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German Pages XII, 286 [296] Year 2020
Politische Kultur in den neuen Demokratien Europas
Verena Schneider
Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen und Wertorientierungen USA und Deutschland im Vergleich
Politische Kultur in den neuen Demokratien Europas Reihe herausgegeben von Detlef Pollack, Frankfurt/Oder, Deutschland Gert Pickel, Leipzig, Deutschland Joerg Jacobs, Frankfurt (Oder), Deutschland Olaf Müller, Münster, Deutschland
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12348
Verena Schneider
Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen und Wertorientierungen USA und Deutschland im Vergleich
Verena Schneider Leipzig, Deutschland Dissertation Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg/2019
Politische Kultur in den neuen Demokratien Europas ISBN 978-3-658-30653-3 ISBN 978-3-658-30654-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30654-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Als ich mich im Frühjahr 2014 auf eine Anzeige in der Wochenzeitung „Die Zeit” hin um ein Stipendium im Rahmen des Graduiertenkollegs „Kulturelle Wirkungen der Reformation“ bewarb, wusste ich noch nicht, wohin mich mein Projekt zum Thema Protestantismus in den USA und Deutschland führen würde. Es folgten vier Jahre eigener Arbeit und intensiven Austauschs in der Graduiertenschule in Wittenberg und in Halle (Saale). Zwei Forschungsaufenthalte in den USA ermöglichten mir die Literaturrecherche an der Library of Congress in Washington DC, an der Harvard Library in Boston sowie an der Bibliothek der University of California in Berkeley. Für die wissenschaftliche Unterstützung während der Erarbeitung meiner Dissertation möchte ich mich an erster Stelle bedanken bei meinen Betreuern, Herrn Prof. Dr. Gert Pickel und Herrn Prof. Dr. Erik Redling, sowie bei meinen Interviewpartnern, Herrn Prof. Dr. Mark Valeri und Herrn Prof. Dr. Detlef Pollack. Mein bester Dank gilt dem Graduiertenkolleg unter Leitung von Frau Dr. Marianne Schröter und Herrn apl. Prof. Dr. Christian Senkel. Für ihre Unterstützung danke ich außerdem meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen im Kolleg, Astrid Wohlberedt, Arne Lademann, Saskia Gehrmann und Melanie Sterba, meinen Eltern, Friedhelm Schneider und Ortrun Röschinger-Schneider, meinem Bruder Dario Schneider und meinem Mann Markus Schneider-Pargmann. Herzlich danken möchte ich auch der Vergabekommission der Reformationsgeschichtlichen Sozietät der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg und der Stiftung Leucorea, dem Rektoratsbeauftragten für das Reformationsjubiläum, Herrn Prof. Dr. Ernst-Joachim Waschke, und dem Land Sachsen-Anhalt für das Stipendium, das mir während dieser vier Jahre die Möglichkeit gab, mich ganz auf die Forschung zu konzentrieren. Berlin, im Frühjahr 2020
Verena Schneider
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1
2. Theoretische Grundlagen 2.1. Moderne theoretische Modelle der Religionssoziologie . . . 2.2. Grundlagen der Einstellungs-, Werte- und Diffusionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Analyse von Einstellungen und Werten in der politischen Kulturforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Einstellungen und Wertorientierungen im Protestantismus .
9 9 22 34 41
3. Empirische Analyse 49 3.1. Methoden und Design der Untersuchung . . . . . . . . . . . 49 3.2. Ausgangsbedingungen in den USA und in Deutschland im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.3. Diffusion protestantischer Werte von Europa in die USA . . 66 3.4. Zentrale Werte in den USA und in Deutschland . . . . . . . 82 3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse . . . . . . . . . . 204 4. Fazit 4.1. Neues Berufsbild und Bedeutungsgewinn der Arbeit 4.2. Individualisierung und Institutionenkritik . . . . . . 4.3. Individualisierte Beziehung zu Gott . . . . . . . . . . 4.4. Einstellungen zur Religion . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
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235 236 239 242 243 246
VIII
Inhaltsverzeichnis
A. Anhang 251 A.1. Interview with Mark Valeri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 A.2. Interview mit Detlef Pollack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
Abbildungsverzeichnis
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26.
Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen über Staat/Kirche und Diffusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Landschaft in den USA heute . . . . . . . . . . . . Religiöse Landschaft in Deutschland heute . . . . . . . . . . Einwanderung aus Europa in die USA, 1820-1900 . . . . . . Einwanderung aus Großbritannien in die USA, 1820-1997 . . Einwanderung aus Deutschland in die USA, 1820-1997 . . . Einwanderung aus Skandinavien in die USA, 1820-1997 . . . Einwanderung aus Europa in die USA, 1820-1997 . . . . . . Mittelwertvergleiche der Kennzeichnungsitems aus der Faktorenanalyse (I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittelwertvergleiche der Kennzeichnungsitems aus der Faktorenanalyse (II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittelwerte Individualisierte Beziehung zu Gott (USA/ Deutschland) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelverständnis (USA/Deutschland) . . . . . . . . . . . . . Bibelverständnis (USA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelverständnis (Deutschland) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gottesverständnis (USA/Deutschland) . . . . . . . . . . . . Gottesverständnis (USA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gottesverständnis (Deutschland) . . . . . . . . . . . . . . . . Glauben an ein Leben nach dem Tod (USA/Deutschland) . . Glauben an ein Leben nach dem Tod (USA) . . . . . . . . . . Glauben an ein Leben nach dem Tod (Deutschland) . . . . . Kirchgangshäufigkeit (USA/Deutschland) . . . . . . . . . . Kirchgangshäufigkeit (USA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirchgangshäufigkeit (Deutschland) . . . . . . . . . . . . . . Gebetshäufigkeit (USA/Deutschland) . . . . . . . . . . . . . Gebetshäufigkeit (USA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebetshäufigkeit (Deutschland) . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 55 56 70 79 79 80 81 118 145 165 166 168 169 176 177 178 180 181 182 183 184 185 186 187 188
X
Abbildungsverzeichnis
27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38.
Selbstbeschreibung als religiös (USA/Deutschland) . . . . . 189 Selbstbeschreibung als religiös (USA) . . . . . . . . . . . . . 190 Selbstbeschreibung als religiös (Deutschland) . . . . . . . . . 191 Einstellungen zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften (USA/Deutschland) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Einstellungen zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften (USA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Einstellungen zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften (Deutschland) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Einstellungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (USA/ Deutschland I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Einstellungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (USA I) . . . . 197 Einstellungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (Deutschland I)198 Einstellungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (USA/ Deutschland II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Einstellungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (USA II) . . . 200 Einstellungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (Deutschland II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Tabellenverzeichnis
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.
Werte in präindustriellen, industriellen und postindustriellen Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Pflicht – und Akzeptanzwerte sowie Selbstentfaltungswerte bei Klages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Sprachen, die protestantische Denominationen in Gottesdiensten nutzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Protestantische Denominationen, die Deutsch verwendeten 73 Protestantische Denominationen, die Schwedisch verwendeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Protestantische Denominationen, die Norwegisch verwendeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Protestantische Denominationen, die Niederländisch / Flämisch verwendeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Zentrale Werte des amerikanischen und europäischen Konservatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Zentrale Werte des amerikanischen Liberalismus . . . . . . . 85 Verständnis von Konservatismus und Liberalismus in den USA und in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Für das amerikanische Ethos zentrale demokratische und kapitalistische Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Strukturelle Bedingungen in den USA und in Deutschland im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Zentrale Werte in den USA und Deutschland im Vergleich . 102 Wirkungen des Protestantismus in den Gesellschaften der Untersuchungsländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Faktorenanalyse zur Arbeitsethik und zur Wirtschaftsordnung116 Regressionsanalysen Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung (USA/Deutschland I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Regressionsanalysen Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung (USA I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
XII
Tabellenverzeichnis
18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32.
Regressionsanalysen Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung (Deutschland I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regressionsanalysen Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung (USA/Deutschland II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regressionsanalysen Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung (USA II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regressionsanalysen Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung (Deutschland II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Regressionsanalysen zu Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Faktorenanalyse zu Individualisierung und Institutionenkritik (I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Faktorenanalyse zu Individualisierung und Institutionenkritik (II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regressionsanalysen Individualisierung und Institutionenkritik (USA/Deutschland I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regressionsanalysen Individualisierung und Institutionenkritik (USA I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regressionsanalysen Individualisierung und Institutionenkritik (Deutschland I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regressionsanalysen Individualisierung und Institutionenkritik (USA/Deutschland II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regressionsanalysen Individualisierung und Institutionenkritik (USA II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regressionsanalysen Individualisierung und Institutionenkritik (Deutschland II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Regressionsanalysen zu Individualisierung und Institutionenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Vorstellungen in den USA und in Deutschland . .
125 128 130 132 135 141 143 146 149 151 154 156 158 161 248
1
Einleitung – Wie hat sich der Protestantismus auf Einstellungen und Werte ausgewirkt?
