkeit Gottes, die nun auch in der Totenwelt gelten (V. 11-13). Durch seine Fragen betont er die Lebensmächtigkeit Gottes in der Totenwelt und erweckt ein hohes Erwartungspotential. Er kritisiert dabei auch die implizit polytheistische Gottesvorstellung seiner Mitmenschen und ihre Feindschaft. Seine Gegenwehr ist deshalb als Überlebenskampf im Glauben an den einen Gott hw"hy> zu verstehen. Die Warum-Frage unterstreicht die Bitterkeit der Gottesferne und schließt ein Unschuldsbekenntnis ein,237 denn er betrachtet sich als ein schuldloses Opfer. In all seinen negativen Erfahrungen entwickelt er durch die Frage nach der Verborgenheit Gottes sein Gottesbild. Dahinter verbirgt sich auch die Hoffnung auf das Wiedererlangen von Leben und Heil durch Gott, sowie die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft. Er tut das, indem er darzustellen versucht, welche Fragen und Probleme die negative Erfahrung der Verborgenheit des Gesichtes Gottes (V. 15) bewirken. Die traditionelle Überzeugung, dass man sich der Gottheit durch ein Schuldbekenntnis nähern müsse, um aus der Not errettet zu werden;238 spielt hier keine Rolle, denn aus seiner Sicht hat der Beter keine Veranlassung zum göttlichen Zorn gegeben, somit hat er das Leiden auch nicht verdient, sondern die Schicksalsschläge unschuldig erlitten. Seine Gottesfrage basiert somit vielmehr auf seinem unzerstörbaren Vertrauensbekenntnis. Im Blick auf das Thema „Gottesbild“ in V. 15-19 ist abschließend festzuhalten: Der Beter knüpft unmittelbar an die Anklage Gottes im dritten Abschnitt (V. 7-9) an, wonach einzig Gott für sein Leiden verantwortlich ist. Damit schließt er seine theologische Argumentation ab, indem er mit der Warum-Frage das Gottesproblem
236 237
238
O. Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 226-229. O. Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 229; vgl. S. E. Balentine, The Hidden God. The Hiding of the Face of God in the Old Testament, Oxford 1983, 61. Vgl. Ps 38; 51; 130.
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sowohl in V. 16-19 als auch in V. 7-9 zuspitzt. Er veranschaulicht gerade durch seine Klage gegen JHWH sein Gottesbild. Es geht in der Warum-Frage seiner Klage um den ungebrochenen Gemeinschaftswillen des Individuums mit dem einen einzigen Gott hw"hy> und seine Errettung durch ihn. Dabei ist für den Beter Gott für sein Elend verantwortlich, aber trotzdem erwartet er dennoch nur von ihm die Errettung. Das entscheidende Element seines monotheistischen Denkens zeigt sich darin, dass er in allen und trotz aller negativen Erfahrungen an JHWH festhält. Es zeigt sich also, dass die Theodizeefrage in Psalm 88 vor allem auf einer Vertrauensaussage beruht, wobei ihr Aufwerfen als Gegenwehr gegen das Leiden bzw. als Überlebenskampf im Glauben an JHWH zu verstehen ist. Die Interpretation verdeutlicht, dass der Psalm im Zusammenhang mit dem „Ein-Gott-glauben“ zu verstehen ist. Mit der radikalen Alleinverehrung JHWHs ergibt sich ein entscheidender Einschnitt im israelitischen Glauben. Verbunden mit monotheistischen Denkmotiven stehen im Zentrum des Psalms Hinweise auf Auferstehung als Errettung sowohl vor dem Tod als auch aus dem Tod. 239 Darin wird auch der Selbststand des Beters bzw. sein Gottesbild erkennbar, hw"hy> ,der Gott Israels, ist auch in der Totenwelt der alleinige Herr, wodurch die Totenwelt nun nicht länger mehr nur die Welt der Toten ist, denn auch diese werden leben, um in das Loben JWHS einzustimmen.
239
Vgl. H. Gese, Tod, 41f.
