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German Pages 326 Year 2012
Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Band 50
Der Streit um das Schulkreuz in Deutschland und Italien Weltanschaulich-religiöse Neutralität und laicità des Staates im Vergleich
Von Richard Wiedemann
Duncker & Humblot · Berlin
RICHARD WIEDEMANN
Der Streit um das Schulkreuz in Deutschland und Italien
Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Herausgegeben von Otto Depenheuer · Alexander Hollerbach · Josef Isensee Matthias Jestaedt · Joseph Listl · Wolfgang Loschelder Hans Maier · Paul Mikat (†) · Stefan Muckel Wolfgang Rüfner · Christian Starck · Arnd Uhle
Band 50
Der Streit um das Schulkreuz in Deutschland und Italien Weltanschaulich-religiöse Neutralität und laicità des Staates im Vergleich
Von Richard Wiedemann
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat diese Arbeit im Wintersemester 2010/2011 als Dissertation angenommen.
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Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2010/11 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur sind bis Juli 2010 berücksichtigt; auf die Entscheidung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 18. März 2011 wird in einem Nachwort eingegangen. Allen voran gilt mein Dank meinem Doktorvater und akademischen Lehrer Prof. Dr. Johannes Masing für die Betreuung während der Promotionszeit und die Erstellung des Erstgutachtens, vor allem aber für die Freiheit zur Auswahl des Themas und zum wissenschaftlichen Arbeiten. Weiter danke ich Herrn Prof. Dr. Thomas Würtenberger für die zügige Erstattung des Zweitgutachtens. Den Herausgebern schulde ich Dank für die Aufnahme der Arbeit in die „Staatskirchenrechtlichen Abhandlungen“. Besonders bedanken möchte ich mich bei Herrn Dr. Eike Frenzel und Herrn Dr. Mathias Hong für den wissenschaftlichen Austausch und die konstruktive Kritik. Ebenso gilt mein Dank dem Präsidenten des Verwaltungsgerichts Augsburg und den Kollegen der 4. Kammer für ihr Wohlwollen bei der Fertigstellung der Arbeit. Dies gilt auch für meine Schwester Antonie Wiedemann, bei der ich mich für die Anregungen bei der redaktionellen Korrektur bedanke. Schließlich möchte ich meinen Eltern Martha und Xaver Wiedemann danken, die mich auf dem Weg zur Promotion stets unterstützt und bestärkt haben. Ustersbach, im August 2011
Richard Wiedemann
Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
A. Die Auseinandersetzung um das Kreuz in der Schule vor deutschen und italienischen Gerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I. Die gerichtliche Auseinandersetzung um das Schulkreuz in Italien . . . . 26 II. Die deutsche Auseinandersetzung um das Schulkreuz . . . . . . . . . . . . . . . . 142 III. Die deutsche und italienische Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen im Vergleich . . . . . . . . . . 165 IV. Zusammenfassung und Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 B. Die Auseinandersetzung um das Kreuz in der Schule in der deutschen und italienischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfassungsrechtliche Maßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Welche Art von Symbol sind Kreuz und Kruzifix?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unzulässigkeit oder (nur eingeschränkte) Zulässigkeit des Kreuzes? . . .
204 210 225 239
C. Zusammenfassung, Stellungnahme, Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Stellungnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ausblick: Das Kruzifix vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277 277 280 286
Nachwort zur Entscheidung der Großen Kammer des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die Auseinandersetzung um das Kreuz in der Schule vor deutschen und italienischen Gerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die gerichtliche Auseinandersetzung um das Schulkreuz in Italien . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Frage der Zuständigkeit: ordentliche Gerichtsbarkeit oder Verwaltungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Diskussion um die Rechtsgrundlage des Kruzifixes an italienischen Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsgrundlage: Zwei königliche Dekrete . . . . . . . . . . . . . . . . b) Staat und Religion in Italien – ein historischer Überblick . . . . . . . aa) Vom Statuto zum Konkordat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Kirchenstaat als Hindernis auf dem Weg zum liberalen Nationalstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die liberale Epoche: Die „römische Frage“ bleibt offen (3) Die Lösung der „römischen Frage“ in den Lateranverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die republikanische Verfassung: Religionsfreiheit und staatskirchenrechtliche Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Vorstellungen der verschiedenen politischen Richtungen und Konfessionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Christdemokraten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Katholische Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Liberale und nichtsozialistische Linke . . . . . . . . . . . . . (d) Sozialisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Protestanten und Juden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (f) Kommunisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Annahme des Religionsverfassungsrechts der italienischen Republik: Kompromisse mit christdemokratischer Handschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Art. 7: Kommunisten stimmen mit Christdemokraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Art. 19 und 20: individuelle und kollektive Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Art. 8: Gleiche Freiheit für alle Konfessionen . . . . . . c) Implizite Aufhebung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Gutachten des Staatsrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 21 26 26 29 32 33 35 35 36 42 48 52 54 54 55 56 57 58 59
60 60 61 63 65 65
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Inhaltsverzeichnis bb) Das Gutachten der Anwaltschaft des Staates und der Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Venetien . . . . . . . . . . . . . cc) Der Beschluß des Einzelrichters am Landgericht L’Aquila . . dd) Die Urteile des Verwaltungsgerichts Venetien und des Staatsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bloße Verordnung oder „Vorschrift mit Gesetzeskraft“? . . . . . . . . . e) Eine Antwort des italienischen Verfassungsgerichtshofes . . . . . . . . 4. Weltanschaulich-religiöse Neutralität und laicità des Staates in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Konzept der laicità in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Herleitung der laicità . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die inhaltliche Bedeutung der laicità . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Scheidung von weltlicher und religiöser Ordnung. . . . . . . (2) Nicht Gleichgültigkeit gegenüber dem Religiösen sondern Schutz der Religionsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Gleichbehandlung der Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Laicità als Verfassungsprinzip höchsten Ranges und Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die weltanschaulich-religiöse Neutralität in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Herleitung und Begründung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die inhaltliche Bedeutung der weltanschaulich-religiösen Neutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Scheidung in der Wurzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulichreligiöser Überzeugungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Gleichbehandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Argumentation mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Weltanschaulich-religiöse Neutralität als Prüfungsmaßstab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die weltanschaulich-religiöse Neutralität als Mittel zur Auslegung und Bestimmung des Inhalts verfassungsrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weltanschaulich-religiöse Neutralität und laicità des Staates im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gemeinsame Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ähnliche Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66 67 68 69 72 73 74 74 76 79 79 81 83 86 89 91 91 92 96 96 100 102
103 104
108 111 111 112
Inhaltsverzeichnis cc) Normenhierarchie und Argumentationsmuster: Besonderheiten und gemeinsame Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit: Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der laicità? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Beschluß des Einzelrichters am Landgericht L’Aquila . . . . . . b) Der Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Venetien . . . . . . . . . c) Das Urteil des Verwaltungsgerichts Venetien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das abschließende Urteil des Staatsrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die deutsche Auseinandersetzung um das Schulkreuz . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erste Phase: Die Auseinandersetzung um § 13 Abs. 1 S. 3 VSO . . . a) Der Beschluß des Verwaltungsgerichts Regensburg . . . . . . . . . . . . . b) Der Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Juni 1991 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die abweichende Ansicht des Sondervotums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. September 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zweite Phase: Die Auseinandersetzung um Art. 7 Abs. 3 BayEUG a) Die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs . . . . . b) Die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. November 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . III. Die deutsche und italienische Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen im Vergleich . . . . . . . 1. Neutralität und laicità in der Rechtsprechung zum Kreuz in Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Herleitung von Neutralität und laicità . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhaltliche Bedeutung von Neutralität und laicità . . . . . . . . . . . . . . 2. Prüfungsmaßstäbe für die Zulässigkeit von Kreuzen in öffentlichen Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Kreuz: ein mehrdeutiges Symbol? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Bedeutung des Kreuzes: religiöses oder kulturelles Symbol? b) Die Wirkung des Kreuzes: aktives oder passives Symbol? . . . . . . 4. Argumente für und gegen die Zulässigkeit von Kreuzen in öffentlichen Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Argumente für das Kreuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Argumente gegen das Kreuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung und Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
119 121 122 122 127 130 136 140 142 142 142 143 144 146 148 150 151 152 156 157 160 165 168 168 170 176 180 181 185 188 188 193 197
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Inhaltsverzeichnis 1. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 2. Folgerungen im Hinblick auf die Grundsätze der weltanschaulichreligiösen Neutralität und laicità des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
B. Die Auseinandersetzung um das Kreuz in der Schule in der deutschen und italienischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfassungsrechtliche Maßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verletzung der negativen Religionsfreiheit oder Garantie von weltanschaulich-religiöser Neutralität bzw. laicità des Staates? . . . . . . . . . 2. Neutralität und laicità – Distanz und Offenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gegenüberstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Welche Art von Symbol sind Kreuz und Kruzifix? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Religiöse oder kulturelle Bedeutung des Symbols? . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aktive oder passive Wirkung des Symbols?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unzulässigkeit oder (nur eingeschränkte) Zulässigkeit des Kreuzes?. . . . 1. Deutschland: Kritik am Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) . . . und viel Tadel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösungsvorschläge aus der deutschen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Generelle Verfassungswidrigkeit der Anbringung von Schulkreuzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ungeschmälerte Zulässigkeit der Anbringung von Schulkreuzen. . c) Vermittelnde Lösungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Abwägungs- und Widerspruchslösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Weitere Lösungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Italien: Auseinandersetzung mit Status quo und verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wenige Befürworter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) . . . und viele Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Lösungsvorschläge aus der italienischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Völlige Unzulässigkeit der Anbringung von Kreuz und Kruzifix . b) Bayerische Lösung all’italiana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Widerspruchs- bzw. Dialoglösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Autonome Entscheidung der betroffenen Schule . . . . . . . . (3) Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Pluralität von Symbolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
204 210 210 216 216 221 223 225 225 232 239 240 240 241 245 245 247 248 248 251 252 253 254 258 258 262 263 264 265 268 269 271
C. Zusammenfassung, Stellungnahme, Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 I. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 II. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
Inhaltsverzeichnis
15
III. Ausblick: Das Kruzifix vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1. Die Kammerentscheidung vom 3. November 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2. Elemente der nationalen Diskussion auf europäischer Ebene . . . . . . . 290 Nachwort zur Entscheidung der Großen Kammer des EGMR. . . . . . . . . . . . . 294 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
Abkürzungsverzeichnis 1. Deutsche Abkürzungen Anm. AöR Aufl. BayEUG BayVBl. BayVerfGH BayVGH Bd. BGB BV BVerfG BVerfGG BVerwG DÖV DVBl. EGMR EMRK EuGRZ FS GG HbStR Hrsg. it. Verf. JA JöR n. F. JR JuS JZ KJ KritV LABV NJW
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Einleitung Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft. [. . .] Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. (1 Kor 1, 18–24)
Die bekannte Stelle aus Paulus’ erstem Korintherbrief stellt zunächst die Bedeutung von Christi Tod am Kreuz für den christlichen Glauben heraus. Paulus verkündigt einen der zentralen Momente des christlichen Heilsgeschehens. Im gleichen Atemzug sind Paulus aber auch die unterschiedlichen Bewertungen bewußt, die seine Umgebung hierfür bereit hält: was für die einen Ausdruck von Gottes Kraft und Weisheit ist, ist für die anderen Torheit und Ärgernis. Die Feststellung, die Paulus bezogen auf seine Verkündigung macht, scheint jedoch auch für die symbolhafte Darstellung des Geschehens von Golgotha, für das Kreuz, zu gelten. Es ist nicht nur schlechthin zum Erkennungszeichen des Christentums geworden. Auch die Reaktionen und Bewertungen haben sich seit der Zeit Paulus kaum verändert und umfassen nach wie vor ein Spektrum von Zustimmung über Unverständnis bis hin zu Ablehnung. Daß das Kreuz auch heute noch diese starken Emotionen auszulösen vermag, ist in den letzten beiden Jahrzehnten nicht zuletzt an der in Deutschland wie in Italien mit großer Heftigkeit geführten Auseinandersetzung um die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen deutlich geworden. Schon allein diese Heftigkeit der Debatte könnte Anlaß zu einem Vergleich der juristischen Auseinandersetzung um das Kreuz in den Schulen beider Länder sein. Die besondere Eignung des Themas für eine rechtsvergleichende Untersuchung ergibt sich jedoch auch aus anderen Faktoren. Immer wieder wurde in rechtsvergleichenden Untersuchungen das Kooperationsmodell des deutschen Staatskirchenrechts der Rechtslage in Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika mit ihren sogenannten Trennungsmodellen gegenübergestellt. Was das im Rahmen des Vergleichs herangezogene Fallmaterial betrifft, wurde die Kruzifixentscheidung des Bundesverfassungsgerichts in den Blick genommen, um sie anschließend mit
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Einleitung
anderen Sachverhalten wie Krippen oder Tafeln mit den zehn Geboten (USA) oder dem Kopftuch muslimischer Schülerinnen (Frankreich) zu vergleichen. Auch wenn der Vorwurf hier seien die sprichwörtlichen „Äpfel mit Birnen“ verglichen worden, zu hoch gegriffen sein mag, bleibt es doch dabei, daß relativ unterschiedliche Sachverhalte aus Ländern mit recht verschiedenen staatskirchenrechtlichen Systemen zum Gegenstand des Rechtsvergleichs gemacht worden. Anders verhält es sich beim Vergleich der deutschen und italienischen Auseinandersetzung um die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen. Es eröffnet sich die Chance, zwei weitgehend identische Sachverhalte und die darum entstandenen juristischen Kontroversen vor dem Hintergrund zweier staatskirchenrechtlicher Systeme, die – wie zu zeigen sein wird – beide durch die Offenheit gegenüber den religiösen Anliegen ihrer Bürger geprägt sind, rechtsvergleichend zu untersuchen. Im folgenden soll daher zunächst die in beiden Ländern ergangene Rechtsprechung in den Blick genommen werden. Nach einer kurzen Darstellung der historischen Wurzeln des Staatskirchenrechts der italienischen Republik werden in diesem Rahmen auch die verfassungsrechtlichen Grundsätze der weltanschaulich-religiösen Neutralität und der laicità des Staates, auf die im Streit um das Schulkreuz von verschiedener Seite immer wieder Bezug genommen wurde, einander gegenübergestellt. Anschließend sind die Beiträge der Rechtswissenschaft beider Länder zu diesem Thema in den Blick zu nehmen und miteinander zu konfrontieren, bevor ein abschließender Rechtsvergleich erfolgen kann. Zuletzt wird schließlich der Blick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu richten sein, der von den italienischen Verfahren ausgehend inzwischen ebenfalls mit der Sache befaßt wurde.
A. Die Auseinandersetzung um das Kreuz in der Schule vor deutschen und italienischen Gerichten Ist in der Bundesrepublik vom „Kruzifixurteil“ die Rede, so ist damit in aller Regel der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 19951 gemeint, der durch die kontroverse nicht nur rechtswissenschaftliche2 1
BVerfGE 93, 1. H. Amberg, Die Entwicklung des Schulrechts in Bayern seit 1985, RdJB 1995, S. 85, 88; ders., Die Entwicklung des Schulrechts in Bayern von 1995 bis 1997, RdJB 1998, S. 115 ff.; H. Anke/T. Severitt, Glaubensfreiheit unter dem Schulkreuz – Zur „Kruzifix-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts, VR 1996, S. 37 ff.; E. Benda, Wirklich Götterdämmerung in Karlsruhe?, NJW 1995, S. 2470 f.; ders., ZRP-Rechtsgespräch – „Das Kruzifix-Urteil ist apodiktisch“ –, ZRP 1995, S. 427 ff.; J. Berkemann, Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JR 1995, S. 446, 448 f.; A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 121 (1996), S. 448 ff.; ders., Das bundesdeutsche Modell des Verhältnisses von Staat und Kirche – Trennung und Kooperation, ZevKR 42 (1997), S. 169, 178 ff.; G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, seine Ursachen und seine Bedeutung, NJW 1995, S. 3348 ff.; ders., Der Kruzifix-Beschluß zwischen Neutralität und Glaubensförderung sowie als Spielball der Emotionen, ZRP 1996, S. 201 ff.; ders., Crux bavarica – Der BayVerfGH, das BVerfG, das Kreuz im Klassenzimmer und die religiös-weltanschauliche Neutralität, KJ 1997, S. 490 ff.; ders., Das bayerische Kruzifix-Gesetz und die Entscheidung des BayVerfGH vom 1.8.1997 – Religionsverfassungsrecht im Spannungsverhältnis von Bundesrecht, Landesrecht und Verfassungskultur, DÖV 1998, S. 107 ff.; W. Eberl, Wer nicht für mich ist, der ist wider mich – Oder: Die Mehrheit bittet um Toleranz, Anmerkung zu BVerfG, Beschluß v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91, BayVBl. 1996, S. 107 ff.; M. Eichberger, Religionsfreiheit – Tagung der Internationalen Juristen-Kommission (Deutsche Sektion) vom 29.9 bis 1.10.1995 in Erfurt, JZ 1996, S. 85 f.; W. Flume, Das „Kruzifixurteil“ und seine Berichtigung, NJW 1995, S. 2904; M.-E. Geis, Geheimme Offenbarung oder Offenbarungseid? – Anmerkungen zum „Kruzifix-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts, RdJB 1995, S. 373 ff.; H. Goerlich, Krieg dem Kreuz in der Schule?, NJW 1995, S. 1184 ff.; C. Gusy, Kopftuch – Laizismus – Neutralität, KritV 2004, S. 153, 165 ff.; M. Heckel, Das Kreuz im öffentlichen Raum. Zum „Kruzifix-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1996, S. 455 ff.; D. Heckmann, Eingriff durch Symbole? – Zur Reichweite grundrechtlichen Schutzes vor geistiger Auseinandersetzung, JZ 1996, S. 880 ff.; O. Höffe, Das Grundgesetz nur auslegen – Wieviel Politik ist dem Verfassungsgericht erlaubt, JZ 1996, S. 83, 84 ff.; F. Hufen, Anbringen von Kruzifixen in staatlichen Pflichtschulen als Verstoß gegen Art. 4 I GG, JuS 1996, S. 258 ff.; S. Huster, Die ethische Neutralität des Staates: eine liberale Interpretation der Verfassung, Tübingen 2002, S. 235 ff.; S. Ihli, Lernen mit dem Kreuz: der Streit um das Schulkreuz als Paradigma unterschiedlicher Beziehungen zwischen Kirche und 2
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A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
sondern auch politische3 Diskussion, die er auslöste, Berühmtheit erlangte. Vergleichbare Berühmtheit blieb dem Urteil des italienischen Staatsrates Nr. 556/2006 vom 13. Februar 20064 trotz mancher Reaktion auch aus der Staat, Frankfurt a. M. 2001; J. Ipsen, Glaubensfreiheit als Beeinflussungsfreiheit? – Anmerkungen zum „Kruzifix-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts, in: Ziemske (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik – FS Kriele, München 1997, S. 301 ff.; J. Isensee, Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation – Der Kruzifix-Beschluß des BVerfG, ZRP 1996, S. 10 ff.; Ch. Jakobs, Kreuze in der Schule – Glaubensfreiheit und Benachteiligungsverbot, Frankfurt a. M. 2000; B. Jean d’Heur/S. Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgart 2000, S. 84 ff.; K.-H. Kästner, Lernen unter dem Kreuz? – Zur Zulässigkeit religiöser Symbole in staatlichen Schulen nach der Entscheidung des BVerfG vom 16. Mai 1995, ZevKR 41 (1996), S. 241 ff.; K.-H. Kästner/H. Anke, Der praktische Fall – Öffentliches Recht: „Kreuzzug“ in der Lutherschule, JuS 1996, S. 719 ff.; Ch. Link, Stat Crux? – Die „Kruzifix“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, S. 3353 ff.; O. Massing, Anmerkungen zu einigen Voraussetzungen und (nichtintendierten) Folgen der Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Pol. Vierteljahresschrift 36 (1995), S. 719 ff.; J. Müller-Vollbehr, Positive und negative Religionsfreiheit – Zum Kruzifix-Beschluß des BVerfG, JZ 1995, S. 996 ff.; H.-P. Pawlowski, Zur Problematik höchstrichterlicher Entscheidungen – Methodologische Bemerkungen zu einigen Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts, in: Stober (Hrsg.), Recht und Recht – FS Roellecke, Stuttgart 1997, S. 191, 203 ff.; D. Pirson, Anmerkung zu BVerfG, Beschluß vom 16. Mai 1995 – 1 BvR 1087/91, BayVBl. 1995, S. 755 ff.; R. Pofalla, Kopftuch ja – Kruzifix nein? – Zu den Widersprüchen der Rechtsprechung des BVerfG, NJW 2004, S. 1218 ff.; C. Rathke, Öffentliches Schulwesen und religiöse Vielfalt: Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 7 Abs. 1 GG und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität, Berlin 2005, S. 122 ff., 316, 358; K. Redeker, „Der moderne Fluch der Versuchung zur Totalität“, NJW 1995, S. 3369 f.; L. Renck, Positive und negative Bekenntnisfreiheit und Glaubens- oder Rechtsstaat, ZRP 1996, S. 205 ff.; U. Sacksofsky, Religiöse Freiheit als Gefahr?, VVDStRL 68 (2009), S. 7, 25 f.; J. Schmittmann, Anmerkung zu BVerfG, Beschluß vom 16. Mai 1995 – 1 BvR 1087/91, VR 1995, S. 429 f.; S. Seltenreich, Anmerkung zu BVerfG, Beschluß vom 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91, VBlBW 1995, S. 470 ff.; H. Simon, Freie Kirche im demokratischen Staat – Betrachtungen zur Neuordnung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat aus Anlaß der Kruzifix-Entscheidung, ZevKR 42 (1997), S. 155 ff.; G. Stricker, Das „Kruzifixurteil“ in der wissenschaftlichen Diskussion, NJW 1996, S. 440 ff.; U. Vosgerau, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes: Zum Gewährleistungsgehalt schrankenvorbehaltloser Grundrechte am Beispiel der Glaubens- und Gewissensfreiheit, Berlin 2007, S. 116 ff.; Ch. Walter, From Acceptance of Interdenominational Christian Schools to the Inadmissibility of Christian Crosses in the Public Schools, in: Brugger/Karayanni (Hrsg.), Religion in the Public Sphere: A Comparative Analysis of German, Israeli, American and International Law, Berlin 2007, S. 165 ff.; M. Winkler, Kruzifix im Klassenzimmer, JA 1995, S. 927 ff.; Th. Würtenberger, „Unter dem Kreuz“ lernen, in: Merten/Schmidt/Stettner (Hrsg.), Der Verwaltungsstaat im Wandel – FS Knöpfle, Stuttgart 1996, S. 397 ff.; R. Zuck, KreuzZüge, NJW 1995, S. 2903 f.; vgl. zur überaus reichhaltigen Literatur im übrigen die (jeweils nicht vollständigen) Bibliographien bei G. Czermak, Zur Unzulässigkeit des Kreuzes in der Schule aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Brugger/Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, Baden-Baden 1998, S. 13, 15 Anm. 7;
A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
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Welt der Politik5 jedoch verwehrt, obwohl es auf nationaler Ebene ebenso einen vorläufigen Schlußpunkt in der gerichtlichen Auseinandersetzung um Kruzifixe in italienischen öffentlichen Schulen setzte6, bevor die Kontroverse um diesen Fall vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg fortgeführt wurde7. Ein Vergleich der deutschen und italienischen Rechtssprechung zur Frage der Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen und Kruzifixen in öffentlichen Schulen könnte sich nun darauf beschränken, diese beiden Entscheidungen zu vergleichen, handelt es sich hier doch um die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichtes, dort um die letztinstanzliche Entscheidung italienischer Verwaltungsgerichte in dieser Frage. Die vorliegende Untersuchung möchte den Gegenstand des Vergleiches jedoch weiter fassen. Einbezogen werden sollen auf deutscher Seite ebenso die dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vorausgehenden Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Regensburg8 und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs9, sowie die dem „Kruzifixurteil“ nachgehenden Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs10, des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs11 und des Bundesverwaltungsgerichts12, sowie eine A. Nolte, Das Kreuz mit dem Kreuz, JöR n. F. 48 (2000), S. 87, 89 Anm. 8; M. Stolleis, KritV 2000, S. 376, 386 Anm. 19. 3 Überblick hierzu aus der rechtswissenschaftlichen Literatur G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3348 f.; weitere Nachweise A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 448 Anm. 5; ausführlicher Überblick zur Diskussion in der nichtjuristischen Öffentlichkeit S. Ihli, S. 71 ff. 4 Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181 ff. 5 Hierzu m. w. N. L. Pedullà, Il crocifisso, simbolo di valori civili: „Scandolo per i giudei, stoltezza per i pagani“, Pol. dir. 2006, S. 337, 343. 6 R. Botta, Paradossi semiologici ovvero della „laicità“ del crocifisso, Corr. giur. 2006, S. 846; P. Colella, Il crocifisso e la sua esposizione nei luoghi pubblici, Corr. giur. 2006, S. 1161. 7 EGMR, Urteil v. 3. November 2009 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie; vgl. hierzu unten S. 286 ff.; EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, nicht amtliche Übersetzung NVwZ 2011, S. 737 mit. Anm. M. Fremuth, vgl. hierzu das Nachwort S. 294 ff.; zweifelnd, ob die Entscheidung des Staatsrates wirklich das letzte Wort in dieser Sache bleiben würde, bereits M. T. Denaro, Problemi della libertà religiosa. Il crocifisso nei luoghi pubblici: sentenze a confronto, Giust. amm. 2007, S. 131, 144 f.; für eine Regelung durch formelles Parlamentsgesetz G. Brunelli, Simboli collettivi e segni individuali di appartenenza religiosa: le regole della neutralità, in: Associazione italiana dei costituzionalisti (Hrsg.), Annuario 2007 – Problemi pratici della laicità agli inizi del secolo XXI, Padova 2008. S. 275, 303. 8 VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345 ff. 9 BayVGH BayVBl. 1991, S. 751 ff. 10 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686 ff. 11 BayVGH BayVBl. 1997, S. 305 ff. 12 BVerwGE 109, 40.
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A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts13. Auf italienischer Seite soll der Blick nicht nur auf das verfassungs- und verwaltungsgerichtliche Vorspiel der Entscheidung des Staatsrates mit einem Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Venetien14, einem Zurückverweisungsbeschluß des italienischen Verfassungsgerichtshofs15 und der Ausgangsentscheidung des Verwaltungsgerichts Venetien16 erstreckt werden. Vielmehr sollen auch Gutachten des Staatsrates17 und der Anwaltschaft des Staates (Avvocatura dello Stato) von Bologna18 sowie Entscheidungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit19 in den Vergleich einbezogen werden. Diese Erweiterung des Vergleichsgegenstandes erlaubt es zum einen, auch die Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichtshofes sowie das Urteil des Verwaltungsgerichts Venetien, deren Argumentation der Staatsrat – wie zu zeigen sein wird – aufgreift, in den Vergleich einzubeziehen, anstatt nur kursorisch darauf Bezug zu nehmen. Andererseits ermöglicht diese Vorgehensweise, die Perspektive des Vergleichs über die Positionen der jeweiligen höchstrichterlichern Entscheidungen hinaus zu erweitern und so ein komplexeres Bild der in beiden Rechtsordnungen vertretenen Argumentationslinien zu gewinnen. Dies gilt um so mehr, als gerade in der italienischen Literatur nicht nur Argumentationslinien anderer Gerichte, die von der Rechtsprechung des Staatsrates divergieren, großen Anklang gefunden haben, sondern auch die nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes vom 16. Mai 1995 erlassene Regelung des Bayerischen Gesetzgebers in der italienischen Literatur als „soluzione bavarese“20 Rezeption erfahren hat. 13
BVerfG BayVBl. 1998, S. 79 f. TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235 ff. 15 Corte Costituzionale Nr. 389/2004, Giur. cost. 2004, S. 4280 ff. = Foro it. 2005, I, Sp. 1 ff. 16 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329 ff. 17 Consiglio di Stato Nr. 63/1988, Quad. dir. pol. eccl. 1989, S. 197 = Il Consiglio di Stato 1992, I, S. 507 ff. 18 Soweit ersichtlich ist das Gutachten nicht in der gedruckten Fachpresse veröffentlicht worden. Es ist jedoch auf folgender von den Herausgebern des Sammelbandes Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004 betreuten Internetseite http://www.amicuscuriae.it/attach/docs/avvocaturabo.pdf (letzter Abruf: 3. September 2011) im Volltext abrufbar. 19 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262 ff.; Corte di Cassazione Nr. 15614/2006, Foro it. 2006, I, Sp. 2714 ff. 20 Zustimmend M. Cartabia, Il crocifisso e il calamaio, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 63, 68 ff.; S. Ceccanti, E se la Corte andasse in Baviera?, in: ebda., S. 1, 22 f.; I. Nicotra, Il crocifisso nei luoghi pubblici: la corte costituzionale ad un bivio tra riaffermazione della laicità di „servizio“ e 14
A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
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Im folgenden soll zunächst die überaus komplexe gerichtliche Auseinandersetzung um das Schulkreuz in Italien in ihren wesentlichen Streitpunkten und Argumentationslinien referiert werden (I.). Anschließend sollen nach einer knappen Darstellung der deutschen gerichtlichen Auseinandersetzung (II.) die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der gerichtlichen Auseinandersetzung um das Schulkreuz herausgearbeitet werden (III.). Zu fragen ist zum einen, wie die verschiedenen Entscheidungen in ihrer Argumentation mit dem Symbol des Kreuzes umgehen: Verstehen sie das Kreuz in erster Linie als religiöses oder kulturelles Symbol? Welche Wirkung geht nach Ansicht der untersuchten Rechtsprechung von in Klassenzimmern angebrachten Kreuzen auf die Schüler, die dort lernen21, aus? Gegenüberzustellen sind auch die Maßstäbe, an denen die untersuchten deutschen und italienischen Entscheidungen die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen messen.
fughe in avanti verso un laicismo oltranzista, in: ebda., S. 232, 239; C. Panzera, „Juristen böse Christen“? Crocifisso e scuole pubbliche, in: ebda. S. 251, 256 f.; S. Prisco, Il valore della laicità e il senso della storia, in: ebda., S. 273 f., 279; D. Tega, La libertà religiosa e il principio di laicità nella giurisprudenza della corte di Strasburgo, in: ebda., S. 298, 305; L. Pedullà, S. 351; kritischer hingegen J. Luther, La croce della democrazia (prime riflessioni su una controversia non risolta), Quad. dir. pol. eccl. 1996, S. 681, 689; R. Bin, Inammissibile, ma inevitabile, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 37, 39; G. Brunelli, Neutralità dello spazio pubblico e „patto repubblicano“: un possibile modello d’integrazione sociale, in: ebda., S. 51, 54 f.; C. Fusaro, Pluralismo e laicità. Lo stato non può ridurre la fede a cultura, né costruire sul fatto religioso identità partigiane, in: ebda., S. 147, 149; C. Martinelli, Le necessarie conseguenze di una laicità „presa sul serio“, in: ebda., S. 207, 209 f.; R. Tosi, I simboli religiosi e i paradigmi della libertà religiosa come libertà negativa, in: ebda., S. 306 ff.; P. Veronesi, Abrogazione „indiretta“ o quaestio? Il crocifisso, i luoghi pubblici e la laicità sotto la lente della corte, in: ebda., S. 311, 317; ders., Una „croce“ sul crocifisso nelle scuole pubbliche? A proposito di una questione di legittimità pendente davanti alla corte costituzionale, Studium Iuris 2004, S. 1067, 1074; S. Mancini, La contesa sui simboli: laicità liquida e protezione della Costituzione, in: Canestrari (Hrsg.), Laicità e diritto, Bologna 2007, S. 145, 154; dies., Taking Secularism (not too) seriously: The Italian Crucifix Case, Religion & Human rights 2006, S. 179, 190 f. 21 Mangels vergleichbarer italienischer Rechtsprechung sollen die von den Besonderheiten des deutschen Beamtenrechts mitgeprägten verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen zur Frage, ob von Lehrern verlangt werden kann, in Schulräumen mit Kreuzen zu unterrichten, nicht in den Vergleich einbezogen werden. Vgl. zu dieser Frage BayVGH, NVwZ 2002, S. 1000 ff.; aus der Literatur C. Goos, Kruzifix und Kopftuch – Anmerkungen zur Religionsfreiheit von Lehrerinnen und Lehrern, ZBR 2003, S. 221 ff.; L. Renck, Das Schulkreuz und die Lehrer, NVwZ 2002, S. 955.
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A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
I. Die gerichtliche Auseinandersetzung um das Schulkreuz in Italien 1. Überblick Die Auseinandersetzung der italienischen Justiz mit der Frage des Kreuzes bzw. Kruzifixes in Schulräumen erfolgte in mehreren teilweise parallel verlaufenden Schritten. Die erste Befassung mit dieser Frage erfolgte bereits 1988, als das Unterrichtsministerium im Gefolge der Modifizierung des Laterankonkordates den Staatsrat (Consiglio di Stato22) mit der Erstattung eines Gutachtens über die Geltungskraft der Rechtsgrundlagen der Anbringung von Kreuzen bzw. Kruzifixen in Schulräumen beauftragte. Nachdem der Staatsrat in seinem Gutachten23 dagegen keine Bedenken erhoben hatte, wurde im Jahr 2002 die Anwaltschaft des Staates24 von Bologna mit der gleichen Frage befaßt25 und kam unter Bezugnahme auf dessen Argumentation zum gleichen Ergebnis wie der Staatsrat.
22 Der Staatsrat wurde unter Geltung des Statuto Albertino nach französischem Vorbild als Beratungsorgan der Regierung gegründet. Seit ihm im Jahr 1889 auch rechtsprechende Aufgaben im Bereich der Verwaltung übertragen wurden, ist er in doppelter Funktion tätig. Die drei beratenden Abteilungen werden für Regierung, Ministerien und Regionen gutachterlich tätig, während die drei rechtsprechenden Abteilungen heute die zweite Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit sind, vgl. zum ganzen P. Kindler, Einführung in das italienische Recht, 2. Aufl., München 2008, S. 53 m. w. N.; sowie aus der italienischen Literatur G. Roehrssen, Stichwort „Consiglio di Stato e Tribunali amministrativi regionali“, in: Sacco/u. a. (Hrsg.), Digesto delle Discipline Pubblicistiche, Bd. 3, Turin 1989, S. 422 ff. 23 Consiglio di Stato – Adunanza Sezione II, Parere 27. April 1998 Nr. 63/1988, Il Consiglio di Stato 1992, I, S. 507 ff. = Quad. dir. pol. eccl. 1989, S. 197 ff.; hierzu G. Robbers, Das Verhältnis von Staat und Kirche in rechtsvergleichender Sicht, in: Brugger/Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, BadenBaden 1998, S. 59, 63 f. 24 Die Anwaltschaft des Staates (it. Avvocatura dello Stato) ist eine Behörde, die ähnlich der bayerischen Landesanwaltschaft (vgl. hierzu die Verordnung über die Landesanwaltschaft Bayern [LABV], vom 29. Juli 2008, GVBl. S. 554) den italienischen Staat in gerichtlichen Auseinandersetzungen vertritt. Sie darf nicht mit der Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde im Strafprozeß verwechselt werden. Neben der Aufgabe der Prozeßvertretung nimmt die Anwaltschaft des Staates auch konsultative Funktionen wahr. Vgl. hierzu im einzelnen G. Manzari, Stichwort „Avvocatura dello Stato“, in: Sacco/u. a. (Hrsg.), Digesto delle Discipline Pubblicistiche, Bd. 2, Turin 1987, S. 93 ff. 25 Nach A. Piva, Crocifisso e società pluralista: radici cristiane e diritti civili nell’ordinamento italiano, in: Jasonni (Hrsg.), Studi in memoria di Gabriele Silingardi, Mailand 2004, S. 589, 603 war Anlaß für das Gutachten der Anwaltschaft des Staates von Bologna eine Anfrage der Vor-, Grund- und Mittelschule der in der Provinz Bologna gelegenen Gemeinden Malalbergo und Baricella.
I. Die gerichtliche Auseinandersetzung um das Schulkreuz in Italien
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Nach dieser ersten nur gutachterlichen Phase der Befassung mit der Frage des Schulkreuzes markiert 2003 den Beginn der streitigen Auseinandersetzung in zwei im wesentlichen gleich gelagerten Fällen, die jedoch einen unterschiedlichen Weg durch die Instanzen nahmen. Dabei handelt es sich zum einen um den Fall von Adel Smith, dem Vorsitzenden der Union der Muslime Italiens26. Dieser hatte zunächst im Namen der Union der Muslime Italiens vom Unterrichts- und Wissenschaftsministerium, vom Gesundheitsministerium und vom Innenministerium die generelle Entfernung aller Kruzifixe aus öffentlichen Räumen verlangt, war mit dieser Forderung aber aus verfahrensrechtlichen Gründen vor dem Verwaltungsgericht Latium unterlegen27. Anschließend wandte er sich mit dem Verlangen, die Kruzifixe aus den Klassenzimmern seiner Kinder zu entfernen, an die ordentliche Gerichtsbarkeit, wo er zunächst im einstweiligen Rechtschutz durch eine einzelrichterliche Anordnung des Landgerichts von L’Aquila vom 23. Oktober 200328 einen Erfolg verzeichnen konnte. Diese Anordnung, die in Öffentlichkeit und Politik bis hin zum – in Italien oftmals als „Wahrer der Verfassungsordnung“29 bezeichneten – Staatspräsidenten vielfach auf Kritik stieß30, wurde auf Beschwerde der Schule und des 26
E. Ricci, Tutela del sentimento religioso e simbolismo confessionale, Dir. eccl. 2005, I, S. 1218, 1226; anders als ihr Name sowie die Medienpräsenz und das provokante Auftreten ihres Vorsitzenden vermuten lassen, vertritt diese Organisation nur eine verschwindende Minderheit der in Italien lebenden Muslime und kann nicht beanspruchen, den Islam in Italien zu repräsentieren, vgl. hierzu P. Stefanì, Il crocifisso e la laicità dello Stato, Dir. fam. pers. 2004, S. 840, 846 f.; als Fundamentalisten charakterisiert den Vorsitzenden S. Mancini, Taking Secularism, S. 183. 27 TAR Lazio Urteil Nr. 8128/2003 vom 23. Juli 2003, Leitsätze abgedruckt in G. Ferrari, Osservatorio dei Tribunali amministrativi regionali, Giornale di diritto amministrativo 2003, S. 1307 ff.; Volltext abrufbar in der Datenbank des Staatsrates unter http://www.giustizia-amministrativa.it/ricerca2/index.asp (letzter Abruf: 3. September 2011). 28 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276 ff. 29 S. Köppl, Das politische System Italiens, Wiesbaden 2007, S. 143; G. de Vergottini, Diritto costituzionale comparato, Bd. 1, 6. Aufl., Padova 2004, S. 526. 30 M. Canonico, Il crocifisso nelle aule scolastiche: una questione ancora aperta, Dir. eccl. 2004, I, S. 259, 267; vgl. zur Reaktion des damaligen Staatspräsidenten Ciampi, der auf die Bedeutung des Kreuzes als „Symbol der Werte, auf denen unsere Identität gründet“, verwies, auch den im Internetarchiv der Zeitung La Repubblica unter http://www.repubblica.it/2003/j/sezioni/cronaca/crocifisso/presi/presi. html abrufbaren Bericht vom 28. Oktober 2003 (letzter Abruf: 3. September 2011) sowie P. Farinella, Crocifisso tra potere e grazia: Dio e la civilta occidentale, Negarine di San Pietro in Cariano 2006, S. 36; E. Rossi, Laicità e simboli religiosi, in: Associazione italiana dei costituzionalisti (Hrsg.), Annuario 2007 – Problemi pratici della laicità agli inizi del secolo XXI, Padova 2008. S. 325, 350; auf eine Resolution der italienischen Abgeordnetenkammer mit ähnlicher Stoßrichtung verweist E. Ricci, S. 1229.
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A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
Erziehungsministeriums31 bereits am 29. November 2003 durch einen gegenläufigen Beschluß des Landgerichts L’Aquila32 in Kammerbesetzung mangels Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit wieder aufgehoben. Ungefähr zeitgleich erhob Soile Lautsi, eine aus Finnland stammende Italienerin33, vor dem Verwaltungsgericht Venetien Anfechtungsklage gegen einen Beschluß der Schule ihrer Kinder, der es ablehnte, die Schulkreuze aus den Schulräumen ihrer Kinder zu entfernen. Das befaßte Verwaltungsgericht hielt den Verwaltungsrechtsweg für eröffnet, setzte jedoch Anfang Januar 2004 das Verfahren aus, um dem Verfassungsgerichtshof die Frage der Verfassungsmäßigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen in Schulräumen vorzulegen34. Der Verfassungsgerichtshof hielt sich jedoch nicht für zuständig, über die Verfassungsmäßigkeit der der Anbringung von Kruzifixen in Schulräumen zu Grunde liegenden Normen zu entscheiden, und enthielt sich dadurch gleichzeitig eines Ausspruchs in der Sache. Das Verfahren wurde mit Beschluß vom 13. Dezember 2005 wieder an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen35. Während das Verwaltungsgericht in seinem Vorlagebeschluß starke Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Schulkreuzes geltend gemacht hatte, ging es in seinem Urteil vom 22. März 200536 von der Verfassungsmäßigkeit der Anbringung von Schulkreuzen aus; dies bestätigte der Staatsrat, als höchste italienische Instanz, durch seine Entscheidung vom 13. Februar 200637. Nachdem letztere ausdrücklich von der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgegangen war, wurde diese Einschätzung auch im Fall Adel Smith durch eine Entscheidung des Kassationshofs vom 10. Juli 200638 bestätigt, so daß sich der kurzzeitige Erfolg des Klägers im einstweiligen Rechtschutz endgültig nicht als dauerhaft erwies. Die Bedeutung des Beschlusses des Einzelrichters aus L’Aquila für die Debatte um das Kruzifix ergibt sich daher nicht aus der Beständigkeit seiner Entscheidung. Sie liegt vielmehr darin begründet, daß diese Entscheidung in der Literatur wiederholt rezipiert und den Entscheidungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegenübergestellt wurde39. 31 Die von der für den Gerichtsbezirk L’Aquila zuständigen Anwaltschaft des Staates vertretene Beschwerde ist teilweise abgedruckt in Rassegna Avvocatura dello Stato 2004, S. 254, 262 ff. 32 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1263 ff. 33 L. Pedullà, S. 337. 34 Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235 ff. 35 Corte Costituzionale Nr. 389/2004, Giur. cost. 2004, S. 4280 ff. = Foro it. 2005, I, Sp. 1 ff. 36 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329 ff. 37 Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181 ff.; zu anschließenden Klage vor dem EGMR siehe unten S. 286 ff. 38 Corte di Cassazione Nr. 15614/2006, Foro it. 2006, I, Sp. 2714 ff.
I. Die gerichtliche Auseinandersetzung um das Schulkreuz in Italien
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Die gerichtliche Auseinandersetzung um das Kreuz in der Schule wurde in Italien auf mehreren rechtlichen Schauplätzen geführt, wobei sich im wesentlichen drei – natürlich nicht völlig voneinander losgelöste – Ebenen des Streites abschichten lassen: Zum einen wurde darum gestritten, ob die ordentliche Gerichtsbarkeit zur Entscheidung des Streites berufen war, oder ob die Entscheidung in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit fiel. Ein zweiter Streitpunkt betraf die Rechtsgrundlage der Anbringung von Schulkreuzen. Einerseits ging es hier um die Frage der Qualifizierung der Rechtsgrundlage als Gesetz oder Verordnung, andererseits um die Frage, ob die Rechtsgrundlage nicht schon unabhängig von deren Verfassungsmäßigkeit auf der Ebene des einfachen Rechtes als aufgehoben anzusehen war. Und nicht zuletzt wurde um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Kreuzen in Klassenzimmern, insbesondere um deren Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der laicità des Staates gestritten. Auch wenn der Schwerpunkt der folgenden Darstellung auf den Aussagen der italienischen Rechtsprechung zur Verfassungsmäßigkeit von Schulkreuzen (5.) liegen soll, sind doch zunächst einige Ausführungen zur Zuständigkeit (2.) und der Frage der Rechtsgrundlage (3.) zu machen, um ein Gesamtverständnis der komplexen italienischen Rechtsprechung zum Schulkreuz zu ermöglichen. Ebenso wird in einem Exkurs (4.) auf die Vergleichbarkeit von laicità des Staates und weltanschaulich-religiöser Neutralität einzugehen sein. 2. Die Frage der Zuständigkeit: ordentliche Gerichtsbarkeit oder Verwaltungsgerichtsbarkeit Anders als in Deutschland hängt die Zuständigkeit bzw. Nichtzuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Italien nicht vom Vorliegen einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit ab. Ausgehend von Art. 2 Anlage E zum Gesetz Nr. 2248 vom 20. März 1865 ist im Grundsatz die ordentliche Gerichtsbarkeit zuständig, wenn es um den Schutz eines sogenannten subjektiven Rechtes (diritto soggettivo) geht, wozu neben zivilrechtlichen absoluten Rechten im Grundsatz auch die Grundrechte gerechnet werden. Der Verwaltungsgerichtsbarkeit obliegt dagegen der Schutz der sog. legitimen Interessen (interesse legittimo). Ausgehend von der Prämisse, daß ein subjektives 39 Bspw. bei A. Barbera, Il cammino della laicità, in: Canestrari (Hrsg.), Laicità e diritto, Bologna 2007, S. 33, 80 f.; P. Cavana, La questione del crocifisso nella recente giurisprudenza, Dir. fam. pers. 2006, S. 270, 283 ff.; S. Mancini, Taking Secularism, S. 183; S. Sicardi, Il principio di laicità nella giurisprudenza della Corte costituzionale (e rispetto alle posizioni dei giudici comuni), Dir. pubbl. 2007, S. 501, 542 ff.; S. Lariccia, La laicità della Repubblica italiana, in: Pace (Hrsg.), Corte costituzionale e processo costituzionale nell’esperienza della rivista „Giurisprudenza costituzionale“ per il cinquantesimo anniversario, Milano 2006, S. 415, 444.
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A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
Recht des Bürgers eine Handlungsmacht der Verwaltung (potere) ausschließt, ist die Situation des legitimen Interesses dadurch gekennzeichnet, daß der Verwaltung ein Handlungsspielraum, insbesondere ein Ermessen, zusteht und der Bürger nur das legitime Interesse rechtmäßigen Verwaltungshandelns geltend machen kann40. Die Unterscheidung ist im übrigen auch in Art. 103 Abs. 1 it. Verf. verfassungsrechtlich abgesichert, wird jedoch in der Praxis häufig von Sonderzuweisungen an die Verwaltungsgerichte überlagert41. Den Streit um das Kruzifix von der ordentlichen Gerichtsbarkeit entscheiden zu lassen, war für die Gegner des Schulkreuzes – abgesehen davon, daß einer der Kläger bereits einmal mit einer ähnlichen Klage im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gescheitert war42, und unabhängig vom mehr oder minder „liberalen“ Ruf der jeweiligen Gerichtsbarkeit43 – schon deshalb besonders interessant, weil dies die Möglichkeit geboten hätte, eine Entscheidung des Kassationshofs zur Anbringung von Kruzifixen in Wahllokalen44 als Prä40
Das „Gesetz zur Vereinheitlichung der Verwaltung des Königreichs Italien“ Nr. 2248 vom 20. März 1865 hatte in Art. 1 seiner Anlage E „Gesetz über den Verwaltungsprozeß“ zunächst die Abschaffung aller vor der italienischen Einigung bestehenden Sondergerichte auch für den Bereich des Verwaltungsrechts vorgesehen und in Art. 2 der Anlage alle Streitigkeiten hinsichtlich „ziviler oder politischer Rechte“ im Zusammenhang mit dem Handeln der öffentlichen Verwaltung der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugewiesen, während gem. Art. 3 der Anlage die Verwaltungsbehörden zur Klärung aller anderen Streitigkeiten berufen wurden. Eine eigenständige Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde erst durch die Einrichtung der ersten rechtsprechenden Abteilung des Staatsrates durch das Gesetz Nr. 5992 vom 31. März 1889 begründet, die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte für Streitigkeiten für „Rechte“ gem. Art. 3 der Anlage wurde durch jedoch nicht angetastet. Zum ganzen K. Dubis, Der italienische Verwaltungsprozeß, Bozen 1991. 41 Ausführlich zur Abgrenzung der Zuständigkeiten von Verwaltungsgerichtsbarkeit und ordentlicher Gerichtsbarkeit im schulischen Bereich M. Tigano, Il crocifisso nelle aule scolastiche e la „croce“ del riparto di giurisdizione: interventi giurisprudenziali a confronto, Riv. giur. scuola 2005, S. 631 ff. 42 TAR Lazio Urteil Nr. 8128/2003 vom 23. Juli 2003, Leitsätze abgedruckt in G. Ferrari, Osservatorio dei Tribunali amministrativi regionali, Giornale di diritto amministrativo 2003, S. 1307 ff.; im Volltext abrufbar in der Datenbank des Staatsrates unter http://www.giustizia-amministrativa.it/ricerca2/index.asp (letzter Abruf: 3. September 2011); es handelt sich um den Fall der Klage des A. Smith auf generelle Entfernung des Kreuzes aus allen öffentlichen Räumen. 43 Nach S. Mancini, Taking Secularism, S. 183 stehe die italienische Verwaltungsgerichtsbarkeit im Ruf besonders „konservativ“ zu sein, während die ordentlichen Gerichte „liberaler“ seien. 44 Corte di Cassazione Nr. 439/2000, Foro it. 2000, II, Sp. 521 ff. = Giur. cost. 2000, S. 1121 ff.; entsprechend beklagt der Berichterstatter dieser Entscheidung auch, daß das Verwaltungsgericht Venetien in seinem Urteil unterlassen habe, seine Entscheidung zu berücksichtigen, N. Colaianni, Il crocifisso teo-con, Quest. giust. 2005, S. 851, 855.
I. Die gerichtliche Auseinandersetzung um das Schulkreuz in Italien
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zedenzfall heranzuziehen, wie dies die Entscheidung des Einzelrichters am Landgericht L’Aquila denn auch wirklich tat45. Die Entscheidung des Einzelrichters am Landgericht L’Aquila bejahte seine Zuständigkeit mit folgenden Argumenten: Zum einen sei die Sonderzuweisung an die Verwaltungsgerichte, die Art. 33 des Gesetzesdekrets Nr. 80/1998 in der Form von Art. 7 des Gesetzes Nr. 205/200046 vorsehe, im vorliegenden Fall nicht einschlägig, so daß sich die Zuständigkeit nach den allgemeinen Regeln richte. Im vorliegenden Fall gehe es nicht um eine verwaltungsorganisatorische Streitigkeit, sondern der Kläger begehre in der Hauptsache die Abnahme des Kruzifixes als Schadensersatz für die Verletzung seiner negativen Religionsfreiheit. Damit werde ein subjektives Recht geltend gemacht, weshalb die ordentliche Gerichtsbarkeit zuständig sei47. Die den Beschluß des Einzelrichters im Beschwerdeverfahren aufhebende Kammerentscheidung des Landgerichts L’Aquila hielt hingegen die genannte Sonderzuweisung für einschlägig und bejahte entsprechend die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte48. Diesem Argument folgte auch der Kassationshof in seiner den Fall aus L’Aquila abschließenden Entscheidung. Der Streitgegenstand, die Entfernung des Kruzifixes aus den Klassenzimmern, sei im übrigen eine Frage der Schulorganisation. Die Verordnungen, die die Anbringung von Kreuzen im Klassenzimmer anordneten, seien schulorganisatorische Entscheidungen im weiteren Sinne, so daß der Kläger sich in der Situation eines legitimen Interesses befinde49. 45
Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, Sp. 1283 ff. Zu dessen teilweiser Verfassungswidrigkeit siehe Corte costituzionale Nr. 204/ 2004, Foro it. 2004, I, 2594. 47 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, Sp. 1278 ff.; hierzu A. Lamorgese, Servizi pubblici: La fuga del Tribunale di L’Aquila e le prospettive di ampliamento della giurisdizione ordinaria, Corr. giur. 2004, S. 229 ff.; der Entscheidung zustimmend N. Fiorita, Se il crocifisso afferma e conferma la laicità dello Stato: paradossi e sconfinamenti di una sentenza del Tar Veneto, Foro it. 2005, III, Sp. 440 f.; für die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit auch L. Coen, La giurisdizione amministrativa tra libertà di coscienza e interesse dell’organizzazione scolastica, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 81 ff.; N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale a simbolo neo-confessionista, in: Dieni/Ferrari/Pacillo (Hrsg.), I simboli religiosi tra diritto e culture, Mailand 2006, S. 179, S. 183 ff. 48 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1273 ff.; kritisch hierzu P. Colella, Crocifisso e libertà religiosa, Corr. giur. 2004, S. 1391, 1393; zustimmend hingegen M. Tigano, S. 684; zum Verständnis von Art. 33 des Gesetzesdekrets Nr. 80/1998 vgl. die Anmerkung von V. Molaschi, Foro it., 2004, I, Sp. 1262 ff. m. w. N. 49 Corte di Cassazione Nr. 15614/2006, Foro it. 2006, I, Sp. 2714, 2716 ff. 46
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A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
Der Kassationshof folgte damit der Linie der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Venetien und des Staatsrates. Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung war davon ausgegangen, daß das Kruzifix ein Schulmöbel – wenn auch eigener Art – darstelle, so daß die Frage nach seiner Zulässigkeit eine schulorganisatorische Frage sei, in der der Bürger sich in der Situation des Inhabers eines legitimen Interesses befinde50. Weiterhin wurde darauf abgestellt, daß der Verwaltungsakt, mit dem die Entfernung des Schulkreuzes von der Schule abgelehnt wurde, auf einer Verordnung beruhe. Der Erlaß einer Verordnung stehe jedoch typischer Weise im Ermessen der Verwaltung. Daß es damit um die möglicherweise unrechtmäßige Ausübung eines Handlungsspielraumes der Verwaltung gehe, spreche ebenfalls für die Situation des legitimen Interesses51. Auch wenn Grundrechte mitbetroffen seien, führe dies nicht a priori dazu, daß der Verwaltungsrechtsweg ausscheide, wenn ausdrücklich ein Verwaltungsakt angegriffen werde52. Festzuhalten bleibt demnach, daß die ganz überwiegende Rechtsprechung in Italien davon ausgeht, daß der Verwaltungsrechtsweg für den Streit um die Zulässigkeit von Kruzifixen in Klassenzimmern zuständig ist, nicht die sonst mit dem Schutz subjektiver Rechte befaßte ordentliche Gerichtsbarkeit. Gleichzeitig ergab sich daraus, daß die Entscheidung des Kassationshofes zum Kruzifix im Wahllokal nicht unmittelbar als Präzedenzfall herangezogen werden konnte. 3. Die Diskussion um die Rechtsgrundlage des Kruzifixes an italienischen Schulen Die Diskussion um die Rechtsgrundlage für das Kreuz in der Schule betraf weniger die Individualisierung einer passenden Rechtsgrundlage, als vielmehr Fragen der Qualifikation und der fortdauernden Geltungskraft der Rechtsgrundlage. In der Tat bestand zumindest in der Rechtsprechung schon seit dem Gutachten des Staatsrates Nr. 63/1988 vom 27. April 198853 weit50
TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 237; TAR Veneto Nr. 1110/2005, die Ausführungen dieser Entscheidung zum Rechtsweg sind in Foro it. 2005, III, Sp. 329 ff. leider nicht abgedruckt. Kritisch L. Coen, S. 82 ff. 51 TAR Veneto Nr. 1110/2005; Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 184. 52 Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 184; A. Travi, Simboli religiosi e giudice amministrativo, Foro it. 2006, III, Sp. 181 f. hält diese letzte Aussage für eine Neuheit in der Dogmatik der Abgrenzung von Verwaltungsrechtsweg und ordentlicher Gerichtsbarkeit. 53 Consiglio di Stato Nr. 63/1988, Il Consiglio di Stato 1992, I, S. 507 ff. = Quad. dir. pol. eccl. 1989, S. 197 ff.
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gehende Übereinstimmung, daß Rechtsgrundlage des Kreuzes in der Schule zwei königliche Dekrete aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts seien. Lediglich einige vereinzelte Stimmen in der Literatur hielten andere Vorschriften als Rechtsgrundlage für das Anbringen von Kreuzen in Schulräumen für einschlägig54. Die Frage nach der Rechtsgrundlage für das Kreuz in der Schule erweckte in der italienischen Diskussion vielmehr deshalb besonderes Interesse, weil von der Frage der Qualifikation der Rechtsgrundlage als Verordnung oder als „Vorschrift mit Gesetzeskraft“55, die Frage der Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes abhängig war. Zum anderen wurde wiederholt die Frage einer nicht ausdrücklichen, impliziten Aufhebung der Rechtsgrundlage des Schulkreuzes nach der lex posterior-Regel thematisiert, was ermöglicht hätte, der Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit auszuweichen und das Problem zunächst an den Gesetzgeber weiterzureichen. a) Die Rechtsgrundlage: Zwei königliche Dekrete Die als Rechtsgrundlage für das Anbringen von Kreuzen in Schulräumen in Betracht kommenden Normen wurden im wesentlichen bereits in der Anfrage des Unterrichtsministeriums an den Staatsrat vom 20. Januar 1988, die Anlaß für das Gutachten Nr. 63/1988 war, benannt56, nämlich Art. 118 des regio decreto (königliches Dekret, im weiteren abgekürzt R.D.) Nr. 965 vom 30. April 192457 und Anlage C zu Art. 119 des R.D. Nr. 129758 vom 54 S. Lariccia, Diritti di libertà in materia religiosa e principi di imparzialità e di laicità delle istituzioni civili: la parola alla Corte costituzionale, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 181, 184 ff.; G. Cimbalo, Sull’impugnabilità delle norme relative all’esposizione del crocifisso nelle scuole pubbliche, in: ebda., S. 73 ff. 55 nach diesem Wortlaut von Art. 134 Abs. 1 it. Verf. ist der italienische Verfassungsgerichtshof nur zur Überprüfung von Vorschriften mit Gesetzkraft berufen. Vgl. hierzu im einzelnen S. 69. 56 Consiglio di Stato Nr. 63/1988, Quad. dir. pol. eccl. 1989, S. 197. In Il Consiglio di Stato 1992, I, S. 507 ff. ist die Bezugnahme des Staatsrates auf die vorgelegte Frage nicht abgedruckt, sondern nur die Antwort des Staatsrates. 57 Gazzetta Ufficiale Nr. 148 vom 25.6.1924, S. 2363; im folgenden R.D. 965/ 1924. 58 Gazzetta Ufficiale Nr. 167 vom 19.7.1928; im folgenden R.D. 1297/1928; teilweise wurde in der Rechtsprechung anfangs nur die Anlage C zitiert, seit dem Beschluß des Verfassungsgerichtshofes zitieren Verwaltungsgericht Venetien und Staatsrat jedoch auch Art. 119, auf den die Anlage C Bezug nimmt, vgl. Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 185; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 331 f.
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26. April 1928. Ersteres betrifft Fragen der Organisation von Mittelschulen, während letzteres allgemeine Anordnungen für Elementarschulen59 enthält. Beide Dekrete befassen sich mit Fragen des notwendigen Minimums an Einrichtungsgegenständen, die in Schulen vorhanden sein müssen, und erwähnen in diesem Kontext auch das Kruzifix. Art. 118 R.D. 965/1924 lautet: Ogni istituto ha la bandiera nazionale; ogni aula, l’immagine del Crocifisso e il ritratto del Re. (Jede Schule besitzt die Nationalflagge, jedes Schulzimmer eine Darstellung des Kruzifixes [bzw. des Gekreuzigten60] und ein Portrait des Königs.)
Art. 119 R.D. 1297/1928 lautet: Gli arredi, il materiale didattico delle varie classi e la dotazione della scuola sono indicati nella tabella C allegata al presente regolamento. (Die Möbel, das Unterrichtsmaterial der verschiedenen Klassen und die Ausstattung der Schule werden durch Anhang C zu dieser Verordnung bestimmt.)
Die genannte Tabelle C führt für jede Klasse als ersten Einrichtungsgegenstand das Kruzifix und als zweites das Portrait des Königs auf. Beide Vorschriften wurden wegen des identischen Inhalts in der gerichtlichen Auseinandersetzung um das Kreuz in der Schule ebenso wie in der Literatur durchweg gemeinsam erörtert, lediglich der Staatsrat beschränkte sich in seiner abschließenden Entscheidung Nr. 556/2006 vom 13.2.2006 auf die Prüfung von Art. 118 R.D. 965/1924, weil die Kinder der Klägerin die Mittelschule und nicht die Elementarschule besuchten61 und daher nur diese Vorschrift entscheidungsrelevant sei62. Angesichts des Alters und des systematischen Zusammenhangs der beiden Normen – verwiesen sei nur auf das in Art. 118 R.D. 965/1924 erwähnte Portrait des Königs –, erscheint es nicht verwunderlich, daß ihre fortdauernde Geltung wiederholt und vehement in Zweifel gezogen wurde. Die Frage einer impliziten Aufhebung63 stellte sich nicht zuletzt auch deshalb, weil in Italien 59 In Italien besteht kein gegliedertes Schulwesen, vielmehr schließt sich an den Besuch der Elementarschule, die Mittelschule und an diese gegebenenfalls das Lyzeum zur Erlangung der Hochschulreife an. 60 „Crocifisso“ kann im Italienischen sowohl als Partizip den Gekreuzigten als auch den Gegenstand „Kruzifix“ bezeichnen. 61 Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 185. 62 Ebenso bereits S. Ceccanti, S. 3; P. Veronesi, Abrogazione „indiretta“, S. 314. 63 Zur Frage einer impliziten Aufhebung vgl. auch G. D’Alessandro, Un caso di abrogazione indiretta, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 96, 98 ff.; J. Luther, Istruire la storia del crocifisso, in: ebda., S. 189 f.; P. Veronesi, Una „croce“, S. 1067 ff.
I. Die gerichtliche Auseinandersetzung um das Schulkreuz in Italien
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die „Kodifikationsidee“ häufig von gesetzgeberischen Einzelmaßnahmen überlagert wird. Oftmals wird darauf verzichtet, eine Norm explizit aufzuheben, statt dessen wird einfach eine neue punktuelle Regelung erlassen, ohne diese in den früheren Kontext zu integrieren. Bei wachsender Zahl heranzuziehender Normen in einem Bereich erfolgt dann häufig zu einem späteren Zeitpunkt – oftmals im Kontext von Reformbestrebungen – eine teils kompilatorische, teils novativ-kodifikatorische Zusammenfassung des Normmaterials in einem sogenannten testo unico64 (abgekürzt T.U.) einer bestimmten Sachmaterie. Klarheit, welche Normen als aufgehoben zu gelten haben, wird dadurch jedoch – so wie auch im Fall der Rechtsgrundlage des Schulkreuzes – nicht stets erreicht. Einige Bedeutung erlangte in dieser Diskussion die Frage, ob die zitierten königlichen Dekrete vielleicht als Ausdruck jener Bestimmung des Statuto Albertino von 1848 zu betrachten seien, durch die der Katholizismus zur Staatsreligion erklärt worden war. Erörtert wurde ebenso, ob durch das ursprünglich aus dem Jahr 1929 stammende Laterankonkordat oder durch die im Rahmen seiner späteren Modifizierung erfolgte Neuregelung des Religionsunterrichts eine Aufhebung der Dekrete eingetreten sein könnte. Angesichts dieser immer wieder vorzufindenden, aus der Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche in Italien gewonnen Argumente, soll im folgenden als Exkurs hierauf und auf die Entstehungsgeschichte der religiöse Fragen betreffenden Bestimmungen der gegenwärtigen italienischen Verfassung eingegangen werden, bevor die Diskussion um eine implizite Aufhebung der königlichen Dekrete vertieft aufgegriffen wird. b) Staat und Religion in Italien – ein historischer Überblick aa) Vom Statuto zum Konkordat Stellt sich bei dem Versuch, die Vorgeschichte einer aktuellen Rechtslage überblicksartig darzustellen, angesichts des Charakters der Geschichte als durchgehendes Kontinuum generell das Problem, an welchem Punkt die Betrachtung einsetzen soll, so gilt dies für das Verhältnis von Staat und Religion in Italien im besonderen. Denkbar wäre zum einen, den italienischen Staat ins Zentrum der Betrachtungen zu stellen, und deshalb die Gründung des Königreichs Italien im Jahr 1861 als maßgeblichen Zeitpunkt zu betrachten. Gleichsam dem Metternich’schen Diktum, „Italien ist nur ein geographischer Begriff“65, folgend würden nach diesem formalen Kriterium die 64
Vgl. hierzu M. Malo, Stichwort „Testo unico“, in: Sacco/u. a. (Hrsg.), Digesto delle Discipline Pubblicistiche, Bd. 15, Turin 1999, S. 293 ff. 65 Zitiert nach: H. Ritter von Srbik, Metternich – Der Staatsmann und der Mensch, Bd. 2, 2. Aufl., Darmstadt 1957, S. 134.
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Entwicklungen in den einzelnen italienischen Staaten der präunitarischen Periode und insbesondere die Vorgeschichte der Gründung des italienischen Staates ausgeklammert bleiben. Aus der Perspektive der Religion könnte jedoch ebenso auf die prägende Bedeutung anderer viel weiter zurückliegender Ereignisse verwiesen werden. Wollte man nicht gleich das römische Reich66 als ganzes einbeziehen, so könnte das Augenmerk doch auf die konstantinische Wende67, auf die Herausbildung des Kirchenstaates68, später auf die Auseinandersetzung zwischen papsttreuen Guelfen und kaiserlichen Ghibellinen, die Entstehung der Waldenser69, ihre Verfolgung und ihren Kampf um Anerkennung70 und nicht zuletzt auf die Wirkung der Josephinischen Reformen in den habsburgischen Staaten Italiens sowie der staatlichen Kirchenreformen unter napoleonischer Herrschaft71 fallen, um nur einige Schlagworte aus Spätantike, Mittelalter und Neuzeit zu nennen. Während der erste Ansatz Gefahr läuft, den Zusammenhang zwischen dem Prozeß der nationalen Einigung Italiens und dem Verhältnis von Staat und katholischer Kirche aus dem Blick zu verlieren, würde die zweite Herangehensweise schlicht den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen soll daher vielmehr das durch den Erlaß des Statuto Albertino, der ersten Verfassung für das Königreich Sardinien-Piemont, gekennzeichnete Jahr 1848 sein. (1) Der Kirchenstaat als Hindernis auf dem Weg zum liberalen Nationalstaat Nachdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Halbinsel in unterschiedlichem Maße in das napoleonische System der Beherrschung Europas ein66 Hierzu J. Scheid, La vita religiosa a Roma, in: De Rosa/Gregory/Vauchez (Hrsg.), Storia dell’Italia religiosa, Bd. 1, Bari 1993, S. 41, 67 ff.; zur vorrömischen Epoche O. de Cazanove, La penisola italiana prima della conquista romana, in: ebda., S. 9 ff. 67 Hierzu K. M. Girardet, Die Konstantinische Wende und ihre Bedeutung für das Reich, in: Mühlenberg (Hrsg.), Die Konstantinische Wende, Gütersloh 1998, S. 9 ff.; J. Guyon, I primi secoli della missione cristiana in Italia, in: De Rosa/Gregory/Vauchez (Hrsg.), Storia dell’Italia religiosa, Bd. 1, Bari 1993, S. 79, 95 ff. 68 Ausführlich G. Arnaldi, Le origini del patrimonio di S. Pietro, in: Galasso (Hrsg.), Storia d’Italia, Bd. 7.2, Torino 1987, S. 3 ff. 69 Vgl. hierzu A. Vauchez, Movimenti religiosi fuori dell’ortodossia nei secoli XII e XIII, in: De Rosa/Gregory/Vauchez (Hrsg.), Storia dell’Italia religiosa, Bd. 1, Bari 1993, S. 311, 326 ff. 70 Hierzu P. Ricca, Le Chiese evangeliche, in: De Rosa/Gregory/Vauchez (Hrsg.), Storia dell’Italia religiosa, Bd. 3, Bari 1995, S. 405 ff. 71 Vgl. F. Agostini, La riforma statale della Chiesa nell’Italia napoleonica, in: De Rosa/Gregory/Vauchez (Hrsg.), Storia dell’Italia religiosa, Bd. 3, Bari 1995, S. 3 ff.
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gegliedert worden war – Teile wurden unmittelbar vom Empire annektiert, Teile von Napoleon als italienischem König und wieder andere Teile von Verwandten des französischen Kaisers als selbständigen Monarchen regiert –, bedeutete der Wiener Kongreß auch für Italien die Restauration der früheren Dynastien und in unterschiedlichem Ausmaß die Rückkehr zum ancien régime72. Restauriert wurden nicht nur die dem Grundsatz der Allianz von Thron und Altar verpflichteten73 Dynastien der Savoyer in SardinienPiemont, der Bourbonen im Königreich beider Sizilien sowie der Habsburger in Lombardo-Venetien und im Großherzogtum Toskana, um nur die wichtigsten zu nennen. Wiederhergestellt wurde auch der Kirchenstaat in Mittelitalien, der in etwa die heutigen Regionen Latium, Umbrien, die Marken und große Teile der Emilia-Romagna umfaßte. In den folgenden Jahrzehnten wurde auch die italienische Staatenwelt von den verschiedenen revolutionären Wellen erfaßt, von denen das Europa der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschüttert wurde. Ähnlich wie auf dem Gebiet des deutschen Bundes74 ging es dabei nicht nur um die Durchsetzung liberaler Ideale, sondern auch darum, anstelle der verschiedenen Einzelstaaten einen Nationalstaat zu verwirklichen. War in Deutschland vor allem umstritten, was mit den außerhalb des deutschen Bundes liegenden, aber zur Habsburger Monarchie gehörigen Gebieten geschehen sollte, stellte sich für die Verfechter einer Einigung Italiens diese Frage nicht vergleichbarer Weise, galt die österreichische Herrschaft in Lombardo-Venetien und der Toskana doch allgemein als Fremdherrschaft, für die im zu schaffenden Italien kein Platz mehr sein sollte. Viel kontroverser war die Frage was mit dem Kirchenstaat geschehen sollte. Während Vertreter neoguelfischer Ideen eher für eine Beibehaltung des Kirchenstaates in einem italienischen Staatenbund mit einer Art „Präsidentschaft“ des Papstes plädierten75, forderten vor allem deren re72 Beispielsweise verfügte König Viktor Emmanuel I. nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Piemont-Sardinien 1814 die vollständige Rückkehr zur Ordnung des Ancien Régime, namentlich wurden alle Beamten, die Frankreich gedient hatten, entlassen und durch Personal ersetzt, das nach dem Hofalmanch von 1798 ausgewählt wurde; der Code civil wurde abgeschafft und die Wiederherstellung der gerichtlichen und administrativen Strukturen der vornapoleonischen Zeit verkündet vgl. hierzu insgesamt R. Fried, The Italian Prefects – A study in administrative politics, New Haven, 1963, S. 21; G. Melis, Storia dell’amministrazione italiana 1861–1993, Bologna 1999, S. 18; C. Resch, Das italienische Privatrecht im Spannungsfeld von code civil und BGB: am Beispiel der Entwicklung des Leistungsstörungsrechts, Berlin 2001, S. 30 f. 73 B. Randazzo, in: Bifulco/Celotto/Olivetti, Commentario alla Costituzione, Bd. 1, Turin 2006, Art. 8, S. 194. 74 Zum Scheitern des von Metternich ähnlich dem Deutschen Bund konzipierten Projekts einer Lega italica, R. Lill, Italien im Zeitalter des Risorgimento, in: Schieder (Hrsg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 5, Stuttgart 1981, S. 827, 831.
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publikanische Gegner wie Mazzini in durchaus antiklerikaler Tendenz, den Kirchenstaates aufzuheben und Rom zur Hauptstadt zu machen76. Vor diesem Hintergrund erfaßte die Welle der Revolution von 1848 auch die italienische Staatenwelt und bewirkte, daß – ähnlich wie in Deutschland – auf der ganzen Halbinsel Verfassungen verkündet wurden; nicht einmal der Kirchenstaat konnte sich der Forderung nach einer Verfassung widersetzen. Nur eine dieser Verfassungen, keineswegs aber die einzige, war das Statuto Albertino, das als Grundgesetz vom 4. März 1848 oktroyiert wurde77. In der Tradition der Allianz von Thron und Altar stehend bestimmte Art. 1: Die römisch-katholische und apostolische Religion ist die einzige Religion des Staates. Die anderen bestehenden Kulte sind nach Maßgabe der Gesetze geduldet.
Der gleichen Tradition entspricht auch der weniger bekannte Art. 28: Die Presse ist frei, aber ein Gesetz soll die Mißbräuche unterdrücken. Dennoch dürfen Bibeln, Katechismen, Liturgie- und Gebetsbücher nur gedruckt werden mit vorheriger Zustimmung des Bischofs.
Als einzige der im Revolutionsjahr 1848 in den italienischen Staaten erlassenen Verfassungen wurde das Statuto Albertino nach dem Zusammenbruch der Revolution nicht zurückgenommen. Da sich die Gründung des italienischen Staates 1859-61 staatsrechtlich schlicht in der Form eines Anschlusses der Gebiete verschiedener anderer italienischer Staaten an das Königreich Piemont-Sardinien vollzog, wurde das Statuto Albertino so zur Verfassung des neugegründeten Königreichs Italien und blieb formell – auch während des Faschismus – bis zum Inkrafttreten der republikanischen Verfassung am 1. Januar 1948 in Geltung78. Anders als die republikanische Verfassung von 1948 wurde das Statuto Albertino jedoch nicht als im Rang über den Gesetzen stehendes, den Gesetzgeber bindendes Verfassungsrecht verstanden, sondern als costituzione flessibile79 interpretiert. Deshalb konnte Art. 1 des Statuto Albertino, der 75 Beispielhaft hierfür ist V. Gioberti, Del primato morale e civile degli Italiani, Brüssel 1843; vgl. hierzu A. C. Jemolo, Chiesa e Stato negli ultimi cento anni, erw. Neuaufl., Turin 1963, S. 23 ff.; O. Janz, Konflikt, Koexistenz und Symbiose. Nationale und religiöse Symbolik in Italien vom Risorgimento bis zum Faschismus, in: Haupt/Langewiesche (Hrsg.), Nation und Religion in Europa: Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2004, S. 231 f.; zum Neoguelfismus insgesamt A. Giovagnoli, Il neoguelfismo, in: De Rosa/Gregory/ Vauchez (Hrsg.), Storia dell’Italia religiosa, Bd. 3, Bari 1995, S. 39 ff. 76 O. Janz, S. 233 f. 77 Deutsche Übersetzung in: Gosewinkel/Masing (Hrsg.), Die Verfassungen in Europa 1789–1949, München 2006, S. 1375 ff. 78 Gosewinkel/Masing (Hrsg.), S. 1373. 79 Diese sich möglicherweise am Gedanken der Parlamentssuprematie des englischen Verfassungsrechts inspirierende Lehre geht davon aus, daß formelle Parla-
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den Katholizismus zur Staatsreligion erklärte, das von liberalen Abgeordneten dominierte Parlament von Piemont-Sardinien auch nicht hindern, in den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts etliche Gesetze antiklerikaler Tendenz zu erlassen und kirchliche Privilegien zu beschneiden80. Hervorzuheben ist hier zunächst das Gesetz über die gleichen bürgerlichen Rechte unabhängig von Religionsgemeinschaft vom 19. Juni 1848, das Art. 24 des Statuto Albertino präzisierte und durch das die bürgerliche Gleichberechtigung von Juden und Protestanten, der beiden überaus kleinen religiösen Minderheiten des Landes, erreicht wurde81. Kurz darauf wurden 1850 der geistliche Gerichtsstand des foro ecclesiastico, die Immunität des Klerus und das Kirchenasyl abgeschafft82. Im Jahr 1855 wurden schließlich geistliche Orden aufgehoben und die Einziehung ihres Besitzes angeordnet83. Während einerseits der Erzbischof von Turin wegen Aufrufs zum mentsgesetze im gleichen Rang wie die Verfassungsurkunde stehen. Ein Gegensatz zwischen Gesetz und Verfassung ist so ausgeschlossen, weil die Regelungen der Verfassung nach der schlichten lex posterior-Regel durch „einfaches Gesetz“ verändert werden können, ohne daß eine Änderung des Verfassungstextes nötig wäre. Vgl. hierzu Gosewinkel/Masing (Hrsg.), S. 1373 m. w. N.; R. Martucci, Storia costituzionale italiana dallo Statuto Albertino alla Repubblica (1848-2001), Roma 2002, S. 38. 80 Zur weitgehenden Bedeutungslosigkeit von Art. 1 des Statuto Albertino C. Cardia, Identità religiosa e culturale europea – La questione del crocifisso, Turin 2010, S. 52 ff. 81 Gesetz Nr. 735 vom 19. Juni 1848, sog. legge Sineo, abgedruckt in Z. Giacometti (Hrsg.), Quellen zur Geschichte der Trennung von Staat und Kirche, Tübingen 1926, S. 642, Fn. 2; der einzige Artikel dieses Gesetzes machte die volle Teilhabe an allen bürgerlichen und politischen Ämtern sowie den Zugang zu öffentlichen und militärischen Ämtern von der Glaubenszugehörigkeit unabhängig, G. B. Varnier, Aspekte der italienischen Kirchenpolitik in den Jahren der Konsolidierung des italienischen Staates, in: Lill/Traniello (Hrsg.), Der Kulturkampf in Italien und in den deutschsprachigen Ländern, Berlin 1993, S. 127, 146; S. Lariccia, Diritti di libertà, S. 182; O. Janz, S. 232; A. C. Jemolo, Chiesa e Stato, S. 158; M. Ricca, in: Bifulco/Celotto/Olivetti, Commentario alla Costituzione, Bd. 1, Turin 2006, Art. 19, S. 421. 82 Gesetz vom 9. April 1850 „Legge sull’abolizione del privilegio del foro e del diritto di asilo“, abgedruckt in Z. Giacometti (Hrsg.), S. 643; A. Barbera, S. 33, 49; A. C. Jemolo, Chiesa e Stato, S. 147 ff.; O. Janz, S. 232. 83 Gesetz Nr. 878 vom 25. Mai 1855 „Legge sulle corporazioni religiose“, abgedruckt in Z. Giacometti (Hrsg.), S. 649 ff.; A. Barbera, S. 49; O. Janz, S. 232; A. C. Jemolo, Chiesa e Stato, S. 121; vgl. zur Frage der Einziehung geistlicher Besitztümer auch A. C. Jemolo, La questione della proprietà ecclesiastica nel Regno di Sardegna e nel Regno d’Italia (1848-1888), Nachdruck Bologna 1974; vgl. zu Einflüssen der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts auf die piemontesische Diskussion um die Möglichkeit staatlicherseits religiösen Vereinigungen, Orden und Kongregationen die Rechtspersönlichkeit abzuerkennen, A. Bettetini, in: Bifulco/Celotto/Olivetti, Commentario alla Costituzione, Bd. 1, Turin 2006, Art. 20, S. 442 f.
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Verstoß gegen diese Gesetze verbannt wurde, exkommunizierte die katholische Kirche piemontesische Abgeordnete84. Gleichzeitig sind diese Spannungen auch im Kontext der Bestrebungen nach einer nationalen Einigung Italiens zu verstehen, an deren Spitze sich das Königreich Piemont-Sardinien nach der Revolution von 1848 setzte, während der Papst einer militärischen Auseinandersetzung mit Österreich eine deutliche Absage erteilt hatte. Der Kirchenstaat erschien so nur um so mehr als Hindernis auf dem Weg zur Schaffung eines italienischen Staates85. Der Gegensatz zwischen Staat und Kirche vertiefte sich. In den Jahren 1859 bis 1861 erfolgte schließlich die erste Phase der italienischen Einigung und die Gründung des neuen Königreichs Italien. Nachdem das piemontesische Heer 1859 mit französischer Hilfe die österreichische Armee besiegt hatte, wurde im Friedensvertrag von Zürich zunächst die österreichische Lombardei dem Königreich Piemont-Sardinien angegliedert. Die österreichische Niederlage hatte ferner zu von der Turiner Regierung unterstützten Volksaufständen in den mittelitalienischen Staaten einschließlich der päpstlichen Legationen in der Romagna, den Marken und Umbrien geführt, in deren Zuge die jeweiligen Monarchen vertrieben wurden. Ihre Gebiete wurden ebenso wie das Gebiet des Königreichs beider Sizilien 1860 nach Volksabstimmungen vom Königreich Piemont-Sardinien annektiert. Nach dem Gesetz vom 17. März 1861 konnte so Vittorio Emanuele II. den Titel eines Königs von Italien annehmen – „von Gottes Gnaden und durch den Willen der Nation“86. Offen geblieben war jedoch noch die „römische Frage“, was mit dem verbliebenen Teil des Kirchenstaates geschehen sollte, der zu diesem Zeitpunkt noch in etwa das Gebiet des heutigen Latium und vor allem Rom umfaßte, das zur Hauptstadt des neugegründeten Staates zu machen, vehement gefordert wurde87. Kurz vor seinem Tod 1861 wurde in diesem Zusammenhang vom italienischen Ministerpräsidenten Camillo Benso Graf Cavour – einen Verzicht der Kurie auf die Staatlichkeit des Kirchenstaates als Lösung der „römischen Frage“ implizierend – eine klare Trennung von weltlicher und geistlicher Macht, von Staat und Kirche vorgeschlagen. Berühmtheit und große Wirkmacht erlangte dabei die griffige Formel Cavours von der „libera Chiesa in libero Stato88“, zu 84
O. Janz, S. 232; A. C. Jemolo, Chiesa e Stato, S. 151. O. Janz, S. 232. 86 R. Martucci, S. 18. 87 Zum Rom-Mythos der italienischen Linken im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts O. Janz, S. 233. 88 Diese berühmte Formel, auf die in Italien heute noch gerne Bezug genommen wird, stammt aus einer Erklärung des ersten italienischen und vormaligen piemontesischen Ministerpräsidenten Camillo Benso Graf Cavour, die von ihm am 27. März 1861 in einer Aussprache des italienischen Parlaments zur „Frage von Rom, natür85
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deutsch „freie Kirche in freiem Staat“, als Modell für die Beziehungen zwischen Staat und katholischer Kirche. Der Reiz dieser Formel rührt auch daher, daß ihr ein gewisser doppelter Sinn innewohnt. Einerseits wird für die Regelung des institutionellen Verhältnisses von Staat und Kirche ein Modell klarer Trennung vorgeschlagen. Andererseits ist zu vergegenwärtigen, daß „Stato“ mit großem „S“ im italienischen zwar „Staat“ bedeutet, daß „stato“ in Kleinschreibung aber auch „Zustand“ bedeuten kann. Der Formel Cavours wohnt damit auch die Idee inne, daß der Verzicht auf die weltliche Herrschaft im Kirchenstaat die Kirche von der Last der Ausübung weltlicher Herrschaft befreie. Die Kirche würde dadurch zu einer „freien Kirche in freiem Zustand“, die sich frei von der Verstrickung in innen- und außenpolitische Auseinandersetzungen in größerer Unabhängigkeit auf ihre geistliche Mission besinnen könne89. Von katholischer Seite wurde nicht nur die im „in“ der Formel angelegte Unterordnung der Kirche unter die staatliche Rechtsordnung kritisiert, sondern auch, daß sie auf eine Beschränkung der Religion auf die Sphäre des Individuellen und Privaten abziele90. Die Befürworter einer strengen staatlichen Kirchenaufsicht befürchteten hingegen, der Staat begebe sich grundlos seiner Kontrollmöglichkeiten91. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts kam es zu einer Verstärkung des vor allem an der nationalen Frage entzündeten Gegensatzes zwischen italienischem Staat und katholischer Kirche und zu einer Verhärtung der Fronten. Während in der Kurie antiliberale und antimoderne Positionen, wie sie beispielsweise in der Enzyklika Quanta cura und im zugehörigen Syllabus errorum von 1864 ihren Ausdruck finden, immer mehr die Oberhand gewannen und schließlich im Unfehlbarkeitsdogma des ersten Vatikanischen Konzils von 1870 gipfelten, wurde seitens des neugeschaffenen Königreiches bereits 1861 unter dem Einfluß der demokratisch-republikanisch orientierten Linken Rom zur künftigen Hauptstadt des Königreichs erklärt92 und garibaldinische Freikorps versuchten mehrmals Rom einzunehmen93. Gleichzeitig wurden nicht nur die antiklerikalen piemontesischen Gesetze der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts auf die dem Reich neuangeschlossenen Geliche Hauptstadt Italiens“ abgegeben wurde, vgl. den Auszug aus der Erklärung Cavours in P. Scoppola, Chiesa e Stato nella storia d’Italia. Storia documentaria dall’Unità alla Repubblica, Bari, 1967, S. 5, 14. 89 So die Quintessenz von Cavours Erklärung vom 27. März 1861, vgl. P. Scoppola, S. 8 ff. Cavour verweist im besonderen darauf, daß der Kirchenstaat anders als in früheren Jahrhunderten nicht mehr als Garantie und Voraussetzung der Unabhängigkeit des Papsttums angesehen werden könne. 90 P. Scoppola, S. 4, 15 ff. 91 P. Scoppola, S. S. 4. 92 O. Janz, S. 232. 93 O. Janz, S. 233.
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biete ausgedehnt94 und auch hier die geistlichen Orden aufgelöst, sondern im Jahr 1865 mit dem neuen italienischen codice civile auch die Zivilehe eingeführt95. Im Jahr 1867 wurden schließlich die Militärgeistlichen im Heer abgeschafft96 und zur Sanierung der Staatsfinanzen in großem Umfang kirchliches Vermögen enteignet, hatte doch insbesondere in Süditalien noch keine Säkularisierung stattgefunden97. (2) Die liberale Epoche: Die „römische Frage“ bleibt offen Als der französische Kaiser Napoleon III. 1870 – kurz nach der Verkündung des Unfehlbarkeitsdogmas – im Zuge des ungünstigen Verlaufs des deutsch-französischen Krieges gezwungen war, die französischen Schutztruppen aus dem Kirchenstaat abzuziehen, konnte Rom von der italienischen Armee militärisch erobert und der Kirchenstaat nach einem Plebiszit von Italien annektiert werden98. Damit war der Antagonismus zwischen italienischem Staat und katholischer Kirche jedoch keineswegs beendet. Während Rom nun auch tatsächlich zur Hauptstadt Italiens wurde, betrachteten sich die Päpste fortan an als „Gefangene im Vatikan“99 und verließen über Jahrzehnte nicht die apostolischen Paläste. Der italienische Staat versuchte durch die legge delle guarentigie100 von 1871 durch einseitige Gesetzgebung das Verhältnis zum Heiligen Stuhl zu regeln und dem Papst als Oberhaupt der katholischen Kirche bestimmte Garantien zu gewährleisten. So 94
A. C. Jemolo, Chiesa e Stato, S. 158. O. Janz, S. 232 f.; vgl. hierzu sowie den nicht nur am Widerstand der katholischen Kirche gescheiterten Anläufen Ende des 19. Jahrhunderts eine Scheidungsgesetzgebung einzuführen S. Ferrari/A. Zanotti, Familie und Familienrecht im Konflikt zwischen Staat und Kirche, in: Lill/Traniello (Hrsg.), Der Kulturkampf in Italien und in den deutschsprachigen Ländern, Berlin 1993, S. 321, 329 ff. 96 O. Janz, S. 235. 97 E. Ragionieri, La storia politica e sociale, in: Storia d’Italia, Bd. 4.3, Torino 1976, S. 1708 f.; G. Verucci, Stichwort „Chiesa cattolica“, in: Bongiovanni/Tranfaglia (Hrsg.), Dizionario storico dell’Italia unita, Bari 1996, S. 107. 98 P. Scoppola, S. 71. 99 O. Janz, S. 234. 100 Gesetz Nr. 214 vom 13 Mai 1871 „Legge sulle prerogative del Sommo Pontefice e della Santa Sede, e sulle relazioni dello Stato con la Chiesa“ (Über die Prärogativen des Pontifex Maximus und des Heiligen Stuhls, und über die Beziehungen des Staates mit der Kirche), allgemein als „legge delle guarentigie“ (Garantiegesetz) bezeichnet, abgedruckt in Z. Giacometti (Hrsg.), S. 670 ff.; deutsche Übersetzung bei K. Strupp, Die Regelung der römischen Frage durch die Lateranverträge, Zeitschrift für Völkerrecht 15 (1930), S. 531, 543 ff., 558 f.; zur Vorgeschichte P. Scoppola, S. 72 ff.; gleichzeitig wurde auch das im früheren Königreich beider Sizilien bestehende königliche Privileg, in letzter Instanz innerkirchliche Streitigkeiten zu entscheiden, abgeschafft, vgl. hierzu A. Barbera, S. 47. 95
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wurde dem Papst unter anderem persönliche Immunität (Art. 1), der Rang eines souveränen Herrschers (Art. 3) und eine eingeschränkte Souveränität über einige Paläste und Villen (Art. 5) zuerkannt101. Außerdem wurde freie Kommunikation mit den Katholiken anderer Länder (Art. 12) und die Freiheit, diplomatische Beziehungen mit anderen Staaten zu unterhalten (Art. 11), garantiert. Von Seiten des Heiligen Stuhls wurde das Garantiegesetz jedoch nicht akzeptiert und auch die darin vorgesehene Dotation von jährlich 3.225.000 Liren (Art. 4) zur Bestreitung der Aufwendungen der zentralen Einrichtungen der Kirche lehnte der Papst ab102; von der katholischen Kirche wurde der italienische Staat nicht als legitim anerkannt und den Katholiken 1874 durch die Bulle non expedit die aktive und passive Teilnahme an Wahlen zum italienischen Parlament untersagt103 – eine Position, die erst am Vorabend des ersten Weltkriegs unter dem Eindruck des Erstarkens der Sozialisten aufweichen sollte. Im Zusammenspiel mit dem geltenden auf Zensus und Bildung basierenden Wahlrecht104 wurden Parlament und politisches Leben des neugegründeten Königreichs so wesentlich von Liberalen und teilweise auch dezidiert antiklerikalen politischen Kräften geprägt, weshalb in der italienischen Verfassungsgeschichte die Zeit von der italienischen Einigung bis zur Etablierung des Faschismus häufig als „periodo liberale“, „stato liberale“ oder „Italia liberale“ bezeichnet wird105. In den Jahren nach 1870 wurden in Italien staatlicherseits eine Reihe kirchenpolitischer Maßnahmen erlassen, die oftmals mit dem Begriff der privilegi odiosi, der negativen (wörtlich: haßerfüllten) Privilegien, umschrieben werden. Anders als in der legge delle guarentigie angekündigt, wurde so am Erfordernis des staatlichen Exequaturs für die Ernennung von Bischöfen festgehalten, während die Kurie den Bischöfen verbot, das Exequatur zu beantragen. Auch in Rom selbst wurde in großem Umfang kirchliches Eigentum konfisziert. Priesterseminare wurden 1872 staatlicher Kon101
G. Verucci, S. 107. Enzyklika Ubi nos vom 15. Mai 1871, abgedruckt in Z. Giacometti (Hrsg.), S. 673 ff.; A. C. Jemolo, Chiesa e Stato, S. 187; E. Ragionieri, S. 1708 f. 103 A. Barbera, S. 49 weist darauf hin, daß es dadurch zu einer Spaltung – wenn nicht zu einem Gegensatz – der beiden Status des „Bürgers“ und des „Gläubigen“ kam. 104 Das bis 1882 auch in Italien weitergeltende piemontesische Wahlrecht machte die Ausübung des aktiven Wahlrechts von einer Kombination aus Alphabetisierung und Zensus oder der Ausübung eines bestimmten bildungsbürgerlichen Berufes abhängig, was dazu führte daß nur ca. 2% der Gesamtbevölkerung tatsächlich wahlberechtigt waren. Im Jahr 1882 verdreifachte eine Wahlrechtsreform die Zahl der Wahlberechtigten und 1913 wurde schließlich das allgemeine Männerwahlrecht eingeführt; vgl. zum ganzen R. Martucci, S. 84 ff. 105 Bspw. P. Lillo, in: Bifulco/Celotto/Olivetti, Commentario alla Costituzione, Bd. 1, Turin 2006, Art. 7, S. 173; kritisch hierzu V. Reinhardt, Geschichte Italiens. Von der Spätantike bis zur Gegenwart, München 2003, S. 227. 102
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trolle unterworfen106, 1876 wurden katholische Prozessionen genehmigungspflichtig107 und die religiöse Eidesformel aus dem Prozeßrecht gestrichen108; der Religionsunterricht, der bislang Pflichtfach gewesen war, wurde 1877 im Rahmen einer Schulreform zum Wahlfach109. Im gleichen Jahr wurden kirchliche Pfründen ohne aktuellen Inhaber dem Fiskus zugeschlagen110. Als 1889 ein neues Strafgesetzbuch erlassen wurde, wurde das Delikt des Angriffs auf die Staatsreligion abgeschafft. Durch die Art. 140 ff. des neuen Codice Zanardelli, deren Schutzgut nun in der Religionsfreiheit des Individuums gesehen wurde, kam so allen zugelassenen Religionsgemeinschaften gleicher Schutz zu111. Im Hochschulbereich wurden 1873 die theologischen Fakultäten an den Universitäten aufgehoben112 und 1874 eine Richtlinie für das Studium im Fach der Rechtswissenschaft erlassen, nach der das Fach „diritto ecclesiastico“ durch das Studium der Rechtsgeschichte ersetzt werden sollte, weil es als mit der religiösen Ausbildung verbunden galt. Während der Begriff „diritto ecclesiastico“ heute dem deutschen Begriff des „Staatskirchenrechts“ entspricht113, war in den präunitarischen italienischen Staaten das diritto ecclesiastico nicht klar von der Kanonistik getrennt gewesen und von Klerikern unterrichtet worden114. In der italienischen Literatur wird das Verhältnis von Staat und Kirche im „stato liberale“ unter Betonung der Wirkungen der Garantiegesetze zum Teil als „separatismo“ oder „regime separatista“ bezeichnet115, was man in 106
E. Ragionieri, S. 1709. Gesetz vom 15. Juli 1877, sog. legge Coppino, vgl. G. Chiosso, Die Schulfrage in Italien: Volksschulbildung, in: Lill/Traniello (Hrsg.), Der Kulturkampf in Italien und in den deutschsprachigen Ländern, Berlin 1993, S. 257, 266 f.; O. Janz, S. 235. 108 M. Ricca, Art. 19, S. 421. 109 O. Janz, S. 242; E. Ragionieri, S. 1709. 110 M. Ricca, Art. 19, S. 421. 111 M. Ricca, Art. 19, S. 422; G. B. Varnier, Aspekte der italienischen Kirchenpolitik, S. 142 f., 146. 112 Gesetz vom 26. Januar 1873, vgl. G. Chiosso, S. 265 f.; G. Long, Alle origini del pluralismo confessionale. Il dibattito sulla libertà religiosa nell’età della Costituente, Bologna 1990, S. 305; A. Spadaro, Laicità e confessioni religiose: dalle etiche collettive (laiche e religiose) alla „meta-etica“ pubblica (costituzionale), in: Associazione italiana dei costituzionalisti (Hrsg.), Annuario 2007 – Problemi pratici della laicità agli inizi del secolo XXI, Padova 2008. S. 57, 110. 113 G. Conte/H. Boss, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache, Teil I Italienisch – Deutsch, 5. Aufl. München 2001, Stichwort diritto ecclesiastico. 114 G. Long, Origini, S. 305 f. 115 G. Long, Origini, S. 305.; vgl. zur Diskussion auch P. Lillo, Art. 7, S. 172 f. Fn. 4 et passim; B. Randazzo, Art. 8, S. 194. 107
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etwa mit dem deutschen Begriff Trennungssystem wiedergeben könnte. Andere, die mehr auf die privilegi odiosi abstellen, sprechen von einem „giurisdizionalismo“ oder einem „regime giurisdizionalista“116. Dieser Begriff wird verwendet, um ein System des Verhältnisses von Staat und Kirche zu umschreiben, in dem der Staat die Kirche auf vielfältige Weise zu kontrollieren und unter seine Aufsicht zu stellen versucht. Inhaltlich dürfte im deutschen dem giurisdizionalismo der Begriff der strengen Kirchenaufsicht am nächsten kommen117. Wieder andere beziehen sich auf Art. 1 des Statuto Albertino und qualifizieren das Verhältnis von Staat und Kirche im präfaschistischen Italien daher als „confessionismo“ oder „regime confessionista“118, als konfessionellen Staat oder Staatskirchentum. Ob eine derart eindeutige Zuordnung tatsächlich möglich ist, darf bezweifelt werden, finden sich doch Elemente all dieser „Systeme“ des Verhältnisses von Staat und Kirche im Staatskirchenrecht des jungen italienischen Königreichs. Beispielhaft zeigt sich hier allerdings eine gewisse Vorliebe der italienischen Literatur, bestimmte idealtypische Kategorien und abstrakte perfekte Systeme zu bilden und anschließend die Realität einem dieser Systeme zuzuordnen, um hieraus weiterführende Argumente zu gewinnen119. Während der ersten Jahrzehnte der Existenz des neuen italienischen Königreiches standen sich Staat und Kirche so in ihren ideologischen Positio116
P. Lillo, Art. 7, S. 173; M. Ricca, Art. 19, S. 421. Inhaltlich dürfte auch der Begriff des „Josephinismus“ weitgehend Übereinstimmungen aufweisen, sieht man einmal davon ab, daß dieser Begriff sich im deutschen nur auf eine ganz bestimmte historische Epoche bezieht, während der italienische Begriff des giurisdizionalismo epochenübergreifend verwendet wird. 118 P. Lillo, Art. 7, S. 172. 119 Solche Argumente finden sich dann auch in der Diskussion um die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen. Einerseits kann argumentiert werden, die Rechtsgrundlage für die Anbringung von Kreuzen sei in einer Periode des confessionismo ergangen, als Art. 1 des Statuto Albertino gegolten habe. Die italienische Republik sei aber – spätestens seit den Änderungen an den Lateranverträgen 1984 – kein konfessioneller Staat mehr, der Katholizismus sei nicht mehr Staatsreligion, weshalb auch die Rechtsgrundlage für die Anbringung von Kreuzen nicht mehr gelten könnten, so z. B. M. Canonico, S. 263 ff.; L. Zannotti, Il crocifisso nelle aule scolastiche, Dir. eccl., 1990, I, S. 324, 328; sowie aus der Rspr. Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1281 ff., worauf später (S. 67) noch einzugehen sein wird. Kritisch zu dieser Art von Argumentation C. Martinelli, La questione del crocifisso tra esperienza giurisprudenziale e interveno parlamentare, in: Dieni/Ferrari/Pacillo (Hrsg.), I simboli religiosi tra diritto e culture, Mailand 2006, S. 147, 151 ff. Andererseits könnte umgekehrt argumentiert werden, im stato liberale mit seinem regime separatista seien auch Kreuze in Schulzimmern angebracht gewesen, die italienische Republik verfolge hingegen keine strenge Trennung von Staat und Kirche, weshalb die Anbringung von Kreuzen erst Recht zulässig sein müsse, ähnlich argumentierten das Verwaltungsgericht Venetien und der Staatsrat, vgl. unten S. 68 f.; mit gleicher Tendenz wohl C. Cardia, Identità religiosa, S. 112 ff., 118. 117
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nen antagonistisch gegenüber. Während die staatstragenden Eliten die nationale Einheit und den jungen Nationalstaatstaat fortweg von intransigenten Katholiken (und später zusätzlich den Sozialisten) bedroht sahen120, machten die Kurie und die kirchliche Hierarchie den Liberalismus und die Moderne für den Verlust kirchlicher Privilegien und insbesondere der weltlichen Herrschaft der Kirche verantwortlich. Jenseits der proklamierten ideologischen Positionen und der Gesetzgebung fanden beide Seiten im Alltag jedoch zu einem erträglichen Modus vivendi121. Das Garantiegesetz bewährte sich trotz der kirchlichen Ablehnung in der Praxis122 und trotz seiner fakultativen Stellung blieb der Religionsunterricht die Regel123. Das Projekt eines Gesetzes über den Amtsmißbrauch von Kultusdienern scheiterte im Senat124. Staatlicherseits wurde der Amtsantritt von Bischöfen geduldet, auch wenn das eigentlich nötige Exequatur nicht erteilt worden war125 und das non expedit, das sich nur auf die Teilnahme an Parlamentswahlen bezog, verhinderte nicht die Mitwirkung von Katholiken am öffentlichen Leben auf kommunaler Ebene126. Kirchlicherseits wurde zu Beginn des 20 Jahrhunderts die Teilnahme an Wahlen freigestellt127, was dann 1913 – auch unter dem Eindruck des Erstarkens der Arbeiterbewegung – bei den ersten Wahlen mit allgemeinem Männerwahlrecht zum sogenannten Patto Gentiloni128 führte, einem Wahlbündnis, das die Mobilisierung katholischer Wählerstimmen für liberal-konservative Kandidaten ermöglichte, sofern diese sich auf bestimmte katholische Grundsätze verpflichten ließen129. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde auch die Disziplin des diritto ecclesiastico im echten Sinne eines Staatskirchenrechts wieder gegründet. Als „Väter“ des italienischen Staatskirchenrechts gelten die bei120
V. Reinhardt, S. 226 f. O. Janz, S. 241 ff.; M. Seidlmayer, Geschichte Italiens. Vom Zusammenbruch des Römischen Reiches bis zum ersten Weltkrieg, 2. Aufl. Stuttgart, 1989, S. 435. 122 O. Janz, S. 241. 123 Vgl. O. Janz, S. 242, nach dem die Bedeutung dieser Maßnahme auch durch die nur unzureichende Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht relativiert wurde; bemerkenswert erscheint der Hinweis von G. Chiosso, S. 296, daß die Teilnahme am Religionsunterricht regional stark unterschiedlich ausprägt war, wobei die norditalienischen Regionen, die schon auf eine längere Schultradition – samt Religionsunterricht – zurückblicken konnten, eine wesentlich größere Anhänglichkeit zeigten, als süditalienische Regionen, für die Schulpflicht völliges Neuland darstellte. 124 E. Ragionieri, S. 1710. 125 E. Ragionieri, S. 1710. 126 O. Janz, S. 241. 127 M. Seidelmayer, S. 435. 128 Abgedruckt in P. Scoppola, S. 409 f. 129 O. Janz, S. 243; P. Scoppola, S. 405 ff. 121
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den Rechtshistoriker Francesco Scaduto und Francesco Ruffini, zwei Männer liberaler Prägung, die sich beide das deutsche Staatskirchenrecht zum Vorbild nahmen130. Auf Scaduto und Ruffini geht bereits die Kontroverse zurück, ob die zahlenmäßige Stärke ein geeignetes Kriterium darstellen könne, das eine unterschiedliche staatliche Behandlung von Religionsgemeinschaften zu rechtfertigen vermag131. Anklänge an diesen Topos spielen auch heute noch eine wichtige Rolle132. Einige Bedeutung für die Entwicklung des italienischen Staatskirchenrechts sollte auch die am Ende der Periode des stato liberale von Santi Romano133 entwickelte Theorie der Pluralität der Rechtsordnungen134 erlangen. Auf das Staatskirchenrecht be130 G. Long, Origini, S. 306 f., der darauf verweist, daß Ruffinis erstes bedeutendes Werk die italienische Übersetzung E. Friedberg/F. Ruffini, Trattato del diritto ecclesiastico cattolico ed evangelico, Torino 1893, des Werks von E. Friedberg, Lehrbuch des katholischen und evangelischen Kirchenrechts, 3. Aufl., Leipzig 1889 war. 131 G. Long, Origini, S. 306 f. 132 Während der italienische Verfassungsgerichtshofs in den ersten Jahrzehnten seiner Rechtsprechung eher Ruffinis These zu folgen schien, die eine solche Differenzierung für zulässig hält, scheint die neuere Rechtsprechung dagegen Scaduto zu folgen, der für eine Gleichbehandlung der verschiedenen Religionsgemeinschaften unabhängig von ihrer zahlenmäßigen Stärke eintrat, vgl. Corte Costituzionale Nr. 440/1995, Giur. cost. 1995, S. 375, 3480; Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335, 3340; dieser Wandel in der Rechtsprechung wird in der Literatur immer wieder hervorgehoben. Aus der Literatur zur Frage der Schulkreuze hierzu z. B. G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 293, 310; A. Barbera, S. 75 ff.; R. Coppola, La „laicità relativa“ tra Corte costituzionale, Consiglio di Stato e Cassazione, Dir. eccl., 2006, I, S. 39, 50 ff.; M. Manco, Esposizione del crocifisso e principio di laicità dello Stato, Quad. dir. pol. eccl. 2005, S. 31, 42; N. Marchei, La vigenza delle norme regolamentari a seguito dell’entrata in vigore della carta costituzionale, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 201, S. 205; I. Pasquali Cerioli, Laicità dello Stato ed esposizione del crocifisso nelle strutture pubbliche, in: Dieni/Ferrari/Pacillo (Hrsg.), I simboli religiosi tra diritto e culture, Mailand 2006, S. 125, 138; S. Sicardi, S. 536; A. Spadaro, S. 81; L. Zannotti, Il crocifisso, S. 331; a. A. in der deutschen Literatur unlängst S. Huster, Die ethische Neutralität, S. 242; zur Entwicklung der kirchenrechtlichen Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts insgesamt A. Albisetti, Il diritto ecclesiastico nella giurisprudenza della Corte costituzionale, 3. Aufl., Mailand 2000; sowie die beiden Bände S. Domianello, Giurisprudenza costituzionale e fattore religioso. Le pronunzie della corte costituzionale in materia ecclesiastica (1957-1986), Mailand 1987; S. Domianello, Giurisprudenza costituzionale e fattore religioso. Le pronunzie della corte costituzionale in materia ecclesiastica (1987-1998), Mailand 1999. 133 Santi Romano (1875–1947) sollte später während des Faschismus zum wahren Kronjuristen Mussolinis aufsteigen, indem er als Präsident des Staatsrates in allen staatsrechtlichen Fragen Gutachten für den italienischen Diktator erstellte, vgl. R. Martucci, S. 243 f. passim. 134 S. Romano, Die Rechtsordnung, Berlin 1975.