500 Jahre sind seit dem Beginn der Reformation vergangen. Das Jubiläum ist sowohl Anlass, zurückzublicken, als auch, die Gegenwart vor dem Hintergrund der damaligen Ereignisse genauer zu untersuchen. Welche kulturellen Wirkungen der Reformation lassen sich bis heute nachweisen? In welcher Weise treten sie in Erscheinung? Wo lassen sich über Deutschland hinaus Wirkungen feststellen? Inwiefern unterscheiden sie sich von oder ähneln sie den Wirkungen im Ursprungsland der Reformation? Diesen Fragen wird in dieser Dissertation anhand von Methoden der politischen Kulturforschung nachgegangen. Kultur ist dabei als „die Gesamtheit der Werte und Glaubensüberzeugungen der Bürger und ihrer Einstellungen zu – und Vorstellungen von – den politischen Institutionen, den politischen Vorgängen und der Staatstätigkeit“ (Schmidt, 2010: 619) zu verstehen. Der Frage, wie der Protestantismus Einstellungen und Wertorientierungen beeinflusst hat, wird von der Gegenwart ausgehend in einer Retrospektive nachgegangen. Die Wirkungen, welche die Reformation in ihrem Ursprungsland Deutschland unmittelbar entfaltete, werden dabei exemplarisch mit jenen in den später gegründeten USA verglichen, die zeitversetzt und über Migration erfolgten. Dabei werden sowohl die Wirkungen in Folge von Institutionensetzungen (zum Beispiel Verhältnis von Staat und Kirche, Verfassungen, Religionsfreiheit) als auch von Diffusionsprozessen1 untersucht. Dieses Vorgehen wird in Abbildung 1 grafisch dargestellt: Somit wirkte der Protestantismus einerseits über das Staat-KircheVerhältnis, andererseits über Diffusion (die über Medien, Akteure oder Migration erfolgen kann) auf die Einstellungen der Menschen. Für die Definition von Protestantismus wird auf eine Formulierung von Graf (2006: 18) zurückgegriffen. Ihm zufolge sind unter Protestantismus 1 Unter
Diffusion wird die Verbreitung einer als neu wahrgenommenen Idee über Ländergrenzen hinweg verstanden. Eine ausführliche Begriffsdefinition ist im Kapitel 2.2.6 zu finden.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Schneider, Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen und Wertorientierungen, Politische Kultur in den neuen Demokratien Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30654-0_1
2
1. Einleitung
„all jene Strömungen des neuzeitlichen Christentums zu erfassen, die sich in ausdrücklicher Differenz zum römischen Katholizismus und zu den orthodoxen Christentümern als eigene, dritte Überlieferungsgestalt des Christlichen verstehen“. Entsprechend werden in dieser Arbeit alle protestantischen Glaubensgemeinschaften in den Blick genommen, nicht lediglich eine oder mehrere bestimmte Strömungen. Es wird übergreifend untersucht, welche nachhaltigen Wirkungen der Protestantismus in Deutschland und in den USA auf Einstellungen und Wertorientierungen zum Beispiel gegenüber Arbeit, dem Wirtschaftssystem, Demokratie, Institutionen und Religion entfalten konnte.
Abbildung 1: Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen über Staat/Kirche und Diffusion Quelle: Eigene Darstellung
1. Einleitung
3
Mit Einfluss des Protestantismus ist dabei nicht der heutige direkte Einfluss der Kirchen gemeint. Es wird davon ausgegangen, dass protestantische Werte als Teil des kulturellen Erbes in beiden Gesellschaften bestehen konnten und somit auch der Kirche fern stehende Teile der Bevölkerung prägten. So findet die internationale Werteforschung (vgl. Inglehart 1997: 99, Inglehart/Welzel 2010: 22) bis heute große kulturelle Unterschiede zwischen Gesellschaften protestantischer und katholischer Prägung, obwohl der direkte Einfluss der Kirchen – gemessen am Gottesdienstbesuch – in vielen dieser Länder eher schwach ist. Bezogen auf die beiden hier untersuchten Länder ist in dieser Hinsicht auch in Deutschland ein eher geringer direkter Einfluss der Kirchen festzustellen, während der Gottesdienstbesuch in den USA bis heute ungewöhnlich hoch ist. So gaben 2008 knapp 29 Prozent der US-Bevölkerung an, mindestens einmal pro Woche einen Gottesdienst zu besuchen (vgl. ISSP 2012)2 . Unter den Protestanten waren es sogar knapp 40 Prozent. In Deutschland gaben hingegen knapp sieben Prozent der Bevölkerung an, mindestens einmal pro Woche einen Gottesdienst zu besuchen. Unter den Protestanten waren es gut vier Prozent. Da die internationale Werteforschung trotz dieses geringen gegenwärtigen Einflusses der Kirchen zumindest in Deutschland bis heute große Unterschiede zu katholisch geprägten Gesellschaften findet, wird die Wirkung des Protestantismus von dem historischen, nicht dem heutigen Einfluss der Kirchen aus untersucht. Wenn die protestantische Prägung bereits erfolgt ist, werden die damit verbundenen kulturellen Unterschiede als Teil der nationalen Kultur vor allem von großen landesweiten Institutionen, zum Beispiel Bildungsinstitutionen oder Massenmedien, vermittelt. So erreichen sie die gesamte Bevölkerung, also auch diejenigen, die wenig oder keinen Kontakt zu Kirchen oder religiösen Gruppen haben (vgl. Inglehart/Welzel 2010: 69). Erklären lässt sich dieser nachhaltige Effekt des Protestantismus auf die Kultur dadurch, dass er die Gesellschaft auf einen bestimmten Pfad setzte, der auch noch in späterer Zeit die weiteren Entwicklungen beeinflussen konnte (vgl. Inglehart/Welzel 2010: 22). Mit dem Terminus der Pfadabhängigkeit wird beschrieben, dass sich frühere Entscheidungen auf spätere auswirken, weil sie bestimmte Orientierungen bereitstellen und somit auch den Handlungsspielraum für bestimmte Entscheidungen bahnen oder einschränken.