228
Schlussüberlegungen A) Gottesvorstellungen im Klagepsalm des Einzelnen Der Streit um die Durchsetzung eines monotheistischen Gottesbildes hat sich auch im Klagepsalm des Einzelnen niedergeschlagen, denn angesichts existentieller Not stellt sich die Frage, nach ihrem Grund und der Macht Gottes, die ihr ein Ende setzen soll. Die in der Arbeit untersuchten Klagepsalmen – Ps 3; 38; 88 – wurden bislang primär im Hinblick auf Aussagen des Beters über sich, seine Umwelt und Gott gelesen, um ein Bild des Verhältnisses von einem durch Not getroffenen Menschen zu seinen Feinden und Gott zu gewinnen. Darum steht in der Regel ihr dreifaches Beziehungsgefüge im Zentrum des Interesses. Dabei nimmt die Klage über die Umwelt einen großen Raum ein, also die Identifikation und Beschreibung der sog. Feinde, denen die Betenden mitunter ihre Bedrängnis ganz oder teilweise zu verdanken haben. Wie das Beziehungsgefüge der untersuchten Texte gezeigt hat, liegt in den Klagen eine theologische Herausforderung vor, worüber es zum Streit zwischen dem Beter und seiner Umwelt kommt. Und zwar stehen sich im Zentrum des Konflikts jeweils unterschiedliche Gottesbilder in scharfer Antithese gegenüber, was die Antagonisten zur radikalen Frage nach dem Proprium der Göttlichkeit JHWHs nötigt. Die hier analysierten Klagepsalmen haben deutlich gemacht, dass der Konflikt zwischen den Antagonisten nicht bloß aus sozialen Problemen der Gesellschaft resultiert, weshalb das primäre Ziel nicht die öffentlichkeitswirksame Rehabilitierung und Resozialisierung in die alltägliche Lebensgemeinschaft gewesen ist. Weil der Beter sein existentielles Leiden und seine dramatischen Ängste und Schmerzen vor allem als Gottesferne erlebt, die bis zum Glaubenszweifel führen können, geht es primär um ein neues Verständnis der Relation von Gott und Leid, da die traditionellen Deutungsmuster für ihn inakzeptabel geworden sind. Aber dennoch eröffnet ihm gerade die Klage an den fernen Gott angesichts der durch seine Not ausgelösten Schreckensstarre einen Zugang zu Gott, wie C. de Vos herausstellt:
Gottesvorstellungen im Klagepsalm des Einzelnen
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„Der Betroffene selbst hat keine Kraft mehr, er sieht keine Möglichkeit, selber etwas zur Wende seiner Not beizutragen, außer dem Klagen. Das zeigt, wie abhängig der betende Mensch von Gott ist. Sein Leben ist auf Gottes Nähe angewiesen.“1
Ihre These ist relevant: Die totale Abhängigkeit von Gott hat zur Folge, dass sich der Mensch in seiner Not ausschließlich auf Gott hin orientiert. Die Klage veranschaulicht einen Vertrauensakt als totale Abhängigkeit von Gott. Seine Reaktion auf die existentielle Leidenssituation ist einerseits die Selbstbeschreibung, die Schilderung des gestörten und zerstörten Ichs, das aus Ängsten vor seinem Gotteszweifel und der feindlichen Gottesvorstellung in Schreckensstarre gefallen ist. Andererseits geht es aber auch um die Befreiung von den Urhebern der Ängste. Im Klagepsalm des Einzelnen sind daher Bilder der Angst und Hoffnung so intensiv miteinander verwoben, dass das Eintauchen in diese Bildwelt geradezu Kräfte im Leidenden freizusetzen vermag. 2 Die Klage schildert einen verzweifelten Überlebenskampf, denn der Beter weiß, dass er in seiner Ohnmacht weder etwas gegen seine Widersacher ausrichten kann, noch auch selbst die Kraft hat, etwas zur Wende seiner Not beizutragen. In der Konzeption des leidenden Beters in den untersuchten Psalmen wird erkennbar, dass nur ihr Festhalten an JHWH ihren Selbststand ermöglicht. 1. Für seine Mitmenschen war die Möglichkeit, dass der Beter von Psalm 3 in seinem Leid noch Gemeinschaft mit seinem Gott ~yhila { ? hat, nicht nur fraglich, sondern bereits grundsätzlich in Frage gestellt.3 Denn für ihr Bewusstsein in der historischen Notsituation erschöpft sich die Gegenwart Gottes in derjenigen Gestalt, in der er für sie bislang fassbar geworden ist – für sie ist die Zukunft verschlossen.4 Damit machen sie dem Beter Angst und vergrößern seine Qual; und diese Not provoziert die radikale Frage nach der Göttlichkeit JHWHs. In seiner Klage und Anklage, in der auch Protest gegen die Umwelt mitklingt, entwickelt der Beter sein Gottesbild. Sein Protest gründet in seiner Erinnerung an Gottes früheres Heilshandeln (V. 4), weshalb er seinem Gott treu bleiben kann, denn er kann so hoffen, dass er ihn auch aus der gegenwärtigen Not erretten wird. Der Selbststand des Beters beruht auf seiner Erinnerung an eine identitätsstiftende Erfahrung (V. 4.5-6.8). Der Gott, der ihm so präsent wird, ist dem Leidenden – trotz seiner temporären Verborgenheit - in Liebe zugewandt. JHWH ist 1 2 3
4
C. de Vos, a.a.O., 224. Vgl. E. Zenger, Gewalt überwinden, 52. Vgl. B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur priesterschriftlichen Sühnetheologie, WMANT 55, Neukirchen-Vluyn 20002, 355. Vgl. G. Neuhaus, Frömmigkeit der Theologie, 91.