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zogen ging er so davon aus, daß auch die katholische Kirche eine eigene Rechtsordnung habe135. (3) Die Lösung der „römischen Frage“ in den Lateranverträgen Wenngleich sich am Ende des stato liberale das Verhältnis zwischen Staat und Kirche deutlich entspannt hatte und sich der politische Katholizismus bei den Wahlen 1919 erstmals auch mit einer eigenen Gruppierung beteiligt hatte136, war doch die „römische Frage“ immer noch offen geblieben. Endgültig gelöst wurde sie erst durch die am 11. Februar 1929 zwischen katholischer Kirche und dem mittlerweile faschistisch regierten italienischen Staat abgeschlossenen und durch das Gesetz Nr. 810 vom 27. Mai 1929 ratifizierten Lateranverträge137. Die Lateranverträge bestehen aus drei Elementen, einem eigentlichen Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien138, einem Finanzabkommen139 und einem Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien140. Der eigentliche Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien dient nach seiner Präambel „der endgültigen Regelung ihrer gegenseitigen Beziehungen“, garantiert dem Heiligen Stuhl durch die Gründung des Staates der Vatikanstadt (Art. 3 ff.) eine „unstreitige Souveränität auch auf internationalem Gebiet“ (Art. 2) zur Sicherung seiner absoluten Unabhängigkeit und löst so die „ ‚Römische Frage‘ [. . .] endgültig und unwiderruflich“141. Ausdrücklich werden dem Heiligen Stuhl – auch in Kriegszeiten142 – ungestörte diplomatische Beziehungen zu allen Staaten garantiert (Art. 12). Durch das 135
G. Long, Origini, S. 308 f. A. Barbera, S. 49; O. Janz, S. 243; zum partito popolare und seinem spiritus rector Don Luigi Sturzo: A. C. Jemolo, Chiesa e Stato, S. 419 ff. 137 Italienischer Originaltext und deutsche Übersetzung sind abgedruckt in Pacelli (Hrsg.), Die Lateran-Verträge zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien vom 11. Februar 1929, Freiburg i. Br. 1929; zur Vorgeschichte P. Scoppola, S. 553 ff. sowie; aus der zeitgenössischen Literatur mit vorbereitenden Materialien K. Strupp, S. 531 ff.; m. w. N. R. Oeschey, Lo Stato della Città del Vaticano, Zeitschrift für Völkerrecht 15 (1930), S. 623 ff. 138 Trattato fra la Santa Sede e l’Italia (Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien), abgedruckt in Pacelli (Hrsg.), S. 7 ff. 139 Convenzione finanziara (Finanzabkommen), abgedruckt in Pacelli (Hrsg.), S. 32 ff. 140 Concordato fra la Santa Sede e l’Italia (Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien), abgedruckt in Pacelli (Hrsg.), S. 37 ff. 141 Präambel des eigentlichen Lateranvertrages, abgedruckt in Pacelli (Hrsg.), S. 8 f. 142 Zum im ersten Weltkrieg aufgetauchten Problem der diplomatischen Beziehungen des Heiligen Stuhls mit Staaten, die sich mit dem italienischen Königreich im Kriegszustand befanden vgl. P. Scoppola, S. 434 ff. 136
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Finanzabkommen wird eine einmalige und endgültige Entschädigung des Heiligen Stuhls für den Verlust des früheren Kirchenstaates bewirkt143. Während der eigentliche Lateranvertrag und das Finanzabkommen damit im wesentlichen die „römische Frage“ durch die Regelung der Beziehungen zwischen Heiligem Stuhl und Italien auf völkerrechtlicher Ebene lösten, sollte das Konkordat „zur Regelung der religiösen und kirchlichen Verhältnisse in Italien“144 dienen. Ging es der faschistischen Regierung hauptsächlich darum, durch die Lösung der „römischen Frage“ an innen- und außenpolitischem Prestige zuzunehmen, gewann für den Heiligen Stuhl im Laufe der Verhandlungen das Konkordat immer mehr an Bedeutung, um angesichts der zunehmenden Totalisierung des faschistischen Staates145 die Präsenz der Kirche in der Gesellschaft und namentlich im Erziehungswesen zu sichern. War für den Heiligen Stuhl mit Blick auf die Universalkirche die Garantie seiner Souveränität sicher wichtig, so war er doch bereit, für die Bestätigung des Katholizismus als Staatsreligion gem. Art. 1 des immer noch gültigen Statuto Albertino146, die Anerkennung und Absicherung des katholischen Religionsunterrichts „als Grundlage und Krönung des öffentlichen Unterrichts“147, die staatliche Anerkennung der zivilrechtlichen Wirkungen der religiösen Eheschließung148 und die Absicherung der Fortexistenz der azione cattolica (Katholische Aktion)149 hinzunehmen, daß das Territorium des Vatikanstaates im wesentlichen nur das Gebiet umfaßte, das schon 1870 nicht von italienischen Truppen besetzt worden war150. Fast zeitgleich mit dem Konkordat wurde 1929 das noch heute geltende Gesetz über die „zugelassenen Kulte“151 erlassen. Darin wurde in Art. 1 143
Art. 2 des Finanzabkommens, abgedruckt in Pacelli (Hrsg.), S. 34 f. So die Präambel des Konkordates, abgedruckt in Pacelli (Hrsg.), S. 38 f. 145 Beispielhaft ist hier die 1926 erfolgte Gründung der in etwa der Hitlerjugend vergleichbaren Opera nazionale Ballila und die Bedrohung der Existenz des katholischen Vereinswesens, insbesondere der Katholischen Aktion, angesichts weitgehender Verbote nichtfaschistischer Organisationen zu nennen, vgl. hierzu P. Scoppola, S. 574 f. 146 Vgl. Art 1 des eigentlichen Lateranvertrages, abgedruckt in Pacelli (Hrsg.), S. 10 f. 147 Art. 36 des Konkordates, abgedruckt in Pacelli (Hrsg.), S. 70 f.; Art. 37 sah darüber hinaus vor, daß sich die Veranstaltungen der staatlichen faschistischen Massenorganisationen nicht mit Religionsunterricht und Seelsorge überschneiden durften. 148 Art. 34 des Konkordates, abgedruckt in Pacelli (Hrsg.), S. 68 f. 149 Art. 43 des Konkordates, abgedruckt in Pacelli (Hrsg.), S. 74 f. 150 P. Scoppola, S. 576. 151 Gesetz Nr. 1159 vom 24. Juni 1929 (Disposizioni sull’esercizio dei culti amessi nello Stato e sul matrimonio celebrato davanti ai ministri dei culti medesimi, meist als „legge sui culti amessi“ bezeichnet). 144
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und 5 zwar grundsätzlich Religionsfreiheit gewährt, diese aber unter den Vorbehalt der öffentlichen Ordnung und der guten Sitten gestellt. Art. 4 bestätigte im gleichen Wortlaut die 1848 gewährte bürgerliche und politische Gleichberechtigung der Nichtkatholiken152 und Art. 6 erlaubte den Eltern, ihre Kinder vom Religionsunterricht abzumelden. In Art. 7 ff. wurden schließlich die zivilrechtlichen Wirkungen religiöser nicht katholischer Eheschließungen geregelt. In der Praxis wurden diese Regelungen jedoch von einer strengen Anwendung der Gesetze zur Wahrung der öffentlichen Ordnung überlagert; repressiv wurde vor allem gegen aus der Neuen Welt stammende Minderheiten wie Pfingstler und Zeugen Jehovas vorgegangen, denen vorgeworfen wurde, unter Deckmantel der Religionsfreiheit antifaschistische Propaganda zu betreiben153. Den jüdischen Gemeinden wurde 1930 durch Sonderregelungen der Status öffentlich-rechtlicher Körperschaften verliehen154, was bei den Betroffenen zustimmend aufgenommen wurde155; erst Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts setzte unter dem Druck Deutschlands die rassistische Verfolgung der italienischen Juden ein156. Dem faschistischen Versuch, auch den Bereich der Religion mit dem Katholizismus als Religion der Nation in den totalitären Staat einzubinden157, entspricht das im Kern noch heute geltende Strafgesetzbuch von 1930158, das für Delikte der Religionsbeleidigung ein System gestufter Strafbarkeit einführte, je nachdem ob die Beleidigung gegen die Staatsreligion des Katholizismus oder gegen einen der zugelassenen Kulte gerichtet war159. 152
Vgl. Fn. 81, S. 39. G. Long, Das Verhältnis von Staat und Kirche in Italien, ZevKR 52 (2007), S. 524, 526; B. Randazzo, Diversi ed eguali. Le confessioni religiose davanti alla legge, Milano 2008, S. 59 f.; dies., Art. 8, S. 195. 154 Königliches Dekret Nr. 1731 vom 30 Oktober 1930 (Norme sulle Comunità israelitiche e sulla Unione delle Comunità medesime); zur inzwischen durch den italienischen Verfassungsgerichtshof festgestellten Verfassungswidrigkeit der Zwangsmitgliedschaft in der israelitischen Kultusgemeinde und des öffentlich-rechtlichen Status der Kultusgemeinden vgl. Corte Costituzionale Nr. 259/1990, Giur. cost. 1990, S. 1542 ff. 155 Dem Erlaß des Dekrets waren Kontakte mit den jüdischen Gemeinden vorausgegangen, vgl. zum ganzen G. Long, Origini, S. 281. 156 G. Long, Origini, S. 282. 157 P. Scoppola, S. 625 f. 158 Zweisprachige Ausgabe R. Riz/J. Bosch, Italienisches Strafgesetzbuch – Codice penale italiano, Bozen 1995. 159 Dieses gestufte System erklärte der italienische Verfassungsgerichtshof in mehreren zwischen 1997 und 2005 ergangenen Entscheidungen für verfassungswidrig, vgl. hierzu Corte Costituzionale Nr. 440/1995, Giur. cost. 1995, S. 3475 ff.; Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335 ff.; Corte Costituzionale Nr. 508/2000, Giur. cost. 2000, S. 3965 ff.; Corte Costituzionale Nr. 327/2002, Giur. cost. 2002, S. 2522, 2524; Corte Costituzionale Nr. 168/2005, Giur. cost. 2005, S. 1379 ff. sowie unten Fn. 312, S. 84. 153
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Die in Teilen der katholischen Kirche Italiens verbreitete Hoffnung, den faschistischen Staat als Mittel zu einer wirklichen Restauration des katholischen Staates nutzbar machen zu können160, wurde jedoch enttäuscht. Von seiner äußeren Form her, war das faschistische Italien zwar wieder zum „katholischen Staat“ geworden, innerlich orientierte sich der Faschismus jedoch immer weniger an der christlichen Ethik161. Dies zeigte sich in den Jahren nach Abschluß des Konkordats zunächst in dem 1931 neu aufflammenden Konflikt um die Katholische Aktion162 und noch mehr im Streit um die Anwendung der 1938 erlassenen Rassengesetze auf kirchlich geschlossene Ehen zwischen Ariern und Nichtariern163. Der Abschluß der Lateranverträge wirkte in Italien auch für die rechtswissenschaftliche Beschäftigung mit Kirche und Religion als Zäsur. Der Faschismus betrachtete die Lateranverträge als einen Erfolg, was Kritik daran problematisch werden ließ. So traten an die Stelle der hitzigen – oft stark politisierten – Debatten der Vorkriegszeit weitaus weniger grundsätzliche Fragen der Auslegung und Anwendung des Konkordates. Insgesamt war das Staatskirchenrecht eher im Rückzug begriffen, während die Beschäftigung mit dem kanonischen Recht an Terrain gewinnen konnte164. Die Kanonistik, in der größere wissenschaftliche Freiheit möglich war, wurde wieder in den Kanon der an staatlichen Universitäten unterrichteten Fächer aufgenommen. Zusätzlicher Bedeutungsgewinn kam ihr auch durch die im neuen Eherecht vorgesehene Verweisung des staatlichen Rechts auf das kirchliche Recht zu. An die Stelle von Forschern, die gleichzeitig Rechtshistoriker oder Verfassungsrechtler war, trat so zunehmend die Figur eines Kirchenrechtlers, der sich gleichzeitig mit kanonischem und staatlichem 160
P. Scoppola, S. 626. P. Scoppola, S. 685; nach B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 59 ging es dem Faschismus vielmehr darum den Katholizismus als instrumentum regni zu nutzen, um auch auf spirituellem Gebiet eine totalitäre Einheit und Einheitlichkeit der Nation sicherzustellen. 162 P. Scoppola, S. 667; Konsequenz dieses Konflikts, in dem es erneut um die Erziehung der Jugend ging, war eine Beschränkung der katholischen Aktion auf einen engeren spirituellen Bereich unter Ausschluß einer Diskussion um die sozialen Zustände im Lande. 163 P. Scoppola, S. 701, 705; nach dem bei Scoppola abgegruckten Auszug aus den Tagebuchaufzeichnungen seines Schwiegersohns und Außenministers Graf Ciano sprach sich Mussolini ausdrücklich dagegen aus, in die Rassengesetze eine Ausnahme für gemischte nach kanonischem Recht geschlossene Ehen einzufügen, weil sonst aus dem rassischen Kriterium ein religiöses Kriterium geworden wäre. 164 Dies wurde teilweise schon von den Zeitgenossen registriert und von einigen wenigen gleichzeitig als Qualitätsverlust des Staatskirchenrechts beklagt, vgl. bspw. A. C. Jemolo, Considerazioni sulla giurisprudenza dell’ultimo decennio in materia di decime con particolare riguardo a quella della Corte di Venezia e dei Tribunali veneti, in: Scaduto (Hrsg.), Studi in onore di Francesco Scaduto, Bd. 2, Firenze 1936, S. 3, 4 f. 161
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Kirchenrecht beschäftigte und geneigter war, Denkmodelle des Kirchenrechts auch ins staatliche Recht zu übertragen165. Als fortwirkendes Vermächtnis der liberalen Epoche dürfen so Cavours wirkmächtige Formel der „libera Chiesa in libero Stato“ und als Folge des non expedit eine nicht am formalen Merkmal der Taufe, sondern der Übereinstimmung mit der kirchlichen Hierarchie ansetzende Differenzierung in Katholiken und als „laici“ bezeichneter – gleichwohl meist katholisch getaufter – „Nichtkatholiken“ gelten. Im Bereich des Staatskirchenrechts als Wissenschaft hat in Italien die Diskussion, ob zahlenmäßige Stärke und soziale Relevanz taugliche Kriterien der Differenzierung zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften sind, bleibende Bedeutung erlangen können. Als wichtigstes Erbe aus der Zeit des Faschismus hat die Lösung der römischen Frage durch die Lateranverträge zu gelten. Das im Konkordat verankerte Eherecht und die damit zusammenhängenden Fragen der staatlichen Anerkennung von Entscheidungen kirchlicher Gerichte können als wesentlicher Faktor zur Erklärung einer Tendenz der italienischen Staatskirchenrechtswissenschaft dienen, sich in einer dem internationalen Privatrecht ähnelnden Perspektive auf Fragen des Verhältnisses zwischen staatlicher und kirchlicher Rechtordnung zu konzentrieren. bb) Die republikanische Verfassung: Religionsfreiheit und staatskirchenrechtliche Kontinuität Mit dem Zusammenbruch des Faschismus und dem Wechsel Italiens von den Achsenmächten zu den Alliierten wurde auch das Ende des Statuto Albertino besiegelt. Auch wenn von Seiten des königlichen Hofes 1943 zunächst versucht wurde, an vorfaschistische Traditionen eines monarchischbürokratischen Staatsmodells anzuknüpfen166, wurde noch während des Krieges beschlossen, daß unmittelbar nach dem Ende des Krieges eine neue Verfassung ausgearbeitet werden sollte. Nur so konnten dezidiert antifaschistische Kräfte, für die die Monarchie tief in das faschistische System verstrickt war, zur Kooperation bewogen werden167. Am 2. Juni 1946 sprachen sich die Italiener mit knapper Mehrheit für die Abschaffung der Monarchie aus und wählten zugleich eine verfassungsgebendes Versammlung, die Costituente, die die neue republikanische Verfassung erarbeitete, welche am 1.1.1948 in Kraft trat168. Religionsverfassungsrechtliche Regelungen finden 165
Vgl. zum ganzen G. Long, Origini, S. 309. V. Reinhardt, S. 287; ausführlich E. Ragionieri, S. 2334 ff. 167 E. Ragionieri, S. 2370 ff. 168 Art. 18 Abs. 1 der Übergangs- und Schlußbestimmungen der italienischen Verfassung. 166
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sich in der republikanischen Verfassung an zwei Stellen. Zum einen wurden in dem mit „Grundprinzipien“ überschriebenen ersten Teil der Verfassung mit den Art. 7 und 8 it. Verf. Regelungen zum Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften aufgenommen: Art. 7 Der Staat und die katholische Kirche sind, jeder im eigenen Bereich, unabhängig und souverän. Ihre Beziehungen sind in den Lateranverträgen geregelt. Von beiden Seiten gebilligte Änderungen dieser Verträge bedürfen nicht des für Verfassungsänderungen vorgesehenen Verfahrens. Art. 8 Alle religiösen Bekenntnisse sind vor dem Gesetz gleichermaßen frei. Die von der katholischen Konfession abweichenden Bekenntnisse haben das Recht, sich nach ihren eigenen Statuten zu organisieren, soweit diese nicht im Widerspruch zur italienischen Rechtsordnung stehen. Ihre Beziehungen zum Staat werden auf der Grundlage von Vereinbarungen mit den entsprechenden Vertretungen durch Gesetz geregelt.
Zum anderen wurden mit den Art. 19 und 20 it. Verf. grundrechtliche Verbürgungen der individuellen und kollektiven Religionsfreiheit in den Grundrechtsteil der Verfassung aufgenommen: Art. 19 Alle haben das Recht, den eigenen religiösen Glauben in jeder Weise, ob individuell oder gemeinschaftlich frei zu bekennen, für ihn zu werben und seinen Kult privat oder öffentlich auszuüben, vorausgesetzt, daß die Riten nicht gegen die guten Sitten verstoßen. Art. 20 Der kirchliche Charakter und der religiöse oder kultische Zweck einer Vereinigung oder Institution können nicht Grund sein für besondere gesetzgeberische Beschränkungen oder für besondere Steuerbelastungen ihrer Gründung, ihrer Rechtsfähigkeit oder jeglicher Form ihrer Betätigung169.
Stellt sich die italienische Verfassung insgesamt als Ergebnis eines Kompromisses zwischen den verschiedenen in der Costituente vertreten politischen Strömungen dar170, so lassen sich auch in den verschiedenen Artikeln, die das Verhältnis der italienischen Republik zum religiösen Leben ihrer Bürger vorgeben, die unterschiedlichen Strömungen der verschiedenen in der verfassungsgebenden Versammlung vertretenen politischen Kräfte feststellen. 169
Deutsche Übersetzung der Vorschriften der italienischen Verfassung übernommen aus Kimmel/Kimmel (Hrsg.), Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten, München 2005. 170 V. Reinhardt, S. 294 f.
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(1) Die Vorstellungen der verschiedenen politischen Richtungen und Konfessionen Unterschiedliche Vorstellungen fanden sich im Vorfeld der Ausarbeitung der neuen Verfassung im Hinblick auf die Kirche und Religion betreffenden Fragen zum einen dahingehend, welche Bedeutung der Religionsfreiheit im Verhältnis zu anderen Freiheiten beigemessen werden sollte. Mit der Frage zusammenhängend, ob dem individuellen oder kollektiven Moment von Religion größere Bedeutung beigemessen wurde, war jedoch vor allem umstritten, ob die katholische Kirche und die mit ihr abgeschlossenen Lateranverträge in der neuen Verfassung ausdrückliche Beachtung finden sollten. Damit zwar zusammenhängend, aber von weit geringerer Bedeutung in der Diskussion, stellte sich schließlich die Frage nach dem Verhältnis des italienischen Staates zu anderen minoritären Religionsgemeinschaften. (a) Christdemokraten Wichtigste und einflußreichste Gruppierung in der Costituente war die Democrazia cristiana (DC), die mit 35% der abgegebenen Stimmen nicht nur über die relative Mehrheit in der verfassungsgebenden Versammlung verfügte, sondern – gerade auch in den Diskussionen um Religionsfreiheit und das Verhältnis zwischen Staat und Kirche – besser vorbereitet war und über eine klare Linie verfügte171. Die Programmatik der DC stellte sich als eine Art Synthese aus liberaler Freiheitsgarantie und katholischen Traditionen dar172. Während für die anderen Parteien die Religionsfreiheit nur eines von mehreren Kennzeichen des neuen Staats sein sollte, das sich zudem weitgehend in der Gleichheit der Bürger unabhängig von ihrer Religion erschöpfte, stellten die Christdemokraten den Begriff der Religionsfreiheit ins Zentrum ihrer Überlegungen173. Diese Religionsfreiheit verstanden sie zwar auch, aber nicht nur als Verbot von Zwang, einen Glauben annehmen zu müssen174. Betont wurde, daß die Religionsfreiheit nicht auf ein individuelles Recht des Einzelnen reduziert werden dürfe, sondern auch das Recht umfassen müsse, den eigenen Glauben als Gemeinschaft der Kirche leben 171
G. Long, Origini, S. 43 f.; vgl. zum kirchenpolitischen Programm der Christdemokraten für die neue Verfassung den sog. Gonella-Bericht, abgedruckt in P. Scoppola, S. 779 ff. 172 G. Long, Origini, S. 36 f. 173 G. Long, Origini, S. 45; als symbolischer Ausdruck der Zentralität, die dem Begriff der Freiheit in christlicher Lesart von den Christdemokraten beigemessen wurde, kann auch deren Parteisymbol gelten, das auf einem weißen Schild ein rotes Kreuz zeigte, in dessen Querbalken der Schriftzug „Libertas“ zu lesen war. 174 G. Long, Origini, S. 34.
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zu können, weshalb der Staat die Kirche als solche und in ihrer Eigenheit zur Kenntnis nehmen müsse175. Ebenso wurde betont, daß Religionsfreiheit die Freiheit sei, nach dem (christlichen) Gewissen zu handeln, um so den Katholiken zu garantieren, das öffentliche und private Leben nach den Lehren der Kirche zu leben176. An zweiter Stelle nach der Religionsfreiheit und noch vor den wirtschaftlichen und politischen Freiheiten standen für die Christdemokraten die moralischen Freiheiten177: Freiheit der Familie basierend auf der unauflöslichen Ehe, Freiheit der Schule mit dem Recht auf Religionsunterricht und der Gleichstellung von Privatschulen und Freiheit vom Laster, verstanden als Schutz der guten Sitten und der „moralischen Gesundheit“. In dieses Konzept der Religionsfreiheit fügten sich die Lateranverträge und zumal das Konkordat bestens ein, weil darin nicht nur die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen anerkannt wurde, sondern auch die staatliche Anerkennung des kirchlichen Eherechts und die Erteilung von Religionsunterricht besonders verankert war. (b) Katholische Kirche Auch die katholische Kirche selbst sprach sich ausdrücklich für die Beibehaltung der Lateranverträge aus178. Während die katholische Kirche die individuelle Religionsfreiheit ausdrücklich als Ausdruck des christlichen Prinzips, daß niemand zum Glauben gezwungen werde dürfe, würdigte179, schien ihr ekklesiologisches Selbstverständnis, die einzige wahre Kirche zu sein, auszuschließen, im Verhältnis zum Staat eine Gleichordnung mit anderen Konfessionen anzuerkennen, auch wenn sie nicht umhin kam, die tatsächliche Existenz anderer Konfessionen zur Kenntnis zu nehmen180. Ohne die ekklesiologische Lehre von der einen wahren Kirche aufgeben zu müssen, sollte sich jedoch aus der katholischen Lehre vom Mensch als Gemeinschaftswesen eine Möglichkeit ergeben, Vorstellungen für das Verhältnis zwischen Staat und nichtkatholischen Konfessionen zu entwickeln. Sie konnten in die Reihe der kleinen Gemeinschaften wie Familie, gewerkschaftliche, wirtschaftliche und katholische religiöse Vereinigungen eingeordnet werden, die nach katholischer Vorstellung von der großen Gemein175
G. Long, Origini, S. 46 f. G. Long, Origini, S. 34 f., 45. 177 G. Long, Origini, S. 36. 178 Sogar Papst Pius XII. persönlich äußerte sich anläßlich eines Besuchs des provisorischen italienischen Staatsoberhauptes De Nicola im Vatikan sehr deutlich in dieser Richtung, vgl. G. Long, Origini, S. 215. 179 G. Long, Origini, S. 214 f. 180 G. Long, Origini, S. 220 ff. 176
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schaft des Staates anerkannt werden sollten181. Im Hinblick auf Art. 1 des Lateranvertrages wurde betont, daß Art. 1 des Statuto Albertino immer untrennbar mit dem damit verbundenen Gleichberechtigungsgesetz von 1848 verbunden gewesen sei, hinter das man keines Falls zurück wolle. Es gehe vielmehr darum, daß das Faktum, daß eine überwältigende Mehrheit der Italiener Katholiken sei, anerkannt werden müssen. Aus diesem Grund sei nicht nur ein besonderes Verhältnis des Staates zur katholischen Kirche nötig, sondern auch ein besonderer Respekt vor den christlichen Traditionen des Landes und die Anerkennung seines Charakters als Zentrum christlicher Zivilisation182. (c) Liberale und nichtsozialistische Linke Die anderen in der verfassunggebenden Versammlung vertretenen Parteien konnten demgegenüber für die Regelung des Verhältnisses von Staat und Religion nicht in gleicher Weise wie die Christdemokraten in sich geschlossene und elaborierte Konzepte vorweisen. Gemeinsames Element der verschiedenen liberalen Parteien und der nichtsozialistischen Linken183, die zusammen etwa 16% der Stimmen erhalten hatten, war die Bezugnahme auf Cavours Formel der „Libera Chiesa in libero Stato“ und die Kirchenpolitik der (späten Phase) der liberalen Epoche184. Die Liberalen befürchteten, die Christdemokraten würden eine Konfessionalisierung des Staates beabsichtigen. Die von diesen besonders hervorgehobene Freiheit der Kirche ging für die Liberalen hingegen in der unteilbaren Freiheit aller auf. Teile der Liberalen favorisierten, in Anknüpfung an die Absprache des Patto Gentiloni von 1913 mit den Christdemokraten zu kooperieren und in Anerkennung der „italienischen Realität“ von einem besonderen Verhältnis zwischen dem italienischen Staat und der Religion der Mehrheit seiner Bürger auszugehen185. Ebenso fanden sich unter den Liberalen aber Anhänger des traditionellen Antiklerikalismus, die ebenso wie die nichtsozialistische Linke das Konkordat als Privilegierung der katholischen Kirche ablehnten und eine Unterwerfung der Kirche unter das allgemeine Gesetz forderten186.
181
G. Long, Origini, S. 232 f. G. Long, Origini, S. 225 ff. 183 Hierzu sind in erster Linie Partito Repubblicano Italiano und der sich auf Mazzini berufende Partito d’Azione zu rechnen. Zu deren kirchenpolitischer Programmatik vgl. G. Long, Origini, S. 79 ff., 99 ff. 184 G. Long, Origini, S. 50 f. 185 G. Long, Origini, S. 56 ff., 62. 186 G. Long, Origini, S. 62, 101. 182
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(d) Sozialisten Zweitstärkste Fraktion in der verfassunggebenden Versammlung waren nach den Christdemokraten mit 20% die Sozialisten. Anders als bei den durchweg der katholischen Kirche nahestehenden Christdemokraten reichten die Einstellungen zur Religion bei den Sozialisten von einem marxistischen Verständnis von Religion als Überbau über Fürsprecher der Belange religiöser Minderheiten bis zu christlichen Strömungen jenseits der Amtskirche187. Fragen des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche hatten für die Sozialisten nicht die gleiche Bedeutung wie für die Christdemokraten, auch die Religionsfreiheit war für sie nur ein Grundrecht unter mehreren ebenso wie Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit und Freizügigkeit188. Religion war für die Sozialisten in erster Linie Privatsache189 und in der Anknüpfung an die Formel Cavours bestanden deutliche Konvergenzen mit den Liberalen190. Prägend für die Einstellung der Sozialisten war das Konzept ihres Führers Pietro Nenni vom „Stato laico“, eines säkularen Staates vor dem alle Glaubensrichtungen gleich sind, ohne daß dieser Staat selbst atheistische oder antiklerikale Züge annimmt191. Entsprechend lehnten die Sozialisten eine „Konstitutionalisierung“ der Lateranverträge ab, weil ihnen das Konkordat als Privilegierung der katholischen Kirche galt und sie das in Art. 1 des eigentlichen Lateranvertrages enthaltene Bekenntnis zu Art. 1 des Statuto Albertino ablehnten. Im übrigen hielten sie den eigentlichen Lateranvertrag und das Finanzabkommen aber für eine anzuerkennende völkerrechtlich erfolgte Lösung der römischen Frage192. Im Hinblick auf die religiösen Minderheiten machten sich die Sozialisten für deren Freiheit und Gleichberechtigung stark193.
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G. Long, Origini, S. 125, 139 ff., G. Long, Origini, S. 128, 130, 133 f., demnach waren für die Sozialisten Fragen der Religion eigentlich überwundene Probleme des 19. Jahrhunderts, weshalb für sie die sozialen Probleme des Landes viel wichtiger waren. 189 G. Long, Origini, S. 137. 190 G. Long, Origini, S. 129, 149. 191 G. Long, Origini, S. 130 f.; eng verbunden mit dem Konzept des „Stato laico“ war für die Sozialisten die Forderung nach einer nicht konfessionell geprägten Schule, der „scuola laica“, und die Ablehnung einer Anerkennung oder gar Förderung des (katholischen) Privatschulwesens, vgl. hierzu. G. Long, Origini, S. 145. 192 G. Long, Origini, S. 131 ff. 193 G. Long, Origini, S. 139 ff. verweist darauf, daß das Eintreten der Sozialisten für religiöse Minderheiten mit Ursprung im angelsächsischen Raum auch vom außenpolitischen Kalkül geleitet wurde, die Rolle der Democrazia cristiana als Hauptverbündete der Briten und Amerikaner in Frage zu stellen. 188
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(e) Protestanten und Juden Religiöse Minderheiten, die in der öffentlichen Debatte über die im Entstehen begriffene italienische Verfassung Positionen zum Ausdruck brachten, waren Protestanten194 und Juden, die die relativ größten religiösen Minderheiten darstellten195. Mit ca. 85000 bzw. 23000 Gläubigen umfaßten sie dennoch nur einen verschwindend kleinen Anteil an der Gesamtbevölkerung von ca. 45 Millionen Italienern; sie konnten sich im Gegensatz zur katholischen Kirche nicht auf eine ihnen unmittelbar nahestehende politische Kraft stützen. Beiden Minderheiten ging es zunächst vor allem um ein Ende der über den Faschismus hinaus fortdauernden restriktiven Auslegung und Anwendung des Gesetzes über die zugelassenen Kulte sowie im Fall der Juden um die vollständige Aufhebung der Rassengesetze und eine Wiedergutmachung196. Minimalforderung beider Minderheiten war eine ausreichende Garantie der individuellen Religionsfreiheit durch die neue Verfassung197. Insbesondere die Protestanten wandten sich gegen die Schranke der öffentlichen Ordnung, der das Gesetz über die zugelassenen Religionsgemeinschaften die Kultusfreiheit unterwarf198. In ihren Positionspapieren machten sie sich für eine deutliche Trennung von Staat und Kirche stark und bezogen eindeutig gegen die Lateranverträge Stellung, hauptsächlich wegen Art. 1 des eigentlichen Lateranvertrages und wegen des im Konkordat vorgesehen Religionsunterrichts. Namentlich die Protestanten würdigten in ihren Stellungnahmen in positiver Weise die Verankerung der laïcité in der französischen Verfassung von 1946199. Vielmehr forderten sie die juristische Gleichbehandlung und die Unterwerfung aller Religionsgemeinschaften unter ein für alle gültiges gleiches Gesetz ein200. Strebten die Protestanten dabei die Festlegung eines absolut identischen juristischen Status für alle Konfessionen an, konnte man sich jüdischerseits auch eine propor194 Im Jahr 1946 gründeten die Waldenser, einzige protestantische Konfession originär italienischen Ursprungs, zusammen mit Methodisten und Baptisten den Bundesrat der evangelischen Kirchen in Italien, um gemeinsam ihre Interessen gegenüber der Öffentlichkeit zu vertreten. Später schlossen sich noch Adventisten, Pfingstler und Heilsarmee an, hierzu G. Long, Origini, S. 252 f. 195 B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 61. 196 G. Long, Origini, S. 254 f., 287. 197 G. Long, Origini, S. 258 f., 273 f., 297. 198 G. Long, Origini, S. 274; die israelitische Kultusgemeinde schien hingegen keine Einwände gegen die Schranke der öffentlichen Ordnung zu haben, vgl. G. Long, Origini, S. 296. 199 G. Long, Origini, S. 259; Art. 1 der französischen Verfassung von 1946 lautete „La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale.“, vgl. Gosewinkel/Masing (Hrsg.), S. 361. 200 Vgl. hierzu G. Long, Origini, S. 268 ff., 288 f.; ders., Verhältnis, S. 525 ff.
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tionale Teilhabe an Privilegien als Weg zur Gleichbehandlung vorstellen. Insgesamt konvergierten die Äußerungen der jüdischen Vertreter darin mit den Katholiken, daß sie die kollektiven Aspekte des religiösen Lebens stärker in den Vordergrund rückten201. (f) Kommunisten Drittstärkste Kraft in der verfassunggebenden Versammlung waren die Kommunisten mit 18% der abgegeben Stimmen. Allgemein maßen die Kommunisten in der Diskussion um die künftige Verfassung den „formalen“ Freiheiten der Grundrechte nur geringe Bedeutung zu. Zwar sollten die Grundrechte und damit auch die Religionsfreiheit ihrer Ansicht nach in der neuen Verfassung verankert werden, wichtiger waren für sie aber die sozialen Realitäten und der Ausdruck, den diese in den politischen Kräfteverhältnissen der jungen Republik finden würden202. Im Hinblick auf die Religionsfreiheit war den Kommunisten die Freiheit der Minderheiten203 und religiösen Dissidenten ein Anliegen, insbesondere auch als Freiheit des Individuums, keine Religion zu haben. Religionsfreiheit bedeutete für sie Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit, Kultusfreiheit sowie die Freiheit religiöser Propaganda und religiöser Organisation204. In der beschränkenden Betonung auf religiöse Propaganda und Organisation kommt dabei zum Ausdruck, daß die Kommunisten Fragen des Religionsverfassungsrechts in erster Linie in politischer Perspektive als Teil ihres politischen Verhältnisses zum Vatikan – möglichst unter Umgehung der Christdemokraten – betrachteten. Ihr Führer Togliatti ging davon aus, daß Wahlerfolge der Kommunisten in Italien deren Wählbarkeit durch die katholischen Massen voraussetzte, wozu eine Sicherung des religiösen Friedens in Italien und zumindest eine Respektierung der kommunistischen Partei durch die Kirche nötig wäre. Um eine Nichteinmischung der Kirche in politische Angelegenheiten zu erreichen, waren die Kommunisten bereit, nicht nur die Lateranverträge als dauerhafte Lösung der „römischen Frage“ anzuerkennen, sondern im Gegenzug die Nichteinmischung des Staates in religiöse Angelegenheiten und Garantien der den Katholiken so wichtigen „Freiheit der Kirche“ anzubieten205. Im Hinblick auf die „römische Frage“ hielten sie die Lateranver201 G. Long, Origini, S. 288, der auch darauf verweist, daß die jüdischen Gemeinden gegen die durch die Vorschriften von 1929/30 vorgesehene obligatorische Zugehörigkeit ihrer Mitglieder zu den Kultusgemeinden keine Einwände hatten. 202 G. Long, Origini, S. 150 f. 203 Hierzu G. Long, Origini, S. 165 f. 204 G. Long, Origini, S. 152. 205 G. Long, Origini, S. 152 ff.
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träge für eine dauerhafte Lösung206. Zwar war das Konkordat in ihrer Perspektive durchaus verbesserungsfähig, doch waren die Kommunisten bereit, dessen positive Auswirkungen für den religiösen Frieden und den Ausschluß einseitiger Änderungen anzuerkennen207. (2) Die Annahme des Religionsverfassungsrechts der italienischen Republik: Kompromisse mit christdemokratischer Handschrift (a) Art. 7: Kommunisten stimmen mit Christdemokraten Wie die Positionen der verschiedenen in der verfassungsgebenden Versammlung vertretenen Parteien zeigen, war in der Costituente am umstrittensten, ob die Verfassung ausdrücklich auf die Stellung der katholischen Kirche eingehen, ob sie ihr einen besonderen Status einräumen und ob die Lateranverträge ausdrückliche Erwähnung finden sollten208. Indem das Thema des Verhältnisses der Republik zur Religion schon im zuständigen Unterausschuß der verfassunggebenden Versammlung nicht aus der Perspektive der individuellen Religionsfreiheit sondern unter der Überschrift „Der Staat als Rechtsordnung und sein Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen“ erörtert wurde, wurden schon in einer sehr frühen Phase die Weichen in Richtung des derzeitigen Art. 7 it. Verf. gestellt209. Unschwer erkennbar sind darin nicht nur die Anklänge an die – im übrigen auch mit den Lehren der katholischen Kirche sehr gut vereinbare210 – Theorie Santi Romanos von der Pluralität originärer Rechtsordnungen, zu denen auch die Rechtsordnung der katholischen Kirche zu zählen sei211. Ebenso zeigt sich die größere Bedeutung, die der Absicherung der Freiheit der Kirche als Gemeinschaft seitens der Christdemokraten und der katholischen Kirche gegenüber der individuellen Religionsfreiheit beigemessen wurde. Angenommen wurde dieser im wesentlichen den Vorstellungen von Christdemokraten 206
G. Long, Origini, S. 152. G. Long, Origini, S. 168. 208 P. Scoppola, S. 787 verweist darauf, daß Art. 7 der am längsten und intensivsten diskutierte Artikel der ganzen Verfassung war; A. C. Jemolo, Chiesa e Stato, S. 516 ff.; P. Lillo, Art. 7, S. 174; B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 61. 209 P. Lillo, Art. 7, S. 175; G. Long, Origini, S. 330 f. 210 G. Long, Origini, S. 308 f.; das Verhältnis zwischen Staat und Kirche als Verhältnis zweier unabhängiger souveräner Kräfte zu verstehen, dürfte im übrigen auch der Denkweise der staatskirchenrechtlichen Forschung der Vorkriegszeit entsprochen haben, die sich in der Perspektive der Anerkennung von Rechtsakten einer anderen Rechtsordnung überwiegend mit der Aufarbeitung des konkordatären Eherechts befaßte. 211 P. Scoppola, S. 787 ff. 207
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und katholischer Kirche entsprechende Artikel, der in Abs. 1 die Kirche dem Staat gleich- und nicht unterordnet und in Abs. 2 die Lateranverträge ausdrücklich in den Verfassungstext aufnimmt212, mit den Stimmen von Christdemokraten und Kommunisten. Wenn für den Vatikan eine verfassungsrechtliche Absicherung des Konkordates als Garantie der Freiheit der Kirche nötig schien, waren die Kommunisten bereit, diese Garantie zu geben, um so den religiösen Frieden zu sichern, der ihnen für künftige Wahlerfolge notwendig schien. Damit kam die Zustimmung der Kommunisten zur Verankerung der Lateranverträge in Art. 7 Abs. 2 it. Verf. keineswegs so überraschend wie dies auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag213. Ihre Zustimmung entsprach nicht nur der stark machtpolitisch orientierten Linie der Kommunisten, sondern war auch insofern konsequent, als die Formulierung von Art. 7 it. Verf. im wesentlichen auf einem Kompromißvorschlag Togliattis beruhte214. Auch wenn Art. 7 Abs. 1 it. Verf. durchaus einer Lesart der gleichberechtigten Trennung von Kirche und Staat offen stand, war dieser Vorschrift doch mit dem in Abs. 2 enthaltenen Verweis auf Art. 1 des eigentlichen Lateranvertrages und das Konkordat eine gewisse Ambiguität zu eigen. Eine Niederlage stellte er jedenfalls für all jene dar, die eine Verankerung eines besonderen Status der katholischen Kirche verhindern wollten und sich für eine möglichst schematische Gleichbehandlung aller Konfessionen und ihre Unterwerfung unter die allgemeinen Gesetze ausgesprochen hatten. Die neue Verfassung wandte sich so definitiv von Cavours Konzept und der Kirchenpolitik der liberalen Epoche ab215; vielmehr entstand sie mit einem Bekenntnis zur Lösung der römischen Frage durch die Lateranverträge und zu einer bilateralen Regelung der Beziehungen zwischen Staat und katholischer Kirche auf der Grundlage des bestehenden Konkordates. (b) Art. 19 und 20: individuelle und kollektive Religionsfreiheit War der Weg zur Annahme von Art. 7 it. Verf. von heftigen Auseinandersetzungen gekennzeichnet, kann gleiches von der Verankerung der indi212 Nach P. Scoppola, S. 790 ging allerdings eine Mehrheit der Verfassungsväter davon aus, daß dadurch nicht jeder einzelne Artikel der Lateranverträge in Verfassungsrang erhoben werden sollte; ebenso B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 300; P. Lillo, Art. 7, S. 175. 213 Zum ganzen G. Long, Origini, S. 168 ff. 214 G. Long, Origini, S. 276, 335 ff., der darauf verweist, daß in der verfassunggebenden Versammlung insgesamt eine gleichlaufende Christdemokraten und Kommunisten gemeinsame Tendenz festzustellen sei, kollektiven Freiheiten mehr Bedeutung zuzumessen, als individuellen Freiheiten. 215 P. Scoppola, S. 791 f.
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viduellen Religionsfreiheit in Art. 19 it. Verf. nicht gesagt werden216. In dieser Frage bestanden zwischen den verschiedenen Parteien, wie bereits gezeigt, keine grundlegenden Differenzen. Die Christdemokraten hatten mit Art. 7 it. Verf. bereits das erreicht, was ihnen besonders wichtig gewesen war. Einwände gegen eine Verankerung der individuellen Religionsfreiheit hatten sie nicht, war diese doch konform mit der katholischen Position der Ablehnung von Zwangsbekehrungen. Diejenigen Gruppierungen, die im Streit um Art. 7 it. Verf. unterlegen waren, konnten durch eine deutliche Verankerung der individuellen Religionsfreiheit wenigstens versuchen zu retten, was zu retten war. Der Wortlaut der Schranke im letzten Halbsatzes von Art. 19 it. Verf., der religiöse Riten unterworfen werden, weist zwar gewisse Ähnlichkeiten mit derjenigen in Art. 1 des Gesetzes über die zugelassenen Kulte von 1929 auf. Inhaltlich ist die Schranke jedoch wesentlich enger gefaßt, weil einerseits den ausdrücklichen Forderungen der Protestanten entsprechend die Schranke der öffentlichen Ordnung gestrichen wurde und andererseits die Schranke der guten Sitten allein auf die Riten bezogen wurde217. Im Gesetz von 1929 waren auch noch die Prinzipien der zugelassenen Kulte der Schrankenregelung unterworfen gewesen. Eine inhaltliche Beurteilung einer religiösen Lehre durch staatliche Stellen wollte man nun gerade vermeiden218. Das in Art. 20 it. Verf. enthaltene Verbot der Diskriminierung kultischer und religiöser Vereinigungen kam schließlich fast unbeachtet in die Verfassung219. Es dürfte seinen Ursprung in der zweiten Verteidigungslinie haben, die die Christdemokraten für den Fall entwickelt hatten, daß die Lateranverträge keine Erwähnung in der Verfassung finden würden. In diesem Sinne kann die Vorschrift, die auch später keine besondere Bedeutung erlangen konnte, als der Versuch verstanden werden, sich vor einer Wiederholung einer repressiven Politik gegenüber religiösen Vereinigungen zu schützen, denen viele katholische Einrichtungen und Orden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgesetzt gewesen waren220. Ausdrücklich abgelehnt 216 G. Long, Origini, S. 343 ff.; B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 63; M. Ricca, Art. 19, S. 422. 217 G. Long, Origini, S. 347, der darauf verweist, daß die Verfassungsväter eigentlich bereit waren, völlig auf eine Schranke zu verzichten. Da aber die Protestanten selbst einen alternativen Formulierungsvorschlag gemacht hatten, der die Schranke der guten Sitten enthielt, wurde die Schranke der guten Sitten letztlich beibehalten. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß Art. 21 it. Verf. auch für die Pressefreiheit die guten Sitten als Schranke vorsieht. Insgesamt erscheint es so naheliegend, einen Zusammenhang zwischen diesen Schrankenregelungen und der von den Christdemokraten vertretenen Idee einer moralischen Freiheit herzustellen. 218 G. Long, Origini, S. 347; M. Ricca, S. 422. 219 A. Bettetini, S. 441; G. Long, Origini, S. 372.
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wurde hingegen ein Vorschlag, nichtreligiöse weltanschauliche Vorstellungen und Vereinigungen zur Verbreitung dieses Gedankenguts ausdrücklich anzuerkennen221. (c) Art. 8: Gleiche Freiheit für alle Konfessionen Die Frage des Verhältnisses des italienischen Staates zu den nichtkatholischen Religionsgemeinschaften kam erst relativ spät auf die Tagesordnung der Beratungen der verfassunggebenden Versammlung222. Auch die Beratungen zu dem, was letztlich Art. 8 it. Verf. werden sollte223, wiesen bei weitem nicht die Art von gegensätzlichen Positionen auf, die in der Frage des Art. 7 zu registrieren gewesen waren. Für Liberale, Sozialisten und Kommunisten bot die Norm die Gelegenheit, die einseitig katholisch konfessionelle Tendenz abzumildern, die in ihren Augen der Anerkennung eines besonderen Status durch die Erwähnung der Lateranverträge in Art. 7 innewohnte. Hierzu schien Art. 8 Abs. 3 it. Verf. ein tauglicher Weg zu sein, indem für die Regelung der Verhältnisse zwischen italienischem Staat und nichtkatholischen Konfessionen das Instrument der Vereinbarungen vorgesehen wurde. Für Christdemokraten bestand die Möglichkeit, den Kommunisten zum Ausgleich für die Zustimmung zu Art. 7 in deren Anliegen der Rücksichtnahme auf religiöse Minderheiten entgegen zu kommen; überdies war die Regelung gut mit ihrem Gedankengut der besonderen Anerkennung intermediärer Gemeinschaften vereinbar224. Was genau sich die Väter der italienischen Verfassung abgesehen davon, daß es sich um ein in weitem Sinne konkordatsähnliches Instrument handeln sollte, unter den vorgesehenen Vereinbarungen vorstellten, ist allerdings ungewiß225. Einen weiteren Kompromiß stellt allerdings die Formulierung des Art. 8 Abs. 1 it. Verf. dar, wonach „alle religiösen Bekenntnisse vor dem Gesetz gleichermaßen frei sind“226. Denn die Christdemokraten hatten sich außer Stande gesehen, einer Formulierung zuzustimmen, daß „alle Konfessionen vor dem Gesetz gleich“ seien, wie sie auch von den Protestanten gewünscht 220
So auch A. Bettetini, S. 442 f.; G. Long, Verhältnis, S. 527 f. G. Long, Origini, S. 347; B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 62; M. Ricca, Art. 19, S. 422. 222 G. Long, Origini, S. 348. 223 Zwischenzeitlich war im zuständigen Ausschuß dafür plädiert worden, die entsprechenden Regelungen systematisch im Zusammenhang mit der individuellen Religionsfreiheit des späteren Art. 19 it. Verf. zu verorten, vgl. G. Long, Origini, S. 350 ff.; B. Randazzo, Art. 8, S. 195. 224 G. Long, Origini, S. 350 f.; B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 61, 68. 225 G. Long, Origini, S. 365. 226 Vgl. zu dieser Diskussion B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 64 ff. 221
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wurde227. Sie befürchteten darin eine inhaltliche Bewertung der verschiedenen Konfessionen, die sie mit der Ekklesiologie der katholischen Kirche für nicht vereinbar hielten228. Trotz gewisser Bedenken, ob die anderen Konfessionen überhaupt in ausreichendem Maß eine eigene innere Ordnung hätten, wie sie Art. 8 Abs. 2 voraussetzt, und ob sie in einen ausreichenden Organisationsgrad aufweisen würden, um eine Vereinbarung im Sinne des Art. 8 Abs. 3 abzuschließen, wurde die Vorschrift schließlich angenommen229. Das System von Art. 7 und 8 it. Verf. war zwar sicherlich nicht das, was die nichtkatholischen Konfessionen als Maximalforderung vor Augen gehabt hatten, doch konnte die Annahme von Art. 8 it. Verf. ihrerseits zumindest als kleineres Übel akzeptiert werden230. Insgesamt erklären sich die Debatte um die religionsverfassungsrechtlichen Bestimmungen der italienischen Verfassung und die daraus hervorgegangen Verfassungsnormen selbst so nicht unwesentlich aus der Bezugnahme und Abgrenzung zu den vorangegangenen Epochen des Stato liberale und des Faschismus. Noch einmal erwähnt seien hier nur die Vorschrift des Art. 20 it. Verf., die als Reaktion auf die staatliche Auflösung katholischer Ordensgemeinschaften im 19. Jahrhundert gelten kann, oder die Nachwirkungen der Lehre Santi Romanos von der Koordinierung verschiedener Rechtsordnungen im System der Art. 7 und 8 it. Verf. Gleichzeitig wurden bereits in der Debatte der Konstituente Probleme aufgeworfen und Argumente ausgetauscht, die in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs und auch in der Diskussion um die Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulen immer wieder auftauen sollten: angefangen von einer Hervorhebung der Bedeutung der kollektiven Aspekte der Religionsfreiheit, über die Frage des Umgangs mit der „italienischen Realität“ der zahlenmäßigen Dominanz der katholischen Konfession bis hin zur Diskussion um Art. 1 des Lateranvertrages und seiner Bezugnahme auf Art. 1 des Statuto Albertino. Gerade dieses zuletzt genannte Thema sollte dann fast 60 Jahre später im Streit um das 227
Diese Formulierung wurde mit äußerst knapper Mehrheit abgelehnt und stattdessen die geltende Formel von der gleichen Freiheit angenommen, ohne deren nähere Bedeutung zu klären vgl. G. Long, Origini, S. 274; B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 66, 70 f.; dies., Art. 8, S. 195 f. 228 G. Long, Origini, S. 352. 229 G. Long, Origini, S. 350 f.; B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 67. 230 G. Long, Origini, S. 273; bis zum tatsächlichen Abschluß der ersten Vereinbarung nach Art. 8 Abs. 3 it. Verf. sollte es allerdings noch mehrere Jahrzehnte dauern, vgl. hierzu G. Long, Verhältnis, S. 528; zu Plänen auch islamische Glaubensrichtungen ins System der Vereinbarungen nach Art. 8 Abs 3 it. Verf. einzubinden P. Bonetti, La laicità dello Stato di fronte alle proposte di intesa con la confessione islamica, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 41 ff.
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Schulkreuz wieder auftauchen und unter dem Stichwort einer „impliziten Aufhebung“ der königlichen Dekrete erörtert werden. c) Implizite Aufhebung? aa) Das Gutachten des Staatsrates Bereits der Auftrag des Unterrichtsministeriums zur Erstattung des Gutachtens Nr. 63/1988 stellte dem Staatsrat die Frage, ob Art. 118 R.D. 965/ 1924 bzw. die Anlage C zum RD 1297/1928 durch die im Zuge der Änderungen des Laterankonkordates in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts erfolgte Neuregelung des katholischen Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen aufgehoben worden sei231. In seinem Gutachten232 schichtete der Staatsrat zunächst die Frage des Kruzifixes von der des Religionsunterrichtes ab, indem er ohne weitere Begründung feststellte, daß das Kreuz bzw. Kruzifix abgesehen von der religiösen Bedeutung, die dieses Symbols für die Gläubigen habe, Symbol der christlichen Zivilisation und Kultur sei, die als universeller Wert in ihrem historischen Ursprung unabhängig von einem bestimmten religiösen Bekenntnis sei. Daher seien die Vorschriften über das Kreuz in der Schule unabhängig von der Regelung des Religionsunterrichtes zu betrachten, der deshalb nicht in die weitere Analyse einzubeziehen sei233. Der Staatsrat griff im Gutachten zur Abschichtung der Fragen von Religionsunterricht und Schulkreuz bereits das Argument des Kruzifixes als überkonfessionellem Symbol der abendländischen Kultur auf, das dann in seiner fast zwei Jahrzehnte späteren Entscheidung zum Kruzifix entscheidende Bedeutung für die Frage der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der laicità erlangen sollte234. 231
Consiglio di Stato Nr. 63/1988, Quad. dir. pol. eccl. 1989, S. 197; vgl. zu den Auswirkungen der Änderung des Konkordates im Schulbereich C. Cardia, Progetto educativo e fattore religioso, in: Ferrari (Hrsg.), Concordato e Costituzione – Gli accordi del 1984 tra Italia e Santa Sede, Bologna 1985, S. 161 ff.; G. Cimbalo, Garanzie della libertà religiosa e insegnamento della religione nella scuola pubblica tra Concordato e Intesa con la Tavola valdese, in: ebda., S. 179 ff.; L. Zannotti, Riforma della legislazione scolastica e nuovo Concordato, in: ebda., S. 197 ff. 232 Kritisch zum Gutachten des Staatsrates S. Ceccanti, S. 6; G. Galante, Piccole note sul crocifisso nelle aule scolastiche, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 154 ff.; A. Guazzarotti, Crocifisso, libertà di coscienza e laicità: le temps l’emportera . . ., in: ebda., S. 172, 177 f.; J. Luther, La croce, S. 689; P. Veronesi, Una „croce“, S. 1072; L. Zannotti, Il crocifisso, S. 324, 327 f., 344. 233 Consiglio di Stato Nr. 63/1988, Il Consiglio di Stato 1992, I, S. 507. 234 Siehe unten S. 136 ff., 181 ff., 188 ff.
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Nach der Feststellung, daß Religionsunterricht und Schulkreuz zwei voneinander unabhängige Fragestellungen sind, prüfte der Staatsrat, ob die Geltungskraft der beiden Normen Art. 118 R.D. 965/1924 bzw. Anlage C zu R.D. 1297/1928 durch die Änderungen am Laterankonkordat beeinträchtigt werden. Dazu zog der Staatsrat Art. 15 der sogenannten preleggi235, der die Aufhebung von Gesetzen betrifft, heran. Dort wird die lex posterior-Regel so umschrieben, daß Gesetze nur in drei Fällen von späteren Gesetzen aufgehoben werden: durch ausdrückliches Aufhebungsgesetz, bei Unvereinbarkeit zwischen früherer und späterer Vorschrift oder wenn das neue Gesetz den ganzen Sachkomplex regelt, zu dem die frühere Vorschrift gehört. Ausgehend von dem Befund, daß die beiden königlichen Dekrete älter sind als das Laterankonkordat von 1929, prüfte der Staatsrat, ob diese durch das Laterankonkordat bzw. die Änderungen daran gem. der 2. und 3. Alt von Art. 15 der preleggi aufgehoben wurden. Der Staatsrat geht davon aus, daß die Vorschriften der beiden königlichen Dekrete nicht im Widerspruch zum Konkordat von 1929 stehen. Denn dieses enthalte keine Regelungen über die Anbringung des Kruzifixes in Schulen bzw. in allgemein in öffentlichen Amtsräumen, Gerichtssälen oder anderen öffentlichen Orten. Vielmehr fänden sich weder im Konkordat noch in den Änderungen am Konkordat überhaupt Aussagen zu dieser Frage. Deshalb liege insbesondere auch keine Neuregelung des ganzen Sachkomplexes i. S. d. Art. 15 Alt. 3 der preleggi vor, so daß die Gültigkeit der Normen der königlichen Dekrete durch das Konkordat und seine Änderungen weder beeinflußt noch bedingt werden könnten236. bb) Das Gutachten der Anwaltschaft des Staates und der Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Venetien Die Anwaltschaft des Staates von Bologna begnügt sich in ihrem Gutachten aus dem Jahr 2002 ebenso wie das Verwaltungsgericht Venetien in seinem Vorlagebeschluß damit, zur Beurteilung der Frage, ob die beiden Normen der königlichen Dekrete noch gelten, auf das Gutachten des Staatsrates zu verweisen und dieses teilweise wörtlich wiederzugeben237. 235 Die sog. preleggi sind dem dem Codice civile von 1942 vorangestellte Bestimmungen über das Gesetz im Allgemeinen (Disposizioni sulla legge in generale), die einige Grundsätze der Rechtsquellen- und Methodenlehre kodifizieren, P. Kindler, S. 112. 236 Consiglio di Stato Nr. 63/1988, Il Consiglio di Stato 1992, I, S. 507, 508. 237 Gutachten der Anwaltschaft des Staates von Bologna, im Internet abrufbar unter http://www.amicuscuriae.it/attach/docs/avvocaturabo.pdf (letzter Abruf: 3. September 2011); TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 238 ff.
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cc) Der Beschluß des Einzelrichters am Landgericht L’Aquila Der Einzelrichter am Landgericht L’Aquila stellte in seinem Beschluß die Fortgeltung von Art. 118 R.D. 965/1924 und Anlage C zum R.D. 1297/1928 unter einem anderen Gesichtspunkt in Frage, nachdem er zunächst das Gutachten des Staatsrates als übermäßig vereinfachend zurückgewiesen hatte, weil ein Widerspruch zwischen Konkordat und königlichen Dekreten angesichts der beiden gemeinsamen konfessionalistischen Grundidee von vornherein ausgeschlossen sei238. Der Beschluß ordnet die fraglichen Vorschriften der königlichen Dekrete in die Verfassungsordnung des Statuto Albertino239 ein, dessen Art. 1 den Katholizismus zur Staatsreligion erklärte240. Dabei nimmt das Gericht allein auf dessen Wortlaut Bezug, ohne die verfassungsrechtlichen Besonderheiten des Statuto Albertino und die weitgehende Relativierung dieser Vorschrift durch den Gesetzgeber in Betracht zu ziehen241. Der nach Ansicht des Gerichts privilegierten Stellung der katholischen Religion auch im präfaschistischen Italien242 entsprechend sei das Kreuz in Schulräumen als Ausdruck des konfessionellen Charakters des damaligen italienischen Staats zu deuten, der dem Katholizismus eine Stellung als Staatsreligion zuwies. Jedenfalls sei das Kruzifix in Schulräumen eines der offensichtlichsten Symptome des Neokonfessionalismus des faschistischen Regimes. Zur Unterstützung dieser These wird dann aus einem Rundschreiben des Innenministeriums vom 16. Dezember 1922 zitiert, wonach die tatsächliche Anbringung von Kreuz und Königsportrait, „zweier Symbole, die dem Glauben und dem Nationalgefühl heilig“ seien, sicherzustellen sei. Art. 118 R.D. 965/1924 und Anlage C zum R.D. 1297/1928 seien also konkreter Ausdruck des Verfassungsprinzips von Art. 1 des Statuto Albertino243. Zwar werde das Schulkreuz im Änderungsabkommen zum Laterankonkordat nicht ausdrücklich erwähnt. Jedoch habe das Änderungsabkommen ausdrücklich die Stellung des Katholizismus als Staatsreligion aufgehoben, wodurch die Basis der beiden Vorschriften Art. 118 R.D. 965/1924 und Anlage C zum R.D. 1297/1928 entfallen seien. Durch die Abschaffung der Staatsreligion sei somit auch die Grundlage für das Kreuz in der Schule 238
Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1281. Eine deutsche Übersetzung der Verfassung des Königreichs Sardinien-Piemont vom 4. März 1848, die in der Regel als Statuto Albertino bezeichnet wird und später für das gesamte Königreich Italien galt, findet sich in Gosewinkel/Masing (Hrsg.), S. 1375 ff. 240 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1281 f. 241 Vgl. hierzu oben S. 36 ff. 242 Zum Staatskirchenrecht der liberalen Epoche und den eher kirchenfeindlichen Maßnahmen des Gesetzgebers in dieser Zeit vgl. oben S. 42. 243 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1282. 239
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entfallen, denn die Aufhebung eines Rechtsgrundsatzes – wie des Prinzips der Staatsreligion – führe notwendiger- und natürlicherweise auch zur stillschweigenden Aufhebung aller Vorschriften, die sich darauf beziehen. Schließlich sei es auch so, daß wenn die Vorschriften weitergelten würden, eine der wenigen Neuerungen des Änderungsabkommen zum Laterankonkordat ihres Inhalts beraubt würde244. Im weiteren Gang seiner Argumentation prüft der Beschluß dann, ob nach Wegfall des ursprünglich zu Grunde liegenden Prinzips ein anderes öffentliches Interesse an seine Stelle getreten ist, das die Fortgeltung der königlichen Dekrete rechtfertigen könne, verneint dies aber im Ergebnis aus verfassungsrechtlichen Gründen245. dd) Die Urteile des Verwaltungsgerichts Venetien und des Staatsrats Der These des Einzelrichters am Landgericht L’Aquila, Art. 118 R.D. 965/1924 und Anlage C zum R.D. 1297/1928 seien Ausdruck des konfessionellen Charakters des italienischen Königreiches und damit durch die Abschaffung der Stellung des Katholizismus als Staatsreligion gleichfalls als aufgehoben zu betrachten, wollten das Verwaltungsgericht Venetien und der Staatsrat in ihren jeweiligen Urteilen hingegen nicht folgen. Das Verwaltungsgericht Venetien argumentiert, daß Art. 118 R.D. 965/ 1924 und Anlage C zum R.D. 1297/1928 nicht unmittelbarer Ausdruck von Art. 1 Statuto Albertino seien, sondern vielmehr der näheren Ausgestaltung der Gesetze über das Unterrichtswesen dienten. Das Statuto Albertino schreibe die Ausstellung von Kruzifixen in Schulräumen weder ausdrücklich vor, noch ergebe sich diese als zwangsläufige Konsequenz von Art. 1 Statuto Albertino. Die Tradition normativer Vorgaben über die Anbringung von Kruzifixen in Schulräumen reiche bis 1859 zurück, und schon in der damaligen, von Spannungen zwischen Staat und Papsttum geprägten Zeit sei die Anbringung des christlichen Symbols als Bezugnahme auf die die Nation einigenden Werte verstanden worden246. 244 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1282; zustimmend S. Lariccia, La laicità, S. 415, 443; kritisch N. Marchei, S. 202 ff., die jedoch von einer impliziten Aufhebung durch Art. 118 des Gesetzesdekretes Nr. 297 vom 16. April 1994 (T.U. der Bestimmungen über die Erziehung in Schulen jeder Art und Stufe) ausgeht. 245 Hierzu S. 122 ff.; diese Vorgehensweise der Entscheidung, zuerst das Entfallen der ursprünglichen Grundlage der königlichen Dekrete nachzuweisen und in einem zweiten Schritt zu zeigen, daß auch kein anderes öffentliches Interesse an dessen Stelle treten konnte, entspricht dem Argumentationsmuster von L. Zannotti, Il crocifisso, S. 327 ff., den die Entscheidung an anderer Stelle z. T. wörtlich zitiert. 246 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 332.
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Im Übrigen regele das Statuto Albertino andere Fragen als die streitgegenständlichen, so daß es allenfalls als Motiv für den Erlaß der beiden Normen in Frage komme. Zum anderen weist das Verwaltungsgericht Venetien darauf hin, daß es ein Zirkelschluß wäre, wenn man die fraglichen Normen der beiden königlichen Dekrete einfach als direkten Ausdruck von Art. 1 Statuto Albertino und damit als unvereinbar mit der republikanischen Verfassung oder zumindest dem Änderungsabkommen zum Konkordat ansehe. Denn dadurch würde nicht nur dem Kruzifix, dessen Symbolgehalt tatsächlich höchst umstritten sei, a priori eine eindeutige Bedeutung zugemessen, sondern bereits eine mögliche Antwort dessen, was erst im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung zu untersuchen sei, zum Ausgangspunkt eben dieser Untersuchung gemacht247. Ebenso wie schon das Verwaltungsgericht Venetien in der Vorinstanz lehnte auch der Staatsrat ab, Art. 118 R.D. 965/1924 als unmittelbaren Ausfluß von Art. 1 Statuto Albertino zu verstehen. Zwar sei es durchaus richtig, daß beim Erlaß der königlichen Dekrete Art. 1 Statuto Albertino gegolten habe. Bedenken gegen dessen tatsächliche Prägekraft aufgreifend, zweifelt er dann überhaupt den konfessionell geprägten Charakter des italienischen Staates vor Abschluß des Laterankonkordates an, indem er darauf verweist, daß diese Vorschrift des Statuto Albertino den Gesetzgeber nicht gehindert habe, zahlreiche den Interessen der katholischen Kirche widersprechende Gesetze zu erlassen, so daß Teile der Literatur im präfaschistischen Italien die katholische Kirche sogar als rechtswidrige Organisation bezeichnet hätten. Da Art 118 R.D. 965/1924 also nicht unmittelbar von der Stellung des Katholizismus als Staatsreligion abhänge, lasse sich die streitgegenständliche Frage nicht dadurch angemessen beantworten, daß das Änderungsabkommen zum Laterankonkordat keine Staatsreligion mehr vorsehe. Letztlich erteilt der Staatsrat der etwas formalistischen Vorgehensweise, nur zu fragen, ob die Vorschriften über das Kruzifix in der Schule bzw. ihre vermeintlichen Grundlagen nach der lex posterior-Regel aufgehoben wurden, insgesamt eine Absage und stellt klar, daß die streitgegenständlichen Vorschriften an der gegenwärtigen Verfassungsordnung, speziell dem Grundsatz der laicità, zu messen seien248. d) Bloße Verordnung oder „Vorschrift mit Gesetzeskraft“? Weitaus umstrittener als die Frage nach der fortdauernden Gültigkeit der königlichen Dekrete war in der italienischen Diskussion um die Rechtsgrundlage für die Anbringung von Schulkreuzen die Qualifizierung der kö247 248
TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 332 f. Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 185.
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niglichen Dekrete als bloße Verordnung oder „Vorschrift mit Gesetzeskraft“ i. S. d. Art. 134 Abs. 1 it. Verf. Die Bedeutung dieser Einordnung liegt an den verfassungsprozessualen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Nach Art. 134 I it. Verf.249 ist der italienische Verfassungsgerichtshof nur für die Kontrolle von Gesetzen und anderen Rechtsakten im Gesetzesrang zuständig. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Verordnungen fällt hingegen grundsätzlich in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte und damit in letzter Instanz des Staatsrates250. Eine gewisse Aufweichung erfährt diese klare Unterscheidung durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs in den Fällen der sogenannten „indirekten Kontrolle“. Diese betrifft Fälle, in denen eine Gesetzesvorschrift erst durch eine Verordnungsnorm vervollständigt wird. Gegenstand der verfassungsrechtlichen Überprüfung soll in diesen Fällen dann das Gesetz sein, soweit es durch die Verordnung vervollständigt wird, so daß das Verfassungsgericht in diesem Rahmen seine Prüfung auch auf die vervollständigende Verordnungsnorm erstrecken kann251. Diese indirekte Kontrolle von Verordnungsvorschriften ist als Teil der weiteren Theorie des „diritto vivente“252 zu verstehen253, mit der Lehre und 249
Vgl. zum Verfahren vor dem italienischen Verfassungsgerichtshof auch Art. 23 ff. des Gesetzes Nr. 87 vom 11. März 1953 (Norme sulla costituzione e sul funzionamento della Corte costituzionale – Vorschriften über die Einrichtung und die Verfahrensweise des Verfassungsgerichtshofs). 250 M. Dietrich, Der italienische Verfassungsgerichtshof, Berlin 1995, S. 136 m. w. N. 251 M. Dietrich, S. 136; m. w. N. zur indirekten Kontrolle die Anm. von G. Gemma, Esposizione del crocifisso nelle aule scolastiche: una corretta ordinanza di inammissibilità, Giur. cost. 2004, S. 4292, 4295 ff. m.w.N; R. Romboli, Anm. zu Corte Costituzionale Nr. 389/2004, Foro it. 2005, I, Sp. 1 f.; sowie F. Benelli, Il fine non giustifica il mezzo. Una via sbagliata (il ricorso alla Corte) per un problema reale (l’esposizione dei simboli religiosi), in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 27, 30 ff.; G. d’Amico, Il combinato disposto legge-regolamento di esecuzione dinanzi alla corte costituzionale (note sui profili di ammissibilità dell’ordinanza sul crocifisso), in: ebda., S. 106 ff.; G. Gemma, Spetta al giudice comune, non alla corte costituzionale, disporre la rimozione del crocifisso, in ebda., S. 159, 160 ff.; kritisch zur Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Verordnungsvorschriften auf die Fälle der indirekten Kontrolle P. Colella, Il crocifisso e la sua esposizione, S. 1162 m. w. N.; ebenso G. Casuscelli, Il crocifisso nelle scuole: neutralità dello Stato e „regola della precauzione“, Dir. eccl. 2005, I, S. 504, 522 f. 252 Zu deutsch etwa „lebendes Recht“ oder „Recht in seiner gelebten Anwendung“. 253 G. Gemma, Spetta al giudice comune, S. 159, 160; G. Majorana, La questione del crocifisso alla luce della dimensione promozionale della libertà religiosa, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 194 f.; C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 208; A. Pugiotto, La corte messa in croce dal diritto vi-
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Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes den relativ engen Grenzen des Art. 134 it. Verf. zu begegnen suchen. Danach ist für die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm auf die Bedeutung der zu überprüfenden Norm abzustellen, die ihr durch ihre Anwendung in Rechtsprechung und Verwaltung gegeben wurde254. Da sich nun die königlichen Dekrete selbst als Verordnung bezeichnen, kam eine Überprüfung der Frage durch das Verfassungsgericht nur dann in Fragen, wenn begründet werden konnte, daß die Dekrete der vervollständigenden Ausfüllung von Gesetzesnormen im Sinne der „indirekten Prüfung“ dienen. Diese sehr umstrittene Frage, wurde in der Literatur teilweise verneint255, vielfach aber bejaht256, wobei durchaus auch der Wunsch eine Rolle gespielt haben dürfte, die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Schulkreuzen in Klassenzimmern vom Verfassungsgerichtshof entschieden zu sehen257. Das Verwaltungsgericht Venetien ging in seinem Vorlagebeschluß vente regolamentare, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 284 f., 288; P. Veronesi, Abrogazione „indiretta“, S. 312. 254 P. Kindler, S. 63 m. w. N.; zur Theorie des diritto vivente und ihrer Rezeption durch die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs jeweils m. w. N. A. Pugiotto, La rivincita di Esposito (legge, regolamento e sindacato di costituzionalità), Giur. cost. 1995, S. 588 ff.; ders., Sindacato di costituzionalità e „diritto vivente“. Genesi, uso, implicazioni, Milano 1994; grundlegend C. Esposito, Diritto vivente, legge e regolamento di esecuzione, Giur. cost. 1962, S. 605 ff. 255 F. Benelli, S. 34 f.; R. Bin, S. 37 f.; M. Cartabia, S. 63, 71 f.; M. Cuniberti, Brevi osservazioni su laicità dello stato e obbligo di esposizione del crocifisso nelle aule scolastiche, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 89, 90 f.; C. Fusaro, S. 151; G. Gemma, Spetta al giudice comune, S. 159, 161; J. Luther, Istruire la storia, S. 189; C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 208 f. 256 S. Ceccanti, S. 10 f.; L. Brunetti, Questioni interpretative „minime“ e dilemmi costituzionali, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 56 ff.; G. d’Amico, S. 106, 113; G. di Cosimo, Le spalle della corte, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 125, 127 ff.; G. Majorana, S. 194 f.; C. Panzera, S. 253 f.; S. Prisco, S. 275; A. Pugiotto, La corte messa in croce, S. 284 ff.; P. Veronesi, Abrogazione „indiretta“, S. 312. 257 Darauf verweisen ausdrücklich auch S. Ceccanti, S. 11; G. Gemma, Spetta al giudice comune, S. 162; als den Versuch, einen Fall wegen der zu erwartenden heftigen politischen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die Entscheidung an den Verfassungsgerichtshof weiterzureichen, wertet die Vorlage des Verwaltungsgerichts Venetien A. Giorgis, L’esposizione del crocifisso nelle aule scolastiche: questione (per lo più) inammissibile, ma . . . non del tutto infondata, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/ Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 166 f.; ähnlich G. Majorana, S. 195; S. Prisco, S. 275.
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davon aus, daß Art. 118 R.D. 965/1924 und Anlage C zum R.D. 1297/1928 derartige Normen seien, die gesetzliche Vorschriften vervollständigten. Denn Art. 159 I und Art. 190 des Gesetzesdekretes Nr. 297 vom 16. April 1994 (T.U. der Bestimmungen über die Erziehung in Schulen jeder Art und Stufe) legten nur die Kostentragung für die Schuleinrichtung fest und würden deshalb durch die Vorschriften der beiden königlichen Dekrete vervollständigt. Außerdem ordne Art. 676 des gleichen T.U. die Fortgeltung aller nicht mit diesem T.U. unvereinbaren Vorschriften an. Da dieser T.U. eine Neuregelung des ganzen Schulrechts darstelle, hätten die beiden königlichen Dekrete eigentlich nach Art. 15 preleggi als aufgehoben zu gelten, so daß ihre Fortgeltung nur auf der gesetzlichen Vorschrift von Art. 676 T.U. beruhe, weshalb sie selbst als gesetzliche und damit vom Verfassungsgerichtshof überprüfbare Normen zu gelten hätten258. e) Eine Antwort des italienischen Verfassungsgerichtshofes Der Verfassungsgerichtshof mochte dieser Interpretation jedoch nicht folgen, weshalb er sich in seinem Beschluß Nr. 389/2004 für unzuständig zur Überprüfung der beiden fraglichen Vorschriften befand, die Vorlage als unzulässig abwies und die Sache damit wieder an das Verwaltungsgericht Venetien zurückverwies259. Seiner Ansicht nach mangelte es zum einen an dem erforderlichen Verhältnis der Vervollständigung und Spezifizierung zwischen den Verordnungsvorschriften und den Vorschriften des T.U. Nr. 297/1994. Denn dessen Bestimmungen regelten nur die Kostentragung für die Schuleinrichtung; anders als in den bisherigen Fällen zur „indirekten Kontrolle“ sei die Anordnung zur Anbringung von Kruzifixen nicht einmal im Grundsatz in den gesetzlichen Vorschriften angelegt260. Zum anderen könne Art. 676 des T.U. keine Aussage über die Fortgeltung der Verordnungsvorschriften in den königlichen Dekreten enthalten, da die Ermächtigung zum Erlaß des T.U. sich nur auf die Sammlung und Koordinierung 258
TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 239. Zustimmend G. Gemma, Esposizione del crocifisso, S. 4292 ff.; S. Lariccia, A ciascuno il suo compito: non spetta alla Corte Costituzionale disporre la rimozione del crocifisso nei locali pubblici, Giur. cost. 2004, S. 4287 ff.; ders., La laicità, S. 415, 443; A. Oddi, La Corte costituzionale, il crocifisso e il gioco del cerino acceso, Giur. cost. 2004, S. 4306 ff.; A. Gigli/S. Gattamelata, Il crocifisso: valore universale di un arredo scolastico, Giur. cost. 2004, S. 4309, 4310; für P. Colella, Il crocifisso e la sua esposizione, S. 1162 steht die Entscheidung des Verfassungsgerichts in einer Linie mit der ständigen Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Lehre und war daher absehbar; ebenso G. Casuscelli, S. 512 f. 260 Ebenso schon vor Erlaß des Beschlusses F. Benelli, S. 30 ff.; R. Bin, S. 37 ff.; M. Cartabia, S. 63, 71 f.; G. Gemma, Spetta al giudice comune, S. 159 ff.; C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 207 ff.; I. Nicotra, S. 232 f. 259
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von Vorschriften im Gesetzesrang bezogen habe. Deshalb könnten Art. 118 R.D. 965/1924 und Anlage C zum R.D. 1297/1928 von Art. 676 des T.U. auch nicht Gesetzesrang zugemessen werden. Es handele sich schlichtweg um Verordnungsvorschriften, weshalb weder ihre Auslegung noch die Prüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit durch den Verfassungsgerichtshof in Betracht komme261. 4. Weltanschaulich-religiöse Neutralität und laicità des Staates in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Offen gelassen hatte die Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichtshofs damit allerdings die eigentlich entscheidende Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen, die zu klären durch die Zurückverweisung wieder den einfachen Gerichten aufgeben wurde. Wie bereits angedeutet, wurde die Verfassungsmäßigkeit der Anbringung von Schulkreuzen in Italien gerade auch aus der Perspektive ihrer Vereinbarkeit mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der laicità des Staates erörtert. Die wörtliche deutsche Übersetzung für diesen Begriff, „Laizität des Staates“, wird in Deutschland kaum verwendet, jedenfalls ist sie kein eingeführter terminus technicus des Verfassungsrechts. In der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs ist der Rückgriff auf die laicità des Staates hingegen im Laufe der Zeit zu einer Konstante geworden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen in Verfahren, die Fragen des Religionsverfassungsrechts tangierten, hingegen wiederholt mit dem Begriff der „weltanschaulich-religiösen Neutralität“ argumentiert, so daß durchaus von einer ständigen Rechtsprechung hierzu gesprochen werden kann. Auch in der deutschen Auseinandersetzung um die staatliche Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen wurde in Rechtsprechung und Literatur mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität argumentiert. Die Hypothese liegt daher nicht fern, die beiden Begriffe der weltanschaulich-religiösen Neutralität und der laicità des Staates könnten übereinstimmend weitgehend gleiche oder einander zumindest ähnelnde verfassungsrechtliche Konzepte bezeichnen. Daß dem so ist, soll in diesem Exkurs anhand der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 261 Corte Costituzionale Nr. 389/2004, Giur. cost. 2004, S. 4280, 4284 ff. = Foro it. 2005, I, Sp. 1, 4 f.; zum Versuch aus der Entscheidung Zweifel an der Gültigkeit der königlichen Dekrete herauszulesen S. Mancini, Taking Secularism, S. 184; M. Tigano, S. 700 geht davon aus, das Urteil des italienischen Verfassungsgerichtshofs enthalte „kryptische Hinweise zu Ungunsten der Anbringung von Kreuzen“; kritisch hierzu G. Casuscelli, S. 516.
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zur weltanschaulich-religiösen Neutralität und des italienischen Verfassungsgerichtshofs zur laicità des Staates nachvollzogen werden. Gleichzeitig wird so eine Grundlage für den Vergleich der deutschen und italienischen Auseinandersetzung um das Schulkreuz gelegt. Als Basis für den anschließenden Vergleich dieser beiden dogmatischen Figuren (c) sollen zunächst die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs zur laicità des Staates (a) und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur weltanschaulich-religiösen Neutralität (b) in ihren Kernaussagen überblicksartig dargestellt werden. a) Das Konzept der laicità in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes aa) Überblick Obgleich sich der italienische Verfassungsgerichtshofes von Beginn seiner Tätigkeit an immer wieder mit staatskirchenrechtlichen Fragen auseinanderzusetzen262 hatte, fand das Konzept der laicità, das in der Literatur bereits seit längerem erörtert wurde263, erst mit der Entscheidung Nr. 203/1989 vom 12. April 1989 Eingang in seine Rechtsprechung264. Daran anschließend wurde der Rückgriff auf die Figur der laicità gleichsam zu einer Konstante in der staatskirchenrechtlichen Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes265. Die behandelten Fragen reichten dabei vom Religionsunterricht266, über den öffentlich-rechtlichen Charakter der israeliti262 Einen guten Überblick hierzu bieten A. Albisetti; sowie die beiden Bände von S. Domianello, Giurisprudenza (1957-1986) und dies., Giurisprudenza (1987-1998); A. Ravà, Corte costituzionale e religione di Stato, in: Irti (Hrsg.), Studi in onore di Pietro Rescigno, Bd. 1, Mailand 1998, S. 643 ff.; S. Lariccia, La laicità, S. 415 ff. 263 Aus der älteren Literatur bspw. A. Bertola, Appunti sulla nozione giuridica di laicità dello stato, in: Istituto Luigi Sturzo (Hrsg.), Scritti di sociologia e politica: in onore di Luigi Sturzo, Bologna 1953, S. 169 ff. 264 A. Spadaro, S. 77. 265 Einen Überblick bietet auch A. Oddi, Il principio di „laicità“ nella giurisprudenza costituzionale, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa, il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 240 ff.; Nach D. Ferri, La questione del crocifisso tra laicità e pluralismo culturale, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa, il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 132, 134, wurde dadurch eine Lücke im Verfassungstext geschlossen; in englischer Sprache S. Mancini, The Crucifix Rage: Supranational Constitutionalism Bumps Against the Counter-Majoritarian Difficulty, European constitutional Law Review 6 (2010), S. 6, 8 f. 266 Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. cost. 1989, S. 890 ff. mit Anm. L. Muselli, Insegnamento della religione cattolica e tutela della libertà religiosa, Giur.
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schen Gemeinschaften267, die staatliche Förderung der Errichtung von Kultstätten268, die Anerkennung des kanonischen Eherechts269, Fragen der Eidesleistung vor Gericht270, steuerliche Vergünstigungen für Religionsgemeinschaften und ihre Mitglieder271, die Strafbarkeit des Fluchens272 und der Beleidigung des religiösen Empfindens273 bis hin zur bereits zitierten cost. 1989, S. 909 ff.; Corte Costituzionale Nr. 13/1991, Giur. cost. 1991, S. 77 ff. mit Anm. A. Saccamano, Insegnamento di religione cattolica: ancora una interpretativa di rigetto, Giur. cost. 1991, S. 88 ff. 267 Corte Costituzionale Nr. 259/1990, Giur. cost. 1990, S. 1542 ff. 268 Corte Costituzionale Nr. 195/1993, Giur. cost. 1993, S. 1324 ff.; Anm. hierzu R. Acciai, La sent. n. 195 del 1993 della Corte costituzionale e sua incidenza sulla restante legislazione regionale in materia di finanziamenti all’edilizia di culto, Giur. Cost. 1993, S. 2151 ff.; sowie G. di Cosimo, Sostegni pubblici alle confessioni religiose, tra libertà di coscienza ed eguaglianza, Giur. cost. 1993, S. 2165 ff. 269 Corte Costituzionale Nr. 421/1993, Giur. cost. 1993, S. 3469 ff.; Anm. hierzu G. Lo Castro, La giurisdizione sui matrimoni canonici trascritti, Giur. cost. 1993, S. 3489 ff.; Corte Costituzionale Nr. 329/2001, Giur. cost. 2001, S. 2779 ff.; Anm. hierzu A. Guazzarotti, Implicazioni e potenzialità delle sentenze additive di principio. (In margine alla sent. n. 329 del 2001 sulle conseguenze della dichiarzione di nullità del matrimonio), Giur. cost. 2001, S. 2796 ff. 270 Corte Costituzionale Nr. 149/1995, Giur. cost. 1993, S. 1241 ff.; Anm. hierzu P. Spirito, Il giuramento assertorio davanti alla Corte Costituzionale, Giur. cost. 1993. S. 1252 ff.; sowie G. di Cosimo, Alla lunga la libertà di coscienza l’ebbe vinta sul giuramento, Giur. cost. 1993, S. 1258 ff.; Corte Costituzionale Nr. 334/ 1996, Giur. cost. 1996, S. 2919 ff.; Anm. hierzu S. Mangiameli, Il giuramento decisorio tra riduzione assiologia e ideologizzazione dell’ordinamento, Giur. cost. 1996, S. 2928 ff.; sowie G. di Cosimo, La Corte, il giuramento e gli obiettori, Giur. cost. 1996, S. 2935 ff. 271 Corte Costituzionale Nr. 178/1996, Giur. cost. 1996, S. 1635 ff.; Anm. hierzu A. Guazzarotti, L’„inammissibile“ eguaglianza. Diritto ecclesiastico e tecniche legislative di privilegio, Giur. Cost. 1996, S. 1644 ff.; Corte Costituzionale Nr. 235/ 1997, Giur. cost. 1997, S. 2228; Anm. hierzu A. Guazzarotti, L’esenzione dall’INVIM decennale in favore degli Istituti per il sostentamento del clero: Un privilegio in cerca di giustificazione, Giur. cost. 1997, S. 2242 ff. 272 Corte Costituzionale Nr. 440/1995, Giur. cost. 1995, S. 3475 ff.; Anm. hierzu F. Ramacci, La bestemmia contro la Divinità: una contravvenzione delittuosa?, Giur. Cost. 1995, S. 3484 ff.; sowie M. D’Amico, Una nuova figura di reato: la bestemmia contro la „Divinità“, Giur. cost. 1995, S. 3487 ff. 273 Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335 ff.; Anm. hierzu F. Rimoli, Tutela del sentimento religioso, principio di egualianza e laicità dello Stato, Giur. cost. 1997, S. 3343 ff.; Corte Costituzionale Nr. 508/2000, Giur. cost. 2000, S. 3965 ff.; Anm. hierzu P. Cavana, La caducazione del delitto di vilipendio della religione di Stato. Luci e ombre di un’incostituzionalità annunciata, Giur. cost. 2000, S. 3990 ff.; M. Olivetti, Incostituzionalità del vilipendio della religione di Stato, uguaglianza senza distinzioni di religione e laicità dello Stato, Giur. cost. 2000, S. 3972 ff.; B. Randazzo, Vilipendio della religione: una dichiarazione d’incostituzonalità „obbligata“?, Giur. cost. 2000, S. 3979 ff.; Corte Costituzionale Nr. 34/ 2002, Giur. cost. 2002, S. 310 ff.; Corte Costituzionale Nr. 327/2002, Giur. cost.
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Entscheidung im Streit um das Kruzifix in der Schule274. Im Folgenden soll zunächst aufgezeigt werden, wie der italienische Verfassungsgerichtshof den Grundsatz der laicità herleitet (bb), bevor deren inhaltliche Bedeutung (cc) eingehender dargelegt wird. Einzugehen ist auch auf die Stellung der laicità im Normgefüge der italienischen Verfassung und die Art der Anwendung auf den konkreten Fall (dd). Schließlich ist ein erstes Fazit (ee) zu ziehen. bb) Die Herleitung der laicità Während beispielsweise die französische Verfassung von 1958 – eine identische Vorschrift aus der Verfassung von 1946 aufgreifend – in Art. 1 S. 1 ausdrücklich auf das Konzept der Laizität (laïcité) Bezug nimmt275, ist im Text der italienischen Verfassung trotz der strukturellen Ähnlichkeit von Art. 1 der italienischen Verfassung und Art. 1 der französischen Verfassung von 1958 die laicità nicht ausdrücklich erwähnt276, obwohl dies vor der Annahme der Verfassung vereinzelt durchaus gefordert worden war277. Auch der Gesetzgeber verwendet – soweit ersichtlich – diesen Begriff nicht278. Im Urteil Nr. 203/1989 entwickelt der Verfassungsgerichtshof zum ersten Mal279 das „Prinzip der laicità“ aus einer Gesamtschau verschiedener Grundrechte und allgemeiner Grundsätze280. Dabei geht er von der Erwä2002, S. 2522 ff.; Corte Costituzionale Nr. 168/2005, Giur. cost. 2005, S. 1379 ff.; vgl. zur Rechtsprechung zur Beleidigung des religiösen Empfindens auch die deutsche Übersetzung des Urteils Nr. 168/2005 in EuGRZ 2006, 67 f. und die Anmerkung R. Wiedemann, Untätigkeit des italienischen Gesetzgebers im Hinblick auf die Gleichbehandlung der Religionen weiterhin im Widerspruch zur bereits 1988 begründeten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs, EuGRZ 2006, S. 68 ff.; S. Canestrari, Strafrechtliche Probleme der Laizität, Münster 2008.; D. Pulitanò, Laizität und Strafrecht, Münster 2007; zur Diskussion in Deutschland Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung – Der rechtliche Schutz des Heiligen, Berlin 2007. 274 Corte Costituzionale Nr. 389/2004, Giur. cost. 2004, S. 4280 ff. = Foro it. 2005, I, Sp. 1 ff.; allerdings konnte sich der Verfassungsgerichtshof in dieser Entscheidung einer inhaltlichen Aussage zur laicità enthalten und verwies die materielle Klärung der Frage aus Zuständigkeitsgründen an die Verwaltungsgerichtsbarkeit, vgl. oben S. 72. 275 „La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale.“ Gleichen Wortlaut hatte auch Art. 1 der französischen Verfassung von 1946, vgl. Gosewinkel/Masing (Hrsg.), S. 361. 276 C. Fusaro, S. 147; S. Mancini, The Crucifix Rage, S. 8. 277 Zu dieser Forderung von Seite der Protestanten, siehe oben S. 58 f.; G. Long, Verhältnis, S. 259. 278 A. Oddi, Il principio, S. 241; ausführlich C. Mirabelli, Prospettive del principio di laicità dello Stato, Quad. dir. pol. eccl. 2001, S. 331 f. 279 C. Mirabelli, S. 332. 280 Dem Grundrechtsteil der Art. 13-54 it. Verf. sind in den Art. 1-12 einige Grundprinzipien der italienischen Verfassungsordnung vorangestellt, insbesondere
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gung aus, daß der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 it. Verf. zusammen mit der Religionsfreiheit des Art. 19 it. Verf. die Religionsfreiheit als doppeltes Verbot ausgestaltet habe. Danach sei einerseits eine Diskriminierung der Bürger aus religiösen Gründen ausgeschlossen und andererseits dürfe der religiöse Pluralismus die negative Religionsfreiheit, überhaupt keine Religion zu bekennen, nicht beschränken. Eine Zusammenschau dieser Inhalte mit den Art. 2, 7, 8, und 20 it. Verf. strukturiere das Verfassungsprinzip der laicità, eines der Kennzeichen der von der Verfassung der italienischen Republik vorgezeichneten Staatsform. In der folgenden Entscheidung zum öffentlich-rechtlichen Status der israelitischen Gemeinschaften verweist der Verfassungsgerichtshof schlichtweg auf die Art. 2, 3, 7, 8, 19 und 20 it. Verf. und bestätigt damit implizit, daß er den Grundsatz der laicità aus einer Zusammenschau dieser Normen folgert. Zur Herleitung des Grundsatzes der laicità greift der italienische Verfassungsgerichtshof mit den Art. 7, 8, 19, 20 it. Verf.281 somit zunächst auf die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Art. 7 und 8 it. Verf. und die Garantien der individuellen und kollektiven Religionsfreiheit in Art. 19, 20 it. Verf. zurück. Diesen Verweis auf alle spezifisch religionsverfassungsrechtlichen Bestimmungen der italienischen Verfassung ergänzt die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes allerdings um die Bezugnahme auf das in Art. 2 it. Verf.282 niedergelegte allgemeine Bekenntnis der italienischen Republik zur Achtung und Gewährleistung der unveräußerlichen Menschenrechte und den in Art. 3 it. Verf.283 verankerten Gleichheitssatz, eine besondere Bekräftigung der unverletzlichen Rechte der Menschen in Art. 2 it. Verf. und der allgemeine Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 it. Verf. Auch die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Art. 7 und 8 it. Verf. zum Verhältnis des Staates zur katholischen Kirche und den anderen Religionsgemeinschaften finden sich diesem den Grundprinzipien gewidmeten Teil der italienischen Verfassung, G. Luther, Einführung in das italienische Recht, Darmstadt 1968, S. 24 f.; P. Kindler, S. 36 f. 281 Zur Entstehungsgeschichte dieser Normen in der verfassungsgebenden Versammlung, vgl. oben S. 60 ff. 282 Art. 2 it. Verf.: Die Republik anerkennt und gewährleistet die unverletzlichen Rechte des Menschen, sei es als Einzelperson, sei es innerhalb der sozialen Gemeinschaften, in denen sie seine Persönlichkeit entfaltet: sie verlangt die Erfüllung der unabdingbaren Pflichten politischer, wirtschaftlicher und sozialer Solidarität. Zitiert nach Kimmel/Kimmel (Hrsg.). 283 Art. 3 it. Verf.: Alle Staatsbürger genießen dieselbe soziale Achtung und sind vor dem Gesetz gleich, ohne Unterscheidung nach Geschlecht, Rasse, Sprache, Religion, politischen Ansichten sowie persönlichen und sozialen Verhältnissen. Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art zu beseitigen, die die Freiheit und Gleichheit der Bürger tatsächliche einschränken, du die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die wirksame Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes verhindern. Zitiert nach Kimmel/Kimmel (Hrsg.).
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der ausdrücklich eine Diskriminierung anknüpfend an das Merkmal der Religion ausschließt. Während die genannten ersten beiden Entscheidungen ausdrücklich die einzelnen Normen anführen, aus deren Zusammenschau sich die laicità ableiten soll, nehmen die weiteren Entscheidungen nicht mehr ausdrücklich auf diese Vorschriften Bezug. Einige der folgenden Entscheidungen bezeichnen den Grundsatz der laicità an die Ausführungen im Urteil Nr. 203/ 1989 anknüpfend als Kennzeichen der Staatsform, die die Verfassung vorgebe284, während wieder andere die laicità einfach zu den Verfassungsprinzipien der (gegenwärtigen) italienischen Verfassung285 zählen, oder zur Begründung auf das System der Verfassungsnormen verweisen, ohne jedoch explizit anzuführen, welche dies im einzelnen sind. Schon die Entscheidung Nr. 13/1991, eine Weiterentwicklung der Rechtsprechung zum Religionsunterricht, verwendet den Grundsatz der laicità ohne weitere Begründung. Im weiteren Verlauf der Argumentation wird darin lediglich auf die Entscheidung Nr. 203/1989 ausdrücklich Bezug genommen. Der Bezug auf dieses Urteil bildet in der weiteren Rechtsprechung zur laicità eine Konstante, denn fast alle Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes, die in ihrer Argumentation auf diesen Grundsatz rekurrieren, zitieren diese Entscheidung. Insgesamt ist festzustellen, daß mit fortschreitender Festigung des Grundsatzes der laicità in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, die Herleitung aus konkreten Vorschriften der Verfassung immer mehr in den Hintergrund tritt286. Statt der konkreten Verfassungsnormen werden nur noch die vorangehenden Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes, die auch die laicità betreffen, zitiert287, teilweise ergänzt um einen eher pauschalen Verweis auf die Wesensart der Staatsform bzw. das System der Verfassungsbestimmungen. Schließlich beschränkt sich die Herleitung in den Urteilen Nr. 421/1993 und Nr. 334/1996 auf das Zitat früherer Entscheidungen, insbesondere der Entscheidung Nr. 203/1989, während das Urteil Nr. 329/2001 und der Beschluß Nr. 327/2002 auch hierauf verzichten, und den Grundsatz der laicità völlig ohne ausdrückliche Herleitung verwenden. In der jüngsten Entscheidung Nr. 168/2005 bleibt unklar, ob die laicità besonders in Art. 8 it. Verf. wurzeln soll, oder ob Art. 8 it. Verf. und der Grundsatz der laicità zwei nebeneinander stehende unterschiedliche Wur284 Corte Costituzionale Nr. 195/1993, Giur. cost. 1993, S. 1324, 1332; Corte Costituzionale Nr. 149/1995, Giur. cost. 1993, S. 1241, 1248. 285 Corte Costituzionale Nr. 440/1995, Giur. cost. 1995, S. 3475, 3478 f. 286 A. Oddi, Il principio, S. 247. 287 Corte Costituzionale Nr. 168/2005, Giur. cost. 2005, S. 1379, 1383 verweist auf die Entscheidungen Nr. 203/1989, 259/1990, 195/1993, 329/1997, 329/2001 und 327/2002.
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zeln der Äquidistanz und Unparteilichkeit des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften sein sollen. Zusammenfassend läßt sich demnach feststellen, daß der italienische Verfassungsgerichtshof mit zunehmender Konsolidierung seiner Rechtsprechung zur laicità auf eine konkrete Herleitung aus einzelnen Verfassungsnormen zugunsten einer Bezugnahme auf die eigene Rechtsprechung verzichtet. cc) Die inhaltliche Bedeutung der laicità Eine Untersuchung des Konzepts der laicità in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes darf es jedoch nicht dabei bewenden lassen, festzustellen, wie diese Figur hergeleitet wird. Vielmehr ist danach zu fragen, welche Bedeutungen der Verfassungsgerichtshof selbst diesem Begriff zuweist. In zusammenfassender Betrachtung lassen sich dabei drei Ebenen unterscheiden, die in den verschiedenen Entscheidungen zur laicità immer wieder auftauchen, auch wenn im einzelnen durchaus unterschiedliche Nuancen und Betonungen erkennbar sind. Laicità bedeutet für den Verfassungsgerichtshof zunächst Scheidung von weltlicher und religiöser Ordnung, daraus folgend jedoch nicht Indifferenz des Staates gegenüber dem Religiösen, sondern Schutz der Religionsfreiheit und schließlich Gleichbehandlung der Religionen. (1) Scheidung von weltlicher und religiöser Ordnung In einer ganz grundsätzlichen Schicht kommt in der laicità für den Verfassungsgerichtshof zunächst die Scheidung von weltlicher und religiöser Ordnung zum Ausdruck, begründet darin, daß Religion zu einer Dimension gehört, die nicht dem Staat und seiner Rechtsordnung zu eigen ist, wie in der Entscheidung zur Beeidigung der Partei im Zivilprozeß288 ausdrücklich festgestellt wird289. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß der Verfassungsgerichtshof in seinen Entscheidungen seit dem Urteil über die Beeidigung der Partei im Zivilprozeß Nr. 334/1996 immer wieder die Formel „laicità o 288
Der in den Art. 233 ff. der italienischen Zivilprozeßordnung vorgesehene Eid einer der Parteien, findet eine gewisse Entsprechung in § 452 der deutschen ZPO, vgl. hierzu K. Reichold, in: Thomas/Putzo (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 30. Auflage, München 2009, § 452. 289 Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2922; ähnlich auch schon in einer Entscheidung zur Zuständigkeit kirchlicher Gerichte für die Feststellung der Nichtigkeit einer nach kanonischem Recht geschlossenen Ehe Corte Costituzionale Nr. 421/1993, Giur. cost. 1993, S. 3469, 3475 f.
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non-confessionalità“ verwendet. Dieser synonyme Gebrauch von laicità und Nichtkonfessionalität deutet darauf hin, daß für den Verfassungsgerichtshof der Kern der laicità in der Überwindung des Instituts der Staatsreligion liegt, werden doch in Italien (historische) Fragen der Staatsreligion ganz häufig unter dem Stichwort der Konfessionalität (confessionalità) des Staates erörtert. Angedeutet ist diese Trennung von geistlicher und weltlicher Sphäre im Text der Verfassung besonders in Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 2 it. Verf., in denen einerseits von der Unabhängigkeit der katholischen Kirche im eigenen Bereich die Rede ist und andererseits die Autonomie auch der anderen Religionsgemeinschaften, selbst die Statuten ihrer Binnenstruktur und -organisation festzulegen, garantiert wird. Entsprechend hatte der Verfassungsgerichtshof ausdrücklich auf Art. 8 Abs. 2 it. Verf. verwiesen, als er den öffentlich-rechtlichen Charakter der israelitischen Gemeinschaften im Urteil Nr. 259/1990 für verfassungswidrig erklärte, weil mit dem öffentlich-rechtlichen Charakter zwangsläufig Ingerenzrechte des Staates, quasi eine „Zivilkonstitution“290 einer Religionsgemeinschaft, verbunden seien, was mit der inneren Autonomie der Religionsgemeinschaften unvereinbar sei. Eng verbunden mit der inneren Autonomie der Religionsgemeinschaften ist für den Verfassungsgerichtshof eine weitere Folge der Scheidung von weltlicher und religiöser Dimension: der Staat darf sich kein Urteil hinsichtlich religiöser Inhalte anmaßen. In der Entscheidung Nr. 421/1993 über die Zuständigkeit kirchlicher Gerichte zur Feststellung der Nichtigkeit der kanonischen Ehe, stellt der Verfassungsgerichtshof fest, daß die kanonische Eheschließung ein Rechtsakt religiöser Natur sei – und damit logischerweise nicht ausschließlich rechtsgeschäftlichen Charakter hat. Wegen dieses religiösen Elements, das der staatlichen Verfügung entzogen sei, sei daher eine Feststellung der Nichtigkeit der kanonischen Eheschließung durch den weltlichen Richter ausgeschlossen. Staatliche Gerichte könnten deshalb lediglich über die Frage der Anerkennung der Entscheidung eines kirchlichen Gerichts über die Nichtigkeit nach kanonischem Recht entscheiden, nicht aber selbst die Nichtigkeit feststellen291. Weitere Folge der laicità als Scheidung von weltlicher und religiöser Dimension ist für den Verfassungsgerichtshof ferner das Verbot, die Religion 290
Der Begriff nimmt Bezug auf die während der französischen Revolution erlassene Zivilkonstitution des Klerus, mit der versucht wurde, den katholischen Klerus statt auf die Kirche, auf den revolutionären Staat zu verpflichten, vgl. hierzu m. w. N. K. Fitschen, Die Zivilkonstitution des Klerus von 1790 als revolutionäres Kirchenreformprogramm im Zeichen der Ecclesia primitiva, Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft 117 (1997), S. 378 ff. 291 Corte Costituzionale Nr. 421/1993, Giur. cost. 1993, S. 3469, 3475 f.; vgl. auch oben Fn. 269, S. 75.
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und die von ihr ausgehenden moralischen Verpflichtungen zum Mittel für die Verwirklichung staatlicher Zwecke zu machen. Aus diesem Grund wurde die religiöse Eidesformel und der Hinweis auf die durch den Eid eingegangene Verantwortung vor Gott in der Belehrung für die Beeidigung der Partei im Zivilprozeß für verfassungswidrig erklärt, weil andernfalls der religiöse Gehalt des Eides zu staatlichen Beweiszwecken instrumentalisiert würde292. Den gleichen Gedanken greift der Verfassungsgerichtshof in einer der Entscheidungen zur Strafbarkeit der Beleidigung des religiösen Empfindens auf und erweitertet ihn dahin, daß die laicità nicht nur verbiete, Religion zum Instrument für die Verwirklichung staatlicher Zwecke zu machen, sondern auch den umgekehrten Fall ausschließe293. In dieser ersten Schicht bedeutet laicità also Scheidung von weltlicher und religiöser Dimension, mit anderen Worten Trennung von Kirche und Staat, damit die wechselseitige Autonomie von Religion und Staat: sowohl die Freiheit des Staates, vor allem aber auch die Freiheit der Religion vom Staat und Schutz vor Einmischung des Staates in die religiöse Sphäre294. (2) Nicht Gleichgültigkeit gegenüber dem Religiösen sondern Schutz der Religionsfreiheit Auch wenn er grundsätzlich die Religion der Gesellschaft und dem Individuum und nicht der Sphäre des Staates zugeordnet, betont der Verfassungsgerichtshof jedoch in seiner Rechtsprechung immer wieder, daß laicità nicht „Gleichgültigkeit des Staates gegenüber den Religionen295“ bedeutet. Die Scheidung von religiöser und weltlicher Dimension dürfe nicht zu einem Gegensatz zwischen der Religion generell oder einem bestimmten Glauben und einem abstrahierten „Staat als juristischer Person“ – der Verfassungsgerichtshof spricht vom „stato-persona“ – führen. Vielmehr müsse sich „der Staat als Gemeinschaft“ – der Verfassungsgerichtshof spricht vom „stato-comunità“ – den religiösen Anliegen der Bürger gegenüber offen zeigen296. Die Laicità des Staates verlange daher, daß der Staat die Ausübung der Religionsfreiheit durch die Bürger schütze, oder um es mit den Worten des Verfassungsgerichtshofes zu sagen: laicità bedeutet die „Garan292
Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2922 f. Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335, 3339. 294 A. Oddi, Il principio, S. 247 bezeichnet diese Schicht als „negative“ laicità. 295 Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. cost. 1989, S. 890, 899; Corte Costituzionale Nr. 195/1993, Giur. cost. 1993, S. 1324, 1332; Corte Costituzionale Nr. 149/1995, Giur. cost. 1993, S. 1241, 1248; Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335, 3340.; Corte Costituzionale Nr. 508/2000, Giur. cost. 2000, S. 3965, 3969 f. 296 Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. cost. 1989, S. 890, 901. 293
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tie des Staates für den Schutz der Religionsfreiheit in einer Ordnung konfessionellen und kulturellen Pluralismus“297. Diese Formel ist es, die der Verfassungsgerichtshof am häufigsten verwendet, um laicità, so wie er sie versteht, zu charakterisieren. Dementsprechend bedeutet laicità nicht, daß der Staat sich eine Art Zivilreligion298 zu eigen machen und diese an die Stelle der Religionen der Bürger zu propagieren hat. Aufgabe des Staates ist es vielmehr, die Religionsausübung der Bürger möglichst weitgehend zu erleichtern, so daß sich die Religionsfreiheit voll entfalten kann299. Dieser Gedanke zieht sich wie eine rote Linie durch die ganze Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zur laicità. Im konkreten bedeutet dies, daß der Verfassungsgerichtshof die Erteilung von Religionsunterricht in staatlichen Schulen – unter Wahrung der negativen Religionsfreiheit300 – nicht nur für zulässig301, sondern für einen Ausdruck der laicità des Staates selbst angesehen hat302. Ebenso wurde eine staatliche Förderung der Errichtung von Kultstätten zur ausgewogenen städtebaulichen Entwicklung nicht für verfassungswidrig erachtet, wobei allerdings eine Differenzierung danach, ob zwischen Staat und betroffener Religionsgemeinschaft eine Vereinbarung i. S. d. Art. 8 it. Verf. abgeschlossen worden sei, nicht zulässig sein soll303. Der strafrechtliche Schutz religiöser Empfindungen gegen Beleidigung wurde in mehreren Entscheidungen304 für grundsätzlich verfassungs297
Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. cost. 1989, S. 890, 899; Corte Costituzionale Nr. 259/1990, Giur. cost. 1990, S. 1542, 1548; Corte Costituzionale Nr. 195/1993, Giur. cost. 1993, S. 1324, 1332; Corte Costituzionale Nr. 149/1995, Giur. cost. 1993, S. 1241, 1248; ähnlich auch Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2922, 2925. 298 Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2926; der Verfassungsgerichtshof verwendet die Formulierung „religione dell’umanità“, was wörtlich übersetzt „Religion der Humanität“ oder „Menschheitsreligion“ bedeuten kann. 299 In der Terminologie von A. Oddi, Il principio, S. 247 wird dies als „positive“ laicità bezeichnet. 300 Anders als in Deutschland bedarf es für diejenigen, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen wollen, keiner Abwahl, sondern diejenigen Eltern, die Religionsunterricht für ihre Kinder wünschen, haben dies am Beginn eines Schuljahres positiv zum Ausdruck zu bringen. Um die negative Religionsfreiheit zu gewährleisten verlangt der Verfassungsgerichtshof ferner, daß die Alternative zum Religionsunterricht, ein „Status der Nicht-Verpflichtung“ sein muß, so daß der verpflichtende Besuch alternativer Unterrichtsangebote nicht vorgeschrieben werden darf, vgl. hierzu im einzelnen Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. cost. 1989, S. 890, 902 f.; Corte Costituzionale Nr. 13/1991, Giur. cost. 1991, S. 77, 83 f. 301 Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. cost. 1989, S. 890, 902 f. 302 Corte Costituzionale Nr. 13/1991, Giur. cost. 1991, S. 77, 83. 303 Corte Costituzionale Nr. 195/1993, Giur. cost. 1993, S. 1324, 1332 ff. 304 Corte Costituzionale Nr. 440/1995, Giur. cost. 1995, S. 3475 ff.; Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335 ff.; Corte Costituzionale Nr. 327/ 2002, Giur. cost. 2002, S. 2522 ff.; Corte Costituzionale Nr. 168/2005, Giur. cost.