2 Die
Umfrage des ISSP zu Religion wird alle zehn Jahre durchgeführt. Daher werden hier die (2012 erschienenen) Zahlen von 2008 verwendet.
4
1. Einleitung
Neben der Religion beeinflussten im Lauf der geschichtlichen Entwicklung auch andere, zum Beispiel politische, wirtschaftliche, soziale, geographische oder sprachliche Faktoren das kulturelle Erbe. Dazu zählt zum Beispiel die politische Prägung durch ein sozialistisches Regime, das einen deutlichen Effekt auf das Wertesystem der Menschen hinterlässt. So sind die Werte der Bevölkerung in Ostdeutschland zwar bis heute den Werten der Menschen in Westdeutschland ähnlich, haben sich allerdings in Richtung sozialistischer Prägung verschoben (vgl. Inglehart/Welzel 2010: 64). Als weiterer Faktor wirkt sich eine koloniale Vergangenheit auf die Kultur aus, was bei den USA zu berücksichtigen ist. Aufgrund der vielen möglichen Einflussfaktoren auf die Wertorientierungen werden zur Erläuterung der kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den USA und Deutschland in dieser Arbeit neben dem Protestantismus auch andere mögliche Einflüsse berücksichtigt. In allen protestantisch geprägten Gesellschaften in Europa zeigt sich bis heute ein spezifisches Set an protestantischen Werten und Glaubensüberzeugungen (vgl. Inglehart/Welzel 2010: 22). Zwei dieser in der Reformation verankerten Grundgedanken sollen im Folgenden untersucht werden: Neues Berufsbild und Bedeutungsgewinn der Arbeit sowie Individualisierung (vgl. Beck 1986: 206) und individualisierte Beziehung zu Gott. Die Entscheidung für diese beiden Aspekte als Ausgangspunkte der Analyse stellt selbstverständlich eine Auswahl dar. Weitere Ideen und Vorstellungen, die von der Reformation inspiriert wurden, könnten ebenfalls einen nachhaltigen Effekt auf Einstellungen und Wertorientierungen gehabt haben. Beispiele wären das neue Familienbild oder die Aufwertung der Bildung. Sie werden hier nicht näher betrachtet, weil das den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Zentral für den ersten Punkt „Neues Berufsbild und Bedeutungsgewinn der Arbeit“ ist Luthers Berufsbild. Demzufolge kann jeder Mensch in jedem weltlichen Beruf das Seelenheil erreichen. Diese zu jener Zeit neue Vorstellung bewirkte, dass das bis zur Reformation geltende Ideal der mönchischen Askese durch die aktive Askese ersetzt wurde (vgl. Pickel 2011: 97). Weltliche Tätigkeiten erfuhren eine deutliche Aufwertung. Wesentlich für das neue Berufsbild war die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung: Die im Beruf gestellten Aufgaben sollten sorgsam und verantwortungsvoll erledigt werden. Das neue Berufsbild bildet ebenfalls den Ausgangspunkt für Max Webers (2016 [1904/05]) These zum Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus. In seinem Aufsatz „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ erklärt er, dass Protestantismus bei seinen Anhängern
1. Einleitung
5
zu einer von Leistungsbereitschaft, Fleiß, Selbstverpflichtung und Sparsamkeit geprägten rationalisierten Lebensweise führte, die das Aufkommen des Kapitalismus begünstigte. Ausgehend vom neuen Berufsbild sollen in dieser Arbeit daher nicht nur die heutigen Einstellungen zu Beruf und Arbeit, sondern auch Haltungen gegenüber dem Kapitalismus untersucht werden. Der zweite Punkt, „Individualisierung und individualisierte Beziehung zu Gott“, bezieht sich auf die neue Bedeutung, die die individuelle Glaubenserkenntnis durch die Reformation erfahren hat. In der Folge stand das gläubige Individuum im Mittelpunkt, nicht (mehr) die Kirche (vgl. Graf 2006: 71). Im Zusammenhang damit entwickelte sich auch eine Institutionenkritik: Eine neue Innenleitung, die sich ausschließlich an der Bibel orientierte, trat an die Stelle der vorherigen Fremdbeherrschung durch die Kirche. Protestanten waren mit ihrem Wunsch nach Erlösung und in der Auseinandersetzung mit der eigenen Sündhaftigkeit stark auf sich selbst verwiesen. Ausgehend von diesem zweiten Punkt soll untersucht werden, inwieweit sich Effekte der Individualisierung bis heute in den Untersuchungsländern feststellen lassen. Auch