230
Schlussüberlegungen
Garant seiner Ehre und sein Schild, und er wird durch seinen erwarteten Eingriff sein Haupt wieder erheben. So kann der Beter trotz des aktuellen Leidens an JHWH als dem einen einzigen Gott festhalten. Durch seinen Selbststand, der zugleich Protest gegen die gegnerische Gottesvorstellung ist, hat er zu einem monotheistischen Verständnis der Einzigkeit Gottes gefunden. Damit verändert sich auch das Verständnis jener Situation, die durch die Ängste des Beters - sowohl vor seinem Gotteszweifel als auch vor der Gottesvorstellung der Feinde entstanden ist. Dabei entlarvt er auch das tendenziell polytheistische Denken seiner Umwelt, die behauptet: „Es gibt keine Rettung für ihn bei Gott!“ Ihre Auffassung basiert auf der familiären Gottesbeziehung und –erkenntnis, die von partiellen und funktionalen Gotteseigenschaften geprägt ist.5 Entscheidend ist für sie die Möglichkeit der Aufkündbarkeit des Verhältnisses, wenn die Gottheit ihrer Aufgabe nicht gerecht wird, was für sie in dieser Situation der Fall gewesen sein dürfte. Die Polemik des Beters dagegen mündet in die Anerkennung bzw. Proklamation JHWHs als des einen Gottes, der seine Macht in der Zukunft erweisen wird, um sich so zu bewahrheiten. Der Weg des Beters zum monotheistischen Denken entwickelt sich durch die Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, 6 seine Polemik bereitet somit ein Neuverständnis der Einzigkeit Gottes vor. Die unbeirrbare Orientierung am Begriff der göttlichen Treue lässt darum diesen Gott auch dort ansprechbar bleiben, wo der Gläubige wegen der aktuellen Erfahrung diese Treue nicht mehr zu spüren vermag. Denn dann ist er in der Lage, die erfahrene Abwesenheit Gottes als Klage vor Gott zu bringen.7 Der Beter traut JHWH also eine Form der Gegenwart zu, welche die Grenzen seines Bewusstseins übersteigt, 8 doch das jetzt verborgene Antlitz kann sich ihm jederzeit wieder zuwenden. Es ist ja immer da – und diese Vertrauensgewissheit beruht auf seiner früheren Erfahrung. Auf diesem Vertrauen zum einen Gott hw"hy> als seinem Gott9 beruht sein monotheistisches Denken, das durch den Rekurs auf 5 6
7 8 9
M. Weippert, Jahwe und die anderen Götter, FAT 18, Tübingen 1997, 11f. Vgl. J. van Oorschot, „Höre Israel ...!“ (Dtn 6,4f.) Der eine und einzige Gott Israels im Widerstreit, in: M. Krebernik/ J. van Oorschot (Hg.), Polytheismus und Monotheismus in den Religionen des Vorderen Orients, AOAT 298, Münster 2002, 130. Nun setzt sich nach dem Verlust von Königtum und Tempel im Jahr 587 v. Chr. tatsächlich immer stärker ein Glaube an die Einzigkeit JHWHs durch (Dtn 4), wodurch die Geburtsstunde des biblischen Monotheismus in eine Zeit der Niederlage und Zerstreuung fällt. G. Neuhaus, Frömmigkeit der Theologie,102. Ebenda. H. Vorländer, Mein Gott, 233; vgl. auch J. Goldingay, Psalms, 111: „Shield can be accompanied by reference to Yhwh´s being a help or a deliverance, as in v. 2 here, so that v. 3 directly confronts that jibe. ‘About me’ strengthens the point.“
Gottesvorstellungen im Klagepsalm des Einzelnen
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die kollektive Gotteserfahrung des Heils, die vom heiligen Berg ausgehen wird, noch bekräftigt wird. Aus diesem Glauben resultiert zugleich eine theologische Theodizeefrage, wobei es auch um das Wirklichkeitsverständnis geht. Dabei ist es entscheidend, dass der Beter in all seine negativen Erfahrungen, die er mit Gott macht, Gott in seine Auseinandersetzung hineinnimmt. In seinem Leidenskampf wehrt er sich, indem er die Theodizeefrage an Gott richtet. Ihr Zentrum ist, dass der Beter die Hoffnung auf das Wiedererlangen von Leben und Heil, sowie die Wiederaufnahme in die Gesellschaft nicht nur in seiner Klage, sondern auch in der Anklage an den einen und einzigen Gott ausdrückt. 