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gemäß erachtet, da der Schutz des religiösen Empfindens ein Korollar der Religionsfreiheit sei. Laicità bedeute „nicht Gleichgültigkeit und Enthaltung des Staates gegenüber den Religionen“, sondern bringe vielmehr „legitime gesetzgeberische Maßnahmen zum Schutz der Religionsfreiheit mit sich“305, wozu auch der Schutz vor Beleidigung des religiösen Empfindens zählen soll. Zum Ausdruck kommt dieses Bestreben, weiten Raum für die Religionsausübung zu gewährleisten, auch in der Entscheidung zur Formel der Beeidigung der Partei im Zivilprozeß. Darin stellt der Verfassungsgerichtshof fest, daß die religiöse Formel zwar gegen die negative Religionsfreiheit und die laicità verstößt. Gleichzeitig beeilt sich das Gericht jedoch darauf hinzuweisen, daß nicht das Schwören als solches für verfassungswidrig zu erklären und durch eine einfache Bekräftigung zu ersetzen ist. Denn das Schwören, das nicht zwangsläufig religiös konnotiert sei, biete als solches die nötige Offenheit, daß zwar einerseits der Nichtgläubige areligiös davon Gebrauch machen könne, andererseits aber auch der Gläubige dem Schwur religiösen Charakter beimessen könne306. (3) Gleichbehandlung der Religionen Begrenzt wird diese Öffnung des Staatlichen gegenüber dem Religiösen durch den dritten Punkt, der die laicità nach der der Konzeption des Verfassungsgerichtshofes kennzeichnet. Denn wenn der Staat zulässigerweise den religiösen Anliegen der Bürger Raum gibt und Förderung zukommen läßt, verlangt die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, daß dies in nicht diskriminierender Weise zu geschehen hat. Die laicità verbietet dem Staat anknüpfend an die zugrundeliegenden Normen der Art. 3 und 8 Abs. 1 it. Verf. einerseits die Diskriminierung zwischen den verschiedenen Religionen307. So hielt das Verfassungsgericht den öffentlich-rechtlichen Status der 2005, S. 1379 ff.; in Corte Costituzionale Nr. 508/2000, Giur. cost. 2000, S. 3965, 3969 f. konnte der Verfassungsgerichtshof freilich wegen des Gesetzesvorbehalts nicht anders entscheiden, als die angegriffene Vorschrift des Art. 402 it. StGB aufzuheben, weil in diesem Fall der Weg einer Angleichung des Strafmaßes für die Beleidigung der katholischen Religion an ein für die Beleidigung anderer Religionen vorgesehenes gemildertes Strafmaß nicht gangbar war. Art. 402 it. StGB beinhaltete nämlich anders als die anderen Vorschriften des it. StGB, zu denen der Verfassungsgerichtshof seine Rechtsprechung zur Religionsbeleidigung entwickelte, keine gemilderte Variante für die Beleidigung anderer nichtkatholischer Religionen und Konfessionen. 305 Corte Costituzionale Nr. 508/2000, Giur. cost. 2000, S. 3965, 3970. 306 Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2922, 2924 ff. 307 Corte Costituzionale Nr. 259/1990, Giur. cost. 1990, S. 1542, 1548; Corte Costituzionale Nr. 195/1993, Giur. cost. 1993, S. 1324, 1333, 1335; Corte Costituzionale Nr. 440/1995, Giur. cost. 1995, S. 3475, 3480 ff.; Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335, 3340 f.; Corte Costituzionale Nr. 508/
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israelitischen Gemeinden mit den damit verbundenen besonderen Eingriffsrechten des Staates und den korrespondierenden Privilegien für eine nicht gerechtfertigte Diskriminierung308. Ebenso mahnte das Gericht unter Berufung auf die laicità die Gleichbehandlung der Zeugen Jehovas in Bezug auf die Förderung von Kultstätten an309 und verlangte in den Entscheidungen zum Fluchen310 und zum strafrechtlichen Schutz des religiösen Empfindens311 vor Beleidigung, daß der Schutz in gleicher Weise die religiösen Erfahrungen312 aller erfassen müsse. Die jüngeren Entscheidungen präzisieren das Gleichbehandlungserfordernis zwischen den Religionen dahingehend, daß laicità „Äquidistanz und Unparteilichkeit gegenüber allen religiösen Konfessionen“ verlange313. Ungleichbehandlungen sollen sich allerdings aus dem Konkordat bzw. den verschiedenen Übereinkünften, die der italienische Staat als Ergebnis bilateraler Verhandlungen gem. Art. 7 Abs. 2 bzw. Art. 8 Abs. 3 it. Verf. mit der katholischen Kirche bzw. den anderen Religionsgemeinschaften geschlossen hat, ergeben können, soweit die ungleichen Regelungen darin konkret verankert sind. Argumentiert wird, daß das Gesamtsystem bilateraler Übereinkünfte, indem es den unterschiedlichen Bedürfnissen der verschiedenen Religionsgemeinschaften Rechnung trägt, in ausgeglichener Weise die Freiheit jeder Religionsgemeinschaft ga2000, Giur. cost. 2000, S. 3965, 3969; Corte Costituzionale Nr. 327/2002, Giur. cost. 2002, S. 2522, 2524 f.; Corte Costituzionale Nr. 168/2005, Giur. cost. 2005, S. 1379, 1383. 308 Corte Costituzionale Nr. 259/1990, Giur. cost. 1990, S. 1542, 1548. 309 Corte Costituzionale Nr. 195/1993, Giur. cost. 1993, S. 1324, 1333 ff. 310 Corte Costituzionale Nr. 440/1995, Giur. cost. 1995, S. 3475 ff. 311 Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335 ff.; Corte Costituzionale Nr. 508/2000, Giur. cost. 2000, S. 3965 ff.; Corte Costituzionale Nr. 327/ 2002, Giur. cost. 2002, S. 2522, 2524; Corte Costituzionale Nr. 168/2005, Giur. cost. 2005, S. 1379 ff. 312 Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335, 3340; Nach langer Untätigkeit und nachdem der italienische Verfassungsgerichtshof alle Artikel des betreffenden Abschnitts der italienischen Strafgesetzbuches entweder ganz aufgehoben oder soweit möglich im Sinne der Gleichbehandlung aller Religionen korrigiert hatte – vgl. hierzu R. Wiedemann, S. 69 –, faßte der Gesetzgeber durch das Gesetz Nr. 85/2006 vom 24. Feburar 2006 den ersten Abschnitt des IV. Titels des zweiten Buchs des italienischen StGB den Vorgaben des Verfassungsgerichtshofs entsprechend neu. Die in Dir. eccl. 2005, I, S. 758 abgedruckte Neuregelung reduziert gleichzeitig die vorgesehenen Höchststrafen deutlich. Waren bisher durchweg mehrjährige Gefängnisstrafen als Höchststrafen vorgesehen, so beschränkt die Neufassung die Höchststrafen mit Ausnahme von Art. 405 it. StGB auf Geldstrafen bis zu einer Höhe von 6000 Euro. 313 Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335, 3340; Corte Costituzionale Nr. 508/2000, Giur. cost. 2000, S. 3965, 3968 f.; Corte Costituzionale Nr. 327/2002, Giur. cost. 2002, S. 2522, 2524; Corte Costituzionale Nr. 168/2005, Giur. cost. 2005, S. 1379, 1383.
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rantiert, woraus sich auch rechtfertige, daß diese bilateralen Übereinkünfte im einzelnen durchaus unterschiedliche Regeln enthalten314. Doch sieht der Verfassungsgerichtshof diese Ausnahme wohl nur dort als einschlägig an, wo ausschließlich das Verhältnis zur Religionsgemeinschaft als Gemeinschaft betroffen ist, nicht aber wenn die Gemeinschaft ein Recht ausübt, dessen Wurzel in der individuellen Religionsfreiheit des Art. 19 it. Verf. liegt315. Auf die Zahl der Mitglieder oder die soziale Relevanz einer Religionsgemeinschaft als Rechtfertigung für eine differenzierte Behandlung verschiedener Religionsgemeinschaften zurückzugreifen, scheint der italienische Verfassungsgerichtshof inzwischen anders als in seiner frühen Rechtsprechung auszuschließen, wie sich aus der Rechtsprechung zur Strafbarkeit der Religionsbeleidigung ergibt316. In dieser in Italien bereits seit langer Zeit kontrovers diskutierten Frage folgt der italienische Verfassungsgerichtshof damit nun wohl dem Standpunkt, den Scaduto schon früh vertreten hatte317. Das aus der laicità innewohnende Gleichbehandlungsgebot betrifft jedoch nicht nur die Beziehungen gegenüber den verschiedenen Religionen, sondern verbietet auch die Ungleichbehandlung zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen318. Beispielhaft ist im Urteil zur Beeidigung der Partei im Zivilprozeß davon die Rede, daß „Gläubige und Ungläubige auf der gleichen Ebene hinsichtlich verpflichtender Vorschriften des Staates“ stünden319. In den Entscheidungen zum Religionsunterricht stellt der Verfassungsgerichtshof ausdrücklich fest, daß im Religionsunterricht an staatlichen Schulen keine Diskriminierung der Nichtgläubigen liege, weil und solange diese keiner alternativen Unterrichtspflicht unterlägen, sondern sich in einem Zustand der „Nicht-Verpflichtung“ befänden320.
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Corte Costituzionale Nr. 235/1997, Giur. cost. 1997, S. 2228, 2240. So ging der Verfassungsgerichtshof in Corte Costituzionale Nr. 195/1993, Giur. cost. 1993, S. 1324, 1335 f. davon aus, daß eine staatliche Förderung beim Bau von Kultstätten nicht notwendig eine Verfaßtheit oder gar den Abschluß einer Übereinkunft voraussetze, weshalb der Ausschluß der Zeugen Jehovas von der Förderung mit dem Argument, diese hätten keine Übereinkunft geschlossen, als verfassungswidrig eingestuft wurde. 316 Corte Costituzionale Nr. 440/1995, Giur. cost. 1995, S. 375, 3480; Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335, 3340. 317 Vgl. zum ganzen oben Fn. 132, S. 47 m. w. N. 318 Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. cost. 1989, S. 890, 898, 902; Corte Costituzionale Nr. 13/1991, Giur. cost. 1991, S. 77, 83; Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2922. 319 Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2922, 2922. 320 Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. cost. 1989, S. 890, 902 f.; Corte Costituzionale Nr. 13/1991, Giur. cost. 1991, S. 77, 83 f. 315
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dd) Laicità als Verfassungsprinzip höchsten Ranges und Prüfungsmaßstab Ebenso wichtig wie die Analyse der verschiedenen Bedeutungsebenen ist für das Verständnis des Konzepts der laicità, wie es die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit entwickelt hat, deren Stellung im Gefüge der italienischen Verfassung und die Art der konkreten Anwendung dieser Figur. In den Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes wird die laicità zumeist als „principio supremo“321, als oberstes Prinzip der Verfassungsordnung, bisweilen auch als „fundamentales Prinzip“322, als „fundamentales Verfassungsprinzip“323 oder als „fundamentales oder oberstes Verfassungsprinzip“324 bezeichnet. Eine Erklärung, was unter einem obersten Prinzip der Verfassungsordnung zu verstehen ist, findet sich im Rahmen der Rechtsprechung zur laicità allein im Urteil Nr. 203/1989: Dort wird darauf verwiesen, daß der Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Existenz von Verfassungsprinzipien anerkannt habe325, die gegenüber den anderen Normen der Verfassung und sonstigen Verfassungsgesetzen326 höheren Rang hätten. Damit handelt es sich bei der laicità also 321 Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. cost. 1989, S. 890, 898; Corte Costituzionale Nr. 13/1991, Giur. cost. 1991, S. 77, 83; Corte Costituzionale Nr. 195/ 1993, Giur. cost. 1993, S. 1324, 1332; Corte Costituzionale Nr. 149/1995, Giur. cost. 1993, S. 1241, 1248; Corte Costituzionale Nr. 508/2000, Giur. cost. 2000, S. 3965, 3969; Corte Costituzionale Nr. 329/2001, Giur. cost. 2001, S. 2779, 2794; Corte Costituzionale Nr. 213/2002, Giur. cost. 2002, S. 1664 ff. 322 Corte Costituzionale Nr. 327/2002, Giur. cost. 2002, S. 2522, 2524. 323 Corte Costituzionale Nr. 440/1995, Giur. cost. 1995, S. 3478. 324 Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2922. 325 Verwiesen wird auf folgende Entscheidungen des italienischen Verfassungsgerichtshof Corte Costituzionale Nr. 30/1971, Giur. cost. 1971, S. 150 ff.; Corte Costituzionale Nr. 12/1972, Giur. cost. 1972, S. 45 ff.; Corte Costituzionale Nr. 175/ 1973, Giur. cost. 1973, S. 2321 ff.; Corte Costituzionale Nr. 183/1973 = EuGRZ 1975, S. 311 ff., Giur. cost. 1973, S. 2401 ff.; Corte Costituzionale Nr. 1/1977, Giur. cost. 1977, S. 1 ff.; Corte Costituzionale Nr. 18/1982, Giur. cost. 1982, S. 138 ff.; Corte Costituzionale Nr. 170/1984, Giur. cost. 1984, S. 1098 ff. = EuGRZ 1985 S. 98 ff.; die Urteile Nr. 183/1973 und Nr. 170/1984 sind in Deutschland vor allem im europarechtlichen Kontext als „Frontini-Entscheidung“ (Urteil Nr. 183/1973) und „Granital-Entscheidung“ (Urteil Nr. 170/1984) bekannt. Vgl. hierzu aus der deutschsprachigen Literatur stellvertretend für viele bspw. A. La Pergola, Das Verhältnis von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs, in: Fürst/Herzog/Umbach (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 2, Berlin 1987, S. 1695 ff.; F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, München 2000, S. 169 ff.; W. Schröder, Das Gemeinschaftsrechtssystem: Eine Untersuchung zu den rechtsdogmatischen, rechtstheoretischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen des Systemdenkens im europäischen Gemeinschaftsrecht, Tübingen 2002, S. 181 ff. 326 Hierzu P. Kindler, S. 68.
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um eine Art Verfassungsrecht höheren Ranges oder „Überverfassungsrecht“327. Die Zuweisung dieses besonderen Ranges erklärt sich wohl aus der Eigenart des Falles, der dem Urteil Nr. 203/1989, in dem die laicità erstmalig erwähnt wurde, zu Grunde lag. Zu entscheiden war über die Verfassungsmäßigkeit der neuen Regelung des katholischen Religionsunterrichts, wie sie sich aus den Vereinbarungen des 1984 geschlossenen Änderungsabkommens zum Konkordat zwischen katholischer Kirche und italienischem Staat ergaben, die durch das zugehörige Ausführungsgesetz328 in die italienische Rechtsordnung eingeführt wurden. Daher lagen nun genau dieses Gesetz und damit mittelbar auch das Konkordat selbst dem Verfassungsgerichtshof zur Überprüfung vor. Da der Verfassungsgerichtshof in der Entscheidung jedoch davon ausgeht, daß sich aus Art. 7 Abs. 2 it. Verf. eine besondere verfassungsrechtliche Absicherung des Konkordates ergibt329, wäre es eigentlich nahe gelegen, daß der Verfassungsgerichtshof sich zu der in der Literatur umstrittenen Frage hätte äußern müssen, worin diese besondere Absicherung des Konkordates eigentlich besteht. Insbesondere hätte er entscheiden müssen, ob das Konkordat überhaupt am Maßstab der Verfassung gemessen werden kann oder ob in Art. 7 Abs. 2 it. Verf. eine Konstitutionalisierung des Konkordates330 liegt, die eine Überprüfung am Maßstab des Verfassungsrechts ausschließt. Der Entscheidung dieser überaus umstrittenen Fragen konnte sich der Verfassungsgerichtshof jedoch dadurch entziehen, daß er anknüpfend an eine bereits früher entwickelte Rechtsprechung auf die Figur des Überverfassungsrechts in Form der obersten Prinzipien zurückgriff331. Bereits in den siebziger und frühen achtziger Jahren mußte der Verfassungsgerichtshof sich nämlich mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Konkordates332 einerseits und des aus den Römischen Verträgen erwachsenden Gemeinschaftsrechts333 ande327 A. Spadaro, S. 77, 86 ff. m.w.N zur Theorie des – auch dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogenen – „harten Kerns“ der Verfassung; ebenso M. Manco, S. 37 ff. 328 Gesetz Nr. 121 vom 25. März 1985; die Regelungen zum Religionsunterricht sind in Art. 9 Nr. 2 enthalten. 329 zustimmend m. w. N. A. Oddi, Il principio, S. 243. 330 Zu dieser schon in der verfassungsgebenden Versammlung aufgeworfenen Frage vgl. Fn. 212, S. 61. 331 S. Ceccanti, S. 13 f.; A. Oddi, Il principio, S. 243, 250; S. Sicardi, S. 501, 503 f. 332 Corte Costituzionale Nr. 30/1971 Giur. cost. 1971, S. 150 ff.; Corte Costituzionale Nr. 12/1972; Giur. cost. 1972, S. 44 ff.; Corte Costituzionale Nr. 175/1973, Giur. cost. 1973 2321 ff.; Corte Costituzionale Nr. 1/1977, Giur. cost. 1977, S. 3 ff.; Corte Costituzionale Nr. 18/1982, Giur. cost. 1982, S. 138 ff. 333 Corte Costituzionale Nr. 183/1973, Giur. cost. 1973, S. 2401 ff. („Frontini“); Corte Costituzionale Nr. 170/1984, Giur. cost. 1984, S. 1098 ff. („Granital“).
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rerseits auseinandersetzen, die jeweils durch Art. 7 Abs. 2 bzw. Art. 11 it. Verf. besondere Verankerung in der Verfassung finden. In beiden Fällen ermöglichte der Rückgriff auf die Figur der obersten Verfassungsprinzipien dem Verfassungsgerichtshof, einerseits seine prinzipielle Kompetenz zur Überprüfung zu bekräftigen und andererseits auf die Prüfung dieser Norm vertraglicher Natur an einzelnen Verfassungsnormen verzichten zu können. Das Neue der Entscheidung Nr. 203/1989 liegt nun darin, daß hier erstmals die laicità als solches oberstes Prinzip benannt und gleichzeitig zum Prüfungsmaßstab für die Überprüfung der Normen konkordatären Ursprungs gemacht wurde. In den folgenden Entscheidungen wird nun diese Qualifizierung der laicità als oberstes Prinzip konsequent wiederholt. Abgesehen von der Entscheidung Nr. 13/1991, die lediglich eine Konkretisierung zum Urteil 203/ 1989 enthält, standen jedoch im folgenden stets Normen auf dem Prüfstand, die nicht der Ausführung des Konkordates dienten und damit auch an einfachem Verfassungsrecht hätten gemessen werden können334. Dieser Ursprung der Qualifizierung der laicità als oberstes Prinzip, der in der Vermeidung einer Klärung der Frage des Ranges des Konkordates liegt, findet denn auch in der Verwendung der laicità seinen Ausdruck. Während nämlich in den Urteilen Nr. 203/1989 und Nr. 13/1991 die laicità als oberstes Prinzip einziger Prüfungsmaßstab ist, während andere Verfassungsnormen ausscheiden, um nicht den Rang des Konkordates klären zu müssen, wird die laicità in den anderen Urteilen in eher inkonsistenter Weise in die Argumentation mit einbezogen. Teilweise wird eine Verletzung einer konkreten Verfassungsnorm und auch des Grundsatzes der laicità festgestellt335, teilweise sind nur konkrete Verfassungsnormen wie Art. 3, Art 8 Abs. 1 und Art. 19 it. Verf. Prüfungsmaßstab336. Mitunter sind zwar eigentlich konkrete Verfassungsnormen wie die Religionsfreiheit des Art. 19 it. Verf. Prüfungsmaßstab, bei der staatlichen Förderung der Ausübung der Religionsfreiheit soll jedoch die laicità zu beachten sein337, oder die Prüfung der konkreten Vorschrift erfolgt am Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 it. Verf., der jedoch in engem Zu334 Auch in Corte Costituzionale Nr. 421/1993, Giur. cost. 1993, S. 3469 ff. wäre über eine Norm des Konkordates zu entscheiden gewesen, wenn das vorlegende Gericht die entsprechende Norm des Änderungsabkommens von 1984 vorgelegt hätte, anstatt eine überholte Norm des ursprünglichen Konkordates vorzulegen, weshalb die Vorlage unzulässig war; vgl. hierzu Corte Costituzionale Nr. 421/1993, Giur. cost. 1993, S. 3469, 3476; G. Lo Castro, S. 3489 f. 335 Corte Costituzionale Nr. 259/1990, Giur. cost. 1990, S. 1542, 1548. 336 Corte Costituzionale Nr. 149/1995, Giur. cost. 1993, S. 1241, 1245, 1248; Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2921. 337 Corte Costituzionale Nr. 195/1993, Giur. cost. 1993, S. 1324, 1335.
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sammenhang mit dem Prinzip der laicità verstanden wird338. In anderen Entscheidungen ist es wiederum das Postulat der Äquidistanz und Unparteilichkeit als Reflex der laicità, an dem eine Regelung gemessen werden soll339. Etwas unklar bleibt damit in der Rechtsprechung, in welchem Verhältnis die laicità zu den einfachen Verfassungsnormen steht, aus deren Zusammenschau sie hergeleitet wird, und damit zusammenhängend auch, inwieweit dem Rückgriff auf dieses Konzept – außer in den Fällen, in denen Normen konkordatären Ursprungs nicht am „normalen“ Verfassungsrecht gemessen werden sollen, um die Rangfrage offen lassen zu können – ein Eigenwert als Prüfungsmaßstab gegenüber der Summe der Inhalte der einzelnen Verfassungsnormen zukommt. ee) Fazit Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Einordnung in das „Überverfassungsrecht“ der obersten Verfassungsprinzipien für das Verständnis des italienischen Verfassungsgerichtshof vom Konzept der laicità des Staates von ganz wesentlicher Bedeutung ist. Die Entdeckung der laicità als eines der obersten Verfassungsprinzipien in der Entscheidung Nr. 203/1989 erlaubte es dem Verfassungsgerichtshof, an seine Rechtsprechung zu den obersten Verfassungsprinzipien anzuknüpfen und deren Eigenarten auch in diesem Fall nutzbar zu machen: Wie schon in anderen Entscheidungen, in denen das Konkordat oder das Europäische Primärrecht bzw. die Ausführungsgesetze hierzu auf den Prüfstand gekommen waren, konnte der Verfassungsgerichtshof in diesem Fall erneut seine eigene Prüfungskompetenz auch gegenüber dem Konkordat bestätigen. Impliziert ist dadurch zugleich, daß im Verhältnis zwischen Kirche und Staat das letzte Wort für die Regelung dieser Beziehungen dem Staat zusteht. Gleichzeitig gewährte der Rückgriff auf die laicità als oberstes Verfassungsprinzip, das im Wortlaut der Verfassung nicht erwähnt ist, dem Gericht eine große Flexibilität im Umgang mit dem konkreten Fall. Maßstab für die Prüfung der konkreten Bestimmungen des Konkordates waren nicht die verschiedenen konkreten Verfassungsbestimmungen, sondern das vom Verfassungsgerichtshof erst mit Inhalt zu füllende Konzept der laicità, das einen wohlwollenderen Umgang mit dem Konkordat erlaubte340. 338 Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335, 3340 f.; Corte Costituzionale Nr. 329/2001, Giur. cost. 2001, S. 2779, 2794. 339 Corte Costituzionale Nr. 327/2002, Giur. cost. 2002, S. 2522, 2524; Corte Costituzionale Nr. 508/2000, Giur. cost. 2000, S. 3965, 3969. 340 A. Oddi, Il principio, S. 250; aus kritischer Warte bestätigt diesen Befund S. Lariccia, Diritti di libertà, S. 181, 186 f.
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Aus dieser Offenheit eines richterrechtlich entwickelten Instituts resultieren jedoch auch die Verselbständigungstendenzen her, die in der weiteren Rechtsprechung zur laicità des Staates deren Herleitung prägen, da eine ausdrückliche Erwähnung im Normkorpus der italienischen Verfassung fehlt. Hieraus und aus der Einordnung als eines der obersten Verfassungsprinzipien resultieren auch die Schwierigkeiten, die laicità von den Inhalten der einzelnen anderen religions- und staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Verfassung abzugrenzen. Zwar ist die laicità objektives Prinzip, während Art. 3 und Art. 19 it. Verf. individuelle Grundrechte sind und Art. 7 und 8 it. Verf. Verbürgungen kollektiven Religionsrechtes enthalten. Doch dürfte die Unterscheidung in objektive und subjektive Verfassungsnormen in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes eine geringere Rolle als in Deutschland spielen, da keine Verfassungsbeschwerde zur Geltendmachung subjektiver Rechtsverletzungen existiert341 sondern nur das eher am objektiven Recht orientierte Verfahren der Richtervorlage bekannt ist342. Eigenwert als Prüfungsmaßstab kommt der laicità offensichtlich dort zu, wo der Verfassungsgerichtshof wegen des Wortlautes von Art. 7 Abs. 2 it. Verf. Normen konkordatären Ursprungs nicht an „normalem“ Verfassungsrecht, sondern nur an obersten Prinzipien messen will. Wo jedoch andere gesetzliche Vorschriften rein innerstaatlichen Ursprungs Gegenstand der verfassungsrechtlicher Kontrolle sind, bleibt in weiten Teilen unklar, inwieweit der laicità Eigenwert zuzumessen ist. Denn während die Scheidung von weltlicher und geistlicher Ebene im Grunde schon in Art. 7 Abs. 1 it. Verf. angelegt343 ist, finden sich die der laicità innewohnenden Gleichheitsverbürgungen schon überdeutlich in Art. 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 it. Verf. angelegt344, auch wenn in letzter Zeit durch die der Rechtsprechung zur laicità eigene Formel von „Äquidistanz und Unparteilichkeit“ ein gewisser eigener Akzent gesetzt worden sein mag. Die Abgrenzungsschwierigkeiten zeigen sich gerade darin, daß es der Rechtsprechung wie gezeigt in den gleichheitsrechtlichen Fällen kaum gelungen ist, einen einheitlichen Prüfungsmaßstab festzulegen. Selbständige inhaltliche Bedeutung dürfte der laicità am ehesten in der Offenheit für die religiösen Anliegen der Bürger zukommen. Zwar eröffnen Art. 7 Abs. 2 und 8 Abs. 3 it. Verf. als die Grundlage für Konkordat und Übereinkünfte mit anderen Religionsgemeinschaften die Möglichkeit einer Kooperation mit den Religionsgemeinschaften, doch ist Art. 19 it. Verf. als klassisches Abwehrrecht formuliert. Ganz wesentlich für die Rechtsprechung zur laicità ist jedoch, daß der Verfassungsgerichtshof ein a- oder gar antireligiöses Verständnis der lai341 342 343 344
M. Dietrich, S. 210 ff. Vgl. hierzu M. Dietrich, S. 117 ff. Vgl. oben S. 60 f. Vgl. oben S. 63 f.
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cità des Staates ablehnt, sondern vielmehr den staatlichen Bereich für die Verwirklichung der religiösen Anliegen der Bürger öffnet und die nichtkonfessionelle Förderung von Religion für zulässig hält; nicht zuletzt deshalb, weil er die religiöse Dimension als kollektives und nicht rein individuelles Anliegen versteht345. In der laicità liegt daher ein gewisser favor religionis346, allerdings in pluralistischer und nichtdiskriminierender Weise. b) Die weltanschaulich-religiöse Neutralität in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aa) Überblick Auch in Deutschland ist die Bezugnahme auf den Topos der „weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates“ bzw. des „weltanschaulich neutralen Staates“ seit seiner erstmaligen Erwähnung im 12. Band347 eine Konstante der staatskirchenrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, auch wenn nicht alle Entscheidungen, die staatskirchenrechtliche Aspekte betrafen, den Begriff der Neutralität im Munde führen348. Die Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität argumentierte, betreffen eine Vielzahl von Problemen, die von der Bestimmung des Umfangs der Religionsfreiheit349, über kirchensteuerrechtliche Fragen350, Befreiungen öffentlich-rechtlich organisierter Religionsgemeinschaften von bestimmten Gebühren und Abgaben351, den Zugang zu diesem öffentlich-rechtlichen Status352, die Eidesverweigerung aus Glaubensgründen und das Kreuz im Gerichtssaal353, die strafrechtlichen Folgen einer aus Glaubensgründen unterlassenen ärztlichen Behandlung354, die Ge345 I. Nicotra, S. 232, 238; enttäuscht über den „geringen Gehalt“ des Grundsatzes der laicità nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs S. Lariccia, Diritti di libertà, S. 186 f., der dem Verfassungsgerichtshof vorwirft, die laicità zur Aufrechterhaltung eines konfessionellen Elements mißbraucht zu haben. 346 A. Oddi, Il principio, S. 248 m. w. N.; A. Guazzarotti, Crocifisso, S. 178; I. Nicotra, S. 234; M. Olivetti, S. 3972, 3978; S. Sicardi, S. 501, 504, 511, 539. 347 BVerfGE 12, 1, 4. 348 Bspw. BVerfGE 19, 226; BVerfGE 19, 242; BVerfGE 19, 248; BVerfGE 19, 253; BVerfGE 19, 268; BVerfGE 19, 282; BVerfGE 19, 288; BVerfGE 41, 88; BVerfGE52, 223. 349 BVerfGE 12, 1 (Tabakbeschluß); BVerfGE 24, 236 (Aktion Rumpelkammer). 350 BVerfGE 19, 206 (badische Kirchenbausteuer). 351 BVerfGE 19, 1 (Neuapostolische Kirche); BVerfGE 66, 1 (Konkursausfallgeld). 352 BVerfGE 102, 370 (Zeugen Jehovas). 353 BVerfGE 33, 23 (Eideszwang); BVerfGE 35, 366 (Kreuz im Gerichtssaal). 354 BVerfGE 32, 98 (unterlassene Hilfeleistung).
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brauchsüberlassung einer Kirche im staatlichen Eigentum an eine Religionsgemeinschaft355, Sektenwarnungen356 bis hin zu vielfältigen Fragen der Stellung der Religion im Schulbereich357, deren letzte und vielleicht prominenteste Beispiele das Kruzifix im Klassenzimmer358 und das Kopftuch der Lehrerin359 sind, reichen. In einem ersten Schritt soll nun dargestellt werden, welche Ansätze das Bundesverfassungsgericht verfolgt, um die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates herzuleiten und zu begründen (bb). Anschließend soll aufzeigt werden, welche Bedeutungsgehalte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Begriff der weltanschaulich-religiösen Neutralität beimißt (cc). Schließlich ist zu untersuchen, wie das Bundesverfassungsgericht die weltanschaulich-religiöse Neutralität bei der Entscheidung konkreter Streitfragen in seine Argumentation einbringt und in welchem Verhältnis die weltanschaulich-religiöse Neutralität zu anderen Grundsätzen des Staatskirchenrechts steht (dd). bb) Herleitung und Begründung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates Im Grundgesetz findet sich weder der Begriff der „weltanschaulich-religiösen Neutralität“ noch wird im Text des Grundgesetzes dem Staat das Adjektiv „weltanschaulich-neutral“ zur Seite gestellt, obwohl sich das Grundgesetz in Art. 20 durchaus für die Festlegung bestimmter Staatsstrukturprinzipien entschieden hat. Dessen ungeachtet verzichtete das Bundesverfassungsgericht in der ersten Entscheidung, in der sich die Rede vom weltanschaulich-neutralen Staat findet360, darauf, diese Qualifizierung der Staatlichkeit aus konkreten Normen des Verfassungstextes herzuleiten, oder auf andere Weise zu begründen. In den folgenden Entscheidungen betreffend die Teilung einer Kirchengemeinde361 und die Grundbuchgebührenfreiheit bestimmter Religionsgemeinschaften362 hielt es das Bundesverfassungsgericht für ausreichend zur Begründung der Neutralität des Staates auf das Grundgesetz als solches363 bzw. das staatskirchenrechtliche System des 355
BVerfGE 99, 100 (St. Salvator Kirche). BVerfGE 102, 370 (Osho). 357 BVerfGE 27, 195 (Anerkannte Privatschulen); BVerfGE 41, 29 (Badische Simultanschule); BVerfGE 41, 65 (Gemeinsame Schule [Bayern]); BVerfGE 74, 244 (Religionsunterricht); BVerfGE 75, 40 (Privatschulfinanzierung I); BVerfGE 88, 40 (Private Grundschule). 358 BVerfGE 93, 1. 359 BVerfGE 108, 282. 360 BVerfGE 12, 1, 4. 361 BVerfGE 18, 385. 362 BVerfGE 19, 1. 356
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Grundgesetzes364 zu verweisen. Etwas näher am Normtext blieb das Gericht hingegen in der Entscheidung zur badischen Kirchenbausteuer365, in der es zum ersten Mal ausführt, daß „durch Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf[erlegt]“366 sei. Damit sind bereits in der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die unterschiedlichen Ansätze erkennbar, mit der fehlenden unmittelbaren Verankerung der weltanschaulich-religiösen Neutralität im Verfassungstext umzugehen: Etliche Urteile verzichten auf eine Herleitung des Neutralität aus dem Verfassungstext367, wobei allerdings teilweise auf frühere Entscheidungen zur weltanschaulich-religiösen Neutralität, insbesondere BVerfGE 18, 385 (Teilung einer Kirchengemeinde), BVerfGE 19, 206 (Badische Kirchenbausteuer) und BVerfGE 24, 236 (Aktion Rumpelkammer), Bezug genommen wurde368. Auch in jüngerer Zeit hat sich das Bundesverfassungsgericht zur Begründung der Neutralität wiederholt mit dem Verweis auf vorangegangene Entscheidungen begnügt.369 Die zweite Gruppe bilden jene Entscheidungen, die den Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität mit einem pauschalen Verweis auf die freiheitlich demokratische Grundordnung370 oder schlichtweg das Grundgesetz371 begründen. Gewisse Anklänge davon sind auch in BVerfGE 102, 370 (Zeugen Jehovas) zu finden, wo die weltanschaulich-religiöse Neutralität zu den grundlegenden Wertentscheidungen des Grundgesetzes gezählt372 und unter anderem ausgeführt wird, die Verfassung sei auf Neutralität bedacht373. Gleichzeitig verweist das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung aber auch darauf, daß der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den 363
BVerfGE 18, 385, 386. BVerfGE 19, 1, 8. 365 BVerfGE 19, 206. 366 BVerfGE 19, 206, 216. 367 BVerfGE 24, 236,; BVerfGE 32, 98, 106; BVerfGE 33, 23, 27 f.; BVerfGE 46, 266, 268; BVerfGE 74, 244, 252, 255; BVerfGE 75, 40, 62; BVerfGE 88, 40, 46. 368 BVerfGE 24, 236, 246; BVerfGE 32, 98, 106; BVerfGE 33, 23, 27 f. 369 so z. B. BVerfGE 99, 100, 126 (St. Salvator Kirche) sowie jüngst BVerfG, 1 BvR 2780/06 = DVBl. 2007, 693 Abs. 35 f. und BVerfG, 2 BvR 1693/04, Abs. 19 = BayVBl. 2006, S. 633, 634. 370 BVerfGE 27, 195, 201. 371 BVerfGE 30, 415, 421. 372 BVerfGE 102, 370, 390. 373 BVerfGE 102, 370, 396. 364
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unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen aus der Religionsfreiheit folge374, so daß diese Entscheidung eher jener Gruppe von Entscheidungen zuzuordnen ist, die die Neutralität nicht aus dem Verfassungsganzen sondern aus bestimmten einzelnen Verfassungsnormen ableiten375. In diesen Entscheidungen führt das Bundesverfassungsgericht jeweils Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 sowie Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1, 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV als normative Verankerung des Grundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates an376. Nicht ganz eindeutig ist in dieser Rechtsprechung allerdings, ob die weltanschaulich-religiöse Neutralität eigentlich schon in Art. 4 Abs. 1 GG allein angelegt ist, oder ob sich die Neutralität erst aus dem Zusammenwirken der Religions- und Bekenntnisfreiheit mit den übrigen zitierten Normen ergibt. Für ersteres scheinen das Kruzifix-Urteil und die Osho-Entscheidung zu sprechen. Im Kruzifix-Urteil wird zunächst nämlich dargelegt, daß der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen aus der Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG folge377. Erst in einem zweiten Schritt wird darauf verwiesen, daß das Neutralitätsgebot auch in den übrigen Normen der angeführten Normkette, eine Grundlage finde. Die Osho-Entscheidung führt aus, daß der Staat „nach Art. 4 Abs. 1, aber auch gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1, 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV“378 zur Neutralität verpflichtet sei. Dadurch wird der Eindruck erweckt, die Neutralität sei schon aus Art. 4 Abs. 1 GG vollständig begründet, die anderen Vorschriften scheinen lediglich als Bestätigung zu dienen. Noch weitergehend hatte das Gericht in der Entscheidung über den Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas den Neutralitätsgrundsatz nur aus der Religionsfreiheit abgeleitet, ohne die Kette der anderen Normen aufzuzählen379. Schon in BVerfGE 19, 1 hatte das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß der „Staat den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen im Interesse der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit [. . .] neutral“ gegenüberstehe380. Andererseits reiht das Bundesverfassungsgericht in der Kopftuch374
BVerfGE 102, 370, 383. Neben der bereits erwähnten Entscheidung BVerfGE 19, 206 (Badische Kirchenbausteuer) sind dies noch BVerfGE 93, 1 (Kruzifix), BVerfGE 105, 279 (Osho) und BVerfGE 108, 282 (Kopftuch). 376 BVerfGE 19, 206, 216; BVErfGE 93, 1, 16 f.; BVerfGE 105, 279, 294; BVerfGE 108, 282, 299. Daß im Kruzifix-Urteil die auf föderalen Ausgleich bedachte Norm des Art. 33 I GG an Stelle von Art. 33 III GG zitiert wurde, dürfte ein Redaktionsversehen darstellen. 377 BVerfGE 93, 1, 16. 378 BVerfGE 105, 279, 294. 379 BVerfGE 102, 370, 383. 375
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Entscheidung zur Herleitung der weltanschaulich-religiösen Neutralität wieder – wie schon in der Entscheidung zur Badischen Kirchenbausteuer – Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG, und Art. 136 Abs. 1, 4, 137 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG aneinander, ohne Art. 4 Abs. 1 GG besonders hervorzuheben. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Rede von der weltanschaulich-religiösen Neutralität seit Jahrzehnten ein gut eingeführter Topos der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist, was auch erklären dürfte, weshalb das Bundesverfassungsgericht den Begriff, obwohl ihn der Text des Grundgesetzes nicht ausdrücklich kennt, häufig gebraucht, ohne ihn explizit aus der Verfassung herzuleiten. Wenn das Bundesverfassungsgericht eine Herleitung für erforderlich hält, führt es die bereits mehrmals zitierte Kette von Normen an. Es summiert zur Begründung der weltanschaulich-religiösen Neutralität also eine freiheitsrechtliche, eine gleichheitsrechtliche und eine institutionelle Komponente: Die freiheitsrechtliche Komponente liegt in der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG zum einen und in der speziellen Ausprägung der Bekenntnisfreiheit des Art. 136 Abs. 4 WRV i. V. m. Art. 140 GG zum anderen. Spezielle Gleichheitsverbürgungen und Diskriminierungsverbote tragen hingegen Art. 3 Abs. 3, 33 Abs. 3 GG sowie Art. 136 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG bei. Die institutionelle Komponente ergibt sich schließlich aus Art. 137 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG. Zwar scheinen einige Urteile darauf hinzudeuten, daß der freiheitsrechtlichen Komponente des Art. 4 Abs. 1 GG bei der Begründung der Neutralität eine besondere Rolle zukommt. Wie die verschiedenen Komponenten jedoch im Einzelnen zusammenspielen, um Grundlage des Neutralitätsgrundsatzes zu sein, führt das Bundesverfassungsgericht an keiner Stelle seiner Rechtsprechung zur Neutralität näher aus. Statt dessen greift das Bundesverfassungsgericht zur Begründung der Neutralität auf zwei weitere Gedanken zurück: Schon in BVerfGE 19, 206 spricht das Bundesverfassungsgericht nämlich davon, das Grundgesetz lege „dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf“381. In der Kruzifix-Entscheidung greift das Bundesverfassungsgericht hingegen einen anderen Gedanken auf und verweist darauf, der Staat könne „die friedliche Koexistenz [der verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen] nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfra380
BVerfGE 19, 1, 8. BVerfGE 19, 206, 216; für F. Holzke, Die „Neutralität“ des Staates in Fragen der Religion und Weltanschauung, NVwZ 2002, S. 903, 905 bleibt unklar, ob die Formel von der „Heimstatt aller Staatsbürger“ Begründung oder Folge der Neutralität sein soll. 381
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gen Neutralität bewahrt“382. Als Zweck der Neutralität wird so die Bewahrung des religiösen Friedens der Gesellschaft verstanden. Beide Gedanken kumulierte das Bundesverfassungsgericht dann im Kopftuch-Urteil383 und jüngst in einer Entscheidung zum Ethik-Unterricht in Berlin aus dem Jahr 2007384. cc) Die inhaltliche Bedeutung der weltanschaulich-religiösen Neutralität Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung, in der es mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität operiert, eine Vielzahl von Aussagen getroffen, worin die Neutralität bestehe, was aus der Neutralität folge, was die Neutralität ge- und verbiete. In der Literatur werden darauf bezugnehmend zur Bestimmung des Begriffs der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates mitunter verschiedene Aussagen der Rechtsprechung schlicht aufzählend aneinander gereiht385. Im Folgenden soll hingegen der Versuch unternommen werden, in systematischer Weise einen Überblick über die Aussagen, die sich der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts zur weltanschaulich-religiösen Neutralität entnehmen lassen, zu geben. Dabei wird sich zeigen, daß sich der Gehalt, den das Bundesverfassungsgericht der weltanschaulich-religiösen Neutralität beimißt, im wesentlichen drei Schichten zuordnen läßt: Weltanschaulich-religiöse Neutralität bedeutet für das Bundesverfassungsgericht auf einer ersten Ebene, daß Staat und Religion in der Wurzel geschieden sind. Gleichzeitig impliziert die weltanschaulich-religiöse Neutralität jedoch auf einer zweiten Ebene nicht Indifferenz gegenüber dem Religiösen, sondern ermöglicht eine grundsätzliche Offenheit des Staates gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen. In dieser Offenheit hat der Staat jedoch den Grundsatz der Gleichbehandlung zu wahren. (1) Scheidung in der Wurzel Zur weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates gehört für das Bundesverfassungsgericht zunächst die grundsätzliche Verschiedenheit von Staat und Religion; Alexander Hollerbach hat hierfür die treffende Formel von 382
BVerfGE 93, 1, 16; ähnlich auch BVerfGE 105, 279, 295. BVerfGE 108, 282, 299 f. 384 BVerfG, 1 BvR 2780/06, DVBl. 2007, 693 Abs.-Nr. 35. 385 So bspw. A. v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Art. 140, Rn. 18, 26; S. Korioth, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 140 Rn. 31 (Stand Februar 2003). 383
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der „Scheidung von Religion und Staat in der Wurzel“386 geprägt. Das Bundesverfassungsgericht formuliert, daß die weltanschaulich-religiöse Neutralität die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen verbiete387. Das Verbot staatskirchlicher Formen impliziert Freiheit und Unabhängigkeit in zwei Stoßrichtungen. Darin liegt nicht nur die Unabhängigkeit des Staates von Religion und religiösen Institutionen begründet, sondern gerade auch die Freiheit von Religion und Kirche vor staatlichen Eingriffen. Denn typisch für die staatskirchlichen Systemen eigene Vermischung von staatlichem und religiösem Bereich ist gerade auch die mangelnde Autonomie des religiösen Bereichs und ihre besondere Kontrolle durch den Staat, wie dies z. B. heute noch im Agieren der türkischen Behörde für religiöse Angelegenheiten deutlich wird. Diese beiden Facetten der Scheidung von Religion und Staat finden sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Unabhängigkeit des Staates Die Unabhängigkeit des Staates findet ihren Ausdruck namentlich darin, daß dem Staat verboten ist, sich mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft zu identifizieren. Während die frühere Rechtsprechung bezugnehmend auf Stimmen in der damaligen Literatur388 die Frage, ob das Grundgesetz ein eigenständiges Prinzip der Nicht-Identifikation kenne, zwar aufwarf, aber bewußt offen ließ389, darf inzwischen als ständige Rechtsprechung gelten, daß sich der Staat aufgrund seiner weltanschaulich-religiösen Neutralität nicht mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung oder einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren darf390. Dem Staat ist es daher verboten, bestimmte Glaubenswahrheiten zu bejahen391, weshalb er auch im Unterricht auf die „festlegende oder indoktrinierende Darstellung einer bestimmten Position zu verzichten hat“392 und keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben darf393. Keine verfas386
A. Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, VVDStRL 26, S. 57, 62. BVerfGE 19, 206, 216; BVerfGE 93, 1, 17; BVerfGE 102, 370, 387; BVErfGE 108, 282, 299. 388 Bspw. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 178 ff. et passim. 389 BVerfGE 35, 366, 375; BVerfGE 41, 29, 53 f.; BVerfGE 52, 223, 237. 390 BVerfGE 30, 415, 422; BVerfGE 93, 1, 17; BVerfGE 105, 279, 294; BVerfGE 108, 282, 300; BVerfG, 2 BvR 1693/04, Abs.-Nr. 10; BVerfG, 1 BvR 2780/06, Abs.-Nr 35. 391 BVerfGE 93, 1, 19. 392 BVerfG, 1 BvR 2780/06, Abs.-Nr 44. 393 BVerfGE 108, 282, 300; BVerfG, 2 BvR 1693/04, Abs.-Nr. 10; BVerfG, 1 BvR 2780/06, Abs.-Nr 35. 387
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sungswidrige Identifizierung liegt dagegen vor, wenn staatliche Behörden und Gerichte im Kirchensteuerrecht, in dem Staat und Kirchen kooperieren, ihren Entscheidungen durch die innerkirchliche Ordnung geprägte Rechtsbegriffe zu Grunde legen394. Insgesamt bedeutet das die staatliche Unabhängigkeit garantierende Verbot der Identifikation nicht, daß dem Staat schlechthin verboten ist, sich mit Fragen, die religiöse oder weltanschauliche Gruppierungen betreffen, zu beschäftigen395. Zur Unabhängigkeit des Staates gehört nach dem Bundesverfassungsgericht schließlich, daß auch solche Begriffe des staatlichen Verfassungsrechts, die Fragen von Religion und Weltanschauung betreffen, nach allgemeinen Gesichtspunkten unabhängig von konfessionellen oder weltanschaulichen Perspektiven zu interpretieren sind396 – insbesondere wenn es darum geht, den Schutzbereich von Art. 4 GG zu bestimmen397. Freiheit von Kirche und Religion Die Scheidung von Staat und Religion bedeutet jedoch nicht nur Unabhängigkeit des Staates, sondern sichert auch die Freiheit von Religion und Kirche gegenüber dem Staat. Aufgrund seiner weltanschaulich-religiösen Neutralität ist dem Staat daher verboten, im genuin religiösen Bereich Regelungen zu treffen398. Dem Staat ist es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes daher ganz konkret verboten, zu bestimmen, „welches die [. . .] Glaubensinhalte der verschiedenen christlichen Bekenntnisse“ sind399. Ebenso ist dem Staat die Einmischung in innerkirchliche Streitigkeiten und Auseinandersetzungen verboten400. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verbietet die weltanschaulich-religiöse Neutralität nicht nur die Regelung genuin religiöser Fragen. Während das Verbot, Glaubenswahrheiten zu bejahen, die Unabhängigkeit des Staates sichert, so wird als Gegenstück der Freiraum des Religiösen auch dadurch garantiert, daß es dem Staat nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verwehrt ist, die religiöse oder weltanschauliche Lehre bzw. den Glauben oder Unglauben seiner Bürger als solche zu bewerten401. Nicht verboten ist dem Staat jedoch, auch das religiös motivierte tatsächliche Ver394
BVerfGE 30, 415, 422. BVerfGE 105, 279, 294. 396 BVerfGE 12, 45, 54; BVerfGE 24, 236, 247 f. 397 BVerfGE 33, 23, 28. 398 BVerfGE 105, 279, 294; BVerfGE 102, 370, 394; BVerfGE 74, 244, 255; BVerfGE 72, 278, 289 ff., 294. 399 BVerfGE 41, 65, 84. 400 BVerfGE 99, 100, 126; BVerfGE 105, 279, 294. 401 BVerfGE 108, 282, 300; BVerfGE 102, 370, 394; BVerfGE 33, 23, 29. 395
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halten einer religiösen oder weltanschaulichen Gruppierung an weltlichen Kriterien zu messen und sich gegebenenfalls kritisch damit auseinanderzusetzen402. Die religiös-weltanschauliche Neutralität verpflichtet den Staat dabei jedoch zur Zurückhaltung403. Deutlich wird der freiheitssichernde Charakter der weltanschaulich-religiösen Neutralität besonders an der Rechtsprechung, in der das Bundesverfassungsgericht den Status der korporierten Religionsgemeinschaften näher bestimmt hat404. Denn die weltanschaulich-religiöse Neutralität schließt aus, daß Religionsgemeinschaften, die den Status öffentlich-rechtlicher Körperschaften erworben haben, einer besonderen Kirchenhoheit oder Staatsaufsicht unterliegen405. Sie sind nicht mit anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften vergleichbar, da sie unabhängig vom Staat sind und ihre Gewalt nicht vom Staat ableiten406. Ihr Selbstbestimmungsrecht erstreckt sich auch auf das Mitgliedschaftsrecht407. In der Entscheidung über den Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas stellt das Bundesverfassungsgericht zusammenfassend fest, daß auch die öffentlich-rechtlich korporierten Religionsgemeinschaften keine Staatsaufgaben wahrnehmen, nicht in die Staatsorganisation eingebunden sind und keiner staatlichen Aufsicht unterliegen. Vielmehr können sie ihre Organisation und ihr Wirken nach den Grundsätzen ihres religiösen Selbstverständnisses gestalten408, so daß der Status als öffentlich-rechtliche Körperschaften letztlich nur ein „Mantelbegriff“ ist, der in Anerkennung ihrer Bedeutung allerdings die Übertragung bestimmter hoheitlicher Befugnisse ermöglicht409. Diese hoheitlichen Befugnisse insbesondere des Kirchensteuerrechts darf der weltanschaulich-religiös neutrale Staat den Kirchen jedoch nur gegenüber ihren eigenen Mitgliedern, nicht aber gegenüber Nicht-Mitgliedern einräumen410. Hierin zeigt sich, daß die freiheitsgewährende Facette der grundsätzlichen Scheidung von Staat und Religion, nicht nur den Kirchen Freiheit gewährt, sondern auch den nicht kirchlich oder religiös gebundenen Bürgern. 402
BVerfGE 105, 279, 294; BVerfGE 102, 370, 394. BVerfGE 105, 279, 295. 404 Vgl. hierzu auch J. Masing, Die Formen der Religionsgesellschaften, in: Classen/Harder/Ohlemacher/Onnasch (Hrsg.), Kirche, Staat und Wirtschaft – Spannungslagen im Ostseeraum, Greifswalder Theologische Forschungen, Bd. 8, Frankfurt a. M. 2004, S. 105 ff. 405 BVerfGE 18, 385, 386 f.; BVerfGE 30, 415, 428. 406 BVerfGE 18, 385, 386 f.; BVerfGE 30, 415, 428; BVerfGE 66, 1, 19 f. 407 BVerfGE 30, 415, 422. 408 Zum Freiheit sichernden Charakter dieser Verbürgung J. Masing, S. 107 ff. 409 BVerfGE 102, 370; zu den verfahrensrechtlichen Konsequenzen der Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts J. Masing, S. 114 f. 410 BVerfGE 30, 415, 421 f.; BVerfGE 19, 206, 216. 403
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(2) Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen Wenn die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates eine Scheidung in der Wurzel zwischen Staat und Religion bedingt, die – wie gezeigt – dem Staat Unabhängigkeit und dem Bereich des Religiösen und Weltanschaulichen Freiheit sichert, so ist diese Neutralität nach der herkömmlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts doch nicht als „eine distanzierende, im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche“411, zu verstehen. Das Sondervotum des Kruzifixurteils formuliert, diesen Gedanken aufgreifend, daß „das Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität nicht als eine Verpflichtung zur Indifferenz oder zum Laizismus verstanden werden“412 darf. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber unlängst ausdrücklich einen gewissen Spielraum eingeräumt hat, die Trennung von Staat und Religion im Einzelnen mehr oder weniger deutlich zu akzentuieren413, so liegt in der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Grundgesetzes doch eine offene und übergreifende Haltung begründet, die der Verwirklichung der Glaubensfreiheit aller Bekenntnisse gleichermaßen Raum läßt. Für das Bundesverfassungsgericht enthält die weltanschaulich-religiöse Neutralität damit neben der grundsätzlichen Scheidung von Staat und Religion auch ein Gebot der Offenheit gegenüber der Vielzahl von weltanschaulich-religiösen Überzeugungen414. Letzteres gebietet, Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und Verwirklichung der Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Bereich zu sichern415. Dieses Gebot der Offenheit findet in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in mehrerlei Hinsicht seine Ausprägung. Ein Beispiel für die der Neutralität innewohnende Offenheit findet sich in BVerfGE 46, 266. In dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht anerkannt, daß es nicht gegen die weltanschauliche Neutralität verstößt, wenn im Rahmen der nach Art. 141 WRV i. V. m. Art. 140 GG garantierten Krankenhausseelsorge die Patienten bei der Aufnahme in ein kommunales Krankenhaus – unter Hinweis auf die Freiwilligkeit ihrer Antwort – nach ihrer Konfession gefragt werden416. Die Offenheit der weltanschaulich-religiösen Neutralität wurde vom Bundesverfassungsgericht insbesondere in seinen Entscheidungen zur Zulässigkeit christlicher Elemente im schulischen Bereich wiederholt aufge411 412 413 414 415 416
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
108, 282, 300; BVerfG, 1 BvR 2780/06, Abs.-Nr. 36. 93, 1, 29. 108, 282, 310 f. 108, 282, 300; BVerfGE, 1 BvR 2780/06, Abs.-Nr. 36. 108, 282, 300; BVerGE 41, 29, 49; BVerfGE 93, 1, 16. 46, 266, 267 f.
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griffen. Danach ist die Neutralität der weltlichen Schule nicht nur durch eine Offenheit gegenüber der Vielfalt von Erziehungszielen und Bildungsinhalten417 gekennzeichnet, sondern insbesondere auch durch ihre „Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen“418. Ohne das Wort Neutralität ausdrücklich zu benutzen, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Schulgebet explizit darauf verwiesen, daß der positiven Bekenntnisfreiheit in der Schule Raum gegeben werden darf.419 Da die Ausschaltung aller weltanschaulich-religiösen Bezüge Spannungen nicht neutralisieren, sondern diejenigen benachteiligen würde, die eine christliche Erziehung wünschen420, sind christliche Bezüge in der Schule nicht schlechthin verboten, sofern sie sich auf die Anerkennung des Christentums als prägendem Kultur- und Bildungsfaktor beschränken421. Nur so kann nämlich nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts garantiert werden, daß aus den zulässigen Einflüssen keine unzulässigen weltanschaulich-religiösen Zwänge werden422. Daneben findet die Offenheit als Teilgehalt der weltanschaulich-religiösen Neutralität in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes noch auf einer grundsätzlicheren Ebene Ausdruck. Denn obgleich wegen der Unabhängigkeit des Staates und des staatlichen Rechts die Rechtsbegriffe des Verfassungsrechts – auch wenn sie Fragen der Religion betreffen – im Grundsatz unabhängig von konfessionellen Perspektiven zu interpretieren sind423, kann die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, daß bei der Feststellung des Schutzbereichs von Art. 4 GG auch das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft zu berücksichtigen sei424, auch als Ausdruck der Offenheit gegenüber der Eigenart von Religion gedeutet werden. Ebenso kann das in der Osho-Entscheidung postulierte Zurückhaltungsgebot425 bei Sektenwarnungen als Ausdruck dieser Offenheit gegenüber dem Religiösen verstandenen werden. Denn wenn aus der weltanschaulich-religiösen Neutralität einerseits zwar das Verbot der Bewertung des Glaubens und seiner Inhalte an sich folgt, andererseits aber erlaubt bleibt, das tatsächliche Verhalten einer religiösen oder weltanschaulichen Gruppierung an weltlichen Kriterien zu messen, dann versucht das Zurückhaltungsgebot zu garantieren, daß auch hier die Eigenart des Religiösen Berücksichtigung finden kann. 417 418 419 420 421 422 423 424 425
BVerfGE 88, 40, 46 f. BVerfGE 41, 29, 49. BVerfGE 52, 223, 249. BVerfGE 41, 29, 50. BVErfGE 41, 65, 78; BVerfGE 93, 1, 19; BVerfGE 108, 282, 300 f. BVerfGE 108, 282, 302. BVerfGE 12, 45, 54; BVerfGE 24, 236, 247 f.; BVerfGE 33, 23, 28. BVErfGE 24, 236, 248. BVerfGE 105, 279, 295.
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(3) Gleichbehandlung Schließlich umfaßt der Neutralitätsbegriff, wie er sich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entnehmen läßt, noch ein drittes Element: Die Offenheit gegenüber dem Religiösen darf nicht zu einer einseitigen Orientierung an den Positionen eines bestimmten Glaubens werden426. Wo der Staat die Glaubensfreiheit fördert, muß dies alle Bekenntnisse in gleicher Weise betreffen427. Die gleichheitsrechtlichen Vorschriften der normativen Verankerung der Neutralität428 finden somit darin ihren Ausdruck, daß Neutralität auch Gleichbehandlung bedeutet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts untersagt die weltanschaulich-religiöse Neutralität einerseits die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse429. Seit dem Kruzifixurteil hat das Bundesverfassungsgericht die Formel vom Privilegierungsverbot um ein ausdrückliches Verbot negativer Privilegien ergänzt, in dem es formuliert, daß „die Pflicht zur weltanschaulich-religiöser Neutralität [. . .] die Ausgrenzung Andersgläubiger“430 untersagt, womit wohl gemeint sein dürfte, daß auch dort, wo der Staat sich als Ausfluß seiner Neutralität dem Religiösen in seinen vielfältigen Ausprägungen öffnet und Raum gibt, dies nicht zu einer Ausgrenzung derjenigen führen darf, die kollektiv oder individuell den Raum, den der Staat dem Religiösen öffnet, nicht nutzen wollen. Positiv gewendet verlangt die weltanschaulich-religiöse Neutralität, daß der Staat die verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften am Gleichheitssatz orientiert zu behandeln hat431. Auch wenn unbestritten sein dürfte, daß nach dem Gleichheitssatz Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist, so liegt darin noch keine Antwort auf die Frage, was gleich und was ungleich ist. Es stellt sich die Frage nach den zulässigen Differenzierungskriterien. In einer frühen Entscheidung warnte das Bundesverfassungsgericht vor einer schematischen Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Konsequenterweise hielt es daher eine Differenzierung der Religionsgesellschaften nach ihrer Größe nicht a priori für ausgeschlossen, wenn auch im konkreten Fall für unzulässig432. Ebenso verwies das Gericht in seinem Urteil zur Privatschulfinanzierung im 75. Band auf die „besondere Stellung und Bedeutung der Reli426
BVerfG, 1 BvR 2780/06, Abs.-Nr. 37. BVerGE 108, 282, 300. 428 Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG. 429 BVerfGE 19, 206, 216; BVerfGE 33, 23, 29; BVerfGE 93, 1, 17; BVerfGE 105, 279, 294; BVerfGE 108, 272, 299; BVerfG; 2 BvR 1693/04, Abs.-Nr. 19. 430 BVerfG, 2 BvR 1693/04, Abs.-Nr. 19; BVerfGE 108, 282, 299; BVerfGE 105, 279, 295; BVerfGE 93, 1, 17. 431 BVerfGE 108, 282, 299; BVerfGE 93, 1, 17; BVerfGE 19, 1, 8. 432 BVerfGE 19, 1, 8, 10 f. 427
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gionsgesellschaften“433, die bis zu einem gewissen Grad Unterschiede in der Höhe der Förderung von Bekenntnisschulen im Vergleich zu Weltanschauungsschulen und anderen Privatschulen rechtfertigen könne. Demgegenüber ging das Bundesverfassungsgericht bereits in der „Unterlassene Hilfeleistung“-Entscheidung und später im Kruzifixurteil davon aus, daß zahlenmäßige Stärke und soziale Relevanz einer Religionsgemeinschaft keine geeigneten Kriterien für die Differenzierung zwischen verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sind434. Die Rechtsprechung weist in dieser Frage keine völlig eindeutige Tendenz auf, zumal das Bundesverfassungsgericht die Frage in der „St. Salvator“-Entscheidung offen gelassen hat435. Festzuhalten ist jedoch, daß das Bundesverfassungsgericht auch die gleichheitsrechtliche Komponente der Neutralität zur Bestimmung der Reichweite von Art. 4 GG heranzieht, denn in der „Unterlassene Hilfeleistung“-Entscheidung hält es die Differenzierung nach der zahlenmäßigen Stärke oder sozialen Relevanz gerade auch bei der Bestimmung der personellen Reichweite der Glaubensfreiheit für unzulässig436. dd) Die Argumentation mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Eine Untersuchung der weltanschaulich-religiösen Neutralität in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf sich nicht darauf beschränken, sich nur mit der Herleitung und den verschiedenen Bedeutungsgehalten, die die Rechtsprechung diesem Grundsatz zuweist, zu beschäftigten. Sie muß auch in Betracht ziehen, in welcher Weise mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität argumentiert wird, was natürlich nicht völlig von den anderen beiden Gesichtspunkten zu trennen ist. Handelt es sich bei der weltanschaulich-religiösen Neutralität um ein objektives Verfassungsprinzip, wie in der Literatur vertreten wird437, so wäre es naheliegend zu vermuten, daß dieses objektive Verfassungsprinzip im wesentlichen als Maßstab fungieren sollte, um Normen des einfachen Rechts daran zu prüfen. Eine genauere Betrachtung der Entscheidungen 433
BVerfGE 75, 40, 75. BVerfGE 93, 1, 17; BVerfGE 32, 98, 106; zustimmend U. Sacksofsky, S. 24; a. A. wohl J. Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl., München 2009, Art. 4 Rn. 6; J. Masing, S. 121 m. w. N. 435 BVerfGE 99, 100, 127. 436 BVerfGE 32, 98, 106. 437 Bspw. M. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl., Tübingen 2004, Art. 4 Rn. 145 ff.; ebenso wohl A. v. Campenhausen, Art. 140, Rn. 16 ff. 434
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des Bundesverfassungsgerichts, die mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates argumentieren, kommt jedoch zu dem Ergebnis, daß die weltanschaulich-religiöse Neutralität nur in einer Minderzahl von Fällen unmittelbar als Maßstab der verfassungsgerichtlichen Prüfung herangezogen wurde. In einigen Entscheidungen diente die weltanschaulich-religiöse Neutralität dem Bundesverfassungsgericht als Schranken-Schranke im Rahmen einer Grundrechtsprüfung und in wieder anderen als Mittel zur Auslegung und zur Bestimmung des Inhalts von anderen Sätzen des Verfassungsrechts, insbesondere zur Bestimmung des Schutzbereichs von Grundrechten. (1) Weltanschaulich-religiöse Neutralität als Prüfungsmaßstab Untersucht man die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts danach, inwieweit das Gericht die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates zum Maßstab seiner verfassungsrechtlichen Prüfung gemacht hat, zeigt sich, daß sich diese Entscheidungen im wesentlichen in zwei Gruppen einteilen lassen. Weltanschaulich-religiöse Neutralität als unmittelbarer Prüfungsmaßstab In einigen wenigen Entscheidungen erfolgt eine Prüfung anhand der Fragestellung, ob der zu überprüfende Akt öffentlicher Gewalt mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates vereinbar ist. Zu nennen ist hier zunächst die St. Salvator-Entscheidung438. Darin wurde zunächst festgestellt, daß der staatliche Widerruf der Gebrauchsüberlassung einer Münchener Kirche an eine altkalendarische griechischorthodoxe Gemeinde zum Zwecke der Übertragung des Nutzungsrechts an eine andere neukalendarische griechisch-orthodoxe Gemeinde nicht gegen die Kirchgutgarantie des Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 2 WRV verstoße439. Darin liegt nach Ansicht des Gerichts auch keine die weltanschaulich-religiöse Neutralität verletzende Einmischung in innerkirchliche Streitigkeiten440. Etwas unklar bleibt in der Entscheidung allerdings, ob die weltanschaulich-religiöse Neutralität nur Teil der Kirchgutgarantie sein soll, oder ob es sich um einen eigenständigen weiteren Punkt der verfassungsrechtlichen Nachprüfung handelt. An anderer Stelle in der Entschei438 439 440
BVErfGE 99, 100. BVerfGE 99, 100, 123. BVerfGE 99, 100, 126.
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dung verzichtet das Bundesverfassungsgericht auf die Überprüfung bestimmter Begründungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nur deshalb, weil es sich nicht um tragende Gründe der Entscheidung des obersten bayerischen Verwaltungsgerichts handelt, zieht dabei jedoch ausdrücklich die weltanschaulich-religiöse Neutralität als Prüfungsmaßstab in Betracht. In der Entscheidung zum Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas441 diente die weltanschaulich-religiöse Neutralität nicht unmittelbar als Prüfungsmaßstab für das einfache Recht. Doch versteht die Entscheidung die weltanschaulich-religiöse Neutralität als einen der objektiven Sätze des Verfassungsrechts, deren Achtung ungeschriebene Anforderung an Religionsgemeinschaften sein soll, die gem. Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts zu erlangen streben442. Diese Art der Verwendung steht der Heranziehung als Prüfungsmaßstab strukturell näher als einem Gebrauch als Mittel zur Auslegung anderer Verfassungsnormen oder als Schranken-Schranke, weshalb diese Entscheidung dieser Gruppe zugeordnet werden soll. Als Prüfungsmaßstab zog das Bundesverfassungsgericht die weltanschaulich-religiöse Neutralität auch in der Osho-Entscheidung443 heran. Allerdings verstand das Gericht in dieser Entscheidung die weltanschaulich-religiöse Neutralität nicht als Satz des objektiven Verfassungsrechts, sondern als einen Teilgehalt des Grundrechts aus Art. 4 GG. Bestimmte Sektenwarnungen qualifizierte das Gericht als eine Beeinträchtigung des „durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierte[n] Recht[s . . .] auf eine in religiös-weltanschaulicher Hinsicht neutral [. . .] erfolgende Behandlung“444. Diese Fälle sind soweit ersichtlich die einzigen Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht die weltanschaulich-religiöse Neutralität unmittelbar als Meßlatte der verfassungsgerichtlichen Prüfung herangezogen hat. Gerade bei der Osho-Entscheidung ist aber festzuhalten, daß die weltanschaulich-religiöse Neutralität in dieser Entscheidung nicht als Satz des objektiven Verfassungsrechts Prüfungsmaßstab ist, sondern als spezielle Ausprägung des Grundrechts des Art. 4 GG, verstanden wird. Die verfassungsrechtliche Prüfung folgt in dieser Entscheidung damit methodisch dem Schema der subjektiv-rechtlich orientierten Grundrechtsprüfung.
441 442 443 444
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
102, 102, 105, 105,
370. 370, 394. 279. 279, 299.
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Weltanschaulich-religiöse Neutralität als Schranken-Schranken Einen anderen Ansatz verfolgte das Bundesverfassungsgericht bereits in der Entscheidung zur badischen Kirchenbausteuer445. Dort wurde festgestellt, daß durch die Heranziehung juristischer Personen zur badischen Kirchenbausteuer gegen Art. 2 Abs. 1 GG verstoßen wurde. Die der Kirchenbausteuer zu Grunde liegende Vorschrift § 13 OKiStG konnte den Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit deshalb nicht rechtfertigen, weil sie wegen ihres Verstoßes gegen den Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität nicht zur „verfassungsmäßigen Ordnung“ i. S. d. § 2 Abs. 1 GG zu zählen war. Begründet wurde der Verstoß durch die in Art. 13 OKiStG vorgesehene Übertragung von Hoheitsrechten über Nichtmitglieder an die Kirchen446. Das Bundesverfassungsgericht verwendete die weltanschaulichreligiöse Neutralität des Staates in dieser Entscheidung damit als SchrankenSchranke, die der Möglichkeit der Grundrechtsbeschränkung, die der Gesetzesvorbehalt der „verfassungsmäßigen Ordnung“ des Art. 2 Abs. 1 GG eröffnet, ihrerseits Grenzen setzt. Diese Grundsätze bestätige das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 30, 415, 421 f., ohne allerdings im konkret zu entscheidenden Fall einen Verfassungsverstoß feststellen zu können. In ähnlicher Weise wie in BVerfGE 19, 206 argumentierte das Bundesverfassungsgericht in den beiden unlängst ergangenen Entscheidungen, in denen es um die Verstöße gegen die Schulpflicht aus religiösen Gründen447 und um den Ethikunterricht in Berlin448 ging. In beiden Entscheidungen hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Verhältnis zwischen dem elterlichen Erziehungsrecht in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht gem. Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Abs. 6 Abs. 2 S. 1 GG und dem staatlichen Erziehungsauftrag des Art. 7 Abs. 1 GG auseinanderzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht ging in seinen Entscheidungen davon aus, daß der staatliche Erziehungsauftrag zwar als verfassungsimmanente Schranke eine Beschränkung des elterlichen Erziehungsrechts rechtfertigen könne. Diese Einschränkungen seien jedoch ihrerseits wiederum an der Schranken-Schranke der weltanschaulichreligiösen Neutralität des Staates zu messen449. In beiden Fällen konnte das Bundesverfassungsgericht keine Verletzung dieser Schranken-Schranke erkennen, weshalb es die Eingriffe in das elterliche Erziehungsrecht aufgrund des staatlichen Erziehungsauftrags als gerechtfertigt ansah450. 445 446 447 448 449 450
BVerfGE 19, 206. BVerfGE 19, 206, 216. BVerfG, 2 BvR 1693/04. BVerfG, 1 BvR 2780/06. BVerfG, 2 BvR 1693/04 Rn. 10; BVerfG, 1 BvR 2780/06 Rn. 35. BVerfG, 2 BvR 1693/04 Rn. 19 ff.; BVerfG, 1 BvR 2780/06 Rn. 44.
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Auch im Kopftuch-Urteil451 finden sich Passagen, die dafür sprechen, dieses Urteil der Gruppe von Entscheidungen, in denen die weltanschaulich-religiöse Neutralität als Schranken-Schranke verstanden wird, zuzurechnen. Das Bundesverfassungsgericht war in dieser Entscheidung davon ausgegangen, daß der Gesetzgeber bei der Bestimmung der Eignungsvoraussetzungen für den Zugang zum öffentlichen Dienst gem. Art. 33 Abs. 2 GG zwar Gestaltungsfreiheit besitze. Sofern aber in religiös motiviertem Verhalten ein Eignungsmangel erkannt werde, müsse sich diese Festlegung des Eignungsmangels vor Art. 4 Abs. 1 GG rechtfertigen, da der Bewerber vor die Wahl gestellt werde, den Geboten seiner Religion zu folgen oder ein öffentliches Amt zu übernehmen. Diese Einschränkung bedürfe einer gesetzlichen Grundlage und könne sich nur aus verfassungsimmanenten Schranken rechtfertigen, namentlich der negativen Religionsfreiheit der Schüler, dem Elternrecht oder dem staatlichen Erziehungsauftrag des Art. 7 Abs. 1 GG452. Letzterer sei „unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulichreligiöser Neutralität zu erfüllen“453. Einige Seiten weiter spricht das Gericht vom „in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Erziehungsauftrag“454. Diese Formulierungen des Gerichts scheinen anzudeuten, daß das Gericht das Verhältnis von weltanschaulich-religiöser Neutralität und staatlichem Erziehungsauftrag so versteht, daß die Neutralität der Ausgestaltung des Erziehungsauftrags einen Rahmen oder eine Grenze vorgibt. Dies würde im wesentlichen einem Verständnis der weltanschaulich-religiösen Neutralität als Schranken-Schranke des staatlichen Erziehungsauftrags ähnlich wie in den beiden neueren Fällen zur Schulpflicht und zum Ethikunterricht in Berlin entsprechen. Ob dieses Verständnis im Fall des Kopftuchs der Lehrerin wirklich tragfähig ist, mußte das Gericht in BVerfGE 108, 282 nicht zu Ende deklinieren, weil es bereits an einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage für die Einschränkung der Religionsfreiheit der Beschwerdeführerin fehlte455. Wie im übrigen noch zu zeigen sein wird, folgt auch der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts dieser Richtung. Festzuhalten bleibt so eine Tendenz der jüngeren Rechtsprechung, die weltanschaulich-religiöse Neutralität zum Maßstab der verfassungsgerichtlichen Prüfung zu machen. In wenigen Entscheidungen, z. B. der St. Salvator-Entscheidung, wird unmittelbar danach gefragt, ob ein Akt öffentlicher Gewalt mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität vereinbar ist. In einigen anderen Entscheidungen wird versucht, die weltanschaulich-religiöse 451 452 453 454 455
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
108, 108, 108, 108, 108,
282. 282, 282, 282, 282,
295 ff. 299. 303. 303 ff.
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Neutralität als Schranken-Schranke in das Schema der Grundrechtsprüfung einzupassen. Die Entscheidung zum Kreuz im Gerichtssaal456 ist daher als Ausnahme zu werten. In ihr war das Bundesverfassungsgericht davon ausgegangen, daß „Umfang und Tragweite einer solchen Prüfung“, die das Kreuz im Gerichtssaal am Maßstab der Neutralität messen würde, „in keinem vertretbaren Verhältnis zu der Bedeutung des hier zu entscheidenden Falles“457 stünde. Nach einer kurzen faktischen Feststellung, daß das Kreuz im Gerichtssaal in der Regel nicht als „unzumutbar empfunden“458 werde, wird dann jedoch eine Verletzung von Art. 4 GG im konkreten Fall des Klägers, eines jüdischen Rechtsanwalts, bejaht459. Anstatt die auch vom Kläger aufgeworfene Frage nach der Vereinbarkeit des Kruzifixes mit dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität zu beantworten, zog es das Bundesverfassungsgericht vor, diese Frage offen zu lassen und eine Verletzung von Art. 4 Abs. 1 GG mit dem Argument zu bejahen, die Kläger hätten „eine unzumutbare innere Belastung“ in nachvollziehbarer Weise dargelegt460. Dies fügt sich allerdings insofern stimmig in den Rahmen der übrigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates ein, als in den Fällen, in denen das Gericht mit der weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates argumentiert, eine klare Präferenz des Gerichts festzustellen ist, zunächst ein konkretes Grundrecht, meist Art. 4 GG zum Maßstab seiner verfassungsrechtlichen Prüfung zu machen461 und die weltanschaulich-religiöse Neutralität dann im Rahmen der Grundrechtsprüfung als Schranken-Schranke der Grundrechtsschranken zu verwenden. Deutliche Zurückhaltung zeigt sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch dabei, sich die schlichte Frage nach Vereinbarkeit eines Aktes der öffentlichen Gewalt mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität zu stellen. (2) Die weltanschaulich-religiöse Neutralität als Mittel zur Auslegung und Bestimmung des Inhalts verfassungsrechtlicher Normen Die Reihe der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates argumentiert 456
BVerfGE 35, 366. BVerfGE 35, 366, 375. 458 BVerfGE 35, 366, 375. 459 BVerfGE 35, 366, 376. 460 BVerfGE 35, 366, 376. 461 BVerfGE 19, 1; BVerfGE 24, 236; BVerfGE 27, 195; BVerfGE 30, 415; BVerfGE 32, 98; BVerfGE 33, 23; BVerfGE 35, 366; BVerfGE 41, 29; BVerfGE 41, 65; BVerfGE 41, 88; BVerfGE 46, 266; BVerfGE 52, 223; BVerfGE 75, 40; BVerfGE 88, 40; BVerfGE 93, 1; BVerfGE 108, 282. 457
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wird, erschöpft sich jedoch nicht in denjenigen, in denen die Neutralität selten unmittelbar oder häufiger als Schranken-Schranke als Prüfungsmaßstab fungierte. In einigen anderen Entscheidungen war die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates, ohne selbst Prüfungsmaßstab zu sein, gleichwohl von Bedeutung für die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, indem das Gericht die Neutralität zur Auslegung anderer Verfassungsbestimmungen heranzog. Methodisch gesprochen diente die weltanschaulichreligiöse Neutralität in diesen Entscheidungen als hermeneutisches Mittel. Dies betrifft zu allererst die Auslegung von Art. 4 GG. In der Lumpensammler-Entscheidung folgerte das Bundesverfassungsgericht aus dem Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität zum einen, daß sich der Schutzbereich von Art. 4 GG nicht nur auf die christlichen Kirchen sondern auch auf andere Religionsgemeinschaften erstreckt462, und zum anderen, daß verfassungsrechtliche Begriffe nach allgemein gültigen, nicht konfessionell gebundenen Gesichtspunkten zu interpretieren463 sind, was allerdings im gleichen Atemzug durch die umstrittene Selbstverständnisrechtsprechung der selben Entscheidung ein Stück weit relativiert wurde. Daß der Schutzbereich der Religionsfreiheit nicht nur die christlichen Kirchen, sondern auch andere religiöse Gemeinschaften umfaßt – und zwar unabhängig von deren zahlenmäßiger Stärke und sozialer Relevanz – wurde vom Bundesverfassungsgericht einige Zeit später unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die weltanschaulich-religiöse Neutralität bestätigt464. Auch im Bereich des Art. 3 GG hat das Bundesverfassungsgericht aus der weltanschaulich-religiösen Neutralität schon früh gefolgert, daß es zwar nicht um eine schematische Gleichbehandlung gehe, daß Ungleichbehandlungen aber nur an tatsächlichen Verschiedenheiten anknüpfen dürften465. Ebenso hat das Bundesverfassungsgericht zur Bestimmung der Bedeutung des in Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV verankerten Status bestimmter Religionsgesellschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts wiederholt die weltanschaulich-religiöse Neutralität herangezogen. Es ist gerade die Neutralität, aus der das Bundesverfassungsgericht folgert, daß dieser Status nicht mit dem anderer öffentlich-rechtlicher Körperschaften vergleichbar ist, sondern daß es sich vielmehr um eine Anerkennung des öffentlichen Wirkens, aber nicht um eine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts in Form staatlicher Kirchenhoheit oder gesteigerter Staatsauf462 BVerfGE 24, 236, 246; der Sache nach, allerdings ohne ausdrückliche Erwähnung des Grundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität, schon BVerfGE 12, 45, 54. 463 BVerfGE 24, 236, 247 f. 464 BVerfGE 32, 98, 106; BVerfGE 33, 23, 28. 465 BVerfGE 19, 1, 8.
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sicht handelt466. Darüber hinaus wirkte in der Entscheidung zum Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas die weltanschaulich-religiöse Neutralität auf die Auslegung der Voraussetzungen für die Verleihung des Körperschaftsstatus ein. Das Bundesverfassungsgericht leitete aus der Neutralität ab, daß bei der Subsumption unter die ungeschriebenen Voraussetzungen für die Verleihung nur auf das tatsächliche Verhalten, nicht aber auf Glaubensinhalte als solche abgestellt werden dürfe. Die weltanschaulich-religiöse Neutralität wirkte daher in begrenzender Weise auf die Auslegung der Voraussetzungen des Körperschaftsstatus ein und begrenzt die Gesichtspunkte, an denen das staatliche Recht für seine Bewertung religiöser Sachverhalte anknüpfen kann467. In ähnlicher Weise stellte sich auch die Einwirkung der weltanschaulich-religiösen Neutralität auf die Auslegung des in Art. 7 Abs. 3 GG verwendeten Begriffs „Religionsunterricht“ in der Entscheidung zur Teilnahme konfessionsfremder Schüler am Religionsunterricht dar468. Als Auslegungshilfe dient die weltanschaulich-religiöse Neutralität dem Bundesverfassungsgericht schließlich in zwei Entscheidungen zur Privatschulfreiheit, in denen das Gericht ausführt, Art. 7 Abs. 4 GG sei unter anderem auch im „Hinblick469“ bzw. im „Blick auf das Bekenntnis des Grundgesetzes [. . .] zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates [. . .] zu würdigen470“. Der Verwendung der weltanschaulich-religiösen Neutralität als hermeneutisches Mittel in einem weiten Sinne lassen sich auch jene Entscheidungen zuordnen, in denen ihre eher beiläufige471 Erwähnung der Argumentation einen gewissen Unterton verleiht. Wenngleich im Kopftuch-Urteil einige Stellen wie gezeigt auf ein Verständnis der Neutralität als Schranken-Schranke hindeuten, so finden sich in der gleichen Entscheidung auch Passagen, in denen die weltanschaulich-religiöse Neutralität herangezogen wird, um den Inhalt des staatlichen Erziehungsauftrags zu konturieren472. Deutlich wird somit, daß der weltanschaulich-religiösen Neutralität nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere im Be466 BVerfGE 18, 385, 386 f.; BVerfGE 66, 1, 19 f.; BVerfGE 102, 370, 387 f.; der Sache nach ebenso BVerfGE 19, 1, 5; BVerfGE 30, 415; 428; BVerfGE 42, 312, 321 f. 467 BVerfGE 102, 370, 394. 468 BVerfGE 74, 244, 255. 469 BVerfGE 75, 40, 62. 470 BVerfGE 88, 40, 46. 471 BVerfGE 10, 59, 85; BVerfGE 27, 195, 201; BVerfGE 41, 29, 50; BVerfGE 46, 266, 268; BVerfGE 93, 1, 16 f. 472 BVerfGE 108, 282, 299 ff.
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reich der Religionsfreiheit und des öffentlich-rechtlichen Status der verfaßten Religionsgemeinschaften die Funktion einer Leitlinie für das Verständnis der konkreten Bestimmungen der Verfassung zukommt. Dort wo mehrere Verständnisse einer Norm denkbar sind, gibt sie eine bestimmte Richtung vor. Zusammenfassend erfolgt die Argumentation mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts damit auf zwei verschiedenen Ebenen: Teils wird die Neutralität als Prüfungsmaßstab des objektiven bzw. mitunter des subjektiven Rechts herangezogen, teils dient die Neutralität als hermeneutisches Mittel zur Auslegung und Inhaltsbestimmung anderer Sätze des Verfassungsrechts, so daß man mit gewissem Recht von einer „Doppelnatur“ der weltanschaulich-religiösen Neutralität sprechen kann, wobei sich feststellen läßt, daß gerade in den Entscheidungen der jüngeren Zeit die weltanschaulich-religiöse Neutralität vermehrt als Prüfungsmaßstab oder Schranken-Schranke herangezogen wird. c) Weltanschaulich-religiöse Neutralität und laicità des Staates im Vergleich aa) Gemeinsame Wurzeln Beim Vergleich der Herleitungen und Begründungen, die Bundesverfassungsgericht und italienischer Verfassungsgerichtshof für die Neutralität bzw. laicità liefern, zeigt sich, daß einige Übereinstimmungen bestehen. Weder Neutralität noch laicità finden sich im Text der jeweiligen Verfassungsurkunden ausdrücklich erwähnt. Vielmehr handelt es sich beide Male um topoi, die ihre Existenz einem „schöpferischen Akt“ des jeweiligen Verfassungsgerichts verdanken. Beide werden aus einer Zusammenschau einer ganzen Reihe von Verfassungsnormen abgeleitet, wobei jeweils freiheitsrechtliche, gleichheitsrechtliche und Normen eher institutioneller Natur summiert werden. Freiheitsrechtlicher Natur sind Art. 4 Abs. 1 GG, Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 4 GG einerseits und Art. 2, 19, 20 it. Verf. andererseits. Die gleichheitsrechtliche Komponente steuern Art. 3 Abs. 3, 33 Abs. 3 GG, Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 WRV und Art. 3 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1 it. Verf. bei. Und Art. 7, 8 Abs. 2, 3 it. Verf. sind ebenso Normen institutioneller Natur wie Art. 137 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG. Wie diese einzelnen Normen jedoch im Einzelnen zusammenspielen, um als positive Verankerung der Neutralität bzw. laicità angesehen werden zu können, führen weder Bundesverfassungsgericht noch italienischer Verfassungsgerichtshof aus. In der Geschichte der Rechtsprechung zur laicità ist genauso wie in der Rechtsprechung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität zu beobachten, daß einhergehend mit der Entwicklung einer ständigen
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Rechtsprechung in diesem Bereich die Ableitung des jeweiligen Grundsatzes aus konkreten Verfassungsnormen in den Hintergrund trat – zugunsten eines Verweises auf die vorhergehenden Entscheidungen und der Bezugnahme auf Wendungen, wonach der jeweilige Grundsatz sich „nach dem Grundgesetz“, „dem staatskirchenrechtlichen System“, „aus der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ oder „den Prinzipien der republikanischen Verfassung“ ergebe oder „Kennzeichen der Staatsform“ sei. Wichtig ist hier jedoch, auf einen bedeutsamen Unterschied hinzuweisen: In der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Neutralität werden die Normen, aus denen das Bundesverfassungsgericht die weltanschauliche Neutralität herleitet, wieder zitiert. Außerdem wurde dem Gedanken der „Heimstatt aller Bürger“ jener der „Sicherung des religiösen Friedens“ als Aufgabe des Staates an die Seite gestellt. Dies könnte dahingehend interpretiert werden, daß das Konzept der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates angesichts der politisch überaus delikaten Fragen namentlich des Kruzifix- und des Kopftuch-Urteils einer erneuten Vergewisserung bedurfte. Schließlich findet die in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestehende Tendenz, die Bedeutung der individuellen Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG für die Herleitung des Gebots der weltanschaulich-religiösen Neutralität besonders hervorzuheben, in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs keine unmittelbare Entsprechung. Hinzuweisen ist jedoch an dieser Stelle schon auf die sowohl beim Bundesverfassungsgericht wie beim italienischen Verfassungsgerichtshof bestehende Unsicherheit hinsichtlich des im konkreten Fall heranzuziehenden Prüfungsmaßstab473. Während nämlich das Bundesverfassungsgericht trotz des Verweises auf die weltanschaulich-religiöse Neutralität oft eine am Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 GG orientierte Prüfung durchführt, tendiert der italienische Verfassungsgerichtshof dazu, trotz des Verweises auf die laicità den konkreten Fall an den Gleichheitsrechten von Art. 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 it. Verf. zu prüfen. Diese stärkere Betonung der Gleichheitsrechte scheint in gewissem Maße auch schon in der Herleitung der laicità angelegt zu sein, wo der italienische Verfassungsgerichtshof gerade auch Art. 3 it. Verf. hervorgehoben hat. bb) Ähnliche Inhalte Auch auf der Ebene der Inhalte, die die Verfassungsgerichte der beiden Länder in den Konzepten der weltanschaulich-religiösen Neutralität und der 473
Siehe unten S. 119 ff.
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laicità verankert sehen, lassen sich sowohl auf struktureller Ebene wie im Detail bemerkenswerte Ähnlichkeiten feststellen. Wie gezeigt liegt der deutschen Neutralität ebenso wie italienischen laicità die Idee einer institutionellen Trennung von Staat und Religion zu Grunde, die sich in den beiden komplementären Facetten der Unabhängigkeit des Staates und der Autonomie der Religion verwirklicht. Aus diesem grundsätzlichen Verschiedensein von Staat und religiöser Institution folgt nach der Rechtsprechung der beiden Verfassungsgerichte jedoch nicht eine indifferente oder gar ablehnende Haltung gegenüber den religiösen Anliegen der Bürger, sondern eine offene Haltung, die Raum zur Verwirklichung religiöser Anliegen auch in der öffentlichen Sphäre einräumt und damit – um mit dem italienischen Verfassungsgerichtshof zu sprechen – dem Schutz der Religionsfreiheit474 dient. Damit ist zugleich die zweite Ebene von weltanschaulich-religiöser Neutralität und laicità umschrieben. Bei aller Offenheit des Staates gegenüber dem Religiösen verlangen jedoch sowohl Neutralität wie laicità, daß sich der Staat im Umgang mit den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen am Gleichbehandlungsgrundsatz zu orientieren hat; dies ist die dritte Ebene inhaltlicher Bedeutung der beiden Prinzipien. Ein wichtiger Unterschied liegt jedoch darin, daß die Bedeutungsgehalte der weltanschaulich-religiösen Neutralität sich nicht nur nach diesen drei verschiedenen Ebenen differenzieren lassen, sondern ihr auch eine Funktion als Mittel zur Auslegung konkreter positiver Verfassungsnormen zukommt. Der laicità fehlt in der Form, die ihr der italienische Verfassungsgerichtshof gegeben hat, hingegen gerade diese Doppelfunktion, denn sie wird nicht als Auslegungshilfe für konkrete positive Verfassungsnormen herangezogen. Ihre Bedeutungsgehalte verbleiben ausschließlich in der Dimension des objektiv-rechtlichen Gebotes. Der Vergleich der Inhalte, die die Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und italienischem Verfassungsgerichtshof in Neutralität und laicità verankert sieht, soll jedoch nicht nur auf diese übergreifenden Aspekte beschränkt bleiben. Vielmehr sollen weltanschaulich-religiöse Neutralität und laicità im folgenden auf jeder der Ebenen des Dreiklangs von Trennung, Offenheit und Gleichbehandlung einander gegenübergestellt werden.
474 Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. cost. 1989, S. 890, 899; Corte Costituzionale Nr. 259/1990, Giur. cost. 1990, S. 1542, 1548; Corte Costituzionale Nr. 195/1993, Giur. cost. 1993, S. 1324, 1332; Corte Costituzionale Nr. 149/1995, Giur. cost. 1993, S. 1241, 1248; ähnlich auch Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2922, 2925.
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Trennung Auf der ersten Ebene wohnt sowohl der weltanschaulich-religiösen Neutralität wie auch der laicità die grundsätzliche Verschiedenheit von Staat und Religion bzw. religiöser Institution inne. Wenn der italienische Verfassungsgerichtshof explizit von der Verschiedenheit weltlicher und geistlicher Ordnung spricht, die das Prinzip der laicità des Staates kennzeichne, kommt darin die gleiche Idee zum Ausdruck, die in Alexander Hollerbachs Formel von der „Scheidung in der Wurzel“475 zwischen Staat und Religion steckt, mit der sich die erste Ebene der weltanschaulich-religiösen Neutralität trefflich benennen läßt. Diese erste Ebene von Neutralität und laicità hat nach der deutschen wie der italienischen Rechtsprechung zwei komplementäre Facetten, sie garantiert dem Staat Unabhängigkeit vom Religiösen und dem Religiösen Freiheit und Autonomie. Bundesverfassungsgericht wie italienischer Verfassungsgerichtshof verstehen das Verbot staatskirchlicher Rechtsformen bzw. die Überwindung vergangener staatskirchlicher Formen in der Neutralität bzw. laicità des Staates verankert. Für beide Gerichte folgt aus dem Gebot der staatlichen Neutralität bzw. laicità andererseits, daß dem Staat ein Urteil über eine religiöse oder weltanschauliche Lehre als solche verboten ist. Weil Religion zu einer Dimension gehört, die dem Staat nicht zueigen476 ist, ist es diesem Staat verboten, im genuin religiösen Bereich Regelungen zu treffen477. Bundesverfassungsgericht und italienischer Verfassungsgerichtshof folgen hier offensichtlich dem gleichen Gedanken, auch wenn die Fallkonstellationen, in denen dieser Gedanke sich zu bewähren hatte, unterschiedliche sind: Das Bundesverfassungsgericht zieht ihn heran, um zu begründen, warum der Staat nicht bestimmen darf, was die „grundsätzlichen und übereinstimmenden Glaubensinhalte der verschiedenen christlichen Bekenntnisse“478 sind, die die christliche Gemeinschaftsschule prägen. Der italienische Verfassungsgerichtshof hingegen hat auf diesen Gedanken zurückgegriffen, als es um die Entscheidung ging, ob weltliche Gerichte die Nichtigkeit der sakramentalen kanonischen Ehe feststellen können, was im Ergebnis verneint wurde479. Zu diesem dem Zugriff staatlicher Regelung entzogenen, genuin religiösen Bereich gehören für beide Verfassungsgerichte auch die Organisation der Religionsgemeinschaf475
A. Hollerbach, S. 62. Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2922; ähnlich auch schon in einer Entscheidung zur Zuständigkeit kirchlicher Gerichte für die Feststellung der Nichtigkeit einer nach kanonischem Recht geschlossenen Ehe Corte Costituzionale Nr. 421/1993, Giur. cost. 1993, S. 3469, 3475 f. 477 BVerfGE 105, 279, 294; BVerfGE 102, 370, 394; BVerfGE 74, 244, 255. 478 BVerfGE 41, 65, 84. 479 Corte Costituzionale Nr. 421/1993, Giur. cost. 1993, S. 3469, 3475 f. 476
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ten und die Freiheit von besonderer Staatsaufsicht, wie an der jeweiligen Rechtsprechung zu den öffentlich-rechtlich verfaßten Religionsgemeinschaften deutlich wird. Für den italienischen Verfassungsgerichtshof ist der Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts unweigerlich mit besonderen staatlichen Aufsichtsrechten verknüpft, weshalb er mit der aus der laicità folgenden inneren Autonomie der Religionsgemeinschaften unvereinbar ist. Folgerichtig erklärte der italienische Verfassungsgerichtshof die öffentlichrechtliche Verfassung der jüdischen Kultusgemeinden für verfassungswidrig. In Deutschland wird der öffentlich-rechtliche Status bestimmter Religionsgemeinschaften freilich unmittelbar durch Art. 137 Abs. 5 WRV i. V. m. Art. 140 GG festgelegt. Gleichwohl bestimmt der Gedanke, daß die weltanschaulich-religiöse Neutralität gebietet, den Religionsgemeinschaften zu ermöglichen, ihre Organisation und ihr Wirken an ihrem Selbstverständnis auszurichten, auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Im Ergebnis wurde angesichts des klaren Wortlautes der Verfassung zwar der öffentlich-rechtliche Status der korporierten Religionsgemeinschaften nicht angetastet. Indem aber staatliche Aufsichts- und Regelungsrechte subtrahiert wurden, erhielt er eine Ausgestaltung, die ihn deutlich von den für andere öffentlich-rechtliche Körperschaften geltenden Regeln unterscheidet480. Die Frage nach dem eigentlich Öffentlich-Rechtlichen der korporierten Religionsgemeinschaften481 wird von der herrschenden Lehre dementsprechend meist mit dem Verweis, es handele sich um einen „Mantelbegriff“482 oder der öffentliche Status betone die gesellschaftliche Bedeutung der korporierten Religionsgemeinschaft483, zu beantworten versucht. Im Detail sind jedoch auf der Ebene der Neutralität bzw. laicità, die durch die grundsätzliche Scheidung von Staat und Religion verkörpert wird, nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch unterschiedliche Akzente festzustellen. Während in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes mittlerweile ein Gebot der Nicht-Identifikation als anerkannt gelten dürfte, verwendet die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes zur laicità weder diesen noch einen ähnlichen Begriff. Ebensowenig hatte der Verfassungsgerichtshof bislang Gelegenheit ein ausdrückliches Verbot der Übertragung von Hoheitsbefugnissen gegenüber Nichtmitgliedern an Kirchen auszusprechen. Daraus dürfen freilich keine voreiligen Umkehr480 Zum Ganzen A. v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Art. 137 WRV, Rn. 219; D. Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl., München 2009, Art. 140 Rn. 25; J. Masing, S. 114 ff.; M. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 3, 2. Aufl., Tübingen 2008, Art. 137 WRV Rn. 79 ff. 481 Ch. Möllers, Religiöse Freiheit als Gefahr?, VVDStRL 68 (2009), S. 47, 67 f. 482 M. Morlok, Art. 137, WRV Rn. 75 m. w. N. 483 D. Ehlers, Rn. 21.
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schlüsse gezogen werden, etwa der Gestalt, das italienische Prinzip der laicità erlaube die Übertragung von Hoheitsbefugnissen gegenüber Nichtmitgliedern an eine Kirche. Festzustellen bleibt vielmehr lediglich, daß sich der italienische Verfassungsgerichtshof noch nicht zu einer derartigen Fallkonstellation zu äußern brauchte. Im übrigen ist darauf zu verweisen, daß der italienische Verfassungsgerichtshof ausdrücklich festgestellt hat, daß die laicità des Staates verbietet, Religion zum Mittel staatlicher Zwecke zu machen und umgekehrt484. Daraus läßt sich folgern, daß es auch in Italien verboten sein dürfte, Religionsgemeinschaften Hoheitsbefugnisse gegenüber Nichtmitgliedern zu verleihen, da hierein wohl eine eindeutige Instrumentalisierung des Staates zu religiösen Zwecken zu sehen wäre. Überdies dürfte das Verbot wechselseitiger Instrumentalisierung von Staat und Religion, wie es der italienische Verfassungsgerichtshof aus der laicità des Staates folgert, auch einer Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion und Weltanschauung entgegenstehen. So hat der Verfassungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung zur Strafbarkeit der Religionsbeleidigung darauf verwiesen, daß die Begründung des historischen Gesetzgebers, die katholische (Staats-)Religion als „Faktor der moralischen Einheit der Nation“ vor Beleidigung schützen zu wollen, nicht mehr tragfähig sei485. Es ist anzunehmen, daß auch eine mit dem deutschen Nicht-Identifikationsprinzip operierende Argumentation zu ähnlichen Ergebnissen gelangt wäre. Offenheit Beide Verfassungsgerichte stimmen darin überein, daß die grundsätzliche Scheidung von Staat und Religion, die weltanschaulich-religiöse Neutralität bzw. laicità des Staates auf der ersten Ebene bedingen, nicht bedeutet, daß der Staat gegenüber dem religiösen Leben seiner Bürger eine gleichgültige Einstellung aufzuweisen habe. Neutralität und laicità des Staates bedingen in beiden Verfassungsordnungen keine strikte distanzierende Trennung, sie zwingen nicht, Staat und Religion als antagonistisches Gegensatzpaar zu begreifen. Sowohl Bundesverfassungsgericht wie italienischer Verfassungsgerichtshof betonen in ihrer Rechtsprechung, daß die weltanschaulich-religiöse Neutralität bzw. laicità des Staates gerade eine Offenheit des Staates gegenüber den religiösen Anliegen seiner Bürger486 und dem Pluralismus weltanschaulicher Überzeugungen487 mit sich bringe. Diese Offenheit so484 Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2922 f.; Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335, 3339. 485 Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335, 3339. 486 Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. cost. 1989, S. 890, 901. 487 So bspw. BVerfGE 41, 29, 49.
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wohl der Neutralität wie der laicità läßt Raum für die Betätigung der Religionsfreiheit und dient damit der Verwirklichung der Persönlichkeit im weltanschaulich-religiösen Bereich, so daß sich die Religionsfreiheit voll entfalten kann. Konkrete Fallkonstellationen, in denen diese Rechtsprechung zum tragen kam, sind beispielsweise die deutsche Entscheidung zum Schulgebet und die italienischen Entscheidungen zum Religionsunterricht. Gerade in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes wird deutlich, daß der offene Charakter der laicità des Staates sich nicht auf eine passive Anerkennung des kulturellen und religiösen Pluralismus in der Gesellschaft beschränkt, sondern die laicità darüber hinaus auch Garantie für den Schutz der Religionsfreiheit sein müsse. Die Betonung einer sich aus der laicità des Staates ergebenden Schutzfunktion des Staates zur Verwirklichung der Religionsfreiheit setzt in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshof einen besonderen Akzent, der in dieser Ausprägung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur weltanschaulich-religiösen Neutralität nicht zu finden ist. Dieser Akzent findet sich vor allem in der Rechtsprechung zum strafrechtlichen Schutz der Religion vor Beleidigung, in der der italienische Verfassungsgerichtshof die Legitimität gesetzgeberischer Maßnahmen zum Schutz der Religionsfreiheit betont, wozu für ihn auch die strafrechtliche Bewehrung der Religion vor Beleidigungen zählt. Dieser besondere Akzent der italienischen Rechtsprechung ändert gleichwohl nichts an der grundsätzlichen Konvergenz in der Festlegung, daß Neutralität wie laicità Gebote der Offenheit sind. Ebensowenig wird dieser Befund dadurch in Frage gestellt, daß in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur aus der Neutralität folgenden Offenheit des Staates auch die Berücksichtigung des Selbstverständnisses bei der Auslegung von Art. 4 GG und das Zurückhaltungsgebot bei Sektenwarnungen zu rechnen sind. Gleichbehandlung Die dritte inhaltliche Ebene weltanschaulich-religiöser Neutralität betrifft ebenso wie bei der laicità des Staates den Gleichbehandlungsgrundsatz. Wenn weltanschaulich-religiöse Neutralität ebenso wie laicità auf der zweiten Stufe eine Offenheit des Staates gegenüber dem weltanschaulichen und religiösen Pluralismus verlangt, so verbieten beide Prinzipien nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wie des italienischen Verfassungsgerichtshofes die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse488 bzw. 488 BVerfGE 19, 206, 216; BVerfGE 33, 23, 29; BVerfGE 93, 1, 17; BVerfGE 105, 279, 294; BVerfGE 108, 272, 299; BVerfG, 2 BvR 1693/04, Abs.-Nr. 19.
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die Diskriminierung zwischen den verschiedenen Religionen489. Vielmehr hat sich die Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften am Gleichheitssatz zu orientieren490, was auch die Ungleichbehandlung zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen verbietet491. Das italienische Verfassungsgericht verwendet die schöne Formel von „Äquidistanz und Unparteilichkeit“492, die der Staat im Umgang mit Religionsgemeinschaften wahren müsse. Interessant ist hier, daß nicht nur grundsätzliche Übereinstimmung in der Benennung des Gleichheitsgrundsatzes als drittem Teilgehalt der Neutralität besteht, sondern daß sich bei der Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes auf den konkreten Fall durch und durch ähnliche Probleme stellen. So hatten sich Bundesverfassungsgericht und italienischer Verfassungsgerichtshof beide mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Mitgliederzahl oder die soziale Relevanz einer Religionsgemeinschaft ein geeignetes Differenzierungsmerkmal darstellen kann. Während die deutsche Rechtsprechung eher schwankend wirkt, scheint die italienische Rechtsprechung diese Differenzierungsmerkmale endgültig verworfen zu haben493. Auch die Frage, ob der Körperschaftsstatus einer Religionsgemeinschaft ein taugliches Differenzierungsmerkmal darstellen kann, die in der Entscheidung zum Körperschaftsstatuts der Zeugen Jehovas494 eine gewisse Rolle spielt, findet in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs eine gewisse Parallele, wenn dort erwogen wird, ob durch einzelne, auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 it. Verf. geschlossene Übereinkünfte mit bestimmten Religionsgemeinschaften Sonderrechte dieser Religionsgemeinschaften begründet werden können495, oder ob das Be489 Corte Costituzionale Nr. 259/1990, Giur. cost. 1990, S. 1542, 1548; Corte Costituzionale Nr. 195/1993, Giur. cost. 1993, S. 1324, 1333, 1335; Corte Costituzionale Nr. 440/1995, Giur. cost. 1995, S. 3475, 3480 ff.; Corte Costituzionale Nr. 329/ 1997, Giur. cost. 1997, S. 3335, 3340 f.; Corte Costituzionale Nr. 508/2000, Giur. cost. 2000, S. 3965, 3969; Corte Costituzionale Nr. 327/2002, Giur. cost. 2002, S. 2522, 2524 f.; Corte Costituzionale Nr. 168/2005, Giur. cost. 2005, S. 1379, 1383. 490 BVerfGE 108, 282, 299; BVerfGE 93, 1, 17; BVerfGE 19, 1, 8. 491 Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. cost. 1989, S. 890, 898, 902; Corte Costituzionale Nr. 13/1991, Giur. cost. 1991, S. 77, 83; Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2922. 492 Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335, 3340; Corte Costituzionale Nr. 508/2000, Giur. cost. 2000, S. 3965, 3968 f.; Corte Costituzionale Nr. 327/2002, Giur. cost. 2002, S. 2522, 2524; Corte Costituzionale Nr. 168/2005, Giur. cost. 2005, S. 1379, 1383. 493 Vgl. oben S. 83 f. sowie Fn. 132, S. 47; für die Möglichkeit einer Differenzierung nach sozialer oder zahlenmäßiger Bedeutung in der deutschen Literatur ausdrücklich S. Huster, Die ethische Neutralität, S. 242; J. Masing, S. 121 m. w. N.; für eine strikte Gleichbehandlung hingegen U. Sacksofsky, S. 24, 26. 494 BVerfGE 102, 370, 387. 495 Vgl. hierzu oben S. 83 ff.