heutige Einstellungen gegenüber der Bibel, in Theologie und Philosophie als Frage der Hermeneutik diskutiert, lassen sich gut vergleichen. Ebenso wird überprüft, ob sich die mit dem Protestantismus verbundene Institutionenkritik und Skepsis gegenüber Hierarchien bis heute in den Einstellungsstrukturen beider Länder wiederfinden lassen. Im Zentrum dieser Untersuchung steht die Frage, ob sich das neue Berufsbild und die in der Reformation begründeten Individualisierungsprozesse bis heute in beiden Ländern ähnlich ausgewirkt haben beziehungsweise worin sie sich möglicherweise unterscheiden. Die These ist, dass der Protestantismus trotz der unterschiedlichen Ausgangssituationen in den USA und in Deutschland eine ähnliche Wirkung auf die Einstellungen der Menschen hatte, zum Beispiel zu ähnlichen liberalen Werten, einem ähnlichen Menschenbild sowie einem vergleichbaren individualistischen Verständnis von Religion geführt hat. Dieser Einfluss des Protestantismus spiegelt sich bis heute in den Einstellungsstrukturen und politischen Kulturen beider Länder wider (vgl. zum Beispiel Gerhards 2000). Bei der Bearbeitung sollen folgende Unterfragen beantwortet werden: a) Welche Ideen (zum Beispiel Luthers Berufsbild, Bibelauslegung) konnten sich unter welchen Rahmenbedingungen halten, welche sind wo verschwunden oder wurden transformiert?
6
1. Einleitung
b) Für wie viele Menschen sind diese Ideen heute noch relevant? Verortet ist die Arbeit an der Schnittstelle zwischen Historie und Sozialwissenschaften. Bei dieser Fragestellung ist wesentlich, die Schwierigkeiten des Übertrags bei longue durée-Wirkungsperspektiven im Blick zu haben. Die Beantwortung der Frage nach den kulturellen Wirkungen der Reformation in den USA und in Deutschland erfolgt daher anhand einer systematisch angelegten vergleichenden Fallstudie im Sinne eines Most-Different-System-Designs3 . Dafür werden internationale Umfragedaten aus dem World Values Survey (2005-2008, 2010-2014) und dem International Social Survey Programme (2000, 2012) ebenso ausgewertet wie Strukturdaten und historische Daten, zum Beispiel Einwanderungsdaten der USA (Carter 2006). Auf der statistischen Seite werden sowohl Häufigkeiten analytisch verglichen als auch Zusammenhangsanalysen (zum Beispiel Faktoren- und Regressionsanalysen) durchgeführt. Durch die systematische Vergleichsanlage ist es möglich, die Wirkungen des Protestantismus unter Berücksichtigung von spezifischen Entwicklungen in beiden Gebieten abzuschätzen. Zu Kontrollzwecken werden Kontextvariablen berücksichtigt. Um die Ergebnisse der statistischen Analyse zu interpretieren, wurden Experteninterviews mit Mark Valeri, Professor für Religion und Politik an der Washington University in St. Louis, und mit Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster, geführt. In der vorliegenden Dissertation werden soziologische, politikwissenschaftliche und historische Zugänge miteinander verbunden und die Ergebnisse durch eine Triangulation im Sinne eines gleichwertigen MixedMethod-Designs4 verzahnt. Auf diesem Weg scheint eine belastbare und nicht rein narrativ gehaltene Aussage über Wirkungen des Protestantismus auf die heutige Gesellschaft und ihre Kultur möglich. Die Arbeit ist in zwei große Kapitel aufgeteilt: Das erste gibt einen Überblick über die theoretischen Grundlagen. Hier werden verschiedene religionssoziologische Modelle, Grundlagen der Einstellungs-, Werte- und Diffusionsforschung, Gedanken zur Analyse von Einstellungen und Werten in der politischen Kulturforschung sowie Überlegungen zu Einstellungen und Wertorientierungen im Protestantismus vorgestellt. Das zweite Kapitel umfasst die empirischen Ergebnisse: Auf die Beschreibung von Design 3 Bei
diesem Design wird davon ausgegangen, dass die Ausgangsbedingungen bei beiden Fällen unterschiedlich sind, die Ergebnisse (hier die individuellen Einstellungen) jedoch ähnlich sind („most different systems, similar outcomes“, vgl. Ebbinghaus 2009: 204). Eine genauere Erklärung folgt im Kapitel 3.1. 4 Dies bedeutet, dass sowohl qualitative als auch quantitative Methoden angewandt werden.