2. Um die Klage des Beters in Psalm 38 zu begreifen, ist bisher immer wieder das Sündenbekenntnisses ins Zentrum gerückt worden, wodurch der Text einzig im Horizont des „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ gedeutet werden konnte. Das Bekenntnis bildet unbestreitbar den Schwerpunkt der Auseinandersetzung im Streit um das Gottesbild, was sowohl für den Beter als auch seine Feinde gilt. Er wendet sich den Menschen seiner Umwelt zu, die ihn als zu Feinden gewordene Nächste wegen seines Leidens angreifen - sie sind dabei für ihn sogar zu Todfeinden geworden. Gerade weil das Sündenbekenntnis verschiedene Funktionen im Verhältnis zwischen dem Beter und seinen Feinden erfüllt, hat es grundsätzliche Bedeutung für die theologische Konzeption. Im Psalm verbindet sich das Sündenbekenntnis als Ausdruck der Reue mit weiteren Textelementen, die zumeist zu wenig beachtet worden sind, weshalb die Sünde als primäre Ursache seiner Krankheit nicht allein zentral für das Verständnis entscheidend ist. Sein Leidensverständnis und Sündenbekenntnis vor Gott (V. 2-10) setzt der Beter der Feindschaft der Mitmenschen (V. 11-15) im Konflikt über das Krankheitsverständnis (V. 18. 21) entgegen. Diese verstehen es als Schuldeingeständnis, woraus ihr feindliches Verhalten und die zerstörte Gemeinschaft resultieren (V. 12-23). Für ihr Denken geht seine Not im Rahmen des „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ auf göttliche Vergeltung zurück. Der Beter polemisiert gegen ihr Verständnis und wendet sich zugleich gegen eine Gottesvorstellung, die Gott nur mittels dieser Vorstellung versteht und so begrenzt. Der Beter stellt sein Leidens- und Sündenverständnis als Selbsteinkehr vor Gott dar (V. 2-10) und konkretisiert den Konflikt mit seiner Umwelt (V. 16-23) durch seine konträre Gottesvorstellung. Die Klage ist keine einfache Entfaltung des Zusammenhanges von Sünde und Strafe und auch keine schematische Zuschreibung der Verantwortung entweder auf Gott oder den Beter, sondern ein Überlebenskampf gegen die Schreckensstarre angesichts des Gottesverständnisses seiner Umwelt. In seiner Klage wird deutlich, dass Gott sich nicht darauf begrenzen lässt, wie er im traditionel-
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Schlussüberlegungen
len Tun-Ergehen-Zusammenhang fassbar geworden ist. Darum entwickelt er im Licht seines Selbststandes sein Gottesbild. Indem er als ein durch Not getroffener Mensch vor Gott seine Sünden bekennt und so aus der Tiefe zu ihm schreit, bestimmt er sein Selbstbild. Er verbindet das Motiv des Eingreifens Gottes mit dem Festhalten an seinem einen und einzigen Gott hw"hy>. Dementsprechend drückt er in der Gott-Klage die Hoffnung aus, dass Gott der Not ein Ende setzen wird. Er stellt die Theodizeefrage, die nicht der Logik von Sünde und Strafe folgt, sondern seinen monotheistischen Glauben ausdrückt. Seine Intention ist es so zu zeigen, dass Gott den traditionellen Vorstellungsrahmen sprengt, was seine Umwelt dazu bringen soll, nicht nur Gott, sondern auch seine Not anders wahrzunehmen. 3. Kann Gott den Leidenden auch noch aus der Totenwelt erretten? Gehört auch sie zu seiner Machtsphäre? Psalm 88 versucht das traditionelle Verständnis zu überwinden. Die Mitmenschen des Beters verstehen seine Not als endgültiges Abgeschnittensein von Gott, weshalb sie ihn bereits zu den Toten zählen. Der Beter entwickelt hingegen eine ganz andere Vorstellung. Im Konflikt ist darum der Kontrast der Gottes– und Totenweltvorstellungen zentral. Im Diskurs über die Totenwelt legt der Beter dar, wie seine Erfahrungen und Erwartungen in der Auseinandersetzung mit den Dritten gedeutet werden sollen: Aufgrund seiner Gewissheit, dass Gott selbst ihn in diese Not versetzt hat, rechnet er damit, dass der eine Gott ihn darum auch