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stehen oder Nichtbestehen einer solchen Übereinkunft mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft Rechtfertigung für eine Differenzierung bei der staatlichen Förderung der Errichtung von Kultstätten sein kann496. cc) Normenhierarchie und Argumentationsmuster: Besonderheiten und gemeinsame Probleme Vergleicht man die Art und Weise der Argumentation von italienischem Verfassungsgerichtshof und Bundesverfassungsgericht in Hinblick auf Neutralität und laicità, so liegt ein ganz fundamentaler Unterschied zunächst darin, daß der italienische Verfassungsgerichtshof die laicità als principio supremo, also als eines der „höchsten Verfassungsprinzipien“ definiert hat. Eine derart herausgehobene Stellung hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes nicht zugewiesen, der Neutralitätsgrundsatz wird nicht als Verfassungsrecht höheren Ranges verstanden. Gleichwohl sollte dieser Unterschied nicht überschätzt werden, da die Qualifizierung der laicità als principio supremo, wie gezeigt, in engem Kontext mit seiner „Entdeckung“ im Zusammenhang einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Modifikationen am Konkordat zu sehen ist. Dies zeigt sich auch an den Schwierigkeiten des italienischen Verfassungsgerichtshofs eine klare Linie zu finden, was Maßstab der verfassungsrechtlichen Prüfung sein soll, wenn es darum geht, Vorschriften zu prüfen, die nicht an der besonderen Garantie des Art. 7 Abs. 2 it. Verf. teilhaben. Durchaus ähnliche Schwierigkeiten lassen sich auch im Umgang des Bundesverfassungsgerichts ausmachen. Vereinzelt wird der Grundsatz weltanschaulich-religiöser Neutralität unmittelbar als objektiv-rechtlicher Prüfungsmaßstab herangezogen, während er in anderen Entscheidungen als Teilgehalt des subjektiven Grundrechts der Religionsfreiheit verstanden wurde. Häufiger versucht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die weltanschaulich-religiöse Neutralität in Form einer SchrankenSchranke in das gewohnte Schema der Grundrechtsprüfung einzupassen. Eine Ursache dieser Schwierigkeiten dürfte nicht zuletzt in der in Deutschland und Italien identischen Konstruktion begründet liegen, die aus der Zusammenschau einzelner Verfassungsbestimmungen ein (höchstes) Prinzip ableitet, das dann seinerseits in Konkurrenz oder Wechselwirkung zu den einzelnen positiven Verfassungsbestimmungen eintritt497. Dieses 496
Vgl. hierzu Fn. 315, S. 85. A. v. Campenhausen, Art. 140, Rn. 17; F. Holzke, S. 910; kritisch zur „Verdrängung“ der Verfassungsbestimmungen durch die Urteile des Verfassungsgerichtshofs in Italien A. Barbera, S. 83. 497
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schon auf abstrakter Ebene unklare Verhältnis führt dann zu, daß auch im konkreten Fall häufig relativ unklar bleibt, ob sich die Entscheidung im Kern eher aus dem einzelnen Grundrecht bzw. seiner Verletzung oder aus dem Grundsatz der Neutralität bzw. laicità ergeben soll. Ein Unterschied zwischen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur weltanschaulich-religiösen Neutralität und der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs zur laicità liegt auch darin, daß die laicità in der Rechtsprechung des italienschen Verfassungsgerichtshofs stets als Grundsatz des objektiven Verfassungsrechts erscheint, während die weltanschaulich-religiöse Neutralität in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vereinzelt auch Züge eines subjektiven Rechts annimmt, was insgesamt mit der gezeigten Präferenz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einhergeht, die ihm vorgelegten Fälle im Rahmen einer Prüfung an einem konkreten Grundrecht zu lösen und nicht unmittelbar auf die weltanschaulich-religiöse Neutralität als objektiven Maßstab zurückzugreifen, was im Kopftuch-Urteil durchaus denkbar gewesen wäre. Eine Erklärung für diesen Unterschied könnte in den unterschiedlichen Verfahrensarten liegen, in denen die beiden Verfassungsgerichte mit den von ihnen zu entscheidenden Fällen befaßt werden. Während nämlich die vom Bundesverfassungsgericht im Bereich der weltanschaulich-religiösen Neutralität zu entscheidenden Fälle fast allesamt im Verfahren der Verfassungsbeschwerde an das Gericht herangetragen wurden, erfolgte die Befassung des italienischen Verfassungsgerichtshofs, dessen Verfassungsordnung keine Verfassungsbeschwerde kennt498, in allen Fällen im Wege der Richtervorlage. Zwar ist auch im Rahmen der Verfassungsbeschwerde eine Überprüfung am gesamten objektiven Verfassungsrecht möglich499. Hält man sich jedoch vor Augen, daß eine Verfassungsbeschwerde angesichts Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG immer die Verletzung eines Grundrechts rügen muß, so erscheint es durchaus plausibel, daß sich die Prüfung der Verfassungsbeschwerde gleichsam in „Antwort“ auf diese Rüge im Schwerpunkt an dem gerügten Grundrecht orientieren wird. Ebenso liegt es nahe, daß das objektive Prinzip der laicità, nachdem es einmal in die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes eingeführt wurde, immer wieder zum Gegenstand von Richtervorlagen, die gerade nicht die Rüge eines subjektiven Rechts voraussetzen, gemacht wird und auch insofern die Prüfung des italienischen Verfassungsgerichts vorstrukturiert.
498
M. Dietrich, S. 210 ff. Lechner/Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 5. Aufl. München 2006, Vor § 17 Rn. 20. 499
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d) Zusammenfassung Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten, daß weltanschaulich-religiöse Neutralität und laicità des Staates zwei nicht unmittelbar im Normtext der jeweiligen Verfassung positivierte Verfassungsgrundsätze sind, die von Bundesverfassungsgericht und italienischem Verfassungsgerichtshof in ähnlicher Weise entwickelt wurden. Beide Rechtsinstitute werden aus einer Gesamtschau verschiedener verfassungsrechtlicher Normen aus dem Bereich der Freiheitsverbürgungen des individuellen Religionsverfassungsrechts, der Gleichheitsrechte und Diskriminierungsverbote sowie institutioneller Gewährleistungen des Religionsverfassungsrechts abgeleitet. Damit zusammenhängend zeigen sich in beiden Fällen Schwierigkeiten, das Verhältnis dieser abgeleiteten Verfassungsgrundsätze und der ihnen zu Grunde liegenden einzelnen Verfassungsnormen zu klären. Vielleicht am wichtigsten für die Vergleichbarkeit dürfte jedoch sein, daß auch auf der Ebene der Bedeutungsgehalte, die mit den Begriffen weltanschaulich-religiöse Neutralität und laicità des Staates umschrieben werden, sehr weitgehende Übereinstimmungen bestehen, die mit den drei Begriffen Trennung, Offenheit, Gleichbehandlung schlagwortartig umschrieben werden können. Beide Begriffe verkörpern die Idee einer institutionellen Trennung von Staat und Religion, die sich in den beiden komplementären Facetten der Unabhängigkeit des Staates und der Autonomie der Religion verwirklicht. Mit diesem grundsätzlichen Verschiedensein von Staat und religiöser Institution geht nach der Konzeption des deutschen wie des italienischen Verfassungsgerichts gleichzeitig eine offene Haltung einher, die auch in der öffentlichen Sphäre Raum zur Verwirklichung religiöser Anliegen der Bürger läßt. Bei aller Offenheit des Staates gegenüber dem Religiösen verlangen jedoch sowohl Neutralität wie laicità, daß sich der Staat im Umgang mit den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen am Gleichbehandlungsgrundsatz zu orientieren hat. Unterscheide zeigen sich jedoch zum einen in der Qualifizierung des Grundsatzes der laicità des Staates als eines der obersten Verfassungsprinzipien der italienischen Rechtsordnung und zum anderen darin, daß die weltanschaulich-religiöse Neutralität nicht nur und ausschließlich als Prüfungsmaßstab herangezogen wird, sondern vielfach auch als hermeneutisches Instrument bei der Auslegung anderer Verfassungsnormen gebraucht wird. Trotz dieser Unterschiede bleibt jedoch die grundsätzliche Übereinstimmung und weitgehende Äquivalenz beider Rechtsinstitute festzuhalten, die der weiteren Untersuchung als Ausgangspunkt dienen kann. Möglich wird so, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der deutschen und italienischen Diskussion um die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen aufzuzeigen.
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5. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit: Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der laicità? Zur Vereinbarkeit der Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern mit dem Grundsatz der laicità des Staates bezogen sowohl der Einzelrichter am Landgericht L’Aquila als auch das Verwaltungsgericht Venetien und der Staatsrat Stellung. Während der Zivilrichter und der Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Venetien die Anbringung von Kreuzen im Klassenzimmer für mit der laicità unvereinbar hielten, gingen die Urteile der Verwaltungsgerichtsbarkeit in erster wie zweiter Instanz von der Vereinbarkeit aus. Zunächst sollen die Argumentationen des Einzelrichters am Landgericht L’Aquila (a) und des Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichtes Venetien (b) referiert werden, die in diesem Punkt in Teilen der Literatur deutliche Zustimmung erfahren haben500, bevor das Urteil des Verwaltungsgerichts Venetien (c) und das Urteil des Staatsrates (d) dargestellt werden, das in der italienischen Rechtssprechung den Schlußpunkt der Auseinandersetzung auf nationaler Ebene markiert. Auf das anschließende Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wird schließlich am Ende der Untersuchung noch einzugehen sein. a) Der Beschluß des Einzelrichters am Landgericht L’Aquila Unvereinbarkeit mit der laicità staatlicher Institutionen Ausgangspunkt der Überlegungen dieses Beschlusses ist zunächst die Ablehnung des Kriteriums der zahlenmäßigen Mehrheit des Christentums als Rechtfertigung der Anbringung von Kruzifixen in Schulen. Zwar sei es richtig, daß die Mehrheit der italienischen Bürger dem Katholizismus angehöre. Die Denkfigur des Mehrheitskriteriums würde jedoch dazu führen, daß der Katholizismus weiterhin de facto als Staatsreligion fungieren würde. Gleichzeitig sei das Mehrheitskriterium im Bereich der Freiheitsrechte dasjenige Argument, das die größten Gefahren für die Freiheit der Andersgläubigen in sich berge501. Besondere Bedeutung komme in pluriethnischen Gesellschaften dem Gleichheitsgrundsatz zu, da die Gleichheit für Minderheiten der beste 500
Bspw. R. Botta, Simboli religiosi ed autonomia scolastica, Corr. giur. 2004, S. 235, 237 f.; P. Coltella, Crocifisso e libertà religiosa, S. 1392; N. Colaianni, S. 851 ff.; M. Cuniberti, S. 89 ff.; G. di Cosimo, Le spalle, S. 130 f.; M. T. Denaro, S. 141; G. Galante, S. 156; A. Guazzarotti, Crocifisso, S. 178; S. Lariccia, La laicità, S. 444; B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 352; S. Sicardi, S. 544 f. 501 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1282 f.
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Schutz gegen Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen und Rassismus sei und somit zum tragenden Pfeiler eines „Rechtes auf Verschiedenheit“ werde. Auch sei in der italienischen Verfassung das Prinzip der Freiheit unmittelbar mit der Gleichheit verbunden, gerade auch im Bereich der Religionsfreiheit, wie sich an Art. 3 und Art. 8 Abs. 1 it. Verf. zeige. Nach diesen sehr allgemeinen Aussagen zu Freiheit und Gleichheit wird dann ausdrücklich auf die Entscheidung des Kassationshofs zum Kreuz im Wahllokal502 Bezug genommen; der Kassationshof sei davon ausgegangen, daß die begehrte Entfernung eines Kreuzes aus einem Wahllokal auf der Linie der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu laicità und Pluralismus, zweier sich gegenseitig implizierender Prinzipien, liege. Zwar stelle diese Entscheidung des Kassationshofes auf die Idee der Neutralität des öffentlichen Bediensteten ab. Darin liege aber nur vordergründig ein Unterschied zur Frage des Kruzifixes im Klassenzimmer, denn auch im vorliegenden Fall gehe es um die Frage der laicità der Institutionen, auch die Schule sei den öffentlichen Dienstleistungen zuzurechnen503. Wesentliches Argument ist damit neben dem Verweis auf den Präzedenzfall des Kassationshofs zum Kreuz im Wahllokal die Unvereinbarkeit der Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern mit der laicità staatlicher Institutionen. Im weiteren Gang der Erörterung beschäftigt sich der Beschluß damit, mögliche Einwände gegen diese These zu entkräften: 1. Einwand: laicità bedeutet nicht Aufgabe der geschichtlich-religiösen Wurzeln Der erste mögliche Einwand, mit dem sich der Beschluß auseinandersetzt, ist derjenige, diese Lesart der laicità mißverstehe das Urteil Nr. 203/ 1989 des Verfassungsgerichtshofes, denn danach bedeute laicità „nicht Gleichgültigkeit gegenüber den Religionen“, sondern impliziere die staatliche Garantie des Schutzes der Religionsfreiheit in einem Regime von konfessionellen und kulturellen Pluralismus. Laicità bedeute also nicht Aufgabe gewachsener geschichtlich-religiöser Wurzeln504. Dagegen führt der Einzelrichter am Landgericht L’Aquila an, daß dieses Verständnis von einer italienischen Identität ausgehe, die vom Katholizismus geprägt sei. Letztlich liege dem das Argument der Mehrheitsreligion zu Grunde. Das sei insbesondere die Meinung derjenigen, die das Kruzifix 502 Corte di Cassazione Nr. 439/2000, Giur. cost. 2000, S. 1121 ff.; Anm. hierzu G. di Cosimo, Simboli religiosi nei locali pubblici: le mobili frontiere dell’obiezione di coscienza, Giur. cost. 2000, S. 1130 ff. 503 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1283. 504 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1283.
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auf Art. 9 des Änderungsabkommens zum Laterankonkordat stützen wollen, der die Erteilung von Religionsunterricht vorsieht und anerkenne, daß „die Prinzipien des Katholizismus Teil des geschichtlichen Erbes des italienischen Volkes sind“. Von einer völligen Identität der katholischen und der zivilen Kultur Italiens auszugehen, sei aber falsch und entspreche nicht einmal dem genannten Art. 9 des Änderungsabkommens, der auf das historische Erbe Bezug nehme, zu dem auch – aber nicht nur – die katholischen Prinzipien gehörten. Daraus folgert der Beschluß, die Ansicht, daß die Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern nicht im Widerspruch zur Religionsfreiheit stehe, sei „juristisch inkonsistent, geschichtlich und sozial anachronistisch und im Widerspruch zu den kulturellen Veränderungen in Italien“, vor allem aber unvereinbar mit jenen Verfassungsbestimmungen, die Respekt vor den Überzeugungen anderer und die Neutralität öffentlicher Einrichtungen gegenüber ideologischen Inhalten vorsähen505. 2. Einwand: Das Kruzifix kann in der Schule bleiben, solange sich niemand gestört fühlt Der nächste Einwand, mit dem der Beschluß sich auseinandersetzt, ist derjenige, daß das Kruzifix im Klassenzimmer bleiben könnte, solange ihm alle Schüler (bzw. die Erziehungsberechtigten der Minderjährigen) in friedlicher Weise eine gemeinsame kulturelle Bedeutung beimessen. Wenn sich jedoch auch nur einer in seiner negativen Religionsfreiheit gestört fühle, müßte das Kruzifix entfernt werden506. Dem hält der Beschluß entgegen, daß die Neutralität der öffentlichen Einrichtungen zur Natur der öffentlichen Verwaltung gehöre, eine Verwirklichung der Religionsfreiheit oder des Grundsatzes der laicità nur auf Anfrage könne es nicht geben507. 3. Einwand: Das Kreuz als nur „passives Symbol“. Anschließend setzt sich der Beschluß mit dem Einwand auseinander, das Kreuz sei ein nur „passives Symbol“508. Dagegen wird angeführt, daß dies 505 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1284 f.; ohne dies ausdrücklich nachzuweisen zitiert die Entscheidung an dieser Stelle z. T. wörtlich die Ausführungen von L. Zannotti, Il crocifisso, S. 336, 341. 506 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1284. 507 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1284. 508 Auch dieser Begriff findet sich schon bei L. Zannotti, Il crocifisso, S. 337; zur Diskussion in der Rechtsprechung, ob das Kreuz als „aktives“ oder „passives“ Symbol zu verstehen ist, vgl. S. 185 ff.
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nicht nur die religiöse Bedeutung des Kreuzes für den christlichen Glauben herabsetzen würde. Vielmehr sei diese Sichtweise eine Verdrehung, denn das Kruzifix habe eine Vielzahl von Bedeutungen, die nicht für alle einheitlich ausgedrückt werden könne. Die individuellen Freiheitsrechte dürften nicht nur in der Perspektive der Beziehung zwischen Staat und institutionellen Religionsgemeinschaften betrachtet werden, wozu vor allem die staatskirchenrechtliche Lehre tendiert habe. Die moderne multiethnische Gesellschaft mit ihrer Notwendigkeit, stark unterschiedliche auch von der traditionellen italienischen Kultur abweichende ethisch-religiöse Traditionen in Einklang zu bringen, führe zu Sprüngen in diesem System und zeige die Grenzen eines Verständnisses, das der kollektiven Religionsfreiheit Vorrang vor der individuellen einräume. Speziell im schulischen Bereich bringe das Kruzifix zum Ausdruck, daß der Staat die katholische Religion als absolute Wahrheit ins Zentrum des Universums rücken wolle, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen. Dadurch verzichte er auf seinen Erziehungsauftrag und gebe jeglichen kritischen und kulturellen Ansatz auf, indem er Symbole aufnehme, die unausweichlich mit der katholischen Tradition verbunden seien, wodurch die Bedeutung anderer religiöser Erfahrung für den menschlichen Fortschritt verkannt werde509. Daher sei auch die Unterscheidung, die der Staatsrat in seinem Gutachten getroffen habe, nicht richtig, weil das Kruzifix somit nicht von der Frage des Religionsunterrichts unabhängig sei. Das Kruzifix im Klassenzimmer drücke eine Anhänglichkeit an Werte aus, die nicht die Werte aller Bürger seien, es setze eine Homogenität voraus, die es weder gab noch gebe. Letztlich liege darin eine Verpflichtung zum Religionsunterricht ohne Möglichkeit, darauf zu verzichten510. Die öffentliche Einrichtung der Schule bekomme so eine konfessionelle Konnotation, die im Widerspruch zu den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen Nr. 203/1989511 und Nr. 13/1991512 stehe. Denn danach lasse sich der kulturelle und religiöse Pluralismus nur verwirklichen, wenn die Schule gegenüber dem Religiösen unparteilich bleibe513. 509 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1285; auch hier zitiert die Entscheidung unter dem pauschalen Verweis auf „die Lehre“ z. T. wörtlich wieder L. Zannotti, Il crocifisso, S. 337, 340, der sich zur Bedeutung anderer Weltreligionen in Fußnote 31 pauschal auf H. Küng, Cristanesimo e religioni universali, Milano 1984, also die italienische Ausgabe von H. Küng, Christentum und Weltreligionen: Hinführung zum Dialog mit Islam, Hinduismus und Buddhismus, München 1984, beruft. 510 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1285; auch dieses Argumentation läßt sich auf L. Zannotti, Il crocifisso, S. 339 f. zurückführen; in der Sache zustimmend G. Galante, S. 156. 511 Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. Cost. 1989, S. 890 ff. 512 Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. Cost. 1991, S. 77 ff. 513 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1284 f.
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4. Einwand: Auch die Anbringung anderer Symbole würde die Unparteilichkeit wahren Zuletzt setzt sich der Beschluß mit dem Einwand auseinander, daß auch die Ausstellung anderer Symbole neben dem Kruzifix ausreichen würde, um die Unparteilichkeit der Schule zu garantieren. Dem hält der Beschluß entgegen, daß auch die Ausstellung anderer Symbole die Religionsfreiheit verletzen würde. Die Unparteilichkeit schulischer Einrichtungen sei durch das Unterlassen der Anbringung von religiösen Symbolen zu verwirklichen, nicht durch eine Vielfalt der ausgestellten Symbole, auch wenn dadurch die einseitig konfessionelle Prägung aufgehoben würde. Denn zum einen könnte die Zahl der ausgestellten Symbole niemals erschöpfend sein und zum anderen würde jedenfalls die Religionsfreiheit der Glaubenslosen verletzt. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der Beschluß den Grundsatz der laicità im wesentlichen im Sinne einer Neutralität und Unparteilichkeit staatlicher Institutionen in religiösen Angelegenheiten versteht. Als Maßstab für die Prüfung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen zieht der Beschluß im Schwerpunkt den Grundsatz der laicità heran, wenn gleich sich auch Ansätze finden, am Maßstab der Religionsfreiheit zu prüfen. Die Unvereinbarkeit der Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern wird zum einen damit begründet, daß das Kruzifix als religiöses und mehr noch eindeutig katholisches Symbol identifiziert wird, wodurch die Schule unter Verstoß gegen das Nichtidentifikationselement der laicità eine katholische Prägung erhalte. Auf der Ebene der Symbolinterpretation wird so gegen eine Deutung des Kruzifixes als Symbol einer gewachsenen kulturellen Identität argumentiert514. Dar514 Hingegen die Bedeutung des Symbols für die Erhaltung einer gemeinsamen Identität betonend K. Redeker, S. 3370.; L. Brunetti, S. 61; M. Cartabia, S. 65; M. Canonico, S. 281; P. De Marco, Il crocifisso, uno „scomposto coro bipartisan“ e qualche sua ragione, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 114 ff.; D. Ferri, S. 136 ff.; C. Fusaro, S. 150; G. Majorana, S. 200; A. Morelli, Simboli, religioni e valori negli ordinamenti democratici, in: Dieni/Ferrari/Pacillo (Hrsg.), I simboli religiosi tra diritto e culture, Mailand 2006, S. 85, 105 ff.; M. Nunziata, Difesa della apponibilità del crocifisso nelle aule scolastiche statali: in margine ad una recente pronuncia della Corte costituzionale tedesca, Riv. giur. scuola 1996, S. 609, 612; F. Paterniti, Tutelare il crocifisso quale simbolo del patrimonio storico e dell’identità culturale della nazione, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 265, 271; D. Tega, S. 305; F. Vecchi, Il crocifisso: laicismo iconoclasta e degradazione giurisprudenziale del contenuto di un simbolo, Ius Ecclesiae 16 (2004), S. 455, 464 ff.; M. Zambelli, Appunti critici all’atto di promovimento, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 319, S. 323.
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über hinaus ist der Beschluß bemüht, seine Sichtweise ex negativo durch die Widerlegung anderer, auch in der Literatur vertretener Argumente zur Rechtfertigung der Anbringung von Kruzifixen zu bestätigen, insbesondere indem versucht wird, die These vom Kreuz als passivem Symbol zu widerlegen. Ohne ausführliche Grundrechtsprüfung nach deutschem Muster wird so von einer mehr generellen als auf die Umstände des konkreten Einzelfalls abstellenden Verletzung der Religionsfreiheit ausgegangen. Auf der Ebene der Konsequenzen der Unvereinbarkeit von laicità und Schulkreuz wird einerseits einer Entfernung des Kreuzes nur auf Anfrage, also letztlich der jetzigen bayerischen Regelung, eine Absage erteilt. Zuletzt wird auch eine „laicità durch Addition“515, also die Sicherstellung von Unparteilichkeit durch die Aufnahme anderer Symbole, nicht für verfassungsgemäß gehalten516. Aus der Perspektive der Rechtsvergleichung, die neben der Gegenüberstellung verschiedener Rechtsordnungen auch die Frage nach grenzüberschreitenden Einflüssen auf die jeweilige Rechtsordnung stellt, ist schließlich interessant, wie Gedanken des deutschsprachigen Theologen Hans Küng vermittelt über italienische staatskirchenrechtliche Literatur Eingang in die Entscheidung eines italienischen Richters gefunden haben517. b) Der Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Venetien Während am Landgericht L’Aquila im Eilverfahren durch Beschluß die Unvereinbarkeit der Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern mit dem Grundsatz der laicità des Staates festgestellt wurde, nahm das beim Verwaltungsgericht Venetien zur gleichen Zeit anhängige Verfahren durch den Vorlagebeschluß des befaßten Gerichts eine andere prozessuale Wendung – im Übrigen mit der Nebenwirkung einer Entschleunigung des Verfahrens. Der Vorlagebeschluß legte dem Verfassungsgerichtshof die Frage, ob die Normen, die die Anbringung von Kruzifixen in Schulräumen vorsehen, mit dem Prinzip der laicità vereinbar sind, zur Entscheidung vor. Anders als im deutschen Verfassungsprozeßrecht verlangt die Richtervorlage in Italien 515 Zustimmend zu dieser Lösung in der Literatur C. Panzera, S. 257; S. Prisco, S. 278, allerdings einschränkend auf Religionsgemeinschaften, die eine Übereinkunft gem. Art. 8 Abs. 3 it. Verf. geschlossen haben. 516 Dies war im übrigen die ursprüngliche Absicht des Klägers gewesen. Er hatte zunächst mit Billigung der Klassenlehrerin eine Tafel mit der 112. Sure des Koran im Klassenzimmer angebracht, die jedoch am folgenden Tag auf Anweisung der Schulleitung abgenommen werden mußte, Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276; A. Guazzarotti, Crocifisso, S. 177; C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 210; S. Prisco, S. 278. 517 Vgl. oben Fn. 509, S. 125.
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nicht, daß der vorlegende Richter von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm überzeugt sein muß. Vielmehr genügt, daß er die Vorlagefrage für nicht offensichtlich unbegründet hält518. Das vorlegende Verwaltungsgericht war daher nicht gefordert, ausdrücklich die Verfassungswidrigkeit der fraglichen Normen auszusprechen; ausreichend war es, seine Zweifel darzulegen, die allerdings in den konkreten Ausführungen des vorlegenden Gerichts einer Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit sehr nahe kommen. Die Argumentation des Vorlagebeschlusses erfolgt in einem Dreischritt. Zunächst macht der Beschluß Ausführungen zum Symbolgehalt des Kruzifixes, anschließend wird in einem zweiten Schritt die Bedeutung des Grundsatzes der laicità dargelegt, und in einem dritten Schritt wird dann die Vereinbarkeit von laicità und Schulkreuz untersucht. Das Kreuz als christliches Symbol Der Vorlagebeschluß identifiziert im Kruzifix das wichtigste christliche Symbol, das an jeder christlichen Kultstätte anzutreffen sei und mehr als alle anderen verehrt werde. Auch wenn dieses Symbol zusätzliche Bedeutungen annehmen könne, könnten diese zusätzlichen Bedeutungen jedoch nie die religiöse Bedeutung des Symbols auslöschen. Als Zwischenergebnis wird dann festgehalten, daß die Vorschriften, die dem Verfassungsgerichtshof zur Prüfung vorgelegt werden, die Anbringung eines Symbols mit eindeutig (auch) religiöser Bedeutung in unzweifelhaft öffentlichen Orten, nämlich den Klassenzimmern von Grund- und Mittelschulen, vorschreiben519. Die Bedeutung der laicità Anschließend verweist der Beschluß darauf, daß der Verfassungsgerichtshof das Prinzip der laicità des Staates im Urteil Nr. 203/1989 erstmals erwähnt und in der Folge in mehreren Urteilen bestätigt habe. Wörtlich aus dem Urteil Nr. 508/2000 des Verfassungsgerichtshofes zitierend wird dann betont, daß daher „die Haltung des Staates nicht anders als durch Unparteilichkeit und Äquidistanz“ gegenüber jeglichem Glauben geprägt sein könne, ohne daß es auf die zahlenmäßige Stärke der Anhängerschaft ankommen könne. Aus weiteren Urteilen des Verfassungsgerichts zitierend hält der Vorlagebeschluß fest520, daß das Religiöse einer Dimension angehöre, die nicht diejenige des Staates und seiner Rechtsprechung sei, deren Aufgabe 518 519 520
M. Dietrich, S. 149. Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 239. Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240.
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es sei, die Ausdehnung der Freiheit aller – auch im religiösen Bereich – zu begünstigen, weshalb der Staat keine religiösen Praktiken vorschreiben dürfe521. Unterschiedliche und unterscheidende Wertungen und Werturteile über die einzelnen Glaubensrichtungen mit unterschiedlichen Schutzniveaus würden die gleiche Würde der Person beeinträchtigen und dem Grundsatz der laicità oder „Nichtkonfessionalität522“ widersprechen523. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften über das Schulkreuz Dem Vorlagebeschluß scheinen daher die Normen, die die Anbringung des christlichen Symbols vorsehen, nur schwer mit der vom Verfassungsgerichtshof postulierten Position der Äquidistanz und Unparteilichkeit gegenüber den verschiedenen Konfessionen vereinbar zu sein, um so mehr es sich um Räume handele, die für die öffentliche Erziehung bestimmt seien, die alle Schüler aufsuchen müßten, um der Schulpflicht nachzukommen. Anders als beim Religionsunterricht, den Eltern und Schüler in Anspruch nehmen könnten oder nicht, werde die Anwesenheit des Kruzifixes im Klassenzimmer den Schülern verpflichtend auferlegt. Dadurch scheint nach Ansicht des Gerichts der christlichen Religion eine privilegierte Position zugeordnet zu werden, die nach den genannten Verfassungsgrundsätzen auch nicht durch ihre größere zahlenmäßige Relevanz gerechtfertigt werden könne524. Ausgehend von der Anerkennung einer grundsätzlichen Verschiedenheit von religiöser und staatlicher Sphäre sieht der Beschluß einen Schwerpunkt des Grundsatzes der laicità im Gebot des gleichen Abstands des Staates gegenüber allen Religionen und einem Verbot der Ungleichbehandlung. Auf der Ebene der Symboldeutung wird dem Kruzifix eine unweigerlich religiöse Bedeutung zugemessen, die auch durch mögliche andere zusätzliche Bedeutungen nicht verdrängt werden könne. Im Vergleich, den das Gericht zum Religionsunterricht mit Abwahlmöglichkeit zieht, scheint zunächst das Argument einer verpflichtenden Konfrontation der Schüler mit dem Kreuzessymbol auf, ohne daß der Beschluß sich jedoch explizit damit auseinandersetzt, ob von diesem Symbol die gleiche appellative Wirkung ausgeht 521 Ausgewiesen als wörtliches Zitat aus Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, 2919, 2922. 522 Italienisch „non-confessionalità“, vgl. Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/ 2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240. 523 Ausgewiesen als wörtliches Zitat aus Corte costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, 3335, 3340. 524 Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240.
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wie von der Erteilung von Religionsunterricht. Auch wenn das Gericht dies implizit zu bejahen scheint, indem es von einer Vergleichbarkeit von Religionsunterricht und der Anbringung von Kreuzen ausgeht, zieht es daraus jedoch keine Schlüsse in Richtung auf eine mögliche Verletzung der Religionsfreiheit. Vielmehr zielen seine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung allein auf den Grundsatz der laicità ab, den das Gericht deshalb für verletzt hält, weil es in der Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern vor allem eine ungerechtfertigte Privilegierung der christlichen Religion identifiziert. c) Das Urteil des Verwaltungsgerichts Venetien Nachdem der Verfassungsgerichtshof diese Richtervorlage als unzulässig abgewiesen hatte525, mußte das Verwaltungsgericht Venetien selbst einen Ausspruch über die Zulässigkeit der Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern treffen. Anders als man nach Lektüre des Vorlagebeschlusses hätte erwarten können, hielt das Verwaltungsgericht, bei dem nun gerichtsintern eine andere Kammer mit weitgehend anderer Besetzung das Urteil zu fällen hatte526, die Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern in einer vielfach kritisierten Entscheidung527 nicht für verfassungswidrig. Die Argumentation des Gerichtes befaßt sich zuerst mit der laicità des Staates, bevor es die Vereinbarkeit des Kruzifixes mit diesem Maßstab sowohl in seiner Funktion eines geschichtlich-kulturellen Symbols als auch in der eines christlichen Symbols feststellt.
525
Vgl. hierzu oben S. 72 f. Die Veröffentlichung der Entscheidung im Foro italiano weist die entscheidende Kammer des Verwaltungsgericht Venetien, ihren Vorsitzenden und den zum Berichterstatter bestimmten Richter bzw. den Verfasser des Urteils aus, vgl. Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235 (I. Kammer, Vorsitzender Richter Baccarini, Berichterstatter Richter Gabbricci) sowie TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329 (III. Kammer, Vorsitzender und Verfasser des Urteils Richter Zuballi). Die auf der Seite des Staatsrates http://www.giustiziaamministrativa.it/abrufbaren Fassungen der Urteile weisen demgegenüber alle beteiligten Richter aus. Der Berichterstatter des Vorlagebeschlusses, Richter Gabbricci, hat zugleich als einfaches Mitglied der III. Kammer am Urteil des Verwaltungsgerichts mitgewirkt, vgl. hierzu die Veröffentlichungen des Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichts bzw. des Urteils des Verwaltungsgerichts in der Datenbank des Staatsrates http://www.giustizia-amministrativa.it/ricerca2/index.asp (letzter Abruf: 3. September 2011). 527 Vgl. zur vielfältigen Kritik der Entscheidung S. 254 ff. 526
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Der Prüfungsmaßstab: laicità des Staates Prüfungsmaßstab ist für das Gericht der Grundsatz der laicità des Staates. Laicità oder Akonfessionalität des Staates bedeutet für das Verwaltungsgericht nicht das Gegenteil von Religion oder Religiosität, sondern schlichtweg, daß der Staat der Religion eine eigene Sphäre zuerkennt, daß er sich für neutral im Verhältnis zu den verschiedenen Religionsgemeinschaften erklärt, denen seine Bürger anhängen können oder nicht. Es handelt sich danach um die Anerkennung einer autonomen Sphäre im religiösen Bereich, die der freien Bestimmung des Einzelnen überlassen wird. Demnach sei es auch in der Schule nicht zulässig, irgendeine Art von Glauben vorzuschreiben. Vielmehr sei eine von Freiheit und gegenseitigem Respekt im religiösen Bereich geprägte Erziehung vonnöten528. Anschließend werden wörtlich die Ausführungen des Vorlagebeschlusses zur Bedeutung der laicità zitiert529, die diesen Grundsatz als Gebot gleichen Abstands und als Verbot der Ungleichbehandlung verstehen. Damit habe die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nach Ansicht des Verwaltungsgerichts ein Grundprinzip entwickelt, das über die einzelnen bisher entwickelten Fälle hinausreiche530. Die laicità des Staates, die sich aus den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit ableite, sei ein Grundsatz aller abendländischen Demokratien. Anschließend verweist das Verwaltungsgericht darauf, daß sich schon in verschiedenen Ländern Gerichte mit der Frage von religiösen Symbolen in öffentlichen Räumen und Schulen beschäftigt hätten, insbesondere das Bundesverfassungsgericht531, der Bayerische Verfassungsgerichtshof532, das Schweizerische Bundesgericht533, der spanische Oberste Gerichtshof534 und 528
TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 334. TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 334. 530 Vgl. oben S. 128. 531 BVerfGE 93, 1. 532 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686 ff. 533 BGE 116 Ia, 252 ff. vom 26. September 1990. Anzumerken ist, daß die Begründung dieses Urteil in der mehrsprachigen Schweiz in italienischer Sprache erfolgte, da es einen im Kanton Tessin angesiedelten Sachverhalt betraf. Dies dürfte der Rezeption der Entscheidung im deutschsprachigen Raum wenig zuträglich gewesen sein. 534 Tribunal Supremo, Sala III, Entscheidung vom 12. Juni 1990, Quad. dir. pol. eccl. 1991, I, S. 262 ff.; diese Entscheidung, in der die Entfernung der „Virgen de la Sapiencia“ (Jungfrau Maria von der Weisheit) aus dem Wappen der Universität Valencia wegen der überkommenen historischen Bedeutung des Symbols für nicht durch die Akonfessionalität des Staates gerechtfertigt und daher rechtswidrig gehalten worden war, wurde allerdings vom Spanischen Verfassungsgerichtshof unter Verweis auf die Autonomie der Universität, die eigenen Symbole zu bestimmen, aufgehoben, Tri529
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verschiedene US-amerikanische Gerichte. Dabei sei stets die Priorität des Prinzips der laicità des Staates bzw. der weltanschaulich-religiösen Neutralität bekräftigt worden, auch wenn die Entscheidungen im Ergebnis sehr unterschiedlich ausgefallen seien535. Anschließend werden verschiedene in der Literatur und der ausländischen Rechtsprechung vertretene Konzepte abgelehnt, insbesondere die französische Version der laïcité und das Mehrheitskriterium als Rechtfertigungsgrund536. Das Kreuz als geschichtlich-kulturelles Symbol Schon am Beginn seiner Ausführungen zur Begründetheit hatte das Gericht deutlich gemacht, daß es für die Zwecke des Urteils Kreuz und Kruzifix für äquivalente Symbole halte, zumal auch in der Anwendungspraxis oftmals einfache Kreuze angebracht worden seien, obwohl in den beiden königlichen Dekreten von „Kruzifixen“ die Rede sei537. Im übrigen sei die Bedeutung eines Symbols stets vom Vorverständnis des Interpreten und dem Kontext, in dem sich das Symbol befindet, geprägt; insbesondere dem Kreuz seien im Laufe der Zeiten eine Vielzahl von Bedeutungen zugeschrieben worden538. Unter anderem sei das Kruzifix auch ein geschichtlich-kulturelles Symbol und verfüge in Bezug auf das italienische Volk über identitätsstiftenden Wert. Das Kreuz repräsentiere in gewisser Weise den Entwicklungsverlauf der italienischen Kultur und Geschichte, die im guten wie im schlechten vom Christentum geprägt sei. Diese Geschichte könne weder durch einen Willensakt des Souveräns noch durch ein Gerichtsurteil beseitigt werden. bunal Costitucional, Sala I, Nr. 130 vom 6. Juni 1991, Boletín Oficial del Estado Nr. 162 vom 8. Juli 1991, T.C. Suplemento del Tribunal Constitucional, S. 32 ff., abrufbar auf der Seite des spanischen Amtsblattes unter http://www.boe.es/boe/dias/ 1991/07/08/pdfs/T00032-00035.pdf (letzter Abruf: 3. September 2011). 535 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 335. 536 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 335. 537 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 330 f.; Teile der Literatur hatten demgegenüber immer wieder betont, daß die beiden Dekrete ausdrücklich die Anbringung von Kruzifixen anordneten und daß das Kruzifix kein überkonfessionell christliches, sondern ein spezifisch katholisches Symbol sei, so bspw. N. Colaianni, S. 852; D. Ferri, S. 138; A. Reale, Crocifissi in luoghi pubblici: „visibilità“ della chiesa cattolica in uno Stato non confessionale, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/ Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 292 f., 295; C. Fusaro, S. 149; J. Luther, Istruire la storia, S. 192; S. Mancini, La contesa, S. 151; S. Mancini, Taking Secularism, S. 188; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 115 f.; a. A. dagegen ausdrücklich M. Zambelli, S. 320. 538 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 334.
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Das erkenne im übrigen auch Art. 9 des Änderungsabkommens zum Laterankonkordat an, wonach die christlichen Grundsätze ausdrücklich „Teil des geschichtlichen Erbes des italienischen Volkes“ seien. Wenn das Kruzifix allein geschichtlich-kulturelles Symbol im beschriebenen Sinne wäre, handelte es sich nach Ansicht des Verwaltungsgerichts ganz evident um ein mit der laicità des Staates vereinbares Symbol539. Das Kreuz als religiöses Symbol und zugleich Symbol der laicità Das Kreuz kann nach Ansicht des Verwaltungsgerichts aber nicht ausschließlich als geschichtliches und kulturelles Symbol betrachtet werden, sondern ist – auch im schulischen Kontext – auch als religiöses Symbol zu werten. Dabei sei das Kreuz ein allgemein christliches Symbol, kein ausschließlich dem Katholizismus zuzuordnendes. Da das Kreuz also Zeichen der christlichen Konfessionen sei, sei zu untersuchen, wie sich das Christentum zu den in der republikanischen Verfassung verankerten Werten verhält, um die Zulässigkeit der Anbringung des Kreuzes in öffentlichen Schulen bewerten zu können540. Nachdem es damit das weitere Prüfprogramm vorgegeben hat, läßt das Verwaltungsgericht nun einige eher theologisierende und religionsgeschichtliche Ausführungen zu den Werten, die das Christentum (und Judentum) prägen, folgen. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts sei das Christentum durch seine Betonung des Gebotes der Nächstenliebe geprägt und gebe der Barmherzigkeit absoluten Vorrang sogar vor dem Glauben. Damit enthalte es im Kern jene Ideen der Toleranz, der Gleichberechtigung und der Freiheit, die Grundlage des modernen säkularen Staates im allgemeinen und des italienischen Staates im besonderen seien. Anschließend meint das Gericht, eine durchgehende Entwicklungslinie von der „christlichen Revolution von vor 2000 Jahren“ über die Etablierung der Grundsätze des habeas corpus, die Kernelemente der Aufklärung und die Erklärung der Menschenund Bürgerrechte bis hin zur laicità des modernen Staates selbst zu erkennen. Auch bei der Ausarbeitung der republikanischen Verfassung und der Verankerung der Grundlagen der laicità darin sei der Beitrag christlicher Inspiration entscheidend gewesen, wie die Materialen zweifelsohne belegten. Auch wenn die Verbindung zwischen Freiheit und Christentum eher einem unterirdisch verborgenen Fluß gleiche, seien im zentralen Kern des christlichen Glaubens leicht die Grundsätze von Menschenwürde, Toleranz, religiöser Freiheit und letztlich auch die Grundlage der laicità des Staates selbst erkennbar. Zwischen dem jeweiligen „harten Kern“ von christlicher 539 540
TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 335 f. TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 336 f.
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Religion und republikanischer Verfassungsordnung bestehe damit eine Affinität und Konsonanz harmonischer Sphären. So wie im Christentum die Methode (der Barmherzigkeit) den Voraussetzungen (Glaube) und Zielen (Hoffnung) vorgehe, gehe in einer reifen Demokratie die demokratische Methode den per se veränderlichen Zielen und Voraussetzungen vor541. Daraus schließt der Verwaltungsgerichtshof, daß das Kruzifix nicht nur geschichtliches und kulturelles Symbol der Identität des italienischen Volkes sei, sondern gleichzeitig Symbol eines der Verfassung innewohnenden Wertesystems von Freiheit, Gleichberechtigung, Menschenwürde und religiöser Toleranz, mithin auch der laicità des Staates. Daher wäre es – nach Ansicht des Gerichts – paradox ein christliches Zeichen im Namen einer laicità auszuschließen, die ihre fernen Ursprünge selbst in der christlichen Religion habe542. Nachdem das Urteil zu diesem Ergebnis gekommen ist, führt es noch weitere Argumente an, um dieses Ergebnis zu stützen. Zunächst gibt es zu, daß das Symbol des Kreuzes in der Schule auch anders interpretiert werden könnte, z. B. als Beeinträchtigung der individuellen Freiheit oder Präferenz des Staates für eine Religion. Wolle man die Frage der Zulässigkeit des Kreuzes jedoch beantworten, ohne in Subjektivismus zu verfallen, müsse man bei der Realität bleiben, die folgende sei: Tatsächlich sei die soziologische Wirklichkeit die, daß einer minoritären christlichen Glaubenspraxis eine breite Zustimmung zu den säkularisierten Werten des Christentums gegenüberstehe543. Anschließend nimmt das Gericht Bezug auf die Lehrpläne, nach denen die Schule keinen eigenen Glauben vorzuschlagen und keinen Agnostizismus zu privilegieren habe, sondern die religiöse als Teil der sozialen Realität anerkenne und demnach auf die religiöse Erfahrung des Kindes im familiären Umfeld in diskriminierungsfreier und toleranter Weise acht zu geben habe544. Nach einer weiteren Bekräftigung, daß das Kreuz nicht nur Symbol für Geschichte, Kultur und Identität ist, sondern auch für die Grundsätze Freiheit, Gleichheit und Toleranz sowie der laicità des Staates selbst stehe, erscheint dem Gericht das Symbol des Kreuzes als Zeichen der Toleranz auch besonders geeignet, Schülern aus anderen Kulturkreisen, die Ablehnung jeglichen – sei es religiösen, sei es laizistischen – Fundamentalismus zu vermitteln545. 541 542 543 544 545
TAR TAR TAR TAR TAR
Veneto Veneto Veneto Veneto Veneto
Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.
1110/2005, 1110/2005, 1110/2005, 1110/2005, 1110/2005,
Foro Foro Foro Foro Foro
it. it. it. it. it.
2005, 2005, 2005, 2005, 2005,
III, III, III, III, III,
Sp. Sp. Sp. Sp. Sp.
329, 329, 329, 329, 329,
337 f. 338. 338. 338 f. 339.
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Mit einem letzten Argument versucht das Verwaltungsgericht schließlich zu begründen, warum im Kreuz auch kein belastender Eingriff liegen könne. Hierzu bedient es sich wieder religionssoziologischer und theologisierender Argumente546. Es verweist auf die semiotische Theorie, nach der die Bedeutung eines Symbols über die Bestimmung der Elemente, die es ausschließt, zu untersuchen sei. Da Religionen sich generell durch ihren Glauben an ein höheres Wesen definierten, sei ihre Haltung zum Ungläubigen, der sich implizit diesem Wesen widersetze, die eines Ausschlusses. Nur das Christentum sei hier eine Ausnahme, weil es selbst dem Glauben gegenüber der Barmherzigkeit, also dem Respekt für den anderen, eine zweitrangige Position zuweise. Daher könne das Kreuz als christliches Symbol niemanden ausschließen, und im übrigen schreibe es niemandem etwas vor, sondern sei nur Anreiz zur Reflexion über die italienische Geschichte und die von der Verfassung rezipierten Werte, darunter zuallererst der laicità des Staates. Im übrigen komme das Kreuz auch in vielen Flaggen547 vor. So könne sich z. B. kein finnischer Bürger548 durch die Anwesenheit der finnischen Flagge in Schulen verletzt fühlen, auch wenn diese ein Kreuz enthalte549. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß dem Verwaltungsgericht wichtig ist, den Grundsatz der laicità von einem religionsfeindlichen Laizismus, zumal der französischen laïcité abzugrenzen. Laicità bedeutet für das Verwaltungsgericht, daß der Staat einerseits der Religiosität seiner Bürger eine autonome Sphäre der Selbstbestimmung zuerkennt und andererseits eine neutrale Position gleichen Abstands gegenüber den Religionsgemeinschaften einnimmt, deren Ungleichbehandlung ihm Verboten ist. Das Kreuz ist für das Verwaltungsgericht sowohl identitätsstiftendes kulturelles Symbol als auch religiöses Symbol des Christentums. Dieses Christentum rekonstruiert der Verwaltungsgerichtshof so, daß seine religiösen Werte im Kern den Verfassungswerten von Freiheit, Gleichheit, Toleranz entsprechen, auf denen die laicità beruhe; auch die laicità selbst werde daher vom Kreuz in den Klassenzimmern repräsentiert. Wegen dieser Identität von Verfassungswerten und christlichen Werten, von der das Verwaltungsgericht ausgeht, kann auch bei einem Verständnis, das Kreuze als religiöse Symbole versteht, ihre Anbringung in Klassenzimmern nicht im Hinblick 546 Dies als Aufgabe juristischer Argumentation deutlich kritisierend N. Colaianni, S. 852 ff.; kritisch auch S. Mancini, Taking Secularism, S. 192. 547 Zu Kreuzen als Teil von Wappen und Flaggen italienischer Gemeinden und Regionen sowie in Flaggen der italienischen Marine M. Zambelli, S. 319, 321 f. 548 Der Verweis auf Finnland ist nicht zufällig, da die Klägerin finnischer Herkunft ist. 549 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 340.
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auf die laicità des Staates verfassungswidrig sein. Im Hinblick auf die von den angebrachten Kreuzen ausgehende Wirkung stützt sich die Argumentation des Verwaltungsgerichts darauf, daß das Christentum niemanden ausschließe, so daß auch das Kreuz als sein Symbol niemanden ausschließe. Durch Kruzifix im Klassenzimmer werde niemandem etwas vorgeschrieben, es sei nur „Anlaß zur Reflexion“. Darin, wie die Kläger, eine Verletzung der individuellen Religionsfreiheit zu sehen, hält das Verwaltungsgericht hingegen für einen „Subjektivismus“, der seiner Ansicht nach für die rechtliche Bewertung nicht entscheidend sein könne. d) Das abschließende Urteil des Staatsrates Eine teilweise ähnliche Argumentation – allerdings ohne weitschweifige theologisierende Ausführungen zur Natur des Christentums – verfolgt der Staatsrat in seinem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Venetien bestätigenden Berufungsurteil550. Auch der Staatsrat bemüht sich zunächst, die Bedeutung des Grundsatzes der laicità und des Kreuzessymbols herauszuarbeiten, bevor deren Kompatibilität untersucht wird. Die laicità des Staates Der Staatsrat verweist zunächst darauf, daß die laicità des Staates nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ein höchster Grundsatz der italienischen Verfassungsordnung sei, auch wenn er nicht ausdrücklich in der Verfassungsurkunde proklamiert sei. Obwohl dieser Grundsatz von kontroverser Geschichte und reich an ideologischen Anklängen sei, besitze er dennoch auch juristische Relevanz, da er sich aus Art. 2, 3, 7, 8, 19, 20 der italienischen Verfassung ableiten lasse551. Laicità sei ein Begriff, der Staatsrat spricht wörtlich von einem „linguistischen Symbol“, der in abgekürzter Form für die Inhalte dieser Verfassungsnormen stehe, wobei allerdings die Inhalte dieser Normen die Anwendung dieses Prinzips zu prägen hätten, wenn es juristisch handhabbar sein solle, ohne in ideologischen Streitigkeiten verhaftet zu bleiben552. Im Folgenden weist der Staatsrat daraufhin, daß diese konkreten „Anwendungsbedingungen“ der laicità von der jeweiligen kulturellen Tradition und den Sitten jedes Volkes geprägt würden, soweit diese Eingang in die verschiedenen Rechtsordnungen gefunden haben. Diese Feststellung wird 550 551 552
Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, 181 ff. Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, 181, 185 f. Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, 181, 186.
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durch einen Rechtsvergleich untermauert, der England, Frankreich und die USA in den Blick nimmt553. Die englische Rechtsordnung sei unzweifelhaft säkularer Natur, aber gleichwohl eng mit der anglikanischen Kirche verflochten. In Frankreich sei die Laizität eine Zielsetzung des Staates, bei deren Verfolgung sowohl die organisatorische Autonomie der Religionen wie die individuelle Religionsfreiheit ins Hintertreffen kommen könnten. In den USA verhindere eine rigorose Trennung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften nicht eine verbreitete Frömmigkeit der Bevölkerung, die auch institutionelle Formen wie das auf Geldscheinen abgedruckte Motto („In God we trust“) annehmen könne554. Anschließend legt der Staatsrat dar, welche Bedeutung in Italien dem Begriff der laicità zukomme. Hier bedeute laicità zunächst die wechselseitige Autonomie zwischen weltlicher und geistlicher Ordnung mit dem Verbot für den Staat, sich in die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften einzumischen, wie dies Art. 7, 8 it. Verf. festlegten. Außerdem seien die Grundrechte aller Bürger unabhängig von den Regeln der Religionsgemeinschaften, der sie angehörten, zu schützen; dies ergebe sich aus Art. 2 it. Verf.; aus Art. 3 it. Verf. folge die rechtliche Gleichheit aller Bürger unabhängig von ihrem Glauben, während Art. 8 Abs. 2 it. Verf. den Religionsgemeinschaften die Freiheit gewähre, sich autonom nach eigenen Regeln zu organisieren. Schließlich seien noch Art. 19 it. Verf. als Gewährleistung der Religionsfreiheit als Freiheit, zu glauben, nicht zu glauben, öffentlich oder privat den Glauben zu manifestieren und Kultus auszuüben, sowie das Verbot des Art. 20 it. Verf., kirchliche Institutionen wegen ihres kirchlichen Charakters bzw. ihres religiösen oder kultischen Zweckes zu diskriminieren, zu erwähnen. An diesen der laicità zu Grunde liegenden Verfassungsbestimmungen läßt sich nach Ansicht des Staatsrates eine positive Einstellung zum Religiösen und den Gemeinschaften, die es fördern, ablesen. Schließlich habe die Verfassung gesetzgeberischen Aktivitäten zur Regelung seiner Beziehungen zu den Religionsgemeinschaften eine bedeutsame Grenze gesetzt, indem sie nur die konsensualen Handlungsformen von Konkordaten mit der katholischen Kirche (Art. 7 Abs. 2 it. Verf.) und Übereinkünften mit anderen Religionsgemeinschaften (Art. 8 Abs. 2 it. Verf.) vorsehe555. Aus diesen Überlegungen folgert der Staatsrat, daß laicità zwar überall die Unterscheidung von weltlicher und geistlicher Dimension und zwischen den Institutionen und Gesellschaften, denen diese Dimensionen zu eigen sind, voraussetzt und erfordert. Laicità realisiert sich aber nicht in einheit553 554 555
Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, 181, 186. Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, 181, 186. Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, 181, 186.
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licher Weise länder- und epochenübergreifend. Auch in der italienischen Geschichte war und sei laicità jeweils historisch verschieden556. Das Kruzifix: Symbol religiöser wie weltlicher Werte Weiter führt der Staatsrat aus, daß es in dem ihm zur Entscheidung vorgelegten Fall aber nicht darum gehe, die akademische Frage nach der besten Form der laicità zu beantworten, sondern zu klären, ob die Ausstellung des Kruzifixes in Schulen die grundlegenden Normen der Verfassungsordnung, die der laicità Form und Substanz geben, verletze557. Daher beschäftigt sich der Staatsrat im nächsten Schritt seiner Entscheidung mit den unterschiedlichen Bedeutungen, die durch das Kruzifix symbolisiert werden könnten. Der Staatsrat betont, daß die unterschiedlichen Bedeutungen, die das Kruzifix annehmen könne, und die unterschiedlichen Zwecke, denen es dienen könne, vor allem durch den Ort, an dem es angebracht werde, determiniert würden. Befindet sich das Kruzifix in einer Kultstätte, so handelt es sich ausschließlich um ein religiöses Symbol. Befindet sich das Kruzifix hingegen an einem nicht religiösen Ort, z. B. einer Schule, so ist nach Ansicht des Staatsrates zu unterscheiden. Für Gläubige könne das Kruzifix auch hier religiöse Werte repräsentieren. Sowohl für Gläubige wie Nichtgläubige ist die Ausstellung des Kruzifixes jedoch dann gerechtfertigt und hat nicht diskriminierende Bedeutung, wenn es in bündiger und unmittelbar verständlicher Weise an Werte erinnern kann, die aus weltlicher Perspektive bedeutsam sind, insbesondere jene Werte, die der italienischen Verfassungsordnung zugrundeliegen und sie inspirieren. Sei dies der Fall, könne das Kruzifix auch in säkularer Perspektive erzieherische Funktion haben, unabhängig von der Religion, zu der sich die Schüler bekennen558. Das verfassungskonforme Kruzifix: Verweis auf die transzendente Grundlage der Verfassungswerte Im weiteren führt der Staatsrat aus, daß das Kruzifix in Italien offensichtlich geeignet sei, auf symbolische Weise den religiösen Ursprung der Werte der Toleranz, des gegenseitigen Respekts, der Wertschätzung der menschlichen Person, die Bekräftigung der Rechte des Menschen, die Aufmerksamkeit für seine Freiheit, die Autonomie des moralischen Gewissens, der menschlichen Solidarität und die Ablehnung jeglicher Diskriminierung, die 556 557 558
Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, 181, 186 f. Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, 181, 187. Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, 181, 187.
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die italienische Zivilisation konnotierten, zum Ausdruck zu bringen. Diese Werte liegen nach Ansicht des Staatsrates der Verfassung und insbesondere jenen Vorschriften, aus denen der Verfassungsgerichtshof die laicità abgeleitet hat, zu Grunde. Der Verweis auf den religiösen Ursprung dieser Werte und ihres Einklangs mit den christlichen Lehren diene also dazu, ihre transzendente Grundlage deutlich zu machen, ohne jedoch die Autonomie der weltlichen Ordnung im Verhältnis zum Spirituellen in Frage zu stellen. Diese Werte müßten in der Zivilgesellschaft in autonomer Weise im Verhältnis zur religiösen Gesellschaft gelebt werden. Daher könnten sie auch verbindlich für alle festgelegt werden, unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit, die sie inspiriert haben mag559. Wie jedem Symbol könnten dem Kruzifix unterschiedliche und gegensätzliche Bedeutungen zugeordnet werden. Nach Ansicht des Staatsrates dürfe das Kruzifix in der Schule weder als bloßes Schulmöbel ohne jeglichen Symbolgehalt noch als Kultgegenstand verstanden werden. Anschließend führt der Staatsrat wörtlich aus: „Man muß [beim Kruzifix] vielmehr an ein Symbol denken, das geeignet ist, das erhabene Fundament der erwähnten zivilen Werte auszudrücken, die letztlich jene Werte sind, die die laicità der gegenwärtigen Staatsordnung bestimmen“560. Im italienischen Kontext sei es schwierig, ein anderes Symbol zu finden, das dazu geeigneter wäre561. Entsprechend fordere die Klägerin ja auch eine weiße Wand ein, die ihr ausschließlich mit dem Wert der laicità vereinbar erscheine562. Daher ist für den Staatsrat die Entscheidung, in Ausführung der Verordnungsbestimmungen das Kruzifix in Schulräumen anzubringen, in Bezug auf die laicità des Staates nicht zu beanstanden. Der Anspruch, der Staat habe sich zu enthalten, in einem der Erziehung gewidmeten Raum ein Symbol (das Kruzifix), das er geeignet erachte, die säkularen Werte, von denen die italienische Gesellschaft durchdrungen sei und die seine Verfassungsurkunde prägten, – seien sie auch religiösen Ursprungs – darzustellen, könne daher allenfalls auf politischem oder kulturellem563, nicht aber auf gerichtlichem Wege verfolgt werden. 559
Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, 181, 187. Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, 181, 187 f.; im italienischen Original wird der Ausdruck „si deve pensare“ – „man muß denken“ verwendet, mit dem das Gericht eine klare Vorgabe dafür liefert, wie das Kruzifix in der Schule zu denken ist. 561 Zum in der italienischen Literatur hiergegen vorgebrachten Argument, die italienische Verfassung definiere in Art. 12 bereits abschließend die Tricolore als staatliches Symbol vgl. S. 261. 562 Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, 181, 188. 563 Für eine politische Lösung ebenfalls J. Luther, Istruire la storia, S. 192 f.; I. Nicotra, S. 233. 560
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Als Zusammenfassung ist daher festzuhalten, daß der Staatsrat sich im wesentlichen für ein Verständnis der laicità ausspricht, das sich eng an den Verfassungsnormen orientiert, aus denen die laicità abgeleitet wird, nämlich institutionelle Trennung von Staat und Religion, Gleichbehandlung und Religionsfreiheit. Die laicità erscheint so gleichsam als eine Summe dieser Verfassungsbestimmungen, denen der Staatsrat aber eine grundsätzlich positive Einstellung der italienischen Verfassung zur Religiosität seiner Bürger zu entnehmen weiß. Auf der Ebene der Deutung des Kreuzessymbols erkennt der Staatsrat zwar an, daß für Gläubige das Kreuz in der Schule auch religiöses Symbol sein könne. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen ist für den Staatsrat aber davon abhängig, ob das Kreuz im schulischen Kontext die Werte der Verfassung symbolisieren kann. Dies ist für den Staatsrat der Fall, da das Kreuz in Schulräumen nach seiner Ansicht geeignet ist, als Hinweis auf die transzendenten Ursprünge der die italienische Verfassung prägenden Werte zu dienen und so als Sinnbild für diese Werte zu stehen. Der Staatsrat stellt für seine Entscheidung nicht darauf ab, wie die Betrachter des Kreuzes dieses Symbol verstehen oder welche Motive den (historischen) Verordnungsgeber zur Anbringung des Symbols bewogen haben. Vielmehr gibt der Staatsrat eine Bedeutung vor, wie das Kreuz im schulischen Kontext auf eine Weise zu verstehen ist, bei der nicht gegen den Grundsatz der laicità des Staates verstoßen wird. Mit anderen Worten deutet der Staatsrat das Kreuz im schulischen Kontext verfassungskonform als Symbol der erhabenen Fundamente der säkularen Werte der Verfassung und lehnt sowohl ein Verständnis des Kreuzes als bloßes Schulmöbel als auch als religiöses Symbol ab. Vom Standpunkt des Staatsrates aus, im schulischen Kontext nur die Bedeutung des Kreuzes als Hinweis auf die in der Verfassung verkörperten Werte relevant zu halten, verzichtet die Entscheidung konsequent darauf, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie stark die Einwirkung ist, die von der Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern auf die dort unterrichteten Schüler und ihre religiösen Überzeugungen ausgeht. 6. Zusammenfassung Insgesamt zeigt sich, daß die Auseinandersetzung um die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in italienischen Schulen von einer komplexen Prozeßgeschichte geprägt ist, die nicht nur Gutachten und Urteile der beiden Instanzen des italienischen Verwaltungsrechtswegs sondern auch Entscheidungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und nicht zuletzt des italieni-
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schen Verfassungsgerichtshofs umfaßt. Die konkurrierende Involvierung von ordentlichen Gerichten und Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist dabei in den weiteren Zusammenhang der Schwierigkeiten, in Italien die Zuständigkeiten von ordentlicher und Verwaltungsgerichtsgerichtsbarkeit abzugrenzen, einzuordnen und ist keine Besonderheit der zu entscheidenden Sachfrage nach der Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen. Für die Entscheidung dieser Sachfrage hatte die Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichtshofs nur insofern Bedeutung, als er sich unter Berufung auf seine mangelnde Kompetenz, über die Gültigkeit von Verordnungen zu entscheiden, einer eigenen Stellungnahme enthielt und damit die einfachen Gerichte als zur Entscheidung berufen bestimmte. Diese Frage der Entscheidungskompetenz des italienischen Verfassungsgerichts ist ebenso wie die Diskussion um die Fortgeltung oder implizite Aufhebung der königlichen Dekrete als „Nebenkriegsschauplatz“ der gerichtlichen Auseinandersetzung um die Zulässigkeit von Kreuzen in italienischen Klassenzimmern zu deuten. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, daß keines der befaßten ordentlichen und Verwaltungsgerichte sich einer Erörterung der Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen durch die Annahme einer impliziten Aufhebung der beiden königlichen Dekrete entzog. Wie gezeigt werden konnte, stützen sich die italienischen Gerichte bei der Behandlung dieser Frage auf unterschiedlichste Argumentationsstränge. So wird das Kreuz teils in einer Art verfassungskonformer Auslegung als Symbol der Ursprünge der in der Verfassung verkörperten Werte, teils als religiöses Symbol begriffen, ohne daß sich mit letzterem eindeutig eine bestimmte Haltung zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit verbinden lassen würde. Im Hinblick auf den Maßstab ihrer verfassungsrechtlichen Prüfung orientieren sich die italienischen Gerichte im Schwerpunkt am Grundsatz der laicità des Staates, während Grundrechte, namentlich die negative Religionsfreiheit, in keiner Entscheidung im alleinigen Zentrum der Prüfung stehen. Eine systematische Analyse der verschiedenen Argumentationslinien in der italienischen Rechtsprechung soll in Verbindung und im Vergleich mit den Argumenten der deutschen Rechtsprechung erfolgen, die jedoch zuvor ebenfalls kurz referiert werden soll.
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II. Die deutsche Auseinandersetzung um das Schulkreuz 1. Überblick Die vor deutschen Gerichten ausgetragene Auseinandersetzung um die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in Schulräumen erfolgte in zwei Phasen. In der ersten Phase ging es um die Vorschrift des § 13 Abs. 1 S. 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern (VSO) vom 21. Juni 1983564, die schlichtweg die Anbringung von Kreuzen in jedem Klassenzimmer anordnete und Gegenstand der Kruzifixentscheidung des Bundesverfassungsgerichts im 93. Band der Entscheidungssammlung565 war. Die zweite Phase betraf hingegen den durch Gesetz vom 23. Dezember 1995 in Reaktion auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geänderten Art 7 Abs. 3 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG)566, der ein Konfliktlösungsverfahren vorsieht, in dem sich die negative Religionsfreiheit durchsetzen kann. 2. Erste Phase: Die Auseinandersetzung um § 13 Abs. 1 S. 3 VSO Ausgangspunkt der gerichtlichen Auseinandersetzung um Kreuze in Klassenzimmern war eine im eigenen Namen und im Namen der betroffenen Kinder erhobene Klage der Eltern dreier schulpflichtiger Kinder zum Verwaltungsgericht Regensburg mit dem Antrag, die von § 13 Abs. 1 S. 3 VSO vorgeschriebenen Kreuze aus den von den Kindern besuchten Schulräumen entfernen zu lassen567. § 13 Abs. 1 VSO lautete: Die Schule unterstützt die Erziehungsberechtigten bei der religiösen Erziehung der Kinder. Schulgebet, Schulgottesdienst und Schulandacht sind Möglichkeiten dieser Unterstützung. In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen. Lehrer und Schüler sind verpflichtet, die religiösen Empfindungen aller zu achten.
Im Rahmen dieses Verfahrens wurde auch ein Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gerichtet auf die Entfernung der in den Schulräumen angebrachten Kruzifixe gestellt, den das Verwaltungsgericht Regensburg mit Beschluß vom 1. März 1991 ablehnte568. 564
BayGVBl. 1983, S. 597, 603. BVerfGE 93, 1. 566 BayGVBl. 1995, S. 850; Überblick zur Rechtslage in anderen Bundesländern S. Ihli, S. 37 ff. 567 VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345; zur Vorgeschichte dieses bis zum Bundesverfassungsgericht geführten Verfahrens vgl. G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3349. 568 VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345 ff. 565
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a) Der Beschluß des Verwaltungsgerichts Regensburg Das Verwaltungsgericht Regensburg verneinte einen Anordnungsanspruch unter Berufung auf § 13 Abs. 1 S. 3 VSO, da es die Norm für mit höherrangigem Recht vereinbar hielt. Das Gericht konnte insbesondere keine Verletzung der Grundrechte der Eltern (Erziehungsrecht) und Kinder (negative Bekenntnisfreiheit) erkennen. Kern der Argumentation des Gerichts war, daß die Anbringung von Kreuzen in Schulräumen der Zulassung eines freiwilligen Schulgebets vergleichbar sei, wobei sich die Verwaltungsrichter explizit auf die Schulgebetsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezogen569. In beiden Fällen handele es sich um eine Unterstützung der Eltern bei der religiösen Erziehung ihrer Kinder, die zulässig sei, solange die Freiwilligkeit und Zwanglosigkeit der Teilnahme gesichert sei. Dem werde § 13 Abs. 1 S. 3 VSO gerecht, weil weder ein aktives Verhalten der Schüler noch eine Identifizierung der Schüler mit den durch das Kreuz verkörperten Inhalten gefordert sei. Außerdem könne der negativen Bekenntnisfreiheit im schulischen Raum kein absoluter Vorrang vor der positiven Glaubensfreiheit der anderen Mitschüler eingeräumt werden570. Der Schwerpunkt der Argumentation dieser Entscheidung liegt auf der Nichtverletzung der negativen Glaubensfreiheit, während das Gericht nur beiläufig im Zusammenhang mit der Schulgebetsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die staatliche Neutralitätspflicht eingeht. Aus ihr soll sich nach Ansicht des Gerichtes nur ein Verbot der Verbindlichkeit christlicher Glaubensinhalte in Schule ergeben, während im Schulbereich anders als im Bereich der Justiz kein Gebot der „Nichtidentifkation“ gelte571. Die Anbringung stellt für das Verwaltungsgericht ähnlich wie die Möglichkeit zum Schulgebet eine Unterstützung christlicher Eltern bei der religiösen Erziehung ihrer Kinder dar. Dem liegt gleichzeitig ein Verständnis des Kreuzes als christliches religiöses Symbol zu Grunde. Hinsichtlich der von den angebrachten Kreuzen ausgehenden Wirkung scheint für das Verwaltungsgericht entscheidend zu sein, daß von dem angebrachten Symbol keine Aufforderung zu einem aktiven Verhalten der Schüler ausgehe, so daß dadurch die Ausübung religiösen Zwangs ausgeschlossen sei.
569 570 571
VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345. VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345, 346. VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345 f.
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b) Der Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Juni 1991 Dieser Beschluß wurde vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof bestätigt572, der die anschließende Beschwerde der Antragsteller als unbegründet zurückwies und dabei im wesentlichen der auf die Vergleichbarkeit von Schulgebet und Kreuz im Klassenzimmer gestützten Argumentation des Verwaltungsgericht Regensburg folgte; dabei prüfte der Verwaltungsgerichtshof die Frage einer Verletzung des Grundrechts der negativen Bekenntnisfreiheit des Art. 4 GG allerdings in stringenterer Weise. Im Anbringen eines Kreuzes in einer öffentlichen Schule liegt für den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eine Förderung des Christentums, die in den Schutzbereich der negativen Bekenntnisfreiheit eingreift, selbst aber ihre Schranken im staatlichen Schulorganisationsrecht in Verbindung mit der positiven Religionsfreiheit der Eltern findet, die das Kreuz wünschen. Schranken-Schranke573 des dadurch eröffneten Gestaltungsspielraums ist für den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof das Toleranzgebot, worunter in der Entscheidung verstanden wird, daß die Schule keine „missionarische Schule“ sein dürfe und christliche Inhalte nicht verbindlich festgelegt werden dürften, so daß eine Offenheit für andere als christliche weltanschauliche und religiöse Inhalte gewährleistet werde. Damit faßt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof unter dem Begriff des Toleranzgebotes das zusammen, was das Verwaltungsgericht Regensburg als „Neutralitätspflicht des Staates“ bezeichnet hatte574. Nachdem er auf diese Weise die Maßstäbe vorgegeben hat, führt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof dann eine Abwägung der betroffenen Verfassungsgüter der positiven und negativen Bekenntnisfreiheit sowie des Schulorganisationsrechts im Sinne praktischer Konkordanz durch. Im Rahmen dieser Abwägung begründet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die geringe Schwere des Eingriffs in die negative Bekenntnisfreiheit damit, daß das Kreuz ein allgemeines Symbol des christlich-abendländischen Kulturkreises sei und das Kreuz von den Schülern keine Identifikation und kein aktives religiöses Verhalten verlange. Dadurch werde ebensowenig wie durch das Schulgebet die eigenständige religiöse Erziehung der Eltern beeinträchtigt. Schließlich verwirft das Gericht den Einwand, durch die Anbringung des Kreuzes werde unausweichlicher Zwang ausgeübt, mit dem a fortiori-Argument, daß das vom Bundesverfassungsgericht nicht be572
BayVGH BayVBl. 1991, S. 751 ff. Zum Begriff der Schranken-Schranke vgl. K. Stern, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR, Bd. 5, Heidelberg 1992, § 109 Rn. 81. 574 VG Regensburg, BayVBl. 1991, S. 345 f.; BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 752. 573
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anstandete Schulgebet erst recht unzulässig wäre, wenn das Anbringen von Kreuzen verfassungsrechtlich zu beanstanden wäre. Als Ergebnis der Abwägung ergibt sich für den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, daß die negative Religionsfreiheit der Antragsteller gegenüber der positiven Religionsfreiheit in Verbindung mit dem Schulorganisationsrecht zurücktreten muß575. In der ganzen Argumentation des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs findet die weltanschaulich-religiöse Neutralität nur sehr beiläufige Erwähnung, dahingehend, daß die negative Bekenntnisfreiheit besondere Bedeutung im Zusammenhang mit dem Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität erlange, ohne aber im weiteren Verlauf der Erörterungen daraus Konsequenzen abzuleiten576. Unter dem Begriff des „Toleranzgebotes“ werden freilich Inhalte der weltanschaulich-religiösen Neutralität, wie das Verbot, christliche Glaubensinhalte absolut zu setzen, und die Offenheit der Schule für nichtchristliche weltanschauliche und religiöse Inhalte, als Schranken-Schranke herangezogen577. Festzuhalten bleibt damit, daß der Bayerische Verwaltungsgerichtshof seine Prüfung am Maßstab der Religionsfreiheit orientiert, während der Begriff der weltanschaulich-religiösen Neutralität demgegenüber nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt, wenngleich bestimmte Inhalte, die in anderen Entscheidungen mit diesem Begriff identifiziert werden, unter dem Namen Toleranzprinzip auf der Ebene der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs eine Rolle spielen. Zur Frage, ob das Kreuz im schulischen Kontext als kulturelles oder religiöses Symbol zu verstehen ist, verhält sich die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nicht eindeutig. Während das Gericht auf der Ebene des Schutzbereichs das Kreuz als Förderung des Christentums und damit als religiöses Symbol zu begreifen scheint, wird auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung mit der Bedeutung des Kreuzes als allgemeines Symbol des abendländischen Kulturkreises argumentiert. Was schließlich die Wirkung der in Klassenzimmern angebrachten Kreuze auf die dort unterrichteten Schüler angeht, folgt der Verwaltungsgerichtshof der Argumentation der Vorinstanz, die Intensität der Einwirkung als gering anzusehen, weil die Anbringung von Kreuzen von den Schülern kein aktives Verhalten und keine Identifikation mit dem Christentum verlangten.
575 576 577
BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 753. BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 752. BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 752.
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c) Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts Gegen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Regensburg und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs erhoben die Antragsteller Verfassungsbeschwerde, die zu dem bekannten Beschluß vom 16. Mai 1995578 führte, mit dem das Bundesverfassungsgericht § 13 Abs. 1 S. 3 VSO für nichtig erklärte, weil es diese Vorschrift nicht für mit Art. 4 Abs. 1 GG und in Bezug auf die Erziehungsberechtigten mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vereinbar hielt579. Die Begründung des Beschlusses ist als Grundrechtsprüfung der negativen Bekenntnisfreiheit des Art. 4 GG aufgebaut. Für das Bundesverfassungsgericht umfaßt der Schutzbereich der negativen Bekenntnisfreiheit nicht nur die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fern zu bleiben, sondern schließt auch die Entscheidung ein, welche religiösen Symbole der einzelne für sich anerkennt und welche nicht580. Die Anbringung von Kreuzen in Schulräumen stellt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts deshalb einen Eingriff in diesen Schutzbereich dar, weil die betroffenen Schüler von Staats wegen mit dem „appellativen Charakter“ des Kreuzes, des Symbols einer bestimmten religiösen Überzeugung durch das christliche „Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig“ ausgewiesen werden, konfrontiert werden581. Schließlich prüft das Bundesverfassungsgericht, ob dieser Eingriff durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt sein könnte. Eine Rechtfertigung unter dem Aspekt des staatlichen Erziehungsauftrag des Art. 7 Abs. 1 GG lehnt das Bundesverfassungsgericht ab. Zwar könne im Rahmen des staatlichen Erziehungsauftrages auf die positive Religionsfreiheit christlicher Eltern Rücksicht genommen werden. Bei Konflikten zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit hat nach Ansicht des Gerichts der Gesetzgeber einen Ausgleich nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu suchen. Im neutralen Staat seien die christlichen Bezüge dabei jedoch auf die Anerkennung des Christentums als Kulturfaktor beschränkt. Diese Grenze überschreite die Anbringung von Kreuzen jedoch, weil für das Bundesverfassungsgericht das Kreuz nicht auf ein allgemeines Zeichen abendländischer Kulturtradition reduziert werden könne, sondern Glaubenssymbol bleibe582. Auch eine Rechtfertigung unter dem Aspekt der positiven Glaubensfreiheit der Eltern und Schüler christlichen Glaubens 578
BVerfGE 93, 1. Zustimmend aus der italienischen Literatur G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 307; S. Mancini, La contesa, S. 152; dies., Taking Secularism, S. 188; M. Manco, S. 52 f.; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 172 f.; I. Pasquali Cerioli, S. 146; E. Rossi, S. 365; P. Veronesi, Una „croce“, S. 1072. 580 BVerfGE 93, 1, 15 f. 581 BVerfGE 93, 1, 17 ff. 582 BVerfGE 93, 1, 21 ff. 579
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scheidet für das Gericht aus, weil die Lösung des Konfliktes zwischen positiver und negativer Glaubensfreiheit nicht nach dem Mehrheitsprinzip erfolgen dürfe und Art. 4 Abs. 1 GG keinen uneingeschränkten Anspruch auf Glaubensbetätigung im Rahmen staatlicher Institutionen verleihe583. Auf die weltanschaulich-religiöse Neutralität geht die Begründung des Beschlusses an zwei Stellen ein. Zum einen wird sie im Rahmen des Schutzbereiches erläutert, wobei etwas unklar bleibt, ob die weltanschaulich-religiöse Neutralität sich schon aus Art. 4 Abs. 1 GG allein oder erst aus dem Zusammenspiel mit den anderen Normen, die in der Regel zur Begründung der Neutralität herangezogen werden, ergibt584. Das Bundesverfassungsgericht zählt nicht nur unter Bezugnahme auf frühere hierzu ergangene Entscheidungen einzelne Elemente des Neutralitätsgrundsatzes, wie das Nichtidentifikationsgebot, das Verbot staatskirchlicher Rechtsformen sowie das Verbot der Privilegierung oder Diskriminierung bestimmter Bekenntnisse, auf, sondern betont an dieser Stelle auch den Zweck der weltanschaulich-religiösen Neutralität, den religiösen Frieden der Gesellschaft zu gewährleisten585. Zum anderen sind es Inhalte, die häufig mit dem Begriff der weltanschaulich-religiösen Neutralität belegt werden und die – ohne an dieser Stelle ausdrücklich den Begriff der Neutralität zu verwenden – als Schranken-Schranken zur Begrenzung der Einbeziehung (kultur)christlicher Elemente in den staatlichen Erziehungsauftrag herangezogen werden, namentlich das Verbot, staatlicherseits die Verbindlichkeit christlicher Glaubensinhalte zu beanspruchen586. Zusammenfassend ist zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zunächst festzuhalten, daß das Gericht seinem Beschluß einen grundrechtlichen Maßstab, insbesondere die negative Religionsfreiheit zugrundelegt, in den die Ausführungen zur weltanschaulich-religiösen Neutralität im Rahmen der Ausführungen zum Schutzbereich und zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung integriert werden. Im Hinblick auf den Neutralitätsgrundsatz ist an der Entscheidung weniger die Bestätigung einzelner Teilelemente dieses Grundsatzes unter Bezugnahme auf frühere Entscheidungen bemerkenswert, als vielmehr die Betonung ihres Zwecks, die friedliche Koexistenz verschiedener religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zu sichern. Was die Deutung des Symbols „Kreuz“ im schulischen Kontext angeht, ist das Bundesverfassungsgericht bemüht, ausführlich zu begründen, daß es sich um ein eindeutig christlich religiöses Symbol handelt. Schließlich ist zu bemerken, daß das Bundesverfassungsgericht anders als die zuvor befaß583 584 585 586
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
93, 93, 93, 93,
1, 1, 1, 1,
24. 16 f. 16 f. 23 f.
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ten bayerischen Verwaltungsgerichte von einem eindeutig appellativen Charakter des Kreuzes ausgeht, durch den christliche Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig ausgewiesen würden. Zwar bestreitet das Bundesverfassungsgericht nicht, daß die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen keine aktiven Verhaltensweisen von den Schülern verlange; seiner Entscheidung liegt jedoch die Idee einer aktiven Einwirkung des Kreuzessymbols auf die Schüler zu Grunde. d) Die abweichende Ansicht des Sondervotums Dieser Argumentation vermochten jedoch nicht alle Richter des Bundesverfassungsgerichts, die an diesem Beschluß mitwirkten, zu folgen. Die Richter Haas, Seidl und Söllner legten ihre abweichende Meinung in einem Sondervotum587 dar, das von der Verfassungsmäßigkeit von § 13 Abs. 1 S. 3 VSO ausging. Ausgangspunkt der Überlegungen des Sondervotums ist, daß das Grundgesetz die Zuständigkeit für das Schulrecht den Bundesländern übertragen hat und ihnen einen weiten Gestaltungsspielraum in Bezug auf die weltanschaulich-religiöse Prägung der Schulen zuweise. Diesen habe der Freistaat Bayern durch die Verankerung der christlichen Gemeinschaftsschule in Art. 135 S. 2 BV wahrgenommen, wobei von einer Beschränkung der Bejahung des Christentums auf die Anerkennung als prägender Kultur- und Bildungsfaktors auszugehen sei588. Das Kreuz wird als Symbol der überkonfessionellen christlich-abendländischen Werte und ethischen Normen identifiziert, das damit die Werte und Normen der Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule versinnbildliche589. Anschließend prüfen die Verfasser des Sondervotums die Vereinbarkeit der Anbringung von Kreuzen in Schulräumen mit der Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität einerseits und mit den Grundrechten der Beschwerdeführer aus Art. 4 Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) andererseits. Zunächst wird im Sondervotum dargelegt, daß die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität nicht als Verpflichtung zu Indifferenz oder Laizismus verstanden werden dürfe, sondern nach den Vorgaben des Art. 140 GG im Sinne einer Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirchen zu verstehen sei. Anschließend nimmt die Argumentation des Sondervotums Bezug auf die Rechtsprechung zur christlichen Gemeinschaftsschule im Zu587 BVerfGE 93, 1, 25 ff.; zustimmend aus der italienischen Literatur M. Nunziata, S. 611 ff. 588 BVerfGE 93, 1, 25 ff. 589 BVerfGE 23, 1, 28 f.
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sammenhang mit dem Neutralitätsgebot, wonach auch die christliche Gemeinschaftsschule keine missionarische Schule sein dürfe, nur ein Minimum an Zwangselementen zulässig sei und keine Verbindlichkeit christlicher Glaubensinhalte beansprucht werden dürfe, während gleichzeitig die Offenheit für andere weltanschauliche und religiöse Elemente gewährleistet sein müsse590. Auf den konkreten Fall bezogen sieht das Sondervotum die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität des Staates nicht durch die Anbringung von Kreuzen in Schulräumen verletzt. Begründet wird dies damit, daß das Vorhandensein des Kreuzes die Schüler nicht zu religiösen Verhaltensweisen zwinge und der Unterricht dadurch nicht zur missionarischen Veranstaltung werde. Außerdem stehe das Kreuz als den christlichen Konfessionen gemeinsames Symbol für die verfassungsrechtlich zulässigen Bildungsinhalte der christlichen Gemeinschaftsschule, ohne deren Charakter selbst zu ändern, und schließe auch die Berücksichtigung anderer weltanschaulich-religiöser Inhalte und Werte im Unterricht nicht aus591. Ebensowenig ist nach Ansicht der Verfasser des Sondervotums von einer Verletzung der negativen Religionsfreiheit auszugehen. In diesem Zusammenhang verweist die Argumentation der dissentierenden Richter darauf, daß der Staat durch die Schulpflicht einen maßgeblichen Lebensbereich in seine Obhut genommen habe und deshalb in diesem Bereich auch Raum zur Entfaltung der Freiheitsrechte zu gewähren habe. Durch das Bereithalten von sinnfälligen Symbolen werde so ein organisatorischer Rahmen für die Entfaltung der religiösen Überzeugungen geschaffen592. Ein Eingriff in die negative Religionsfreiheit der Beschwerdeführer liege hingegen nicht vor, da der bayerische Gesetzgeber bei der erforderlichen Abwägung zur Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit die Grenzen seines Gestaltungsspielraums gewahrt habe. Denn durch das Hinnehmen des Kreuzes entstünden den Beschwerdeführern keine unzumutbaren Belastungen, weil ihre psychische Beeinträchtigung durch das Vorhandensein der Kreuze nur geringes Gewicht aufweise. Das zulässige Minimum an Zwangselementen werde nicht überschritten, da – anders als beim zulässigen Schulgebet – kein Zwang ausgeübt werde, durch Nichtteilnahme abweichende Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Schließlich liege auch keine missionarische Beeinflussung vor, da von der Anbringung von Kreuzen in Schulräumen nicht unmittelbar eine Propagierung christlicher Glaubensinhalte ausgehe. Überdies würden die Schüler in Bayern auch außerhalb der Schule häufig mit Kreuzen konfrontiert593. 590 591 592 593
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
23, 23, 23, 93,
1, 1, 1, 1,
29. 29 f. 30 f. 31 ff.
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Insgesamt stellt sich § 13 Abs. 1 S. 3 VSO daher für das Sondervotum als eine zulässige Ausschöpfung des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei der Organisation des Volksschulwesens in Bayern dar594. Im Hinblick auf den Grundsatz weltanschaulich-religiöser Neutralität ist an den Ausführungen des Sondervotums zunächst bemerkenswert, daß es die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der angegriffenen Regelung in einem ersten Schritt an diesem Grundsatz prüft, bevor es sich in einem zweiten gesonderten Schritt damit auseinandersetzt, ob die negative Religionsfreiheit der Beschwerdeführer verletzt ist. Hervorzuheben ist auch das Bestreben der abweichenden Richter, den Neutralitätsgrundsatz von einem ideologischen religionsfeindlichen Laizismus abzugrenzen. Schwankend und ohne eindeutige Festlegung sind die Ausführungen des Sondervotums in der Frage, ob das Kreuz im schulischen Kontext als religiöses oder kulturelles Symbol zu begreifen ist; für beide Standpunkte lassen sich entsprechende Passagen des Sondervotums anführen. Eindeutig fußt das Sondervotum jedoch auf der Überzeugung, von der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen gehe für nichtgläubige Schüler nur eine geringfügige psychische Beeinträchtigung aus, weil dadurch weder Zwang zu aktiven religiösen Verhaltensweisen noch zur Manifestation und Offenbarung des eigenen Dissenses ausgeübt werde. e) Der Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. September 1995 Ihren Abschluß fand die erste Phase der Auseinandersetzung um das Kreuz in den Räumen bayerischer Schulen durch den Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. September 1995595, nachdem das Bundesverfassungsgericht das Verfahren an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zurückverwiesen hatte. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bejahte nun einen Anordnungsanspruch der Antragsteller, die Kreuze aus den regelmäßig von den betroffenen Schülern besuchten Unterrichtsräumen zu entfernen. Das Gericht griff die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts auf, die Konfrontation der Schüler mit dem Kreuz von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit führe zu einem Eingriff in die Glaubensfreiheit der Antragsteller. Das Gericht hielt die Konfliktsituation im konkreten Fall nur durch die Entfernung der Kreuze aus den regelmäßig besuchten Unterrichtsräumen lösbar596. 594 595 596
BVerfGE 93, 1, 34. BayVGH BayVBl. 1996, S. 26 f. BayVGH BayVBl. 1996, S. 26, 27.
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Verneint wurde dagegen ein Anspruch, die Kreuze aus sämtlichen von den betroffenen Schülern aufgesuchten und aufzusuchenden Räumen dieser Schule zu entfernen, weil den Antragstellern kein „Anspruch auf eine Schule ohne jegliche Kreuze“ zustehe. Dies begründete der Bayerische Verwaltungsgerichtshof damit, daß sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur auf die Einwirkung des Kreuzes im Rahmen des Unterrichts beziehe597. 3. Zweite Phase: Die Auseinandersetzung um Art. 7 Abs. 3 BayEUG Nachdem das Bundesverfassungsgericht mit § 13 Abs. 1 S. 3 VSO die Grundlage für die Anbringung von Schulkreuzen in Bayerischen Unterrichtsräumen für nichtig erklärt hatte, versuchte der Bayerische Gesetzgeber in Reaktion darauf, eine neue Rechtsgrundlage für die Anbringung von Klassenzimmern in Schulräumen zu schaffen und gleichzeitig den Bedenken des Bundesverfassungsgerichts, die zur Nichtigerklärung von § 13 Abs. 1 S. 3 VSO geführt hatten, Rechnung zu tragen. Nachdem zunächst ein Gutachten598 eingeholt worden war, wurde darauf aufbauend dann durch Gesetz vom 23. Dezember 1995599 Art. 7 Abs. 3 des Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) so gefaßt, daß einerseits im Grundsatz an der Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern festgehalten wird, andererseits aber eine Konfliktlösungsregelung vorgesehen wird, um den Bedenken des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der in § 13 Abs. 1 S. 3 VSO gegebenen Unausweichlichkeit der Konfrontation mit dem Kreuz zu begegnen. Art. 7 Abs. 3 BayEUG lautet: Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht. Damit kommt der Wille zum Ausdruck, die obersten Bildungsziele der Verfassung auf der Grundlage christlicher und abendländischer Werte unter Wahrung der Glaubensfreiheit zu verwirklichen. Wird der Anbringung des Kreuzes aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung durch die Erziehungsberechtigten widersprochen, versucht die Schulleiterin bzw. der Schulleiter eine gütliche Einigung. Gelingt eine Einigung nicht, hat er nach Unterrichtung des Schulamts für den Einzelfall eine Regelung zu treffen, welche die Glaubensfreiheit des Widersprechenden achtet und die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen aller in der Klasse Be597
BayVGH BayVBl. 1996, S. 26, 27. P. Badura, Das Kreuz im Schulzimmer – Inhalt und rechtliche Tragweite des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 16.5.1995, BayVBl. 1996, S. 33 ff., 71 ff. 599 BayGVBl. 1995, S. 850; hierzu L. Renck, Der Bayerische Verfassungsgerichtshof und das Schulkreuz-Gesetz, NJW 1999, S. 994 ff. 598
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troffenen zu einem gerechten Ausgleich bringt; dabei ist auch der Wille der Mehrheit, soweit möglich, zu berücksichtigen.
Diese neue Regelung wurde unmittelbar nach ihrem Erlaß zum Gegenstand der zweiten Phase der Auseinandersetzung um die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern. Zum einen wurde die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Art. 7 Abs. 3 BayEUG in einer Popularklage vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof aufgeworfen, gegen dessen Entscheidung600 anschließend Verfassungsbeschwerde601 erhoben wurde. Zum anderen gelangte ein Verfahren, in dem Eltern die Entfernung der Kreuze aus den von ihrer schulpflichtigen Tochter besuchten Schulräumen verlangten, über den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof602 zum Bundesverwaltungsgericht603. a) Die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Unmittelbar nach seinem Erlaß wurde der neue Art. 7 Abs. 3 BayEUG vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof mit mehreren Popularklagen gem. Art. 98 S. 4 Bayerische Verfassung604 (BV) angegriffen. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof kam zum Ergebnis605, daß die angegriffene Regelung mit der Bayerischen Verfassung vereinbar ist und weder gegen das Gebot weltanschaulicher Neutralität verstößt, noch das Verbot einer Staatskirche oder Grundrechte der Bayerischen Verfassung verletzt. Anders als die oben zitierten Entscheidungen zu § 13 Abs. 1 S. 3 VSO beschränkt sich die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs nicht auf eine Grundrechtsprüfung. Vielmehr setzt sich der Bayerische Verfassungsgerichtshof im ersten Teil seiner Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Art. 7 Abs. 3 BayEUG mit der Frage auseinander, ob die Anbringung von Kreuzen in staatlichen Schulen mit dem Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität, das in der Entscheidung auch als „Grundsatz der staatlichen Neutralität gegenüber Kirchen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsgemeinschaften“606 bezeichnet wird, vereinbar ist. Der Gerichtshof lei600
BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686 ff. BVerfG BayVbl. 1998, S. 79 f. 602 BayVGH BayVBl. 1998, S. 305 ff. 603 BVerwGE 109, S. 40 ff. 604 Vgl. hierzu F. Knöpfle, in: Nawiasky/Leusser/Schweiger/Zacher (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaates Bayern, München 2008, Art. 98 Abs. 4 (Stand: Mai 1992); Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, München 2009, Art. 98 Rn. 7 ff.; Th. Meder, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 4. Aufl., Stuttgart 1992, Art. 98 Rn. 7 ff. 605 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686 ff. 606 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, f. 601
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tet seine Ausführungen zur Vereinbarkeit des Kreuzes in staatlichen Schulen mit dem Neutralitätsgebot mit der Überlegung ein, welches Verständnis der Bedeutung des Kreuzes der Entscheidung zugrunde zu legen sei. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof weist darauf hin, daß das Kreuz zwar sowohl religiöses wie säkulares Symbol sein könne, daß es für den vorliegenden Fall wegen der möglicherweise daraus entstehenden Konfliktsituationen jedoch ausschließlich darauf ankomme, daß das Kreuz auch ausschließlich als religiöses Symbol des Christentums verstanden werden könne607. Den Begriff der religiös-weltanschaulichen Neutralität versteht die Entscheidung als Sammelbegriff, der „Toleranz“, „Nichtidentifikation“ und den Gleichbehandlungsgrundsatz umfasse, wobei der Staat seine Neutralität gerade durch seine Offenheit gegenüber Religionen und Weltanschauungen beweise, wie sich am von der BV vorgesehenen Miteinander von Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften zeige608. Anschließend prüft der Bayerische Verfassungsgerichtshof die Vereinbarkeit der Anbringung von Kreuzen mit den erwähnten drei Teilgehalten seines Neutralitätsbegriffs. Einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz lehnt der Bayerische Verfassungsgerichtshof ab, weil bei der Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften Differenzierungen zulässig seien, die durch tatsächliche Verschiedenheiten bedingt würden. Als solche erkennt der Bayerische Verfassungsgerichtshof einerseits die geschichtliche und kulturelle Prägung des Freistaates durch das Christentum und andererseits die Größe und Mitgliederzahl der christlichen Kirchen an609. Ebensowenig liegt nach Ansicht des Bayerische Verfassungsgerichtshof ein Verstoß gegen das Toleranzgebot vor, weil gerade durch die Konfliktlösung vermieden werde, den christlichen Glauben absolut zu setzen und somit in der Schule Raum für andere als christliche Werte und die Achtung der religiösen Überzeugungen aller bleibe610. Auch einen Verstoß gegen das Nichtidentifikationsgebot vermag der Bayerische Verfassungsgerichtshof nicht zu erkennen, da in der Anbringung des Kreuzes keine Verbindlicherklärung des christlichen Bekenntnisses liege und die Konfliktlösung zeige, daß der Staat eine ausnahmslose Festlegung und Identifikation gerade vermeiden wolle. Im übrigen gehe von der bloßen Anwesenheit des Kreuzes in Schulräumen kein geistiger Zwang auf Andersdenkende aus, ihm komme kein missionarischer Charakter zu611. Ebensowenig sieht das Gericht das Verbot der Staatskirche des Art. 142 Abs. 1 BV, das neben dem Neutralitätsgebot geprüft wird, tangiert, da 607 608 609 610 611
BayVerfGH, BayVerfGH, BayVerfGH, BayVerfGH, BayVerfGH,
BayVBl. BayVBl. BayVBl. BayVBl. BayVBl.
1997, 1997, 1997, 1997, 1997,
S. S. S. S. S.
686 f. 686, 687. 686, 687 f. 686, 688. 686, 688.
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durch das Anbringen von Kreuzen in Klassenzimmern keine organisatorische Verflechtung zwischen Staat und christlichen Kirchen geschaffen werde612. Nach Prüfung eines Verstoßes gegen diese Sätze des objektiven Verfassungsrechts untersucht das Gericht in einem zweiten Schritt, ob Art. 7 Abs. 3 BayEUG gegen Grundrechte der Bayerischen Verfassung verstößt. Dabei spricht das Gericht nicht nur die Glaubensfreiheit und das Schweigerecht hinsichtlich religiöser Überzeugungen an, sondern thematisiert auch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, den Gleichheitssatz, das elterliche Erziehungsrecht und die Vorschriften des Art. 98 S. 1, 2 BV. Die Glaubensfreiheit wird nach Ansicht des Gerichts nicht verletzt, weil durch die Möglichkeit der Konfliktlösung gem. Art. 7 Abs. 3 S. 3, 4 BayEUG die „Elemente des Zwangs und der Unausweichlichkeit entfallen, die für das Bundesverfassungsgericht ausschlaggebend waren, die Anbringung von Kreuzen in Schulzimmern [. . .] als verfassungswidrig anzusehen.“613 Auch die Bestimmung des Art. 7 Abs. 3 S. 4 Halbsatz 2 BayEUG, wonach der Wille der Mehrheit zu berücksichtigen ist, ändere daran nichts, weil sich im Konfliktfall der Wille des Widersprechenden durchsetzen müsse614. Als nächstes geht die Entscheidung der Frage nach, ob die Konfliktregelung, wonach der Widerspruch gegen die Anbringung von Kreuzen auf ernsthafte und einsehbare Gründe des Glaubens oder der Weltanschauung gestützt werden muß, das Schweigerecht des Art. 107 Abs. 5 S. 1 BV verletzt. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof lehnt eine Verletzung des Schweigerechts unter Verweis auf dessen verfassungsimmanente Schranken ab, auch wenn der Widerspruch und seine Begründung in gewissem Maße ein Bekennen bedeuteten. Zum einen könne ohne eine Begründung des Widerspruchs nicht in die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung eingetreten werden, die Voraussetzung eines schonenden Ausgleichs zwischen den konfligierenden Grundrechtspositionen sei615. Zum anderen verlange das Toleranzgebot von der Minderheit, auch die Mehrheit zu respektieren und deshalb zu begründen, warum sie das Kreuz nicht hinnehmen könne616. Schließlich entspreche es einem allgemeinen Rechtsgrundsatz, die Gründe für die Geltendmachung eines Rechtes darzulegen, was im übrigen auch der Verhinderung eines Rechtsmißbrauchs diene617. 612 613 614 615 616 617
BayVerfGH, BayVerfGH, BayVerfGH, BayVerfGH, BayVerfGH, BayVerfGH,
BayVBl. BayVBl. BayVBl. BayVBl. BayVBl. BayVBl.
1997, 1997, 1997, 1997, 1997, 1997,
S. S. S. S. S. S.
686, 686, 686, 686, 686, 686,
688. 689. 689. 689. 689 f. 690.
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Auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nach Ansicht des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs nicht verletzt, weil „die Bekanntgabe der ernsthaften und einsehbaren Gründe des Glaubens oder der Weltanschauung“ gem. Art. 7 Abs. 3 S. 3 BayEUG durch die verfassungsrechtlich geforderte Konfliktlösung selbst vorgegeben sei, wie auch schon die Ausführungen zum Schweigerecht zeigten618. Hinsichtlich des Gleichheitssatzes begnügt sich der Bayerische Verfassungsgerichtshof damit, auf seine Ausführungen zum Gleichheitssatz als Teil des Neutralitätsgebots zu verweisen619. Ebenso sei auch Erziehungsrecht der Eltern nicht verletzt, weil durch das Kreuz im Klassenzimmer das christliche Bekenntnis nicht zum Teil des allgemeinen Schulunterrichts gemacht werde und die Konfliktlösung gewährleiste, daß den individuellen Erziehungsvorstellungen der Eltern in religiöser Hinsicht Geltung verschafft werden könne620. Auch Art. 98 S. 1, 2 BV hält das Gericht angesichts der Dogmatik verfassungsimmanenter Schranken für nicht verletzt621. Abschließend stellt der Bayerische Verfassungsgerichtshof explizit fest, daß er bei der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Art. 7 Abs. 3 BayEUG nicht gem. § 31 BVerfGG durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 gebunden gewesen sei, weil die neue Regelung des Art. 7 Abs. 3 BayEUG nicht von der gleichen Unausweichlichkeit der Konfrontation mit dem Kreuz gekennzeichnet sei wie die alte Regelung des § 13 Abs. 1 S. 3 VSO. Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG lehnt der Bayerische Verfassungsgerichtshof schließlich ab, weil er bei der Entscheidung der Popularklage nicht das Grundgesetzes auslege, sondern am Maßstab der Bayerischen Verfassung prüfe622. Festzuhalten ist zu dieser Entscheidung zunächst, daß der Neutralitätsgrundsatz sich für den Bayerischen Verfassungsgerichtshof aus den drei 618 BayVerfGH, BayVBl. 1997, S. 686, 691; in datenschutzrechtlicher Perspektive hingegen sensibler R. Tosi, S. 306 f. 619 BayVerfGH, BayVBl. 1997, S. 686, 691. 620 BayVerfGH, BayVBl. 1997, S. 686, 691. 621 BayVerfGH, BayVBl. 1997, S. 686, 691. 622 BayVerfGH, BayVBl. 1997, S. 686, 691 f.; zur Frage der Bindung des Landesgesetzgebers durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts G. Biletzki, Das Kreuz im Klassenzimmer – Zur bundesverfassungsrechtlichen Zulässigkeit des neuen Art. 7 III BayEUG, NJW 1996, S. 2633 ff.; S. Detterbeck, Gelten die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch in Bayern? – Zur prozessualen Bedeutung der Kruzifix-Entscheidung vom 16.5.1995 und zur Deutung von § 31 I BVerfGG, NJW 1996, S. 426 ff.; K.-O. Knops, Erste Stimme im Konzert: Bundesverfassungsgericht und die Bindungskraft seiner Entscheidungen, KritV 1997, S. 38, 53.
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getrennt prüfbaren Teilelementen von Toleranz, Nichtidentifikation und Gleichbehandlungsgrundsatz zusammensetzt. Bemerkenswert ist, daß die Entscheidung in gewisser Weise die Prüfungsreihenfolge des Sondervotums des Bundesverfassungsgerichts aufgreifend und anders als die Entscheidungen der ersten Phase der Auseinandersetzung um die Anbringung von Kreuzen in Schulen in Deutschland versucht, die beiden Ebenen des objektivrechtlichen Neutralitätsgebots und der subjektivrechtlichen Grundrechtsgarantie in der Prüfung klar von einander zu scheiden. Deutlich wird durch diese Vorgehensweise aber gerade auch die Überschneidung zwischen dem Gleichheitssatz als Teilgehalt des Neutralitätsgebots einerseits und seiner Funktion als grundrechtlicher Verbürgung andererseits, wie sich an der Verweisung auf die Ausführungen zum Neutralitätsgebot im Rahmen der Grundrechtsprüfung zeigt623. Daneben bleibt auch das Verhältnis des Toleranzgebotes und des Nichtidentifikationsgebotes, die nach Ansicht des Gerichts beide Teilgehalte des Neutralitätssatzes sein sollen, etwas vage, werden doch zur Ablehnung eines Verstoßes gegen diese Grundsätze im wesentlichen die gleichen Argumente herangezogen. Ausgehend vom Verständnis der Kläger, das der Bayerische Verfassungsgerichtshof für seine Prüfung für maßgeblich erachtet, versteht das Bayerische Verfassungsgericht das Kreuz als religiöses Symbol. Was die Art der Einwirkung der in öffentlichen Schulen angebrachten Kreuze auf die dort lernenden Schüler angeht, erscheinen die Aussagen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs nicht vollkommen konsistent zu sein. Einerseits geht das Gericht im Rahmen seiner Ausführungen zur weltanschaulich-religiösen Neutralität davon aus, daß durch die bloße Anwesenheit des Symbols kein geistiger Zwang ausgeübt werde, während andererseits die Passagen der Entscheidung, die der Frage einer Grundrechtsverletzung nachgehen, darauf abstellen, daß durch die Widerspruchslösung eine Zwangswirkung beseitig werde; dies impliziert jedoch der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entsprechend, daß ohne diese Widerspruchslösung von der Anwesenheit des Symbols eine unzulässige Zwangswirkung ausgeht. b) Die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Gegen diese Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, die Sache nicht dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, wurde eine Verfassungsbeschwerde erhoben, die jedoch nicht zur Entscheidung angenommen wurde, weil das Bundesverfassungsgericht den Ansatz des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, er habe nicht das Grundgesetz ausgelegt, sondern nur 623
BayVerfGH, BayVBl. 1997, S. 686, 691.
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die Bayerische Verfassung, nicht zu beanstanden hatte624. Eine Aussage zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des neu gefaßten Art. 7 Abs. 3 BayEUG enthält die Entscheidung hingegen nicht. c) Die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. November 1997 Nur wenige Monate nach der Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs über die Popularklagen hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof über eine Klage zu entscheiden, mit der in einem konkreten Fall die Entfernung der Kreuze aus den regelmäßig von der Tochter der Kläger besuchten Unterrichtsräumen einer Volksschule begehrt wurde625. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof als Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz626 und bekräftigte, daß den Klägern kein Anspruch auf Entfernung von Kreuzen in Klassenzimmern, in denen ihre Tochter unterrichtet wurde, zustand. Bevor er sich mit der Frage einer Grundrechtsverletzung im konkreten Einzelfall auseinandersetzt, geht der Bayerische Verwaltungsgerichtshof – wenn auch nur kurz – auf die allgemeinere Frage der Vereinbarkeit des Anbringens von Kreuzen in Klassenzimmern mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates ein627. Dabei geht die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zum einen davon aus, daß „eine allgemein verbindliche Definition des Kreuzes“ nicht möglich sei628. Zum anderen werden die Art. 131 Abs. 2, 135 S. 2 BV als Verankerung der von den Werten und Normen des abendländischen Kulturkreises geprägten kulturchristlichen Schule in den Blick genommen, die bewirkten, daß auch staatliche Schulen keine Einrichtungen frei von religiösen Bezügen seien629. Daraus folgert der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, daß das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität den Staat nicht hindere, durch Kreuze den Charakter der Schule als christlicher Gemeinschaftsschule symbolisch zum Ausdruck zu bringen, wie dies Art. 7 Abs. 3 S. 2 BayEUG vorsehe630. Der 624
BVerfG BayVBl. 1998, S. 79 f.; hierzu M. Sachs, Abweichung vom KruzifixBeschluß, JuS 1999, S. 78 f.; J. Schmittmann, Anmerkung zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Oktober 1997 – 1 BvR 1604, 1615 und 1659/97, VR 1998, S. 34. 625 BayVGH BayVBl. 1998, S. 305 ff. 626 Die vorinstanzliche Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist – soweit ersichtlich – nicht veröffentlicht. 627 BayVGH BayVBl. 1998, S. 305. 628 BayVGH BayVBl. 1998, S. 305. 629 BayVGH BayVBl. 1998, S. 305. 630 BayVGH BayVBl. 1998, S. 305.
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Bayerische Verwaltungsgerichtshof akzeptiert damit die Anbringung des Kreuzes, das nicht als religiöses Zeichen, sondern als Ausdruck der auf christlichen und abendländischen Werten basierenden Bildungsziele der Schule verstanden wird. Darin liegt nach Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch nicht von vornherein und unabhängig vom Einzelfall ein Verstoß gegen die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG begründet, da davon auszugehen sei, daß die Mehrheit der Eltern das Kreuz als Symbol wertgebundener Erziehung zumindest billige631. Weil das Kreuz vom Einzelnen auch als religiöses Symbol, als Bekenntnis zum Glauben, verstanden werden könne, wie dies die Kläger tun, untersucht die Entscheidung dann, ob im konkreten Fall eine Verletzung der negativen Religionsfreiheit vorliege, indem die Schüler zwangsweise mit einem missionarischen Symbol konfrontiert werden632. Den potentiellen Konflikt zwischen der staatlichen Schulhoheit als Grundlage der Anbringung von Kreuzen und der individuellen Glaubensfreiheit hält der Bayerische Verwaltungsgerichtshof jedoch unter Verweis auf die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs durch die Widerspruchsregelung des Art. 7 Abs. 3 S. 3, 4 BayEUG ausreichend bewältigt. Denn einerseits biete die Widerspruchsregelung die Gewähr dafür, daß sich auch die Minderheit der Eltern, die eine Entfernung des Kreuzes wünschten, durchsetzen könnten, andererseits biete das Erfordernis ernsthafter und einsehbarer Gründe eine Gewähr, daß auch die ebenfalls im Grundrecht der Glaubensfreiheit wurzelnden Wünsche der Eltern, denen an einer religiösen Erziehung in der Schule gelegen sei, nicht von jedem beliebigen – nicht von Glaubens- und Gewissensmotiven geprägten – Verlangen, Kreuze zu entfernen, verdrängt würden. Gleichzeitig werde so ein Rechtsmißbrauch verhindert633. Dieses Erfordernis, den Widerspruch gegen die Anbringung von Kreuzen auf ernsthafte und einsehbare Gründe zu stützen, verstoße auch nicht gegen das Schweigerecht der Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3 S. 1 WRV bzw. Art. 107 Abs. 5 S. 1 BV. Zur Begründung greift die Entscheidung die Argumente des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs in dieser Frage auf, auf dessen Entscheidung über die Popularklage auch ausdrücklich Bezug genommen wird634. Die Prüfung dieser Gründe habe sich jedoch auf eine Mißbrauchskontrolle zu beschränken, da auch die Religionsfreiheit von „Außenseitern und Sektierern“635 geschützt sei und der Staat die Glaubens631 632 633 634 635
BayVGH BayVGH BayVGH BayVGH BayVGH
BayVBl. BayVBl. BayVBl. BayVBl. BayVBl.