1. Einleitung
7
und Methoden der Untersuchung folgt eine Darstellung der Ausgangsbedingungen in den USA und Deutschland. Weiterhin wird die Diffusion protestantischer Werte von Europa in die USA nachgezeichnet und es werden zentrale Werte in den beiden Untersuchungsländern vorgestellt. Es folgt eine Darlegung der statistischen Auswertung der Umfragedaten. Abschließend werden die unterschiedlichen Ergebnisse der Untersuchung miteinander verglichen und interpretiert. Dafür werden die beiden bereits genannten Interviews, die sich im Wortlaut im Anhang befinden, herangezogen. Den Abschluss bildet das Fazit, in dem wesentliche Ergebnisse nochmals zusammengefasst werden, ehe ein Ausblick weitere mögliche Entwicklungen und Analysen beleuchtet.
2
Theoretische Grundlagen
In diesem Kapitel werden die theoretischen Grundlagen der Untersuchung vorgestellt. Dabei geht es zuerst um die drei modernen theoretischen Modelle der Religionssoziologie: Säkularisierungstheorie, Individualisierungsthese sowie Marktmodell des Religiösen. Anschließend werden Grundlagen der Einstellungs-, Werte- und Diffusionsforschung vorgestellt. Nach einer knappen Darlegung, auf welche Weise die politische Kulturforschung mit Einstellungen und Werten arbeitet, folgen einige Überlegungen zu Einstellungen und Wertorientierungen im Protestantismus. Dabei werden auch die These von Max Weber (2016) zum Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus sowie das Konzept der Individualisierung von Ulrich Beck (1986) vorgestellt. 2.1
Moderne theoretische Modelle der Religionssoziologie
Religiöse Veränderungen in der Moderne können anhand unterschiedlicher religionssoziologischer Modelle erklärt werden. In der gegenwärtigen Debatte stehen drei Ansätze einander gegenüber: die Säkularisierungstheorie, die Individualisierungsthese und das Marktmodell des Religiösen. Die beiden ersten Modelle werden überwiegend in Europa vertreten, das letztgenannte Modell vor allem in den USA. Für diese Arbeit sind die genannten Modelle von Bedeutung, weil sie helfen, Einstellungsänderungen infolge von Staat-Kirche-Verhältnissen verständlich zu machen. Zugleich bieten sie Erklärungsansätze dafür, in welcher Form sich Individualisierungsprozesse bis heute auswirken. Die drei Ansätze werden im Folgenden genauer vorgestellt. 2.1.1
Säkularisierungstheorie
Die Säkularisierungstheorie geht von einem Spannungsverhältnis zwischen Religion und Moderne aus, das sich auf lange Sicht nachteilig für © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Schneider, Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen und Wertorientierungen, Politische Kultur in den neuen Demokratien Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30654-0_2
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2. Theoretische Grundlagen
Religion und Kirche auswirkt. Dies zieht einen Rückgang religiöser Vitalität nach sich. Dabei wird Säkularisierung als ein langfristiger, über mehrere Generationen verlaufender Prozess verstanden, bei dem Religion an sozialer Bedeutung verliert (vgl. Wilson 1966: 14). Säkularisierungstheoretiker überprüfen diesen Bedeutungsverlust von Religion in modernen, abendländischen Gesellschaften empirisch beispielsweise anhand von Daten zur Kirchenbindung, zu Mitgliederzahlen und zu religiösen Überzeugungen wie dem Glauben an Gott. (Beispielsweise erstellt die Evangelische Kirche in Deutschland seit 1972 alle zehn Jahre eine Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung.) Dabei gehen die Anhänger der Säkularisierungstheorie von einem substantiellen Religionsbegriff aus. Der Ausgangspunkt der Säkularisierung wird häufig im Protestantismus gesehen, der aufgrund seiner Lehren Rationalisierungs-, Individualisierungs-, Differenzierungs- und Pluralisierungsprozesse und somit Modernisierungsprozesse befördert (vgl. Weber 2016: 141; Berger 1967: 113; Bruce 2002: 4). Die genannten wesentlichen Kennzeichen von Modernisierung sollten noch um Prozesse der Industrialisierung, Demokratisierung, Wohlstandssteigerung, des Wertewandels, der Bürokratisierung, Urbanisierung und Horizonterweiterung ergänzt werden. Bei all diesen