aus ihr erretten kann. Ziel seiner Polemik ist die Gottesvorstellung der Umwelt. Die Problematisierung der traditionellen Totenwelttopik führt zur Wahrnehmung der Begrenztheit überlieferter Lebens- und Glaubensformen. Das unheilvolle Geschick des Beters führt ihn zu einem neuen Verständnis der Gottesmacht in der Totenwelt. So kann er seinen Glauben an die unveränderliche Zuwendung des einen einzigen Gottes bewahren.10 Gegen das Urteil der Dritten will er darum so auch eine andere Betrachtung seines Lebens durchsetzen. In seiner Feind-Klage wird sichtbar, dass seine Umwelt Leiden, Sterben und Tod nicht mit dem Gott des Beters verbinden kann (V. 5f).11 Ihr Urteil droht zum Trauma zu werden, obwohl er keinen Zweifel am Ursprung seiner Not lässt, womit er implizit auch zeigt, wie JHWH in sein Leiden verwoben ist. In der Kritik am Gedankengang der Dritten gewinnt der Beter seinen Selbststand. Seine Ferne von Gott kann nur durch die Gunst des Gottes aufgehoben werden, der sie verursacht hat, darum wartet er auf seinen Gott JHWH. 12
10 11 12
Vgl. J. B. Metz, Theologie als Theodizee?, 118. Vgl. B. Janowski, Der Gott des Lebens, 228. Vgl. E. Busch, Verbindlich von Gott reden, 273.
Monotheistisches Denken und Theodizeefrage im Klagepsalm
233
B) Monotheistisches Denken und Theodizeefrage im Klagepsalm Die Klagen der drei ausgewählten Psalmen sind nur selten als eine Möglichkeit angesehen worden, die zum Verstehen der Genese des Monotheismus und der Theodizeefrage beitragen könnte. Doch wenn man ihr Gottesbild untersucht wird deutlich, dass es vom Streit um die Göttlichkeit JHWHs geprägt ist. Die traditionelle Auffassung von Gerechtigkeit im Primärgruppenbereich als Grundsatz der Gegner kollidiert mit dem neuen Verständnis der Klagenden, das sich gegen ihr latent polytheistisches Denken wendet. Sichtbar wird, dass ein von Not getroffener Mensch nicht nur seine Schreckensstarre als Reaktion auf die Gottesvorstellung der Feinde, sondern auch seinen Gotteszweifel überwindet, denn durch seine insistierende und unbeirrbare Treue zu JHWH entwickelt er ein neues Gottesbild. Dieses ist monotheistisch geprägt, und obwohl es die immanenten Linien der traditionellen Gottesvorstellung auszieht, geht es über sie deutlich hinaus. So kann der Leidende nicht nur an dem einen Gott JHWH festhalten, sondern ihn auch neu verstehen. Dadurch werden alle anderen Gottheiten negiert, bzw. deren Funktionen von JHWH übernommen. So führt die Treue zu Gott – trotz oder gerade wegen der aktuellen Noterfahrung! – zum Glauben an den einen einzigen Gott JHWH. Das Erstaunliche ist, dass die Gottheit JHWHs immer komplexer und machtvoller wird, obwohl die historischen Erfahrungen dem eigentlich widersprechen müssten. Aber die negativen Erfahrungen bewirken gerade dies bei den Betern: Gegenüber den familiären Gottheiten seiner Umwelt setzt sich JHWH als der einzige Gott durch und erweitert so seine „Einflusssphäre“, denn er ist nun allein auch für das Leiden und die Errettung zuständig, ja seine Macht erstreckt sich auch über die Totenwelt. Diese Machtsteigerung evoziert dann aber auch notwendig monotheistische Denkmotive und die Theodizeefrage. Wenn ein Gott für alles zuständig ist, ist das Vertrauen auf JHWH, das Festhalten an ihm unabdingbar. Dabei ist es nicht auschlaggebend, ob der Beter angesichts des Leidens gerechtfertigt werden muss, sondern vielmehr steht im Vordergrund, dass das Leiden nicht länger auf andere Gottheiten zurückzuführen ist; und vor allem können nicht länger mehr andere Größen gegen JHWH gesetzt werden. Zugleich entsteht so auch ein neues Zeitverständnis, denn JHWH muss seine Göttlichkeit in und gegen die Wirklichkeit erweisen, wodurch die Bedeutung der Zukunft immens gesteigert wird, da JHWH sich im Horizont des Vertrauens bewahrheiten muss.