1998, 1998, 1998, 1998, 1998,
S. S. S. S. S.
305. 305 ff. 305, 306. 305, 306. 305, 306.
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überzeugungen seiner Bürger nicht als „richtig“ oder „falsch“ bewerten dürfe636. Schließlich sei auch bei Vorliegen einsehbarer Gründe zu prüfen, ob andere Mittel, wie die Versetzung in eine andere Klasse, zu einem schonenderen Ausgleich mit den Positionen der Eltern, die durch die Abnahme des Kreuzes in ihren Positionen getroffen werden, führen könnten637. Auf der Ebene der Subsumption des konkreten Falles verneinte das Gericht dann das Vorliegen ernsthafter und einsehbarer Gründe, weil der Widerspruch sich auf „trivialer geschichtskritischer und gesellschaftspolitischer Ebene“ bewege und es den Klägern nicht um ihr Grundrecht, sondern um die Verwirklichung ihrer „Vorstellungen von einer Trennung von Schule und Religion im allgemeinen“638 gehe. Den Klägern würden sich nicht auf eine gefestigte innere Überzeugung von einer Weltanschauung berufen und könnten daher auch nicht daran gebunden sein. Zur Frage der Vereinbarkeit des Art. 7 Abs. 3 BayEUG mit der Bayerischen Verfassung verweist der Bayerische Verwaltungsgerichtshof auf die oben dargestellte Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, dem sich die Entscheidung auch in der Verneinung einer Bindungswirkung nach § 31 BVerfGG und einer Pflicht zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht anschließt639. Zusammenfassend zeigt sich, daß auch der Verwaltungsgerichtshof in dieser Entscheidung versucht, in seiner Prüfung die beiden Ebenen des Neutralitätsgebots und des Grundrechtsschutzes abzuschichten. Zur Begründung der Vereinbarkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen mit dem Neutralitätsgebot stützt sich die Entscheidung im wesentlichen auf das Argument, daß nach dem – für das Gericht in diesem Abschnitt seiner Prüfung offensichtlich maßgeblichen – Willen des Gesetzgebers das Kreuz nicht als missionarisch-konfessionelles, sondern als Ausdruck der in der Tradition christlich-abendländischer Kultur stehenden Gemeinschaftsschule zu verstehen sei. Im Rahmen seiner Grundrechtsprüfung hält der Gerichtshof hingegen die von den klagenden Betrachtern wahrgenommene Bedeutung des Kreuzes als religiöses Symbol für ausschlaggebend. Hinsichtlich der Einordnung der vom Symbol „Kreuz“ ausgehenden Wirkungen scheint die Entscheidung dem Bundesverfassungsgericht zu folgen. Dies wird implizit daran deutlich, daß die Widerspruchlösung als erforderlich – und auch tauglich – erachtet wird, die unausweichliche und zwangsweise Konfrontation mit den religiösen Bezügen zu beseitigen, denen die Schüler durch die Anbringung von Kreuzen ausgesetzt sind. Da die Abwägungsre636 637 638 639
BayVGH BayVGH BayVGH BayVGH
BayVBl. BayVBl. BayVBl. BayVBl.
1998, 1998, 1998, 1998,
S. S. S. S.
305, 305, 305, 305,
306. 306 f. 307. 307.
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gelung des Art. 7 Abs. 3 S. 3, 4 BayEUG vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof unter Berufung auf den Bayerischen Verfassungsgerichtshof grundsätzlich als zur Konfliktbewältigung und Garantie der negativen Religionsfreiheit ausreichend angesehen wird, setzt sich die Entscheidung im Schwerpunkt mit den an das Vorliegen „ernsthafter und einsehbarer Gründe“ zu stellenden Anforderungen auseinander. d) Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts Ein anderes Verständnis vom Umfang der Pflicht zur Darlegung der „ernsthaften und einsehbaren Gründe“ des Art. 7 Abs. 3 S. 3 BayEUG bewog das Bundesverwaltungsgericht in der nächsten Etappe der gerichtlichen Auseinandersetzung schließlich, die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aufzuheben640. Auch diese Entscheidung mißt Art. 7 Abs. 3 BayEUG zuerst an der weltanschaulich-religiösen Neutralität, bevor es die Vereinbarkeit mit der Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG prüft, die nach Ansicht des Gerichts eine verfassungskonforme Auslegung der Darlegungsanforderungen des Art. 7 Abs. 3 S. 3 BayEUG erfordert. Nach der Klarstellung, daß sich eine Verfassungswidrigkeit der Regelung des bayerischen Schulrechts nicht aus der Bindungswirkung der in BVerfGE 93, 1 veröffentlichten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergeben kann, da es durch die Widerspruchsmöglichkeit nicht an der geforderten Freiwilligkeit der „Konfrontation“ mit dem Kreuz mangele641, beschäftigt sich die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts mit dem Neutralitätsgrundsatz. Auch das Bundesverwaltungsgericht konnte in der von Art. 7 Abs. 3 BayEUG angeordneten Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern keinen Verstoß gegen den Grundsatz weltanschaulich-religiöser Neutralität erkennen. Nicht jegliches Anbringen von Kreuzen in Klassenzimmern verstoße gegen das Neutralitätsprinzip642. Das Bundesverwaltungsgericht leitet den Grundsatz der weltanschaulichreligiösen Neutralität aus Art. 3 Abs. 3, Art. 4 Abs. 1, 2, Art. 33 Abs. 3 und Art. 140 GG her. Unter Berufung auf Literatur und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird dann festgestellt, daß Neutralität nicht mit einer strikten Trennung von Kirche und Staat gleichzusetzen sei, die Bundesrepublik sei kein laizistischer Staat. Untermauert wird dieses Ergeb640 BVerwGE 109, S. 40 ff.; vgl. hierzu auch A. Nolte, Der richtige Weg von der „versorgenden“ zur „vorsorgenden“ Neutralität – Die bayerischen Schulkreuze auf dem Prüfstand des BVerwG, NVwZ 2000, S. 891 ff. 641 BVerwGE 109, S. 40, 44 f. 642 BVerwGE 109, S. 40, 45 ff.
II. Die deutsche Auseinandersetzung um das Schulkreuz
161
nis normativ mit einem Verweis auf die Präambel des GG, Art. 7 Abs. 3, 5 GG sowie Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5, 6 und Art. 141 WRV643. Dabei könne anerkanntermaßen zwischen einer „distanzierenden Neutralität im Sinne der Nichtidentifikation [des Staates] mit Religionen und Weltanschauungen“ und einer „respektierenden, vorsorgenden Neutralität“644 unterschieden werden, woran auch BVerfGE 93, 1 nichts geändert habe, da diese Entscheidung sowohl das Identifikations- und Einmischungsverbot als auch die Pflicht des Staates, einen Betätigungsraum für die Entfaltung der Person auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern, anerkenne645. Ihre Grenzen solle diese vorsorgende Neutralität, die als „staatliches Interesse an der Vorsorge für die positive Entfaltung gesellschaftlicher Kräfte“ durch „Zulassung weltanschaulich-religiöser Einflüsse im staatlichen Bereich“ definiert wird646, aber in den Prinzipien des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, das Verhältnis zu weltanschaulich-religiösen Institutionen betreffend im Paritätsgedanken als Ausdruck des Gleichheitsgebots und schließlich in der staatlichen Garantie „friedlicher Koexistenz“ der verschiedenen individuellen religiösen Überzeugungen finden. Aus der Garantie „friedlicher Koexistenz“ folge als Grenze der vorsorgenden Neutralität insbesondere ein Verbot, den religiösen Frieden der Gesellschaft durch positive oder negative Diskriminierungen bestimmter Bekenntnisse bzw. ihrer Angehöriger zu gefährden647. Nachdem das Bundesverwaltungsgericht so sein Verständnis der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates umrissen hat, beschäftigt sich die Entscheidung anschließend in Auseinandersetzung mit der Argumentation des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs mit der Vereinbarkeit der Anbringung von Kreuzen in Schulen mit dem Neutralitätsgebot. Hinsichtlich der distanzierenden Neutralität erkennt das Bundesverwaltungsgericht die Argumentation des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs an, wonach deshalb kein Verstoß gegen das Neutralitätsprinzip vorliege, weil der Gesetzgeber dem Kreuz einen „unverfänglichen Sinn beigegeben“ habe, indem Art. 7 Abs. 3 S. 2 BayEUG das Kreuz als Ausdruck der auf christlichen und abendländischen Werten gründenden schulischen Bildungsziele verstehe. Ablehnend steht das Bundesverwaltungsgericht hingegen dem Argument des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs gegenüber, die Mehrheit von Schülern und Eltern wünsche oder billige zumindest die Anbringung von Kreuzen, das das Bundesverwaltungsgericht als auf die vorsorgende 643 644 645 646 647
BVerwGE BVerwGE BVerwGE BVerwGE BVerwGE
109, 109, 109, 109, 109,
S. S. S. S. S.
40, 40, 40, 40, 40,
46. 46. 46. 47. 47.
162
A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
Neutralität bezogen versteht. Dieses Argument scheide nämlich aus, sobald Eltern hinzuträten, die die Anbringung von Kreuzen ablehnten, weil die „durch das Neutralitätsgebot geschützte ‚friedliche Koexistenz‘ gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen“648 nicht mit dem Verweis auf Mehrheitsverhältnisse gewährleistet werden könne. Gleichwohl stimmt das Bundesverwaltungsgericht im Ergebnis dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof darin zu, daß die getroffene Regelung des Art. 7 Abs. 3 BayEUG nicht gegen das Neutralitätsgebot verstoße. Denn der Landesgesetzgeber habe den ihm eröffneten Spielraum bei der Suche eines allen zumutbaren Kompromisses zur Lösung des Spannungsfeldes zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit nicht überschritten, weil keine andere Lösung dieses Spannungsfelds erkennbar sei, die im Hinblick auf das Neutralitätsgebot der Widerspruchslösung zweifelsfrei überlegen sei649. Dies ergibt sich nach Ansicht des Gerichts aus einem Vergleich der Widerspruchslösung und der daraus erwachsenden Probleme mit verschiedenen hypothetischen Alternativlösungen. Zwar würden der vorsorgenden Neutralität solche Lösungen am besten gerecht, die Konflikte von vornherein verhinderten, anstatt durch die Anbringung der Kreuze zunächst Konflikte zu schaffen und diese dann durch die Widerspruchsmöglichkeit zu lösen650. Aber nicht nur Modelle mit offener oder geheimer Abstimmung, sondern auch eine Lösung, nach der vor der Anbringung von Kreuzen formularmäßig die Einstellung der Eltern dazu abgefragt und eine entsprechende Klasseneinteilung vorgenommen werden könnte, wären nach Ansicht des Gerichts mit deutlichen Nachteilen behaftet. Andererseits könnten die Nachteile der Widerspruchslösung durch ein striktes Verschwiegenheitsgebot des Schulleiters, den Ausschluß der öffentlichen Ermittlung eines Mehrheitswillens durch eine Elternversammlung und die Berücksichtigung bereits absehbarer Widersprüche bei der Klasseneinteilung vorgebeugt werden651. Nach der Feststellung der Vereinbarkeit der Anbringung von Kreuzen mit dem Neutralitätsgebot verneint die Entscheidung auch einen Verstoß der Widerspruchsregelung gegen Art. 4 Abs. 1 GG. Nach dem knappen Hinweis, die Widerspruchsregelung biete Andersdenkenden die erforderliche Ausweichmöglichkeit, so daß die Regelung dem Freiwilligkeitserfordernis des Bundesverfassungsgerichts in ausreichender Weise Rechnung trage652, setzt sich das Bundesverwaltungsgericht damit auseinander, inwieweit das 648 649 650 651 652
BVerwGE BVerwGE BVerwGE BVerwGE BVerwGE
109, 109, 109, 109, 109,
S. S. S. S. S.
40, 40, 40, 40, 40,
48. 48; kritisch hierzu C. Rathke, S. 359. 48 f. 49 f. 51.
II. Die deutsche Auseinandersetzung um das Schulkreuz
163
Erfordernis der Darlegung ernsthafter und einsehbarer Gründe mit dem Schweigerecht kompatibel ist. Danach ergebe sich aus Art. 4 Abs. 1 GG, Art. 136 Abs. 3 S. 1 WRV (i. V. m. Art. 140 GG) ein Recht, „auszusprechen und auch zu verschweigen, daß und was man glaubt oder nicht glaubt“, wie schon BVerfGE 12, 1, 4 festgestellt habe653. Die Widerspruchsregelung diene dem Ausgleich des Spannungsverhältnisses der widersprechenden Grundrechtspositionen der Eltern im Sinne der praktischen Konkordanz, weshalb entgegen dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof die zu den Offenbarungspflichten bei Kriegsdienstbefreiung und glaubensbedingter Befreiung vom Sport- und Schwimmunterricht entwickelten Grundsätze nicht anwendbar seien. Bei der Herstellung praktischer Konkordanz müßten sich zwar beide Grundrechtspositionen eine Grenzziehung gefallen lassen, da es sich aber um eine Optimierungsaufgabe handele, sei gegenüber den widersprechenden Eltern nur ein Minimum an weltanschaulich-religiösen Zwangselementen zuzulassen654. Das in der Widerspruchsregelung enthaltene Darlegungserfordernis sei daher verfassungskonform so auszulegen, daß es ausreichen müsse, wenn der Widersprechende angebe, daß er sich gegen die Anbringung des Kreuzes in der Klasse wende. Zur Herstellung des erforderlichen Zusammenhangs mit der Glaubensfreiheit müsse es ausreichen, geltend zu machen, daß der Widersprechende aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen religiöse Einflußnahme auf die Erziehung seines Kindes durch die Präsenz von Kreuzen ablehne. Darin liege das zumutbare Minimum an Offenbarungspflicht, das den Widersprechenden auch bei der Abmeldung vom Religionsunterricht treffe655. Weitergehende Anforderungen wie z. B. die Darlegung einer gefestigten inneren Überzeugung oder eines positiven Nachweises des Mißbrauchsausschlusses sowie ihrer objektiven Nachvollziehbarkeit an die Darlegungen des Widersprechenden zu stellen, lehnt das Bundesverwaltungsgericht daher im Gegensatz zur vorausgehenden Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ab656. Im Gegensatz zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof erteilt die Entscheidung Versuchen eine Absage, erhöhte Darlegungsanforderungen mit dem Argument zu rechtfertigten, daß ansonsten die negative Religionsfreiheit absoluten Vorrang erhalte. Denn einerseits bestehe außerhalb des Religionsunterrichts kein Anspruch auf Gelegenheit zu religiösen Handlungen, andererseits verbleibe auch ohne die Anbringung von Kreuzen noch Raum für die Betätigung der positiven Glaubensfreiheit in der Schule, so daß die 653 654 655 656
BVerwGE BVerwGE BVerwGE BVerwGE
109, 109, 109, 109,
S. S. S. S.
40, 40, 40, 40,
52. 52 f. 53 f. 54 ff.
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A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
Schule durch die Abnahme des Kreuzes in einzelnen Klassenzimmern nicht zur streng laizistischen Einrichtung werde. Würde man sich hingegen über den Willen der widersprechenden Minderheit hinwegsetzen, würde durch die Begünstigung einer religiös-weltanschaulichen Ausrichtung gegen das Neutralitätsgebot verstoßen und der minderheitsschützende Charakter des Art. 4 Abs. 1 GG verkannt657. Da die vorhergehende Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs an die Darlegung der Widerspruchsgründe höhere Anforderungen gestellt hatte, als nach der vom Bundesverwaltungsgericht vorgegebenen verfassungskonform einschränkenden Auslegung zulässig, hob das Bundesverwaltungsgericht diese Entscheidung auf. Es stellte gleichzeitig fest, daß der Widerspruch der Kläger trotz seines subjektiven, teilweise polemischen Einschlags den nötigen Zusammenhang des Begehrens mit der negativen Glaubensfreiheit aufwies, um als Darlegung ernsthafter und einsehbarer Gründe im oben dargelegten Sinn zu gelten. Auch eine mißbräuchliche Ausübung des Widerspruchsrechts konnte das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen658. Zusammenfassend zeigt sich so, daß auch das Bundesverwaltungsgericht dem Ansatz folgt, die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Neuregelung des Bayerischen Gesetzgebers in zwei getrennten Schritten zu überprüfen: Es geht dabei – wie zuvor schon der Bayerische Verfassungsgerichtshof und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof – im ersten Schritt auf den Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität ein, bevor er sich im zweiten Schritt mit der grundrechtlichen Zulässigkeit auseinandersetzt. Im Bereich des Neutralitätsgrundsatzes nimmt das Bundesverwaltungsgericht eine Unterscheidung in eine „distanzierende“ und eine „vorsorgende“ Neutralität vor, die sich in dieser Begrifflichkeit in keiner der anderen untersuchten Entscheidungen findet, in ihrem Inhalt jedoch auf anerkannte Elemente des Neutralitätsgrundsatzes abstellt: Einmischungs- und Identifikationsgebot einerseits, Offenheit gegenüber individuellen religiösen Überzeugungen andererseits. Schließlich greift das Bundesverwaltungsgericht auch die Formel des Bundesverfassungsgerichts auf, der neutrale Staat dürfe den religiösen Frieden nicht von sich aus gefährden und weist somit gleichzeitig auf die Grenzen der Offenheit hin. In der Frage der für die Entscheidung maßgeblichen Bedeutung des Symbols „Kreuz“ folgt das Bundesverwaltungsgericht dem gespaltenen Ansatz des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Für die Prüfung der Vereinbarkeit mit dem Neutralitätsgrundsatz erkennt das Gericht an, daß der 657 658
BVerwGE 109, S. 40, 56 f. BVerwGE 109, S. 40, 57 f.
III. Die deutsche und italienische Rechtsprechung
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bayerische Gesetzgeber dem Symbol einen „unverfänglichen Sinn“ gegeben habe, womit die Bestimmung des Art. 7 Abs. 3 S. 2 BayEUG gemeint ist, die das Kreuz als Symbol abendländischer Bildungswerte definiert. Im Rahmen seiner Grundrechtsprüfung nimmt das Gericht hingegen die Perspektive der Eltern ein, die der Anbringung von Kreuzen widersprechen und in der Präsenz des Kreuzes eine religiöse Einflußnahme auf ihre Kinder sehen. Im Hinblick auf die Intensität dieser Einflußnahme geht das Bundesverwaltungsgericht dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts folgend davon aus, daß diese Einwirkung so stark ist, daß Mittel zur Beseitigung der Unausweichlichkeit und der damit zusammenhängenden Zwangswirkung erforderlich sind. Die Widerspruchslösung des Bayerischen Gesetzgebers erachtet das Bundesverwaltungsgericht schließlich als taugliches Mittel hierzu, sofern die Widerspruchshürde verfassungskonform niedrig gehalten wird659.
III. Die deutsche und italienische Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen im Vergleich Vergleicht man die gerichtliche Auseinandersetzung um die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen in Deutschland und Italien, so fällt bei ganz oberflächlichem Zugriff zunächst auf, daß diesseits wie jenseits der Alpen eine komplexe Prozeßgeschichte vorliegt, in deren Verlauf auf beiden Seiten nicht nur Verwaltungsgerichte aller Instanzen, sondern auch die jeweiligen Verfassungsgerichte angerufen wurden. Obgleich in beiden Rechtsordnungen die Verfassungsgerichte mit der Frage der Schulkreuze befaßt wurden, zeigt sich hier bereits ein Unterschied: In der Bundesrepublik erregte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur erhebliches Aufsehen, sondern war gleichzeitig mit ihrem Postulat einer Ausweichmöglichkeit der entscheidende Fluchtpunkt, auf den hin sich sowohl der Gesetzgeber durch die Einführung der Widerspruchsregelung des Art. 7 Abs. 3 S. 3, 4 BayEUG als auch die nachfolgende verwaltungsgerichtliche Judikatur660 ausrichteten. Zwar wurde auch in Italien die Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichtshofs teilweise mit Überraschung aufgenommen661. Durch ihren prozessualen Charakter und die Überantwortung der Entscheidung an die Verwaltungsgerichtsbarkeit enthielt sich der Verfassungsgerichtshof jedoch einer Stellungnahme in der Sach659
C. Rathke, S. 358. BayVGH BayVBl. 1996, S. 26, 27; BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 691; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305, 307; BVerwGE 109, S. 40, 43, 45. 661 S. Lariccia, La laicità, S. 415, 443. 660
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A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
frage nach der Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen, weshalb diese Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichtshofs nicht annähernd die gleiche Wirkkraft ihres deutschen Pendants entfalten konnte. Ohne Entsprechung auf italienischer Seite ist die in diesem Kontext als Ausdruck des deutschen Verfassungsgerichtsföderalismus zu wertende Anrufung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, während die Involvierung von Spruchkörpern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Italien aus dem Zusammenhang mit den dortigen Schwierigkeiten der Abgrenzung der Zuständigkeiten von ordentlicher und Verwaltungsgerichtsgerichtsbarkeit zu verstehen ist. Vergleicht man die verschiedenen Rechtsfragen, mit denen sich die angerufenen Gerichte in ihren Entscheidungen auseinandersetzen, läßt sich einerseits eine Überschneidung im Kern der Fragestellung erkennen: In Deutschland wie in Italien geht es um die Vereinbarkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen mit den Grundsätzen der Neutralität bzw. laicità des Staates und – in Italien jedoch weniger ausgeprägt – den Grundrechten, die mit diesen Grundsätzen in Zusammenhang stehen. Daneben gruppieren sich um diesen Kern der Auseinandersetzung weitere teilweise als „Nebenkriegsschauplätze“ zu wertende Diskussionsstränge: In Italien sind dies die bereits angesprochene Frage des einschlägigen Rechtswegs662, der Umfang der Entscheidungskompetenz des italienischen Verfassungsgerichtshofs663 und schließlich die Diskussion um die Fortgeltung oder implizite Aufhebung der königlichen Dekrete664, während in der Bundesrepublik die Problematik der Reichweite der Bindungswirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts665, die in verschiedenen Entscheidungen der zweiten Phase der Auseinandersetzung erörtert wird666, gemeinsam mit dem Streit um die verfassungskonforme Auslegung der vom Bayerischen Gesetzgeber geforderten ernsthaften und einsehbaren Gründe667 diesen sekundären Diskussionssträngen zuzurechnen sind. Die Gegenüberstellung der in beiden Ländern für und gegen die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen vorgebrachten Argumente soll im wesentlichen den Kernbereich der Auseinandersetzung um laicità, Neutralität und negative Religionsfreiheit betreffen, während die übrigen Bereiche der Auseinander662
Vgl. oben S. 29. Vgl. oben S. 72. 664 Vgl. oben S. 65. 665 BVerfGE 93, 1. 666 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 691; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305, 307; BVerwGE 109, S. 40, 45. 667 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 689 ff.; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305, 306 f.; BVerwGE 109, S. 40, 51 ff. 663
III. Die deutsche und italienische Rechtsprechung
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setzung wegen der mangelnden Vergleichbarkeit ausgespart bleiben. Lediglich auf das Erfordernis des Art. 7 Abs. 3 S. 3 BayEUG, ernsthafte und einsehbare Gründe für den Widerspruch gegen das Schulkreuz anzugeben, wird insofern zurückzukommen sein, als diese Regelung des bayerischen Gesetzgebers in der italienischen Literatur rezipiert wurde668. Eine Gegenüberstellung der innerstaatlich letztinstanzlichen Entscheidungen von Staatsrat einerseits und Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht andererseits ergibt zunächst folgendes Bild: In Italien wird die generelle Anordnung der Anbringung von Kreuzen in Schulräumen als verfassungsgemäß und insbesondere für mit dem Grundsatz der laicità des Staates vereinbar betrachtet, ein individueller Anspruch eines Schülers bzw. seiner Eltern auf Entfernung des Kreuzes existiert nicht. Zwar wird auch in Deutschland die Anbringung von Kreuzen in Schulräumen nicht als generell verfassungswidrig und mit dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität unvereinbar betrachtet, doch steht dem einzelnen Schüler bzw. seinen Eltern durch die Widerspruchslösung des Art. 7 Abs. 3 S. 3, 4 BayEUG in der vom Bundesverwaltungsgericht vorgegebenen verfassungskonformen Auslegung im Einzelfall ein Anspruch auf Entfernung des Kreuzes aus Klassenzimmern der betroffenen Schüler zu, sofern nur aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen die Ablehnung der religiösen Einflußnahme auf die Erziehung des Kindes, die die Eltern in der Anwesenheit des Kreuzessymbols im Klassenraum erblicken, geltend gemacht wird669. Für ein identisches Problem wurden in den beiden Rechtsordnungen unterschiedliche Antworten gefunden, was um so bemerkenswerter erscheint, vergegenwärtigt man sich die weitgehende Übereinstimmung im Hinblick auf die Bedeutungsgehalte, die von der Rechtsprechung der beiden Verfassungsgerichte wie gezeigt670 den verfassungsrechtlichen Prinzipien der weltanschaulich-religiösen Neutralität bzw. laicità des Staates zugeschrieben werden. Ein Rechtsvergleich darf sich jedoch nicht darauf beschränken, nur die Ergebnisse einer letztinstanzlichen Rechtsprechung gegenüberzustellen. Daher soll nun im weiteren Gang der Untersuchung zum einen versucht werden herauszuarbeiten, wo die Weichenstellungen liegen, die den dargestellten Unterschieden im Ergebnis zu Grunde liegen. Zum anderen dürfen aber auch innerhalb der beiden Länder die Unterschiede in der Argumentation der verschiedenen Gerichte nicht aus dem Blick geraten. Daran anknüpfend soll ebenso aufgezeigt werden, wo sich in den Rechtsprechungen der beiden Länder, über die letztinstanzlichen Entscheidungen hinaus, ähnliche oder identische Argumentationsmuster finden. 668 669 670
Vgl. S. 262 ff. BVerwGE 109, 40, 53; vgl. hierzu auch oben S. 160 ff. s. o. S. 112 ff.
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A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
Zwei Aspekte der Urteile scheinen dabei in vergleichender Perspektive von besonderem Interesse zu sein. In einem ersten Schritt sollen die Verfassungsprinzipien der weltanschaulich-religiösen Neutralität bzw. der laicità in dogmatischer Perspektive gegenübergestellt werden. Wie werden diese weder in der italienischen Verfassung noch im Grundgesetz ausdrücklich erwähnten Prinzipien in der Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Kreuzen in öffentlichen Schulen hergeleitet? Welche Inhalte werden diesen Verfassungsgrundsätzen zugeschrieben? Zum anderen soll der Sachfrage nach der Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen genauer nachgegangen werden. An welchem Prüfungsmaßstab messen die verschiedenen Urteile die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen? Welche Bedeutung des Kreuzessymbols wird in den Entscheidungen zugrundegelegt? Welche Argumente werden schließlich für bzw. gegen die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen vorgetragen? 1. Neutralität und laicità in der Rechtsprechung zum Kreuz in Schulen a) Herleitung von Neutralität und laicità Wird mit nicht ausdrücklich im Verfassungstext erwähnten Begriffen, Konzepten, Grundsätzen und Prinzipien argumentiert, stellt sich die Frage, ob bzw. wie diese ungeschriebenen Figuren aus dem Verfassungstext hergeleitet werden können. Wie bereits gezeigt, existiert sowohl in Deutschland wie in Italien eine relativ gefestigte Rechtsprechung, die die ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Grundsätze der laicità bzw. der Neutralität aus einer Kombination von Religionsfreiheit, gleichheitsrechtlichen Verbürgungen und Verfassungsnormen, die das institutionelle Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften – insbesondere christlichen Kirchen – betreffen, ableitet671. In der in den Vergleich einbezogenen Rechtsprechung zum Kreuz in Schulen sind im wesentlichen keine davon abweichenden Ansätze erkennbar. Zwar finden sich sowohl in Deutschland wie in Italien in der Rechtsprechung der Untergerichte Entscheidungen, die auf eine Herleitung der weltanschaulich-religiösen Neutralität völlig verzichten672 oder sich zur Be671
Vgl. hierzu S. 111 f. VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345; BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 752; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305. Daß das Sondervotum zur Kruzifixentscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine Herleitung des Grundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität enthält, dürfte sich im wesentlichen daraus erklären, daß 672
III. Die deutsche und italienische Rechtsprechung
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gründung des Grundsatzes der laicità mit einem pauschalen Verweis auf die Rechtsprechung von italienischem Verfassungsgerichtshof und italienischem Kassationshof673 begnügen, doch ist offensichtlich, daß von einer Nichtbegründung bzw. Nichtherleitung eines ungeschriebenen Verfassungsgrundsatzes kein Impuls für die Beantwortung der dogmatischen Frage nach der normativen Grundlage des betroffenen ungeschriebenen Verfassungssatzes ausgehen kann. Soweit die untersuchten Entscheidungen hingegen Normen zitieren, aus denen Neutralität und laicità abgeleitet werden können, bleibt die Rechtsprechung zum Kruzifix im Hinblick auf die Herleitung der Verfassungsgrundsätze der weltanschaulich-religiösen Neutralität bzw. der laicità des Staates in den Bahnen der hergebrachten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. In Italien leiten die Verwaltungsgerichte unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes die laicità aus der allgemeinen Bekräftigung der Grundrechte des Art. 2 it. Verf., der Religionsfreiheit der Art. 19, 20 it. Verf., dem Gleichheitssatz des Art. 3 it. Verf. und Art. 7, 8 it. Verf., die das institutionelle Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften betreffen, ab674. In Deutschland leiten Bundesverfassungsgericht675 und Bundesverwaltungsgericht676 den Grundsatz weltanschaulich-religiöser Neutralität aus Art. 3 Abs. 3, Art. 4 Abs. 1, 2, Art. 33 Abs. 3 und Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1, 4, Art. 137 Abs. 1 WRV ab, mithin ebenso aus einer Gesamtschau der Religionsfreiheit, besonderer Ausprägungen des Gleichheitssatzes und institutioneller Vorschriften. Der gleichen Linie folgt der Bayerische Verfassungsgerichtshof, wenn er die Religionsfreiheit des Art. 107 Abs. 1 BV, den Gleichheitssatz des Art. 118 Abs. 1 BV und das Verbot der Staatskirche des Art. 142 Abs. 1 BV heranzieht677. Auch wenn somit in Konkordanz mit der sonstigen Rechtsprechung von italienischem Verfassungsgerichtshof und Bundesverfassungsgericht zu laicità und weltanschaulich-religiöser Neutralität eine grundsätzliche Übereinstimmung in der Ableitung dieser ungeschriebenen Verfassungsgrundsätze aus dem Verfassungstext festzustellen ist, bleibt dennoch darauf hinzuweidas Sondervotum in der Frage der Ableitung der weltanschaulich-religiösen Neutralität aus dem Text des Grundgesetzes nicht von der Ansicht der Senatsmehrheit abweicht. 673 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1283 ff. 674 Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 239; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 334. ff.; Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 186. 675 BVerfGE 93, 1, 16 f. 676 BVerwGE 109, 40, 45. 677 BayVerfGH, BayVBl. 1997, S. 686, 687.
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A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
sen, daß die zu Grunde liegende Normkette in Deutschland etwas weniger „kanonisiert“ zu sein scheint als in Italien. Denn einerseits beläßt es das Bundesverwaltungsgericht dabei, Art. 140 GG zu zitieren, ohne eine genauere Aussage zu treffen, auf welche der über Art. 140 GG inkorporierten Normen der WRV es sich beziehen möchte678. Andererseits haftet den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts eine gewisse Ambiguität an, ob sich nach Ansicht des Gerichts die weltanschaulich-religiöse Neutralität schon allein aus Art. 4 Abs. 1 GG ergeben soll – hierauf scheint die erste Passage der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur weltanschaulich-religiösen Neutralität im Kruzifix-Beschluß hinzudeuten679 – oder ob sich dieser Grundsatz doch erst aus dem Zusammenspiel mit den übrigen im zweiten Teil der Ausführungen zur weltanschaulich-religiösen Neutralität zitierten Vorschriften der Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 1680, Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1, 4, Art. 137 Abs. 1 WRV ergibt681. Man mag darin einen Ausdruck der Schwierigkeiten sehen, das Verhältnis zwischen dem Neutralitätsgrundsatz und dem ihm zu Grunde liegenden Grundrecht der Religionsfreiheit zu klären und beide abzugrenzen. Aus der Herleitung des jeweiligen Verfassungsgrundsatzes lassen sich angesichts der weitgehenden Übereinstimmung in dieser Frage jedoch keine eindeutigen Hinweise im Hinblick darauf gewinnen, ob eine Entscheidung die Anbringung des Kreuzes generell oder nur unter bestimmten Bedingungen für zulässig erachtet bzw. ob sie im Einzelfall einen Anspruch auf Entfernung des Kreuzes aus Schulräumen zubilligt. Es läßt sich nämlich keine bestimmte Zuordnung dahingehend vornehmen, daß bestimmte Ergebnisse hinsichtlich der Zulässigkeit der Anbringung von Kruzifixen mit ganz bestimmten Ansätzen in der Herleitung der Grundsätze von laicità und Neutralität korrespondieren würden. b) Inhaltliche Bedeutung von Neutralität und laicità Die hinsichtlich der Frage nach der Herleitung der Grundsätze von weltanschaulich-religiöser Neutralität und laicità getroffene Feststellung, daß die Rechtsprechung zum Kruzifix in diesem Punkt in Übereinstimmung mit der ständigen verfassungsrechtlichen Rechtsprechung zu diesen beiden Verfassungsprinzipien steht, kann grundsätzlich auch auf die Bedeutungsge678
BVerwGE 109, 40, 45. BVerfGE 93, 1, 16. 680 Bei dem Verweis auf den im föderalen Kontext stehenden Art. 33 Abs. 1 GG statt auf Art. 33 Abs. 3 GG dürfte es sich um einen offensichtlichen Schreibfehler handeln. 681 BVerfGE 93, 1, 17. 679
III. Die deutsche und italienische Rechtsprechung
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halte, die in der Rechtsprechung zum Kreuz in Schulräumen mit Neutralität und laicità identifiziert werden, übertragen werden, sofern die Urteile überhaupt umfangreichere Ausführungen enthalten, welche Inhalte mit diesen Begriffen zu verbinden sind. Gerade in der deutschen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist dies nicht durchweg der Fall682. Alle drei Ebenen von Neutralität und laicità, die die ständige Rechtsprechung der Verfassungsgerichte in Deutschland und Italien hierzu prägen, finden sich auch in der Kruzifix-Rechtsprechung wieder: die grundsätzliche Scheidung von Staat und Religion bei gleichzeitiger Offenheit gegenüber weltanschaulichreligiösen Überzeugungen und nicht zuletzt das Gebot der Gleichbehandlung. Die zur ersten Ebene der grundsätzlichen Scheidung von Staat und Religion gehörigen Gedanken einer institutionellen Trennung und eines Gebotes der Nichtidentifikation des Staates mit religiösen Inhalten finden sich sowohl in der deutschen wie in der italienischen Rechtsprechung683. Auch wenn die italienische Rechtsprechung nicht unmittelbar die Begrifflichkeit einer „(non-)identificazione“ gebraucht, ist diese Idee doch klar in Formulierungen wie „Akonfessionalität“684 des Staates und der Rede von den unterschiedlichen „Dimensionen“, denen „weltliche und geistliche Ordnung“685 angehören, enthalten. Auch das andere zur Scheidung von Staat und Religion gehörige Element eines Verbots staatlicher Einmischung in innerreligiöse Angelegenheiten findet sich in der Kruzifix-Rechtsprechung – zumindest ansatzweise – wieder686, ausdrücklich in Deutschland allerdings nur in den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts687. Ohne dies explizit als Ausdruck der weltanschaulich-religiösen Neutralität zu benennen, 682
Namentlich BayVGH BayVBl. 1998, S. 305 verwendet den Begriff der weltanschaulich-religiösen Neutralität nämlich ohne weitere Ausführungen zu dessen Bedeutungsgehalt. 683 BVerfGE 93, 1, 17; BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 687; BVerwGE 109, 40, 46.; Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 334; Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 186; der Beschluß des Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284 spricht von der Neutralität öffentlicher Einrichtungen gegenüber ideologischen Inhalten; isoliert, ohne Echo in obergerichtlicher Rechtsprechung und ohne Pendant in Italien steht demgegenüber die Ansicht des VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345, das anzweifelt, ob das Nichtidentifikationsgebot im schulischen Bereich überhaupt einschlägig ist. 684 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 334; der Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240 spricht von „nonconfessionalità“. 685 Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240; Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 186. 686 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 334; Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 186. 687 BVerwGE 109, 40, 46.
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findet sich dieser Gedanke in gewisser Weise auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wieder und zwar insofern, als das Gericht es für unzulässig erachtet, dem Symbol des Kreuzes eine andere als die christlichreligiöse Bedeutung beizumessen, weil dies eine dem „Selbstverständnis des Christentums [. . .] zuwiderlaufende Profanisierung des Kreuzes“688 bedeutete. In den Zusammenhang dieser ersten Ebene der Scheidung von Staat und Religion sind auch Ausführungen verschiedener Entscheidungen einzuordnen, die eine Bedeutung von laicità bzw. Neutralität darin erkennen, daß die Schule keine Verbindlichkeit von Glaubensinhalten beanspruchen689 und keinen Glauben vorschreiben690 dürfe. Dabei scheinen es gerade solche Entscheidungen, die die Anbringung von Kreuzen in Schulräumen ohne Einschränkungen billigen, zu sein, die dieses Verbot ausdrücklich in Bezug zu Neutralität und laicità setzen. Sehr stark betont wird von vielen, insbesondere allen italienischen Entscheidungen, die dritte Ebene der weltanschaulich-religiösen Neutralität: Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung. Laicità und Neutralität verlangen, die verschiedenen Religionsgemeinschaften am Gleichheitssatz orientiert zu behandeln bzw. verbieten Ungleichbehandlungen, Diskriminierungen und Privilegierungen bestimmter Bekenntnisse691. Die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Venetien beziehen sich überdies mit der Formel der „Äquidistanz“692 auf das wiederholt vom italienschen Verfassungsgerichtshof postulierte Gebot gleichen Abstands zu den Religionsgemeinschaften693. Damit sind in der Rechtsprechung zum Schulkreuz in diesem Punkt kaum Abweichungen zur ständigen Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und italienischem Verfassungsgerichtshof zu Neutralität und laicità erkennbar, gleich welche Position die Entscheidungen im Ergebnis zum Kruzifix einnehmen. Nicht unterschlagen werden darf jedoch im Kontext der gleichheitsrechtlichen Ebene von laicità und Neutralität, daß der Beschluß aus L’Aquila und der Vorlagebeschluß 688
BVerfGE 93, 1, 20. So das Sondervotum in BVerfGE 93, 1, 29; VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345, 346; BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 752, der diese Aussage z. T. unter das Neutralitätsgebotes faßt, z. T. aber auch vom Toleranzgebot spricht; ebenso der Sache nach BVerfGE 93, 1, 23 ohne aber an dieser Stelle ausdrücklich den Neutralitätsgrundsatz beim Namen zu nennen. 690 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 334. 691 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 334; Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 186; BVerfGE 93, 1, 17; BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 687 f.; BVerwGE 109, 40, 47. 692 Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 334. 693 Vgl. S. 83 ff. 689
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des Verwaltungsgerichts Venetien laicità als Synonym von Unparteilichkeit694 verstehen und ihre Ansicht von der Verfassungswidrigkeit der Anbringung von Kreuzen an öffentlichen Schulen auch mit dem Argument, darin liege eine unzulässige Privilegierung, begründen695. Schließlich findet sich auch die Offenheit gegenüber weltanschaulich-religiösen Überzeugungen in den Definitionen von Neutralität und laicità, mit denen in den verschiedenen Entscheidungen zur Zulässigkeit von Kreuzen in öffentlichen Schulen operiert wird, wieder. Auf italienischer Seite ist hier insbesondere die Entscheidung des Staatsrates zu nennen, die zunächst bestimmte Verfassungsnormen mit bestimmten Elementen des Begriffs der laicità identifiziert und dann daraus auf einen favor religionis696, eine positive Grundeinstellung der italienischen Verfassung zum Religiösen und zu Religionsgemeinschaften, schließt697. In Deutschland findet sich diese Offenheit nicht zuletzt in der Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs698 und auch in der „vorsorgenden Neutralität“699 des Bundesverwaltungsgerichts sowie im Sondervotum zum Kruzifixbeschluß des Bundesverfassungsgerichts, wo auf die Zusammenarbeit des Staates mit Kirchen und Religionsgesellschaften verwiesen wird700. Nur angedeutet ist diese Offenheit in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die davon spricht, daß die weltanschaulich-religiöse Neutralität eine „Ausgrenzung Andersgläubiger“ verbiete701, und im übrigen die mögliche Zusammenarbeit des Staates mit Religionsgemeinschaften nur im Zusammenhang mit deren Grenzen erwähnt702. In einigen sowohl der deutschen wie der italienischen Entscheidungen erfährt der Aspekt der Offenheit für weltanschaulich-religiöse Überzeugungen eine Verstärkung und Betonung dadurch, daß die positiven Definitionen von Neutralität und laicità um eine Definition ex negativo ergänzt werden. So 694
Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1285; Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240. 695 Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240; Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284 f. 696 Zu diesem in der italienischen Literatur häufig verwendeten Begriff, beispielhaft für viele A. Oddi, Il principio, S. 248 m. w. N.; A. Guazzarotti, Crocifisso, S. 178; I. Nicotra, S. 234; M. Olivetti, S. 3972, 3978; S. Sicardi, S. 501, 504, 511, 539. 697 Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 186. 698 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 687. 699 BVerwGE 109, 40, 46 f. 700 BVerfGE 93, 1, 29. 701 BVerfGE 93, 1, 17; ähnlich das Sondervotum BVerfGE 93, 1, 29 und BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 752 in der Form einer Offenheit für andere als christliche Elemente. 702 BVerfGE 93, 1, 17.
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A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
grenzt in Italien das Urteil des Verwaltungsgerichts Venetien sein Verständnis italienischer laicità ausdrücklich von einem ideologischen religionsfeindlichen Laizismus und der französischen laïcité ab; laicità bedeute gerade nicht die Ablehnung von Religion und Religiosität703. Und auch der Staatsrat betont, daß eine „ideologische Interpretation der laicità“, die weltliche und geistliche Ordnung als Gegensatz begreift, keine Grundlage in der italienischen Verfassung finden könne704. Ähnliche Ausführungen finden sich in Bezug auf die Neutralität auch in der deutschen Rechtsprechung. Nach dem Sondervotum zum Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts birgt die weltanschaulich-religiöse Neutralität der Bundesrepublik keine Verpflichtung „zur Indifferenz oder zum Laizismus“705 in sich. Auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht stellen fest, daß die Bundesrepublik kein laizistischer Staat mit einer strikten (laizistischen) Trennung von Staat und Kirche sei706. Durch die Verwendung der Begriffe „laizistisch“ und „Laizismus“, die im deutschen Sprachgebrauch mit dem französischen Modell der Beziehungen von Staat und Religion assoziiert werden, erfolgt auch hier eine Abgrenzung gegenüber dem Modell der als religionsfeindlich konnotierten französischen laïcité707. Auf eine derart starke negative Definition weltanschaulich-religiöser Neutralität verzichtet hingegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die nur ausführt, daß der weltanschaulich-religiöse Staat die kulturelle Prägekraft des christlichen Glaubens für die historisch verwurzelten Wertüberzeugungen nicht abstreifen könne708. Damit sind es gerade die Entscheidungen, die die Anbringung von Kreuzen in Schulräumen in Hinsicht auf laicità und Neutralität für unbedenklich halten, die diese beiden Verfassungsprinzipien durch eine starke negative Definition zu konturieren versuchen. Demgegenüber enthält der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts – und darauf bezugnehmend das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts – einen anderen Gedanken, der in den anderen in den Vergleich einbezogenen Urteilen so unmittelbar nicht zu finden ist. Das Bundesverfassungsgericht äußert sich nicht nur zu den einzelnen Bedeutungsgehalten der weltanschaulich-religiösen Neutralität, sondern bestimmt auch den Zweck des Neutralitätsgrundsatzes. Die weltanschaulich-religiöse Neutralität dient nach Ansicht des Gerichts der Gewährleistung der friedlichen Koexistenz 703
TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 334 f. Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 187. 705 BVerfGE 93, 1, 29. 706 BVerwGE 109, 40, 46; BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 687. 707 Vgl. beispielsweise A. v. Campenhausen, Art. 140, Rn. 21, bei dem von „laizistischer Unduldsamkeit“ die Rede ist. 708 BVerfGE 93, 1, 22. 704
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unterschiedlicher und auch gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen. Auch wenn es eine Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften nicht per se verbietet, soll das Neutralitätsgebot verhindern, daß der Staat „den religiösen Frieden von sich aus gefährde[t]“709. Zusammenfassend ergibt sich damit hinsichtlich der Inhalte, die die deutsche und italienische Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen mit den Begriffen laicità und weltanschaulich-religiöse Neutralität identifiziert, folgendes Bild: Die diesen beiden Verfassungsprinzipien im Wege positiver Definition zugeschriebenen Inhalte bewegen sich im wesentlichen in den Bahnen der ständigen verfassungsrechtlichen Rechtsprechung zu laicità und Neutralität und nehmen so zu Recht auf diese Bezug. Neue Impulse gehen hinsichtlich der mit laicità und Neutralität identifizierten Inhalte von dieser Rechtsprechung aber nicht aus. Eine eindeutige Zuordnung in dem Sinne, daß bestimmte positive Definitionen mit einer bestimmten Position im Ergebnis der Entscheidung über die Zulässigkeit des Kreuzes identifiziert werden könnten, ist nicht möglich. Hingegen ist festzustellen, daß Entscheidungen, die (unter bestimmten Bedingungen) die Anbringung von Kreuzen in Schulen für verfassungsrechtlich unbedenklich halten, die positive Definition von laicità und Neutralität um eine negative Definition, insbesondere um eine Abgrenzung zum französischen Modell der laïcité, ergänzen. Im Gegenzug scheint eine eher kritische Haltung zur Anbringung von Kreuzen in Schulzimmern in Deutschland mit einer Betonung der Sicherung des (inter-)religiösen Friedens als Zweck der Neutralität zu korrelieren. Unterstellt man, daß mit der Verfolgung des Zwecks der Friedenssicherung ein Bild des Staates als Schiedsrichter korrespondiert, der vermittelnd über den verschiedenen Religionsgemeinschaften steht, so liegt es nahe, eine Verbindungslinie zum Vorlagebeschluß des Verwaltungsgericht Venetien und der Entscheidung aus L’Aquila zu ziehen. Für beide Entscheidungen, die von einer Verfassungswidrigkeit der Anbringung von Kreuzen ausgehen, bedeutet laicità Unparteilichkeit, so daß sich hier ähnliche Anklänge an eine schiedsrichterliche Position des Staates gegenüber den verschiedenen Religionsgemeinschaften finden. Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schon im Rahmen der Herleitung und Begründung der weltanschaulich-religiösen Neutralität diagnostizierten Probleme, das Verhältnis zwischen dem ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz der Neutralität und den positiven Verfassungsnormen, aus denen der Grundsatz gewonnen wird, zu klären, auch in Italien im Urteil des Staatsrates eine gewisse Entsprechung finden. Hier zeigen sich genauso Schwierigkei709 BVerfGE 93, 1, 16 f.; sowie unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Bundesverfassungsgericht BVerwGE 109, 40, 47 f.
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A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
ten, den Grundsatz der laicità und zu Grunde liegende Vorschriften abzugrenzen: Einerseits scheint der Staatsrat den Grundsatz der laicità im Kern als Summe des normativen Gehalts der Einzelvorschriften verstehen zu wollen, aus denen der Grundsatz abgeleitet wird710. Andererseits sind es aber dann nicht die einzelnen Vorschriften oder ihre zuvor dargelegten normativen Inhalte, die als Maßstab, an dem die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen gemessen wird, herangezogen werden, sondern der Grundsatz laicità insgesamt und als solcher.711 2. Prüfungsmaßstäbe für die Zulässigkeit von Kreuzen in öffentlichen Schulen Das Urteil des Staatsrates weist damit nicht nur auf das Problem des Verhältnisses zwischen dem Grundsatz der laicità und den diesem Grundsatz zu Grunde liegenden Normen hin, sondern richtet das Augenmerk auch auf einen anderen Aspekt, der zur Gegenüberstellung der deutschen und italienischen Rechtsprechung zum Schulkreuz einlädt, nämlich die Frage des Prüfungsmaßstabs, an dem die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen gemessen wird. Der Begriff „Prüfungsmaßstab“ soll dabei die im Verfassungstext verankerten oder aus ihm abgeleiteten Regeln des Verfassungsrechts bezeichnen, die für die Beurteilung der Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen herangezogen werden. Jene Regeln also, von denen es im Obersatz bzw. im Ergebnis der Urteilsgründe heißt, daß sie der Anbringung „entgegenstehen“712 oder „nicht entgegenstehen“713, daß die Anbringung mit ihnen „kompatibel“714, „vereinbar“715 oder „unvereinbar“716 sei, daß die Anbringung gegen sie „verstoße“ oder „nicht verstoße“717, daß sie die Anbrin710
Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 186. Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 187 f.; den methodisch gegensätzlichen Weg beschreitet hingegen die Entscheidung des BayVerfGH, die die einzelnen Teilbedeutungen nacheinander abzuarbeiten versucht BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 687 f. 712 Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240; Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284 f. 713 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 687; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 340. 714 Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 185; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 333. 715 Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240. 716 BVerfGE 93, 1, 24. 717 BVerfGE 93, 1, 25; BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 688; BVerwGE 109, 40, 45, 51; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305. 711
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gung „hinderten“ oder „nicht hinderten“718 oder daß die Anbringung sie „verletze“719 oder „nicht verletze“720. Eine Analyse der verschiedenen in den Vergleich einbezogenen Urteile führt zu dem Ergebnis, daß die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen an zwei verschiedenen Typen von Prüfungsmaßstab in dem oben genannten Sinne gemessen wird. Zum einen finden sich Urteile, die die Zulässigkeit am objektiv-rechtlichen Maßstab der laicità oder der weltanschaulich-religiösen Neutralität messen, zum anderen werden die subjektiven Maßstäbe der Grundrechte herangezogen. In allen untersuchten italienischen Entscheidungen wird durchweg der Grundsatz der laicità als Maßstab herangezogen721. Lediglich im Beschluß des Einzelrichters am Landgericht L’Aquila finden sich an verschiedenen Stellen auch Ausführungen, wonach durch die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen die Religionsfreiheit verletzt werde722. Eine Analyse der deutschen Entscheidungen ergibt ein beinahe umgekehrtes Bild: In den Entscheidungen der ersten Phase der deutschen Auseinandersetzung um das Kreuz in Schulen wurden nämlich nur die Grundrechte der Art. 2 Abs. 1723, Art. 4 Abs. 1724 bzw. des Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 2 S. 1725 GG (bzw. die Parallelnormen der BV726) als Prüfungsmaßstab herangezogen, allein das Sondervotum stellt ausdrücklich die Vereinbarkeit der Anbringung von Schulkreuzen in öffentlichen Schulen mit dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität fest727. Beginnend mit der Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs wurden in der zweiten Phase der deutschen gerichtlichen Auseinandersetzung von Bayerischem Verfassungsgerichtshof, Bayerischem Verwaltungsgerichtshof und Bundesverwaltungsgericht sowohl der objektiv-rechtliche Neutralitäts718 719
BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686. BVerfGE 93, 1, 15; Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276,
1285. 720 BVerfGE 93, 1, 29, 30; VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345; Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 187 f. 721 Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 185, 188; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 335 f., 340; Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240; Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1285. 722 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284, 1285, 1286. 723 VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345. 724 VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345; BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 752; BVerfGE 93, 1, 15, 24; BayVGH BayVBl. 1996, S. 26, 27. 725 VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345; BVerfGE 93, 1, 15. 726 Art. 100, 107 Abs. 1, 126 Abs. 1 BV. 727 BVerfGE 93, 1, 29.
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grundsatz728 als auch Grundrechte729, vor allem die negative Religionsfreiheit, als Prüfungsmaßstab herangezogen. Zusammenfassend zeigt sich also, daß die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen in Italien überwiegend – und insbesondere auch in der maßgeblichen Entscheidung des Staatsrates – am objektiv-rechtlichen Maßstab des Grundsatzes der laicità des Staates gemessen wird, während in Deutschland alle Entscheidungen von Anfang an die subjektiv geprägten Grundrechte zum Prüfungsmaßstab machen und abgesehen vom Sondervotum des Bundesverfassungsgerichts erst später und zusätzlich auch den Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität heranziehen. Eine Erklärung, warum in der italienischen Rechtsprechung überwiegend auf den Grundsatz der laicità als Prüfungsmaßstab zurückgegriffen wird, während in Deutschland – gerade in der ersten Phase der Rechtsprechung zum Kreuz in Schulen – den Grundrechten eine wesentlich wichtigere Rolle als Prüfungsmaßstab zukommt, könnte darin liegen, daß in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs zum Grundsatz der laicità, die sich in anderen Fragen wiederholt auf diesen Grundsatz berufen hatte, schon eine obergerichtliche Rechtsprechung existierte, die sowohl den Klägern730 als auch dem entscheidenden Gericht Argumentationsmaterial zur Verfügung stellte731. Entsprechendes gilt für die in vielen Verfassungsbeschwerdeverfahren elaborierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Religionsfreiheit. Auch wenn gezeigt werden konnte, daß in Italien wesentlicher Prüfungsmaßstab der objektiv-rechtliche Grundsatz der laicità ist, während in der deutschen Rechtsprechung der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen 728 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 687, der zusätzlich das Verbot der Staatskirche des Art. 142 Abs. 1 BV als Maßstab heranzieht; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305; BVerwGE 109, 40, 45. 729 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 688 ff. zieht als Maßstäbe die Glaubensfreiheit des Art. 107 Abs. 1 BV, das Schweigerecht des Art 107 Abs. 5 S. 1 BV, die informationelle Selbstbestimmung der Art. 100, 101 BV, den Gleichheitssatz des Art. 118 Abs. 1 BV, sowie das elterliches Erziehungsrecht des Art. 126 Abs. 1 S. 1 BV heran; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305 ff. prüft anhand Art. 4 Abs. 1, 6 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 107 Abs. 5 S. 1 BV; und BVerwGE 109, 40, 51 ff. zieht die Art. 4 Abs. 1 GG; Art. 136 Abs. 3 WRV heran. 730 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276; Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 239; Consiglio di Stato Nr. 556/ 2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 185, 188; Corte Costituzionale Nr. 389/2004, Giur. cost. 2004, S. 4280, 4283 = Foro it. 2005, I, Sp. 1, 4. 731 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1283, 1285; Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 239 f.; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 334; Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 185 f.
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Neutralität als eigener Prüfungsmaßstab – wenn überhaupt – nur zusätzlich zu den Grundrechten herangezogen wird, bedeutet dies jedoch nicht, daß der jeweils andere Aspekt umgekehrt völlig außer Betracht bleiben würde, ohne damit jedoch zum eigenständigen Prüfungsmaßstab im obigen Sinne zu werden. So findet sich die Religionsfreiheit in der italienischen Rechtsprechung eben nicht nur im Beschluß des Landgerichtes L’Aquila, sie wird vielmehr auch in den verwaltungsgerichtlichen Urteilen angesprochen: Sowohl der Vorlagebeschluß als auch das Urteil des Verwaltungsgerichts Venetien verweisen auf die Aufgabe des säkularen Staates, die Ausdehnung der Religionsfreiheit zu fördern, und setzen die laicità in Bezug zur von Art. 3 it. Verf. gewährleisteten Gleichbehandlung ohne Unterschied der Religion und der von Art. 8 it. Verf. garantierten gleichen Freiheit aller Konfessionen732. Das Urteil des Verwaltungsgerichts versucht schließlich seine Argumentation zu bekräftigen, indem es einen Vergleich zu Finnland zieht, wo sich nichtchristliche Bürger auch nicht durch die Nationalflagge mit blauem Kreuz auf weißem Grund in ihrer Religionsfreiheit verletzt fühlen könnten733, obwohl es hinsichtlich der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen gerade nicht die Religionsfreiheit sondern den Grundsatz der laicità als Maßstab heranzieht. In der Entscheidung des Staatsrates findet sich hingegen – abgesehen von der Herleitung des Grundsatzes der laicità – ein Hinweis auf die Religionsfreiheit nur insofern angedeutet, als auf den „nichtdiskriminierenden Charakter“734 des Kreuzes verwiesen wird. Keines der italienischen Urteile führt jedoch eine differenzierte Grundrechtsprüfung deutschen Stils durch. Auch in der deutschen Rechtsprechung trennt die Argumentation nicht durchweg klar Neutralitätsgrundsatz und Grundrechte, insbesondere die Religionsfreiheit, wenngleich die Vermengung der beiden Aspekte unter umgekehrten Vorzeichen erfolgt. Zum einen lassen mehrere Entscheidungen den Neutralitätsgrundsatz in quasi „beiläufiger“ Weise in ihre Ausführungen zum Schutzbereich der negativen Religionsfreiheit einfließen. Beispielhaft sind die Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Juni 1991, der auf die „besondere Bedeutung“ verweist, die „das Grundrecht der negativen Religionsfreiheit hier in Zusammenhang mit dem für den Staat geltenden Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität“735 erhalte. Zum anderen werden zum Teil bestimmte Inhalte des Neutralitäts732 Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 334. 733 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 340. 734 Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 187. 735 BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 752; ähnlich BVerfGE 93, 1, 16 f.; VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345 f.
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grundsatzes im Rahmen der Grundrechtsprüfung als Schranken-Schranke herangezogen736. Und auch in der zweiten Phase der gerichtlichen Auseinandersetzung um das Schulkreuz zeigen sich wiederum Schwierigkeiten, die neutralitätsbezogene und die grundrechtsbezogene Argumentation zu unterscheiden. So bleibt z. B. dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof zur Frage einer Verletzung des Gleichheitssatzes des Art. 118 Abs. 1 BV nur, auf die Ausführungen zur Neutralität zu verweisen, weil er dort schon ausführlich einen Verstoß gegen Art. 118 Abs. 1 BV als Teilgehalt der Neutralität geprüft hat737. Auch die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zu den Grenzen der vorsorgenden Neutralität changieren und wechseln nahtlos zu Aussagen über das „hier gegebene Spannungsverhältnis [. . .] zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit“, ein Argumentationsmuster, das eigentlich bei der Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in die negative Religionsfreiheit zu erwarten wäre738. Insgesamt zeigt damit auch ein Vergleich unter dem Gesichtspunkt der zur Prüfung der Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen herangezogenen Maßstäbe deutlich die in beiden Rechtsordnungen bestehenden Schwierigkeiten, in der Anwendung als Prüfungsmaßstab eine tragfähige Abgrenzung zu finden, um das Verhältnis zwischen den Grundsätzen von Neutralität und laicità einerseits und andererseits den zu Grunde liegenden Vorschriften, aus denen beide abgeleitet werden, insbesondere den Grundrechten, zu bestimmen. 3. Das Kreuz: ein mehrdeutiges Symbol? Ein Vergleich der Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen darf jedoch nicht in der Gegenüberstellung der herangezogenen Prüfungsmaßstäbe verharren. Er muß sich ebenso mit dem beschäftigen, was die in den Vergleich einbezogenen Entscheidungen an diesen Maßstäben prüfen. Mit anderen Worten ist nicht nur der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität mit dem „sprachlichen Symbol (‚laicità‘)739“ zu vergleichen. Gegenüberzustellen ist auch, wie die verschiedenen Entscheidungen mit dem Kreuz umgehen, das fast alle Entscheidungen in Deutschland wie in Italien ausdrücklich als Symbol bezeichnen740. 736 BVerfGE 93, 1, 23; BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 752, der an dieser Stelle freilich für die gleichen Inhalte den Begriff eines Toleranzgebotes verwendet. 737 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 687, 691. 738 BVerwGE 109, 40, 48. 739 Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 186. 740 Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 187 sowie TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 333, die beide eine Qualifizie-
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Im folgenden soll aufgezeigt werden, welche Bedeutungen (a) und Wirkungen (b) die deutsche und die italienische Rechtsprechung diesem Symbol zuschreiben, da es diese beiden Faktoren sind, die den Ausschlag dafür geben, ob das Symbol „Kreuz“ mit den dargestellten Prüfungsmaßstäben vereinbar erscheint. Festzuhalten ist jedoch zunächst, daß sich die Rechtsprechung in Deutschland und Italien, soweit sie sich überhaupt mit der Frage auseinandersetzt, darin einig ist, daß hinsichtlich Bedeutung und Wirkung zwischen Kreuzen mit und ohne Korpus, zwischen einfachen Kreuzen und Kruzifixen also, nicht zu unterscheiden ist741; in der italienischen Literatur war und wird dies teilweise anders gesehen worden742 – oftmals verknüpft mit der Argumentation, daß das Kruzifix eindeutig dem Katholizismus zuzuordnen sei, so daß seine Anbringung eine einseitige Bevorzugung bzw. eine Identifikation mit der katholischen Kirche darstelle743. Der Rechtsprechung folgend soll daher – wie schon bisher – auch im weiteren Vergleich der Begriff „Kreuz“ auch Kreuze mit Korpus umfassen. a) Die Bedeutung des Kreuzes: religiöses oder kulturelles Symbol? Übereinstimmend gehen die untersuchten Entscheidungen auch davon aus, daß das Kreuz ein religiöses Symbol des „Christentums“744, zumindest jedoch des Katholizismus745 ist. Diese Übereinstimmung endet jedoch bei rung als Schuleinrichtungsgegenstand ausdrücklich ablehnen, obwohl das Kruzifix in den beiden königlichen Dekreten ausdrücklich als solches geführt wird, vgl hierzu oben S. 34; Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 239; Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284; BVerfGE 93, 1, 19 f., 28 f.; BayVGH BayVBl. 1996, S. 26, 27; BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686 f.; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305 f.; BVerwGE 109, 40, 43, 47. 741 BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 753; BVerfGE 93, 1, 17; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 330. 742 D. Ferri, S. 134, 138; C. Fusaro, S. 149; J. Luther, Istruire la storia, S. 192; S. Mancini, Taking Secularism, S. 188; dies., La contesa, S. 151; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 115 f.; A. Reale, S. 292 f., 295; a. A. dagegen ausdrücklich M. Zambelli, S. 320. 743 So bspw. R. Botta, Paradossi, S. 850; N. Colaianni, S. 851 f.; D. Ferri, S. 138; N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale, S. 202; J. Luther, Istruire la storia, S. 192; S. Mancini, Taking Secularism, S. 192; I. Pasquali Cerioli, S. 139; A. Reale, S. 293; L. Zannotti, Il crocifisso, S. 342. 744 VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345; BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 752; BVerfGE 93, 1, 19, 32; BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 687; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305; BVerwGE 109, 40, 43; Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 239; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 336; Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 187. 745 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284 f.
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der Frage, ob das Kreuz neben seiner Bedeutung als christliches religiöses Symbol noch andere Bedeutungen verkörpern kann. Lediglich für das Verwaltungsgericht Regensburg scheint das Kreuz ausschließlich ein religiöses Symbol christlicher Glaubensüberzeugungen zu sein746. Fast alle anderen Entscheidungen streifen zumindest die Frage, ob das Kreuz nicht auch als Ausdruck abendländischer Kultur und Bildung zu gelten habe und ob es im schulischen Kontext hierauf ankommen könne747. Eine Gruppe von Entscheidungen kommt dabei zu dem Ergebnis, daß im schulischen Kontext die religiöse Bedeutung des Kreuzes allein maßgeblich ist748, auch wenn das Kreuz (theoretisch) als ein kulturelles Symbol verstanden werden könnte. In methodischer Perspektive erscheint die Bedeutung des Kreuzes in diesen Entscheidungen tendenziell als objektive vom entscheidenden Gericht feststellbare und „subsumierbare“ Tatsache verstanden zu werden749. Das Bundesverfassungsgericht und die Entscheidung aus L’Aquila untermauern ihr Ergebnis mit dem Argument, daß es eine dem „Selbstverständnis des Christentums zuwiderlaufende Profanisierung“750 bzw. „Verdrehung“751 wäre, das Kreuz nicht als religiöses Symbol sondern als bloßen Ausdruck abendländischer Traditionen zu begreifen. Auf anderem Weg zum gleichen Ergebnis, die religiöse Bedeutung des Kreuzessymbols als im schulischen Bereich maßgeblich anzusehen, kommt der Bayerische Verfassungsgerichtshof, indem er maßgeblich auf die Bedeutung als religiöses Symbol, die die Kläger als Betrachter des Symbols damit verbinden, abstellt752. 746
VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345 f. BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 753; BVerfGE 93, 1, 19 f., 28, 32 f.; BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686 f.; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305; BVerwGE 109, 40, 47; Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284; Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 239; TAR Veneto Nr. 1110/ 2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 336; Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 187. 748 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284 f.; BVerfGE 93, 1, 20; Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 239; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 336. 749 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 338 lehnt es ausdrücklich ab, auf die Sichtweise einzelner Betrachter des Kreuzes abzustellen und der Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 239 scheint einen objektiven Eindruck für maßgeblich zu halten, den auch die Mehrheit der Rechtsgenossen teile. 750 BVerfGE 93, 1, 20; dieses Argument des Bundesverfassungsgericht ist für P. De Marco, S. 120 Ausdruck eines Protestantismus post Nietzsche. 751 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284. 752 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686 f. 747
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Nochmals einen methodisch ganz anderen Ansatz wählt schließlich der italienische Staatsrat. Zwar erkennt auch der Staatsrat an, daß das Kreuz verschiedene Bedeutungen haben und insbesondere Symbol christlicher Glaubensüberzeugungen sein könne753. Seiner Entscheidung liegt jedoch ein Verständnis zu Grunde, wonach die Inhalte, die vom Symbol des Kreuzes im staatlichen schulischen Raum verkörpert werden, normativ bestimmt werden können. Der Staatsrat nimmt plakativ gesprochen eine verfassungskonforme Auslegung des Kreuzes dahingehend vor, daß es in der Schule nicht als Kultobjekt sondern als Symbol des religiösen Ursprungs der weltlichen Verfassungswerte zu verstehen ist754. Eine Reihe von Entscheidungen kombiniert schließlich die Ansätze des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs und des italienischen Staatsrates. Für die Prüfung am Maßstab der Grundrechte legen die Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahr 1997 und das Bundesverwaltungsgericht die von den Klägern, als Betrachtern des Kreuzes, wahrgenommene Bedeutung als (abgelehntes) religiöses Symbol zu Grunde. Im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität wird hingegen auf die Bedeutung des Kreuzes als Ausdruck der „geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns“ und der „Verwirklichung [der] Bildungsziele auf der Grundlage christlicher und abendländischer Werte755“ abgestellt; die vom bayerischen Gesetzgeber vorgenommene normative Zuschreibung einer kulturellen Bedeutung des Symbols „Kreuz“ wird für maßgeblich erachtet. Eine ähnliche Tendenz – ohne daß freilich dieser normative Ansatz klar der Prüfung am Maßstab der Neutralität und der Eindruck beim Betrachter eindeutig der Grundrechtsprüfung zugeordnet werden könnte – ist auch in der ersten Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs feststellbar. Während auf der Ebene des Schutzbereichs das Kreuz als religiöses Symbol verstanden wird, wird auf der Rechtfertigungsebene der Grundrechtsprüfung betont, daß Kreuzesdarstellungen „nicht Ausdruck des Bekenntnisses zu einem konfessionell gebundenen Glauben“, sondern „Gegenstand der allgemeinen christlich-abendländischen Tradition und Gemeingut des christlich-abendländischen Kulturkreises“756 seien. 753
Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 187. Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 187 f.; die verfassungskonforme Auslegung eines Symbols hingegen aus methodischen Gründen ablehnend A. Morelli, Il contenuto semantico „inesauribile“ del simbolo religioso nel controllo di legittimità costituzionale, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 215, 223. 755 So BayVGH BayVBl. 1998, S. 305 unter teilweise wörtlicher Bezugnahme auf Art. 7 Abs. 3 S. 1, 2 BayEUG; diesen Ansatz billigend BVerwGE 109, 40, 47. 756 BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 753. 754
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Im Sondervotum des Bundesverfassungsgerichts wird bei der Prüfung am Maßstab des Neutralitätsgrundsatzes zunächst ebenso auf die Versinnbildlichung der „überkonfessionellen christlich-abendländischen Werte“757 abgestellt, was eher der normativen Festlegung des Symbolgehaltes zuzuordnen wäre. Etwas widersprüchlich wirkt das Sondervotum hingegen im Rahmen seiner Prüfung einer Verletzung von Art. 4 GG. Einerseits wird hier darauf verwiesen, daß das Kreuz für Christen ein Symbol ihres Glaubens und für Nichtchristen Symbol eines abgelehnten Glaubens sein kann758, im gleichen Atemzug wird aber auch betont, daß das Kreuz aus Sicht eines Nichtchristen die Bedeutung „nur“ eines „Sinnbilds für die Zielsetzung der christlichen Gemeinschaftsschule“, „die Vermittlung [. . .] der abendländischen Kultur“759 haben könne. Insgesamt demonstriert das Sondervotum damit jedenfalls eine starke Neigung, die Möglichkeit, die Bedeutung des Symbols „Kreuz“ normativ vorzugeben, anzuerkennen. Es zeigt sich also, daß in der Rechtsprechung zwei verschiedene Bedeutungen des Symbols „Kreuz“ für möglich erachtet werden. Das Kreuz kann religiöses Symbol für christliche Glaubensüberzeugungen sein oder kulturelles Symbol für abendländische Kultur- und Bildungswerte christlicher Inspiration. In der Frage, welche Bedeutung für die Beurteilung der Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen maßgeblich sein soll, ergibt sich jedoch ein relativ heterogenes Bild. Dennoch lassen sich, wenn auch mit einigen Einschränkungen, zwei Tendenzen feststellen. Einerseits gehen Entscheidungen die auch oder ausschließlich am Maßstab der Grundrechte, vor allem der negativen Religionsfreiheit, prüfen, zumindest für diesen Teil ihrer Prüfung davon aus, daß Kreuze auch in Schulen als religiöse Symbole zu verstehen sind. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, werden zwei unterschiedliche Wege beschritten. Während dies in den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts und des Landgerichtes L’Aquila als Resultat der gerichtlichen Tatsachenfeststellung erscheint, stellen die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahr 1997 sowie der Bayerische Verfassungsgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht auf den Eindruck ab, den das Kreuz bei den Klägern als Betrachtern des Symbols erweckt. Eine zweite Tendenz betrifft jene Entscheidungen, welche die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen an den Grundsätzen von laicità und weltanschaulich-religiöser Neutralität messen. Soweit die obergerichtliche Rechtsprechung die staatliche Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen mit diesen Grundsätzen für vereinbar hält, wählen diese 757 758 759
BVerfGE 93, 1, 28 f. BVerfGE 93, 1, 32 f. BVerfGE 93, 1, 32.
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Entscheidungen den Weg, eine normative Bestimmung der vom Symbol „Kreuz“ verkörperten Bedeutung für maßgeblich zu erachten, sei es im Wege einer verfassungskonformen Auslegung des Symbols durch den italienischen Staatsrat oder der Anerkennung einer durch den Gesetzgeber vorgenommen Inhaltszuschreibung in den Entscheidungen von Bayerischem Verwaltungsgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht und tendenziell auch im Sondervotum des Bundesverfassungsgerichts. Mit anderen Worten dient das Verständnis, das Kreuz als Symbol von Kultur- und Bildungswerten zu betrachten, in diesen Entscheidungen dazu, die Unbedenklichkeit seiner Anbringung in öffentlichen Schulen im Lichte der Gebote von laicità und Neutralität und insbesondere deren Nichtidentifikationselement zu begründen. b) Die Wirkung des Kreuzes: aktives oder passives Symbol? Die untersuchten Entscheidungen befassen sich im Hinblick auf das Kreuzessymbol jedoch nicht nur mit Frage, ob es sich um ein religiöses oder kulturelles Symbol handelt und welche dieser beiden Bedeutungen für die Beurteilung der Zulässigkeit seiner Anbringung in öffentlichen Schulen maßgeblich sein soll. Vielmehr nehmen einige der untersuchten Entscheidungen auch Stellung, welche Wirkung von diesem Symbol ausgeht. Im wesentlichen lassen sich die Entscheidungen im Hinblick auf die Wirkung, die dem Kreuzessymbol zugeschrieben wird, in zwei Gruppen unterteilen. Eine Gruppe von Entscheidungen folgt einer These, die man, einen Begriff der italienischen Diskussion760 aufgreifend, als These vom Kreuz als „passivem“ Symbol benennen kann. Als beispielhaft hierfür können die Ausführungen des Sondervotums gelten, wonach vom Kreuz in Schulräumen nur ein „Minimum an Zwangselementen“ ausgehe, weil die Schüler dadurch „nicht zu besonderen Verhaltensweisen oder religiösen Übungen verpflichtet“ werden und „nicht gezwungen [. . . seien] ihre abweichende weltanschaulich-religiöse Überzeugung kundzutun“761. Vom Kreuz gehe keine missionarische Beeinflussung oder eine „Propagierung christlicher Glaubensinhalte“ aus762. Ähnliche Ausführungen finden sich gleichfalls in den Beschlüssen des Verwaltungsgerichts Regensburg und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahr 1991763. Im Rahmen seiner Prüfung 760 Bspw. Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284; A. Piva, S. 595; G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 315 Fn. 107; auch schon L. Zannotti, Il crocifisso, S. 337. 761 BVerfGE 93, 1, 33. 762 BVerfGE 93, 1, 33. 763 BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 753; VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345, 346.
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am Maßstab des Neutralitätsgrundsatzes stützt sich weiterhin auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof auf das Argument vom Kreuz als passivem Symbol764. Aus der Reihe der italienischen Entscheidungen läßt sich das Urteil des Verwaltungsgerichts Venetien hier einordnen, das ebenso darauf verweist, daß das Kreuz objektiv niemandem „etwas vorschreibe“765 und das Empfinden mancher Schüler, durch das Kreuz in ihrer Religionsfreiheit verletzt zu sein, als verfassungsrechtlich nicht geschützten „Subjektivismus“ abtut766. Der gegenteiligen Ansicht, die man entsprechend als These vom Kreuz als „aktivem Symbol“ bezeichnen könnte, stellt darauf ab, daß von der Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern sehr wohl eine Einwirkung auf die Schüler ausgehe, indem das Kreuz durch seinen „appellativen Charakter . . . die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig“767 ausweise. Dieser Einwirkung komme dabei durch die Schulpflicht auch der Charakter eines Zwanges zu768. Der Gruppe von Entscheidungen, die auf der These vom Kreuz als aktivem Symbol fußen, sind neben dem Bundesverfassungsgericht die unmittelbar anschließende Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs769 und der Beschluß des Landgerichtes L’Aquila zuzurechnen, in dem die Anbringung von Kreuzen als Ausdruck des Willens, „die katholische Konfession ins ‚Zentrum des Universums‘ “ zu rücken, und als Verpflichtung zum Religionsunterricht ohne Abwahlmöglichkeit begriffen wird770. Ebenfalls zu dieser Gruppe zu zählen sind die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, soweit sie sich mit der Verletzung von Grundrechten auseinandersetzt, sowie die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahr 1997 und die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts. Diese Entscheidungen folgen zumindest implizit dem Bundesverfassungsgericht darin, das Kreuz als aktives Symbol mit Zwangswirkung zu definieren, indem sie davon ausgehen, daß diese Wirkung durch die von der Widerspruchsregelung des Art. 7 Abs. 3 S. 3, 4 BayEUG vorgesehene Entfernung des Kreuzes beseitigt werden könne771. 764
BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 688. TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 340. 766 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 338. 767 BVerfGE 93, 1, 20. 768 BVerfGE 93, 1, 18. 769 BayVGH BayVBl. 1996, S. 26, 27. 770 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1285; Die obligatorische Präsenz der angebrachten Kreuze stellt zwar auch der Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240 der Abwahlmöglichkeit beim Religionsunterricht entgegen. Diese Entscheidung schließt daraus jedoch auf eine unzulässige Privilegierung des Christentums und nicht auf eine Verletzung der Religionsfreiheit. 765
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Keine Aussage, ob das Kreuz als aktives oder passives Symbol zu betrachten ist, läßt sich schließlich dem Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Venetien und dem Urteil des Staatsrates entnehmen. Festzuhalten ist so, daß Entscheidungen, die das Kreuz für ein passives Symbol halten, davon ausgehen, daß die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen keinen Eingriff in die negative Religionsfreiheit bedeutet, oder daß dieser Eingriff jedenfalls nur von so geringer Intensität ist, daß er leicht zu rechtfertigen ist. Wer anderseits der These vom Kreuz als aktivem Symbol folgt, sieht in der Anbringung von Kreuzen in Schulräumen einen Eingriff, der nicht zu rechtfertigen ist, soweit nicht ein individueller Anspruch auf Entfernung des Kreuzes besteht. Damit zeigt sich, daß die Diskussion um die Wirkung des Kreuzessymbols, um aktives oder passives Symbol, eine Frage ist, die – um in der Terminologie der deutschen Grundrechtsdogmatik zu sprechen – die Eingriffsqualität und -intensität der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen betrifft. Es handelt sich damit um zwei Argumente, deren argumentative Kraft eindeutig auf die Prüfung am Maßstab der negativen Religionsfreiheit abzielt. Dementsprechend verwundert es auch nicht, daß das Urteil des Staatsrates keine Aussage trifft, ob das Kreuz als aktives oder passives Symbol zu betrachten ist. Denn diese Entscheidung mißt die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen nicht an grundrechtlichen Maßstäben, sondern nur am objektiv-rechtlichen Grundsatz der laicità des Staates, so daß sich diese Frage für diese Entscheidung, die von der zulässigen Anbringung eines kulturellen Symbols ausgeht, nicht stellt. Im Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Venetien finden sich in dem Vergleich, den das Gericht zwischen der obligatorischen Anbringung von Kreuzen und der Freiwilligkeit des Religionsunterrichtes zieht, zwar gewisse Anklänge an ein Verständnis des Kreuzes als aktives Symbol. Gleichwohl stützt diese Entscheidung, die nur am Maßstab der laicità prüft, ihre Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der italienischen Regelung nur auf eine verbotene Identifikation des Staates mit einem religiösen Symbol und die unzulässige Privilegierung einer Glaubensrichtung. Nicht völlig bruchlos in diese Systematisierung einzuordnen sind demgegenüber das Urteil des Verwaltungsgerichts Venetien und die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, die im Rahmen ihrer Prüfung am Maßstab der Grundsätze von Neutralität bzw. laicità das Argument des passiven Symbols bemühen772, das, wie gezeigt, mehr auf die Frage einer 771
BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 689; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305, 306; BVerwGE 109, 40, 51. 772 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 688; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 338, 340.
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möglichen Grundrechtsverletzung als auf die Identifikation des Staates mit einer Religion abzielt. Diese beiden Entscheidungen weisen damit auf Schwierigkeiten der Entscheidungen hin, zwischen Argumenten, die sich auf die Grundsätze von laicità und Neutralität beziehen, und Argumenten im Hinblick auf die Prüfung am Maßstab der Religionsfreiheit zu trennen. Diese Schwierigkeit läßt sich aber auch als weiteres Symptom der Probleme bei der Klärung des Verhältnisses zwischen den Grundsätzen von Neutralität bzw. laicità und den Grundrechtsnormen, die diesen Verfassungsprinzipien zu Grunde liegen, deuten. 4. Argumente für und gegen die Zulässigkeit von Kreuzen in öffentlichen Schulen a) Argumente für das Kreuz Vergleicht man die in der deutschen und italienischen Rechtsprechung vorgebrachten Argumente für die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen, so lassen sich primär zwei Gruppen von Argumenten unterscheiden: einerseits Argumente, die auf die Unbedenklichkeit gegenüber den objektivrechtlichen Verfassungsgrundsätzen von weltanschaulich-religiöser Neutralität und laicità des Staates abzielen, und andererseits Argumente im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Kreuzen in Schulen mit Grundrechten, vornehmlich der negativen Religionsfreiheit. Argumente im Hinblick auf Neutralität und laicità Am häufigsten argumentieren die Entscheidungen der untersuchten Rechtsprechung, die die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen nicht für einen Verstoß gegen die weltanschaulich-religiöse Neutralität bzw. die laicità des Staates halten, mit der These des Kreuzes als Symbol von abendländischer Kultur und Bildung. Indem, wie gezeigt, eine normative Zuschreibung von Inhalten an das Kreuzessymbol für zulässig erachtet wird, kann diese These herangezogen werden, um zu begründen, warum die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen nicht zu einem „Zueigenmachen“, zu einer Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion führt, die gegen das Nichtidentifikationsgebot, als grundlegendem Element von Neutralität und laicità, verstoßen würde. Indem die religiöse Bedeutung des Kreuzes im schulischen Bereich gegen die eines abendländischen Kultur- und Bildungssymbols ausgetauscht wird, wird die drohende Identifikation beseitigt. Namhafteste Vertreter dieses Arguments sind unter
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anderen773 die Entscheidung des italienischen Staatsrates774 und das Sondervotum775 der Richter Seidl, Söllner und Haas zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts. Um zu begründen, warum die Anbringung von Kreuzen nicht gegen das Identifikationsverbot verstößt, greifen nur das Verwaltungsgericht Venetien und der Bayerische Verfassungsgerichtshof, die beide auch im Rahmen der Argumentation im Hinblick auf Neutralität und laicità ein Verständnis des Kreuzes als religiöses Symbol für maßgeblich halten, auf verschiedene andere Argumentationsmuster zurück. Singulär im Kontext aller verglichenen Entscheidungen erweist sich das Urteil des Verwaltungsgerichts Venetien. Dort wird nachzuweisen versucht, daß die Werte von Christentum und italienischer Verfassung zumindest in ihrem „harten Kern“776 identisch sind, indem die Entscheidung sich ein Christentum rekonstruiert, das den nötigen „Anforderungen“ gerecht wird. Damit vermag diese Argumentation vielleicht zu zeigen, daß die Anbringung von Kreuzen nicht zu einer Identifizierung des Staates mit verfassungswidrigen Inhalten führt, weil das Christentum der Richter des Verwaltungsgerichts Venetien nur verfassungskonforme Werte enthält. Zur Frage aber, ob eine derartige Identifikation zulässig ist, kann die Entscheidung nichts beitragen. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof verneint schließlich einen Verstoß gegen das Nichtidentifikationsgebot mit der These vom passiven Symbol777. Er zieht damit im Kontext der weltanschaulich-religiösen Neutralität ein Argument heran, das bei genauerer Betrachtung, wie gezeigt, eher die Eingriffsqualität und -intensität betrifft. Damit trifft er aber eigentlich nur eine Aussage zur Intensität der Einwirkung, die vom religiösen Symbol „Kreuz“ ausgeht, nimmt aber nicht zur Frage Stellung, ob die Anbringung von Kreuzen eine verbotene Identifizierung des Staates mit einer Religion bewirkt. Im Gegenzug stellt der Bayerische Verfassungsgerichtshof jedoch fest, daß die Anbringung von Kreuzen durch den Staat keine organisatorische Verflechtung zwischen dem Staat und den christlichen Kirchen bewirke778. Als einzige der untersuchten Entscheidungen, die von der Unbedenklichkeit der Anbringung von Kreuzen in staatlichen Schulen ausgehen, setzt sich der Bayerische Verfassungsgerichtshof im Zusammenhang mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität mit dem Gleichbehandlungsgebot 773 BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 753; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305; diese Lesart des BayVGH zumindest anerkennend BVerwGE 109, 40, 47; TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 336. 774 Consiglio di Stato Nr. 556/2006, Foro it. 2006, III, Sp. 181, 187. 775 BVerfGE 93, 1, 28, 32 f. 776 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 338. 777 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 688. 778 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 688.
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auseinander. Eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes wird jedoch abgelehnt, weil der Bayerische Verfassungsgerichtshof die zahlenmäßige Größe der christlichen Kirchen und ihre historische und kulturelle Prägekraft für zulässige, an tatsächlichen Verschiedenheiten anknüpfende Differenzierungskriterien erachtet. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß die untersuchte Rechtsprechung in Deutschland wie Italien im wesentlichen im Hinblick auf das Nichtidentifikationsgebot als Teilelement der Gebote der weltanschaulich-religiösen Neutralität und laicità des Staates Begründungsbedarf sieht, um die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen für verfassungsrechtlich zulässig erklären zu können. Das stärkste und tragfähigste Argument, das hierfür vorgebracht wird, stützt sich darauf, für den Raum staatlicher Schulen eine normative Bestimmung der Bedeutung des Kreuzessymbols als Symbol abendländischer Kultur und Bildung für zulässig zu erachten bzw. durch verfassungskonforme Auslegung selbst vorzunehmen. Wenige Entscheidungen verfolgen andere Ansätze, die sich jedoch als wenig tragfähig erweisen, oder wie die Argumentation des Bayerische Verfassungsgerichtshof zum Gleichbehandlungsgrundsatz als Teilelement des Neutralitätsgrundsatzes auch an dieser Stelle die Schwierigkeiten aufzeigen, das Verhältnis zwischen Teilen des Neutralitätsgebotes und den diesem Gebot zu Grunde liegenden Vorschriften, insbesondere den Grundrechten des Gleichbehandlungsgrundsatzes und der Religionsfreiheit zu klären. Grundrechtsbezogene Argumente Die untersuchten Entscheidungen, die die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen für verfassungsrechtlich unbedenklich halten, setzen sich vor allem mit der Religionsfreiheit auseinander, vereinzelt auch mit dem Gleichheitssatz und der informationellen Selbstbestimmung. Auf die Religionsfreiheit gehen die in den Vergleich einbezogenen Entscheidungen in zweifacher Hinsicht ein. Zum einen argumentieren mehrere Entscheidungen mit der positiven Religionsfreiheit779 christlicher Eltern und Schüler, für die die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen ein „Achtgeben auf die religiösen Erfahrungen des Kindes im familiären Umfeld“780 und damit eine „lediglich die religiöse Erziehung der Eltern unterstützende Tätigkeit der Schule“781 darstellt. Die Entscheidungen der ersten Phase der deutschen Auseinander779 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 339; BVerfGE 93, 1, 31; VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345; BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 689. 780 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 339. 781 VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345.
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setzung um das Schulkreuz vergleichen in diesem Zusammenhang die Anbringung von Kreuzen mit dem vom Bundesverfassungsgericht für zulässig erklärten freiwilligen Schulgebet782, der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sogar in der Form eines Erst-Recht-Schlusses783. Es handelt sich um ein Argument, das insofern auch einen Bezug zu den Grundsätzen von Neutralität und laicità aufweist, als es dem offenen Charakter784 dieser Grundsätze entspricht, auch im staatlichen Bereich Raum für die Entfaltung der individuellen Religionsfreiheit zu lassen785. Damit ist es in gewisser Weise Bindeglied zwischen der Argumentation im Hinblick auf die Grundsätze von laicità und Neutralität und grundrechtsbezogenen Argumenten. Gleichzeitig ist dieses Argument in der deutschen Rechtsprechung deshalb von Bedeutung, weil es bei der Prüfung einer Verletzung der negativen Religionsfreiheit der Eltern und Schüler, die Kreuze ablehnen, den Weg zu einer Abwägung zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit eröffnet. Im Bereich der negativen Religionsfreiheit zielt die Argumentation der Entscheidungen, die von der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen ausgehen, darauf ab, die von den angebrachten Kreuzen auf die dissentierenden Schüler ausgehende Wirkung zu relativieren. Hierzu wird zum einen auf die These vom Kreuz als einem passiven Symbol, das niemanden etwas vorschreibe, zurückgegriffen786. Das Sondervotum zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts ergänzt dies um das weitere Argument, daß die Schüler auch außerhalb des schulischen Bereichs im öffentlichen Leben häufig mit Kreuzen konfrontiert würden787. Beide Argumente sollen belegen, weshalb auch die Anbringung 782
BVerfGE 52, 223. BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 753; BVerfGE 93, 1, 31; VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345. 784 Auch wenn BVerwGE 109, 40, 48 die Anbringung von Kreuzen gerade nicht durch die „vorsorgende Neutralität“ gerechtfertigt sehen will, taucht die Idee der offenen Neutralität in der Entscheidung an anderer Stelle zumindest insofern auf, als BVerwGE 109, 40, 56 die Offenheit durch den Religionsunterricht und freiwillige Andachten auch bei Entfernung der Kreuze gewahrt wissen will. 785 Vgl. oben S. 112 ff. 786 VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345, 346; BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 753; BVerfGE 93, 1, 33; auch TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 340 verwendet dieses Argument, wenngleich im Rahmen seiner Prüfung am Maßstab der laicità. 787 BVerfGE 93, 1, 33; es handelt sich dabei um ein Argument, das insofern eine gewisse Verwandtschaft zur These des Verwaltungsgerichts Venetien TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 339, daß das Kreuz in der Begegnung mit anderen Kulturen, ein geeignetes Symbol der zur Vermeidung eines „Kampfes der Kulturen“ nötigen Bekräftigung der eigenen italienischen Identität sei, aufweist, als es auf der Überlegung beruht, daß Kreuze und Kruzifixe an öffentlichen Orten wie Straßen und Wegen untrennbar zur bayerischen Kultur gehören. 783
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von Kreuzen ohne Widerspruchsregelung keinen788 bzw. keinen schwerwiegenden Eingriff in die Religionsfreiheit darstellt, so daß bei einer Abwägung der tangierten Verfassungsgüter der staatlichen Schulhoheit und der positiven Religionsfreiheit einerseits sowie der negativen Religionsfreiheit andererseits der letztgenannten kein Vorrang zukommen könne789. Den Zweck, die von der Konfrontation mit Kreuzen in der Schule ausgehende Intensität des Eingriffs in die Religionsfreiheit als besonders gering darzustellen, verfolgt schließlich auch das angesichts der finnischen Herkunft der Klägerin polemisch anmutende Argument des Verwaltungsgerichts Venetien, ein nichtchristlicher Bürger Finnlands könne durch eine in Schulen gehißte finnische Flagge mit blauem Kreuz auf weißem Grund auch nicht in seiner Religionsfreiheit verletzt werden790. Die von Art. 7 Abs. 3 BayEUG vorgesehene Anbringung von Kreuzen mit Widerspruchsmöglichkeit ist für die damit befaßten Gerichte schließlich deshalb kein unzulässiger Eingriff in die Religionsfreiheit, weil dadurch das der früheren Regelung anhaftende Zwangselement entfallen sei791. Entsprechend befaßten sich diese Entscheidungen im Schwerpunkt mit den im Hinblick auf das Schweigerecht als Teil der negativen Religionsfreiheit zulässigen Anforderungen an die Begründung des Widerspruchs792. Von den zur Neuregelung von Art. 7 Abs. 3 BayEUG ergangenen Entscheidungen hielt es schließlich allein der Bayerische Verfassungsgerichtshof für nötig, auch die Vereinbarkeit der Widerspruchsregelung mit dem Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung zu überprüfen793, die er ebenso bejahte wie er insgesamt die Vereinbarkeit von Art. 7 Abs. 3 BayEUG mit dem Gleichheitssatz unter Verweis auf seine Ausführungen im Rahmen der Prüfung am Neutralitätsgrundsatz feststellen konnte794. Damit ergeben sich aus einem Vergleich der Entscheidungen, die die Anbringung von Kreuzen für verfassungsrechtlich unbedenklich halten, im Hinblick auf die grundrechtsorientierte Argumentation zwei Ergebnisse: Zum einen zeigt sich, daß sich auch in den italienischen Entscheidungen, die nur den Grundsatz der laicità ausdrücklich als Prüfungsmaßstab heran788
TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 340. VG Regensburg BayVBl. 1991, S. 345, 346; BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 753; BVerfGE 93, 1, 33; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305, 306 f. 790 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 340; kritisch hierzu auch S. Mancini, La contesa, S. 151. 791 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 688 f.; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305, 306; BVerwGE 109, 40, 51. 792 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 689 ff.; BayVGH BayVBl. 1998, S. 305, 306 f.; BVerwGE 109, 40, 53 ff. 793 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 691. 794 BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 691. 789
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ziehen795, Argumente finden, die eigentlich grundrechtsbezogen sind. Dies macht deutlich, daß auch in Teilen der italienischen Rechtsprechung zumindest latent ein Gespür dafür vorhanden ist, daß die Anbringung von Kreuzen in Schulen nicht nur den Grundsatz der laicità betrifft, sondern auch das Grundrecht der Religionsfreiheit berührt, ohne daß dies jedoch in eine Grundrechtsprüfung mit der in Deutschland üblichen Ausführlichkeit münden würde. Zum anderen ist erkennbar, daß die negative Religionsfreiheit als das wesentliche Problem der grundrechtlichen Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen identifiziert wird. Dem wird im wesentlichen mit zwei Argumenten begegnet: Durch die These vom Kreuz als passivem Symbol wird eine Relativierung der Eingriffsintensität der Konfrontation der Schüler mit dem Kreuzessymbol ermöglicht, die zusammen mit dem Verweis auf die positive Religionsfreiheit der Schüler gerade in der deutschen Rechtsprechung dieser Gruppe zu einem Abwägungsergebnis führt, das in diesen Entscheidungen den Verbleib des Kreuzes ohne einen Anspruch dissentierender Schüler und Eltern auf Entfernung rechtfertigt. b) Argumente gegen das Kreuz Ausgangspunkt der deutschen und italienischen Entscheidungen, die die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen für verfassungswidrig halten, ist, das Kreuz bzw. Kruzifix als religiöses Symbol des (katholischen) Christentums zu begreifen796. Ein Verständnis des Kreuzes als Zeichen abendländischer Kultur und Bildungswerte lehnt nicht nur der Beschluß des Landgerichtes L’Aquila, sondern auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als reduzierende „Profanisierung“797 ab. Von diesem Ausgangspunkt her entwickeln die untersuchten Entscheidungen ihre Argumente sowohl in Bezug auf die Grundsätze von Neutralität und laicità als auch im Hinblick auf die Frage einer Grundrechtsverletzung. Argumente im Hinblick auf Neutralität und laicità Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Einzelrichters am Landgericht L’Aquila ziehen im Hinblick auf die Grundsätze von 795
Vgl. hierzu oben S. 176. Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284 f.; Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 239; BVerfGE 93, 1, 19 f.; vgl. hierzu oben S. 181. 797 BVerfGE 93, 1, 20.; Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284 spricht von einer „Verdrehung“. 796
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Neutralität und laicità das Argument heran, die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen bedeute eine unzulässige Identifikation des Staates mit einer Religion, eine Konnotation „konfessioneller Art [der] öffentlichen Einrichtung ‚Schule‘ “798, um mit den Worten des Richters am Landgericht L’Aquila zu sprechen. Zur Begründung führt die Entscheidung aus L’Aquila an, die Anbringung des Kreuzes suggeriere eine real nicht bestehende Identität zwischen katholischer und „ziviler“799 Kultur Italiens, das Kreuz stehe für Werte, die nicht wirklich gemeinsames Erbe aller Bürger800 seien. Dies mündet in die Feststellung, die nicht näher umschriebene „Neutralität öffentlicher Einrichtungen gegenüber ideologischen Inhalten“801 werde verletzt. Polemisch klingt schließlich die Folgerung des gleichen Gerichts, der Staat bringe durch die Anbringung von Kreuzen den Willen zum Ausdruck, die „katholische Religion ins Zentrum des Universums zu rücken, als absolute Wahrheit [. . .]“802. Im Kern der Argumentation ähnlich, doch weit maßvoller in der Formulierung verweist das Bundesverfassungsgericht darauf, daß Kreuze in Schulen mehr seien als „Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur“803, weil ihre Anbringung üblicherweise als Zeichen eines besonderen Bekenntnisses des Besitzers zum christlichen Glauben zu verstehen sei804. Weniger auf das Nichtidentifikationsgebot, sondern vielmehr auf das Gleichbehandlungselement der laicità hebt hingegen der Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Venetien ab, das in der Anbringung von Kreuzen vor allem die Einräumung einer privilegierten Position für die christliche Religion erblickt, die eine Aufgabe der verfassungsrechtlich gebotenen Äquidistanz und Unparteilichkeit des Staates bedeute805. Zumindest unterschwellig stützt sich auch der Beschluß aus L’Aquila auf dieses Argument, indem dort auf die Einseitigkeit der konfessionellen Prägung durch die Anbringung von Kreuzen verwiesen wird806. Im Ergebnis zeigt sich damit, daß ein Verständnis, das in der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen ein gegen das Nichtidentifikationsverbot verstoßendes Bekenntnis des Staates mit der christlichen bzw. katholi798
Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1285. Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284. 800 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1285; ähnlich auch BVerfGE 93, 1, 24. 801 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284. 802 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1285. 803 BVerfGE 93, 1, 19. 804 BVerfGE 93, 1, 19. 805 Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240. 806 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284 f. 799
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schen Religion erkennt, sich in der deutschen wie der italienischen die Anbringung von Kreuzen verwerfenden Rechtsprechung findet, obwohl das Bundesverfassungsgericht eigentlich nur am Maßstab der Grundrechte prüft. In der italienischen Rechtsprechung spielt demgegenüber zusätzlich noch das Argument einer unzulässigen Privilegierung eine Rolle. Zwar wird dieses Argument in Italien ausdrücklich zur Begründung eines Verstoßes gegen den Grundsatz der laicità herangezogen, es könnte aber genauso im Kontext des grundrechtlichen Gleichheitssatzes verwendet werden, was ein weiteres Mal auf die ungenügende Klärung des Verhältnisses zwischen dem Verfassungsgrundsatz der laicità und den grundrechtlichen Vorschriften, auf denen dieser Grundsatz fußt, hinweist. Grundrechtsbezogene Argumente Tatsächlich argumentieren die Entscheidungen, die die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen für verfassungswidrig halten, grundrechtsbezogen jedoch nur mit einer Verletzung der negativen Religionsfreiheit. Ausgangspunkt der Überlegungen dieser Entscheidungen ist, daß das Kreuz nicht nur ein religiöses Symbol, sondern zugleich ein aktives Symbol ist, dessen appellative[m] Charakter807 die betroffenen Schüler wegen der Schulpflicht unfreiwillig bzw. ohne Ausweichmöglichkeit ausgesetzt seien808, mit den Worten des Landgerichts L’Aquila eine Form von „Religionsunterricht, der verpflichtend für alle wird, weil nicht erlaubt ist, ihn nicht in Anspruch zu nehmen“809. Es handelt sich, wie umgekehrt die These vom Kreuz als passivem Symbol, um ein Argument, das auf die Eingriffsqualität bzw. -intensität der Anbringung von Kreuzen abzielt. Während sich dieses Argument in der italienischen wie der deutschen Rechtsprechung findet, tritt nur letztere dem in Deutschland üblichen Schema einer Grundrechtsprüfung entsprechend in eine Abwägung ein, um festzustellen, ob dieser Eingriff durch die Schulorganisationshoheit oder die positive Religionsfreiheit anderer Schüler und Eltern, die die Anbringung von Kreuzen wünschen, gerechtfertigt sein könnte. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts kann das Schulorganisationsrecht die Anbringung von Kreuzen nicht rechtfertigen, weil dies den Rahmen der zulässigen Bezüge zur christlichen Prägung abendländischer Kultur überschreiten würde810. Das Nichtidentifikationsgebot als Teil des objektivrechtlichen Ge807
BVerfGE 93, 1, 20. BVerfGE 93, 1, 18 ff. 23; BayVGH BayVBl. 1996, S. 26, 27: Vorlagebeschluß TAR Veneto Nr. 56/2004, Foro it. 2004, III, Sp. 235, 240. 809 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1285. 810 BVerfGE 93, 1, 23 f. 808
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bots weltanschaulich-religiöser Neutralität wird so als Schranken-Schranke in das Schema der subjektiv-rechtlichen Grundrechtsprüfung eingepaßt. Im Hinblick auf eine Rechtfertigung aus der positiven Religionsfreiheit der Schüler bzw. Eltern, die die Anbringung von Kreuzen unterstützen, betont das Bundesverfassungsgericht, daß dem einzelnen nicht uneingeschränkt ein grundrechtlich geschützter Anspruch auf Betätigung seiner Glaubensüberzeugung im staatlichen Raum zustehe811. Es handelt sich letztlich um das spiegelbildliche Gegenargument zur Hervorhebung des offenen Charakters von Neutralität und laicità in den Entscheidungen, die die Anbringung von Kreuzen für verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden halten. Dies versucht das Bundesverfassungsgericht zu bekräftigen, indem es im gleichen Atemzug den Vorinstanzen unterstellt, für ihre Abwägung zugunsten der positiven Religionsfreiheit sei die zahlenmäßige Mehrheit der Schüler, die die Anbringung von Kreuzen wünschten, ausschlaggebend gewesen. Auf das Mehrheitskriterium könne es aber nicht ankommen, denn die Grundrechte dienten dem Minderheitenschutz812. Dieses Argument des Bundesverfassungsgerichts findet sich – freilich nicht eingebettet in eine ausführliche Grundrechtsprüfung nach deutschem Muster – ebenso in der Entscheidung des Landgerichtes L’Aquila813. Diese Entscheidung setzt sich schließlich auch mit Vorschlägen auseinander, die in der italienischen Literatur – auch unter Bezugnahme auf die Reaktion des Bayerischen Gesetzgebers auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts – vorgebracht worden waren, um zwar einerseits den Bedenken gegen die Anbringung von Kreuzen Rechnung zu tragen, ohne aber andererseits zur Konsequenz einer ausnahmslosen Entfernung der Kreuze aus allen Klassenzimmern Italiens kommen zu müssen. Im Hinblick auf die bayerische Widerspruchslösung814 ist der Beschluß aus L’Aquila der Ansicht, daß eine Verwirklichung von laicità und Religionsfreiheit nur auf Anfrage nicht möglich sei815. Gegen den anderen Vorschlag der Literatur, einer Privilegierung des Christentums durch die Anbringung der Symbole anderer Religionen zu begegnen816, wird schließlich eingewendet, daß rein faktisch nie alle Religionen erschöpfend berücksichtigt werden könnten. Die Unparteilichkeit des öffentlichen Raumes könne nur durch die Unterlas811
BVerfGE 93, 1, 16, 24. BVerfGE 93, 1, 24; ebenso an das BVerfG anknüpfend BayVGH BayVBl. 1996, S. 26, 27. 813 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1283. 814 Zur Diskussion um Art. 7 Abs. 3 BayEUG in der italienischen Literatur vgl. S. 263 ff. 815 Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1284. 816 Vgl. hierzu unten S. 269 ff. 812
IV. Zusammenfassung und Folgerungen
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sung der Anbringung jeglichen Symbols, nicht durch eine Vielzahl von Symbolen garantiert werden817. Im wesentlichen lassen sich so zwei gemeinsame Argumente ausmachen, auf die die deutschen und italienischen Entscheidungen, welche die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen für unzulässig halten, ihre Ablehnung stützen. Einerseits halten sie eine Rechtfertigung für Kreuze in Klassenzimmern nach dem Mehrheitskriterium wegen des Charakters der Grundrechte als Minderheitenrechte für unzulässig. Auf die Eingriffsqualität und -intensität zielt die These vom Kreuz als aktivem Symbol ab. Auch dieses Argument findet sich nicht nur in deutschen, sondern auch in italienischen Entscheidungen, auch wenn dort keine Grundrechtsprüfung im deutschen Sinne durchgeführt wird, sondern die laicità wesentlicher Prüfungsmaßstab ist. Umgekehrt entfaltet der Nichtidentifikationsgrundsatz als Teil der weltanschaulich-religiösen Neutralität in Deutschland bei der Prüfung einer Verletzung der Religionsfreiheit als Schranken-Schranke Wirkung. Beispiel für die Bedeutung, die die Verfassungsrechtsvergleichung jenseits akademischer Untersuchungen bereits heute bei der praktischen Anwendung des Rechts entfalten kann, ist schließlich die Auseinandersetzung des Landgerichtes L’Aquila mit der in Italien unter dem Begriff „soluzione bavarese“818 bekannten Neuregelung von Art. 7 Abs. 3 BayEUG.
IV. Zusammenfassung und Folgerungen 1. Zusammenfassung Vergleicht man die deutsche und die italienische Rechtsprechung zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen allein vom Ergebnis höchstrichterlicher Rechtsprechung her, so scheint sich ein relativ klares Bild zu ergeben: In Italien hält der Staatsrat die Anbringung von Kreuzen ohne Einschränkung für verfassungsrechtlich zulässig, in Deutschland hält das Bundesverfassungsgericht dagegen die Anbringung von Kreuzen ohne Ausweichmöglichkeit für verfassungswidrig; das Bundesverwaltungsgericht billigt – die Vorgaben des Verfassungsgerichts aufgreifend – die Neuregelung des Art. 7 Abs. 3 BayEUG nur deshalb, weil durch die Widerspruchsregelung die Freiheit von Zwang sichergestellt wird. Weitet man dagegen die Perspektive des Vergleichs über die höchstrichterliche Rechtsprechung hinaus aus und nimmt die juristische Argumenta817 818
Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1285. Vgl. hierzu unten S. 262 ff.
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tion der ganzen gerichtlichen Auseinandersetzung um das Schulkreuz in beiden Ländern in den Blick, ergibt sich ein differenzierteres Bild, das eine einfache Gegenüberstellung der Art „Deutschland hier, Italien dort“ nicht mehr als sinnvoll erscheinen läßt. Denn sowohl in Deutschland wie in Italien argumentieren die befaßten Gerichte nicht einheitlich, es gibt nicht „die“ italienische und „die“ deutsche Argumentation. Vielmehr zeigt sich, daß sich bestimmte Argumentationsmuster, die Grenzen der jeweiligen nationalen Rechtsordnung transzendierend, in der Rechtsprechung beider Staaten finden, anders als ein Vergleich nur der höchstrichterlichen Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht, Bundesverwaltungsgericht und Staatsrat erwarten lassen würde. Dieses Ergebnis zeigt damit gleichzeitig die Wichtigkeit der Entscheidung, nicht nur die jeweiligen höchstrichterlichen Entscheidungen gegenüberzustellen, sondern auch die anderen Entscheidungen der gerichtlichen Auseinandersetzung um das Schulkreuz in beiden Ländern in den Vergleich einzubeziehen. Weiterführender als ein einfacher Vergleich nach Ländern erscheint daher eine Gegenüberstellung danach, ob die Entscheidungen, die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen für verfassungsrechtlich zulässig halten oder nicht. Es zeigt sich so, daß staatlicherseits angebrachte Schulkreuze vor allem unter zwei Gesichtspunkten als problematisch erachtet werden. In Deutschland wie in Italien sind dies zum einen das an den Staat gerichtete Verbot, sich mit (einer) Religion zu identifizieren, als Teil des Grundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität bzw. laicità des Staates, und zum anderen in grundrechtlicher Perspektive die negative Religionsfreiheit. Dies drückt sich zum Teil, doch keineswegs überwiegend in den Maßstäben aus, die für die Prüfung der Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in Schulen herangezogen werden. Alle italienischen Entscheidungen ziehen den Grundsatz der laicità als Prüfungsmaßstab heran, mehrere, jedoch nicht alle deutschen Entscheidungen prüfen auch am Maßstab der weltanschaulich-religiösen Neutralität. Alle deutschen Entscheidungen prüfen eine Verletzung der negativen Religionsfreiheit; zumindest in Ansätzen gilt dies auch für eine der italienischen Entscheidungen. Daß beide Aspekte in beiden Ländern von Bedeutung sind, zeigt sich viel deutlicher darin, daß in beiden Ländern Argumente herangezogen werden, die auf beide Problematiken abzielen. Obwohl sie fast ausnahmslos am Maßstab der laicità prüfen, verweisen auch die italienischen Entscheidungen – freilich mit der nicht unbedeutenden Ausnahme des Staatsrates – auf den Charakter des Kreuzes als aktives oder passives Symbol. Sie verwenden damit ein Argument, das – wie gezeigt – zum grundrechtsbezogenen Kontext der Eingriffsqualität und -intensität gehört. In Deutschland ziehen Entscheidungen beide Aspekte gesondert als Prüfungsmaßstab heran oder integrieren wie das Bundesverfassungsgericht die Frage der Nichtidentifikation in ihre Grundrechtsprüfung.