Entwicklungen wird langfristig ein negativer Effekt für Religion angenommen. Beispielsweise werden durch funktionale Differenzierung unabhängige Teilsysteme (etwa im Bildungs- und Gesundheitsbereich) herausgebildet, die den Einfluss und die Deutungsmacht von Religion zurückdrängen. Demokratisierung begünstigt Zweifel an hierarchischen Autoritätsstrukturen der Kirchen. Urbanisierung führt zum Verlust der kommunalen Basis von Religion (vgl. Bruce 2002: 13). Wohlstandssteigerung mindert soziale Unsicherheiten und zugleich damit verbundene Kompensationswünsche (vgl. Norris/Inglehart 2004: 106). Im Zuge der Pluralisierung kultureller Orientierungen und Identitäten kommt es zum Verlust der religiösen Monopolstellung der Kirchen und zur Nivellierung religiöser Werte und Normen (vgl. Pollack 2003: 145). Pluralisierung führt so gemeinsam mit Individualisierung und Prozessen der Horizonterweiterung dazu, dass ein Anspruch auf allgemeine Gültigkeit der eigenen religiösen Normen und Wertorientierungen nicht mehr plausibel erscheint (vgl. Berger 1967: 127). Bruce beschreibt diesen Verlust an Plausibilität wie folgt: The consequence of differentiation and sociatalization is that the plausibility of any single overarching moral and religious system declined, to be displaced by competing conceptions that, while they may have had much to say to privatized, in-
2.1. Moderne theoretische Modelle der Religionssoziologie
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dividual experience, could have little connection to the performance of social roles or the operation of social systems. Religion retained subjective plausibility for some people, but lost its objective taken-for-grantedness. It was no longer a matter of necessity; it was a preference. (Bruce 2002: 13-14) All diese mit der Modernisierung verbundenen Prozesse führen der Säkularisierungstheorie zufolge zu einem sinkenden Einfluss der Religion auf die Gesellschaft sowie zu einer geringeren Kirchenbindung der Individuen. Ein generelles Verschwinden von Religion und Religiosität in modernen Gesellschaften wird hingegen nicht angenommen. Ansätze in Richtung der Säkularisierungstheorie finden sich bereits bei Weber (1996), auch wenn dieser anstelle des Begriffs der Säkularisierung häufiger „Entzauberung der Welt“ und „Rationalisierung“ verwendete. Da Säkularisierung nicht notwendigerweise gleichzeitig auf makro-, meso- und mikrosoziologischen Ebenen erfolgt, unterscheidet Dobbelaere (2002) zwischen organisatorischer, gesellschaftlicher und individueller Säkularisierung. Auf diese Weise können auch gegenläufige Entwicklungen auf den einzelnen Ebenen erfasst und getrennt voneinander untersucht werden, was differenziertere Analysen ermöglicht. Bruce (2006) unterscheidet zwischen institutioneller und öffentlicher Säkularisierung und einer Säkularisierung des Bewusstseins. Ihm zufolge führt das erste zum zweiten; „That is, the decline in public support for religion reduces reinforcement and hence reduces the plausibility of beliefs“ (Bruce 2006: 46). Anhängern der Säkularisierungstheorie zufolge sollten bei der Analyse religiöser Veränderungen Pfadabhängigkeiten, die die Auswirkungen des religiös-kulturellen Erbes auf die Akzeptanz religiöser Praktiken und Überzeugungen beschreiben, berücksichtigt werden (vgl. Pickel et al. 2012: 252; Pickel 2010: 241; Pickel 2009: 117). Dies ist bei der ahistorischen Vorgehensweise des Marktmodells nicht der Fall. Der historischen Pfadabhängigkeit misst unter anderen Martin (1978: 210) eine wesentliche Bedeutung bei. Ihm zufolge lässt sich Säkularisierung nicht einzig mit dem Spannungsverhältnis von Religion und Moderne begründen. Das Verhältnis von Religion und Politik sowie die historisch-konfessionelle Prägung der jeweiligen Gesellschaft sollten als Faktoren ebenfalls Berücksichtigung finden. Weitere Faktoren, die in einer Analyse beachtet werden sollten, sind politische Repressionen, wie sie beispielsweise bei einer Betrachtung Ostdeutschlands von Bedeutung sein könnten. Ebenso sind soziale Ungleichheit oder auch kollektive Identitätsbildungen (vgl. Pickel 2010: 241) zu berücksichtigen.