234
Schlussüberlegungen
1. Das Gottesbild der Klage in Psalm 3 ist von der Theodizeefrage und monotheistischen Motiven geprägt. Wenn der Beter an hw"hy> als seinem Gott festhalten will, muss er neue Wege beschreiten, um dessen Einzigartigkeit im Horizont der tendenziell polytheistischen Gottesvorstellung der Umwelt zu profilieren, darum ist der Wirkungsbereich JHWHs nicht länger funktional begrenzbar. Bestand seine Einzigkeit bis dahin in seiner Unvergleichlichkeit mit anderen Göttern, die dennoch als existent galten, so wird sie nun monotheistisch radikalisiert; die Gottesvorstellung der gegnerischen Umwelt ist hingegen immer noch der familiären Gottesbeziehung und -erkenntnis verhaftet. Dies erzwingt es sodann aber auch, hw"hy> mit dem Leiden zu verbinden – was ihm eine „dunkle Seite“ verleiht, was aber dazu nötigt, die Erfahrung der Abwesenheit Gottes wiederum vor Gott zu beklagen, wodurch eine neue Form seiner Präsenz erlangt wird. Ermöglicht wird dies durch die Erinnerung an frühere Heilserfahrungen mit hw"hy. Das Gottesbild zielt somit auf einen Gott, dessen Macht und Güte traditionelle Vorstellungen weit überschreitet. Aus dem monotheistischen Denken ergibt sich aber zugleich die Theodizeefrage. Aber der Beter führt keine abstrakte Debatte, sondern zieht Gott in seine Auseinandersetzung hinein, denn er weigert sich seine Not mit einem scheinbar sinnvollen Ganzen zu verrechnen. So drückt er seine Hoffnung auf die Wiedererlangung von Leben und Heil als Anklage Gottes an Gott aus, um dessen erneute Zuwendung einzuklagen. 2. Psalm 38 ist durch die Themen „Krankheit“ und „Sünde“ strukturiert. Seine Umwelt reagiert feindlich auf den Klagenden, da sie seine Not einzig durch den Tun-Ergehen-Zusammenhang deutet. Die Gottheit hat auf dessen Verfehlungen reagiert, indem er nicht mehr vor Unglück beschützt wird. 1 Die Krankheit wird von den Gegnern im Rahmen der Vorstellung eines vergeltenden Gottes gedeutet.2 Dies Urteil verschärft die Not des Beters, aber indem er ihre Feindschaft als Trug, Lügenhaftigkeit und Falschheit bestimmt, zeigt er, dass ihr Angriff auf einem unangemessenen Leidensverständnis beruht. Die Leidenserfahrung erzwingt es also, Gottes Gerechtigkeit anders zu verstehen. Der Konflikt der Antagonisten gewinnt seine Schärfe gerade durch die Tatsache, dass beide Parteien sich auf denselben Gott beziehen. Doch trotz des an sich gemeinsamen Gottes stehen sich nun zwei konträre Gottesbilder gegenüber, da der Beter den erlebten Zorn Gottes zu verstehen sucht, indem er an Gott eine dunkle Seite entdeckt, deren Rätselhaftigkeit ihn zur Theodizeefrage nötigt, denn sonst könnte er seine Erfahrungen nicht länger mit Gott verbinden. Für das Verstehen seines Gottesbildes eignet sich darum weder der Tun-Ergehen13 14
Vgl. z.B. Num 5,12-31; Jos 7. Vgl. C. de Vos, a.a.O., 69. Vgl. auch Ps 38; 51; 130.