IV. Zusammenfassung und Folgerungen
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Die Analyse der Rechtsprechung in beiden Ländern zeigt, daß die Dogmatik und Definition der Grundsätze von Neutralität und laicità, die sich Länder und Entscheidungsergebnisse übergreifend relativ einheitlich darstellt, für das Ergebnis der jeweiligen Entscheidung kaum ausschlaggebende Wirkung entfalten konnte. Von etwas größerer Bedeutung ist dagegen die Wahl des Prüfungsmaßstabs. Die Entscheidung für den Grundsatz der laicità oder die negative Religionsfreiheit als Hauptmaßstab der Prüfung ist jedoch in weitem Maße auch von jenseits der betroffenen Sachbereiche des Staatskirchen- und Schulrechts liegenden Faktoren der allgemeinen Rechtstradition des jeweiligen Landes insgesamt beeinflußt. Als wirklich ausschlaggebend für den Ausgang der verschiedenen Entscheidungen muß jedoch das jeweils zugrundegelegte Verständnis vom Symbol des Kreuzes im schulischen Kontext gelten: kulturelles oder religiöses Symbol im Hinblick auf den Nichtidentifikationsgrundsatz, passives oder aktives religiöses Symbol im Hinblick auf dessen Eingriffsintensität und damit die Verletzung der negativen Religionsfreiheit. Für Entscheidungen, die die Anbringung von Kreuzen für unzulässig halten, ist das Kreuz auch im schulischen Kontext in erster Linie religiöses Symbol. Durch seine Anbringung setzt sich der Staat mit einer Religion in eins, er verstößt gegen das Nichtidentifikationsgebot. Gleichzeitig folgen diese Entscheidungen der These vom Kreuz als aktivem Symbol, dessen appellativer Charakter in Verbindung mit der Schulpflicht zu einem nicht zu rechtfertigenden Grundrechtseingriff wird. Auf diese beiden Säulen stützt sich die Argumentation der deutschen wie der italienischen Entscheidungen, die die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen für verfassungswidrig halten. Ohne Entsprechung in der deutschen, die Anbringung von Kreuzen kritisch bewertenden Rechtsprechung ist die Argumentation italienischer Gerichte, die Anbringung von Kreuzen bewirke eine unzulässige einseitige Privilegierung christlicher Konfessionen, insbesondere der katholischen Kirche. Etwas komplizierter ist der Gang der Argumentation der Entscheidungen, die von der Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen ausgehen, da diese Entscheidungen mit dem Nichtidentifikationsgebot und dem Grundrecht der Religionsfreiheit zwei Klippen zu umschiffen haben. Dem Vorwurf, die Anbringung von Kreuzen verstoße gegen das Nichtidentifikationsgebot, begegnen diese Entscheidungen – sieht man vom Urteil des Verwaltungsgerichts Venetien ab – mit der These vom Kreuz als kulturellem Symbol, die methodisch durch eine normative Bestimmung der Bedeutung des Symbols abgesichert wird. Durch die Installierung eines kulturellen Symbols wird die Identifikation des Staates mit (einer) Religion vermieden. Für den italienischen Staatsrat, der nicht auf grundrechtliche
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Argumente Bezug nimmt, ist damit bereits das Ende seiner Prüfung erreicht. Dies zeugt insoweit von einer gewissen inneren Konsequenz, als eine Verletzung der negativen Religionsfreiheit durch ein kulturelles Symbol zumindest vordergründig eher fernliegend erscheint. Wer würde bei kulturellen Symbolen wie der Büste eines wichtigen Schriftstellers der jeweiligen Nationalliteratur, sei es Goethe, sei es Manzoni819, oder, um ein Beispiel aus der „Rechtskultur“ zu verwenden, einer Nachbildung des Zwölftafelgesetzes von einer Verletzung der negativen Religionsfreiheit ausgehen. Vor allem die deutschen Entscheidungen vergegenwärtigen gleichwohl, daß der Betrachter des Symbols dieses trotz der normativen Zuschreibung einer kulturellen Bedeutung durch den Staat auch als religiöses Symbol verstehen könne; daher prüfen diese Entscheidungen auch eine Verletzung der negativen Religionsfreiheit. Während die vor dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts ergangen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen eine Grundrechtsverletzung mit der auch in Italien bekannten These vom Kreuz als passivem Symbol ablehnen, stellen die darauf folgenden Entscheidungen darauf ab, daß die Widerspruchslösung des Art. 7 Abs. 3 S. 3 BayEUG durch die Beseitigung von Zwang einen Grundrechtseingriff entfallen läßt. Damit erklären sich auch die unterschiedlichen Ergebnisse in der höchstrichterlichen Rechtsprechung: Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht prüfen (auch) eine Verletzung der negativen Religionsfreiheit, der Staatsrat prüft nur am Grundsatz der laicità des Staates und verwendet in gewisser Weise konsequent nur Argumente, die sich auf das Nichtidentifikationsgebot beziehen, obwohl, wie andere Entscheidungen zeigen, auch in Italien Argumente zur Begründung oder Ablehnung einer Verletzung der negativen Religionsfreiheit durchaus bekannt sind. Gestützt auf die These vom Kreuz als kulturellem Symbol, die er methodisch im Wege einer normativen Inhaltsbestimmung durch verfassungskonforme Auslegung der Bedeutung des Symbols „Kreuz“ begründet, ist die Anbringung in Schulräumen zulässig. Daß das Kreuz ein religiöses Symbol ist, ist für das Bundesverfassungsgericht eine feststellbare, quasi vorrechtliche Tatsache. Zum gleichen Ergebnis kommt im Rahmen seiner Grundrechtsprüfung das Bundesverwaltungsgericht, indem es auf den Eindruck beim Betrachter abstellt. Ergänzt um die These vom Kreuz als aktivem Symbol ist es nur zulässig, 819 Alessandro Francesco Tommaso Manzoni (1785–1873), Enkel von Cesare Beccaria, ist der Autor des 1827 erschienenen Romans „I promessi sposi“ (Deutscher Titel „Die Verlobten“, neuerdings auch „Die Brautleute“), der als erstes Beispiel des modernen italienischen Romans und mit der Göttlichen Komödie als eines der bedeutendsten Werke der italienischen Literatur gilt. Die Bedeutung der promessi sposi beruht nicht zuletzt auch auf dem die moderne italienische Sprache prägenden sprachtheorethischen Programm, das Manzoni dem Roman zugrundelegte.
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wenn die Schüler damit nicht unausweichlich konfrontiert werden, was nach dem Bundesverwaltungsgericht durch die Widerspruchslösung gewährleistet werden kann. Nur untergeordnete Bedeutung hat für den Ausgang der Entscheidung demgegenüber, welche Inhalte die jeweiligen Entscheidungen den Grundsätzen der weltanschaulich-religiösen Neutralität bzw. laicità zuschreiben. Unabhängig vom Ergebnis der Entscheidung werden die gleichen Herleitungen und positiven Umschreibungen dieser Grundsätze verwendet. Es konnte jedoch gezeigt werden, daß insofern ein gewisser Zusammenhang zwischen dem Ergebnis der Entscheidung und dem Verständnis der Grundsätze der Neutralität und laicità besteht, als Entscheidungen, die die Anbringung von Kreuzen für unbedenklich halten, diese Grundsätze negativ vom Modell der französischen laïcité abgrenzen, während im Gegenzug Entscheidungen, die die Anbringung von Kreuzen kritisch sehen, die Sicherung des religiösen Friedens als den Zweck dieser Grundsätze betonen. Diese unterschiedlichen Akzente lassen sich auch als Ausdruck unterschiedlicher Grundeinstellungen gegenüber dem Religiösen deuten, deren eine mehr Augenmerk auf den positiven Beitrag von Religionen für die Gesellschaft legt, während deren andere mehr auf die Gefahren achtet, die von Religionen auf den gesellschaftlichen Frieden ausgehen können. Dies fügt sich jedoch insofern zu einem stimmigen Bild, als diese Grundhaltung auch im unterschiedlichen Verständnis vom Symbolgehalt des Kreuzes als dem für das Entscheidungsergebnis ausschlaggebendem Argument zum Ausdruck gekommen sein mag. 2. Folgerungen im Hinblick auf die Grundsätze der weltanschaulich-religiösen Neutralität und laicità des Staates Am Ende eines Vergleichs der deutschen und italienischen Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen stellt sich zuletzt die Frage, welche Folgerungen sich daraus im Hinblick auf die Grundsätze der weltanschaulich-religiösen Neutralität bzw. laicità des Staates ergeben. Im wesentlichen lassen sich zwei Feststellungen machen. Zum einen zeigt der Vergleich, daß weder die deutsche noch die italienische Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen wesentliche Impulse zur Fortentwicklung der Dogmatik der Grundsätze der weltanschaulich-religiösen Neutralität bzw. laicità des Staates enthalten. Augenfällig ist vielmehr, daß alle untersuchten Entscheidungen, sofern sie sich nicht nur in beiläufiger Weise damit auseinandersetzen, ein deutliches
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A. Die Auseinandersetzung vor deutschen und italienischen Gerichten
Bemühen zeigen, sich in der Herleitung820 und positiven Definition821 der mit den Begriffen Neutralität und laicità verbundenen Inhalte in die hergebrachte – im Fall des Bundesverfassungsgerichts eigene – ständige verfassungsgerichtliche Rechtsprechung einzuordnen822, um so Kontinuität herzustellen. Dieser Befund gilt unabhängig davon, ob die einzelne Entscheidung die Anbringung von Kreuzen verfassungsrechtlich für bedenklich hält oder nicht; er gilt auch für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, auch wenn die Entscheidung wegen ihres Ergebnisses vielfach als Bruch mit der bisherigen staatskirchenrechtlichen Rechtsprechung interpretiert wurde823. Wie gezeigt werden konnte, unterscheiden sich diese beiden Gruppen von Entscheidungen im Hinblick auf die Grundsätze von Neutralität und laicità nur insofern, als erstere die Sicherung des religiösen Friedens als Zweck dieser Grundsätze besonders betonen, während letztere die positive Definition dieser Grundsätze um eine negative Abgrenzung zur französischen laïcité ergänzen. Diese Unterschiede sind jedoch für das Ergebnis der jeweiligen Entscheidung im Gegensatz zu den unterschiedlichen Verständnissen des Kreuzessymbols nicht von wesentlicher Bedeutung. Insgesamt vermag die Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Kreuzen in öffentlichen Schulen damit trotz der unterschiedlichen Ergebnisse auf der Ebene der höchstrichterlichen Entscheidungen nichts an dem für die Rechtssprechung von Bundesverfassungsgericht und italienischem Gerichtshof zu den Grundsätzen von weltanschaulich-religiöser Neutralität und laicità des Staates insgesamt gefundenen Ergebnis ändern, daß beide Grundsätze eine große inhaltliche Nähe und Konvergenz sowohl in ihrer Begründung wie ihren Inhalten aufweisen824. Zum anderen ist über diese länderübergreifende Konvergenz und Kontinuität hinaus im Hinblick auf die Grundsätze weltanschaulich-religiöser Neutralität bzw. laicità des Staates ein zweites Ergebnis der vergleichenden Analyse der deutschen und italienischen Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen festzuhalten. Die untersuchte Rechtsprechung zeigt jenseits der konkreten Frage der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen die Schwierigkeiten auf, das Verhältnis zwischen den Grundsätzen von Neutralität und laicità und den Bestimmungen des Verfassungsrechts, aus 820
Vgl. oben S. 169. Vgl. oben S. 175. 822 Kritisch zur Bedeutung des Zitierens von Präjudizien für die juristische Argumentation E. Schneider/F. E. Schnapp, Logik für Juristen. Die Grundlagen der Denklehre und der Rechtsanwendung, 6. Aufl. München 2006, S. 172 ff., 266 ff. et passim. 823 Bspw. Th. Würtenberger, S. 408. 824 Vgl. oben S. 111 ff., 121 f. 821
IV. Zusammenfassung und Folgerungen
203
denen diese Grundsätze abgeleitet werden, insbesondere den grundrechtlichen Verbürgungen, zu bestimmen. Diese Problematik einer mangelnden inhaltlichen Abgrenzung zwischen Vorschriften des positiven Verfassungsrechts und daraus abgeleiteten Verfassungsprinzipien findet an verschiedenen Stellen des Vergleichs ihren Niederschlag: Wie gezeigt werden konnte, verbindet sie gleichsam wie ein roter Faden die Herleitung der deutschen weltanschaulich-religiösen Neutralität825 mit der Bestimmung der in Italien mit dem Begriff der laicità verbundenen Inhalte826 und den Prüfungsmaßstäben, an denen die Zulässigkeit von Kreuzen in der Schule gemessen wird827. Darüberhinaus spiegelt sie sich aber auch in den Schwierigkeiten der Entscheidungen wieder, bestimmte Argumente als auf die Grundsätze von Neutralität und laicità oder auf die Frage einer Grundrechtsverletzung bezogen zu erkennen, wie sich in den Ausführungen zum Gleichheitsgrundsatz828 und bei der These vom Kreuz als aktivem Symbol829 zeigt. Es handelt sich dabei um ein Problem, das der Konstruktion der weltanschaulich-religiösen Neutralität und der laicità des Staates als ungeschriebener, aus einer Mehrzahl von Bestimmungen des positiven Verfassungsrechts abgeleiteter Verfassungsgrundsätze inhärent ist und in der untersuchten Rechtsprechung exemplarisch deutlich wird. Auch wenn es sich um eine Problematik handelt, die im Bauprinzip dieser Grundsätze angelegt ist, trägt jedenfalls jedes Bemühen, diese Grundsätze klarer zu konturieren, zur Entschärfung des Problems bei.
825 826 827 828 829
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
oben oben oben oben oben
S. S. S. S. S.
170. 175. 180. 190, 194. 187.
B. Die Auseinandersetzung um das Kreuz in der Schule in der deutschen und italienischen Literatur Der Streit um die Zulässigkeit von Kreuzen in öffentlichen Schulen wurde nicht nur vor unterschiedlichen Gerichten aller Instanzen geführt, sondern war in Deutschland wie in Italien auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur Gegenstand einer lebhaften Debatte. Bevor nun einzelne Aspekte dieser Diskussion aufgegriffen werden, soll auf einige Zusammenhänge und Hintergründe der italienischen Diskussion hingewiesen werden, die erlauben, die in der Literatur vorgetragenen Thesen und Argumente besser einzuordnen und zu verstehen. Während sich in Deutschland die in der Literatur geführte Auseinandersetzung um die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen hauptsächlich am Urteil des Bundesverfassungsgerichts entzündete und somit im wesentlichen in einer kritischen oder affirmativen Auseinandersetzung mit der Argumentation des Verfassungsgerichts bestand1, kann man die italienische Debatte dagegen zu einem guten Teil mit dem Begriff „präventiv“ charakterisieren und so den Titel einer Tagungsreihe der Universität Ferrara, der „Seminari preventivi ferraresi“, aufgreifen, aus deren Kontext ein besonders reichhaltiger Sammelband2 zum Thema herrührt. „Präventiv“ meint hier, daß die Debatte in der Literatur geführt wurde, bevor italienischer Verfassungsgerichtshof und Staatsrat ihre Entscheidungen fällten. Konkreter Anlaß für eine explosionsartige Zunahme der italieni1 Kritisch zur Tendenz der Staatsrechtslehre, sich reaktiv auf Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht zu konzentrieren und zu wenig prospektiv vorauszuschauen und so auf künftige Entscheidungen Einfluß zu nehmen P. Häberle, Vermachtungsprozesse in nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, insbesondere in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Die Verwaltung, Beiheft 7, 2007, S. 159, 173: „Mein großer akademischer Lehrer K. Hesse sagte mir einmal, vor schwierigen Fällen suche er gelegentlich in der Karlsruher Bibliothek nach Auskunft und Rat, finde aber selten etwas, um so mehr aber Kritik ex post . . . Die Aufgabe ‚wissenschaftlicher Vorratspolitik‘ (1978) auch für das BverfG wird von unserer Seite nicht konsequent genug wahrgenommen. Die Wissenschaft sollte ‚Vorleistungen‘ erbringen . . . Wir denken lieber ‚nach‘ statt ‚voraus‘ und sind nicht genüngend wagemutig.“. 2 Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004.
B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
205
schen Literatur zum Thema3 waren vielmehr die fast zeitgleich ergangenen Beschlüsse des Landgerichts L’Aquila4 und des Verwaltungsgerichts Venetien5. Schon vorher waren in Italien allerdings die Entscheidungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts und des schweizerischen Bundesgerichts zur Zulässigkeit von Kreuzen an öffentlichen Schulen zur Kenntnis genommen worden6. Ebenso Beachtung fanden in Italien der ungefähr zeitgleich veröffentlichte Bericht der nach ihrem Vorsitzenden, dem médiateur de la République, Bernard Stasi häufig als „Commission Stasi“ bezeichneten französischen Commission de Réflexion sur l’Application du Principe de Laïcité dans la République7 sowie das ein Jahr später erlassene und vor allem auf islamische Kopftücher zielende Gesetz zum Verbot „auffälliger religiöser Symbole“8 an französischen Schulen9. Insgesamt ist der italienischen Diskussion damit durchweg eine ausgeprägte rechtsvergleichende Dimension zu eigen, die auch in der lebhaften Diskussion um die insbesondere von Stefano Ceccanti10 ins Spiel gebrachte „bayerische Lösung“ zum Ausdruck kommt. Erörtert wurde in der italienischen Literatur – insbesondere vor der Veröffentlichung der obergerichtlichen Entscheidungen – nicht nur die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen sondern auch Fragen der Zulässigkeit der Vorlage des Verwaltungsgerichts Venetien, des einschlägigen Rechtswegs und der Fortgeltung und bindenden Wirkung der königlichen Dekrete. Diese Aspekte traten im Laufe der Zeit mehr und mehr in den Hintergrund, während gleichzeitig einer Würdigung der verfassungsgerichtlichen und weiteren verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen mehr Raum eingeräumt wurde. Augenfällig ist dabei allerdings, daß die Zahl der Stellungnahmen aus der Literatur zu den gerichtlichen Entscheidungen deutlich ge3
S. Mancini, La contesa, S. 184. s. hierzu S. 122. 5 s. hierzu S. 127. 6 Zu BVerfGE 93, 1 ff. J. Luther, La croce, S. 681 ff.; M. Nunziata, S. 609 ff.; zu BGE 116 Ia 252 V. Pacillo, Decisioni elvetiche in tema di crocifisso e velo islamico nella scuola pubblica: spunti di comparazione, Dir. eccl. 1999, I, S. 210 ff. 7 B. Stasi, Rapport de la Commission de Réflexion sur l’Application du Principe de Laïcité dans la République remis au Président de la République le 11 décembre 2003, Paris 2004. 8 Loi nº2004-228 du 15 mars 2004 encadrant, en application du principe de laïcité, le port de signes ou de tenues manifestant une appartenance religieuse dans les écoles, collèges et lycées publics, durch das Artikel L141-5-1 des Code de l’éducation entsprechend geändert wurde. 9 Aus der italienischen Literatur bspw. A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 90 ff.; S. Prisco, S. 280 ff. 10 S. Ceccanti, S. 21 ff.; zur italienischen Diskussion um die bayerische Lösung vgl. S. 262 ff. 4
206
B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
ringer ist, als die derjenigen Beiträge, die vor der Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichtshofs veröffentlicht wurden. In inhaltlicher Perspektive ist dabei allerdings eine Verschiebung der Fragestellung weg von der Perspektive der Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen hin zu den Rückschlüssen, die aus den Entscheidungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf das Konzept der laicità zu ziehen sind, zu beobachten – dies sei an dieser Stelle schon vorweggenommen. Deutlich wird dies unter anderem an einem der Referate, die sich auf der Tagung der Vereinigung der italienischen Verfassungsrechtler 200711 des Themas annahmen12. Auf aus deutscher Sicht interessante Aspekte der italienischen Literatur weisen die Referate dieser Tagung jedoch auch in anderer Hinsicht beispielhaft hin. Zum einen zeigt sich hier eine – über die Offenheit für rechtsvergleichende Argumente hinausgehende – die streng juristisch-dogmatische Herangehensweise transzendierende Weitung und Öffnung der Diskussion für philosophische Perspektiven. Beispielhaft sei hier nur auf die häufigen Bezugnahmen auf Jürgen Habermas13 und Joseph Ratzinger14 verwiesen, die in den Referaten der Tagung ähnlich häufig zitiert werden wie ErnstWolfgang Böckenförde15. Zum anderen ist auf die bemerkenswerte vorläufige Veröffentlichung der Referate auf der Internetseite der Vereinigung der italienischen Verfassungsrechtler16 hinzuweisen, die insofern beispielhaft 11 Jahrestagung der Associazione italiana dei costituzionalisti 2007 „Problemi pratici della laicità agli inizi del secolo XXI“ („Praktische Probleme der laicità am Beginn des 21. Jahrhunderts“). 12 E. Rossi, S. 379 ff.; ebenso R. Botta, Paradossi, S. 850; R. Coppola, S. 41 ff.; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 159; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 119; I. Pasquali Cerioli, S. 146; ausführlich N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale, S. 199 ff., der versucht eine Veränderung des Verständnisses der laicità in den politischen Kontext einer stärkeren Betonung der abendländischen Identität einzuordnen. 13 Bspw. F. Rimoli, Laicità e pluralismo bioetico, in: Associazione italiana dei costituzionalisti (Hrsg.), Annuario 2007 – Problemi pratici della laicità agli inizi del secolo XXI, Padova 2008. S. 167, 168 Fn. 1, S. 170 Fn. 4, S. 180 Fn. 27, S. 209 Fn. 90; E. Rossi, S. 368 Fn. 87; A. Spadaro, S. 112 Fn. 108, 111; L. Violini, Bioetica e laicità, in: Associazione italiana dei costituzionalisti (Hrsg.), Annuario 2007 – Problemi pratici della laicità agli inizi del secolo XXI, Padova 2008. S. 221, 270 f. Fn. 94, 96. 14 Als J. Ratzinger bspw. E. Rossi, S. 364 Fn. 81; A. Spadaro, S. 95 Fn. 63, S. 107 Fn. 93, S. 160 Fn. 205; als Benedikt XVI bspw. E. Rossi, S. 369 Fn. 91; A. Spadaro, S. 66 Fn. 14; S. 105 Fn. 90, S. 135 Fn. 166. 15 Bspw. E. Rossi, S. 371 Fn. 95; A. Spadaro, S. 64 Fn. 12, S. 112 Fn. 112; L. Violini, S. 249 S. 57. 16 http://www.associazionedeicostituzionalisti.it/materiali/convegni/aic200710/in dex.html (letzter Abruf: 3. September 2011).
B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
207
ist, als insgesamt das Medium Internet in Italien einen größeren Stellenwert in der verfassungsrechtlichen Diskussion einzunehmen scheint. So wurden verschiedene Beiträge zur verfassungsrechtlichen Debatte um die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen zunächst im Medium Internet veröffentlicht17; zum Teil wurden diese Beiträge anschließend – gegebenenfalls Reaktionen anderer Rechtswissenschaftler aufgreifend – auch gedruckt veröffentlicht18. Häufig nehmen gedruckte Veröffentlichungen auch auf Publikationen im Medium Internet Bezug19. Ferner soll an dieser Stelle auf einige strukturelle und historische Eigenheiten der Beschäftigung italienischer Rechtswissenschaftler mit dem öffentlichen Recht und dem Staatskirchenrecht im besonderen hingewiesen werden. Zum einen ist zu erwähnen, daß in Italien die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Teildisziplinen des öffentlichen Rechts wesentlicher stärker ausgeprägt zu sein scheint als in Deutschland. Nördlich der Alpen ist man gewohnt, daß sich die gleichen Rechtswissenschaftler sowohl mit Fragen des Verwaltungsrechts wie des Verfassungsrechts auseinandersetzen. Ähnlich wie beispielsweise das Parteienrecht gilt das Staatskirchenrecht so als spezieller Teil des Verfassungsrechts. Exemplarischen Ausdruck findet dieses die Unterscheidung in Teildisziplinen relativierende Verständnis in den Bezeichnungen von Lehrstühlen und den vergebenen Venien, sowie im übergreifenden Organisations- und Diskussionsforum der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer. Demgegenüber verlangt südlich der Alpen die Selbstbeschreibung des Rechtswissenschaftlers sich als Verwaltungsrechtler oder Verfassungsrechtler, als Ordinarius für Verfassungsrecht oder als Ordinarius für Staatskirchenrecht zu bezeichnen und damit zu ver17 Verwiesen sei hier insbesondere auf die Rubrik stato laico e libertà religiosa des von Prof. R. Bin, Universität Ferrara, moderierten forum der Zeitschrift Quaderni costituzionali http://www.forumcostituzionale.it/site/content/view/41/45/(letzter Abruf: 3. September 2011) sowie die Rubrik crocifisso des von mehreren norditalienischen juristischen Fakultäten betreuten Osservatorio delle libertà ed istituzioni religiose(OLIR) http://www.olir.it/areetematiche/75/index.php (letzter Abruf: 3. September 2011). 18 Beispielsweise wurden die umfangreichen Beiträge von S. Sicardi, S. 501 ff. und A. Barbera, S. 33 ff. zunächst auf den Seiten der Vereinigung der Verfassungsrechtler bzw. im forum der Quaderni costituzionali veröffentlicht, wo sie noch immer abrufbar sind: http://www.associazionedeicostituzionalisti.it/materiali/convegni/ 200611foggia/sicardi1.html (letzter Abruf: 26. Juli 2010) bzw. http://www.forum costituzionale.it/site/images/stories/pdf/nuovi%20pdf/Paper/0036_barbera.pdf (letzter Abruf: 3. September 2011). Erst in einem zweiten Schritt wurden sie dann in einem Sammelband bzw. einer Archivzeitschrift publiziert. 19 Vgl. beispielsweise N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale, S. 184 Fn. 11, S. 185 Fn. 12, S. 189 Fn. 23; S. Lariccia, La laicità, S. 440, Fn. 54; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 160 Fn. 26, S. 174 Fn. 52; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 112, Fn. 48.
208
B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
stehen; die Organisationsform ist entsprechend die einer Vereinigung der Verfassungsrechtler. Mit dieser strukturellen Trennung einhergehend ist die Beschäftigung mit dem diritto ecclesiastico in Italien sehr stark davon geprägt, sich mit dem Recht des Konkordates von 1929 bzw. dessen späteren Modifikationen auseinanderzusetzen. Besonders nachgegangen wurde Fragen der Wirkung der kirchlichen Eheschließung im staatlichen Recht und den damit zusammenhängenden Problemen der Anerkennung von Entscheidungen kirchlicher Gerichte in Ehesachen20 – bei gleichzeitiger Tendenz zur Vernachlässigung der verfassungsrechtlichen Perspektiven21. Die Beschäftigung mit diesen Fragen erfolgte dabei vorwiegend aus einem in gewisser Weise dem internationalen Privatrecht ähnlichen Blickwinkel der Klärung des Verhältnisses verschiedener Rechtsordnungen zueinander22, wozu sicher auch die Formulierung von Art. 7 Abs. 1 it. Verf. ihren Beitrag geleistet haben mag. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur daran, daß auch der italienische Verfassungsgerichtshof seine Theorie der principi supremi, der obersten Verfassungsprinzipien, in der Auseinandersetzung mit der Frage der Stellung des Konkordates und des europäischen Gemeinschaftsrechts in der Normenhierarchie und ihrer Überprüfbarkeit am Maßstab der Verfassung entwickelt hat23: in beiden Fällen ist die Perspektive die einer Koordinierung der staatlichen Rechtsordnung mit der einer anderen nichtstaatlichen Rechtsordnung. Wenngleich die Mehrheit der Beiträge in der Diskussion um die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen von Rechtswissenschaftlern stammt, die sich als „Verfassungsrechtler“ bezeichnen, während Beiträge von „Staatskirchenrechtlern“ zahlenmäßig eher in der Minderheit sind, sollte dennoch die Prägekraft einer Denktradition, die Fragen des Religionsverfassungsrechts vorwiegend als Probleme des Verhältnisses zwischen Staat und katholischer Kirche und der rechtlichen Regelung dieses Verhältnisses versteht, nicht unterschätzt werden. Ein letzter allgemeiner Hinweis soll schließlich noch ein kurzes Schlaglicht auf einige politische Zusammenhänge werfen. Zunächst ist in Erinnerung zu rufen, daß seit dem Zusammenbruch der christdemokratischen Partei democrazia cristiana, die während der ersten 45 Jahre des Bestehens der italienischen Republik als Partei des „katholischen Italien“ und gleichzeitig privilegierter Ansprechpartner der katholischen Kirche fungierte, das italie20 Erinnert sei hier nur an die jüngeren Entscheidungen des italienischen Verfassungsgerichtshofs zu diesem Thema vgl. Fn. 269, S. 75 m. w. N. 21 G. B. Varnier, Il diritto ecclesiastico dopo le riforme, in: ders. (Hrsg.), Il nuovo volto del diritto ecclesiastico italiano, Soveria Mannelli 2004, S. 53, 59. 22 G. B. Varnier, Il diritto ecclesiastico, S. 53, 59. 23 Vgl. oben S. 86 ff.
B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
209
nische Parteienspektrum keine starke „christliche Partei“ mehr kennt, vielmehr finden sich engagierte Christen nun sowohl im Mitte-Links- wie im Mitte-Rechts-Lager. Damit zusammenhängend bezog die katholische Kirche in Italien in einigen ethisch sensiblen politischen Fragen relativ deutlich öffentlich Stellung. Ein Beispiel hierfür ist die Auseinandersetzung um das Gesetz zur Fortpflanzungsmedizin: Nachdem das italienische Parlament ein relativ restriktives Gesetz zur Fortpflanzungsmedizin24 verabschiedet hatte, kam es im Juni 2005 auf Initiative von Teilen des links-liberalen politischen Spektrums zu einer Volksabstimmung über die teilweise Aufhebung dieses Gesetzes. Das Referendum scheiterte, weil das erforderliche Quorum nicht erreicht wurde, nachdem die italienische Bischofskonferenz die Gläubigen aufgefordert hatte, nicht zur Abstimmung zu gehen. Dies wurde in Teilen der Öffentlichkeit als unangemessene Einmischung der katholischen Kirche in die Politik angesehen. In der politischen Diskussion bildete sich hierbei für Akteure des konservativen Lagers, die obgleich sie persönlich nicht als praktizierende Katholiken oder auch Atheisten gelten, die ethischen Positionen der Kirche teilen, die Bezeichnung atei devoti heraus, übersetzbar vielleicht mit „kirchenhörige Atheisten“. Zu dieser Gruppe wird insbesondere auch der damalige Präsident des italienischen Senats und Philosoph Marcello Pera gezählt, der 2004 zusammen mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger ein in der italienischen Öffentlichkeit stark beachtetes Buch über die christlichen Wurzeln und die christliche Identität des Abendlandes25 veröffentlichte. Einmischung, atei devoti und Identität sind drei Begriffe, die auch im Kontext der ungefähr zeitgleich ablaufenden Diskussion um die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen an italienischen Schule immer wieder auftauchen und sich vor dem eben skizzierten Hintergrund besser erklären26. Vor diesem Hintergrund sollen nun einzelne Punkte der Diskussion um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen aufgegriffen werden. Nach einem Überblick über die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, die für die Beurteilung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit herangezogen werden, ist auf die Deutungen und Verständnisse des Symbols, um dessen Anbringung in öffentlichen Schulen gestritten wird, einzugehen. Schließlich werden die Argumente für und gegen eine ungeschränkte Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffent24 Gesetz Nr. 40 vom 19. Februar 2004 „Norme in materia di procreazione medicalmente assistita“, meist als „legge 40“ bezeichnet; hierzu S. Canestrari, S. 51 ff. 25 M. Pera/J. Ratzinger, Senza radici: Europa, relativismo, cristianesimo, islam, Milano 2004; deutsche Ausgabe M. Pera/J. Ratzinger, Ohne Wurzeln: der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2005. 26 Vgl. nur den Titel des Aufsatzes von N. Colaianni, S. 851 ff.: „Il crocifisso teo-con“.
210
B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
lichen Schulen sowie die verschiedenen in der Literatur diskutierten Lösungsvorschläge dargestellt.
I. Verfassungsrechtliche Maßstäbe In den Beiträgen der Literatur zur Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen wird auf die gleichen Maßstäbe des Verfassungsrechts Bezug genommen, die in den Entscheidungen der Rechtsprechung dominieren: Religionsfreiheit, laicità des Staates in Italien und weltanschaulich-religiöse Neutralität in Deutschland. Ähnlich wie in der Rechtsprechung werden auch in den Beiträgen der wissenschaftlichen Diskussion in Deutschland und Italien durchaus unterschiedliche Akzente und Schwerpunkt gesetzt. 1. Verletzung der negativen Religionsfreiheit oder Garantie von weltanschaulich-religiöser Neutralität bzw. laicità des Staates? In beiden Ländern reflektieren nur relativ wenige Beiträge tiefergehend, ob sich die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen hauptsächlich als ein Problem der laicità des Staates bzw. seiner weltanschaulich-religiösen Neutralität oder als ein Problem der negativen Religionsfreiheit stellt. In einer Vielzahl von italienischen Diskussionsbeiträgen wird die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen überhaupt nur im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der laicità erörtert27. Daß die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen auch in grundrechtlicher Perspektive im Hinblick auf die negative Religionsfreiheit als problematisch erscheinen könnte, erörtern diese Beiträge dagegen nicht. Eine andere größere Gruppe von Beiträgen, spricht gleichermaßen den 27 A. Barbera, S. 33 ff.; R. Botta, Simboli religiosi, S. 235 ff.; ders., L’esposizione del crocifisso tra „non obbligo“ e divieto, Corr. giur. 2005, S. 1074 ff.; ders., Paradossi, S. 846 ff.; S. Ceccanti, S. 1 ff.; P. Colella, Il crocifisso e la sua esposizione, 1161 ff.; ders., Crocifisso e libertà religiosa, S. 1391 ff.; R. Coppola, S. 39 ff.; M. T. Denaro, S. 131 ff.; P. Flores d’Arcais, Il crocifisso e la democrazia. Lettera aperta agli amici credenti, Micromega 2004, S. 223 ff.; V. Pacillo, S. 210 ff.; B. Pastore, Società multiculturale e laicità, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 259 ff.; F. Paterniti, S. 265 ff.; A. Pugiotto, La corte messa in croce, S. 291 ff.; B. Randazzo, Il crocifisso come simbolo di laicità: un paradosso – Quando è oltrepassato il confine tra diritto e politica, Dir. uom. cron. batt. 2006, S. 78 f.; E. Rossi, S. 359 ff.; S. Sicardi, S. 501 ff.; M. Tigano, S. 694 ff.
I. Verfassungsrechtliche Maßstäbe
211
Grundsatz der laicità des Staates als auch die negative Religionsfreiheit an. Kaum eingegangen wird dabei allerdings darauf, in welchem Verhältnis diese beiden möglichen Prüfungsmaßstäbe zueinander stehen. Allenfalls wird relativ pauschal daraufhingewiesen, daß beide in dieser Frage zusammenfallen würden, oder jedenfalls ein Verstoß gegen beide vorliege28. Demgegenüber wurde in der deutschen Diskussion fast ausnahmslos das Grundrecht der Religionsfreiheit des Artikels 4 GG – häufig in Verbindung mit dem Elternrecht – als Maßstab für die Prüfung der Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in staatlichen Schulen29 bemüht. In gewisser Weise umgekehrt zur Bedeutung der laicità in der italienischen Debatte verhält es sich in der deutschen Literatur mit dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität. Unterläßt die italienische Diskussion zum Teil, die Zulässigkeit von Schulkreuzen an grundrechtlichen Maßstäbe zu messen, finden sich in der deutschen Literatur Beiträge, die darauf verzichten, die Anbringung von Kreuzen in staatlichen Schulen am Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität zu messen. In ihrer Mehrzahl handelt es sich dabei um Stellungnahmen, die auf diese Frage schlicht nicht eingehen30 oder die objektiv-rechtliche Zulässigkeit einfach unterstellen, bevor die Frage einer Verletzung der Religionsfreiheit ausführlich erörtert wird31. 28 G. Brunelli, Simboli collettivi, 293, 298 f.; M. Canonico, S. 276, 282; A. Guazzarotti, Crocifisso, S. 174 ff.; S. Lariccia, La laicità, S. 415 ff.; G. Majorana, S. 195 ff.; C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 210, 212; M. Miegge, Il simbolo della croce, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 213; I. Nicotra, S. 233, 237; M. Nunziata, S. 609 ff.; R.Tosi, S. 306. 29 H. Anke/T. Severitt, S. 37 ff.; E. Benda, ZRP-Rechtsgespräch, S. 427, 429 f.; G. Biletzki, S. 2633 f.; A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 448, 450, 457; G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3348 ff.; ders., Der Kruzifix-Beschluß zwischen Neutralität, S. 201, 203; ders., Crux bavarica, S. 490, 493 ff.; ders., Das bayerische Kruzifix-Gesetz, S. 107 f.; S. Detterbeck, S. 426, 432; W. Eberl, S. 107 ff.; M. Eichberger, S. 85 f.; M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 373 ff.; H. Goerlich, S. 1184 ff.; C. Goos, S. 224; M. Heckel, S. 455 ff.; D. Heckmann, S. 880 ff.; F. Hufen, 258 ff.; J. Ipsen, S. 301, 311; J. Isensee, Bildersturm, S. 10 ff.; B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 89 ff.; K.-H. Kästner, S. 256 ff.; Ch. Link, S. 3353, 3356 ff.; J. Müller-Vollbehr, S. 996 ff.; A. Nolte, Der richtige Weg, S. 891 ff.; K. Redeker, S. 3369 f.; L. Renck, Positive und negative Bekenntnisfreiheit, S. 205 ff.; ders., Schulkreuz-Gesetz, S. 994, 997; J. Schmittmann, Anmerkung 1995, S. 429; S. Seltenreich, S. 471; M. Stolleis, S. 378; Th. Würtenberger, S. 397 ff. 30 E. Benda, ZRP-Rechtsgespräch, S. 427 ff.; G. Biletzki, S. 2633 f.; S. Detterbeck, S. 426 ff.; M. Eichberger, S. 85 f.; M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 373 ff.; F. Hufen, S. 258 ff.; J. Schmittmann, Anmerkung 1995, S. 429 ff.; diese Tendenz in deutschen Literatur bemängelnd auch G. Czermak, Zur Unzulässigkeit des Kreuzes, S. 17. 31 D. Heckmann, S. 881 ff.
212
B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
Nur vereinzelt erfolgt demgegenüber in Deutschland wie in Italien eine gründlichere Auseinandersetzung, ob die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen am Grundsatz der laicità bzw. der weltanschaulich-religiösen Neutralität oder am Grundrecht der negativen Religionsfreiheit zu messen ist. In Italien scheint wohl eine Mehrheit der Äußerungen den Schwerpunkt eindeutig auf die laicità des Staates legen zu wollen. Betont wird von dieser Ansicht, daß ein grundrechtlicher Maßstab nicht geeignet sei, der Fragestellung gerecht zu werden, und daß dadurch der eigentliche Kern der Problematik verkannt werde. Zum Teil zeigt sich hier über ein oftmals engeres Verständnis des Schutzbereichs der Religionsfreiheit32 hinaus ein anderes Grundrechtsverständnis, das ausdrücklich eine horizontale Wirkung und unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte anerkennt33. Würde man in der Konfrontation mit einem religiösen Symbol eine Verletzung der Religionsfreiheit eines Schülers erblicken, – so wird in dieser Perspektive argumentiert – dann müßte man zur Beseitigung dieser Verletzung beispielsweise auch einen Anspruch gegen andere Mitschülerinnen anerkennen, auf das Tragen eines islamisch motivierten Kopftuchs zu verzichten. Davon ausgehend wird einerseits eine Vervielfachung von Spannungen und andererseits eine freiheitsbeschränkende allgemeine Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentfaltung befürchtet. Weil dadurch Pluralismus und Anerkennung von Verschiedenheit mehr verhindert als gefördert werde, sei eine Überbetonung und Überinterpretation der Religionsfreiheit abzulehnen und die Lösung für das Problem religiöser Symbole im Grundsatz der laicità zu suchen34. Entsprechend wird von diesen Stimmen auch die Regelung des bayerischen Art. 7 Abs. 3 BayEUG abgelehnt, weil sie nur eine Beeinträchtigung der Religionsfreiheit verhindere, die laicità des Staates aber außer Acht bleibe35. Über die konkrete Frage der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen hinaus ist in rechtsvergleichender Perspektive interessiert, wie hier versucht wird, mit den aus einer horizontalen Wir32
A. Reale, S. 293 hält beispielsweise weder die Religions- noch die Gewissensfreiheit weil durch die Anbringung von Kreuzen niemand in der Manifestation seines Glaubens gehindert oder eingeschränkt werde. 33 S. Mancini, Taking Secularism S. 191, unter ausdrücklicher Berufung auf O. Chessa, La laicità come uguale rispetto e considerazione, Abschnitt 4, abrufbar auf der Seite der ACI unter http://www.rivistaaic.it/old_site_aic/materiali/anticipa zioni/laicita/index.html (letzter Abruf: 3. September 2011); letzterer verwendet dabei ausdrücklich das deutsche Wort Drittwirkung; zur verbreiteten Annahme einer unmittelbaren Wirkung der Grundrechte im Privatrecht vgl. H. Nießen, Die Wirkung der Grundrechte im deutschen und italienischen Privatrecht, Hamburg 2005, S. 168 ff. m. w. N. 34 S. Mancini, Taking Secularism, S. 191; dies., Il potere dei simboli, i simboli del potere – laicità e religione alla prova del pluralismo, Padova 2008, S. 36 f.; O. Chessa, Abschnitt 4. 35 S. Mancini, Taking Secularism, S. 191; O. Chessa, Abschnitt 6.
I. Verfassungsrechtliche Maßstäbe
213
kung der Grundrechte herrührenden Problemen, die auch in Deutschland diskutiert werden36, umzugehen: nicht die unmittelbare Anwendbarkeit von Grundrechten zwischen Privaten wird verworfen, vielmehr wird eine Grundrechtsverletzung abgelehnt und gleichzeitig befürwortet einen anderen objektiven Prüfungsmaßstab heranzuziehen. Zum anderen speist sich die Tendenz, den objektiv-rechtlichen Grundsatz der laicità des Staates und nicht das subjektive Grundrecht der negativen Religionsfreiheit als Prüfungsmaßstab zu bevorzugen, wohl aus einer stark institutionenzentrierten Denkweise. Das Anliegen, den Staat als Institution – und damit auch die Institution der staatlichen Schule – als nicht konfessionell konnotiert und laico, säkular geprägt, zu definieren, wird als den grundrechtlichen Fragen der negativen Religionsfreiheit vorausgehend verstanden; wichtiger und grundlegender als die Erörterung, ob in einer konkreten Situation das Grundrecht eines Einzelnen verletzt wurde, erscheint aus diesem Blickwinkel die allgemeine Vereinbarkeit der Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern mit einer bestimmten Charakterisierung der staatlichen Institutionen37, zumal mitunter argumentiert wird, ein Verstoß gegen den Grundsatz der laicità sei als Nebenfolge auch als Verletzung der Religionsfreiheit zu werten38. Entsprechend lehnt Manco ausdrücklich eine „subjektivistische“39 Perspektive ab, weil ein solcher Maßstab in verschiedenen Konstellationen nicht zu einer angemessenen Lösung führen könne. Dies sei nicht nur dort der Fall, wo alle Schüler katholischen Glaubens seien und keine Einwände gegen die Anbringung eines Kreuzes hätten, sondern auch dann, wenn die Bildung des Gewissens schon abgeschlossen sei und so anders als bei Schulkindern von der Konfrontation mit dem Kreuz keine Einwirkung auf die Entwicklung des Gewissens mehr ausgehen könne40. Demgegenüber sei vielmehr eine „objektivistische“41 Perspektive jenseits der Einzelinteressen der betroffenen Individuen zu bevorzugen, die sich auf die Axiologie zu konzentrieren habe, an der sich staatliche Institutionen an und für sich auszurichten hätten42. Dabei dürfe sich konkret der stato laico, der säkulare Staat, nicht zu einem Träger einer bestimmten inhaltlichen Option, einer bestimmten Weltanschau36 Zum Ganzen H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl., Tübingen 2004, Vorbemerkung Rn. 98 m. w. N. 37 S. Lariccia, Diritti di libertà, S. 187; P. Veronesi, Abrogazione „indiretta“, S. 315 f.; ders., Una „croce“, S. 1073 f. 38 So beispielsweise C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 212; I. Nicotra, S. 237; A. Reale, S. 292 f. 39 M. Manco, S. 33. 40 M. Manco, S. 33. 41 M. Manco, S. 34. 42 M. Manco, S. 34.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
ung machen43. Entsprechend hebt Manco in seiner Würdigung des Kruzifix-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts weniger dessen grundrechtliche Überlegungen im Hinblick auf Art. 4 GG hervor, sondern stellt vielmehr mehr dessen Ausführungen zur weltanschaulich-religiösen Neutralität heraus44. In ähnlicher Weise geht auch Mancini davon aus, daß es bei der Frage der Anbringung von Kreuzen in Schulen – anders als beim Kopftuch der Lehrerin – im Schwerpunkt um die laicità der Institution und nicht um die negative Religionsfreiheit gehe45. Allgemein sei die Religionsfreiheit allein zum Schutz religiöser Minderheiten nicht ausreichend, denn sie stehe der Privilegierung einer bestimmten Konfession nicht im Wege; ebensowenig könne sie verhindern, daß religiöse Werte der Mehrheit – eventuell umgedeutet in kulturelle Werte – Eingang in öffentliche Entscheidungsfindungsprozesse fänden, wofür nicht nur die Entscheidungen der italienischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern auch die italienische „ethische Gesetzgebung“ zur Fortpflanzungsmedizin ein Beispiel seien46. Die negative Religionsfreiheit ausschließlich oder zumindest im Schwerpunkt als Maßstab für die Prüfung der Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen heranzuziehen, vertreten demgegenüber im Panorama der italienischen Diskussion nur wenige Stimmen. Kritisiert wird von dieser Minderheit der stark institutionenzentrierte Ansatz, der den Blick nur auf den Staat und seine laicità konzentriere47, während tatsächlich die Frage einer konkreten Grundrechtsverletzung wichtiger sei, als einen abstrakten Grad an Neutralität oder laicità des Staates zu diagnostizieren48. Ebenso wie in Italien wird in der deutschen Diskussion die Frage, in welchem Verhältnis der Grundsatz der weltanschaulich religiösen Neutralität zum Grundrecht der Religionsfreiheit steht, nur vereinzelt vertieft. Sofern eine solche Auseinandersetzung erfolgt, kommt sie allerdings in gewisser Weise zu umgekehrten Ergebnissen wie die italienische Diskussion, indem dafür plädiert wird, den Schwerpunkt der Fragestellung bei der Religionsfreiheit zu verankern49. Einzelne Beiträge bestreiten allerdings noch weitergehend die Existenz des Grundsatzes der weltanschaulich religiösen Neutralität völlig50 oder stellen zumindest die Tauglichkeit dieses Grundsatzes als Prüfungsmaßstab im Verfahren der Verfassungsbeschwerde in Frage, sei es 43 44 45 46 47 48 49 50
M. Manco, 43; ähnlich D. Ferri, S. 132 ff. M. Manco, 52 f. S. Mancini, La contesa, S. 146. S. Mancini, La contesa, S. 174. C. Panzera, S. 253, 255; G. Galante, S. 156 f. J. Luther, Istruire la storia, S. 189. A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 457. W. Eberl, S. 108.
I. Verfassungsrechtliche Maßstäbe
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wegen seines objektiv-rechtlichen Charakters51 oder weil dieser Grundsatz seiner deskriptiven Natur nach nicht erlaube, aus ihm präskriptive Ableitungen zu treffen52. Dagegen wird die Neutralität staatlicher Institutionen, die in Italien unter dem Namen der laicità als Gravitationszentrum der Diskussion um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen fungiert, in der deutschen Debatte nur von wenigen – wenngleich wiederholt sich zu Wort meldenden – Stimmen ins Zentrum ihrer Überlegungen gerückt53. Während jenseits der Alpen eine „subjektivistische Sichtweise“ zu Gunsten einer stärker institutionenzentrierten Perspektive abgelehnt wird, finden sich in der deutschen Literatur eher Stimmen, die favorisieren, den Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität zu subjektivieren54. Der Hintergrund dieses Ansatzes dürfte in der Orientierung an einer Denkweise des subjektiven Rechtsschutzes liegen, die sowohl den Erfolg einer verwaltungsgerichtlichen Klage als auch die Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde an das Vorliegen einer subjektiven Rechtsverletzung knüpft. Eigentliches Anliegen einer Subjektivierung des Grundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität ist damit, die Einforderbarkeit dieses Grundsatzes durch einzelne Individuen zu bewirken. Zusammenfassend festzuhalten bleibt damit, daß eine ganz überwältigend Mehrheit der italienischen Literatur die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen ausschließlich oder im Schwerpunkt am Maßstab der laicità des Staates messen möchte, während in Deutschland in erster Linie die negative Religionsfreiheit als Prüfungsmaßstab herangezogen wird. Ausdrücklich begründet wird dies im einen wie im anderen Fall jedoch nur selten. Ihren Grund findet diese Bevorzugung des Grundsatzes der laicità in Italien gegenüber dem konkreten Grundrecht der negativen Religionsfreiheit zum Teil in einem stark institutionenorientierten Ansatz, der sich auf die Bestimmung des Verhältnisses staatlicher Institutionen zu religiösen Werten konzentriert. Gleichzeitig wird oftmals davon ausgegangen, daß die Verletzung der negativen Religionsfreiheit nur eine Nebenfolge 51 52
J. Isensee, Bildersturm, S. 10 f. E.-W. Böckenförde, „Kopftuchstreit“ dem richtigen Weg?, NJW 2001, S. 723,
726. 53
G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3352 ff.; ders., Das bayerische Kruzifix-Gesetz, S. 108 f.; S. Huster, Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates – Das Kreuz in der Schule aus liberaler Sicht, in: Brugger/Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, Baden-Baden 1998, S. 69 ff.; L. Renck, Positive und negative Bekenntnisfreiheit, S. 205; ders., Schulkreuz-Gesetz, S. 994. 54 H. Goerlich, S. 1184; C. Goos, S. 224; S. Seltenreich, S. 471; M. Winkler, S. 928.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
eines Verstoßes gegen den Grundsatz der laicità sei, der der individuellen Religionsfreiheit vorausgehe. Umgekehrt weist die deutsche Debatte die Tendenz auf, die weltanschaulich-religiöse Neutralität als Funktion der Religionsfreiheit zu sehen und sie durch eine Subjektivierung im deutschen Rechtschutzsystem einklagbar zu machen. Dem unterschiedlichen Ansatz in Italien dürfte demgegenüber wohl auch ein abstrakteres Rechtsverständnis zu Grunde liegen, das nicht durchweg darauf abzielt, Fragen von den konkreten Rechten einzelner her, die in konkreten Situationen geltend gemacht werden (müssen), zu durchdringen. Exemplarisch zeigt sich dies daran, daß die Regelung des bayerischen Art. 7 Abs. 3 BayEUG deshalb als unzumutbar empfunden wird, weil sie den einzelnen verpflichte, seine Rechte geltend zu machen, womit er seine religiösen Überzeugungen preisgeben müsse55. Schließlich darf nicht unbeachtet bleiben, daß die Präferenz für den Maßstab der laicità des Staates auch damit in Zusammenhang stehen dürfte, daß die negative Religionsfreiheit und die Wirkung der Grundrechte zum Teil anders verstanden werden, als dies in Deutschland üblicherweise der Fall ist. 2. Neutralität und laicità – Distanz und Offenheit Festgestellt ist damit zunächst jedoch nur, daß eine starke – in Italien stark überwiegende – Strömung in der Literatur die Verfassungsmäßigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen an Konzepten messen will, die mit den Begriffen „laicità“ und „weltanschaulich-religiöse Neutralität“ umschrieben werden. Aus den Stellungnahmen, die diese Konzepte dem alternativ denkbaren, grundrechtlichen Maßstabes der Religionsfreiheit gegenüberstellen, ergibt sich weiter, daß es sich um ein objektivrechtliches, auf den Charakter staatlicher Institutionen bezogenes und dem Grundrecht der Religionsfreiheit vorausgehendes Konzept handeln soll. Welche Inhalte, welche Bedeutungen, welches Konzept oder welche Konzepte werden in der italienischen und deutschen Literatur zur Frage der Zulässigkeit von Schulkreuzen mit diesen Begriffen verbunden? a) Italien Wie bei einem derart abstrakten, für verschiedenste Lesarten offenen und im Text der italienischen Verfassung nicht ausdrücklich erwähnten Begriff kaum anders zu erwarten ist, finden sich in der untersuchten Literatur unterschiedlichste und mannigfaltigste Antworten auf diese Frage. Auf die 55
C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 173.
I. Verfassungsrechtliche Maßstäbe
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Schwierigkeit, die mit dem Begriff der laicità verbundenen Bedeutungen zu bestimmen, wird auch in der italienischen Diskussion selbst verwiesen56; beispielhaft dekliniert Barbera nicht weniger als sieben verschiedene Bedeutungen, die mit dem Begriff „laicità“ assoziiert werden können: laicità als Autonomie des Rechts gegenüber der Religion, laicità als Autonomie der Politik gegenüber religiösen Autoritäten, laicità als Grenze politischen Handels im religiösen Bereich, laicità als Anerkennung und Garantie von Religionsfreiheit und religiösem Pluralismus, laicità als Ausgrenzung des Religiösen aus der Öffentlichkeit, laicità als Anerkennung und Garantie individueller Freiheit und kulturellen Pluralismus verbunden mit der Ablehnung jeglicher staatlicher Ideologie und schließlich laicità „als Methode“, als Verhaltensregel der Toleranz, gerichtet an die Individuen der Gesellschaft, um die Koexistenz verschiedenster Lebensentwürfe zu erlauben57. Schon diese Aufzählung gewährt einen kleinen Einblick in die verschiedenen Verständnisse der mit dem Begriff „laicità“ assoziierten Konzeptionen, mit denen in der italienischen Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit von Schulkreuzen operiert wird. Jenseits der Vielzahl an unterschiedlichen und teilweise konträren Auffassungen zu den mit dem Begriff „laicità“ umschriebenen Konzepten und Bedeutungen findet sich hierzu in der italienischen Literatur zur Frage des Schulkreuzes aber doch eine Art kleinster gemeinsamer Nenner. Ein ganz überwiegender Teil der vertretenen Meinungen weist nämlich insofern einen Konsens auf, als große Übereinstimmung darin festzustellen ist, sich auf die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes beziehen, die so als Referenzpunkt für das Verständnis der laicità des Staates dient und oftmals in wörtlichen Zitaten wiedergegeben wird58. Was die Begründung und Herleitung des ungeschriebenen Verfassungsgrundsatzes der laicità aus dem Normbestand der italienischen Verfassung angeht, findet der Ansatz des italienischen Verfassungsgerichtshofs, sich auf die Art 2, 3, 7, 8, 19, 20 it. Verf. zu stützen, Zustimmung und wird allenfalls insofern ergänzt, als postuliert wird, der Grundsatz der laicità sei charakteristisches Element der Staatsform des liberalen Verfassungsstaates59. 56
C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 211; A. Oddi, Il principio, S. 240. A. Barbera, S. 88 ff. 58 So beispielsweise R. Coppola, S. 41 ff.; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 113; I. Pasquali Cerioli, S. 126; B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 129 et passim; N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale, S. 199 bezeichnet die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs als Fixpunkt. 59 R. Coppola, S. 43 f.; A. Giorgis, S. 168; G. Majorana, S. 195; S. Mancini, Taking Secularism, S. 181; dies., La contesa, S. 150; M. Manco, S. 34; I. Nicotra, S. 234; F. Paterniti, S. 265 f.; A. Pugiotto, La corte messa in croce, S. 290 f.; A. Reale, S. 293; B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 145. 57
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
Ebenso unbestritten scheint in der italienischen Literatur die Qualifizierung des Grundsatzes der laicità als principio supremo, als eines der obersten Verfassungsprinzipien, zu sein60. Auch im Hinblick auf einzelne Inhalte, die dem Begriff der laicità zugeordnet werden, greift eine Vielzahl von Beiträgen zur Diskussion überwiegend affirmativ auf Konzepte und Formeln zurück, die in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs geprägt wurden. Bezuggenommen wird in der Literatur zunächst auf die Formel des Verfassungsgerichtshofs von der Trennung von weltlicher und geistlicher Ordnung61, die nicht nur eine strukturell-organisatorische Trennung von Staat und Kirche62 bewirke, sondern auch impliziere, daß der Staat keine Religion hat63. Ebenso unumstritten wird die Formel des italienischen Verfassungsgerichtshofs von der „Äquidistanz und Unparteilichkeit“64 aufgegriffen65. Daran anknüpfend wird einerseits darauf verwiesen, daß der Staat sich nicht mit einer Religion identifizieren dürfe66 und andererseits, daß das Postulat der Unparteilichkeit des Staates gegenüber den verschiedenen religiösen Konfessionen nicht nur verlange, diese Unparteilichkeit tatsächlich zu wahren, sondern auch schon jeden Schein einer Parteilichkeit zu vermeiden67. Eng verbunden mit der Unparteilichkeit des Staates wird schließlich auch die Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Hinblick auf die verschiedenen religiösen Konfessionen eingefordert68, wobei die jüngere Rechtspre60 G. Casuscelli, S. 522; S. Ceccanti, S. 12 f.; N. Colaianni, S. 855; A. Giorgis, S. 168; M. Manco, S. 37 ff.; I. Pasquali Cerioli, S. 126. 61 R. Coppola, S. 43; M. Manco, S. 43; N. Marchei, S. 205; I. Pasquali Cerioli, S. 127; vgl. auch oben S. 79 f. 62 S. Mancini, La contesa, S. 150; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 162; ders., Le necessarie conseguenze, S. 211. 63 R. Coppola, S. 44; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 162 ff.; A. Reale, S. 292 f.; I. Pasquali Cerioli, S. 141. 64 Corte Costituzionale Nr. 329/1997, Giur. cost. 1997, S. 3335, 3340; Corte Costituzionale Nr. 508/2000, Giur. cost. 2000, S. 3965, 3968 f.; Corte Costituzionale Nr. 327/2002, Giur. cost. 2002, S. 2522, 2524; Corte Costituzionale Nr. 168/2005, Giur. cost. 2005, S. 1379, 1383; vgl. auch oben S. 83 f. 65 M. Cuniberti, S. 93; D. Ferri, S. 134; G. Gemma, Spetta al giudice comune, S. 162 f.; A. Giorgis, S. 168; S. Mancini, La contesa, S. 150; M. Manco, S. 40; N. Marchei, S. 204; B. Randazzo, Il crocifisso come simbolo, S. 79; S. Sicardi, S. 568 f.; N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale, S. 189; I. Pasquali Cerioli, S. 137. 66 A. Giorgis, S. 168; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 163; I. Pasquali Cerioli, S. 137; L. Pedullà, S. 346; B. Randazzo, Il crocifisso come simbolo, S. 79. 67 G. Casuscelli, S. 531 f.; S. Mancini, La contesa, S. 155; E. Rossi, S. 360. 68 M. Canonico, S. 276, 282; N. Colaianni, S. 854; P. Colella, Crocifisso e libertà religiosa, S. 1392; R. Coppola, S. 47, 52; M. Cuniberti, S. 93; M. Manco, S. 42.
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chung des italienischen Verfassungsgerichtshofs, zahlenmäßige Größe und soziale Relevanz einer Religionsgemeinschaft nicht als Differenzierungskriterien zuzulassen, ganz überwiegend auf Zustimmung zu stoßen scheint69. Einige Stimmen in der italienischen Literatur nehmen die Formel des Verfassungsgerichtshofs von der Unparteilichkeit schließlich zum Anlaß, daraus ein Konzept von laicità zu entwickeln, daß ausdrücklich jegliche ethisch orientierte Gesetzgebung ablehnt und eine Festlegung des Staates auf bestimmte Werte ausschließt70. Als Zweck der laicità erscheint in dieser Lesart eines auf Multikulturalismus und Pluralismus ausgerichteten Diskurses eine maximale Inklusion aller „consociati“71 und ihrer Wertvorstellungen in die staatliche Gemeinschaft72, weshalb ausdrücklich ein „Recht auf Verschiedenheit“73 anzuerkennen sei. Jenseits der Bezugnahme auf die Formeln der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts ist in der italienischen Literatur umstritten, ob die italienische laicità als neutralità – Neutralität – zu verstehen sei bzw. ob neutralità ein Teilgehalt der laicità sei74. Soweit die Gleichsetzung von laicità und neutralità abgelehnt wird, hat dies seinen Grund nicht zuletzt darin, daß Neutralität häufig mit der französischen laïcité assoziiert wird. Die italienische laicità sei aber – gerade auch in der ihr vom Verfassungsgerichtshof gegeben Ausprägung – eben nicht mit der französischen laïcité-neutralité oder einem religionsfeindlichen Laizismus gleichzusetzen75. Letzterem pflichten auch Stim69 G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 293, 310; R. Coppola, S. 50 f.; M. Manco, S. 42; N. Marchei, S. 205; I. Pasquali Cerioli, S. 138; S. Sicardi, S. 536; A. Spadaro, S. 81. 70 P. Colella, Crocifisso e libertà religiosa, S. 1392; S. Lariccia, La laicità, S. 439; S. Mancini, La contesa, S. 175; dies., Taking Secularism, S. 181; G. Majorana, S. 195; zur Diskussion um Bioethik, laicità und religiöse Werte vgl. F. Rimoli, Laicità e pluralismo, S. 167 ff.; A. Spadaro, S. 137; L. Violini, S. 221 ff. 71 M. Manco, S. 36; am ehesten könnte dieser Begriff vielleicht mit „am Gesellschaftsvertrag Beteiligte“ umschrieben werden. 72 M. Manco, S. 36 f.; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 110. 73 D. Ferri, S. 139; S. Mancini, La contesa, S. 174; tendentiell auch G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 286. 74 Bejahend R. Botta, L’esposizione, S. 1077; G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 284 ff.; G. Casuscelli, S. 530; S. Lariccia, Diritti di libertà, S. 187; S. Mancini, La contesa, S. 152; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 163 f.; N. Marchei, S. 204; M. Nunziata, S. 611; I. Pasquali Cerioli, S. 142; verneinend hingegen N. Colaianni, S. 857; S. Lariccia, La laicità, S. 439; G. Majorana, S. 198; S. Mancini, Taking Secularism, S. 181. 75 M. Cartabia, S. 66; N. Colaianni, S. 857; P. Colella, Crocifisso e libertà religiosa, S. 1393 f.; G. Galante, S. 157; S. Lariccia, La laicità, S. 439; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 163; I. Pasquali Cerioli, S. 138; F. Paterniti, S. 265 f.; L. Pedullà, S. 351; für eine Gleichsetzung von laicità und Laizismus hingegen R. Botta, Paradossi, S. 846.
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men, die Neutralität als tauglichen Begriff zur Umschreibung und Ausfüllung des Grundsatzes der laicità sehen, häufig bei und betonen, daß Neutralität nicht mit Aversion, Feindseligkeit oder auch nur Indifferenz des Staates gegenüber religiösen Phänomenen gleichgesetzt werden würde76. Einem solchen Verständnis wird schließlich die Formel des Verfassungsgerichtshofs, wonach zur laicità des italienischen Staates auch die Garantie des Staates für den Schutz der Religionsfreiheit77 gehöre, entgegengehalten. Gerade dieses Element sei es, das erlaube, die italienische laicità als positiv, offen, wohlwollend, kooperativ oder im Dienste der Bürger stehend zu charakterisieren78. Zum Teil ist auch die Rede davon, daß die laicità durch dieses Element der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zu einer nur relativen laicità werde79; diese Analyse wird nicht zuletzt auch von Kritikern, die für ein distanzierteres Verhältnis des Staates namentlich zur katholischen Kirche eintreten und denen der viel zitierte favor religionis80 des Verfassungsgerichtshofs ein Dorn im Auge ist, vorgetragen. Übernommen wird durch die Bezugnahme auf diese Formel des Verfassungsgerichtshofs von der Garantie des Staates für den Schutz der Religionsfreiheit gleichzeitig die darin angelegte Ambiguität81. Läßt sich die Förderung der Entfaltung der Religionsfreiheit doch ebenso gut auf die negative Religionsfreiheit von Individuen oder Minderheiten82 beziehen wie auf eine Unterstützung des Staates bei der Religionsausübung – auch seitens 76 So beispielsweise M. Manco, S. 41; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 165; I. Nicotra, S. 235; E. Rossi, S. 337 f.; S. Sicardi, S. 504, 507, 510 et passim; B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 130. 77 Corte Costituzionale Nr. 203/1989, Giur. cost. 1989, S. 890, 899; Corte Costituzionale Nr. 259/1990, Giur. cost. 1990, S. 1542, 1548; Corte Costituzionale Nr. 195/1993, Giur. cost. 1993, S. 1324, 1332; Corte Costituzionale Nr. 149/1995, Giur. cost. 1993, S. 1241, 1248; ähnlich auch Corte Costituzionale Nr. 334/1996, Giur. cost. 1996, S. 2919, 2922, 2925; Corte Costituzionale Nr. 508/2000, Giur. cost. 2000, S. 3965, 3970; vgl. hierzu oben S. 81 ff. 78 M. Cartabia, S. 72; S. Ceccanti, S. 9; R. Coppola, S. 49; S. Mancini, Taking Secularism, S. 181; M. Manco, S. 40 f.; I. Nicotra, S. 234 ff.; I. Pasquali Cerioli, S. 138; B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 131; S. Sicardi, S. 504; M. Tigano, S. 696; die kulturelle Prägung des Begriffs der laicità betonend R. Coppola, S. 42, 46; M. Manco, S. 35; E. Rossi, S. 338. 79 So bspw. S. Ceccanti, S. 14; R. Coppola, S. 41; M. Cuniberti, S. 93; F. Paterniti, S. 268. 80 A. Guazzarotti, Crocifisso, S. 178; I. Nicotra, S. 234; A. Oddi, Il principio, S. 248; M. Olivetti, S. 3972, 3978; S. Sicardi, S. 501, 504, 511, 539; eine ähnliche Kirchenfreundlichkeit attestiert U. Sacksofsky, S. 8 m. w. N. der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts. 81 R. Coppola, S. 43; M. Cuniberti, S. 92; A. Oddi, Il principio, S. 247. 82 A. Giorgis, S. 168; E. Rossi, S. 339; in diese Richtung gehend auch S. Ceccanti, S. 12.
I. Verfassungsrechtliche Maßstäbe
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der Mehrheitskonfession. In gewisser Weise scheint diese Ambiguität damit die verschiedenen Verständnisse der Religionsfreiheit wiederzuspiegeln, die schon in der Verfassungsdebatte eine Rolle spielten. So mag man sich durchaus an die Positionen der Christdemokraten zur Religionsfreiheit als kollektive Freiheit der Kirche erinnert fühlen, wenn Martinelli – in freilich pluralistischer Wendung – davon spricht, daß Religion nicht nur ein individuelles, sondern vor allem ein soziales und kollektives Phänomen sei, von dem der neutrale Staat der italienischen laicità Kenntnis nehme und das er in seinen Strukturen zulasse83. b) Deutschland Freilich vermag – wie gezeigt – die weltanschaulich-religiöse Neutralität in Deutschland in der wissenschaftlichen Diskussion um die Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen und Kruzifixen in öffentlichen Schulen nicht die gleiche zentrale Rolle einzunehmen wie die laicità des Staates in Italien. Gleichwohl finden sich auch in der deutschen Debatte hinreichend Bezugnahmen und dogmatische Elaborationen dieses Konzepts, um einen Vergleich auf der Ebene der diesen Begriffen zugeschriebenen Inhalte zu ermöglichen. Als erste Gemeinsamkeit sticht zunächst ins Auge, daß auch in Deutschland ähnlich wie in Italien bei der Begründung und Herleitung des nicht unmittelbar im Verfassungstext erwähnten Konzepts die Bezugnahme auf die von der Rechtsprechung erarbeitete Normenkette dominiert84. Jenseits dieser Bezugnahme auf die von Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes gleichsam kanonisierte Normenkette der Art. 3 Abs. 1, 3, Art. 33 Abs. 3, Art. 4 GG sowie Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1, Art. 137 WRV finden sich Nuancen allenfalls in der Frage, ob der Glaubensfreiheit bei der Begründung der weltanschaulich-religiösen Neutralität eine besonders bedeutende Stellung zukommen soll85. Was die Rechtsnatur der weltanschaulich-religiösen Neutralität angeht, mißt ihr die deutsche Diskussion eine weniger prominente Stellung zu, als dies in Italien im Hinblick auf die laicità der Fall ist. Fern davon, diesen Grundsatz, wie in Italien die laicità, als Verfassungsprinzip höchstens Ranges zu qualifizieren, finden sich in der 83 C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 164 f.; kritisch S. Lariccia, La laicità, S. 437 ff. 84 H. Anke/T. Severitt, S. 38; A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 458; G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3350; M. Heckel, S. 472; K.-H. Kästner, S. 249; Ch. Link, S. 3353; Th. Würtenberger, S. 405. 85 So wohl S. Seltenreich, S. 471.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
deutschen Diskussion vielmehr einzelne, wenngleich sehr namhafte Stimmen, die davor warnen, in der weltanschaulich-religiösen Neutralität mehr als eine deskriptive Zusammenfassung bestimmter positiver Sätze des Verfassungsrechts zu sehen86. Ebenso wie in Italien versucht wird, die verschiedenen möglichen Bedeutungen des Begriffes laicità abzuschichten, werden in der deutschen Literatur in ähnlicher Weise verschiedene inhaltliche Teilelemente der weltanschaulich-religiösen Neutralität dadurch differenziert, daß dem Grundsatz unterschiedliche Adjektive beigefügt werden. Unterschieden wird so in eine versorgende und eine vorsorgende87, eine begrenzte88 und wohl am häufigsten in eine distanzierende und eine offene89 Neutralität. Unter dem Schlagwort der distanzierenden Neutralität werden Inhalte transportiert, die eher auf eine Trennung von religiösem und staatlichem Bereich abzielen. Das distanzierende Momentum der weltanschaulich-religiösen Neutralität verbiete dem Staat die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse90 ebenso wie eine Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion oder bestimmten religiösen Inhalten91. Da der Staat in religiösen Dingen keine Kompetenz habe92, sei ihm aufgrund der (distanzierenden) weltanschaulich-religiösen Neutralität in diesem Bereich die Frage nach der Wahrheit und ihre Beantwortung verwehrt93. Dieser distanzierenden Neutralität zuzurechnen ist schließlich auch ein Verbot, Andersgläubige auszugrenzen94. Fast noch deutlicher als in Italien betont die überwiegende Meinung in Deutschland aber, daß die weltanschaulich-religiöse Neutralität sich nicht in einem distanzierenden Momentum erschöpfe, sondern gerade auch offene oder vor86 E.-W. Böckenförde, „Kopftuchstreit“, S. 726; S. Huster, Die ethische Neutralität, S. 41; J. Isensee, Bildersturm, S. 11; Ch. Möllers, S. 58 f.; ebenso schon K. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip vornehmlich im Kulturverfassungs- und Staatskirchenrecht, Tübingen 1972, S. 218 ff., 225. 87 A. Nolte, Der richtige Weg, S. 893 ff. 88 Th. Würtenberger, S. 407. 89 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 458; M. Heckel, S. 471 ff.; K.-H. Kästner, S. 251 ff.; Ch. Link, S. 3356; J. Müller-Vollbehr, S. 998; vgl. zu verschiedenen Möglichkeiten den Neutralitätsbegriff zu qualifizieren auch S. Huster, Die ethische Neutralität, S. 38 m. w. N. 90 H. Anke/T. Severitt, S. 42; M. Heckel, S. 471; L. Renck, Schulkreuz-Gesetz, S. 996; Th. Würtenberger, S. 406; G. Czermak, Crux bavarica, S. 492 spricht ähnlich wie die italienische Diktion davon, daß der Staat Äquidistanz gegenüber den Religionsgemeinschaften wahren müsse. 91 M. Heckel, S. 471; Ch. Link, S. 3353; K.-H. Kästner, S. 251; A. Nolte, Der richtige Weg, S. 893; L. Renck, Schulkreuz-Gesetz, S. 996. 92 K.-H. Kästner, S. 254 f. 93 Ch. Link, S. 3353. 94 Th. Würtenberger, S. 405.
I. Verfassungsrechtliche Maßstäbe
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sorgende Neutralität sei. Die weltanschaulich-religiöse Neutralität bedeute nämlich gerade nicht ein Verbot für den Staat, Berührungspunkte mit dem Religiösen zu haben95. Sie verlange keine Indifferenz gegenüber dem Religiösen96 oder gar die Ausschaltung aller religiösen Bezüge97. Und erst recht dürfe die weltanschaulich-religiöse Neutralität nicht die Privilegierung der religiösen Bekenntnislosigkeit verlangen98. c) Gegenüberstellung Gemeinsam ist der italienischen laicità und der deutschen weltanschaulich-religiösen Neutralität damit, daß beide Konzepten einerseits Elemente der Trennung von Kirche und Staat und der Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften umfassen, gleichzeitig aber auch als Ansatzpunkt für eine Offenheit des Staates gegenüber dem Religiösen der Bürger dienen. So wie beide Begriffe in der wissenschaftlichen Diskussion um die Zulässigkeit von Kreuzen in staatlichen Schulen verwendet werden, ist ihnen gemeinsam, daß sie ein Element der Offenheit gegenüber den religiösen Anliegen der Bürger und – um mit der in Deutschland gebrauchten Diktion zu sprechen – ein distanzierendes Element miteinander verbinden. Eine weitere Gemeinsamkeit zur italienischen Diskussion zeigt sich ferner darin, daß auch in Deutschland betont wird, die weltanschaulich-religiöse Neutralität sei von den auf strikte Trennung angelegten staatskirchenrechtlichen Systemen der Schweiz und der Vereinigten Staaten von Amerika99, zumal aber vom französischen oder türkischen Laizismus abzugrenzen100. Die italienische laicità wie die deutsche weltanschaulich-religiösen Neutralität werden beide durch die Betonung der Verschiedenheit von der französischen laïcité definiert, von der sie sich gerade durch die Offenheit des Staates für das Religiöse abgrenzen. Auch wenn Teile der italienischen Literatur aus einer Gleichsetzung von laïcité und neutralité heraus betonen, laicità sei nicht neutralità, darf dennoch auch nach dem Verständnis der Rechtswissenschaft von einer großen inhaltlichen Nähe von laicità und deutscher Neutralität ausgegangen werden. Wenngleich sich nun laicità und weltanschaulich-religiöse Neutralität beide durch die Synthese von distanzierenden Elementen und solchen der Offenheit gegenüber dem Religiösen auszeichnen, zeigen sich doch auch 95
Ch. Link, S. 3354. S. Huster, Die ethische Neutralität, S. 239 f., 242; Th. Würtenberger, S. 405. 97 J. Müller-Vollbehr, S. 998. 98 M. Heckel, S. 471; J. Müller-Vollbehr, S. 999; Th. Würtenberger, S. 406. 99 K.-H. Kästner, S. 250; Th. Würtenberger, S. 405. 100 E.-W. Böckenförde, „Kopftuchstreit“, S. 726; M. Heckel, S. 456; K.-H. Kästner, S. 250; J. Müller-Vollbehr, S. 998; Th. Würtenberger, S. 405. 96
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
deutliche Unterschiede. Zwar besteht noch ein gewisser Gleichklang daran, daß sich in Deutschland wie in Italien Stimmen finden, die teils das distanzierende Element, teils das Element der Offenheit stärker gewichten. Gleich welcher dieser beiden Tendenzen die italienischen Beiträge folgen, wird in der Regel eine stärker distanzierende oder eine offenere laicità schlechthin als Maßgabe für jegliches staatliche Handeln herangezogen. Weitestgehend unbekannt scheint in Italien demgegenüber jener in der deutschen Diskussion vielfach aufgegriffene Gedanke zu sein, die Unterscheidung in distanzierende und offene Neutralität mit einer Differenzierung nach Bereichen staatlichen Handels zu verbinden101. In bestimmten Bereichen staatlichen Handels, insbesondere dem eines hoheitlichen Bereichs im engeren Sinne, wie z. B. der Rechtsprechung, soll danach mehr die distanzierende Neutralität zum tragen kommen102. Demgegenüber sei die vorsorgende bzw. offene Neutralität, die dem Bürger Raum zur Verwirklichung seiner Religionsfreiheit im staatlichen Bereich einräume, dort mehr in den Vordergrund zu rükken, wo der Staat gesellschaftliche Bereiche in seine Obhut nehme, namentlich gerade im Schulbereich103. Im Ergebnis darf so festgehalten werden, daß in der italienischen Diskussion um die Zulässigkeit von Kreuzen in staatlichen Schulen der laicità des Staates größerer Stellenwert zugemessen wird, als der weltanschaulich-religiösen Neutralität in Deutschland. Nicht nur nimmt die weltanschaulich-religiöse Neutralität nicht die gleiche Bedeutung eines höchsten Verfassungsprinzips ein, die der laicità in Italien zukommt. Damit verbunden ist die weltanschaulich-religiöse Neutralität auch nicht der zentrale Maßstab, an dem die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in staatlichen Schulen gemessen wird. Gemeinsam ist laicità und Neutralität dagegen, daß sie Elemente der Distanz und der Trennung von Staat und Kirche mit einer Offenheit des Staates für die individuellen und kollektiven religiösen Anliegen, die in der Gesellschaft vorhanden sind, verbinden. In der deutschen wie der italienischen Diskussion wird dabei betont, daß gerade diese Offenheit laicità wie Neutralität von einem Laizismus und einer laïcité französischer Prägung, die diese Elemente so nicht kenne, unterscheide. 101 H. Anke/T. Severitt, S. 42; A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 458; M. Heckel, S. 472; K.-H. Kästner, S. 251 f.; Ch. Link, S. 3356; J. MüllerVollbehr, S. 998. 102 E.-W. Böckenförde, Kreuze (Kruzifixe) in Gerichtssälen? Zum Verhältnis von staatlicher Selbstdarstellung und religiös weltanschaulicher Neutralität des Staates, ZevKR 20 (1975), S. 119, 127 ff.; Ch. Link, S. 3356. 103 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 458; M. Heckel, S. 472 f.; D. Heckmann, S. 888; K.-H. Kästner, S. 252; Ch. Link, S. 3356; ebenso wohl J. Müller-Vollbehr, S. 998 f.
II. Welche Art von Symbol sind Kreuz und Kruzifix?
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Bei allem inhaltlichen Gleichklang einer Synthese von Distanz und Offenheit des Staates gegenüber dem Religiösen, besteht ein wichtiger Unterschied allerdings darin, daß der in der deutschen Diskussion häufig zu findende Gedanke, Distanz und Offenheit verschiedenen Bereichen staatlichen Handelns zuzuordnen und dabei insbesondere die offene Neutralität gerade für den Schulbereich als wesenhaft anzusehen, in Italien kaum anzutreffen ist.
II. Welche Art von Symbol sind Kreuz und Kruzifix? Ebenso wie beim Vergleich der Rechtsprechung stellt sich auch beim Vergleich der Beiträge der rechtswissenschaftlichen Literatur zur Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen bzw. Kruzifixen in staatlichen Schulen die Frage danach, wie dieses Symbol klassifiziert wird, da die weiteren Argumente für und gegen die Zulässigkeit in engem Zusammenhang mit diesen Klassifizierungen und Qualifizierungen stehen. Auch die Analyse der untersuchten Literatur soll sich im folgenden an den Kategorien der Bedeutung (1) und der Wirkung (2), die dem Symbol zugeschrieben werden, orientieren. 1. Religiöse oder kulturelle Bedeutung des Symbols? Im Blick auf die Bedeutung, die dem umstrittenen Symbol zugewiesen wird, ist zunächst festzustellen, daß in der deutschen wie der italienischen Literatur durchweg davon ausgegangen wird, daß das Kruzifix ein religiöses Symbol ist bzw. sein kann104. 104 Aus der deutschen Literatur u. a. A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 461; G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3350; ders., Der Kruzifix-Beschluß zwischen Neutralität, S. 204; ders., Crux bavarica, S. 492; ders., Das bayerische Kruzifix-Gesetz, S. 108; M. Eichberger, S. 85 ff.; M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 378; H. Goerlich, S. 1186; C. Goos, S. 225; C. Gusy, S. 165 f.; M. Heckel, S. 468, 473; D. Heckmann, S. 883; O. Höffe, S. 84; J. Ipsen, S. 318; J. Isensee, Bildersturm, S. 13 f.; B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 89; K.-H. Kästner, S. 253; Ch. Link, S. 3355; J. Müller-Vollbehr, S. 997; A. Nolte, Der richtige Weg, S. 894; R. Pofalla, S. 1219; K. Redeker, S. 3369 f.; L. Renck, Positive und negative Bekenntnisfreiheit, S. 205 f.; ders., Schulkreuz-Gesetz, S. 995; ders., Das Schulkreuz, S. 957; S. Seltenreich, S. 471; H. Simon, S. 155; M. Triebel, Kopftuch und staatliche Neutralität, BayVbl. 2002, S. 624 f.; Th. Würtenberger, S. 403; aus der italienischen Literatur G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 299 ff.; L. Brunetti, S. 61; R. Botta, L’esposizione, S. 1078; ders., Paradossi, S. 847; M. Canonico, S. 281; M. Cartabia, S. 65; G. Casuscelli, S. 529; P. Colella, Crocifisso e libertà religiosa, S. 1394; M. Cuniberti, S. 90; M. T. Denaro, S. 143 f.; D. Ferri, S. 133 ff.; N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale, S. 187 ff.; C. Fusaro, S. 149; G. Galante, S. 155; G. Gemma, Spetta al giudice comune,
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
Hinzuweisen ist zunächst darauf, daß das Symbol, dessen Zulässigkeit in öffentlichen Schulen diskutiert wird, in der italienischen Literatur fast ausnahmslos als „crocifisso“, also als „Kruzifix“ bezeichnet wird. Die in manchen Entscheidungen der deutschen wie italienischen Rechtsprechung explizit vorzufindende Gleichsetzung von Kreuz und Kruzifix wird in der Literatur nicht nachvollzogen, sondern zum Teil explizit abgelehnt. Dieser Sprachgebrauch dürfte seine Ursache zum einen wohl darin haben, daß die königlichen Dekrete, die als Rechtsgrundlage der Anbringung des Symbols dienen, vom „Crocifisso“ sprechen105. Soweit jedoch eine Auseinandersetzung mit der Frage erfolgt, ob Kreuz und Kruzifix für die Frage der Zulässigkeit ihrer Anbringung als äquivalent zu behandeln sind, wird dies ganz überwiegend verneint. Damit verbunden wird häufig betont, das Kruzifix sei dezidiert ein Symbol der katholischen Kirche, nicht des Christentums schlechthin106. Anders in Deutschland: Ohne diesen Unterschied zu thematisieren, erörtern manche Beiträge die Zulässigkeit von Kreuzen107, andere die von Kruzifixen108. Soweit dieser Teilaspekt in der deutschen Diskussion höchst vereinzelt doch explizit thematisiert wird, dann mit der Tendenz Kreuz und Kruzifix für austauschbar zu erachten109. Hintergrund dieses Unterschiedes dürfte sein, daß in Italien aus der Aussage, das Kruzifix, um dessen Zulässigkeit es geht, sei ein dezidiert katholisches Symbol, häufig das Argument abgeleitet wird, daß so die Anbringung eines eindeutig und einseitig der katholischen Kirche zugehörigen Symboles in öffentlichen Schulen angeordnet werde, worin eine eklatante – auch nicht im Konkordat vorgesehene – Privilegierung einer spezifischen Konfession liege110. S. 162 ff.; A. Giorgis, S. 169; J. Luther, Istruire la storia, S. 191; G. Majorana, S. 200; S. Mancini, La contesa, S. 149 ff.; dies., Taking Secularism, S. 188; M. Manco, S. 44; P. De Marco, S. 114 ff.; C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 211; ders., La questione del crocifisso, S. 175; M. Miegge, S. 213; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 90, 110, 115; I. Nicotra, S. 237; M. Nunziata, S. 612; I. Pasquali Cerioli, S. 135; F. Paterniti, S. 271; L. Pedullà, S. 343 ff.; B. Randazzo, Il crocifisso come simbolo, S. 79; A. Reale, S. 293; E. Rossi, S. 364 et passim; D. Tega, S. 305; M. Tigano, S. 697; R. Tosi, S. 310; P. Veronesi, Abrogazione „indiretta“, S. 315; L. Zannotti, Il crocifisso, S. 337. 105 Vgl. oben S. 33 f. 106 Bspw. N. Colaianni, S. 852; D. Ferri, S. 138; A. Reale, S. 292 f., 295; C. Fusaro, S. 149; J. Luther, Istruire la storia, S. 192; S. Mancini, La contesa, S. 151; dies., Taking Secularism, S. 188; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 115 f.; a. A. dagegen ausdrücklich M. Zambelli, S. 320. 107 Bspw. M. Heckel, S. 453 ff.; D. Heckmann, S. 881 ff.; Ch. Link, S. 3355 ff. 108 Bspw. A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 450 ff. 109 Ch. Link, S. 3353.
II. Welche Art von Symbol sind Kreuz und Kruzifix?
227
Jenseits der wenig überraschenden Feststellung, daß das Kruzifix ein religiöses Symbol sei, wird in der italienischen wie der deutschen Literatur – auch in Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung – der Frage nachgegangen, ob das Kruzifix darüber hinaus auch ein kulturelles bzw. identitäres Symbol sein könne und soweit dies zu bejahen sei, welche dieser beiden Bedeutungen für die Frage der Zulässigkeit seiner Anbringung in staatlichen Schulen die maßgebliche sei. Im Zusammenhang mit der Diskussion um das Kreuz als kulturelles Symbol muß zunächst vergegenwärtigt werden, daß in Teilen der italienischen Literatur nicht in der Einzahl von „cultura“ gesprochen wird, so wie dies in der deutschen Sprache beim Begriff der „Kultur“ geläufig ist111. Taucht in der deutschen Diskussion Sprachgebrauch die – möglicherweise aus verschiedenen Elementen zusammengesetzte – Kultur stets in monolithischer Einzahl vor, meist als „christlich-abendländische“ Kultur112, deren Symbol das Kreuz sein kann oder nicht, werden in der italienischen Literatur mitunter verschiedene „culture“ im Plural gegenübergestellt. So kann der „katholischen Kultur“, deren Symbol das Kruzifix sein mag, eine „cultura laica“ oder eine „cultura liberale“ entgegengestellt werden, deren Symbol das Kruzifix nicht ist113. Auch soweit das Kruzifix so als Symbol einer dieser Kulturen sein mag, kann so seitens des Staates „kulturelle Neutralität“ und Gleichbehandlung der Kulturen eingefordert werden114. In ähnlicher Weise scheinen auch die „Verfassungswerte“ teilweise deutlich politischer verstanden zu werden, so daß „christlichen Verfassungswerten“ den verschiedenen in der verfassunggebenden Versammlung vertretenen politi110 So bspw. R. Botta, Paradossi, S. 850; N. Colaianni, S. 851 f.; D. Ferri, S. 138; N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale, S. 202; J. Luther, Istruire la storia, S. 192; S. Mancini, Taking Secularism, S. 192; I. Pasquali Cerioli, S. 139; A. Reale, S. 293; L. Zannotti, Il crocifisso, S. 342; in der deutschen Diskussion ähnlich argumentierend S. Huster, Die religiös-weltanschauliche Neutralität, S. 90. 111 Zu den Definitionen von Kultur vgl. z. B. U. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. 2001; Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 2. Aufl., Stuttgart 2001. 112 U. a. M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 379, 385; O. Höffe, S. 85; J. Müller-Vollbehr, S. 997; Th. Würtenberger, S. 403. 113 D. Ferri, S. 138; L. Zannotti, Il crocifisso, S. 341. 114 S. Baraglia, Il crocifisso nelle aule delle scuole pubbliche: una questione ancora aperta, Giur. cost. 2004, S. 2129, 2143 ff.; G. Casuscelli, S. 530; D. Ferri, S. 133, 139; C. Fusaro, S. 150; V. Pacillo, S. 222; als Konsequenz ergibt sich dann, daß von den Vertretern dieser Richtung die Vermittlung einer (Mehrheits-)Kultur in der Schule per se abgelehnt wird. Eine völlige Wertneutralität der schulischen Erziehung hingegen klar ablehnend bspw. A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 459; Ch. Link, S. 3354; Th. Würtenberger, S. 407 et passim; ders., Zu den Voraussetzungen des freiheitlichen, säkularen Staates, in: Brugger/Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, Baden-Baden 1998, S. 277, 282 ff.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
schen Strömungen entsprechend „liberale“ und „sozialistische Werte“ gegenübergestellt werden115 – kulminierend in der etwas polemischen These, daß wenn das Kruzifix als Ausdruck von Verfassungswerten gelten könnte, auch Hammer und Sichel als Ausdruck bestimmter sozialistischer Verfassungswerte ebenso ihren Platz in den Schulen finden müßten116. Unabhängig von diesem in Teilen der italienischen Literatur im wahrsten Sinne des Wortes pluralistischen Kulturbegriff, zeigt sich, daß diesseits wie jenseits der Alpen in der wissenschaftlichen Diskussion ein Verständnis des Kruzifixes als kulturelles oder identitäres Symbol teilweise bejaht117 und teilweise verneint wird118, ohne daß eine eindeutige Tendenz festzustellen wäre. Soweit eine kulturelle Bedeutung bejaht wird, wird in der italienischen Literatur jedoch ganz überwiegend darauf verwiesen, daß kulturelle und religiöse Bedeutung untrennbar miteinander verbunden seien bzw. daß die religiöse Bedeutung die für die Frage der Zulässigkeit der Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulen maßgebliche sei. Eine eventuelle zusätzliche kulturelle Bedeutung könne die religiöse Bedeutung nicht verdrängen119. 115
S. Mancini, Taking Secularism, S. 187; M. Manco, S. 50 ff.; V. Pacillo, S. 222. 116 S. Mancini, Taking Secularism, S. 187; dies., The Crucifix Rage, S. 12. 117 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 451; G. Czermak, Crux bavarica, S. 493; ders., Das bayerische Kruzifix-Gesetz, S. 110; W. Eberl, S. 109; M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 378 f.; D. Heckmann, S. 883; O. Höffe, S. 84 f.; J. Isensee, Bildersturm, S. 14 f.; B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 89; Ch. Link, S. 3355; K.-H. Kästner, S. 255 f.; R. Pofalla, S. 1219; die Bedeutung des Symbols für die Erhaltung einer gemeinsamen Identität betonend K. Redeker, S. 3370.; L. Brunetti, S. 61; C. Cardia, Identità religiosa, S. 53, 112 ff.; M. Cartabia, S. 65; M. Canonico, S. 281; P. De Marco, S. 114 ff.; D. Ferri, S. 136 ff.; C. Fusaro, S. 150; G. Majorana, S. 200; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 105 ff.; M. Nunziata, S. 612; F. Paterniti, S. 271; D. Tega, S. 305; F. Vecchi, S. 464 ff.; M. Zambelli, S. 323. 118 M. Eichberger, S. 86; L. Renck, Positive und negative Bekenntnisfreiheit, S. 205 f.; ders., Schulkreuz-Gesetz, S. 995, 999; ders., Das Schulkreuz, S. 957; S. Seltenreich, S. 471; H. Simon, S. 155 f.; R. Botta, L’esposizione, S. 1078 f.; ders., Paradossi, S. 850; G. Brunelli, Simboli collettivi, 287 ff., 305 f.; P. Colella, Il crocifisso e la sua esposizione, S. 1164; M. T. Denaro, S. 143; N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale, S. 184 f.; G. Galante, S. 155; G. Gemma, Spetta al giudice comune, S. 164; A. Giorgis, S. 169; S. Mancini, La contesa, S. 150 ff.; dies., Taking Secularism, S. 188 f.; M. Manco, S. 50 ff.; N. Marchei, S. 205; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 175; L. Pedullà, S. 343 ff.; B. Randazzo, Il crocifisso come simbolo, S. 79; L. Zannotti, Il crocifisso, S. 337 ff. 119 M. Canonico, S. 281; M. Cartabia, S. 66; M. Cuniberti, S. 90; G. Galante, S. 155; P. De Marco, S. 114 f., 123; S. Mancini, La contesa, 151; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 105 ff., 110; M. Tigano, S. 697; a. A. C. Cardia, Identità religiosa, S. 112 ff., dessen Argumentation wohl der Position der italienischen Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entspricht.
II. Welche Art von Symbol sind Kreuz und Kruzifix?
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Zwar wird auch in der deutschen Literatur nicht ausdrücklich vertreten, daß die religiöse Bedeutung des Kreuzes durch eine Deutung und Bedeutung als Kultursymbol völlig „verdrängt“ werden kann. Im übrigen ist der Streitstand in der deutschsprachigen Literatur jedoch weit weniger eindeutig als in der italienischen Diskussion. Einigen Stimmen, die ebenso wie die ganz überwiegende italienische Literatur der Ansicht sind, daß die religiöse Bedeutung des Kreuzes niemals hinter einer vielleicht bestehenden, zusätzlichen kulturellen Sinnschicht zurücktreten könne und daß jedenfalls staatlicherseits keine Umdeutung eines religiösen Symbols möglich und zulässig sei120, stehen andere mindestens ebenso bedeutende Stimmen entgegen. Ausgehend von einer scharfen Kritik an der Symboltheorie des Bundesverfassungsgerichts121, die bemängelt, daß das Gericht dem Kreuz in der Schule fälschlicherweise eine Selbstwirksamkeit unterstellt habe, die so nicht nachvollziehbar sei122, wird dem entgegengehalten, daß das Kreuz gerade ein deutungsoffenes Symbol sei123. Dieses in vielfältiger Weise interpretationsoffene Symbol zu deuten, sei dem Staat nicht verwehrt. Er könne so festlegen, wofür das Kreuz in seinen Schulen, in denen er seine Anbringung anordne, stehen solle124 oder das Symbol des Kreuzes zumindest verfassungskonform auslegen125. In diesem Sinn sei das Kreuz in staatlichen Schulen als Symbol einer historisch christlich geprägten Kultur und Tradition126, insbesondere der christlichen Gemeinschaftsschule zu verstehen127. 120 G. Czermak, Crux bavarica, S. 493; ders., Das bayerische Kruzifix-Gesetz, S. 110; ders., Zur Unzulässigkeit des Kreuzes, S. 22 ff., 29; M. Eichberger, S. 86; H. Goerlich, S. 1186; D. Heckmann, S. 883; B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 89; Ch. Möllers, S. 78, 85; C. Rathke, S. 316; S. Huster, Die ethische Neutralität, S. 245; ders., Die religiös-weltanschauliche Neutralität, S. 88. 121 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 460 f.; M. Heckel, S. 468 ff. et passim; S. Ihli, S. 156 ff.; Ch. Link (Fn. 2, S. 21), S. 3355; J. MüllerVollbehr, S. 997; K.-H. Kästner, S. 244 ff.; überaus drastisch J. Isensee, Bildersturm, S. 13 „laientheologische Kreuzesexegese“ und O. Massing, S. 727 „fundamentalistische Kreuzestheologie“. 122 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 460; S. Ihli, S. 156. 123 M.-E. Geis, Zur Zulässigkeit des Kreuzes in der Schule aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Brugger/Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, Baden-Baden 1998, S. 41, 48; J. Isensee, Bildersturm, S. 14; M. Stolleis, S. 381; Th. Würtenberger, S. 403. 124 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 454, 461; M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 379; ders., Zur Zulässigkeit des Kreuzes, S. 48 f.; S. Ihli, S. 156; K.-H. Kästner, S. 255 f. 125 M. Heckel, S. 468 f.; J. Isensee, Bildersturm, S. 14. 126 M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 379, 385. 127 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 451; O. Höffe, S. 84; S. Ihli, S. 147 f.; Ch. Link, S. 3355; K.-H. Kästner, S. 248; J. Müller-Vollbehr, S. 997; Th. Würtenberger, S. 407 f.; mit dem Anstaltszweck der Schule argumentierend D. Heckmann, S. 888.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
Es gebe kein geeigneteres Symbol, das diese in mehreren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts selbst als verfassungskonform erachtete Schulform und die in dieser Schulform verkörperten Werte besser repräsentieren könne. Dieses Argument, das Kreuz als Symbol der verfassungskonformen christlichen Gemeinschaftsschule zu rechtfertigen, findet in der italienischen Diskussion kein direktes Äquivalent, was nicht zuletzt daran liegen dürfte, daß es in Italien schon an der Institution einer – verfassungskonform – kulturchristlichen Schule fehlt, die wohl eher als Spezifikum des deutschen Schul- und Staatskirchenrechts zu begreifen ist. Im Gegenteil wird in der italienischen Debatte betont, daß seit Inkrafttreten des neuen Konkordates der Religionsunterricht auf dieses spezifische und freiwillig zu wählende Fach beschränkt sei, während die Einbringung religiöser Bezüge im übrigen Unterricht im Sinne eines „insegnamento diffuso“128, eines „diffusen“ Religionsunterrichts, anders als früher vielleicht, gerade nicht mehr zulässig sei. Daß der Katholizismus in Art. 9 Nr. 2 des Übereinkommens zur Änderung des Konkordates als Teil des geschichtlichen Erbes des italienischen Volkes anerkannt werde, rechtfertige nur die Möglichkeit zum schulischen Religionsunterricht, die christlich-katholische Lehre sei aber gerade nicht mehr „Fundament und Krönung“ des allgemeinen Schulunterrichts, wie Art. 29 des Konkordates von 1929 noch ausführte129. Es zeigen sich damit an diesem Argument die Folgen unterschiedlicher Wege der Abkehr von der alten Konfessionsschule. Dem in der deutschen Literatur vertretenen Ansatz, der Staat könne ein deutungsoffenes Symbol mit einem vom ihm festgelegten beschränkten Gehalt verwenden, halten verschiedene Stimmen der italienischen Literatur – wohl ausgehend von der impliziten Annahme, ein Symbol könne nur eine Bedeutung aufweisen130 – entgegen, das Kruzifix in dieser Weise als kulturelles Symbol zu begreifen, würde eine unmögliche bzw. unzulässige Verdrängung und Eliminierung der religiösen Bedeutung des Symbols voraussetzen131. Eng verwandt damit erscheint das ebenfalls vielfach vertretene Argument, das Kruzifix in der Schule als kulturelles Symbol verstehen zu wollen, stelle eine unzulässige Profanisierung des religiösen Symbols „Kru128
Hierzu bspw. L. Scalera, Ancora sull’insegnamento della religione cattolica nella scuola elementare, Dir. eccl. 1986, II, S. 419, 431 ff. 129 B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 307 f. 130 Kritisch hierzu A. Morelli, Il contenuto semantico, S. 216 ff.; a. A. ebenfalls G. Casuscelli, S. 526; D. Ferri, S. 133; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 110. 131 R. Botta, L’esposizione, S. 1079; G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 287 f., 305 f.; M. T. Denaro, S. 143; G. Gemma, Spetta al giudice comune, S. 169; A. Giorgis, S. 164; S. Mancini, Taking Secularism, S. 188.
II. Welche Art von Symbol sind Kreuz und Kruzifix?
231
zifix“ dar132. Ähnliche Überlegungen, die ein Verständnis des Kreuzes als Kultursymbol für eine unzulässige Reduzierung der Bedeutung des Kreuzes und ein unstatthaftes Herunterspielen des Symbols halten, finden sich demgegenüber in der deutschen Diskussion nur vereinzelt133. Dies erscheint um so erstaunlicher, als dieses Argument seinen Eingang in die italienische Diskussion über eine positive Rezeption der entsprechenden Ausführungen im Kruzifixbeschluß des Bundesverfassungsgerichts gefunden hat, auf die in der italienischen Literatur vielfach ausdrücklich und zustimmend Bezug genommen wurde134. Das Kruzifix als Kultursymbol zu vereinnahmen, sei eine staatliche Usurpation eines religiösen Symbols, durch die der Religion die Bestimmung über das eigene Symbol entzogen werde. Der Staat mische sich so unzulässigerweise in die religiöse Sphäre ein, für die er nicht zuständig sei, und verstoße so gegen die Trennung von weltlicher und geistlicher Sphäre135. Daß die betroffene Religionsgemeinschaft sich nicht dagegen wehre oder dem vielleicht sogar zustimme, könne daran nichts ändern, denn die Selbstbeschränkung des Staates stehe nicht zu ihrer Disposition136. Im Blick darauf, daß weite Teile der italienischen Literatur die Urteile der Verwaltungsgerichtsbarkeit so deuten wollen, daß diese das Kruzifix als nationales Symbol oder Symbol der nationalen Identität zu verstehen, wer132 R. Botta, L’esposizione, S. 1078 f.; G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 305 f.; G. Casuscelli, S. 529; P. Colella, Crocifisso e libertà religiosa, S. 1394; ders., Il crocifisso e la sua esposizione, S. 1164; M. T. Denaro, S. 143 f.; S. Mancini, La contesa, S. 152; dies., Taking Secularism, S. 188; M. Manco, S. 52 f.; N. Marchei, S. 205; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 172 f., 175; I. Pasquali Cerioli, S. 146; L. Pedullà, S. 343 ff.; E. Rossi, S. 333; P. Veronesi, Abrogazione „indiretta“, S. 315; ders., Una „croce“, S. 1072. 133 L. Renck, Das Schulkreuz, S. 957; U. Sacksofsky, S. 35; S. Seltenreich, S. 471; H. Simon, S. 156. 134 G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 307; S. Mancini, La contesa, S. 152; dies., Taking Secularism, S. 188; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 172 f.; I. Pasquali Cerioli, S. 146; E. Rossi, S. 333; P. Veronesi, Abrogazione „indiretta“, S. 315; ders., Una „croce“, S. 1072; kritisch hierzu hingegen M. Manco, S. 52 f., der das Profanisierungsargument zwar für formal unangreifbar hält, darin aber im wesentlichen einen Versuch des BVerfG sieht, sich gegen Kritik der katholischen öffentlichen Meinung abzusichern, in dem versucht werde darzulegen, daß die Entfernung von Kreuzen aus öffentlichen Schulen im eigenen Interesse der christlichen Konfessionen sei; die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts offensichtlich völlig mißverstehend hingegen E. Ricci, S. 1230; von einem protestantischen Ursprung des Arguments des Bundesverfassungsgerichts ausgehend P. De Marco, S. 121. 135 A. Giorgis, S. 170; N. Marchei, S. 205; S. Mancini, Taking Secularism, S. 189; M. Miegge, S. 214; I. Pasquali Cerioli, S. 145 f. 136 I. Pasquali Cerioli, S. 146.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
den hiergegen noch weitere Bedenken vorgebracht. Zum einen wird hervorgehoben, daß eine derartige Verwendung ausscheide, selbst wenn das Kruzifix zusätzlich zu seiner religiösen Bedeutung noch andere Inhalte transportieren könne. Wegen der untrennbaren Verbindung des Symbols mit seiner der katholischen Kirche zuzuordnenden religiösen Bedeutung eigene es sich nicht, die nötige maximale Inklusion aller „consociati“ zu gewährleisten, die von einem nationalen Symbol zu erwarten sei137. Zum anderen definiere die italienische Verfassung bereits in Art. 12 das Symbol der italienischen Verfassung und der italienischen Republik schlechthin: die grün-weiß-rote Trikolore138. Vergleichbare Argumente sucht man in der deutschen Literatur hingegen vergeblich, obwohl auch das Grundgesetz in Art. 22 die Bundesflagge definiert. Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten, daß in der deutschen wie der italienischen Diskussion umstritten ist, wie die Bedeutung des Kreuzessymbols zu bestimmen ist, wenn es im schulischen Bereich verwendet wird, und inwiefern ihm dort neben seiner christlich-religiösen Bedeutung, die ihm außerhalb der Schule unzweifelhaft innewohnt, eine kulturelle Bedeutung zukommen kann. Während eine starke Strömung in der deutschen Literatur die Offenheit des Symbols für unterschiedliche Deutungen und damit – in Übereinstimmung mit dem italienischen Staatsrat – zumindest eine verfassungskonforme Auslegung für möglich hält, lehnt die italienische Literatur dies unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Bundesverfassungsgericht als unzulässige Profanisierung des Kreuzes ab. 2. Aktive oder passive Wirkung des Symbols? Jenseits der Frage, für welche inhaltlichen Bedeutungen das Symbol des Kruzifixes stehen kann, setzen sich die überwiegende deutsche und Teile der italienischen Literatur auch damit auseinander, welche Wirkung von der Anbringung des Symbols in Klassenzimmern von öffentlichen Schulen aus137
C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 211; ders., La questione del crocifisso, S. 177 f.; ähnlich G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 303, 322; C. Fusaro, S. 152; S. Mancini, La contesa, S. 153 ff., 156; dies., Taking Secularism, S. 187, 191 f.; mit gleicher Tendenz E. Rossi, S. 353 ff. 138 R. Bin, S. 40; G. Casuscelli, D. Ferri, S. 132 f.; A. Guazzarotti, Crocifisso, S. 178; J. Luther, La croce, S. 691; S. Mancini, La contesa, S. 150 ff.; dies., Taking Secularism, S. 187; dies., The Crucifix Rage, S. 12; C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 211; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 124; I. Pasquali Cerioli, S. 140; L. Pedullà, S. 345; A. Reale, S. 294; R. Tosi, S. 310; P. Veronesi, Una „croce“, S. 1072; unter Berücksichtigung auch der Symbole der Europäischen Union C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 177 f.; kritisch zu diesem Argument E. Rossi, S. 353.
II. Welche Art von Symbol sind Kreuz und Kruzifix?
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geht. Ähnlich wie im Bereich der Rechtsprechung139 können in diesem Punkt auch im Bereich der Stellungnahmen aus der deutschen und italienischen Rechtswissenschaft zwei grundsätzlich verschiedene Strömungen unterschieden werden: die in Italien überwiegenden Vertreter der These vom aktiven Symbol gehen davon aus, daß die Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern in der Form, wie sie von der bayerischen Volksschulordnung bzw. den königlichen Dekreten vorgesehen wird, die Wirkung eines Eingriffs in die Religions- beziehungsweise – wie in der italienischen Literatur oft formuliert wird – die Gewissensfreiheit der unmittelbar mit dem Symbol Konfrontierten zukommt. Die Anhänger der These vom passiven Symbol, die in Deutschland deutlich im Übergewicht sind, bestreiten hingegen, daß von der Anbringung des Symbols eine derartig eingreifende Wirkung ausgehen könne. Die Vertreter der These vom aktiven Symbol argumentieren in Deutschland im wesentlichen damit, daß die mit dem Kreuz in der Schule konfrontierten nichtchristlichen Schüler dadurch unfreiwillig140 und damit zwangsweise141 einer appellativen, für das Christentum werbenden psychischen Einwirkung ausgesetzt würden142. Die allgemeine Diskussion um den Eingriffsbegriff aufnehmend wird betont, daß der finale Eingriffsbegriff zu eng sei143, und auch eine solche mittelbare Beeinflussung in Glaubenssachen schon ausreiche, um einen Eingriff in die Religionsfreiheit annehmen zu können144. Zu berücksichtigen sei, daß die Intensität der Einwirkung entscheidend vom subjektiven Empfinden des Betroffenen abhänge145. Damit würden diese Schüler letztlich gegen ihren Willen zu einer religiösen Handlung gezwungen146. In Italien verweisen die Vertreter der These vom aktiven Symbol darauf, daß von Kruzifixen in Klassenzimmern eine Beeinflussung des Gewissens147 zugunsten der Religion, der das Symbol als zugehörig verstanden wird, ausgehe, worin eine Verletzung der Gewissensfreiheit liege148. Deutliches Zeichen dieser Absicht der Beeinflussung sei, daß das Kreuz in der 139
Vgl. oben S. 185 ff. S. Seltenreich, S. 471 f. 141 H. Goerlich, S. 1186; B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 90 f.; H. Simon, S. 156. 142 L. Renck, Schulkreuz-Gesetz, S. 997. 143 B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 90 f. 144 G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß zwischen Neutralität, S. 203. 145 B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 92. 146 H. Goerlich, S. 1186. 147 A. Giorgis, S. 169; A. Guazzarotti, Crocifisso, S. 174, 179, bei dem ausdrücklich von einer „negativen“ Beeinflußung die Rede ist. 148 J. Luther, Istruire la storia, S. 191; P. Veronesi, Una „croce“, S. 1073. 140
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
Regel hinter dem Rücken des Lehrers angebracht sei, um so eine effektive Einwirkung sicherzustellen149. So bestehe im Hinblick auf andersgläubige Schüler die Gefahr, daß es zu einer Erschütterung von deren religiösem Gewissen komme150. Eine seelische Beunruhigung durch die Anbringung von Kreuzen befürchten Teile der Literatur jedoch nicht nur bei andersgläubigen Schülern. Betont wird teilweise unter Bezugnahme auf das Bundesverfassungsgericht151 vielmehr, daß die Persönlichkeit der Schüler und ihr religiöses Gewissen im Schulalter noch im Werden begriffen und besonders leicht beeinflußbar seien. Die Anbringung von Kreuzen diene nicht dazu, das Gewissen der Schüler zu informieren, sondern es zu formen152. Jedenfalls werde dadurch eine Suche nach Identität angestoßen, die zu stimulieren Aufgabe der Eltern und nicht der politischen Gemeinschaft des Staates sei153. Daß es um die Formung des Gewissens der Schüler gehe, zeige sich schließlich auch daran, daß die Anbringung von Kruzifixen nur in Schulen vorgesehen sei, nicht aber an Universitäten, da dort die Persönlichkeit des Individuums schon ausgebildet sei, so daß die Anbringung von Kruzifixen dort ohne Wirkung bleiben würde154. Die in öffentlichen Schulen angebrachten Kruzifixe seien so als missionarisches Symbol155, als Form religiöser Propaganda156 zu verstehen, letztlich handele es sich um eine Form von Religionsunterricht157 – allerdings ohne die Wahlfreiheit, wie sie vom italienischen Verfassungsgerichtshof für den eigentlichen Religionsunterricht eingefordert worden sei. Vielmehr werde die Anbringung der Kruzifixe in öffentlichen Schulen und die davon ausgehende Beeinflussung den betroffenen Schülern verpflichtend auferlegt158. Brunelli betont in positiver Würdigung des Kruzifixurteils des Bun149 G. Cimbalo, Sull’impugnabilità, S. 80; A. Giorgis, S. 169; J. Luther, Istruire la storia, S. 191; C. Panzera, S. 253; differenzierend im Hinblick auf die räumliche Positionierung des Kreuzes im Klassenzimmer auch W. Brugger, Zum Verhältnis von Neutralitätsliberalismus und liberalem Kommunitarismus, in: Brugger/Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, Baden-Baden 1998, S. 109, 151. 150 I. Nicotra, S. 237. 151 G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 307. 152 A. Reale, S. 295; ähnlich S. Baraglia, S. 2144 f.; G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 307. 153 J. Luther, Istruire la storia, S. 191. 154 A. Reale, S. 295. 155 I. Nicotra, S. 237; R. Tosi, S. 309. 156 M. T. Denaro, S. 135. 157 P. Veronesi, Una „croce“, S. 1074; L. Zannotti, Il crocifisso, S. 340; ähnlich G. Cimbalo, Sull’impugnabilità, S. 80, der dadurch gleichzeitig auch die Wissenschafts- und Unterrichtsfreiheit des Art. 33 it. Verf. bedroht sieht. 158 S. Baraglia, S. 2144; I. Pasquali Cerioli, S. 142; P. Veronesi, Una „croce“, S. 1073; L. Zannotti, Il crocifisso, S. 342.
II. Welche Art von Symbol sind Kreuz und Kruzifix?
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desverfassungsgerichts und in Abgrenzung zur italienischen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ausdrücklich, daß eine Verletzung der Religionsfreiheit nicht erst dann vorliege, wenn die Vornahme einer Kulthandlung auferlegt werde159. Demgegenüber betonen die italienischen Anhänger der These vom passiven Symbol gerade, daß aus der bloßen Anbringung von Kruzifixen in staatlichen Schulen noch kein Zwang zur Vornahme kultischer Handlungen folge160. Ebensowenig sei damit ein Zwang zu glauben verbunden. Durch den Blick auf das Kruzifix werde niemand in seinen Rechten verletzt, da weder eine Identifizierung der Schüler mit dem Glauben verlangt werde, noch Druck auf deren Gewissen ausgeübt werde161. Der Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulen missionarischen Charakter beizumessen, sei daher nicht richtig162. In ähnlicher Weise verneinen die Vertreter dieser Richtung auch, daß von der Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulen eine diskriminierende Wirkung ausgehen könne, weil allein dadurch niemand einer nachteiligen Behandlung ausgesetzt werde163, während die Gegenansicht darauf abstellt, daß aus der Perspektive von Anders- oder Nichtgläubigen schon der bloßen Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulen eine ausgrenzende Wirkung zukomme164. Zum Nachweis, daß die Anbringung von Kreuzen in staatlichen Schulen keinen Grundrechtseingriff darstellen könne, wird in der deutschen Literatur ähnlich wie in Italien angeführt, daß es eine Verletzung der betroffenen Schüler nicht vorliege und sie durch das Kreuz keinem Zwang unterworfen würden. Diejenigen Stimmen, die im Kreuz in der Schule in erster Linie ein Kultursymbol bzw. das Symbol der verfassungskonformen nicht missionarischen christlichen Gemeinschaftsschule sehen, verweisen darauf, daß durch ein kulturelles Symbol die Religionsfreiheit gar nicht tangiert sein könne165. Andere schließen eine Verletzung nichtchristlicher Schüler schon deshalb aus, weil das Kreuz nur bei Christen religiöse Empfindungen wekken könne, während es für andere keine religiöse Prägung aufweise, so daß eine Berührung des religiösen Empfindens anderer ausgeschlossen 159
G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 309. S. Prisco, S. 278; M. Zambelli, S. 324. 161 R. Coppola, S. 48 f.; M. Cuniberti, S. 89; G. Majorana, S. 200; M. Nunziata, S. 614. 162 G. Majorana, S. 200. 163 M. Zambelli, S. 323 ff. der darauf verweist, daß die Sonntagsruhe für Nichtchristen viel stärker diskriminierend wirke. 164 In diese Richtung argumentierend L. Pedullà, S. 344 f. 165 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 462; O. Höffe, S. 84; K.H. Kästner, S. 248; J. Müller-Vollbehr, S. 998; im Ergebnis wohl ebenso M.-E. Geis, Zur Zulässigkeit des Kreuzes, S. 44 ff.; M. Heckel, S. 477 f. 160
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
sei166. Weiter wird postuliert, daß von dem Kreuz, so wie es an der Wand hänge, keine psychische Beeinträchtigung ausgehen könne167. Selbst wenn von dem im Schulzimmer angebrachten Kreuz eine psychische Wirkung ausgehe, sei damit aber die Schwelle zum Eingriff noch nicht überschritten. Denn wegen der ganz geringen Intensität der Belastung, die bei dem Symbol viel geringer als beispielsweise bei einem verbalen Appell sei168, werde der Grad an persönlicher Betroffenheit nicht erreicht, der erforderlich sei, um einen Eingriff annehmen zu können169. Für die Frage, ob dieser Grad an Betroffenheit erreicht sei, könne nämlich nicht die Betrachtungsweise des vergeblich Verletzten maßgeblich sein. Vielmehr sei nötig, daß objektiv ein Eingriff in den Schutzbereich der Religionsfreiheit vorliege170. Dies sei aber aus mehreren Gründen nicht der Fall. Denn zum einen verletzte die Wahrnehmung fremder Religiosität auch den Nicht- oder Andersgläubigen nicht171 – selbst wenn sie durch hoheitliches Handeln hervorgerufen werde172. Es handele sich um den gleichen Fall, wie die Konfrontation mit einem Wegekreuz im allgemeinen Straßenverkehr173. Hauptsächlich verneint diese Ansicht den Eingriffscharakter einer Anbringung von Kreuzen in Schulzimmern aber mit dem Argument einer fehlenden Zwangswirkung. Vom Kreuz, wie es an der Wand hänge, gehe keinerlei Zwang zur Bejahung des Christentums aus174, vielmehr bleibe es dem Einzelnen überlassen, das Symbol anzunehmen oder abzulehnen175, wobei sich 166
J. Müller-Vollbehr, S. 998; Th. Würtenberger, S. 402. K.-H. Kästner, S. 264; R. Pofalla, S. 1219; Th. Würtenberger, S. 401; allenfalls in besonderen Einzelfällen eine Beeinträchtigung für möglich haltend M. Hekkel, S. 478, 482; D. Heckmann, S. 888. 168 J. Isensee, Bildersturm, S. 14; ähnlich K. Berger, Das Kreuz als öffentliches Symbol, in: Brugger/Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, BadenBaden 1998, S. 165, 172. 169 S. Ihli, S. 150; J. Ipsen, S. 315 f.; K.-H. Kästner, S. 268, 270; Th. Würtenberger, S. 401. 170 M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 381; ders., Zur Zulässigkeit des Kreuzes, S. 51; M. Heckel, S. 458; J. Ipsen, S. 315; J. Isensee, Bildersturm, S. 13; K.-H. Kästner, S. 270; Th. Würtenberger, S. 402 f. 171 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 450; W. Eberl, S. 109; J. Isensee, Bildersturm, S. 12 f.; J. Schmittmann, Anmerkung 1995, S. 429. 172 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 450. 173 J. Isensee, Bildersturm, S. 12. 174 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 450; M. Heckel, S. 477; K.-H. Kästner, S. 266 ff.; H. Lübbe, Zivilreligion und der „Kruzifix-Beschluß“ des deutschen Bundesverfassungsgerichts, in: Brugger/Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, Baden-Baden 1998, S. 237, 253; J. Müller-Vollbehr, S. 998. 175 M. Heckel, S. 481 f.; J. Ipsen, S. 312 f.; J. Isensee, Bildersturm, S. 12, 14; K.-H. Kästner, S. 263. 167
II. Welche Art von Symbol sind Kreuz und Kruzifix?
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auch hier wie in der italienischen Rechtsprechung der Hinweis findet, das Kreuz sei allenfalls Anstoß zur Reflexion176. Darin liege auch keine Diskriminierung Dissentierender, denn dissentierende Eltern könnten mit ihren Kindern darüber sprechen und ihren Standpunkt deutlich machen177. Dem Kreuz sei gerade nicht zwingend ein appellativer Charakter zu eigen178; eine missionarische Bedeutung des Kreuzes zu postulieren, sei zunächst einmal nicht mehr als eine schlichte Behauptung179. Von der bloßen Anbringung des Symbols gehe weder eine einseitig indoktrinierende Wirkung180 noch eine Propagierung von Inhalten oder ein Einfluß auf die Lerninhalte der Schule aus181. Ein anderer Argumentationsstrang versucht den eingriffsrelevanten Zwang klarer zu konturieren. Danach verbiete die negative Religionsfreiheit nur den Zwang zur Teilnahme an einer religiösen Handlung, Übung oder Feierlichkeit oder die Verpflichtung zur Offenbarung der eigenen religiösen Überzeugung. Solcher Zwang gehe von der Anwesenheit von Kreuzen in Schulzimmern, die von den betroffenen Schülern kein aktives Tun fordere, aber gerade nicht aus182. Rein geistiger Einfluß durch symbolische Anwesenheit sei demgegenüber noch kein relevanter Zwang183 und werde auch durch die Schulpflicht nicht dazu184. Denn die Schulpflicht als solche stelle keinen grundrechtsspezifischen Zwang dar185. Zuletzt verweisen die Anhänger eines engen finalen Eingriffsbegriffs darauf, daß der Staat durch die Anbringung von Kreuzen in Schulzimmern weder eine bewußte Zufügung von Schmerzen intendiert noch durch ein religiöses Bekenntnis des Staates auf eine bewußte Provokation abgezielt habe186. Da damit keine Zwangswirkung beabsichtigt gewesen sei, könne – abgesehen vielleicht von ganz besonderen Ausnahmefällen – auch kein Eingriff vorliegen187. 176
K.-H. Kästner, S. 263; ähnlich in der italienischen Rechtsprechung auch das Urteil des Verwaltunsgerichts Venetien TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 339 f.; vgl. oben S. 130 ff. 177 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 462; W. Eberl, S. 109; K. Redeker, S. 3369. 178 D. Heckmann, S. 889; Ch. Link, S. 3355; J. Müller-Vollbehr, S. 998. 179 Th. Würtenberger, S. 403. 180 D. Heckmann, S. 889; S. Ihli, S. 150, 154. 181 R. Pofalla, S. 1219. 182 W. Eberl, S. 109; M. Heckel, S. 481; K.-H. Kästner, S. 263; J. Müller-Vollbehr, S. 998; R. Pofalla, S. 1219. 183 J. Ipsen, S. 317; J. Isensee, Bildersturm, S. 12. 184 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 463. 185 J. Ipsen, S. 317. 186 D. Heckmann, S. 888; J. Ipsen, S. 311.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
Diese Argumente, die auf die aktive oder passive Wirkung der Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulen abzielen, finden sich dabei nicht nur in Beiträgen, die die Religionsfreiheit im Schwerpunkt oder zumindest auch als Maßstab ihrer verfassungsrechtlichen Prüfung heranziehen188; teilweise werden sie auch in den italienischen Stellungnahmen, die den Grundsatz der laicità ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen189, eingeflochten. Andererseits ist aber festzuhalten, daß in der italienischen Literatur die Frage, welche Wirkung von der Anbringung von Kreuzen und Kruzifixen in öffentlichen Schulen auf die unmittelbar davon betroffenen Schüler ausgeht, weit weniger häufig aufgeworfen wird, als die Frage nach der Bedeutung des Symbols. Dieser Befund fügt sich gut ins Bild einer überaus starken Fokussierung der italienischen Literatur auf das Prinzip der laicità als Kern der Problematik des Kreuzes in der Schule, während Fragen der individuellen Religionsfreiheit für weniger bedeutsam gehalten werden190. So ergibt sich in der italienischen Literatur insgesamt das Bild einer Diskussion, die der Wirkung der Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern öffentlicher Schulen nicht mit der gleichen Intensität nachgeht, mit der sie zur Zuordnung des umstrittenen Symbols zu einer bestimmten Religion Stellung bezieht. Soweit sie sich mit der Wirkung auseinandersetzt, folgt sie überwiegend der These vom aktiven Symbol. Umgekehrt zeigt sich, daß die deutsche Literatur, die die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen ganz überwiegend und im Schwerpunkt am Grundrecht der Religionsfreiheit messen will191, vor allem den für die Frage eines Grundrechtseingriffs bedeutsamen Wirkungen dieser Anbringung auf die Schüler nachspürt und dabei in etwas überwiegender Tendenz der These vom passiven Symbol folgt. Beide Ansichten – sowohl jene, die der Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulen die Wirkung eines Eingriffs zuschreiben möchte, als auch die Gegenansicht – argumentieren diesseits wie jenseits der Alpen mit 187 M. Heckel, S. 478 ff., 482; M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 380; C. Goos, S. 224; K.-H. Kästner, S. 266 ff. 188 s. hierzu S. 210 ff. 189 So ist beispielsweise A. Reale, S. 292 f. der Ansicht, die Religionsfreiheit sei nur betroffen, wenn die Freiheit, den eigenen Glauben zu manifestieren, verletzt werde. Daher stelle die Anbringung eines missionarischen Symbols keine Verletzung der Religionsfreiheit dar, während sie aber eindeutig gegen den Grundsatz der laicità verstoße; in der Tendenz ähnlich A. Giorgis, S. 168 ff.; I. Pasquali Cerioli, S. 136 ff.; L. Pedullà, S. 344; S. Prisco, S. 275 f.; L. Zannotti, Il crocifisso, S. 335 ff. 190 A. Reale, S. 293; P. Veronesi, Una „croce“, S. 1073; ders., Abrogazione „indiretta“, S. 315 f. 191 Vgl. S. 210 ff.
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einer Zwangswirkung. Während die Anhänger der These vom aktiven Symbol darauf abstellen, daß der Staat den Schülern und ihrem religiösen Gewissen durch die Anbringung von Kruzifixen eine psychische Beeinflussung auferlege, halten die Vertreter der Gegenthese für entscheidend, daß niemand zu einem bestimmten Glauben oder gar einer kultischen Handlung gezwungen werde. Der Unterschied der beiden Ansichten scheint in beiden Ländern letztlich darin zu liegen, welchem Eingriffsbegriff der Vorzug gegeben wird, ob die negative Religionsfreiheit nur den Schutz vor dem Zwang zur Teilnahme an Kulthandlungen oder auch vor anderweitiger psychischer Beeinflussung umfaßt und ab welcher Schwelle von der Verwirklichung eines Eingriffs auszugehen ist. Daß diese Erkenntnis in der italienischen Diskussion zumindest teilweise präsent ist, zeigt auch der Beitrag Coppolas, der sich als Anhänger der These vom passiven Symbol darauf beruft, daß der italienische Verfassungsgerichtshof stets abgelehnt habe, vermeintliche unterschwellige Verletzungen von Freiheitsrechten anzuerkennen, sondern stets nur objektive und wahrnehmbare Verletzungen anerkannt habe192. In gleicher Weise verlangen deutschen Anhänger der These vom passiven Symbol – in Übereinstimmung auch mit den italienischen Verwaltungsgerichten193 –, daß objektiv ein Eingriff in den Schutzbereich der Religionsfreiheit vorliegen müsse, während das subjektive Empfinden des Beschwerdeführers nicht maßgeblich sein könne. Letzteres halten dagegen die deutschen Anhänger der These vom aktiven Symbol gerade für ausreichend. In rechtsvergleichender Perspektive ist schließlich die Bezugnahme der italienischen Literatur auf das Bundesverfassungsgericht besonders erwähnenswert, dessen Rechtsprechung im Hinblick die besondere Beeinflußbarkeit der noch in der Entwicklung befindlichen Schülerpersönlichkeiten hervorgehoben wird.
III. Unzulässigkeit oder (nur eingeschränkte) Zulässigkeit des Kreuzes? Vor diesem Hintergrund ist es nun möglich nachzuvollziehen, welche Kritik an der Rechtsprechung vorgebracht wird und wie in der deutschen und italienischen Literatur für und gegen die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen und Kruzifixen in öffentlichen Schulen argumentiert wird. Nach einer Darstellung der Auseinandersetzung der deutschen Literatur mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (1) sollen zunächst die in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur erörterten Lösungsvor192 193
R. Coppola, S. 49. TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 338; vgl. S. 130 ff.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
schläge (2) aufgezeigt werden. Anschließend ist auf die Bewertung von status quo und verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung in der italienischen Literatur (3) einzugehen, bevor im folgenden die in der italienischen Literatur diskutierten Lösungsmöglichkeiten dargestellt werden (4), die nicht nur eine weitaus größere Spielbreite aufweisen als die beiden in der italienischen Rechtsprechung vertretenen Alternativen einer uneingeschränkten Zulässigkeit der Anbringung bzw. einer völligen Entfernung von Kreuzen und Kruzifixen aus allen Schulen, sondern auch über das in der deutschen Literatur diskutierte hinausreichen. Auf dieser Grundlage können schließlich die Ergebnisse eines Vergleichs festgehalten werden (5). 1. Deutschland: Kritik am Bundesverfassungsgericht Anders als in Italien, wo die Diskussion der rechtswissenschaftlichen Literatur den vor Gericht ausgetragenen Streit um die Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen ausgehend vom Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Venetien durch die verschiedenen gerichtlichen Instanzen zum Verfassungsgerichtshof, zurück zum Verwaltungsgericht, hinauf zum Staatsrat und weiter in die Ebene des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte begleitete, setzte die Auseinandersetzung mit der Fragestellung in Deutschland erst relativ spät, mit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts am Ende der ersten Phase der gerichtlichen Auseinandersetzung, ein, was zum Teil auch ausdrücklich bedauert wurde194. Sie ist damit in weiten Teilen vor allem ein „Nachdenken“ der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, um diese – teilweise noch im Eifer der hitzigen politischen Diskussion um die Entscheidung – auf ihre Stichhaltigkeit und Richtigkeit zu prüfen. a) Lob . . . Einer großen Zahl kritischer Stimmen vor allem in den unmittelbaren Reaktionen auf die Entscheidung steht eine weitaus kleinere Zahl dezidiert positiver Würdigungen der Entscheidung entgegen195. Letztere heben hervor, die Entscheidung habe der Glaubensfreiheit in einem kleinen Teilbereich zum Durchbruch verholfen und lasse die „Vision vom Staat als 194
G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3349. C. Rathke, S. 132; den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich positiv würdigend G. Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, Berlin 2008, S. 146 ff.; ders., Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3349 ff.; J. Schmittmann, Anmerkung 1995, S. 429; S. Seltenreich, S. 471 f.; M. Stolleis, S. 387. 195
III. Unzulässigkeit oder (nur eingeschränkte) Zulässigkeit des Kreuzes?
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‚Heimstatt aller Bürger‘ wieder leuchten“196. Hervorgehoben wird von ihren Verteidigern nicht nur, daß die Entscheidung, auch wenn sie kleinere Mängel aufweise, sorgfältig und lege artis begründet sei197, sondern auch ihre Kontinuität mit der bisherigen Rechtsprechung. Die Entscheidung stelle sich zu Recht in die Tradition der Entscheidungen zur christlichen Gemeinschaftsschule von 1975 und sei deren konsequente und logische Fortführung bzw. Ergänzung198. b) . . . und viel Tadel Die Kritiker der Entscheidung gehen dagegen davon aus, daß der Kruzifix-Beschluß gerade einen nicht zu rechtfertigenden Bruch mit der bisherigen eigenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darstelle199, wobei sie sich nicht nur auf die Entscheidungen zur christlichen Gemeinschaftsschule200 sondern auch auf die Entscheidung zum Kreuz im Gerichtssaal201 beziehen. Die letztgenannte Entscheidung sei dem Bundesverfassungsgericht viel besser gelungen, weil sie viel abgewogener und wesentlich einzelfallbezogener urteile202. Unterton des Verweises auf die Entscheidung zum Kreuz im Gerichtssaal ist jener, daß es in ganz besonderen Ausnahmefällen, wie dem eines jüdischen Anwalts, der selbst Verfolgter des nationalsozialistischen Gewaltregimes war und nun wenige Jahre später wieder vor deutschen Gerichten auftritt203, gerechtfertigt sein mag, auf seine Ablehnung des Kreuzes Rücksicht zu nehmen, daß die dem Kruzifix-Beschluß zu Grunde liegende Konstellation aber eine ganz andere sei. Ebenso wie die Verteidiger des Kruzifixbeschlusses beziehen sich auch die Kritiker auf die Präzedenzwirkung der Rechtsprechung zur christlichen Gemeinschaftsschule aus dem Jahr 1975. So ist Pawlowski beispielsweise der Ansicht, die Entscheidung zur Simultanschule badischen Typs habe die Kruzifixproblematik bereits thematisiert und die Anbringung von Kreuzen ausdrücklich für zulässig erachtet. Das Bundesverfassungsgericht sei daher von seiner eigenen Rechtsprechung abgewichen, ohne dies ausdrücklich 196
G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3352 f. J. Schmittmann, Anmerkung 1995, S. 429; M. Stolleis, S. 387. 198 G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3352; ders., Zur Unzulässigkeit des Kreuzes, S. 38; S. Seltenreich, S. 471 f. 199 So beispielhaft S. Ihli, S. 158; Th. Würtenberger, S. 408. 200 BVerfGE 41, 29; BVerfGE 41, 65; BVerfGE 41, 88. 201 BVerfGE 35, 366. 202 Ch. Link, S. 3355; K. Redeker, S. 3369; R. Zuck, S. 2903. 203 Ch. Link, S. 3356 bezeichnet dies als „biographische Sondersituation“. 197
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
thematisiert zu haben204. Es sei schlicht unverständlich, einerseits den Schultyp der christlichen Gemeinschaftsschule für zulässig zu erachten, andererseits aber die Anbringung eines Symbols, das wie kein anderes diesen Schultyp und dessen Werte repräsentiere, in eben diesem Schultyp für unzulässig zu erachten205. Den Vorwurf der Inkonsistenz der Rechtsprechung erhebt schließlich auch jene spätere Kritik, die die Ergebnisse, zu denen das Bundesverfassungsgerichts im Kruzifix-Beschluß und im Kopftuch-Urteil gekommen ist, für widersprüchlich hält, da so einseitig das christliche Symbol aus der Schule verbannt werde, während das muslimische Kopftuch gerade erlaubt sein solle206. Ein anderer Ansatzpunkt für scharfe Kritik am Kruzifixbeschluß des Bundesverfassungsgerichts ist „Unhaltbarkeit einer solchen Symboltheorie“207, wie sie das Bundesverfassungsgericht nach Ansicht seiner Kritiker pflegt. Diese Kritik wirft dem Bundesverfassungsgericht, wie bereits dargelegt208, vor, das Kreuz bzw. Kruzifix ausschließlich als religiöses Symbol, von dem gleichsam selbstwirksam die Wirkung einer Zwangsmissionierung ausgehe209, mißzuverstehen. Dem halten die Kritiker ihre Konzeption eines deutungsoffenen und verfassungskonform interpretierbaren Symbols entgegen, das für eine historisch gewachsene christliche Kultur und Tradition stehe und von dem nicht ohne weiteres eine Zwangswirkung ausgehe210. Die Kritik an der „Symboltheorie“ des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich dabei allerdings nicht nur auf das Ergebnis seiner Symboldeutung, sondern ganz klar auch auf dessen Methode. Seine Kritiker verwerfen dem Gericht vor, theologisierend statt juristisch argumentiert und so im Wege einer „laientheologischen Kreuzesexegese“211 eine „fundamentalistisch-rigorose Kreuzestheologie212“ entwickelt zu haben. Dadurch habe das Gericht die von ihm selbst festgesetzte Grenze der weltanschaulich-religiösen Neutralität überschritten, indem es als staatliches Organ verbindlich in religiösen Dingen, nämlich der Bedeutung des Kreuzes, entschieden habe213. 204
H.-P. Pawlowski, S. 203 unter Verweis auf BVerfGE 41, 29 ff., 38 f. A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 462; M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 385; M. Heckel, S. 460 ff., 467 f.; S. Ihli, S. 147 f.; Ch. Link, S. 3355; K.-H. Kästner, S. 248; J. Müller-Vollbehr, S. 997; D. Pirson, S. 756; Th. Würtenberger, S. 287; dagegen B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 88. 206 R. Pofalla, S. 1218; ähnlich C. Cardia, Identità religiosa, S. 132. 207 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 460. 208 Zur Diskussion um Symbolgehalt und Wirkung des Kreuzes vgl. S. 225 ff. 209 Nach M. Heckel, S. 476 habe das Gericht durch diese Behauptung die Christen verletzt. 210 Vgl. S. 236 f. 211 J. Isensee, Bildersturm, S. 14. 212 O. Massing, S. 727. 205
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Weitere Kritik bezieht sich auf das Ergebnis des Bundesverfassungsgerichts, das Kreuz als appellatives missionarisches Symbol zu deuten und darin gleichzeitig einen Eingriff in die negative Religionsfreiheit zu erblikken. Zum einen wird gerügt, das Bundesverfassungsgericht habe die Eingriffsqualität nicht hinreichend begründet214 und statt dessen von der Anwesenheit von Kreuzen in Schulen ausgehende negative psychische Auswirkungen einfach postuliert215. Das Bundesverfassungsgericht sei bei der Beantwortung der Frage, ob ein Eingriff zu bejahen sei, einem „übersteigerten Subjektivismus“216 erlegen und habe sich zu sehr von der Betrachtungsweise des Beschwerdeführers leiten lassen, anstatt festzustellen, ob nach objektiven Kriterien tatsächlich eine Verletzung der Religionsfreiheit vorliege217. Kritik hat die Annahme eines Eingriffs durch die staatliche Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen schließlich auch von den Anhängern eines engen finalen Eingriffsbegriffs erfahren218. Einer der wichtigsten Kritikpunkte, die der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entgegengehalten wurden, ist sicherlich, daß bei der Frage der Rechtfertigung des seitens des Gerichts postulierten Eingriffs in die negative Religionsfreiheit der Beschwerdeführer der positiven Religionsfreiheit christlicher Kinder bzw. ihrer Eltern nicht das nötige Gewicht beigemessen worden sei219. Nach Ansicht der Kritiker überakzentuiert der Kruzifixbeschluß des Bundesverfassungsgerichts die negative Religionsfreiheit zu Lasten der positiven Religionsfreiheit der christlichen Schüler220. Die negative Religionsfreiheit werde so im Namen eines überzogenen Minderheitenschutzes221 zu einer Art Obergrundrecht222, das im Grundgesetz so eigent213 A. v. Campenhausen Das bundesdeutsche Modell, S. 180; hiergegen Jean d’Heur/S. Korioth, S. 88 f.; eine Grenzüberschreitung zu Lasten des Gesetzgebers möchte hingegen O. Höffe, S. 85 erkennen. 214 J. Ipsen, S. 314. 215 Th. Würtenberger, S. 401; ebenso S. Ihli, S. 141 f., 150; in jüngerer Zeit I. Augsberg/K. Engelbrecht, Staatlicher Gebrauch religiöser Symbole im Licht der Europäischen Menschenrechtskonvention – Zur Entscheidung des EGMR vom 3.11.2009 in der Rechtssache Lautsi, JZ 2010, S. 450, 453 f., 458. 216 J. Müller-Vollbehr, S. 1000. 217 M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 381, 384; J. Ipsen, S. 315; J. Isensee, Bildersturm, S. 13; K.-H. Kästner, S. 270; Th. Würtenberger, S. 402 f. 218 D. Heckmann, S. 888; J. Ipsen, S. 311; hiergegen B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 90 f. 219 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 451; M. Heckel, S. 458; J. Schmittmann, Anmerkung 1995, S. 429 f.; Th. Würtenberger, S. 410. 220 M. Heckel, S. 458, 477 et passim; hiergegen B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 94 f. 221 J. Müller-Vollbehr, S. 1000. 222 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 451; M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 385; K.-H. Kästner, S. 267.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
lich gar nicht enthalten sei und die ebenso wichtige positive Religionsfreiheit der christlichen Schüler verdränge. Durch diese falsche Austarierung von positiver und negativer Religionsfreiheit drohe das Christentum aus der Schule verdrängt zu werden. Eine solche religionsfreie Schule wäre nach Ansicht der Kritiker aber selbst nicht neutral, weil sie im Ergebnis die Privilegierung einer areligiösen Weltsicht bedeuten würde223. Noch darüber hinausgehend wurden gerade unmittelbar nach der Veröffentlichung der Entscheidung Befürchtungen laut, der Beschluß sei nur der erste Schritt auf dem Weg einer weitergehenden Verdrängung des Christentums aus Öffentlichkeit224. Aus ganz anderer Perspektive wurde der Entscheidung schließlich vorgehalten, sie habe die föderale Problematik nicht richtig gewürdigt, indem sie einseitig nur auf die Religionsfreiheit abstelle. Indem es die ebenso verfassungsrechtlich verankerte Hoheit der Länder für die Kultur- und Schulpolitik nicht ausreichend berücksichtigt habe, habe das Verfassungsgericht selbst einen nicht zu rechtfertigenden Übergriff in die Kompetenzen der Länder zu verantworten225. Weiteren Anlaß für Kritik bot schließlich der Leitsatz der Entscheidung226 und dessen einschränkende Auslegung227 durch den damaligen Vorsitzenden des ersten Senats, Vizepräsidenten Prof. Dr. Henschel228. Unabhängig davon, wie gerechtfertigt die verschiedenen Kritikpunkte im Einzelnen sind, sticht die Kritik am Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts durch die Vielzahl negativer Werturteile hervor, mit denen die Entscheidung aus dem 93. Band belegt wurde. So wurde sie als holz223
W. Eberl, S. 108 f.; M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 376, 384; M. Hekkel, S. 460, 480; in der Tendenz ähnlich A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 452; K.-H. Kästner, S. 243 f.; Th. Würtenberger, S. 404, 408; kritisch zu diesem Argument S. Huster, Die ethische Neutralität, S. 235. 224 So beispielhaft J. Isensee, Bildersturm, S. 15; M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 385 f.; Th. Würtenberger, S. 408. 225 A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 455 f.; M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 385; J. Isensee, Bildersturm, S. 14; Ch. Link, S. 3356; J. Müller-Vollbehr, S. 996, 999. 226 W. Flume, S. 2905; M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 373. 227 Der erste Leitsatz der Entscheidung lautet: „Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.“, vgl. BVerfGE 93, 1. Von Henschel wurde dieser Leitsatz „sprachlich dahin präzisiert“, „daß die staatlich angeordnete Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule [. . .] gegen Art. 4 Abs. 1 GG verstößt“, so die Pressemitteilung des Gerichts vom 22. August 1995, abgedruckt in BVerfG EuGRZ 1995, 359; Th. Würtenberger, S. 399. 228 So u. a. E. Benda, ZRP-Rechtsgespräch, S. 429; F. Hufen, S. 261; J. Schmittmann, Anmerkung 1995, S. 429; Th. Würtenberger, S. 399.
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schnittartig229, apodiktisch230, lebensfremd231, widersprüchlich232, handwerklich mißlungen233, undiplomatisch234, nahezu unbegreiflich235 und von missionarischem Eifer236 geprägt charakterisiert – um nur einige Stimmen aufzugreifen. 2. Lösungsvorschläge aus der deutschen Literatur Jenseits der Kritik an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lassen sich die Antworten der Literatur auf die Frage der Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen und Kruzifixen in öffentlichen Schulen im wesentlichen in drei Gruppen einteilen. Dabei steht den beiden Extrempositionen einer generellen Unzulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen einerseits a) und der bedingungslosen Zulässigkeit andererseits b), die jeweils sehr dezidiert, doch von einer relativ überschaubaren Gruppe vertreten werden, ein wesentlich weiteres Feld vermittelnder Lösungen c) unterschiedlicher Schattierung gegenüber. a) Generelle Verfassungswidrigkeit der Anbringung von Schulkreuzen Eine Extremposition in der Debatte wurde im wesentlichen von Renck und Czermak vertreten, die in ihren Stellungnahmen die staatliche Anbringung von Schulkreuzen in öffentlichen Schulen teils generell für unzulässig halten237, jedenfalls aber sowohl die ursprüngliche Regelung in § 13 Abs. 1 S. 3 VSO als auch die Neuregelung in Art. 7 Abs. 3 BayEUG für verfassungswidrig halten238. In ihrer Argumentation berufen sich beide vor allem auf das distanzierende Momentum239 der weltanschaulich-religiösen Neutra229
Ch. Link, S. 3355. E. Benda, ZRP-Rechtsgespräch, S. 430; M. Heckel, S. 460; Ch. Link, S. 3355. 231 J. Müller-Vollbehr, S. 998. 232 M. Heckel, S. 456. 233 M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 383; mit gleicher Tendenz J. Isensee, Bildersturm, S. 10 ff. 234 O. Massing, S. 724. 235 E. Benda, Götterdämmerung, S. 2470. 236 W. Eberl, S. 109. 237 G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß zwischen Neutralität, S. 204; ders., Das bayerische Kruzifix-Gesetz, S. 108; L. Renck, Schulkreuz-Gesetz, S. 999. 238 G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3353; ders., Crux bavarica, S. 490 f., 493 f.; ders., Religions- und Weltanschauungsrecht, S. 150 ff. 239 Vgl. hierzu S. 216 ff. 230
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lität, das sie besonders stark zu machen versuchen. Die Verfassungswidrigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen ergibt sich ihrer Ansicht nach aus Verstößen gegen das dem Neutralitätsgrundsatz innewohnende Nichtidentifikationsgebot240 und das Verbot einseitiger Bevorzugung einer bestimmten Glaubensrichtung241 bzw. das Verbot, die Schüler staatlicherseits einseitig im Sinne einer bestimmten Religionsgemeinschaft zu beeinflussen242. Diese Verstöße gegen das objektiv-rechtliche Neutralitätsgebot machten die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen unabhängig von einer subjektiven Rechtsverletzung und ihrer Geltendmachung durch einen bestimmten Schüler verfassungswidrig243, weshalb auch die Entfernung des Symbols auf Widerspruch eines betroffenen Schülers dieser Ansicht nach die Verfassungswidrigkeit seiner Anbringung nicht beseitigen könne244. Ebenso lehnen sie ab, die Entfernung von Kreuzen aus öffentlichen Schulen von einer Abwägung von Grundrechtspositionen im Einzelfall abhängig zu machen, da ihrer Ansicht nach gar keine Grundrechtskollision zwischen positiver Religionsfreiheit derjenigen Schüler bzw. der Eltern, die sich die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen wünschen, und derjenigen, die dies ablehnen, besteht245. Denn niemand habe einen Anspruch auf Anbringung seines religiösen Symbols246, weshalb deren Nichtanbringung auch gläubige Schüler und Eltern nicht in ihren Grundrechten verletzen könne247. Dieser Linie entspricht es, konsequenter Weise auch die Neuregelung des Art. 7 Abs. 3 BayEUG abzulehnen. Einerseits wird gegen diese Norm und 240
G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3352; ders., Crux bavarica, S. 494; L. Renck, Schulkreuz-Gesetz S. 996. 241 L. Renck, Schulkreuz-Gesetz, S. 996. 242 G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3351; ders., Crux bavarica, S. 494 f.; ders., „Gott“ im Grundgesetz?, NJW 1999, S. 1300, 1301. 243 G. Czermak, Das bayerische Kruzifix-Gesetz, S. 108; L. Renck, SchulkreuzGesetz, S. 99, 998; ebenso wohl C. Rathke, S. 317. 244 G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3353; ders., Das bayerische Kruzifix-Gesetz, S. 109 ff., 113. 245 So auch B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 95; M. Stolleis, S. 381 f., 384. 246 G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3350; ders., Der Kruzifix-Beschluß zwischen Neutralität, S. 204; ders., Crux bavarica, S. 494; ders., Zur Unzulässigkeit des Kreuzes, S. 33 f.; ders. Religions- und Weltanschauungsrecht, S. 150. L. Renck, Positive und negative Bekenntnisfreiheit, S. 206; ders., Schulkreuz-Gesetz, S. 997. 247 G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3351; L. Renck, Schulkreuz-Gesetz S. 997.
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die Rechtsprechung hierzu248 vorgebracht, daß die darin enthaltene Abwägungs- bzw. Widerspruchslösung aus den dargelegten Gründen nicht geeignet sei, den Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz zu beseitigen, der der von Art. 7 Abs. 3 S. 1 BayEUG angeordneten allgemeinen Anbringung von Kreuzen unabhängig von der Erhebung eines Widerspruchs innewohne249. Die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, der die Neuregelung nicht als Verstoß gegen die weltanschaulich-religiöse Neutralität wertete, zeuge demgegenüber lediglich von einem „denaturierten“ Verständnis des Grundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität250. Abgesehen davon, daß eine gütliche Einigung bei einem Konflikt dieser Art nicht möglich sei251, verstoße jegliche Pflicht, Gründe für die Ablehnung von Kreuzen nennen zu müssen, gegen die Freiheit, den eigenen Glauben nicht äußern zu müssen. Die Geltendmachung eines Grundrechts sei schlicht nicht begründungspflichtig252. Anlaß für Streit war die Neuregelung des Art. 7 Abs. 3 BayEUG im Übrigen auch insofern, als diskutiert wurde, ob schon die sich aus § 31 BVerfGG ergebende Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und insbesondere des Kruzifixbeschlusses dem neuen Gesetz entgegen gestanden und seine Verfassungswidrigkeit bewirkt habe253. b) Ungeschmälerte Zulässigkeit der Anbringung von Schulkreuzen Der beschriebenen Position diametral entgegengesetzt wird von wenigen Stimmen254 vertreten, die Anbringung von Schulkreuzen sei ohne jegliche Einschränkung zulässig. Ohne die vielfältige Kritik an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die sich diese Position natürlich weitestgehend zu Eigen machen kann, an dieser Stelle wiederholen zu wollen255, 248
Vgl. hierzu S. 151 ff. G. Czermak, Das bayerische Kruzifix-Gesetz, S. 108. 250 Ders., Crux bavarica, S. 493. 251 L. Renck, Schulkreuz-Gesetz, S. 994 ff. 252 G. Czermak, Das bayerische Kruzifix-Gesetz, S. 111; L. Renck, SchulkreuzGesetz, S. 998. 253 Einen Verstoß annehmend G. Czermak, Das bayerische Kruzifix-Gesetz, S. 107, 114; ders., „Gott“ im Grundgesetz?, S. 1301; K.-O. Knops, S. 54 f.; M. Stolleis, S. 383; ablehnend dagegen G. Biletzki, S. 2633; M. Heckel, S. 457; wohl auch E. Benda, ZRP-Rechtsgespräch, S. 428 f. und tendenziell S. Detterbeck, S. 426 ff. 254 K. Redeker, S. 3369; ebenso wohl M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 378 ff.; 386; J. Müller-Vollbehr, S. 999 f.; im Grundsatz wohl auch J. Isensee, Bildersturm, S. 15. 255 Vgl. S. 241 ff. 249
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sind folgende Punkte hervorzuheben, die von den Vertretern dieser Position vorgebracht werden. Zunächst ist hervorzuheben, daß sich ihre Argumentation unter weitgehender Ausblendung der Thematik der weltanschaulich-religiösen Neutralität auf die Vereinbarkeit mit der negativen Religionsfreiheit konzentriert256. Dementsprechend wird von dieser Position betont, daß das Kreuz in der Schule nicht als missionarisches Symbol zu begreifen sei, von dem eine Zwangswirkung gegenüber Nichtchristen ausgehe257. Im Gegenzug hebt diese Perspektive den Beitrag des Symbols für die Integration, Identifikation und Identität des Gemeinwesens hervor258. Sofern die negative Religionsfreiheit dadurch überhaupt berührt werde – so wird weiter argumentiert –, dürfe auch die positive Religionsfreiheit der Schüler bzw. der Eltern, die die Anbringung von Kreuzen wünschten, nicht außer Betracht bleiben. Angesichts der allenfalls schwachen Tangierung der negativen Religionsfreiheit sei für einen angemessenen Ausgleich die Entfernung der angebrachten Kreuze nicht erforderlich. Als ausreichend wird beispielsweise ein engagierter zur Toleranz erziehender Schulunterricht angesehen259. Redeker geht sogar davon aus, daß es am besten sei, wenn nichtchristliche Eltern ihre Ablehnung des Kreuzes im Gespräch mit ihren Kindern zum Ausdruck brächten und sich im übrigen in Toleranz gegenüber dem Willen der Mehrheit übten260. Jedenfalls könne aber die Ablehnung durch einen einzelnen Schüler noch nicht dazu führen, daß das Kreuz entfernt werden müsse261. c) Vermittelnde Lösungsansätze aa) Abwägungs- und Widerspruchslösungen Zwischen den beiden beschriebenen Positionen, die jeweils nur von wenigen Stimmen vertreten werden, vertritt die ganz überwiegende Mehrheit der deutschen Literatur in verschiedenen Abstufungen einen vermittelnden Ansatz in Form von Abwägungs- bzw. Widerspruchslösungen, die einer der beiden Extreme mehr oder weniger nahestehen. In ihrem praktischen Ergebnis kommen einer generellen Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen jene Beiträge 256
M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 384; J. Müller-Vollbehr, S. 999. M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 378 ff.; K. Redeker, S. 3369; mit gleicher Richtung J. Müller-Vollbehr, S. 1000. 258 K. Redeker, S. 3370; mit gleicher Stoßrichtung J. Isensee, Bildersturm, S. 15. 259 So M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 384. 260 K. Redeker, S. 3369. 261 J. Müller-Vollbehr, S. 1000. 257
III. Unzulässigkeit oder (nur eingeschränkte) Zulässigkeit des Kreuzes?
249
sehr nahe, die eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Entfernung von Kreuzen aus öffentlichen Schulen nur in ganz besonderen, „exorbitanten“262 Ausnahmefällen263 erkennen können. Argumentativ liegen diesem Ergebnis im wesentlichen folgende Überlegungen zu Grunde: Soweit die Frage der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität überhaupt thematisiert wird264, wird diese mit dem Charakter des Kreuzes als Kultursymbol begründet265. Angesichts dessen und der These vom Kreuz als passivem Symbol266 folgend wird der Eingriffscharakter der Anbringung von Kreuzen bezweifelt und einem eventuellen Eingriff jedenfalls nur eine geringe Intensivität zuerkannt, da von der Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern nach dieser Ansicht kein Zwang zum Bekennen oder zu religiösem Handeln ausgeht267. Auch eine relevante psychische Beeinträchtigung, für die es nicht nur auf die Behauptung einer solchen ankommen dürfe, sei schließlich auch nur in Ausnahmefällen denkbar268, wobei allerdings keine Beispiele für solche Ausnahmefälle genannt werden. Gleichzeitig erkennt diese Strömung einen Konflikt zwischen negativer Religionsfreiheit derjenigen, die die Anbringung von Kreuzen ablehnen, und positiver Religionsfreiheit der Eltern und Schüler, die die Anbringung Kreuzen in öffentlichen Schulen wünschen269. Bei der Abwägung dieser widerstreitenden Grundrechtspositionen kommen ihre Vertreter angesichts der von ihnen angenommen geringen Eingriffsintensität im Regelfall zum Ergebnis der Verfassungsmäßigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen; nur wenn in besonderen Ausnahmefällen eine stärkere Eingriffsintensität anzunehmen sei, müßten Kreuze entfernt werden. Andere nehmen ebenfalls einen Konflikt zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit an, der durch eine Abwägung im Sinne praktischer Konkordanz zu lösen sei, legen sich im Ergebnis jedoch nicht so eindeutig darauf fest, daß bei der Abwägung im Regelfall die positive Religionsfreiheit derje262
M. Heckel, S. 480, 482. H. Anke/T. Severitt, S. 42; A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 453; D. Heckmann, S. 888; J. Isensee, Bildersturm, S. 15; K.-H. Kästner, S. 271; Th. Würtenberger, S. 409. 264 Auf eine Prüfung an diesem Maßstab verzichten ausdrücklich D. Heckmann, S. 881; J. Isensee, Bildersturm, S. 11. 265 Bspw. A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 451; K.-H. Kästner, S. 255 f.; Th. Würtenberger, S. 403 f. 266 Vgl. S. 232 ff. 267 J. Isensee, Bildersturm, S. 13; K.-H. Kästner, S. 270; Th. Würtenberger, S. 401 f. 268 M. Heckel, S. 478; D. Heckmann, S. 888; J. Isensee, Bildersturm, S. 14; K.-H. Kästner, S. 271; Th. Würtenberger, S. 401; vgl. auch S. 236 ff. 269 Bspw. A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 451; M. Heckel, S. 458; Th. Würtenberger, S. 410. 263
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
nigen, die die Anbringung von Kreuzen wünschen, überwiegen werde270. Diese Ansicht, es handele sich um einen Konflikt zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit, der zur Erzielung praktischer Konkordanz durch eine Abwägung widerstreitender Grundrechtspositionen gelöst werden müsse, liegt wohl auch der Regelung des neuen Art. 7 Abs. 3 BayEUG zu Grunde, der in seinem Satz 4 „für den Einzelfall eine Regelung [. . . fordert], welche die Glaubensfreiheit des Widersprechenden achtet und die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen aller in der Klasse Betroffenen zu einem gerechten Ausgleich bringt“. Konsequenterweise halten die Anhänger der skizzierten Abwägung zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit diese Regelung – soweit sie explizit dazu Stellung nehmen – denn auch für verfassungsgemäß, wenn nicht gar von Verfassungs wegen geboten271. Die Frage der Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen als Konflikt zwischen widerstreitenden Grundrechtspositionen zu deuten, lehnen hingegen jene ausdrücklich ab272, die die Anbringung von Kreuzen nur solange für zulässig halten, solange nicht ein Schüler oder seine Eltern Widerspruch dagegen herhebt. Zwar begreifen auch diese Stimmen die Frage der Schulkreuze in erster Linie als Grundrechtsproblem273, betonen aber ähnlich wie jene Extremposition, die die staatliche Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen unter keinen Umständen für zulässig erachten will, daß es um eine „Grundrechtsverletzung [. . .] im Staat-Bürger-Verhältnis“ und nicht um den Ausgleich „divergierender Rechtspositionen auf der [. . .] Bürger-Bürger-Ebene“ gehe274 und daß auch aus der positiven Religionsfreiheit kein uneingeschränkter Anspruch auf religiöse Betätigung im staatlichen Raum erwachse275. Gleichzeitig wird dabei der Charakter der Grundrechte als Minderheitenschutz hervorgehoben – gerade auch im Bereich des Religionsrechts. Dieser Gedanke verlange freilich, daß sich dissentierende Minderheiten auch gegen den Willen der Mehrheit durchsetzen können276. Die unausweichliche Kon270 So wohl E. Benda, ZRP-Rechtsgespräch, 429 f.; G. Biletzki, S. 2634; Ch. Link, S. 3356 f.; J. Schmittmann, Anmerkung 1995, S. 429 f. 271 H. Anke/T. Severitt, S. 42; G. Biletzki, S. 2634; J. Schmittmann, Anmerkung 1997, S. 34; ebenso wohl A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 454. 272 So bspw. H. Goerlich, S. 1184; B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 99. 273 S. Detterbeck, S. 432; H. Goerlich, S. 1184 verweist ausdrücklich darauf, daß es nicht um die Verwirklichung eines „laizistischen Trennsystems“ gehe, und daß die positive Neutralität auch im staatlichen Bereich Raum für religiöse Betätigung gebe, solange Grundrechte nicht verletzt würden; tendenziell wohl auch R. Zuck, S. 2904. 274 B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 99; ähnlich U. Sacksofsky, S. 25. 275 S. Huster, Die ethische Neutralität, S. 236; H. Goerlich, S. 1184. 276 H. Goerlich, S. 1184.
III. Unzulässigkeit oder (nur eingeschränkte) Zulässigkeit des Kreuzes?
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frontation mit dem Kreuz in der staatlichen Schule stelle daher einen Eingriff in die Religionsfreiheit derjenigen dar, die das Kreuz ablehnten. Dieser Eingriff könne deshalb zwar nicht durch einen Rückgriff auf die positive Religionsfreiheit der Mehrheit gerechtfertigt, wohl aber durch die Abnahme des Kreuzes bei Widerspruch eines betroffenen Schülers beseitigt werden. Eine Regelung, die zwar die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen vorsehe, aber gleichzeitig ein solches als absolutes Veto ausgestaltetes277 oder zumindest mit nur sehr geringen Darlegungsanforderungen278 verbundenes Widerspruchsrecht vorsehe, beinhalte nicht mehr die Unausweichlichkeit der Konfrontation mit dem Kreuz, die Grund für die Verfassungswidrigkeit der im Beschluß des Bundesverfassungsgerichts beanstandeten Regelung gewesen sein279. Die konkrete Neuregelung des Art. 7 Abs. 3 BayEUG halten die Anhänger dieser Richtung daher auch nur in der einschränkend verfassungskonformen Interpretation des Bundesverwaltungsgerichts280 für gerade noch akzeptabel281. bb) Weitere Lösungsvorschläge Wesentlich weniger Raum als die genannten Abwägungs- und Widerspruchsmodelle in ihren verschiedenen Schattierungen nehmen in der deutschen Diskussion andere, häufig nur beiläufig erwähnte Lösungsvorschläge für den Streit um Schulkreuze ein. Einerseits wurde vorgeschlagen, der Staat solle die Schulräume nicht mehr selbst mit Kreuzen oder Kruzifixen ausstatten, sondern sich darauf beschränken, den Schülern bzw. ihren Eltern die Gelegenheit zu eröffnen, die Schulräume mit christlichen religiösen Symbolen zu versehen282. Dadurch erhalte die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen einerseits eine grundsätzlich andere Qualität283, was 277 Hierfür S. Detterbeck, S. 432; S. Huster, Die ethische Neutralität, S. 249 Anm. 444; Jakobs, Kreuze in der Schule – Glaubensfreiheit und Benachteiligungsverbot, 2000, S. 103; ebenso wohl H. Goerlich, S. 1185, der zusätzlich für ein prozedurale Komponente plädiert. 278 A. Nolte, Der richtige Weg, S. 892 unter Bezugnahme auf BVerwGE 109, S. 40, 53 f. 279 S. Detterbeck, 432; B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 100; ähnlich A. Nolte, Der richtige Weg, S. 892. 280 C. Rathke, S. 358; vgl. auch S. 160 ff. 281 H. Goerlich, S. 1184; C. Goos, S. 221; B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 100; zumindest im Hinblick auf die grundrechtliche Problematik wohl auch A. Nolte, Der richtige Weg, S. 891. 282 G. Czermak, „Gott“ im Grundgesetz?, S. 1301; S. Huster, Die ethische Neutralität, S. 238 f.; J. Ipsen, S. 318; K.-H. Kästner/H. Anke, S. 723 ff.; A. Nolte, Der richtige Weg, S. 893. 283 G. Czermak, „Gott“ im Grundgesetz?, S. 1301.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
sich auch auf den Eingriffcharakter der Anbringung auswirke. Solange die Schüler, die die Kreuze mitbrächten, kein provokatorisches Verhalten an den Tag legten, könne diese Ausübung der eigenen Religionsfreiheit dem Staat nicht als Eingriff zugerechnet werden284. An anderer Stelle wird hingegen darauf verwiesen, daß die Anbringung der Symbole verschiedener weltanschaulicher und religiöser Richtungen285 – verbunden mit einem pluralistisch orientierten Unterricht286 – am besten geeignet sei, im Gegensatz zu einer einseitigen Anbringung nur von Kreuzen die pluralistische Gesellschaft wiederzuspiegeln287 und der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates gerecht zu werden288. Dem halten andere entgegen, daß es bei der Frage des Schulkreuzes nicht um einen „Basar religiöser Beliebigkeit“, bei dem letztlich alle Religionen und privat-religiösen Strömungen Berücksichtigung finden müßten, gehe, sondern um die Identität des Gemeinwesens289. Die Frage der Kreuze in öffentlichen Schulen sei aber kein Problem des Ausgleichs zwischen verschiedenen Gruppen. Und schließlich könne auch die Anbringung verschiedener religiöser Symbole nicht das Problem der zwangsweisen Konfrontation mit einem religiösen Symbol lösen290. Insgesamt stellt die Diskussion um die beiden letztgenannten Lösungsmöglichkeiten in der deutschen Literatur aber eher ein Randphänomen dar, das hinter der Auseinandersetzung um die Stichhaltigkeit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und den Widerspruchs- und Abwägungsmodellen weitestgehend zurücktritt. 3. Italien: Auseinandersetzung mit Status quo und verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung Als augenfälliges Ergebnis eines ersten Überblicks über die Beiträge der italienischen Rechtswissenschaft zum Frage der Zulässigkeit der Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulen zeigt sich, daß die Lager der Befürworter und Gegner des Status quo von ganz unterschiedlicher Größe sind. Einem ganz kleinen Lager der Befürworter des Status quo einer uneingeschränkten Zulässigkeit der auf den königlichen Dekreten aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts basierenden staatlichen Vorgabe, Kruzi284 285 286 287 288 289 290
K.-H. Kästner/H. Anke, S. 723 ff. G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3351. D. Heckmann, S. 888. G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3351. D. Heckmann, S. 888. J. Isensee, Bildersturm, S. 15. H. Goerlich, S. 1186.
III. Unzulässigkeit oder (nur eingeschränkte) Zulässigkeit des Kreuzes?
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fixe in staatlichen Grund- und Mittelschulen anzubringen, steht eine überwältigende Mehrheit an kritischen Stimmen gegenüber, die diese Regelungen für fragwürdig, wenn nicht rechtswidrig halten. Harscher Kritik ist dementsprechend auch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung vor allem des Verwaltungsgerichts Venetien ausgesetzt. a) Wenige Befürworter . . . Selbst in den Reihen der Befürworter einer uneingeschränkten Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen, findet sich in der ausgewerteten Literatur kaum eine positive Würdigung dieser Entscheidung. Die wenigen Befürwortern des status quo stützen sich im wesentlichen auf folgende Argumente: Im Hinblick auf eine mögliche Grundrechtsverletzung wird der These vom passiven Symbol folgend bestritten, daß in der Anbringung von Kruzifixen eine Verletzung der Religionsfreiheit liegen könne, weil kein Schüler zu einer Kulthandlung gezwungen werde291. Im Hinblick auf den Grundsatz der laicità wird einerseits jene Tendenz in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aufgegriffen, die in diesem Grundsatz eine Förderung des Staates bei der Religionsausübung als Form der Entfaltung der Religionsfreiheit angelegt sieht. Eine Entfernung der Kreuze aus den Klassenzimmern wird so teilweise als Verstoß gegen den Grundsatz der laicità gewertet, weil Religion eliminiert statt gefördert werde292. An der Rechtsprechung des Gerichtes aus L’Aquila wird kritisiert, daß das Kreuz in dessen Entscheidung als für die Bildung und Heranbildung mündiger Bürger schädlich verstanden werde, während es doch tatsächlich um die Erziehung zu einem Zusammenleben in Kenntnis der jeweiligen Konfessionalität gehe293. Ein anderer Kritikpunkt, der gegen die Entfernung der Kreuze aus den Klassenzimmern, so wie sie zunächst vom Landgericht L’Aquila angeordnet wurde, vorgebracht wird, zielt darauf ab, daß in der Absicht wenige zu schützen tatsächlich viele grundlos sanktioniert würden294. In noch anderer Perspektive wird betont, daß das Kruzifix eben zumindest auch Symbol der christlich-kulturellen Wurzeln und der kulturellen Identität der italienischen Nation sei295. Die Kenntnis und Vergewisserung der eigenen Wurzeln sei aber Voraussetzung für den Dialog mit anderen und neuen Identitäten, wie er sich in einer pluralen von Zuwanderung ge291
A. Piva, S. 595. G. Majorana, S. 199; ebenfalls diese Tendenz in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs aufgreifend A. Piva, S. 601 f. 293 F. Vecchi, S. 467 f. 294 F. Vecchi, S. 468, 474. 295 F. Paterniti, S. 271 f.; F. Vecchi, S. 464 f. 292
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
prägten Gesellschaft als Herausforderung stelle296. Werde dies verkannt, würden in Geschichtsvergessenheit die Grundlagen der Demokratie selbst gefährdet, weshalb das Kruzifix weiterhin in öffentlichen Schulen angebracht bleiben solle297. Bemerkenswert ist hieran, daß zwar die Diagnose einer Gefährdung des demokratischen Staates durch Verlust des christlichen Wertefundaments, wie sie im berühmten Diktum Ernst-Wolfgang Böckenfördes298, zum Ausdruck kommt, geteilt wird, die Folgerungen jedoch gänzlich anderer Art sind. b) . . . und viele Gegner Den wenigen, der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zustimmenden Stimmen steht eine weitaus größere Zahl von Äußerungen gegenüber, die die Urteile des Verwaltungsgerichts Venetien und des Staatsrates – auch in ausdrücklicher Zustimmung zum Vorlagebeschluß und zur Entscheidung des Richters aus L’Aquila299 – überaus deutlich ablehnen. Diese Kritik setzt ebenso am Inhalt wie an Stil und Methodik der Entscheidungen an. Stilistischer und methodischer Kritik ist vor allem das Urteil des Verwaltungsgerichts Venetien ausgesetzt, dem vorgeworfen wird, es habe den Pfad der juristischen Argumentation verlassen, um auf den Wegen historischer, soziologischer und theologischer Argumentationen zu wandeln, für die ein Gericht aber nicht zuständig sei300; zumindest seien aber juristische und politische Argumentationsmuster vermengt worden301. Nicht zuletzt durch seine wortreichen Exkurse bietet diese Entscheidungen eine große Zielscheibe, die einen Großteil der Kritik absorbiert, während die Entscheidung des Staatsrates häufig nur als Bestätigung der Vorinstanz verstanden und so nicht einer eigenständigen gründlichen Würdigung unterzogen wird. In inhaltlicher Hinsicht gehen die Kritiker dieser Rechtsprechung einerseits auf den Umgang mit dem Prinzip der laicità des Staates und die be296
A. Piva, S. 604 f. F. Vecchi, S. 469 ff. 298 E.-W. Böckenförde, Staat – Gesellschaft – Freiheit, Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 1976, S. 42, 60: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ 299 R. Botta, Simboli religiosi S. 237 f.; P. Colella, Crocifisso e libertà religiosa, S. 1392; N. Colaianni, S. 851 ff.; M. Cuniberti, S. 89 ff.; G. di Cosimo, Le spalle, S. 130 f.; M. T. Denaro, S. 141; G. Galante, S. 156; A. Guazzarotti, Crocifisso, S. 178; S. Lariccia, La laicità, S. 444; B. Randazzo, Diversi ed eguali, S. 352; S. Sicardi, S. 544 f. 300 So beispielhaft N. Colaianni, S. 852; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 160. 301 Bspw. B. Randazzo, Il crocifisso come simbolo, S. 79. 297
III. Unzulässigkeit oder (nur eingeschränkte) Zulässigkeit des Kreuzes?
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fürchteten Rückwirkungen dieser Urteile auf das Verständnis dieses Konzeptes ein. Andererseits werden die tragenden Gründe der Entscheidungen im Hinblick auf den Umgang mit dem Symbol „Kruzifix“ und dessen Tauglichkeit, als Symbol italienischer Kultur und Werte zu gelten, hinterfragt. Der Umgang, den die Verwaltungsgerichte mit dem Grundsatz der laicità des Staates pflegen, wird als unglaubwürdig empfunden, weil einem formellen, um nicht zu sagen rituellen Folgeleisten in der Sache eine Relativierung und Reduzierung auf ein Minimalverständnis gegenüberstehe302. Durch die Art, wie in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte mit ihm umgegangen werde, drohe dieser Grundsatz so lange entleert und entwertet zu werden, bis nur noch ein inhaltsleerer Mythos zurückbleibe303. Einige Kritiker halten das Verständnis der kritisierten Gerichte sogar mehr an der Lehre der katholischen Kirche als an der Verfassung orientiert304 und beschwören die Gefahr, daß der Grundsatz in der Interpretation der Verwaltungsgerichte zum Baustein eines konfessionellen Staates degenerieren könnte305. Kritik ist auch der Umgang der Gerichte mit dem Symbol „Kreuz/Kruzifix“ ausgesetzt. Dem Urteil des Staatsrates, der die Anbringung von Kreuzen insofern für zulässig gehalten hatte, als darin ein Verweis auf die transzendenten Wurzeln der Verfassungswerte liege, wird entgegengehalten, daß es nicht Aufgabe von Gerichten sein könne, religiösen Symbolen eine bestimmte Bedeutung zu geben306. Der These vom Kreuz als Kultursymbol wird das Profanisierungsargument entgegengesetzt307, auf das auch schon das Bundesverfassungsgericht rekurriert hatte: Das religiöse Symbol des Kreuzes auch als Symbol für andere Inhalte zu verwenden, stelle eine unzulässige Profanisierung dar. Im übrigen stehe einer Verwendung des Kreuzes als Symbol der Verfassungswerte entgegen, daß diese nicht ausschließlich christlicher Inspiration 302 S. Mancini, La contesa, S. 150; B. Randazzo, Il crocifisso come simbolo, S. 79; S. Sicardi, S. 550, 568. 303 R. Botta, Paradossi, S. 846; N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale, S. 182; I. Pasquali Cerioli, S. 146. 304 S. Mancini, La contesa, S. 150; I. Pasquali Cerioli, S. 146. 305 N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale, S. 182; S. Sicardi, S. 567. 306 S. Mancini, La contesa, S. 149; unter Hinweis auf die Gefahr, daß der Jurist wie in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Venetien geschehen zum „giudiceteologo“, zum „Richter-Theologen“, mutiere N. Colaianni, S. 851 ff.; ähnlich bezogen nicht nur auf die italienischen, sondern auch die bayerischen Verwaltungsgerichte S. Mancini, The Crucifix Rage, S. 16. 307 R. Botta, Paradossi, S. 846 ff.; M. T. Denaro, S. 144; G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 305 ff.; E. Rossi, S. 365; B. Randazzo, Il crocifisso come simbolo, S. 79; S. Mancini, Taking Secularism, S. 189; L. Pedullà, S. 344; P. Colella, Il crocifisso e la sua esposizione, S. 1164.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
seinen, sondern ebenso von Elementen liberalen und sozialistischen Gedankenguts geprägt seien308. Dem Gedanken, die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen mit dem Argument, dieses Symbol stehe für „unsere“ Kultur, zu rechtfertigen, wird ebenso entgegnet, diesem Symbol fehle es an der nötigen Inklusivität309. Zwar finden sich ähnliche Gedanken auch in der Formel des Bundesverfassungsgerichts, der Staat müsse „Heimstatt aller Bürger“310 sein, doch erscheint dieses Argument in der italienischen Diskussion in einem neuen Kontext. Das Argument steht nun in einem Umfeld, in dem von der Öffentlichkeit realisiert wird, daß Europa von einer bedeutenden Einwanderung nichtchristlicher meist moslemischer Bevölkerungsgruppen betroffen ist, und in dem ein „Kampf der Kulturen“311 befürchtet wird312. Die Entscheidung des Staatsrates wird so auch als Zeichen einer diffusen Angst vor eben diesem „Kampf der Kulturen“ respektive der Sorge, dafür schlecht gerüstet zu sein, interpretiert, was erkläre, weshalb die christliche Identität besonders betont werde313. S. Mancini wirft den italienischen und den bayerischen Verwaltungsgerichten in diesem Zusammenhang sogar „kulturellen Rassismus“ gegenüber Moslems vor314. Im Vergleich zu all diesen Punkten von nur marginaler Bedeutung ist die Kritik der Literatur an der Verneinung einer Grundrechtsverletzung seitens der Rechtsprechung. Lediglich beiläufig wird höchst vereinzelt gerügt, daß eine Verletzung der Religionsfreiheit nicht erst dort anfange, wo ein Individuum gegen seinen Willen zu einer Kulthandlung gezwungen werde315. Jenseits der Sachargumente, die den Urteilen des Verwaltungsgerichts Venetien und des Staatsrates entgegengehalten werden, ist für die harsche Kritik der Literatur an dieser Rechtsprechung der überaus harte, häufig 308 P. Colella, Il crocifisso e la sua esposizione, S. 1164; S. Mancini, La contesa, S. 150. dies, The Crucifix Rage, S. 12; L. Pedullà, S. 344; auf die Schwierigkeiten einer klaren Trennung zwischen allgemeinen demokratisch-säkularen Grundwerten und dem christlichen Erbe verweisend I. Augsberg/K. Engelbrecht, S. 458. 309 Bspw. G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 307; R. Coppola, S. 48. 310 BVerfGE 19, 206, 216. 311 Vgl. zum Ursprung dieses Begriffs S. Huntington, Der Kampf der Kulturen: die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 6. Aufl., München 1997; englisches Original S. Huntington, The clash of civilizations and the remaking of world order, New York 1997. 312 Hierauf verweist auch E. Rossi, S. 355, 381; ähnlich U. Sacksofsky, S. 9 f. 313 R. Botta, Paradossi, S. 846; ähnlich S. Mancini, The Crucifix Rage, S. 7, 17; vor einer Instrumentalisierung des Verfassungsrechts zur Abwehr des Islam warnend auch U. Sacksofsky, S. 9 f. 314 S. Mancini, The Crucifix Rage, S. 17 ff. 315 G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 309.
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polemische Ton kennzeichnend, mit dem diese Kritik vorgetragen wird316. Die Argumentation gerade des Verwaltungsgerichts Venetien ist einer Vielzahl von abwertenden Urteilen ausgesetzt, die von „paradox“317 über „abwegig“318 bis hin zu „verbaler Inkontinenz“319 reichen. Zum Teil wird behauptet, die Urteile stünden für eine „theokonservative“320 „justiz-theologische Welle“321, die „von der Verteidigung zum Angriff“322 übergegangen sei. Mit der juristischen Wertung wird so eine politische verbunden, die das Urteil des Verwaltungsgerichts Venetien mit der politischen Position der atei devoti bzw. bestimmter, häufig mit dem Etikett „teo-con“323 versehener politischer Strömungen gleichgesetzt324. Insgesamt lehnt die ganz überwiegende Zahl der Äußerungen der italienischen Literatur so die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ab, die die staatliche Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen für uneingeschränkt zulässig halten. Zwar ist die Entrüstung über die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Venetien deutlich größer, doch trifft die Ablehnung auch den Ansatz des Staatsrates, das in staatlichen Schulen angebrachte Kreuz verfassungskonform als Verweis auf die transzendenten Ursprünge der in der Verfassung verkörperten Werte zu deuten. Jenseits der heftigen Kritik an der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte und unabhängig von den verschiedenen favorisierten Lösungen, sind sich viele Kritiker des status quo einig, daß der Kern des Problems der Anbringung von Kreuzen bzw. Kruzifixen in öffentlichen Schulen darin liegt, daß diese Anbringung staatlicherseits angeordnet wird325. Hierher rühren in 316 R. Botta, Paradossi, S. 848; N. Colaianni, S. 852; M. T. Denaro, S. 144; S. Mancini, La contesa, S. 147, 149; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 157, 159; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 113 ff.; L. Pedullà, S. 345; E. Rossi, S. 363. 317 R. Botta, L’esposizione, S. 1079; G. Casuscelli, S. 513; P. Colella, Il crocifisso e la sua esposizione, S. 1161. 318 I. Pasquali Cerioli, S. 145. 319 N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale, S. 182. 320 N. Colaianni, S. 851 ff. 321 S. Mancini, Taking Secularism, S. 194. 322 S. Sicardi, S. 508, 548 f. 323 In Anlehnung an die Bezeichnung der häufig als „Neo-con“ abgekürzten sogenannten Neokonservativen des politischen Spektrums der Vereinigten Staaten von Amerika, wurde in Italien der Begriff „Teo-con“ gemünzt, um damit eine Strömung des konservativen Lagers zu bezeichnen, die in ethischen und moralischen Fragen dezidiert die Positionen des katholischen Lehramts und der italienischen Bischofskonferenz vertritt. 324 So bspw. N. Colaianni, S. 851 ff. 325 S. Baraglia, S. 2135, 2147; R. Botta, Simboli religiosi, S. 241; ders., L’esposizione, S. 1079; ders., Paradossi, S. 851; G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 286; M.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
ihrem der Kern nicht nur die Befürchtungen derjenigen, die darin eine dem im Grundsatz der laicità verankerten Nichtidentifikationsgebot zuwiderlaufende Vermischung von Staat und Religion sehen326. In gleicher Weise gründet in diesem Punkt die Sorge, das religiöse Symbol werde zu staatlichen Zwecken mißbraucht327. 4. Lösungsvorschläge aus der italienischen Literatur Die italienische Literatur zum Kreuz in der Schule beschränkt sich jedoch nicht nur auf eine Kritik an status quo und verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung, sondern versucht auch Lösungen des Problems zu entwickeln, die sich in drei Hauptströmungen einteilen lassen. Eine erste Ansicht hält die Anbringung von Kreuzen und insbesondere Kruzifixen in staatlichen Schulen für überhaupt nicht zulässig (a). Eine zweite Gruppe von im einzelnen durchaus divergierenden Lösungsansätzen plädiert letztlich für eine nur eingeschränkte Zulässigkeit (b). Diesen, oftmals mit dem Etikett der „bayerischen Lösung“, versehenen Ansätzen ist gemein, daß sie versuchen die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Anforderungen durch verfahrensrechtliche Elemente und eine maßgebliche Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls sicherzustellen, ohne das Kreuz tout court aus allen Schulen zu verbannen, sei es, daß eine stark dialogorientierte Widerspruchslösung mit einer eventuellen Entfernung im Einzelfall favorisiert wird, sei es, daß vorgeschlagen wird, die Entscheidung über die Anbringung von Kreuzen auf die einzelne Schule zu übertragen. Eine dritte Ansicht möchte den verfassungsrechtlichen Anforderungen schließlich durch die Möglichkeit der Anbringung einer Pluralität von Symbolen gerecht werden (c). a) Völlige Unzulässigkeit der Anbringung von Kreuz und Kruzifix Daß die Exponenten dieser ersten Meinung, die eine Anbringung von Kreuzen und insbesondere Kruzifixen in staatlichen Schulen generell für unzulässig hält, sofern ihre Äußerungen nach den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen datieren, dem Chor der Kritiker der Rechtsprechung zuzuCanonico, S. 284 f.; P. Colella, Crocifisso e libertà religiosa, S. 1394; ders., Il crocifisso e la sua esposizione, S. 1161 ff.; J. Luther, La croce, S. 693; M. Manco, S. 44 f.; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 88, 119, 121; I. Pasquali Cerioli, S. 139. 326 S. Baraglia, S. 2135, 2147; M. Canonico, S. 284 f.; P. Colella, Crocifisso e libertà religiosa, S. 1394; J. Luther, La croce, S. 693; I. Pasquali Cerioli, S. 139. 327 P. Colella, Il crocifisso e la sua esposizione, S. 1161 ff.
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ordnen sind, vermag kaum zu überraschen. Diese Ansicht, die auch zuvor schon dezidiert vertreten wurde, argumentiert in einem Zweischritt. Auf Argumente, die gegen eine ungeschränkte Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen zielen, folgt meist eine Kritik an den vermittelnden Ansichten der „bayerischen Lösung“ und der Pluralität von Symbolen. An dieser Stelle sollen zunächst die Argumente des ersten Schrittes dargestellt werden, während auf den zweiten Argumentationsschritt in unmittelbarem Zusammenhang mit den verschiedenen vermittelnden Ansichten einzugehen sein wird. Über die bereits dargestellte Kritik an der Rechtsprechung hinaus verfolgen die gegen die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen und Kruzifixen in staatlichen Schulen vorgebrachten Argumente zwei Stoßrichtungen: Den Vertretern dieser Ansicht geht es nicht nur darum, zu zeigen, daß das Anbringen von Kreuzen dann unzulässig ist, wenn es sich – wovon sie ausgehen – um ein religiöses Symbol handelt, sondern auch dann verfassungswidrig wäre, wenn es sich um ein Symbol der italienischen Kultur handelte. Als Verstoß gegen den Grundsatz der laicità des Staates erscheint die uneingeschränkte Anbringung des religiösen Symbols „Kreuz bzw. Kruzifix“ in dieser Perspektive aus mehreren Gründen. Zum einen wird an die bereits mehrfach erwähnte Gefahr einer Profanisierung des Symbols anknüpfend vor der Gefahr eines staatlichen Mißbrauch des dem Bereich der Religion zuzuordnenden Symbols durch seine Instrumentalisierung für politische Zwecke gewarnt328. Gleichzeitig wird eine gegen das Gleichbehandlungselement des Grundsatzes der laicità verletzende Privilegierung der katholischen Religion befürchtet, da nur die Anbringung von deren Symbol angeordnet sei und die so allein symbolische Präsenz im öffentlichen Raum der Schule eingeräumt erhalte329. Indem so der böse Schein eines gegenseitigen Zusammenhanges330 und der Vermischung zwischen Staat und einer bestimmten Religion erweckt werde, werde gegen das Äquidistanzgebot331 und das Nichtidentifikationsverbot332 verstoßen, beides essentielle Bestandteile des Grundsatzes der laicità des Staates. Um die Problematik der Ver328 P. Colella, Il crocifisso e la sua esposizione, S. 1165; E. Rossi, S. 365; S. Mancini, La contesa, S. 152; M. Miegge, S. 214; I. Pasquali Cerioli, S. 141 f. 329 G. Casuscelli, S. 530; P. Colella, Crocifisso e libertà religiosa, S. 1392; N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale, S. 202 f.; G. Gemma, Spetta al giudice comune, S. 162 f.; M. Manco, S. 47; L. Pedullà, S. 345; E. Rossi, S. 366 f.; R. Tosi, S. 309; P. Veronesi, Una „croce“, S. 1075 f.; L. Zannotti, Il crocifisso, S. 342; a. A. I. Nicotra, S. 234. 330 S. Mancini, La contesa, S. 155; dies., Taking Secularism, S. 192; ähnlich A. Barbera, S. 80; M. Manco, S. 45; L. Pedullà, S. 345. 331 S. Mancini, La contesa, S. 147, 152. 332 A. Barbera, S. 80; A. Giorgis, S. 169; J. Luther, La croce, S. 692; M. Manco, S. 45; I. Pasquali Cerioli, S. 141 f.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
mischung von weltlicher und geistlicher Sphäre zu exemplifizieren wird mitunter auch auf die praktischen Schwierigkeiten verwiesen, mit denen der in geistlichen Angelegenheiten inkompetente Staat konfrontiert werde, wenn er in Vorbereitung des Erwerbs der zur Anbringung in Schulen vorgesehenen Kreuze entscheiden müsse, welches Modell aus welchem Material bei wem angeschafft werde333. Teilweise wird in diesem Argumentationsstrang auch der Vergleich mit politischen Parteien gesucht, deren symbolische Präsenz in staatlichen Räumlichkeiten, zumal Schulen, anerkanntermaßen nicht erlaubt sei334, ohne dabei allerdings den Unterschied zwischen dem transzendent orientierten und individuell grundrechtlich geschützten Wesen der Religion und dem auf kollektiven diesseitigen Machtgewinn zielenden Verhalten von Parteien zu thematisieren. Der Anbringung von religiösen Symbolen in öffentlichen Schulen wird schließlich auch noch entgegengehalten, daß in einem säkularen Staat ein republikanisches Monopol auf Symbole in öffentlichen Gebäuden bestehe, was die Anbringung von religiösen Symbolen per se ausschließe335. Jenseits des unmittelbaren Bezugs zur laicità des Staates wird schließlich das von der Anbringung eines bestimmten religiösen Symbols ausgehende Risiko einer Spaltung der Schülerschaft in eine Mehrheit, die sich in diesem Symbol erkennt, und eine ausgeschlossene Minderheit336 thematisiert, was dem Minderheitenschutz widerspreche337. Auch wenn hier bis hin zum verwendeten Bild Ähnlichkeiten mit der Formel des Bundesverfassungsgerichts von der „Heimstatt aller Staatsbürger“ greifbar sind338, erscheint aus deutscher grundrechtszentrierter Perspektive eklatant, daß dieses Argument bei einer kollektiven Würdigung eines Minderheitenschutzes stehen bleibt, ohne den weiteren Schritt zur Frage einer individuellen Grundrechtsverletzung zu tun. Auch wenn, wie gezeigt, in der italienischen Literatur ganz überwiegend davon ausgegangen wird, daß es sich bei den in staatlichen Schulen angebrachten Kreuzen und Kruzifixen um religiöse Symbole handelt, sind einige derjenigen, die eine Anbringung dieser Symbole in staatlichen Schulen rundweg ablehnen, auch bemüht nachzuweisen, daß dies selbst dann unzu333 So z. B. R. Bin, S. 40; G. Brunelli, Simboli collettivi, G. Cimbalo, Sull’impugnabilità, S. 79 f.; E. Rossi, S. 361. 334 G. Gemma, Spetta al giudice comune, S. 163; C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 211. 335 C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 211. 336 S. Mancini, La contesa, S. 156; dies., Taking Secularism, S. 190. 337 G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 306 f.; S. Mancini, Taking Secularism, S. 190 ff.; V. Pacillo, S. 225; P. Veronesi, Una „croce“, S. 1074. 338 BVerfGE 19, 206, 216; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 159 spricht beispielsweise vom „gemeinsamen Haus“, das der Staat für alle Staatsbürger sein müsse. Kritisch F. Holzke, S. 905.
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lässig wäre, wenn es sich tatsächlich um nur um ein kulturelles Symbol handelte. Zur Begründung wird eine kulturelle Neutralität der Schule postuliert. Die Anbringung eines bestimmten kulturellen Symbols sei dem „Multikulturalismus“339 bzw. dem „kulturellen Pluralismus“340 in der Schule abträglich, keine Kultur dürfe in der Schule bevorzugt werden341. Hier scheint wieder ein anderer Umgang mit dem Begriff der Kultur auf, als er in Deutschland geläufig ist. Es geht nicht um die – vielleicht verschiedene Strömungen enthaltende – „Kultur“ sondern um unterschiedliche Kulturen, wobei zu vermeiden ist, daß einer dieser „Kulturen“ in der Schule eine herausgehobene Stellung eingeräumt wird. In der Schule könne keine Mehrheitskultur auferlegt werden, denn nur so könne die Schule ein Ort des Dialogs der Verschiedenheit bleiben, ein öffentlicher Raum, wo sich alle auf gleicher Ebene treffen könnten342. Freilich hat diese stark dem multikulturellen Gedanken verhaftete Strömung den Charakter einer deutlich minoritären Position. Zur Widerlegung der Annahme, die Anbringung von Kreuzen in staatlichen Schulen könne deshalb gerechtfertigt werden, weil dieses Symbol für die Kultur der italienischen Nation und damit auch der Werte ihrer Verfassung stehe, wird wesentlich häufiger ein anderes Argument angeführt, das sich im Gegensatz zu vielen anderen Argumenten und Postulaten der Debatte dadurch auszeichnet, sich unmittelbar auf den Wortlaut des Verfassungstextes zu stützen. Angeführt wird Art. 12 it. Verf., der festlegt, daß „Die Flagge der Republik [. . .] die italienische Trikolore [ist]: grün, weiß, rot, in drei senkrechten Streifen gleicher Größe.“343 In dieser Vorschrift bestimme die italienische Verfassung unmittelbar selbst und abschließend ihr Symbol. Sollten also die Verfassungswerte im schulischen Bereich symbolhaft dargestellt werden, sei es besser auf diese Bestimmung eben jener Verfassung, deren Werte symbolisiert werden sollten, Rücksicht zu nehmen, als auf eine Verordnungsvorschrift aus der Zeit der Monarchie zurückzugreifen, die Königsportrait und Kruzifix in einem Atemzug nenne. Zur Darstellung der Verfassungswerte ein anderes Symbol als die Flagge heranzuziehen, sei angesichts der klaren Verfassungsbestimmung weder nötig noch zulässig344. 339
C. Fusaro, S. 152. N. Marchei, S. 205. 341 G. Casuscelli, S. 530. 342 S. Baraglia, S. 2145; D. Ferri, S. 133, 139. 343 Kimmel/Kimmel (Hrsg.). 344 R. Bin, S. 40; G. Casuscelli, 510; D. Ferri, S. 132 f.; A. Guazzarotti, Crocifisso, S. 178; J. Luther, La croce, S. 691; S. Mancini, La contesa, S. 150 ff.; dies., Taking Secularism, S. 187; dies., The Crucifix Rage, S. 12; C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 211; ders., La questione del crocifisso, S. 177 f.; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 124; I. Pasquali Cerioli, S. 140; L. Pedullà, S. 345; 340
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Dabei sei die Trikolore ein Symbol, in dem sich alle erkennen könnten und durch dessen Anbringung sich – anders als beim Kreuz – niemand ausgegrenzt fühlen müsse345. In dieser Betonung der Integrationskraft der Flagge zeigt sich so ein ausgeprägtes Vertrauen in die republikanische Symbolsprache, das aus deutscher Perspektive zumindest erstaunlich anmutet. Gleichzeitig wird eine Verbindungslinie sichtbar, die das Flaggenargument des Art. 12 it. Verf. mit dem an Symbole im öffentlichen Raum gestellten Anspruch einer maximalen Inklusion aller Glieder der staatlichen Gemeinschaft verbindet. b) Bayerische Lösung all’italiana Werden die Extrempunkte in der italienischen Diskussion um die Anbringung von Schulkreuzen von der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung und dem eben vorgestellten Teil der Literatur markiert, sind viele andere Stellungnahmen in der italienischen Literatur von dem Versuch geprägt, vermittelnde Lösungen zu entwickeln. Breites Echo fand in diesem Rahmen in Italien das Schlagwort der sogenannten „Bayerischen Lösung“, die an die Neufassung des Art. 7 Abs. 3 BayEUG anknüpft oder diese Anknüpfung zumindest suggeriert. Gemeinsam ist diesen im Kern von einer eingeschränkten Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in staatlichen Schulen ausgehenden Ansätzen eine Präferenz für einzelfallorientierte Entscheidungen statt einer landesweit einheitlichen Lösung, bei der einheitlich und bedingungslos für alle Schulen die Anbringung oder Entfernung von Kreuzen bzw. Kruzifixen festgesetzt wird. Die „bayerische Lösung“ wurde dabei nicht in erster Linie als Handlungsoption des Gesetzgebers vorgeschlagen, sondern gerade auch dem Verfassungsgerichtshof als Entscheidungsmöglichkeit nahegelegt346. Trotz aller unterschiedlichen Nuancen der verschiedenen Stimmen lassen sich in dieser Gruppe zwei Haupttendenzen unterscheiden, die sich entweder selbst darauf berufen, sich die Regelungen des bayerischen Gesetzgebers zum Vorbild zu nehmen, oder zumindest von ihren Gegnern dieser Bezugnahme geziehen werden. Neben einer etwas häufiger vertretenen Widerspruchslösung (1), die in der italienischen Lesart auch als Dialoglösung bezeichnet werden könnte, steht eine Lesart, die vorschlägt, die Entscheidung über die Anbringung von Kreuzen bzw. Kruzifixen in Klassenzimmern einer schulautonomen Dezision anheim zustellen (2), sei es durch den Schulleiter, das Lehrerkollegium oder die ganze Schulgemeinschaft. A. Reale, S. 294; R. Tosi, S. 310; P. Veronesi, Una „croce“, S. 1072; kritisch E. Rossi, S. 353. 345 C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 177 f. 346 S. Ceccanti, S. 21 ff.
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(1) Widerspruchs- bzw. Dialoglösung Bereits in einem relativ frühen Stadium der italienischen Diskussion hatte Stefano Ceccanti darauf hingewiesen, daß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im deutschen Kruzifixstreit keineswegs den Endpunkt der Diskussion darstellte, sondern vielmehr Anlaß für die Bemühungen des bayerischen Gesetzgebers war, durch die Neuregelung des Art. 7 Abs. 3 S. 3 und 4 BayEUG die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Einzelfall durch die Möglichkeit einer Entfernung des Kreuzes auf Anforderung des betroffenen Schülers bzw. seiner Eltern mit der grundsätzlichen Beibehaltung der Anbringung von Kreuzen in Schulen in Einklang zu bringen347. Der Vorschlag von Ceccanti, sich bei der Lösung des Problems in Italien an diesem Vorbild zu orientieren348, wurde sowohl materiell wie im Hinblick auf den Tenor einer entsprechenden verfassungsgerichtlichen Entscheidung349 intensiv diskutiert und auch zustimmend aufgegriffen350. Hervorzuheben ist dabei allerdings die unterschiedliche Lesart dieser Vorschrift, die sich in der italienischen Diskussion entwickelte. In Deutschland hatte die obergerichtliche Rechtsprechung die Bedeutung der Halbsätze 2 und 3 von Art. 7 Abs. 3 S. 4 BayEUG, die die Herbeiführung einer Ausgleichslösung unter Berücksichtigung des Willens der Mehrheit der Betroffenen, denen der Gesetzgeber offensichtlich eine Befürwortung der Anbringung von Kreuzen unterstellte, vorsahen, zugunsten eines Anspruchs auf Entfernung des Kreuzes fast bis zur Bedeutungslosigkeit relativiert351; die Literatur war ihr dabei weitgehend gefolgt352. In der italienischen Diskussion wurde diese Entwicklung in der Auslegung und Anwendung des Art. 7 Abs. 3 BayEUG jedoch kaum beachtet. Vielmehr wurde – wohl inspiriert durch die letzten beiden Halbsätze der Norm – die der „bayerischen Lösung“ innewohnende Möglichkeit zum Dialog zwischen betroffenem Schüler und Schulleitung betont, der erlaube, eine konsensuale Lösung zu finden353. Von den italienischen Befürwortern dieser Lesart 347
S. Ceccanti, S. 22. S. Ceccanti, S. 21 f., 25. 349 Hierzu G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 54; M. Cartabia, S. 72; S. Ceccanti, S. 21 f., 25; A. Giorgis, S. 171; S. Lariccia, Diritti di libertà, S. 187; I. Nicotra, S. 238; C. Panzera, S. 256 ff.; P. Veronesi, Abrogazione „indiretta“, S. 313. 350 Bspw. M. Cartabia, S. 69 f.; S. Ceccanti, S. 23; N. Colaianni, S. 857; P. Flores d’Arcais, S. 227; I. Nicotra, S. 239; S. Prisco, S. 279. 351 BVerwGE 109, S. 40, 53 f.; vgl. oben S. 160 ff. 352 S. Detterbeck, S. 432; H. Goerlich, S. 1184; C. Goos, S. 221; B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 100; ähnlich A. Nolte, Der richtige Weg, S. 891 f. 353 M. Cartabia, S. 69 f.; S. Ceccanti, S. 23; N. Colaianni, S. 857; I. Nicotra, S. 239; S. Prisco, S. 279. 348
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wurde vor allem vorgebracht, daß durch diese „weiche Lösung“ eine friedliche Streitbeilegung ohne Gewinner und Verlierer erzielt werden könne354. Unabhängig von der Hervorhebung ihres Dialogcharakters wurde in Italien zugunsten der Widerspruchslösung ihre Einzelfallorientierung geltend gemacht, die das Problem dort löse, wo es auftrete, anstatt es in eine abstrakte Konfrontation im Bereich der großen Politik zu überführen355. Außerdem könne so eine unverhältnismäßige Diskriminierung der Mehrheit der Schüler, die für die Anbringung von Kreuzen seien, vermieden werden356. (2) Autonome Entscheidung der betroffenen Schule Auch wenn ein Verständnis der „bayerischen Lösung“ als konsensorientiertes Dialogmodell nicht unbedingt der in Deutschland vorherrschenden Interpretation entspricht, so scheint es wenigstens mit dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 3 S. 3 und 4 BayEUG und möglicherweise mit den ursprünglichen Intentionen des bayerischen Gesetzgebers übereinzustimmen. Noch weiter entfernt vom deutschen Verständnis der „bayerischen Lösung“ ist aber ein anderer ebenfalls mit diesem Etikett versehener Lösungsvorschlag aus der italienischen Diskussion. Dieser vor allem von Raffaele Botta wiederholt propagierte Ansatz schlägt vor, die Schulgemeinschaft der einzelnen betroffenen Schule solle autonom und gleichzeitig verbindlich entscheiden, ob Kreuze in den Klassenzimmern angebracht werden sollten357. Als Vorteile dieses Modells werden vor allem zwei Punkte ins Felde geführt. Zum einen könne so im Einzelfall den in der Schülerschaft der jeweiligen Schule verbreiteten Wertvorstellungen, ihrer ideologischen Ausrichtung und den Erziehungszielen der jeweiligen Schule am besten Rechnung getragen werden358. Zum anderen werde die Anbringung von Kreuzen der betroffenen Schule so nicht von außen oktroyiert; vielmehr könne die Entscheidung in der Schulgemeinschaft selbst reifen und frei getroffen werden359. Die eventuell als Ergebnis dieser Entscheidung angebrachten Kreuze seien deshalb nicht mehr als staatliche Symbole zu betrachten, gegen die Religionsfreiheit werde nicht verstoßen360. 354
N. Colaianni, S. 857; I. Nicotra, S. 239; C. Panzera, S. 256 f. So C. Panzera, S. 255 f. 356 D. Tega, S. 305. 357 R. Botta, Simboli religiosi, S. 242; ders., L’esposizione, S. 1076 f.; ders., Paradossi, S. 851; ähnlich A. Barbera, S. 81; S. Prisco, S. 279. 358 R. Botta, L’esposizione, S. 1076 f.; L. Pedullà, S. 351. 359 R. Botta, Simboli religiosi, S. 242; ders., L’esposizione, S. 1077; ders., Paradossi, S. 851. 360 R. Botta, Paradossi, S. 847; S. Prisco, S. 279. 355
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(3) Kritik Weit davon entfernt, einhellige Zustimmung zu finden, waren beide Ansätze, die „bayerische Lösung“ in Italien zu rezipieren, auch deutlicher Kritik ausgesetzt. Da beide Lösungsvorschläge – die häufiger vertretene Widerspruchs- bzw. Dialoglösung ebenso wie die seltener propagierte autonome Entscheidung der betroffenen Schule – in Italien häufig undifferenziert unter dem Schlagwort der „soluzione bavarese“ diskutiert wurden, wurden die Gegenargumente meist ebenso generell als Argumente gegen die bayerische Lösung vorgetragen, ohne zwischen den beiden Spielarten zu unterscheiden. Dennoch lassen sich einige Argumente ausmachen, die sich ausschließlich auf die Widerspruchs- und Dialoglösung beziehen, während andere der in der italienischen Diskussion vorgebrachten Kritikpunkte gegen beide Lesarten der bayerischen Lösung vorgebracht werden können. Nur von einem relativ kleinen Teil der italienischen Stimmen wurde das in der deutschen Debatte vorgetragene Argument vorgebracht361, die Regelung des Art. 7 Abs. 3 BayEUG sei nichts anderes als der Versuch einer Umgehung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts362. Dieser zunächst etwas überraschende Befund dürfte wohl daher rühren, daß offensichtlich viele Teilnehmer der italienischen Diskussion um die bayerische Lösung sich nur mit dem Lösungsvorschlag, wie er in die italienische Debatte eingespeist wurde, beschäftigt haben, ohne auch die deutsche Debatte um Art. 7 Abs. 3 BayEUG ernstlich zur Kenntnis zu nehmen. Der Einzelfallorientierung beider Ansätze wurde entgegenhalten, daß es sich bei der Anbringung von Kreuzen in Schulen um eine Frage allgemeiner Bedeutung handele, die nicht der Entscheidung im Einzelfall und den möglicherweise im Einzelfall ausgeübten Pressionen überlassen bleiben dürfe363. Diskussionen an den einzelnen Schulen seien daher schlicht nicht geeignet, das Problem zu lösen364. Von Schule zu Schule divergierende Lösungen würde letztlich nur zu einer „Balkanisierung“ der Schullandschaft365 führen, gleich ob die einzelne Schulgemeinschaft entscheide oder ob versucht werde, im Dialog mit dem Schüler, der der Anbringung von Kreuzen widerspreche, eine Einigung zu finden. Von Schule zu Schule divergierende Entscheidun361 Hierzu insbesondere auch im Zusammenhang mit der Frage der Bindungswirkung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts G. Czermak, Das bayerische Kruzifix-Gesetz, S. 107, 114; ders., „Gott“ im Grundgesetz?, S. 1301; K.-O. Knops, S. 54 f.; M. Stolleis, S. 383. 362 So allerdings R. Botta, Simboli religiosi, S. 235; S. Mancini, La contesa, S. 153; dies., Taking Secularism, S. 190; M. Manco, S. 57 f. 363 C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 174. 364 S. Lariccia, Diritti di libertà, S. 187. 365 G. Cimbalo, Sull’impugnabilità, S. 79.
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gen über die Anbringung von Kreuzen würden dazu führen, daß Eltern die Schule ihrer Kinder nach diesem Merkmal wählten. Katholiken oder zumindest eine bestimmte Gruppe von Katholiken, denen die Anbringung von Kreuzen wichtig sei, würden sich in bestimmten Schulen sammeln, so daß sich im Schulsystem bestimmte weltanschauliche Inseln herausbilden würden; dies widerspreche aber gerade dem Ideal der einen staatlichen Schule für alle366. Statt einer solchen „Balkanisierung“ und Aufspaltung sei es viel wichtiger, den Binnenpluralismus innerhalb der Schule zu stärken367. Als Hauptargument gegen die „bayerische Lösung“ in ihren verschiedenen Spielarten wird in Italien aber vorgebracht, daß sie vor allem in ihrer Ausprägung als Widerspruchslösung dem Schüler, der nicht mit der Anbringung eines Kreuzes in seinem Klassenzimmer einverstanden sei, beziehungsweise seinen Eltern eine Darlegungslast aufbürde368, die gegen das Schweigerecht des Schülers über seine religiösen Überzeugungen verstoße369. Es könne nicht verlangt werden, daß die Betroffenen ihr Recht geltend machen müßten370 und sei nicht zu rechtfertigen, daß ein Schüler seine religiösen Überzeugungen kundtun müsse und so möglicherweise sozialem Druck ausgesetzt werde, bevor das Kreuz entfernt werde. Im übrigen handele es bei den religiösen Überzeugungen um sensible Daten, die dem Datenschutz unterfallen. Diese offenbaren zu müssen, um die Entfernung des Kreuzes zu erreichen, verstoße auch gegen den Datenschutz371. Diese Lösung würde daher dem Schutz der Religionsfreiheit372 und dem Minderheitenschutz373 nicht gerecht werden. Zwar zielen diese Einwände hauptsächlich auf einen etwa zu erklärenden Widerspruch ab. Sie lassen sich aber ebenso gegen eine Lösung des Problems durch autonome Entscheidung der jeweiligen Schule anführen, weil die vorangehende schulinterne Diskus366
G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 311; R. Tosi, S. 307. G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 311; dem Argument der Gefahr einer „Balkanisierung“ der Schullandschaft wird entgegen gehalten, daß dort wo die (religiöse) Identiät der Schüler aus der staatlichen Schule verdrängt werde, erst recht die Gefahr einer Absonderung bestehe, indem verstärkt Privatschulen besucht würden, in denen für diese Identitäten Raum sei, so z. B. S. Ceccanti, S. 327 f. 368 A. Giorgis, S. 172; S. Mancini, La contesa, S. 154; dies., Taking Secularism, S. 191; M. Manco, S. 35; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 173 f.; ders., Le necessarie conseguenze, S. 210; P. Veronesi, Una „croce“, S. 1074. 369 G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 311 f.; A. Giorgis, S. 172; R. Tosi, S. 306 f.; P. Veronesi, Una „croce“, S. 1074. 370 P. Veronesi, Una „croce“, S. 1074. 371 G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 311 f.; I. Pasquali Cerioli, S. 133; R. Tosi, S. 306 f.; P. Veronesi, Abrogazione „indiretta“, S. 317; ders., Una „croce“, S. 1074. 372 M. Manco, S. 57; R. Tosi, S. 308; P. Veronesi, Abrogazione „indiretta“, S. 317; ders., Una „croce“, S. 1074. 373 G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 312; A. Giorgis, S. 172. 367
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sion stets eines Anstoßes bedarf, der in der Regel in der Erklärung eines Schülers liegen wird, nicht mit der Anbringung eines Kreuzes einverstanden zu sein. Auch wenn sich die Kritik in diesem Punkt sehr stark aus den subjektiven Rechten des Schülers beziehungsweise seiner Eltern speist, fehlt es nicht an Stimmen, die auch hier den Grundsatz der laicità des Staates hervorheben und darauf verweisen, daß die Einhaltung dieses Grundsatzes nicht von der Anfrage eines Individuums abhängen könne374, sondern vielmehr an und für sich seitens des Staates zu befolgen sei. Insgesamt ist in der italienischen Debatte im Hinblick darauf, wie weit oder eng das aufgeworfene Problem der Anbringung von Kreuzen zu fassen ist, eine deutliche Tendenz zur Generalisierung festzustellen, die statt einer Fokussierung auf die Frage der Grundrechtsverletzung eines betroffenen Schülers durch die Anbringung von Kreuzen im Klassenzimmer dafür plädiert, allgemeiner über „religiöse Symbole“ an „öffentlichen Orten“, z. B. auch in Gerichtssälen oder Krankenhäusern, zu diskutieren375. In dieser Perspektive erscheint verständlich, daß an den vermittelnden Ansätzen der bayerischen Lösung die mangelnde Übertragbarkeit auf andere öffentliche Orte als Schulen kritisiert wird376. Generell „religiöse Symbole an öffentlichen Orten“ zu problematisieren, geht einher mit der Neigung eines Teils der Literatur, sich bei der Auswahl des maßgeblichen Prüfungsmaßstabs auf den Grundsatz der laicità des Staates zu konzentrieren. Vor diesem Hintergrund erklärt sich besser, weshalb an der Widerspruchslösung gerügt wird, daß diese in einer Überbewertung der Religionsfreiheit nur auf den Ausgleich zwischen Grundrechtspositionen bedacht sei, anstatt dem Grundsatz der laicità des Staates ausreichende Beachtung zu schenken377.
374 S. Lariccia, Diritti di libertà, S. 187; C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 210. 375 M. Canonico, S. 283 ff.; M. T. Denaro, S. 135, 143; N. Fiorita, Il crocifisso: da simbolo confessionale, S. 189 ff.; M. Manco, S. 33, 44; L. Pedullà, S. 340; als plakatives Beispiel für diese Tendenz zur Generalisierung der Debatte kann der Aufsatz von S. Testa Bappenheim, I crocifissi campestri nel Trentino-Alto Adige, in: Canestrari (Hrsg.), I simboli religiosi tra diritto e culture, Milano 2006, S. 207 ff. zu Feld- und Gipfelkreuzen in Südtirol gelten; kritisch zum Ganzen E. Rossi, S. 340 ff., 371. 376 R. Tosi, S. 308 f. 377 S. Mancini, La contesa, 154; dies., Taking Secularism, S. 191 ff.; M. Manco, S. 54 ff.
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(4) Zusammenfassung In rechtsvergleichender Perspektive ist die Spannbreite von Lösungsvorschlägen und Ideen hervorzuheben, die mit dem Etikett der „Bayerischen Lösung“ versehen werden. Gerade der Vorschlag, die verbindliche Entscheidung über die Anbringung von Kreuzen in staatlichen Schulen der autonomen Entscheidung der einzelnen Schule anheim zu stellen, scheint doch recht weit von der Intention des Bayerischen Gesetzgebers, vom Wortlaut des neugefaßten Art. 7 Abs. 3 BayEUG und dessen Auslegung in der deutschen Literatur und Rechtsprechung entfernt zu sein. Ging es dem Bayerischen Gesetzgeber vor allem darum, die Anbringung von Kreuzen in Schulen als Regelfall beizubehalten, wird in der Rechtsprechung und in der deutschen Literatur zum Art. 7 BayEUG die Möglichkeit des einzelnen Schülers bzw. seiner Eltern betont, ihren Anspruch auf Entfernung des Kreuzes durchzusetzen. Nirgends findet sich dort die Vorstellung, die einzelne Schule könne selbst und gleichzeitig verbindlich entscheiden, ob Kreuze in den Klassenzimmern angebracht werden sollten, gleich wer innerhalb der Schule darüber entscheidet. Und auch bei der in Italien unter dem Namen „soluzione bavarese“ propagierten Widerspruchs- bzw. Dialoglösung fällt trotz der größeren Nähe zumindest zum Wortlaut des Art. 7 Abs. 3 BayEUG auf, daß südlich der Alpen vor allem ein auf Konsensfindung abzielender Dialogcharakter hervorgehoben wurde, während auf der Alpennordseite die Möglichkeit des einzelnen, eine Entfernung des Kreuzes durchzusetzen, betont wurde. Für die Rechtvergleichung sollte dieser Befund – durchaus auch jenseits der Thematik des Schulkreuzes – Mahnung sein, rechtsvergleichende Argumente, stets kritisch zu hinterfragen. Denn wie sich am Beispiel der „bayerischen Lösung“ deutlich zeigt, besteht bei diesen Argumenten stets die Gefahr, daß das fremde Recht nicht richtig oder zumindest nicht vollständig verstanden wird, wenn sich dahinter nicht gar der Versuch verbirgt, eigenen Ansätzen durch den Verweis auf das fremde Recht eine besondere Autorität zu verleihen. Für den eigenen Umgang mit rechtsvergleichenden Argumenten folgt aus diesem Beispiel im Gegenzug die Mahnung besondere Sorgfalt und intellektuelle Redlichkeit walten zu lassen. Daher überzeugt es auch trotz der von Tschentscher378 vorgebrachten Bedenken das ausländischen Recht und die ausländische Diskussion zunächst darzustellen, die Ansätze des ausländischen Rechts so transparent zu machen und erst in einem zweiten getrennten Schritt einer wertenden und vergleichenden Würdigung zu unterwerfen. 378 A. Tschentscher, Dialektische Rechtsvergleichung – Zur Methode der Komparatistik im öffentlichen Recht, JZ 2007, S. 807, 812.