Monotheistisches Denken und Theodizeefrage im Klagepsalm
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Zusammenhang noch die Vorstellung eines vergeltenden Gottes, denn sein Schuldbekenntnis dient ihm primär zum Festhalten an Gott, dessen Ziel ist das Wiedererlangen eines heilen Gottesverhältnisses. 3 Es geht ihm so also eine neue göttliche Wesensbestimmung. Seine Umwelt will jedoch nicht in einer Welt leben, in der die Menschen das göttliche Handeln nicht restlos nach zu Dogmen geronnenen Erfahrungssätzen deuten können, weshalb ihre Argumentation immer wieder auf den persönlichen „Tun-ErgehenZusammenhang“ zurückgreift (V. 19-20a). Darum ist für sie der Vorwurf, dass Gottes Handeln nicht immer mit dem klaren Maß von gerecht oder ungerecht zu verstehen sei, völlig unverständlich. Sein Leiden macht es für sie evident, dass der Kranke schuldig und somit verantwortlich ist. Und diese Gewissheit erweist für sie die Frage nach Gottes Gerechtigkeit als unberechtigt und überflüssig. In diesem Kontext stellt der Beter die Theodizeefrage. In seinem Leidenskampf wehrt er sich,4 indem er sie als Anklage an und gegen Gott richtet. In ihrem Zentrum steht die Hoffnung auf das Wiedererlangen von Leben und Heil durch Gott, sowie die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft. Dadurch wird seine Theodizeefrage zum Ausdruck seiner Frömmigkeit, denn ihre Zulassung nötigt nicht nur zum Neuverständnis des Tun-Ergehen-Zusammenhangs und der Wirklichkeit, sondern gerade auch der Gottesvorstellung. Gottes Wahrheit wird sich nun erst in der Zukunft erweisen, da die gegenwärtige dunkle Gotteserfahrung nicht die seines wahren Wesens ist. 3. Psalm 88 verdeutlicht abermals den Konflikt der unterschiedlichen Gottesvorstellungen. Der tiefsitzenden Resistenz des Beters gegen das tendenziell polytheistische Denken seiner Umwelt steht sein Glauben an den einen Gott JHWH gegenüber. Traditionell gesehen sind die Toten von Gott isoliert. Dagegen schreit der Beter an, denn er hofft auf ein Wunder Gottes an ihnen. Seine Fragereihe ist deshalb eine Form des Protestes gegen seine Bedrängnis und Angst, doch durch die Fragen stärkt er zugleich auch seinen Selbststand. Für die Gottesvorstellung der Dritten bildet der Tod allerdings eine unaufhebbare Grenze für Gottes Macht, was die Vorstellung anderer Mächte evoziert. Er wäre so zwar ein „Gott der Lebendigen“, aber nicht mehr ein „Gott der Toten“.5 Der Beter expliziert sein Ziel deutlich: Wenn Gott die Verstorbenen in die Scheol geführt hat (V. 7-9), sind sie dort nicht anderen Mächten unterworfen, denn sie ist auch ein Bereich, in dem JHWH alleiniger Herr ist. Hier kann man den spannenden Erkenntnisprozess verfolgen, wie der Psalmist schrittweise zu einer immer tieferen Einsicht in Wesen und Wahrheit des 15 16 17
Vgl. F. Lindström, Suffering and Sin, 320. Vgl. J. Goldingay, Psalms, 550. D. Michel, Ich aber bin immer bei dir, 156.
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Schlussüberlegungen
den Tod überwindenden Gottes gelangt, 6 wodurch seine Klage einen neuen Schritt im alttestamentlichen Todesverständnis einleitet. Die Wirkmächtigkeit JHWHs in der Totenwelt ist grundlegend für seinen Glauben als Selbststand. Er erwartet seine Auferstehung aus der Totenwelt, die Auferstehung der Toten wird möglich. Der abschließenden Leidensschilderung (V. 16-19) kommt für die Theodizeefrage entscheidende Bedeutung zu, denn der Beter beharrt darauf, dass er selbst keine Veranlassung zum göttlichem Zorn gegeben hat, folglich hat er sein Leiden nicht verdient, sondern die Schicksalsschläge unschuldig empfangen. Indem er sich in der Leidenssituation einzig auf den einen Gott ausrichtet und an ihm festhält, gewinnt er die Möglichkeit, sich der Gegenwart Gottes zu vergewissern. Er vertraut auf Gott und hofft auf Heilung und Rettung. Dadurch verstärkt sich sein monotheistisches Denken, da ihn seine Lebensnot nicht nur vor die Frage stellt, wo Gott ist und ob er ihn verlassen und einer Welt voller Ungerechtigkeit und Missachtung überlassen hat, sondern auch was sein Ich angesichts der Krankheits- und Schmerzerfahrung im Blick auf die negative Gotteserfahrung tun kann und muss. Der Beter eröffnet sich einen Weg, der ihn nicht in die Gottesverlassenheit, sondern zur unveränderlichen Zuwendung Gottes führt. Trotz literarischer und theologischer Differenzen lässt sich in den ausgewählten Klagepsalmen des Einzelnen ein kohärenter Zusammenhang im Gedankengang der Leidenden erkennen. Es werden im Streit jeweils Erfahrungen formuliert, durch die sich monotheistische Denkmotive entwickeln, um so neuartig nach Gottes Gerechtigkeit zu fragen, was zugleich eine Bewältigung des Leidens ermöglicht. Die Beter glauben unbeirrbar, dass sie der einzige, wahre Gott JHWH aus ihrem Leiden erretten kann und sie wegen ihres Glaubens tatsächlich erlösen wird. Und diese künftige Errettung wird als kommende Bewahrheitung der Göttlichkeit JHWHs verstanden.