III. Unzulässigkeit oder (nur eingeschränkte) Zulässigkeit des Kreuzes?
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c) Pluralität von Symbolen Nicht nur das Kreuz, sondern auch die religiösen Symbole anderer Religionen in den Blick zu nehmen, versucht schließlich ein weiterer Lösungsvorschlag, der in der italienischen Literatur ebenso vertreten wird. Die Anhänger dieses Ansatzes gehen davon aus, daß das Kreuz nicht das einzige Symbol im Klassenzimmer sein müsse, und schlagen nicht zuletzt im Hinblick auf die Integration muslimischer Schüler vor, auch die Anbringung der religiösen Symbole anderer Religionsgemeinschaften neben dem christlichen Kreuz in öffentlichen Schulen zuzulassen379. Indem eine Pluralität von religiösen Symbolen im schulischen Bereich zugelassen wird, halten die Vertreter dieser Meinung den Vorwurf, die Anbringung von Kreuzen stelle eine einseitige Privilegierung beziehungsweise Identifizierung der staatlichen Schule mit einer bestimmten Religion dar, für ausgeräumt. Abgesehen von der Zauberformel der „soluzione bavarese“, die mitunter auch hierfür angeführt wird380, argumentieren die Unterstützer dieses Lösungsvorschlags aus einer Perspektive, die ihr Augenmerk auf die Integration neuer religiöser Minderheiten richtet. Zum einen wird darauf verwiesen, daß Freiheit, Multikulturalismus und Pluralismus, die in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der laicità stünden, die Berücksichtigung auch anderer Glaubensrichtungen als der christlichen verlangten, weshalb auch andere Symbole zugelassen werden sollten381. Gerade dort, wo sich die Anhänger anderer Religionen gegen die Anbringung von Kreuzen in der Schule wendeten, sei diese Lösung geeignet, zur Integration dieser religiösen Minderheiten beizutragen, indem deren religiöse Symbole in die Schule integriert würden382. Hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang auch, daß der Vorschlag in den Klassenzimmern staatlicher Schulen eine Pluralität von religiösen Symbolen zuzulassen, der sich möglicherweise auch am Verhalten der Lehrerin in dem dem Verfahren beim Landgericht L’Aquila zugrundeliegenden Fall inspiriert383, auch von den in Italien lebenden Mos379 A. Barbera, S. 81; P. Bonetti, S. 41 f.; S. Ceccanti, S. 22, 25; N. Colaianni, S. 856 f.; R. Coppola, S. 48; E. Rossi, S. 369; C. Panzera, S. 78; I. Pasquali Cerioli, S. 139; S. Prisco, S. 78; M. Tigano, S. 696. 380 So A. Barbera, S. 81; S. Prisco, S. 279; wohl auch S. Ceccanti, S. 21 f. 381 R. Coppola, S. 48; S. Prisco, S. 278; M. Tigano, S. 696. 382 C. Panzera, S. 256 f. 383 Die Lehrerin hatte nämlich auf die Beschwerde des Adel Smith gegen die im Klassenzimmer angebrachten Kreuze zunächst mit der Anbringung einer Koransure reagiert, wogegen aber die vorgesetzte Schulbehörde eingeschritten war, Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276; A. Guazzarotti, Crocifisso, S. 177; C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 210; S. Prisco, S. 278.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
lems Zustimmung erfahren habe384. Nach Ansicht ihrer Befürworter handelt es bei der für eine Pluralität von religiösen Symbolen eintretenden Lösung um einen vernünftigen Kompromiß, der sachgerechte Lösungen im Einzelfall zu finden erlaube, ohne daß es zu einer Spaltung in Gewinner oder Verlierer komme385. Etwas vage und offen erscheinen die Stellungnahmen der Verfechter dieser Lösung allerdings im Hinblick auf die Frage, wer darüber entscheiden solle, welche Symbole in den schulischen Raum eingebracht werden dürfen. Sofern hierzu überhaupt Stellung genommen wird, findet sich wiederum der Verweis auf die Schulgemeinschaft386 oder der Hinweis, daß diese Entscheidung konsensual getroffen werden müsse387. Allein Pasquali Cerioli stellt klar, daß seiner Ansicht nach die unterschiedlichen angebrachten Symbole nur als Beitrag der einzelnen Schüler, den diese in den schulischen Bereich einbringen, zulässig seien, während eine verbindliche Vorgabe auch einer Pluralität von Symbolen als verfassungswidrig zu werten sei388. Die Kritiker dieses Vorschlags halten ihn unter anderem deshalb für unpraktikabel, weil unklar bleibe, wer über die Anbringung welchen Symbols entscheide389. Kritisiert wird in dieser Perspektive ebenso, daß die Wände der Klassenzimmer von einem Mosaik an religiösen Symbolen bedeckt würden, in dem unvermeidlich Unordnung herrsche390. Außerdem könne die Zahl der angebrachten Symbole nie ausreichen, um alle (existierenden) Religionen zu berücksichtigen391. Dogmatischer argumentierend wird bemängelt, daß auch die Anbringung einer Pluralität von Symbolen nichts an der drohenden Verletzung der negativen Religionsfreiheit der Glaubenslosen ändern könne392. Die Anbringung auch einer Vielzahl von religiösen Symbolen würde nach dieser Sichtweise ebenso wenig etwas an der Privilegierung von Religion als solcher, die sich aus der staatlichen Anbringung ergäbe393, wie an der ausschließenden Wirkung, die religiösen 384
P. Bonetti, S. 42. N. Colaianni, S. 856 f. 386 A. Barbera, S. 81; S. Prisco, S. 278 f. 387 So bspw. S. Ceccanti, S. 22, 25. 388 I. Pasquali Cerioli, S. 139. 389 M. T. Denaro, S. 137. 390 R. Botta, Paradossi, S. 847. 391 S. Lariccia, Diritti di libertà, S. 187; P. Veronesi, Abrogazione „indiretta“, S. 317 f.; ähnlich wohl auch M. T. Denaro, S. 137. 392 G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 298; S. Lariccia, La laicità, S. 442; ders., Diritti di libertà, S. 187; C. Martinelli, La questione del crocifisso, S. 177; I. Pasquali Cerioli, S. 133, 138 f.; R. Tosi, S. 309; P. Veronesi, Abrogazione „indiretta“, S. 317 f.; ders., Una „croce“, S. 1074. 393 I. Pasquali Cerioli, S. 133, 138 f. 385
III. Unzulässigkeit oder (nur eingeschränkte) Zulässigkeit des Kreuzes?
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Symbolen gleich welcher Provenienz zukomme394, ändern. Zu bedenken sei, daß gar nicht alle religiösen oder weltanschaulichen Strömungen über geeignete Symbole verfügten, so daß letztlich immer jemand außen vor bleibe und daher die durch die Anbringung einer Vielzahl von religiösen Symbolen angestrebte Integrationswirkung nicht eintreten könne395. Außerdem ändere diese Lösung nichts an der Vereinnahmung des Staates durch die Religion, die in der Anbringung religiöser Symbole im staatlichen Bereich liege, selbst wenn alle denkbaren Religionen vertreten wären396; es drohe so nur der „pluritheokratische“ Staat397. Weniger polemisch wird schließlich darauf hingewiesen, daß die Anbringung auch mehrerer verschiedener religiöser Symbole keine Lösung für den Streit um ein bestimmtes Symbol bereit halte und daß durch die unterschiedlichen religiösen Symbole, die sich nach dieser Lösung an den verschiedenen Schulen finden könnten, Ungleichheiten örtlicher Art bei der Ausübung eines Grundrechts drohten398. 5. Vergleich Auf der Grundlage dieser Ergebnisse ist es nun möglich die in der deutschen und italienischen Literatur vertretenen Ansichten gegenüber zu stellen und so Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Gemeinsam ist der deutschen und italienischen Literatur zunächst die überaus harsche und polemische, in ihrem Umfang über das normale Maß hinausreichende Kritik, der die Rechtsprechung der eigenen Gerichte von der Mehrheit der Stimmen im jeweiligen Land mit freilich entgegengesetzter inhaltlicher Stoßrichtung unterzogen wurde399, was sicherlich auch aus der großen Emotionalität, mit der die Debatte in beiden Ländern geführt wurde, herrührt. Auf der inhaltlichen Ebene wurde der Rechtsprechung sowohl des Bundesverfassungsgerichtes als auch der italienischen Verwaltungsgerichte vorgeworfen, ihre Entscheidungen in der Frage des Schulkreuzes stelle einen Bruch mit bisheriger gefestigter Rechtsprechung dar. Die deutsche Rechtssprechung sei nicht mit den Entscheidungen zum Kreuz im Gerichtssaal und zur christlichen Gemeinschaftsschule vereinbar400. Den 394
A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 121. S. Mancini, Taking Secularism, S. 191; C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 177. 396 C. Martinelli, Le necessarie conseguenze, S. 212. 397 P. Flores d’Arcais, S. 226. 398 A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 121. 399 Vgl. S. 244, S. 257. 400 Vgl. S. 241. 395
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
italienischen Verwaltungsgerichten wurde vorgeworfen, sie höhlten durch ihre Urteile die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum Grundsatz der laicità aus401. Trotz ihrer unterschiedlichen Ergebnisse wurde sowohl gegen den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts als auch gegen die Urteile der italienischen Verwaltungsgerichte übereinstimmend vorgebracht, die Gerichte hätten bei ihrer Ausdeutung und Auslegung des Symbolgehaltes der in der Schule angebrachten Kreuze und Kruzifixe die Grenzen des zulässigen überschritten und selbst gegen den Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität bzw. der laicità de Staates verstoßen. Das Bundesverfassungsgericht wurde wegen nicht ausreichender Würdigung der Bedeutung des Kreuzes als Kultursymbol der „laientheologischen Kreuzesexegese“ geziehen402 und die italienischen Verwaltungsrichter zumal der ersten Instanz als „giudice teologo“, als „Richter-Theologe“, bezeichnet, weil sie dem Symbol des Kreuzes eine über die religiöse hinausgehende Bedeutung gegeben hätten, was ihnen nicht zustehe403. Angesichts dessen, daß das gleiche Argument so in beide Richtungen einsetzbar ist, erscheinen zumindest gewisse Zweifel an seiner Stichhaltigkeit angebracht. In der deutschen wie in der italienischen Literatur lassen sich im Hinblick auf die diskutierten Lösungsansätze im wesentlichen drei Hauptströmungen ausmachen. In beiden Ländern vertreten nur sehr wenige Stimmen die Ansicht, die staatlich angeordnete Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen sei ohne Einschränkung bedenkenlos zulässig404. Die andere Extremposition einer absoluten Ablehnung der Anbringung von Kreuzen in jeglicher Spielart ist in der italienischen Literatur wesentlich ausgeprägter als in Deutschland. In beiden Ländern finden sich schließlich vermittelnde Positionen, wobei hier rechtsvergleichend besonders die Rezeption der Neuregelung des Art. 7 Abs. 3 BayEUG durch die italienische Literatur hervorzuheben ist. Ein Vergleich der Argumentation der wenigen Anhänger einer bedingungslosen Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen zeigt, daß zur Unterstützung dieser Ansicht in beiden Ländern im wesentlichen die gleichen Argumente bemüht werden. Übereinstimmend der These vom passiven Symbol folgend wird vorgebracht, es liege schon gar kein Eingriff in die Glaubensfreiheit betroffener Schüler vor, da vom Kreuz kein Zwang, insbesondere kein Zwang, eine Kulthandlung vorzunehmen, ausgehe. Gleichzeitig sieht diese Position in Deutschland wie in Italien die Anbringung von Kreuzen als Ausdruck der positiven Religions401 402 403 404
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
S. S. S. S.
255. 242. 255. 247, 253.
III. Unzulässigkeit oder (nur eingeschränkte) Zulässigkeit des Kreuzes?
273
freiheit christlicher Schüler bzw. ihre Entfernung als Eingriff in die positive Freiheit an405. Daneben wird von den Anhängern dieser Position übereinstimmend die Bedeutung der Schulkreuze für die Tradierung der kulturellen Identität des jeweiligen Landes betont406. Die Vertreter der anderen Extremposition einer absoluten Unzulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen berufen sich demgegenüber vor allem auf eine distanzierende Neutralität bzw. laicità, wobei sie deren Bedeutung hervorhebend ein sehr weit ausgreifendes Verständnis dieser Grundsätze pflegen. Die Anbringung von Kreuzen stellt für die deutschen wie die italienischen Exponenten dieser Ansicht vor allem und in erster Line einen Verstoß gegen das in Neutralität und laicità enthaltene Nichtidentifikationsgebot und das Verbot der einseitigen Privilegierung einer Glaubensrichtung dar407. In beiden Ländern wirft diese Meinung daher der Rechtsprechung sowohl der italienischen Verwaltungsgerichte als auch des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vor, mit einem oberflächlichen Lippenkenntnis zu Neutralität bzw. laicità gehe in Wirklichkeit eine inhaltliche Aushöhlung und Entwertung dieser Verfassungsgrundsätze einher408. Trotz dieser Übereinstimmung im Grundsatz ist jedoch hervorzuheben, daß Positionen dieser Art in der italienischen Debatte weitaus verbreiteter sind als in Deutschland, wo sie in der ausgewerteten Literatur eine klare Minderheitenposition einnehmen. Dies entspricht dem Bild einer italienischen Diskussion, in der Fragen der laicità des Staates insgesamt einen größeren Raum einnehmen als grundrechtliche Probleme, denen in Deutschland ein größeres Augenmerk zukommt409. Dieser Argumentationsstrang kann sich in Italien allerdings nicht nur auf eine zahlenmäßig größere Basis von Vertretern, sondern auch auf ein weiteres Spektrum von Argumenten stützen. In der deutschen Debatte quasi inexistent ist nämlich beispielsweise der Verweis auf ein Monopol republikanischer, vom Verfassungstext selbst vorgegebener Staatssymbolik in staatlichen Räumen, obwohl auch Art. 22 GG die Bundesflagge ausdrücklich festlegt. Ebenso fremd ist der deutschen Diskussion auch die Idee einer kulturellen Neutralität der Schule, wie sie teilweise in der italienischen Diskussion auftaucht; und auch die Gefahr einer Spaltung der Schülerschaft nach religiösen Gruppen, ja gar einer „Balkanisierung“ der Schullandschaft, bleibt in der viel stärker am Individuum orientierten deutschen Debatte weitestgehend unerwähnt410. 405 406 407 408 409 410
Vgl. S. 247, 253. Vgl. S. 247, 253. Vgl. S. 246, 259. Vgl. S. 247, 255. Vgl. S. 210 ff. Zu diesen Aspekten der italienischen Diskussion vgl. S. 261 ff., 265.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
Quantitativ ungefähr gleich stark wie die Anhängerschaft der eben skizzierten Extremposition sind in Italien auch die Vertreter vermittelnder Lösungsansätze, während in Deutschland eine klare Mehrheit der Beiträge einzelfallorientierte Widerspruchs- und Abwägungslösungen favorisiert. Den hier wie dort vertretenen Widerspruchslösungen wird länderübergreifend entgegenhalten, daß Schüler dadurch gezwungen würden, ihre religiösen Überzeugungen offenzulegen, was seinerseits gegen die negative Glaubensfreiheit verstoße411. Gemeinsam ist vielen vermittelnden Positionen, deutschen Abwägungslösungen ebenso wie italienischen Ideen einer Pluralität von Symbolen, das Bemühen, auch die positive Religionsfreiheit christlicher Schüler bzw. Eltern, denen die Anbringung von Kreuzen ein Anlegen ist, bei der Entscheidung zu berücksichtigen412. Am erstaunlichsten ist in rechtsvergleichender Perspektive jedoch das „Eigenleben“ der Rezeption des neuen Art. 7 Abs. 3 BayEUG als „soluzione bavarese“ und der daran geübten Kritik in Italien413. Auffällig ist dabei vor allem, daß – wenn überhaupt – nur die Regelung des Gesetzgebers als solche einigermaßen treffend rezipiert wurde, während die hierzu ergangene deutsche Rechtsprechung in Italien kaum und die teils sehr kritischen Stellungnahmen der deutschen Literatur hierzu gar nicht gewürdigt wurden. Daraus erklärt sich auch, daß die in der italienischen Literatur als Vorbild bemühte „bayerische Lösung“ vor allem für den Versuch einer gütlichen Einigung im Dialog steht414, was einer unbefangenen Lektüre des Wortlauts von Art. 7 Abs. 3 BayEUG vielleicht nähersteht als der Ausprägung, die die Vorschrift in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erhalten hat. Während in der deutschen Debatte die Möglichkeit, dem Vorwurf, die Anbringung von Kreuzen in staatlichen Schule berge eine einseitiger Privilegierung christlicher Religion in sich, nicht durch die Entfernung des christlichen Symbols sondern durch die Berücksichtigung der Symbole anderer Religionsgemeinschaften zu begegnen, nur vereinzelt erörtert wurde, nimmt dieser Vorschlag in der italienischen Debatte deutlich größeren Stellenwert ein. Neben dem übereinstimmend in beiden Ländern hierfür vorgebrachten Argument, damit werde am ehesten der Struktur pluralistischer Gesellschaften Rechnung getragen415, wurde von italienischen Beiträgen viel ausgeprägter als Deutschland die Chance hervorgehoben, so einen Beitrag zur Integration von Kindern muslimischen Glaubens zu leisten416. 411 412 413 414 415 416
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
S. S. S. S. S. S.
247, 266. 248 ff., 264. 262 ff. 263. 252, 269. 269.
III. Unzulässigkeit oder (nur eingeschränkte) Zulässigkeit des Kreuzes?
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Grund hierfür dürfte einerseits wohl sein, daß eines der gerichtlichen Verfahren in Italien vom Vater eines Kindes muslimischen Glaubens betrieben wurde. Zum anderen nahm die italienische Diskussion zu einem Zeitpunkt ihren Lauf, in der Fragen der Integration und des Umgangs mit einem in Europa wachsenden Islam weitaus stärker im Zentrum der allgemeinen politischen Auseinandersetzung standen als noch eine Dekade früher in Deutschland. Übereinstimmend führen die Kritiker dieser Lösung auf beiden Seiten der Alpen ins Feld, daß die Klassenzimmer staatlicher Schulen nicht zu einem „Basar“ aller möglichen Religionen mit einem „Mosaik“ von Symbolen an der Wand werden dürften, zumal alle Religionen der Welt schon allein aus Kapazitätsgründen nicht berücksichtigt werden könnten; im übrigen löse dieser Vorschlag auch nicht das Problem des von den Symbolen ausgehenden Zwangs417. Gerade an den vermittelnden Lösungsvorschlägen zeigt sich auch ein insgesamt unterschiedliches Gepräge der deutschen und italienischen Beiträge, das aus unterschiedlichen Chronologien im Wechselspiel zwischen Rechtsprechung und Literatur herrührt. Während die rechtswissenschaftliche Literatur in Italien die Verfahren um die Zulässigkeit der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schule ausgehend vom Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Venetien durch alle Instanzen begleitete und sich so immer wieder im Vorfeld der gerichtlichen Entscheidungen äußerte, setzte die Beschäftigung der deutschen Literatur mit der Frage im wesentlichen erst mit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts ein. So sind die Beiträge vielfach ein Nachvollziehen und Nachprüfen der Richtigkeit der gerichtlichen Entscheidungen, zumal des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts, und der Reaktion des bayerischen Gesetzgebers hierauf. Andere Lösungsmöglichkeiten als die von Bundesverfassungsgericht und bayerischem Gesetzgeber entwickelten spielten dementsprechend in der Debatte auch nur eine marginale Rolle. In Italien dagegen sind viele Beiträge der rechtswissenschaftlichen Literatur vom Versuch geprägt, vorauszudenken und den Gerichten Optionen für noch ausstehende Entscheidungen aufzuzeigen. Ein weiterer Grund dafür, daß in der deutschen Diskussion Abwägungslösungen eine größere Rolle spielen, während in Italien die Möglichkeit einer Pluralität von religiösen Symbolen intensiver gewürdigt wurde, dürfte wiederum darin liegen, daß die italienische Literatur dem Grundsatz der laicità stärkere Beachtung beimißt, während in Deutschland grundrechtliche Fragen stärker thematisiert wurden. Denn die Abwägungs- und Widerspruchsmodelle der deutschen Literatur entsprechen einer insgesamt stark am Einzelfall orientierten und in Deutschland bewährten, dem Umgang mit 417
Vgl. S. 252, 270.
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B. Die Auseinandersetzung in der deutschen und italienischen Literatur
individuellen Grundrechten typischen Methodik. Dagegen ist die Anbringung der Symbole verschiedener Religionen geeignet, insbeondere dem Vorwurf einer gegen den Grundsatz der laicità verstoßenden Privilegierung einer bestimmten Religion zu begegnen. Insgesamt zeigt sich so, daß auch in der italienischen Literatur die Auseinandersetzung mit dem Grundsatz der laicità des Staates wesentlich größere Bedeutung zukommt, als in der weit mehr an grundrechtlichen Fragen orientierten deutschen Literatur. Damit geht in der italienischen Literatur eine insgesamt stark generalisierende Perspektive der Zulässigkeit von religiösen Symbolen an öffentlichen Orten, von denen die Schule nur einer unter mehreren ist, einher. Im Gegensatz dazu werden in der deutschen Literatur – einer mehr am Grundrecht des Einzelnen im konkreten Einzelfall orientierten Sichtweise entsprechend – auch gerade die Besonderheiten der Schule, als eines gesellschaftlichen Bereichs, den der Staat in seine Obhut nimmt, betont.
C. Zusammenfassung, Stellungnahme, Ausblick I. Zusammenfassung Zusammenfassend zeigt sich so, daß mit der Frage der Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen und Kruzifixen in öffentlichen Schulen ein weitestgehend identischer Sachverhalt in Deutschland wie ein Italien Gegenstand einer ausgeprägten und heftigen Kontroverse in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft der beiden Länder war. In diesen beiden Elementen – weitgehend identischer Sachverhalt und tiefer Durchdringungsgrad in beiden Ländern – gründet zugleich die besondere Eignung der Thematik für den Verfassungsrechtsvergleich. Soweit ersichtlich fanden aus dem Rechtsvergleich herkommende Argumente und Überlegungen in Italien in deutlich stärkerem Umfang Eingang in die nationale Diskussion. Bemerkenswert erscheint dabei, daß sich in Teilen der italienischen Rechtsprechung, nämlich im Beschluß des Einzelrichters aus L’Aquila vermittelt über die eigene nationale Literatur Gedanken deutscher Philosophie finden, während die italienische Literatur fast ausschließlich nur die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht und den Gesetzestext des Art. 7 Abs. 3 BayEUG zu Kenntnis nahm und die Beiträge der deutschen Rechtswissenschaft weitestgehend unbeachtet ließ. Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Überprüfung der Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen sind in der deutschen und italienischen Rechtsprechung und rechtswissenschaftlichen Literatur einerseits Grundrechte, in erster Linie die Religionsfreiheit, und andererseits die Verfassungsgrundsätze der weltanschaulich-religiösen Neutralität und laicità des Staates. Während dabei in Italien in Rechtsprechung wie Literatur der Schwerpunkt sicherlich im Bereich der laicità zu suchen ist, zeigt die deutsche Diskussion eine stärkere Fokussierung auf den grundrechtlichen Bereich auf, wobei jedoch in beiden Ländern der jeweils andere Maßstab in geringerem Ausmaß ebenso Berücksichtigung findet. Im Bereich der weltanschaulich-religiösen Neutralität und laicità des Staates bestätigt die Analyse von Literatur und Rechtsprechung im Streit um das Kreuz in der Schule die schon beim Vergleich der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu laicità und Neutralität gefundenen Ergebnisse. In Deutschland und in Italien besteht auch in den Beiträgen in dieser Diskussion weitestgehende Übereinstimmung über die mit diesen Begriffen
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C. Zusammenfassung, Stellungnahme, Ausblick
umschriebenen Inhalte, die es rechtfertigen von einer weitgehenden Kongruenz, wenn nicht vollständigen Übereinstimmung von weltanschaulich-religiöser Neutralität und laicità des Staates auszugehen. Zu diesem Grundkonsens gehört, daß, wie gezeigt werden konnte, beide Begriffe ebenso ein Element (institutioneller) Trennung von Staat und Religion wie ein Element der Offenheit des Staates gegenüber den in der Gesellschaft vorhandenen religiösen Anliegen enthalten und schließlich als drittes Element die Gleichbehandlung der verschiedenen Religionen und Religionsgemeinschaften fordern. Neben diesen Elementen einer positiven Definition, durch die die beiden Begriffe mit Inhalt gefüllt werden, gehört zu dieser in Deutschland und Italien vorzufindenden Grundübereinstimmung auch eine negative Abgrenzung gegenüber der französischen laïcité, mit der häufig eine weder mit der deutschen noch der italienischen Verfassungsordnung vereinbare religionsfeindliche Grundhaltung identifiziert wird. Angesichts dieses weitreichenden Konsenses über die von den Begriffen weltanschaulich-religiöse Neutralität und laicità des Staates umschriebenen Inhalte vermag es so insgesamt nicht zu verwundern, wenn die unterschiedlichen Ergebnisse in der Beantwortung der Frage nach der Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen kaum in der zu diesen Verfassungsgrundsätzen entwickelten Dogmatik begründet liegen, sondern vor allem davon abhängen, welche Inhalte und Wirkungen dem Symbol des Kreuzes beziehungsweise Kruzifixes zugeschrieben werden. Dies gilt nicht nur für die untersuchte Rechtsprechung in beiden Ländern sondern mit gewissen Abstrichen auch für die Diskussion in der Rechtswissenschaft. Zuzugeben ist dabei allerdings, daß in der deutschen wie der italienische Literatur eine gewisse Tendenz feststellbar ist, daß diejenigen Stimmen, die die Anbringung von Kreuzen ablehnen, das distanzierende Element von Neutralität und laicità besonders hervorheben, während die Befürworter der Anbringung von Kreuzen gerade den offenen Charakter dieser Prinzipien in den Vordergrund rücken. Einigkeit besteht in Deutschland wie Italien in Rechtsprechung und Literatur auch dahingehend, daß Kreuze und Kruzifixe grundsätzlich als religiöse Symbole anzusehen sind. Im übrigen finden sich bestimmte gleiche Argumente, die in beiden Ländern von den Befürwortern beziehungsweise Gegnern der staatlichen Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen jeweils vorgebracht werden. Einig sind sich ein großer Teil der italienischen Literatur und deutsches Bundesverfassungsgericht, daß auch im schulischen Bereich die religiöse Bedeutung des Symbols „Kreuz“ für die Entscheidung über seine Zulässigkeit maßgeblich ist und durch eine möglicherweise zusätzlich bestehende kulturelle Bedeutung nicht in den Hintergrund gedrängt werden kann. Während diese italienische Literatur – am Maßstab der laicità orientiert – darin vor allem eine einseitige und unzulässige Privi-
I. Zusammenfassung
279
legierung der christlichen beziehungsweise katholischen Religion erkennt, führte für das Bundesverfassungsgericht der dem Symbol – der These vom aktiven Symbol folgend – zugeschriebene missionarische Charakter zu einem nicht gerechtfertigten Eingriff in die Religionsfreiheit des betroffenen Schülers und seiner Eltern und damit zur Verfassungswidrigkeit. Demgegenüber hoben die italienischen Verwaltungsgerichte und ein nicht unbedeutender Teil der deutschen Literatur hervor, daß das Kreuz nicht nur religiöses Symbol sei, sondern als Kultursymbol auch für die vom Christentum geprägte kulturelle Tradition und damit verbunden auch die Verfassungswerte Deutschlands beziehungsweise Italiens stehe. Damit verbunden wurde von dieser Strömung das Kreuz als passives Symbol begreifend übereinstimmend betont, daß von der bloßen Anwesenheit des Symbols in Schulräumen kaum grundrechtsrelevante Beeinträchtigungen auf die in diesen Räumen anwesenden Schüler ausgehen könnten. Übereinstimmend wurde von dieser Argumentationslinie in Deutschland und Italien auch hervorgehoben, daß die Frage eines Eingriffs in die Religionsfreiheit nach objektiven Kriterien zu bestimmen sei und daß es nicht allein auf das subjektive Empfinden eines Beschwerdeführers ankommen könne. Gemeinsam wurde von den Befürwortern der Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen in der italienischen Rechtsprechung und der deutschen Literatur die Verdrängung des Religiösen aus dem öffentlichen Raum befürchtet und darauf hingewiesen, daß eine religionsfreie Schule wegen der darin angelegten Privilegierung einer areligiöser Weltsicht selbst nicht neutral wäre und eine Eliminierung des Religiösen aus der Schule nicht mit der in der weltanschaulich-religiösen Neutralität bzw. laicità angelegten Offenheit vereinbar sei1. Vielmehr wurde von den Exponenten dieser Denkrichtung explizit Rücksichtnahme und Achtung der positiven Religionsfreiheit christlicher Schüler beziehungsweise ihrer Eltern angemahnt. Als Besonderheit des jeweiligen Landes haben demgegenüber die Argumentation mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der Trikolore als nationalem Symbol in Italien und der Verweis auf die anerkannt zulässige kulturchristliche Schule, deren Werte durch kein anderes Symbol als das Kreuz besser ausgedrückt werden könnte, zu gelten. Insgesamt konnte so gezeigt werden, daß die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Schulkreuzen – in Deutschland wie in Italien – zwei Hauptaspekte hat: Thematisiert wurde einerseits die Frage eines Verstoßes gegen das Nichtidentifikationsgebot und das Gleichbehandlungsgebot als Teil der Grundsätze weltanschaulich-religiösen Neutralität bzw. laicità des Staates und andererseits die Frage einer Verletzung der negativen Religionsfreiheit. Grundsätzlich sind in beiden 1
Vgl. oben S. 244, S. 253.
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C. Zusammenfassung, Stellungnahme, Ausblick
Ländern beide Aspekte präsent – freilich mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung: in der italienischen, eher institutionenzentrierten Diskussion mit ihrem Fokus die auf generelle Frage der Zulässigkeit religiöser Symbole in öffentlichen Gebäuden steht die laicità des Staates im Zentrum der Überlegungen; die deutsche Debatte mit ihrer Orientierung am Einzelfall konzentrierte sich stärker auf den die Frage der Verletzung einzelner konkret betroffener Schüler in ihrer negativen Religionsfreiheit. Gleichwohl findet sich der jeweils andere Aspekt auch im jeweils anderen Land.
II. Stellungnahme Unterzieht man die in der Diskussion um die Zulässigkeit der staatlichen Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen vorgefundenen Beiträge – zumal der Rechtsprechung – einer kritischen Würdigung, ist zunächst der deutschen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung der ersten Phase der gerichtlichen Auseinandersetzung ebenso wie dem italienischen Staatsrat vorzuhalten, daß deren Entscheidungen gerade diese doppelte Fragestellung verkannt haben. Dieser Zweigleisigkeit wird weder die genannte deutsche verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung gerecht, die sich nur mit einer Verletzung der Religionsfreiheit beschäftigt, noch der Staatsrat, der sich argumentativ nur mit der Frage der Nichtidentifikation beschäftigt. Seine verfassungskonforme Auslegung des Kruzifixes als Symbol der Verfassungswerte überwindet nur im Hinblick auf die laicità des Staates bestehende Bedenken, versäumt es aber, sich damit auseinanderzusetzen, ob gleichwohl bei dem das Kruzifix betrachtenden Schüler in nachvollziehbarer Weise ein anderer Eindruck entstehen kann und ob dieser dadurch in seiner Religionsfreiheit verletzt wird. Sich nur auf die Auseinandersetzung mit einem der beiden umstrittenen Aspekte zu beschränken, ist die eigentliche Schwäche der Argumentation des Staatsrates. Demgegenüber ist in Deutschland allerdings auch der Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durchaus eine gewisse Plausibilität zuzugeben, wenn sie die Frage aufwirft, wie es miteinander vereinbar ist, daß zwar der Schultyp der christlichen Gemeinschaftsschule – bei freilich verfassungskonformer Auslegung – nach der Rechtsprechung des Gerichts zulässig sein soll, das Kreuz aber – auch bei einschränkend verfassungskonformer Auslegung seiner Bedeutung – nicht als Symbol dieses Schultyps gerechtfertigt sein soll2. Ebenso nachvollziehbar ist die Sorge vor 2 M. Stolleis, S. 382; ebenso A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung, S. 462; M.-E. Geis, Geheime Offenbarung, S. 385; M. Heckel, S. 460 ff., 467 f.; Ch. Link, S. 3355; K.-H. Kästner, S. 248; J. Müller-Vollbehr, S. 997; D. Pirson, S. 756.
II. Stellungnahme
281
einer im Gegensatz zum offenen Charakter von laicità und weltanschaulich-religiöser Neutralität stehenden völligen Verdrängung des Religiösen. Andererseits weist auch die Abwägung zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit, die in mehreren Entscheidungen und von vielen deutschen Kritikern der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorgenommen wird, eine gewisse Widersprüchlichkeit auf. Einerseits wird beispielsweise im Sondervotum ausdrücklich festgestellt, der einzelne hätte aus seiner positiven Religionsfreiheit „nicht uneingeschränkt einen Anspruch, [seine] Glaubensüberzeugung im Rahmen staatlicher Institutionen zu betätigen“3. Obwohl es also um die staatliche Anbringung des Kreuzessymbols geht, wird die positive Religionsfreiheit „von Schülern und Eltern, die eine solche Darstellung [des Kreuzes] befürworten“4 mit der negativen Religionsfreiheit der Kläger abgewogen. Was tatsächlich in die Abwägung einbezogen wird, ist aber nicht eine konkrete Position der positiven Religionsfreiheit einzelner Schüler, sondern die wahrscheinlich durchaus zutreffende – aber nicht verifizierte – Vermutung des Staates, viele Schüler wünschten die Anbringung von Kreuzen5. Führt man sich dies vor Augen, wird auch klarer, warum für das Bundesverfassungsgericht wenige lapidare Sätze ausreichen, um die negative Religionsfreiheit der Kläger überwiegen zu lassen6. Was die für die Eingriffsintensität und damit die Grundrechtsverletzung entscheidende Frage angeht, ob das Kreuz im schulischen Kontext eher als aktives oder eher als passives Symbol zu begreifen ist, so weisen beide Argumente eine gewisse Plausibilität auf. Richtig ist sowohl, daß die bloße Anbringung von Kreuzen „Schüler [. . .] nicht zu besonderen Verhaltensweisen oder religiösen Übungen vor dem Kreuz verpflichtet“7, daß es „niemandem irgend etwas vorschreibt“8. Richtig ist aber auch, daß vom Kreuz, wenn es der Betrachter als religiöses Symbol versteht, das staatlicherseits in 3
BVerfGE 93, 1, 16; ähnlich BVerwGE 109, 40, 56. BayVGH BayVBl. 1991, S. 751, 753. 5 M. Stolleis, S. 381 f., 384; kritisch zur Abwägung zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit auch G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3350 f.; ders., Der Kruzifix-Beschluß zwischen Neutralität, S. 204; ders., Crux bavarica, S. 494; B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 95; L. Renck, Positive und negative Bekenntnisfreiheit, S. 206; ders., Schulkreuz-Gesetz, S. 997. 6 BVerfGE 93, 1, 24; kritisch zur Abwägung zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit auch G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 3350 f.; ders., Der Kruzifix-Beschluß zwischen Neutralität, S. 204; ders., Crux bavarica, S. 494; B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 95; L. Renck, Positive und negative Bekenntnisfreiheit, S. 206; ders., Schulkreuz-Gesetz, S. 997. 7 BVerfGE 93, 1, 33. 8 TAR Veneto Nr. 1110/2005, Foro it. 2005, III, Sp. 329, 340. 4
282
C. Zusammenfassung, Stellungnahme, Ausblick
Schulen angebracht wurde, ein „appellative[r] Charakter“9 ausgeht. Keines dieser beiden Argumente ist zwingend. Welchem dieser beiden Argumente der Vorrang gegeben wird, hängt damit nicht zuletzt davon ab, welchem Eingriffsbegriff man folgen will. Ebenso kommt es darauf an, welche Bedeutung man dem subjektiven Gefühl des Betroffenen, einen Eingriff zu erleiden, bemißt bzw. an welchem Punkt die Grenze zwischen einem objektiv vorliegenden Eingriff und einem bloß subjektiven Gefühl, verletzt zu sein, gezogen werden soll. Gerade letzteres ist eine Wertungsfrage, die auch von eigenen Grundhaltungen geprägt sein dürfte. Folgt man der These vom aktiven Symbol, ergibt sich die eigentliche Problematik aber nicht so sehr aus der Konfrontation mit dem Symbol als solchem. Diese ist in einer Gesellschaft, in der Christen ihren Glauben aktiv in der Öffentlichkeit leben und zeigen dürfen, tatsächlich der Teilnahme am öffentlichen Leben inhärent, wie das Sondervotum des Bundesverfassungsgerichts richtig feststellt10. Die eigentliche Problematik ergibt sich daraus, daß die Anbringung des Symbols im schulischen Raum staatlicherseits angeordnet wird. Dies wird übereinstimmend in der deutschen11 und italienischen Literatur hervorgehoben12. Einerseits gilt dies im Hinblick auf den Eingriffscharakter, weil dadurch – verstärkt durch den Schulzwang – der Eindruck entstehen kann, daß bestimmte „Glaubensinhalte [. . .] vorbildhaft und befolgungswürdig“13, letztlich staatlich verordnet14 seien, was im übrigen auch den Unterschied zu dem aus privatem Impetus der Lehrerin getragenen Kopftuch ausmacht15. Gleichzeitig gründen in der Anbringung gerade durch den Staat selbst auch die Befürchtungen derjenigen, die darin eine Festlegung des Staates auf eine bestimmte religiöse Position16, und so eine 9
BVerfGE 93, 1, 20. BVerfGE 93, 1, 33. 11 H. Anke/T. Severitt, S. 42; E.-W. Böckenförde, „Kopftuchstreit“, S. 726; G. Czermak, „Gott“ im Grundgesetz?, S. 1301; ders., Der Kruzifix-Beschluß zwischen Neutralität, S. 204; S. Detterbeck, S. 432; W. Flume, S. 2905; H. Goerlich, S. 1185; C. Gusy, S. 165; J. Ipsen, S. 318 f.; B. Jean d’Heur/S. Korioth, S. 85, 87, 95; A. Nolte, Der richtige Weg, S. 891; U. Sacksofsky, S. 25; S. Seltenreich, S. 472; G. Stricker, S. 441; M. Triebel, S. 625; R. Zuck, S. 2904. 12 S. Baraglia, S. 2135, 2147; R. Botta, Simboli religiosi, S. 241; ders., L’esposizione, S. 1079; ders., Paradossi, S. 851; G. Brunelli, Simboli collettivi, S. 286; M. Canonico, S. 284 f.; P. Colella, Crocifisso e libertà religiosa, S. 1394; ders., Il crocifisso e la sua esposizione, S. 1161 ff.; J. Luther, La croce, S. 693; M. Manco, S. 44 f.; A. Morelli, Simboli, religioni e valori, S. 88, 119, 121; I. Pasquali Cerioli, S. 139. 13 BVerfGE 93, 1, 20. 14 M. Triebel, S. 625. 15 E.-W. Böckenförde, „Kopftuchstreit“, S. 726. 16 J. Ipsen, S. 318 f.; A. Nolte, Der richtige Weg, S. 891; S. Seltenreich, S. 472. 10
II. Stellungnahme
283
dem im Grundsatz der laicità bzw. der weltanschaulich-religiösen Neutralität verankerten Nichtidentifikationsgebot zuwiderlaufende Vermischung von Staat und Religion sehen17. In gleicher Weise speist sich aus diesem Punkt die in Italien verbreitete Sorge, das religiöse Symbol werde zu staatlichen Zwecken mißbraucht18. Im Hinblick auf die durch die staatliche Anbringung drohende Grundrechtsverletzung mag ein Lösungsweg sein, einen Anspruch auf Beseitigung der Konfrontation durch Entfernung des Symbols zu gewährleisten. Diesen Weg ist – vom Bundesverwaltungsgericht anerkannt – der bayerische Gesetzgeber durch die Widerspruchsmöglichkeit des Art. 7 Abs. 3 und 4 BayEUG gegangen, die die Unausweichlichkeit der Konfrontation mit einem Symbol aufhebt, das von Schülern bzw. ihren Eltern als Betrachtern des Symbols auch im schulischen Kontext als religiöses Symbol verstanden werden kann. Gleichzeitig wurde seitens des bayerischen Gesetzgebers versucht, auch Bedenken hinsichtlich des Nichtidentifikationsgebotes Rechnung tragen, indem das Kreuz durch Art. 7 Abs. 3 S. 1 und 2 BayEUG im schulischen Kontext als Symbol abendländischer Kultur und Bildung definiert wurde. Diese Lösung wird zwar in beiden einzelnen Elementen jedem der beiden Hauptaspekte der Problematik gerecht – allerdings nur um den Preis, in einem Absatz der gleichen Norm dem Kreuzessymbol zwei unterschiedliche Bedeutungen anzusinnen. Daß es bei der nicht juristisch geschulten Öffentlichkeit – und nicht nur dieser – den Eindruck einer gewissen Widersprüchlichkeit19 hervorruft, wenn das Kreuz einerseits in Satz 1 und Satz 2 als kulturelles Symbol definiert wird und dann in Satz 3 und Satz 4 von Art. 7 Abs. 3 BayEUG zur Sicherung der negativen Religionsfreiheit der Betrachter doch auf die Sichtweise als religiöses Symbol abgestellt wird, erscheint durchaus nachvollziehbar. Ein anderer Weg könnte sein, bei Symbolen, die von den betrachtenden Schülern bzw. ihren Eltern auch im schulischen Kontext als religiöse Symbole verstanden werden können, auf die staatliche Anordnung ihrer Anbringung zu verzichten, gleichzeitig aber Raum dafür zu lassen, daß die betroffenen religionsmündigen Schüler beziehungsweise die Eltern noch nicht religionsmündiger Schüler ihre religiösen Symbole im schulischen Bereich einbringen können. Dabei würde es gerade nicht um die Einigung auf ein Symbol im Wege der ganz überwiegend in der Diskussion abgelehnten Mehrheitsentscheidung20 gehen, sondern um die Möglichkeit, auch im Bereich der staatlichen Schule jedem Individuum Raum zu lassen für die auch 17 S. Baraglia, S. 2135, 2147; M. Canonico, S. 284 f.; P. Colella, Crocifisso e libertà religiosa, S. 1394; J. Luther, La croce, S. 693; I. Pasquali Cerioli, S. 139. 18 P. Colella, Il crocifisso e la sua esposizione, S. 1161 ff. 19 S. Huster, Die ethische Neutralität, S. 245.
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C. Zusammenfassung, Stellungnahme, Ausblick
symbolhafte Verwirklichung seiner positiven Religionsfreiheit. Gleichzeitig würde die staatliche Konnotierung der Anbringung des Symbols weitestgehend zurückgenommen, da es nicht der Staat wäre, der ein Symbol anbringt, sondern die einzelnen Schüler. Für diesen Weg sprechen verschiedene Argumente. Da es sich um religiöse Symbole handelte, die von den Schülern bzw. ihren Eltern als den betroffenen Individuen und nicht vom Staat in der Schule angebracht würden, würde die Gefahr vermieden, daß durch die Anbringung des Symbols der Eindruck einer Identifikation des Staates mit einer Religion entstehen kann21. Um dem Nichtidentifikationsgebot als Element der Grundsätze der Neutralität und laicità zu genügen, wäre keine normative Bestimmung des Symbolgehaltes nötig, da es sich um die religiösen Symbole der Schüler, nicht um solche des Staates handelte. Gleichzeitig könnte so auch ein Auseinanderfallen zwischen staatlich normativ bestimmter Bedeutung des Symbols und dem möglicherweise beim Betrachter erweckten Eindruck vermieden werden. Anders als bei der Lösung des Art. 7 Abs. 3 BayEUG würde so vermieden, daß das Kreuz innerhalb eines Absatzes die Bedeutung wechselt. Auch die in der Diskussion immer wieder angesprochene Abwägung zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit würde in diesem Kontext deutlich sinnvoller erscheinen, weil nun tatsächlich eine konkrete Position der Schüler, die „ihr“ religiöses Symbol anbringen wollen, in die Abwägung eingestellt werden könnte und nicht nur die Annahme des Staates, viele Schüler wünschten die Anbringung von Kreuzen. Gleichzeitig wäre zu berücksichtigen, daß mit dem Entfallen der staatlichen Prägung der Anbringung von Kreuzen oder anderen religiösen Symbolen eine deutliche Verringerung der Eingriffsintensität verbunden wäre, weil nicht der Staat von sich aus den Schüler mit einem religiösen Symbol konfrontiert, sondern er nur zuläßt, daß die in der Schule als einem gesellschaftlichen Bereich, den er in seine Obhut nimmt, die verschiedenen religiösen Strömungen eben dieser Gesellschaft ebenso ihren Raum finden können. Das auch im Sondervotum vorgebrachte Argument, auch im öffentlichen Leben außerhalb der Schule würden die Schüler mit Kreuzen konfrontiert, würde so deutlich an Plausibilität gewinnen, weil die Anbringung von Kreuzen innerhalb wie außerhalb der Schule Ausdruck der in einer pluralen Gesellschaft verbreiteten Strömungen wäre. Diese Rücksicht auf gesellschaftliche Strömungen würde 20 S. Huster, Die religiös-weltanschauliche Neutralität, S. 92; aus der Rechtsprechung Tribunale L’Aquila, Foro it. 2004, I, Sp. 1262, 1276, 1283; BVerfGE 93, 1, 24 ebenso an das BVerfG anknüpfend BayVGH BayVBl. 1996, S. 26, 27; Größe und Mitgliederzahl und die damit verbundene unterschiedliche soziale und gesellschaftliche Bedeutung als Differenzierungskriterium freilich anerkennend BayVerfGH BayVBl. 1997, S. 686, 687. 21 Ebenso S. Huster, Die religiös-weltanschauliche Neutralität, S. 92.
II. Stellungnahme
285
auch glaubenslose Schüler und ihre Eltern nicht diskriminieren, wäre doch durchaus auch die Anbringung von Symbolen atheistischer oder „freidenkerischer“ Prägung vorstellbar. Da diese Lösung auch die Anbringung einer Pluralität von religiösen Symbolen als Spiegel der Pluralität der in der heutigen Gesellschaft unter den Schülern verbreiteten religiösen Strömungen ermöglichen würde22, ohne daß staatlicherseits eine Auswahl oder Bestimmung der angebrachten Symbole vorzunehmen wäre, könnte sie zum einen den in Italien teilweise in Bezug auf die Gleichbehandlung der Religionen geäußerten Bedenken Rechnung tragen, die Anbringung von Kreuzen bedeute eine einseitige Bevorzugung der christlich-katholischen Konfession. Ebenso wäre aber auch jenen Bedenken Rechnung getragen, die befürchten, das Christentum drohe aus der Schule verdrängt zu werden, während z. B. muslimische Schülerinnen ihr religiös motiviertes Kopftuch in den schulischen Bereich einbringen können. Gleichzeitig könnte dies auch der Sicherung des (inter-)religiösen Friedens, den gerade das Bundesverfassungsgericht als Zweck des Neutralitätsgrundsatzes erkennt, dienen, indem so einerseits die Möglichkeit eröffnet würde, schon im schulischen Bereich Toleranz einzuüben, und andererseits einer Flucht in religiös segregierte Privatschulen vorgebeugt würde, indem Angehörigen aller Konfessionen ermöglicht würde, sich in staatlichen Schulen „heimisch“ zu fühlen, ohne ihre Identität verleugnen zu müssen. Im übrigen wird dadurch auch besser der in der italienischen Literatur befürchteten „Balkanisierung“ der Schullandschaft vorgebeugt als durch die Verdrängung alles Religiösen aus der staatlichen Schule. Soweit einer Lösung, in der jeder Schüler sich auch mit seiner religiösen Identität in die Schule einbringen kann, in vermeintlich pragmatischer Weise entgegengehalten wird, die Wände der Klassenzimmer drohten hinter einem Mosaik religiöser Symbole zu verschwinden, ist dem entgegenzuhalten, daß die Zahl der eingebrachten Symbole in einer normalen Schulklasse sicher nicht ins Unendliche steigen wird. Es geht bei einer solchen Lösung schließlich darum, den betroffenen Schülern Raum zu geben, ihre religiöse Identität einzubringen, nicht darum alle potentiell weltweit vorhandenen Symbole zu berücksichtigen. Im Übrigen könnte es schließlich schlicht sein, daß ein solches Mosaik eben auch der gesellschaftlichen Realität moderner pluralistischer Gesellschaften entspricht, die nicht mehr der (vermeintlichen) Homogenität früherer Zeiten entspricht. Erfolgt die Anbringung religiöser Symbole durch die betroffenen Schüler und nicht staatlicherseits, steht dem 22 So wurde in der italienischen Debatte von muslimischer Seite nicht die Entfernung der Kreuze aus öffentlichen Schulen unterstützt, sondern vorgeschlagen, zusätzlich zum Kreuz islamische Symbole anzubringen, vgl. P. Bonetti, S. 42; C. Fusaro, S. 152 f.
286
C. Zusammenfassung, Stellungnahme, Ausblick
schließlich auch das in der italienischen Literatur verbreitete, ohnehin kritisch zu hinterfragende Argument, die staatlichen Symbole seien durch die Festlegung der Nationalflagge in der Verfassung abschließend geregelt, nicht entgegen. Insgesamt könnte diese Lösung so einerseits den gegen eine staatliche Anbringung von Kreuzen als religiösen Symbolen vorgetragenen Bedenken Rechnung tragen und gleichzeitig dem in Deutschland wie in Italien in Rechtsprechung und Literatur immer wieder betonten offenen, nicht religionsfeindlichen Charakter von weltanschaulich-religiöser Neutralität und laicità des Staates – auch symbolischen – Ausdruck verleihen.
III. Ausblick: Das Kruzifix vor dem EGMR Nachdem der italienische Staatsrat ihre Klage innerstaatlich in letzter Instanz abgewiesen hatte, lies die Klägerin die Sache jedoch nicht auf sich beruhen, sondern verklagte im Juli 2006 Italien vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), um dort für sich selbst und ihre Kinder eine Verletzung der von Art. 9 der Europäischen Konvention für Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)23 garantierten Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie des in Art. 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK (EMRK-ZP)24 verankerten Rechts auf Bildung geltend zu machen25. In einer Kammerentscheidung der zweiten Sektion vom 3. Novem23
Artikel 9 EMRK – Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. (2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.; zitiert nach Bieber (Hrsg.), Europarecht – Textausgabe, 20. Auflage, Baden-Baden 2010, S. 707, 711. 24 Artikel 2 EMRK-ZP – Recht auf Bildung Niemandem darf das Recht auf Bildung verwehrt werden. Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.; zitiert nach Bieber (Hrsg.), Europarecht – Textausgabe, 20. Auflage, Baden-Baden 2010, S. 723. 25 Auf die Bedeutung der EMRK für die zu entscheidende Frage, war auch in der italienischen Diskussion z. T. schon hingewiesen worden, so z. B. C. Fioravanti, Crocifisso nelle aule scolastiche e „indottrinamento“, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Ve-
III. Ausblick: Das Kruzifix vor dem EGMR
287
ber 2009 wurde der Klage stattgegeben und Italien zur Zahlung von 5000 e Schmerzensgeld verurteilt26. Italien rief daraufhin am 28. Januar 2010 die Große Kammer des EGMR an. Über den zugelassenen Antrag Italiens27 wurde am 30. Juni 2010 mündlich verhandelt. Die Entscheidung der Großen Kammer vom 18. März 201128 stand zum Zeitpunkt der Abgabe dieser Arbeit noch aus. 1. Die Kammerentscheidung vom 3. November 2009 Die aus sieben Richtern zusammengesetzte Kammer hielt in ihrer Entscheidung vom 3. November 2009 eine Verletzung von Art. 2 EMRK-ZP i. V. m. Art. 9 EMRK für gegeben. Ausgangspunkt der Überlegungen der Kammer war Art. 2 EMRK-ZP, dessen beide Sätze gemeinsam betrachtet und im Lichte von Art. 8, 9 und 10 EMRK gelesen werden müßten. Daraus leitete die Kammer in einem ersten Schritt mehrere allgemeine Grundsätze ab, die sie in einem zweiten Schritt auf den konkreten Fall anwandte. Die Kammer betonte zunächst, daß Art. 2 S. 2 EMRK-ZP dazu diene, die Möglichkeit einer pluralen Erziehung als grundlegender Voraussetzung einer „demokratischen Gesellschaft“ i. S. d. Konvention sicherzustellen. Weiter müsse der Respekt vor den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern im Rahmen eines offenen schulischen Umfeldes möglich sein, das die Schüler nicht wegen ihres sozialen Hintergrundes, ihres Glaubens oder ihrer ethnischen Herkunft ausschließe. Schule dürfe deswegen nicht Theater missionarischer Aktivitäten oder Predigten sein, sondern müsse ein Ort sein, an dem die verschiedenen Religionen und phironesi (Hrsg.), La laicità crocifissa? Il nodo costituzionale dei simboli religiosi nei luoghi pubblici, Torino 2004, S. 141 ff.; G. Majorana, S. 196; D. Tega, S. 298 ff. 26 EGMR, Urteil v. 3. November 2009 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, abrufbar auf französisch oder englisch aus der HUDOC-Datenbank http://www.echr. coe.int/ECHR/FR/hudoc (letzter Abruf: 26. Juli 2010) = DÖV 2010, 144 (nur Leitsatz d. Red.); zustimmend S. Mancini, The Crucifix Rage, S. 6 ff.; kritisch I. Augsberg/K. Engelbrecht, S. 450 ff.; S. Huster, Neutralität ohne Inhalt?, JZ 2010, S. 354, 355; u. a. den Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung der „margin of appreciation bzw. marge d’appréciation“ bemängelnd C. Cardia, Identità religiosa, S. 49 ff. 27 Weitestgehend der Position der italienischen Regierung entsprechend C. Cardia, Identità religiosa, S. 49 ff. 28 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, abrufbar auf französisch oder englisch aus der HUDOC-Datenbank http:// www.echr.coe.int/ECHR/FR/hudoc (letzter Abruf: 3. September 2011); nichtamtliche Übersetzung NVwZ 2011, 737 mit Anm. M. Fremuth; vgl. hierzu auch das Nachwort S. 294 ff.
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C. Zusammenfassung, Stellungnahme, Ausblick
losophischen Überzeugungen zusammentreffen könnten. Die Konvention verbiete dem Staat, eine Indoktrinierung zu verfolgen, die die religiösen und philosophischen Überzeugungen der Eltern nicht respektiere, wobei dieser Respekt vor den Überzeugungen der Eltern auch die negative Freiheit, nichts zu glauben, einschließe. Die Pflicht des Staates zur Neutralität und Unparteilichkeit versage ihm, die Legitimität religiöser Überzeugungen oder die Art und Weise, diese zum Ausdruck zu bringen, zu bewerten. Im Bereich des Unterrichts habe die Neutralität den Pluralismus zu garantieren29. Nach dieser Darlegung allgemeiner Grundsätze leitete die Entscheidung zur Anwendung dieser Grundsätze auf den konkret zu entscheidenden Fall über, indem sie die Verpflichtung des Staates betonte, sich zu enthalten, an Orten, in denen Menschen vom Staat abhängig oder besonders verletzlich sind, – auch indirekt – Glauben aufzuerlegen. Die Schule sei danach ein besonders sensibler Bereich, weil Kindern noch die Kritikfähigkeit als Voraussetzung für die eigene Distanzierung von staatlicher Bevorzugung einer Religion fehle30. In Anwendung dieser Grundsätze habe der Gerichtshof daher zu prüfen gehabt, ob der italienische Staat bei der Anordnung der Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern gewährleistet habe, daß die Unterrichtsinhalte auf objektive, kritische und pluralistische Weise vermittelt werden, und ob dabei die religiösen und philosophischen Überzeugungen der Eltern wie von Art. 2 EMRK-ZP vorgeschrieben respektiert worden seien31. Dabei sei der Natur des religiösen Symbols und der von ihm ausgehenden Wirkung auf junge Schüler, zumal der Kinder der Klägerin, Rechnung zu tragen. Wie schon in der Rechtssache Karaduman32 festgestellt worden sei, könne in Ländern, in denen die große Mehrheit der Bevölkerung einer Religion angehöre, die Manifestation der Symbole dieser Religion Druck auf Schüler ausüben, die diese Religion nicht praktizierten oder einer anderen Religion angehörten33. Nach Auffassung des Gerichts habe das Kruzifix eine Vielzahl von Bedeutungen, von denen allerdings die religiöse die Hauptbedeutung sei. Die Anwesenheit von Kruzifixen in Klassenzimmern könne nicht auf eine 29
EGMR, Urteil v. 3. November 2009 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr.
47. 30
EGMR, Urteil v. 3. November 2009 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr.
48. 31
EGMR, Urteil v. 3. November 2009 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr.
49. 32
EGMR (Kommission), Entscheidung v. 3. Mai 1993 – Nr. 16278/90, Rs. Karaduman c. Turquie. 33 EGMR, Urteil v. 3. November 2009 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 50.
III. Ausblick: Das Kruzifix vor dem EGMR
289
schlicht historisch überlieferte Tradition reduziert werden. Die Klägerin sehe in der Anbringung des Kruzifixes ein Zeichen, daß der Staat sich an die Seite der katholischen Religion stelle. Dies sei auch die Bedeutung, die offiziell in der katholischen Kirche gelte, die dem Kruzifix fundamentale Bedeutung zuweise. Daher sei die Befürchtung der Klägerin nicht willkürlich aus der Luft gegriffen34. Auf Grundlage der Darlegungen der Parteien ging die Kammer davon aus, daß es unmöglich sei, das Kruzifix in den Klassenzimmern nicht zu bemerken und daß es – ähnlich wie das Kopftuch der Lehrerin im Fall Dahlab c. Suisse35 – als wesentlicher Teil des schulischen Umfeldes zu gelten habe. Das Kruzifix könne von Schülern jeglichen Alters leicht als religiöses Symbol verstanden werden; die Schüler würden in einem schulischen Umfeld erzogen, das von einer bestimmten Religion geprägt sei. Was für Schüler, die religiös erzogen würden, ermutigend wirke, könne bei Schülern anderer Religion oder ohne religiöses Bekenntnis zu seelischer Beeinträchtigung führen. Die negative Religionsfreiheit beschränke sich nicht auf die Abwesenheit von Gottesdienst und Religionsunterricht, sondern erstrecke sich auch auf Praktiken und Symbole, die im besonderen oder allgemeinen einen Glauben, eine Religion oder Atheismus zum Ausdruck bringen. Diese negative Freiheit verdiene dann besonderen Schutz, wenn es der Staat sei, der einen Glauben zum Ausdruck bringe und wenn der Betroffene sich in einer Situation befinde, aus der er sich nicht oder nur unter unverhältnismäßigen Opfern befreien könne36. Nachdem die Kammer mit dieser Begründung einen Eingriff in die Konventionsrechte festgestellt hatte, wandte sie sich der Frage zu, ob dieser Eingriff gerechtfertigt werden könne, was die Entscheidung im Ergebnis verneinte. Die Anbringung eines oder mehrer religiöser Symbole könne weder durch den Wunsch anderer Eltern, die eine religiöse Erziehung wünschten, noch durch die Notwendigkeit, mit politischen Parteien christlicher Prägung eine Verständigung zu erzielen – so offensichtlich eines der Argumente der italienischen Regierung –, gerechtfertigt werden. Im Rahmen des öffentlichen Pflichtunterrichtes sei der Staat zu konfessioneller Neutralität verpflichtet und habe zu versuchen, den Schülern kritisches Denken einzuimpfen. Die Kammer habe nicht erkennen können, wie die Anbringung eines Symbols, das vernünftiger Weise mit dem Katholizismus – der Mehr34
EGMR, Urteil v. 3. November 2009 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr.
52 f. 35
EGMR, Entscheidung v. 15. Februar 2001 – Nr. 42393/98, Rs. Dahlab c. Suisse, nichtamtliche Übersetzung NJW 2001, S. 2871. 36 EGMR, Urteil v. 3. November 2009 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 54 f.
290
C. Zusammenfassung, Stellungnahme, Ausblick
heitsreligion in Italien – in Verbindung zu bringen sei, einer pluralistischen Erziehung diene, die für die Wahrung einer „demokratischen Gesellschaft“ i. S. d. Konvention wesentlich sei37. Im Ergebnis ging die Kammer daher davon aus, daß die verpflichtende Anbringung des Symbols einer bestimmten hergebrachten Religion im Rahmen der Wahrnehmung öffentlicher, der staatlichen Kontrolle unterliegender Aufgaben, insbesondere in Schulräumen, das Recht der Eltern, ihre Kinder nach ihren Überzeugungen zu erziehen und das Recht der Kinder zu glauben oder nicht zu glauben, verletzte. Gerade im Erziehungsbereich habe der Staat Neutralität zu wahren38. 2. Elemente der nationalen Diskussion auf europäischer Ebene Eine Analyse der Argumentationslinien der Kammerentscheidung des EGMR in der Rechtssache Lautsi zeigt zunächst wenig überraschend, daß Prüfungsmaßstab der Entscheidung die Konventionsgrundrechte der Art. 2 EMRK-ZP i. V. m. Art. 9 EMRK sind. Doch nimmt die Entscheidung sowohl auf der Ebene der vorgestellten allgemeinen Grundsätze, als auch bei deren Anwendung auf den konkreten Fall ebenso auf einen Grundsatz der Neutralität Bezug, ohne freilich darzulegen, wie sich dieser Grundsatz aus dem positiven Wortlaut der Konvention herleitet. Insofern zeigt sich eine interessante Parallele zur Rechtsprechung der deutschen und italienischen Verfassungsgerichte, in der sich ebenfalls Entscheidungen finden, die auf eine Darlegung der Herleitung der Grundsätze der weltanschaulich-religiösen Neutralität und laicità des Staates aus konkreten Verfassungsnormen verzichten39. Solche Übereinstimmungen bestehen auch in inhaltlicher Hinsicht, wenn die Kammer ausführt, daß der Neutralitätsgrundsatz verbiete, die Legitimität religiöser Überzeugungen oder die Art und Weise, diese zum Ausdruck zu bringen, zu bewerten. Eben dieses Verbot gehört, wie gezeigt, auch zum Kerngehalt der deutschen weltanschaulich-religiösen Neutralität und der italienischen laicità40. Indem die Kammerentscheidung des EGMR den Neutralitätsgrundsatz einmal auf der Ebene der allgemeinen Grundsätze und zum anderen bei der Frage einer möglichen Rechtfertigung eines Eingriffs in die betroffenen Grundrechte erörterte, ähnelt ihre Me37
EGMR, Urteil v. 3. November 2009 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr.
56. 38
EGMR, Urteil v. 3. November 2009 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr.
57. 39 40
Vgl. oben S. 76 ff., 92 ff., 111 f. Vgl. oben S. 112 ff.
III. Ausblick: Das Kruzifix vor dem EGMR
291
thode, den Neutralitätsgrundsatz in die Fallentscheidung einzubeziehen, weitaus mehr der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die ähnlich vorgeht41, als den untersuchten italienischen Entscheidungen, für die der Grundsatz der laicità des Staates der Hauptprüfungsmaßstab ist42. Wenn die Kammer schließlich zum Ergebnis kommt, die positiven Konventionsrechte seien wegen eines Verstoßes gegen den Neutralitätsgrundsatz verletzt, mag sich hier eine Parallele zu der auf nationaler Ebene bestehenden Problematik, die Anwendungsbereiche der Grundsätze der weltanschaulich-religiösen Neutralität und der laicità des Staates von den Vorschriften, aus denen sich diese Grundsätze ableiten, zu unterscheiden, ergeben. Auf der Ebene der Symbolexegese entspricht die Entscheidung der Kammer im wesentlichen der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, wenn darauf verwiesen wird, daß das Kruzifix zwar eine Vielzahl von Bedeutungen haben könne, der Schwerpunkt jedoch immer auf der religiösen Bedeutung liege. Die Argumentation der italienischen Verwaltungsgerichte, das Kreuz könne im schulischen Bereich auch für die Werte der Verfassung stehen, lehnt die Kammer hingegen mit dem etwas simplizistischen Schluß ab, das Kruzifix stehe für den Katholizismus, weshalb es nicht der Realisierung der „demokratischen Gesellschaft“ dienen könne. Ob diese etwas vereinfachende Argumentation der Komplexität der abendländischen Kulturgeschichte völlig gerecht wird, erscheint indes fraglich. Was die Wirkung des Kreuzes auf die Schüler angeht, folgte die Kammer im wesentlichen der These vom aktiven Symbol, in dem sie annahm, daß von der Präsenz des Symbols in den italienischen Klassenzimmern eine Indoktrinierung43 mit der Folge einer emotionalen Beeinträchtigung der Schüler ausgehen könne. Insgesamt folgte die Symbolexegese der Kammer so Argumentationsmustern, die aus der nationalen Diskussion in Deutschland und Italien hinreichend bekannt sind und deren Ergebnis im wesentlichen mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts übereinstimmen. Dementsprechend wurden gegen diese Annahme einer aktiven Wirkung des Symbols die gleichen Bedenken vorgebracht, die in diesem Zusammenhang schon gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorgebracht wurden, nämlich, daß es sich bei der von der Kammer angenommen missionarischen Wirkung des Kreuzes um eine nicht nachweisbare Behauptung handelt44. 41
Vgl. oben S. 146 ff. Vgl. oben S. 176 ff. 43 I. Augsberg/K. Engelbrecht, S. 458. 44 I. Augsberg/K. Engelbrecht, S. 453; zur diesbezüglichen Kritik am Bundesverfassungsgericht vgl. S. 242 f.; vgl. demgegenüber EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 66, NVwZ 2011, S. 737, 740. 42
292
C. Zusammenfassung, Stellungnahme, Ausblick
Gleiches gilt für die Bestimmung des Schutzbereichs der negativen Religionsfreiheit, bei der die Entscheidung im Kontinuum der nationalen Diskussion in Deutschland und Italien blieb, wenn sie – anders als Teile der deutschen Literatur – von diesem Grundrecht nicht nur die Freiheit von Zwang zu Gottesdienst und religiöser Handlung umfaßt ansieht, sondern auch die staatliche Konfrontation mit religiösen Symbolen einschließt. Auf der Grundlage dieser Bestimmung des Schutzbereichs der negativen Religionsfreiheit stützte sich die Bejahung eines Eingriffs neben der getroffenen Prämisse vor allem auf die Unausweichlichkeit der Konfrontation mit dem Symbol. Dies wird zum einen an dem Hinweis der Kammer deutlich, daß es nach den Darlegungen der Parteien unmöglich sei, das Kreuz im Klassenzimmer nicht zu bemerken45. Zum anderen zeigt sich die Bedeutung der Unausweichlichkeit auch darin, daß sich nach der Kammer die Schwere des Eingriffs neben der staatlichen Veranlassung der Anbringung des Symbols gerade daraus ergibt, daß sich die Kinder der Klägerin aus der Situation nicht oder nur unter unverhältnismäßigen Opfern befreien könnten46. Bei der Bejahung einer Verletzung der Klägerin in ihrem eigenen, in Art. 2 S. 2 EMRK-ZP verbrieften Recht, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen, bezog die Kammer auch zu der in Literatur und Rechtsprechung in Deutschland und Italien umstrittenen Frage Stellung, ob es für das Vorliegen eines Eingriffs in den Schutzbereich maßgeblich auf die subjektive Sichtweise der Betroffenen ankommen kann. Die Kammer prüfte die Annahme der Klägerin, durch die Anbringung von Kreuzen in den Räumen staatlicher Schulen stelle sich der Staat an die Seite der katholischen Kirche, nämlich lediglich darauf, ob diese Annahme willkürlich sei, was im Ergebnis verneint wurde. Selbst falls diese Annahme inhaltlich richtig sein sollte, stellt sich allerdings durchaus die Frage, ob wirklich allein dadurch schon das Recht der Klägerin, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen, berührt wird. Inhaltlich handelt es sich bei diesem von der Kammer für plausibel erachteten Argument der Klägerin, eher um eine Frage des in den Grundsätzen der weltanschaulich-religiösen Neutralität und der laicità des Staates verankerten Nichtidentifikationsgebotes. An dieser Stelle greift die Entscheidung damit ganz eindeutig ein Element der auf die Frage der laicità des Staates ausgerichteten italienischen Diskussion auf, das sich freilich nicht völlig bruchlos in die Prüfung des Konventionsrechtes aus Art. 2 S. 2 EMRK-ZP einfügt. 45
EGMR, Urteil v. 3. November 2009 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr.
54. 46
55.
EGMR, Urteil v. 3. November 2009 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr.
III. Ausblick: Das Kruzifix vor dem EGMR
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Wenn die Entscheidung eine Rechtfertigung dieser Eingriffe durch den Wunsch anderer Eltern, die eine religiös geprägte Erziehung ihrer Kinder wünschen, ausschließt, greift die Entscheidung wiederum eine Frage auf, die auch in der deutschen Diskussion umstritten war. Die Antwort der Kammer lag dabei auch in diesem Punkt auf der Linie der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. In ihrer lapidaren Kürze blieb die Entscheidung allerdings eine Antwort schuldig, auf welche Weise diese anderen Eltern die Unterrichtung und Erziehung ihrer Kinder nach ihren eigenen religiösen Überzeugungen sicherstellen können – eine Frage, die sich angesichts des Wortlauts von Art. 2 S. 2 EMRK-ZP durchaus stellt. Als zweiten möglichen Rechtfertigungsgrund, der im Ergebnis abgelehnt wurde, zog die Entscheidung die Notwendigkeit, mit politischen Parteien christlicher Prägung eine Verständigung zu erzielen, in Betracht. Diese Überlegung erscheint ohne Kenntnis der italienischen Diskussion eher unverständlich47. Dies dürfte im Kern eine Bezugnahme auf die Argumentation der italienischen Rechtssprechung, das Kreuz in der Schule stehe für die Werte der italienischen Verfassung, darstellen. Vergegenwärtigt man sich nämlich, daß in der italienischen Diskussion die Verfassungswerte häufig als Summe der Werte der einzelnen an der verfassungsgebenden Versammlung beteiligten politischen Gruppierungen verstanden werden, so daß versucht wird, bestimmte christliche bzw. christdemokratische Verfassungswerte von sozialistisch inspirierten Verfassungswerten zu unterscheiden, erklärt sich eher, weshalb die Kammer diesen Rechtfertigungsgrund in Betracht zieht. Insgesamt zeigt sich, daß die Entscheidung der Kammer große Gemeinsamkeiten mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aufweist, sei es bei der Bestimmung des Schutzbereichs der negativen Religionsfreiheit, sei es bei der Deutung des Symbols „Kreuz“, vor allem aber auch bei Betonung der Unausweichlichkeit der Konfrontation mit dem Kreuz, als Ursache für einen nicht – auch nicht durch die positive Religionsfreiheit religiös geprägter Schüler und ihrer Eltern – zu rechtfertigenden Eingriff. Gerade diese Annahme einer aktiv missionarischen Wirkung des Symbols war denn – auch im Rahmen des weiteren Verfahrens vor der Großen Kammer48 – ähnlicher Kritik ausgesetzt wie der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts49. 47
I. Augsberg/K. Engelbrecht, S. 455. Dieser Punkt wurde ausdrücklich in der Stellungnahme der italienischen Regierung und in der Stellungnahme der monegassischen Regierung aufgegriffen, vgl. EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 36, 48, NVwZ 2011, S. 737, 738. 49 Vgl. hierzu oben S. 242 f.; in diesem Punkt kritisch zur Entscheidung des EGMR I. Augsberg/K. Engelbrecht, S. 453, 458. 48
Nachwort zur Entscheidung der Großen Kammer des EGMR Nach Annahme der Arbeit als Disseration hat am 18. März 2011 die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ihre Entscheidung getroffen und die vorangegangene Kammerentscheidung revidiert. Es wurde mit 15:2 Stimmen festgestellt, dass die Beschwerdeführerin weder in ihrem Recht aus Art. 2 EMRK-ZP noch aus Art. 9 EMRK verletzt ist1. Einem ablehnenden Sondervotum2 stehen drei concurring opinions3 gegenüber, die der Entscheidung im Ergebnis zustimmen. Die Entscheidung soll durch dieses Nachwort in die Untersuchung miteinbezogen und in den Kontext der vorangegangen Diskussion eingeordnet werden. Einer Darstellung der wesentlichen Gründe der Entscheidung folgt eine Einordnung in den Rahmen der aus der innerstaatlichen Diskussion in Deutschland und Italien bekannten Argumentationslinien.
I. Die Entscheidung der Großen Kammer Die Große Kammer leitet ihre Entscheidungsbegründung mit der Klarstellung ein, dass der EGMR nur über die Vereinbarkeit der Anbringung von Kruzifixen in den Klassenräumen öffentlicher italienischer Schulen mit den Anforderungen aus Art. 2 EMRK-ZP und Art. 9 EMRK zu entscheiden hatte. Daher komme es für die Entscheidung weder auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Anbringung von Kruzifixen an anderen Orten als öffentlichen Schulen an, noch habe sich der Gerichtshof dazu zu äußern, ob die Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulenräumen mit dem Prinzip der laicità, so wie sie Teil der italienischen Verfassungsordnung ist, vereinbar ist4. 1
EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, abrufbar auf französisch oder englisch aus der HUDOC-Datenbank http:// www.echr.coe.int/ECHR/FR/hudoc (letzter Abruf: 3. September 2011); nichtamtliche Übersetzung NVwZ 2011, S. 737 mit krit. Anm. M. Fremuth; zustimmend dagegen E. Geuer, Die Kruzifix-Entscheidung des EGMR – Auferstehung einer alten Rechtslage, VR 2011, S. 259, 262 f. 2 Gemeinsames Sondervotum der Richter Malinverni und Kalaydjieva. 3 Es handelt sich um eine gemeinsame Stellungnahme der Richter Rozakis und Vajic´ sowie je eine Stellungnahme der Richter Bonello und Power. 4 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 57, NVwZ 2011, S. 737, 738 f.
Nachwort zur Entscheidung der Großen Kammer des EGMR
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Nachdem die Große Kammer so die zu entscheidende Fragestellung präzisiert und eingeschränkt hat, legt sie im Duktus ihrer Entscheidung zunächst die allgemeinen sich aus der Konvention ergebenden und bei der Entscheidung des Falles zu berücksichtigenden Rechtsgrundsätze dar5, bevor sie sich mit den Einzelheiten des vorgelegten Falles auseinandersetzt und diese unter die dargelegten, sich aus Art. 2 EMRK-ZP und Art. 9 EMRK ergebenden Grundsätze subsumiert6. Ausgangspunkt der Überlegungen der Großen Kammer zu den anzuwendenden allgemeinen Grundsätzen ist, dass im Bereich der Erziehung und des Unterrichts Art. 2 EMRK-ZP lex specialis zu Art. 9 EMRK ist7. Allerdings sei der entscheidende zweite Satz von Art. 2 EMRK-ZP nicht nur im Kontext des ersten Satzes sondern besonders im Lichte von Art. 9 EMRK zu lesen, der die Freiheit des Denkens, des Gewissens und der Religion garantiert. Dazu zähle auch die Freiheit, keiner Religion anzugehören; gleichzeitig werde den Konventionsstaaten dadurch eine Pflicht zur Neutralität und Unparteilichkeit auferlegt. In diesem Zusammenhang erinnert die Entscheidung daran, dass es Aufgabe der Konventionsstaaten ist, in neutraler und unparteilicher Weise die Möglichkeit zur Ausübung der verschiedenen Religionen, Kulte und Glaubensrichtungen zu gewährleisten. Ihre Aufgabe sei es, die öffentliche Ordnung, den religiösen Frieden und die Toleranz in einer demokratischen Gesellschaft sicherzustellen8. Wenn in Art. 2 EMRKZP in Bezug auf das Recht der Eltern, Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen, die Formulierung „achten“ – im Französischen respecter bzw. im Englischen respect – gebraucht werde, bedeute dies mehr als nur anzuerkennen oder in Betracht zu ziehen. Vielmehr impliziere dieser Begriff eine gewisse positive Verpflichtung des Staates. Allerdings unterschieden sich die Anforderungen, die sich aus dem Begriff der „Achtung“ ergäben, von Fall zu Fall. Daraus folgt für die Große Kammer, dass den Mitgliedstaaten ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt, den Bedürfnissen und Ressourcen der jeweiligen Gesellschaft entsprechend die zur Einhaltung der Konvention erforderlichen Maßnahmen zu treffen9. 5 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März Italie, Rdnr 59 ff., NVwZ 2011, S. 737, 739. 6 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März Italie, Rdnr 63 ff., NVwZ 2011, S. 737, 739 ff. 7 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März Italie, Rdnr. 59, NVwZ 2011, S. 737, 739. 8 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März Italie, Rdnr. 60, NVwZ 2011, S. 737, 739. 9 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März Italie, Rdnr. 61, NVwZ 2011, S. 737, 739.
2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c.
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Nachwort zur Entscheidung der Großen Kammer des EGMR
Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zur Stellung der Religion in den schulischen Lehrplänen sei zu erinnern, dass Art. 2 S. 2 EMRK-ZP nicht daran hindere, Informationen und Kenntnisse, die direkt oder indirekt religiösen oder philosophischen Charakter hätten, zum Gegenstand der Ausbildung und Erziehung zu machen. Allerdings müssten die Mitgliedstaaten darauf achten, dass diese Informationen und Erkenntnisse in objektiver, kritischer und pluralistischer Weise verbreitet würden, ohne dass die Schüler missionarischen Bestrebungen ausgesetzt würden. Daher verbiete die Konvention den Mitgliedstaaten, unter Missachtung der religiösen und philosophischen Überzeugungen der Eltern das Ziel einer Indoktrinierung der Schüler zu verfolgen10. Bei der Anwendung der allgemeinen Prinzipien auf den zu entscheidenden Fall hebt die Große Kammer zunächst hervor, dass die Verpflichtung der Konventionsstaaten, die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern zu achten, nicht nur im Hinblick auf die Unterrichtsinhalte und die Art und Weise der Unterrichtserteilung besteht. Nach dem Wortlaut von Art. 2 EMRK-ZP treffe diese Verpflichtung den Konventionsstaat bei der „Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben“. Zu diesen gehört nach Ansicht der Großen Kammer unzweifelhaft auch die Organisation des schulischen Umfeldes, sofern diese Aufgabe nach dem innerstaatlichen Recht der öffentlichen Gewalt obliegt. Da dies nach Überzeugung des Gerichts auf Italien zutrifft, unterfällt auch die Entscheidung über die Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern italienischer öffentlicher Schulen dem Anwendungsbereich von Art. 2 S. 2 EMRK-ZP11. Nach der Feststellung, dass der Fall tatsächlich dem Anwendungsbereich von Art. 2 EMRK-ZP unterliegt, wendet sich die Entscheidung dem Symbolgehalt und der Wirkung der angebrachten Kruzifixe zu. Dabei betont die Große Kammer zunächst, dass das Kruzifix vor allem Anderen ein religiöses Symbol ist. Im Hinblick auf die von der Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern ausgehenden Wirkungen stellt die Große Kammer fest, dass ihr kein positiver Beweis vorliege, dass die Anbringung eines religiösen Symbols in Klassenzimmern Einfluss auf die Schüler haben könne. Daher könne vernünftigerweise weder behauptet werden, dass davon auf junge Menschen, deren Überzeugungen noch im Prozess der Entwicklung befindlich sind, Auswirkungen ausgehen, noch dass dem nicht so ist. Zwar sei nachvollziehbar, dass die Antragstellerin die Anbringung von 10
EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 62, NVwZ 2011, S. 737, 739. 11 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 63, NVwZ 2011, S. 737, 739 f.
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Kruzifixen in den Klassenzimmern ihrer Kinder als einen Mangel von Respekt seitens des Staates ihren eigenen weltanschaulichen Überzeugungen gegenüber empfinde. Allerdings genüge der subjektive Eindruck der Antragstellerin allein nicht, um eine Verletzung von Art. 2 EMRK-ZP zu begründen12. Was das Argument der italienischen Regierung angeht, bei der Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern öffentlicher Schulen handle es sich um eine kulturelle und auch Identität stiftende Tradition13, geht das Gericht davon aus, dass die Entscheidung, ob eine Tradition weitergeführt wird oder nicht, grundsätzlich in den Beurteilungsspielraum des jeweiligen Mitgliedstaates fällt. Allerdings befreie die Berufung auf eine Tradition einen Mitgliedstaat nicht von der Pflicht, die Konventionsrechte zu beachten14. Ebenso geht die Große Kammer davon aus, dass zum seitens des Gerichts zu beachtenden Beurteilungsspielraum gehört, welche Rolle und welchen Platz die Konventionsstaaten der Religion zuweisen, solange diese Entscheidung eines Konventionsstaates nicht in eine Form von Indoktrinierung ausartet15. Deshalb falle die Entscheidung, ob Kruzifixe in Klassenzimmern öffentlicher Schulen angebracht werden, im Grundsatz in den Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten, zumal diesbezüglich kein europäischer Konsens festzustellen sei16, was die Große Kammer durch eine relativ ausführliche, der eigentlichen Entscheidungsbegründung vorangestellte rechtsvergleichende Untersuchung nachweist17. Auch wenn die Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern öffentlicher Schulen zu einer hervorgehobenen Sichtbarkeit der in Italien mehrheitlich verbreiteten Religion im schulischen Bereich führt, ist damit nach Überzeugung des Gerichtshofs die Grenze zur Indoktrinierung und damit zur Verletzung der Vorgaben von Art. 2 EMRK-ZP noch nicht überschritten18. Zur Begründung nimmt der Gerichtshof zum einen auf seine Entscheidung in der Sache Fol12 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 66, NVwZ 2011, S. 737, 740. 13 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 67, NVwZ 2011, S. 737, 740. 14 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 68, NVwZ 2011, S. 737, 740. 15 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 69, NVwZ 2011, S. 737, 740. 16 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 70, NVwZ 2011, S. 737, 740. 17 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 26 ff. (nicht abgedruckt in der deutschen Übersetzung NVwZ 2011, S. 737). 18 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 71, NVwZ 2011, S. 737, 740 f.
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gerø19, in der er eine hervorgehobene Stellung des Christentums im Rahmen des norwegischen Schulfachs „Christentum, Religion und Philosophie“ („KRL“) gebilligt hat, Bezug20. Zum anderen verweist der Gerichtshof darauf, dass ein an der Wand angebrachtes Kruzifix ein im wesentlichen passives Symbol ist, was insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Neutralität von Bedeutung sei. Denn dem an der Wand angebrachten Kruzifix kann nach Überzeugung des Gerichts kein Einfluss auf die Schüler zugeschrieben werden, der einer Unterrichtslektion oder der aktiven Beteiligung an religiösen Aktivitäten gleichzusetzen wäre21. Mit diesem Verständnis von der Wirkung des Kruzifixes setzt sich die Große Kammer ausdrücklich von dem in der Kammerentscheidung22 zum Ausdruck kommenden Standpunkt ab, dass das Kreuz in Klassenzimmern als starkes äußerliches Symbol, als signe extérieur fort im Sinne der Dahlab-Entscheidung23 zu verstehen sei24. Die Große Kammer hielt den Sachverhalt des zu entscheidenden Falles ausdrücklich nicht mit dem Fall Dahlab vergleichbar25. Im Übrigen werden nach Ansicht der Großen Kammer die Auswirkungen der gesteigerten Sichtbarkeit, die die Anbringung von Kruzifixen dem Christentum im schulischen Bereich gibt, durch andere Elemente relativiert. Denn einerseits ist die Anbringung von Kruzifixen nicht mit einem verpflichtenden christlichen Religionsunterricht verbunden und zum anderen öffnet Italien nach den Ausführungen der Regierung den schulischen Raum auch für andere Religionen. So ist den Schülern im Schulbereich ausdrücklich das Tragen eines islamischen Kopftuchs oder anderer religiöser Symbole erlaubt; daher bestünden keine Anhaltspunkte, dass die Schulbehörden gegenüber Schülern anderer Religionen oder Weltanschauungen Intoleranz zeigten. Im Übrigen hätten nicht einmal die Antragsteller behauptet, dass die Anwesenheit von Kruzifixen in Klassenzimmern zur Herausbildung eines missionarischen Unterrichtsklimas geführt hätte26. 19 EGMR Große Kammer, Urteil v. 29. Juni 2007 – Nr. 15472/02, Rs. Folgerø c. Norvège, nichtamtliche Übersetzung NVwZ 2008, S. 1217. 20 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 71, NVwZ 2011, S. 737, 740 f. 21 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 72, NVwZ 2011, S. 737, 741. 22 EGMR, Urteil v. 3. November 2009 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 54. 23 EGMR, Entscheidung v. 15. Februar 2001 – Nr. 42393/98, Rs. Dahlab c. Suisse, nichtamtliche Übersetzung NJW 2001, S. 2871, 2873. 24 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 73, NVwZ 2011, S. 737, 741. 25 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 73, NVwZ 2011, S. 737, 741.
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Im Ergebnis sind die italienischen Schulbehörden daher mit ihrer Entscheidung, die Kruzifixe in den von den Kindern der Antragstellerin besuchten Klassenzimmern zu belassen, im Rahmen des Beurteilungsspielraums geblieben, über den jeder Mitgliedstaat bei der Beachtung seiner Pflichten aus Art. 2 EMRK-ZP verfügt27.
II. Grundrechtsschutz in symbolhafter Pluralität Analysiert man die Entscheidungsbegründung der Großen Kammer im Lichte der deutschen und italienischen Diskussion, erscheint schon die einleitende Klarstellung von Prüfungsmaßstab und zu entscheidender Frage bemerkenswert. Dies allerdings weniger deshalb, weil die Große Kammer – der Funktion des EGMR als Menschenrechtsgerichtshof entsprechend – Art. 9 EMRK und Art. 2 EMRK-ZP als Maßstab seiner Prüfung hervorhebt. Daß der EGMR die Zulässigkeit der Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern nicht an dem zum italienischen Verfassungsrecht gehörenden Grundsatz der laicità messen will, ist für sich genommen wenig überraschend und nur folgerichtig. Bedeutsamer ist hingegen die Feststellung der Großen Kammer, dass es für die Entscheidung des Falles nicht auf die Rechtmäßigkeit der Anbringung von Kruzifixen an anderen Orten als öffentlichen Schulen ankommt. Denn damit erteilt die Große Kammer der in der italienischen Literatur vielfach vertretenen Perspektive, die Frage der Rechtmäßigkeit der Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern öffentlicher Schulen als Unterfall einer allgemeinen Problematik der Rechtmäßigkeit der Anwesenheit von religiösen Symbolen an öffentlichen Orten zu betrachten28, eine klare Absage. Im Sinne eines judicial self-restraint beschränkt sich die Große Kammer so auf die isolierte Entscheidung der aufgeworfenen Fragestellung der Zulässigkeit von Kreuzen in öffentlichen Schulen. Vergleicht man die von der Großen Kammer dargelegten allgemeinen Grundsätze mit den in der Kammerentscheidung zitierten Grundsätzen, fällt auf, dass beide Entscheidungen zwar den im Licht von Art. 9 EMRK zu lesenden Art. 2 EMRK-ZP als Prüfungsmaßstab benennen und Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesen Vorschriften zitieren. Während aber in der Kammerentscheidung einem Neutralitätsgrundsatz als Ausfluss von Art. 2 EMRK-ZP ein relativ großer Stellenwert eingeräumt wird, wird in 26 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 74, NVwZ 2011, S. 737, 741. 27 EGMR Große Kammer, Urteil v. 18. März 2011 – Nr. 30814/06, Rs. Lautsi c. Italie, Rdnr. 76, NVwZ 2011, S. 737, 741. 28 Siehe oben S. 267.
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den Ausführungen der Großen Kammer eine Pflicht der Konventionsstaaten zur Neutralität und Unparteilichkeit als Ausfluss von Art. 9 EMRK nur in einem Nebensatz erwähnt. Die Entscheidung der Großen Kammer hebt demgegenüber den Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten bei der Achtung der religiösen und philosophischen Überzeugungen der Eltern hervor. Ebenso wird auf jene Rechtsprechung des Gerichtshofs verwiesen, die davon ausgeht, dass Art. 2 EMRK-ZP den Konventionsstaaten nicht verbietet, religiöse und philosophische Inhalte zum Gegenstand des Unterrichts zu machen, solange damit nicht das Ziel einer Indoktrinierung der Schüler verfolgt wird29. Insgesamt betont die Entscheidung der Großen Kammer damit deutlicher den Charakter des Art. 2 EMRK-ZP als einer abwehrrechtlichen Freiheitsverbürgung, zumal gegen jeglichen Versuch der Indoktrinierung. Auf der Ebene der Symboldeutung geht die Große Kammer in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes davon aus, dass das Kruzifix vor allem anderen – wenn nicht ausschließlich – ein religiöses Symbol ist. Sie erteilt damit der auch im Verfahren von der italienischen Regierung wiederholten Argumentation des italienischen Staatsrats, das Kruzifix im schulischen Kontext vor allem als Symbol für Kultur und Tradition zu betrachten, eine klare Absage. Im Hinblick auf die von den in den Klassenzimmern angebrachten Kruzifixe ausgehenden Wirkungen auf die Schüler legt die Große Kammer ihrer Entscheidung die Annahme zu Grunde, dass das Kruzifix als passives Symbol zu gelten hat. Diese Annahme stützt sie auf zwei Überlegungen. Zum einen weist die Kammer darauf hin, dass im Verfahren keine Beweismittel vorgelegt wurden, aus denen sich eindeutig ergibt, dass von in Klassenzimmern angebrachten Kruzifixen als solchen eine Wirkung auf die in diesem Klassenzimmer anwesenden Schüler ausgeht oder nicht. Dieser Verweis auf eine non-liquet Situation zeugt von einer großen Ehrlichkeit; einer Ehrlichkeit die sehr zu begrüßen ist, hält man sich vor Augen, dass auch in den Verfahren vor allen anderen mit der Frage befassten Gerichten nicht mehr empirische Beweismittel vorgelegen haben dürften als im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Gleichwohl wurde in keinem dieser anderen Verfahren dieser Mangel an empirischem Wissen über die Auswirkung der angebrachten Kreuze auf die betroffenen Schüler zur Grundlage der Entscheidung gemacht oder auch nur thematisiert. Zum anderen geht die Große Kammer – vielleicht weil sie sich nicht zu trauen scheint, sich allein auf diesen Man29 U. a. EGMR Große Kammer, Urteil v. 29. Juni 2007 – Nr. 15472/02, Rs. Folgerø c. Norvège, nichtamtliche Übersetzung NVwZ 2008, S. 1217; EGMR, Urteil vom 9. Oktober 2007 – Nr. 1448/04, Rs. Zengin c. Turquie, nichtamtliche Übersetzung NVwZ 2008, S. 1327.
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gel an empirischem Beweismaterial zu stützen – auch davon aus, dass von den an den Wänden der Klassenzimmer angebrachten Kruzifixen allein und als solchen jedenfalls keine Wirkung auf die Schüler ausgeht, die einer Unterrichtslektion oder der zwangsweisen Teilnahme an religiösen Aktivitäten vergleichbar ist. Auf der Ebene der vom Symbol des Kruzifixes ausgehenden Wirkung nimmt die Entscheidung der Großen Kammer daher einen anderen Standpunkt als das Bundesverfassungsgericht und eine Vielzahl von Stimmen in der italienischen Literatur ein. Vielmehr scheint die Entscheidung der Großen Kammer eher auf der Linie des Sondervotums zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zu liegen. Ebenso besteht hierin der eigentliche Unterschied zur vorangegangenen Kammerentscheidung, von der sich die Entscheidung vom 18. März 2011 ausdrücklich abgrenzt. Aufgrund der oben genannten Überlegungen konnte die Große Kammer nämlich gerade nicht der Meinung der Vorinstanz erfolgen, das Kruzifix im Klassenzimmer als „signe extérieur fort“ im Sinne der Dahlab-Entscheidung30 zu bewerten. An der Annahme einer nur passiven Wirkung des Symbols ändert nach Überzeugung der Großen Kammer auch das subjektive Verletzungsgefühl der Beschwerdeführerin nichts. Insofern liegt die Entscheidung auf einer Linie mit der Rechtsprechung der italienischen Verwaltungsgerichte und Teilen der deutschen Literatur, die ebenso hervorgehoben haben, dass für die Bejahung einer Verletzung im Grundrecht der Religionsfreiheit mehr als nur ein subjektives Verletzungsgefühl zu verlangen ist. Insgesamt sah die Große Kammer damit den den Konventionsstaaten zustehenden Beurteilungsspielraum noch nicht überschritten: Die Anbringung des passiven Kruzifixsymbols in öffentlichen Schulen stellt zwar eine gewisse Hervorhebung der (katholischen) Mehrheitsreligion dar, insgesamt konnte aber die Grenze zur durch die Konvention verbotenen missionarischen Indoktrinierung noch nicht als überschritten angesehen werden. Ausschlaggebend hierfür war für die Große Kammer jedoch nicht allein die Qualifizierung des Kruzifixes als passives Symbol. Vielmehr stellt die Entscheidung ausdrücklich auch darauf ab, dass die sich aus der sichtbaren Anbringung von Kruzifixen ergebende Präsenz des Christenums in öffentlichen Schulen auch dadurch relativiert wird, dass in den italienischen Schulen nach dem Vortrag der Regierung gleichzeitig Raum für andere Religionen zur Verfügung steht. Die Entscheidung verweist hier darauf, dass muslimische Schülerinnen im schulischen Raum ein religiös motiviertes Kopftuch tragen dürften und muslimische Schüler religiöse Feste in der Schule feiern können. Ebenso bestehe die Möglichkeit, dass in öffentlichen Schulen – 30 EGMR, Entscheidung v. 15. Februar 2001 – Nr. 42393/98, Rs. Dahlab c. Suisse, nichtamtliche Übersetzung NJW 2001, S. 2871, 2873.
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wenn auch auf fakultativer Basis – für andere anerkannte Konfessionen ein Religionsunterricht eingerichtet werden könne. Diese Überlegungen der Großen Kammer verdienen aus zwei Gründen besondere Beachtung. Zum einen stützt sich die Entscheidung der Großen Kammer damit nicht allein auf die Beurteilung der Frage, welche Wirkung dem Symbol des Kruzifixes zugeschrieben wird – einer Frage die in hohem Maße vom subjektiven Vorverständnis der Entscheidenden geprägt ist und die, wie allein die unterschiedlichen in die Untersuchung einbezogenen Entscheidungen deutscher und italienischer Gerichte zeigen, durchaus unterschiedlich gesehen werden kann. Dieser Ansatz der Großen Kammer verdient aber vor allem aus einem anderen Grund Beachtung. Denn er greift im Rahmen seiner Prüfung am Maßstab der Religionsfreiheit einen Gedanken auf, der in der italienischen Literatur zum Grundsatz der laicità entwikkelt wurde: Ebensowenig wie weltanschaulich-religiöse Neutralität oder die laicità des Staates nur durch die Verbannung des religiösen aus dem öffentlichen Raum realisiert werden kann, muß die Gewährleistung der Religionsfreiheit der Mitglieder der einen Glaubensgruppe nicht zwangsläufig auf Kosten der Möglichkeit der Anhänger einer anderen Glaubensgruppe gehen, ihre religiösen oder weltanschaulichen Anliegen in den öffentlichen Raum einzubringen. Durch die Zulassung einer Pluralität von religiösen Symbolen im schulischen Raum wird so nicht nur eine Verletzung der objektiv-rechtlichen Grundsätze der Neutralität bzw. laicità des Staates vermieden, sondern auch verhindert, dass die symbolische Anwesenheit der einen Glaubensgruppe im Schulraum zur verbotenen missionarischen Indoktrinierung der anderen Glaubensgruppe wird. Indem sie diesen Ansatz am Ende der gerichtlichen Auseinandersetzung über die Rechtmäßigkeit der Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulen in die Diskussion eingebracht hat, geht die Bedeutung der Entscheidung der Großen Kammer über die – Jahre nach dem Ende der Schulzeit der betroffenen Schüler getroffene – abschließende Entscheidung des Rechtsstreits hinaus. Vielmehr kommt ihr gerade auch das Verdienst zu, einen Beitrag zum künftigen religiösen Frieden in einer religiös immer pluraleren europäischen Gesellschaft geleistet zu haben, ohne diese Pluralität und die verschiedenen Symbole, in der sie sich abbildet, aus dem öffentlichen Raum verdrängt zu haben. Die Große Kammer ist so mit diesem Grundgedanken, Pluralität nicht durch Exklusion sondern durch Inklusion von Symbolen zu verwirklichen, nicht sehr weit von der in der Arbeit diskutierten Lösung entfernt, die Schülern erlaubt, ihre jeweiligen Symbole gleich welcher religiösen Konfession oder Weltanschauung in die von ihnen besuchten Klassenzimmer einbringen. Denn wenn den verschiedenen unter den Gliedern der Gesellschaft verbreiteten Religionen auch im schulischen Bereich Raum gelassen wird, trägt dies viel mehr zu einer pluralistischen Erziehung als Voraussetzung einer „demokratischen
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Gesellschaft“ im Sinne der Konvention bei, als wenn jeglicher religiöse Bezug aus der Schule verdrängt wird. Zuzulassen, daß Individuen ihre religiösen Symbole und damit auch das christliche Kreuz in den schulischen Bereich einbringen, hat nichts mit dem Traum von einem christlichen Staat vergangener Zeiten31 zu tun, sondern trägt dazu bei, daß auch Christen in dem Staat, in dem sie leben, ebenso wie Atheisten oder Anhänger anderer Religionen Inklusion erfahren.
31
Dies scheint S. Mancini, The Crucifix Rage S. 9, zu befürchten.
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Sachwortverzeichnis Akonfessionalität – Italien 131, 171 – Spanien 131 Anwaltschaft des Staates 26, 66 Äquidistanz 79, 84, 89, 118, 194, 218 ff., 259 badische Simultanschule 92, 241 Bayerische Lösung – Art. 7 Abs. 3 BayEUG 151 ff. – Rezeption in Italien 201, 262 ff. Böckenförde, Ernst-Wolfgang 206 – Diktum 254 Christdemokraten 54, 60, 221 Corte Costituzionale 72, 74 ff. Costituente 52 ff. costituzione flessibile 38 Datenschutz 154, 266 Dialoglösung 263, 265 diritto – ecclesiastico 44, 46, 208 – soggettivo 29, 31 – vivente 70 Ehe 50, 80, 208 Eid 44, 81 Einigung Italiens 36 ff. ethische Gesetzgebung 214 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte – Dahlab-Entscheidung 289, 298 – Große Kammer 294 ff. – Kammer 286 ff.
– KRL (Christentum, Religion, Philosophie)-Entscheidung 298 – Folgerø-Entscheidung 298, 300 – Zengin-Entscheidung 300 Faschismus 38 ff. favor religionis 91, 173, 220 Flagge – deutsche Bundesflagge 232, 273 – finnsche Flagge 192 – Flaggenargument 262 – italienische Trikolore 139, 232, 261, 279 Fortpflanzungsmedizin 209 Gerichtssaal siehe öffentliche Orte Habermas, Jürgen 206 Heimstatt aller Bürger 93 ff., 112, 256, 260 Identität – abendländische 206, 209 – christliche 256 – des Gemeinwesens 248, 252 – italienische 123, 191, 253 – kulturelle 126, 273 – nationale 27, 231, 253 – religiöse 285 informationelle Selbstbestimmung siehe Datenschutz Integration 248, 269, 274 interesse legittimo 29 ff. intesa 63, 84 f., 118 f., 137 Islam 275 siehe auch Koran siehe auch Kopftuch in der Schule
Sachwortverzeichnis Juden/Jüdische Gemeinden 39, 50, 58, 115 Kirchenstaat 35 ff., 48 ff. Kommunisten 59 ff. königliches Dekret siehe regio decreto Konkordat siehe Lateranverträge Koran(sure) 127, 269 Kreuz – aktives Symbol 185, 232 – appellativer Charakter 199, 237 – Exegese 242, 291 – Gipfelkreuz 267 – identitäres Symbol 227 f. – kulturelles Symbol 181 ff., 225 ff., 261, 283 – mit Korpus siehe Kruzifix – passives Symbol 185 ff., 232 ff., 281, 298, 301 – Profanisierung 172, 182, 193, 232, 255, 259 – psychische Wirkung 236 – religiöses Symbol 181 ff., 225 ff., 279 ff., 300 – verfassungskonforme Auslegung 138, 183, 280 – an öffentlichen Orte siehe öffentliche Orte Kruzifix – katholisches Symbol 126, 226 siehe auch Kreuz Kulte – Gesetz über zugelassene Kulte 49, 58 – Kultstätten 84 Kultur siehe auch kulturchristliche Schule – christlich-abendländische Kultur 182 ff., 188, 193 ff., 227, 283, 291 – Kampf der Kulturen 256 – katholische Kultur 227 – kulturelle Neutralität 227, 261 – kultureller Pluralismus 82, 117, 228, 261
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– kultureller Rassismus 256 – Kultursymbol siehe Symbol – liberale Kultur 227 – Mehrheitskultur 227, 261 Küng, Hans 127 laïcité 58, 135, 174, 201, 223, 278 Landgericht L’Aquila 67 ff., 122 ff. Lateranverträge 48 ff., 54 ff., 61 – Änderungsabkommen zum Konkordat 26, 45, 66 ff., 87, 119, 133, 230 – Finanzabkommen 48 – Konkordat 48, 87 ff., 208 – Lateranvertrag 48 Lautsi, Soile 28, 286 legitimes Interesse siehe interesse legittimo Mazzini, Giuseppe 38, 56 Minderheitenschutz 196, 243, 250, 260, 266 Mitgliederzahl einer Religionsgemeinschaft siehe zahlenmäßige Stärke Multikulturalismus 219, 261, 269 Mussolini, Benito 47, 51 Nichtidentifikation 116, 188 ff., 194 ff., 199, 273, 279, 283 f. – in Deutschland 147, 153, 161, 171, 246 – in Italien 126, 171, 258 öffentliche Orte – Gerichtssaal 91, 108, 241, 267 – Krankenhaus 100, 267 – Wahllokal 30, 123 Pera, Marcello 209 pluriethnische Gesellschaft 122 preleggi 66, 72 principio supremo siehe Verfassungsprinzip höchsten Ranges
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Sachwortverzeichnis
Profanisierung siehe Kreuz Protestanten 39, 58 ff., 182, 231 – Baptisten 58 – Methodisten 58 – Pfingstler 50 – Waldenser 36, 58 Ratzinger, Joseph 206, 209 Recht auf Verschiedenheit 123, 219 regio decreto 33 ff., 132, 205, 226, 252 – implizite Aufhebung 35, 65 ff., 141, 166 Religionsbeleidigung 50, 75, 81 ff., 116 f. Religionsfreiheit – negative 77, 83, 141 ff., 163, 178, 187, 199, 214 ff., 237, 243, 289 – positive 146, 193, 244, 248 ff., 281, 293 Religionsunterricht – Abwahlmöglichkeit 50, 82, 125, 129, 163 – diffuser 230 – in Deutschland 92, 110 – in Italien 35, 44, 49, 65, 74, 82, 87, 124, 302 – in Norwegen 298 – Vergleichbarkeit mit der Anbringung von Kreuzen 129 f., 186 f., 195, 234 Romano, Santi 47, 60, 64 Römische Frage 40, 42 ff., 59, 61 Ruffini, Francesco 47 Scaduto, Francesco 47, 85 Schule – Balkanisierung 261 f., 281 – inklusive Schule siehe Inklusivität – Kopftuch in der Schule 92, 107, 205, 212, 242, 285, 298 – kulturchristliche Schule 157, 230, 279
– Lehrer 25, 92, 107, 214, 234, 262, 282 – Privatschulen 55, 103, 266, 285 – Schulgemeinschaft 262, 264 f., 270 – Schulpflicht 106, 129, 149, 186, 195, 237 – staatliche Schulhoheit 158, 192 Schweigerecht 154 ff., 192, 266 Smith, Adel 27 f., 30, 269 Sondervotum – Bundesverfassungsgericht 148 ff., 173, 189 ff., 281 ff., 301 – EGMR 294 soziale Relevanz 52, 85, 103, 109, 129, 219 Sozialisten 57 ff., 63, 228 Staatspräsident 27 Staatsreligion 39, 44 f., 67 ff., 80, 122 – Angriff auf die Staatsreligion siehe Religionsbeleidigung Stato laico 57, 207, 213 Statuto Albertino 35 ff., 45, 52, 56, 64, 67 ff. subjektives Recht siehe diritto soggettivo Subjektivismus 134, 186, 213, 215, 243, 279 Sure siehe Koran Symbol – einer Partei 54, 260 – Hammer und Sichel 228 – inklusives 256 – islamisches 285 – Symbolgehalt des Kreuzes siehe Kreuz – signe extérieur fort 298, 301 testo unico 35, 68, 72 Toleranz – Toleranzgebot 144 f., 154, 172, 180 – Toleranzprinzip 145 Trennung von Staat und Religion
Sachwortverzeichnis – Element von laicità und Neutralität 113, 121, 223, 278 – in Deutschland 100, 160, 174, 222 – in Italien 40, 58, 61, 80 f., 140, 218 – organisatorische Trennung 218 – strikte Trennung 160, 174 Trikolore siehe Flagge Übereinkünfte zwischen Staat und Religionsgemeinschaften siehe intesa Überverfassungsrecht 87, 89 siehe auch Verfassungsprinzip höchsten Ranges Union der Muslime Italiens 27 Unparteilichkeit siehe Äquidistanz – der Schule 126 Verfassunggebende Versammlung 52 ff., 56 f., 59 ff., 227 Verfassungsprinzip – der laicità 76 ff., 114, 127 f., 168, 238, 294 – Grundprinzipien der italienischen Verfassung 53, 77, 112, 123
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– höchsten Ranges 86 ff., 119 ff., 208, 218, 224 – im Statuto Albertino 67 – objektives 103 – Staatsstrukturprinzipien 92 – Toleranzprinzip siehe Toleranz Verfassungswerte – christliche 293 – liberale 293 – sozialistische 228, 256 Verschiedenheit siehe Recht auf Verschiedenheit Wahllokal siehe öffentliche Orte Widerspruchslösung 156, 162, 167, 196, 200 f., 248 ff., 258, 263, 266 f., 274 Widerspruchsregelung 158, 162 f., 192, 197 zahlenmäßige Stärke einer Religionsgemeinschaft 118, 153, 284 Zeugen Jehovas 50, 84, 91, 99, 110