C) Die Entwicklung zum Monotheismus im Horizont der Zukunft Gerade auch im Klagepsalm des Einzelnen besteht ein enger Zusammenhang zwischen Leidensverständnis und Gottesbild. In scheinbar hoffnungsloser Zeit gelingt es ihren Verfassern, JHWH als den einen einzigen Gott zu bekennen und sich seiner tröstlichen Nähe zu vergewissern. Am Anfang stehen beim Beter 18
G. Kittel, Befreit aus dem Rachen des Todes. Tod und Todesüberwindung im Alten und Neuen Testament, Göttingen 1992, 92.
Die Entwicklung zum Monotheismus im Horizont der Zukunft
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Bilder der Angst, doch dann leistet der getroffene Mensch Widerstand gegen die Schreckensstarre und Angriffe der Umwelt und vergewissert sich so seines Gottvertrauens. 1 Die unbeirrbare Treue zu JHWH ist sein Ausweg aus der Angst.2 Charakteristisch ist, dass der Leidende nicht nur die Gottesvorstellung der Mitmenschen kritisiert, sondern in der Situation der Bedrängnis und Angst ein „neues Gottesbild“ entwickelt. Neu bedeutet aber nicht, dass nun völlig fremde Elemente einbezogen würden, denn es geht vielmehr darum, Implizites bewusst auszuziehen. In Arbeiten zur Therapie von Traumatisierungen spielt der Begriff des „Selbststands“ eine zentrale Rolle. Der „Selbststand“ ist der Ausgangspunkt für ein entscheidendes Element einer heilsamen Kraft. Als ich das las, sprang mir diese Funktion des „Selbststandes“ ins Auge, denn mir wurde deutlich, dass das kämpferische Festhalten an dem einen Gott JHWH im Klagepsalm damit vergleichbar ist. Hier bezeichnen wir mit dem Begriff das, was sich in unterschiedlichen Klageelementen spiegelt, wozu Vertrauensäußerungen und Lobpreis zählen, und die durch die Negation aller anderen Gottheiten außer dem einen einzigen Gott JHWH bestimmt werden. Die Leidenden schreien zum abwesenden Gott, um die Zuwendung seines Antlitzes einzufordern, wodurch sie den gegenwärtigen Abgrund überbrücken. Die aufrechte Beziehung zu JHWH durch den „Selbststand“ ermöglicht ihre Rückkehr aus der Todesnähe ins Leben. Es ist das absolute Vertrauen, dass der eine einzige Gott JHWH die Klage, die auf dramatische Ängste und Schmerzen reagiert, erhört. Damit gewinnt der Beter auch ein neues Zeitverständnis, da die negativ erfahrene Gegenwart durch das zukünftige Heil überwunden werden wird. Die Zukunft ist aber kein unbestimmter leerer Raum, denn nur durch den Rekurs auf frühere Rettungserfahrungen eröffnet sich ihm dieser Zukunftsraum. In diesen Kampf, der mit der Umwelt und Gott zugleich geführt wird, kann und soll hw"hy> als der wahre Gott eingreifen, um nicht nur den Klagenden zu erretten, sondern gerade auch um seine Gottheit zu bewahrheiten.
Zum HERRN rief ich in meiner Not, und er erhörte mich. (Ps 120,1)
18
19
Vgl. I. Baldermann, Ich werde nicht sterben, sondern leben. Psalmen als Gebrauchstexte, WdL7, Neukirchen-Vluyn 1990, 18. C. Westermann, Das Beten der Psalmen und unser Beten. Predigt zum 1. Advent: Psalm 123, Sexauer Gemeindepreis für Theologie, Sexau 1984.
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Schlussüberlegungen Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. (Off 21,4)
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