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2. Theoretische Grundlagen
Was das Verhältnis von Staat und Kirche und dessen Auswirkungen auf die religiöse Vitalität angeht, so sehen Anhänger der Säkularisierungstheorie eine gewisse Verschränkung beider Sphären als eher förderlich für die Religiosität an. So geht Pollack (2003: 195-196) davon aus, dass Religion und Kirche (in Europa) am ehesten von einem mittleren Trennungsgrad profitieren, wobei er anmerkt, dass dieser Zusammenhang nicht zwangsläufig ist. Eine völlige Trennung wird somit als eher nachteilig angesehen. Wichtig für die Akzeptanz der Kirche und ihre Integrationsfähigkeit ist jedoch auch die Vermeidung einer zu engen Verbindung zum Staat. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung leicht in die Nähe der politischen Macht gerät und mit deren Interessen identifiziert wird (vgl. Pollack/Pickel 2009: 159; Pollack 2003: 196-197). So haben gerade die Kirchen in Deutschland noch mit der Vergangenheit des Staatskirchentums zu kämpfen (vgl. Pollack 2003: 200). Die Säkularisierungstheorie wird häufig zur Erklärung der Situation in europäischen Ländern herangezogen. So lässt sich in Deutschland seit den 1950er Jahren ein Bedeutungsverlust der Kirchen empirisch nachweisen, wenn man Kirchenaustritte und Kirchgangshäufigkeit als Indikatoren für traditionale Kirchlichkeit ansieht (vgl. Pollack 2003: 161). Entgegen der Annahmen des Marktmodells scheint die religiöse Vitalität in Europa positiv mit dem religiösen Regulierungsgrad zu korrelieren (vgl. Pickel 2010: 235). Auch scheinen Pluralisierungsprozesse religiösen Gemeinschaften in Europa eher zu schaden, als dass sie davon profitieren (vgl. Pollack/Pickel 2009: 154; Pollack 2003: 194-195). So nimmt die Integration in die Kirche und die Intensität des Glaubens in einem Land eher zu, je mehr eine monopolistische Konfessionsstruktur besteht. (Dem Marktmodell zufolge müsste sie abnehmen.) Noch mehr als vom religiösen Pluralismus scheint die religiöse Vitalität jedoch davon abzuhängen, ob die Mehrheit der Bewohner evangelisch oder katholisch ist: Katholische Länder halten dem Säkularisierungsprozess in der Regel länger stand als protestantisch geprägte Staaten (vgl. Pickel 2009: 100). Bruce (2002) verweist auf mögliche gegenläufige Entwicklungen zu Säkularisierungsprozessen. Diese können zur Erklärung von Abweichungen und Sonderfällen herangezogen werden. Er nennt diese Phänomene „Cultural Defence“ und „Cultural Transition“. Bei der „Cultural Defence“ verbinden sich Religion und Nationalismus im Zuge einer äußeren Bedrohung (zum Beispiel Nordirland-Konflikt). Diese Gegenreaktion soll die eigene nationale, lokale, ethnische oder statusbedingte Identität stärken (vgl. Bruce 2002: 31). Bei der „Cultural Transition“ dient Religion als Ressource, um die eigene Kultur in Diaspora- beziehungsweise Minderheitensituatio-
2.1. Moderne theoretische Modelle der Religionssoziologie
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nen zu erhalten. Sie schützt damit die soziale Identität der eigenen Minderheit in einer als bedrohlich empfundenen Mehrheitskultur (vgl. Bruce 2002: 34). Solche Entwicklungen sind insbesondere in Einwanderergesellschaften zu beobachten. Die „Cultural Transition“ könnte daher als Grund zur Erklärung der Situation in den USA herangezogen werden, die sich durch ein im Vergleich zu anderen westlichen Nationen außergewöhnlich hohes Maß an religiöser Vitalität auszeichnet. Anschlussfähig sind hier auch die Beobachtungen Pollacks (2003: 187), wonach das religiöse Engagement in Diasporasituationen oftmals höher ist, als in Situationen, wo sich Mitglieder der gleichen Religionsgemeinschaft in der Mehrheit befinden. Die Stärken der Säkularisierungstheorie sind darin zu sehen, dass sie religiöse Veränderungsprozesse, beispielsweise Prozesse der Entkirchlichung, der Auflösung konfessioneller Milieus, der religiösen Pluralisierung sowie des kircheninternen Wandels gut beschreiben kann. Auch der Bedeutungsrückgang religiöser Deutungen in der Öffentlichkeit sowie der Einflussverlust von Religion in Wissenschaft, Politik und Erziehung lassen sich damit gut fassen (vgl. Pollack 2009: 27-28). Andere Faktoren, die ebenfalls Einfluss auf das religiöse Feld ausüben können, werden von der Säkularisierungstheorie hingegen weniger berücksichtigt. Hierzu zählen zum Beispiel charismatische Persönlichkeiten, organisatorische Reformen religiöser Gruppen sowie Auswirkungen theologischer Inhalte auf das Handeln von Einzelpersonen und Gruppen. 2.1.2
Individualisierungsthese
Ein weiteres, insbesondere in Westeuropa häufig vertretenes Modell zur Erklärung religiöser Veränderungen in der Moderne ist die Individualisierungsthese. Sie geht davon aus, dass zwar die institutionalisierte Religiosität, also Kirchen, an sozialer Bedeutung verlieren, nicht jedoch die Religion an sich. Diese wird vielmehr in den privaten Bereich verlagert, wo sie tendenziell noch den gleichen Stellenwert einnimmt wie in den zurückliegenden Jahrzehnten. Somit wird ein Formenwandel der Religion angenommen, der dazu führt, dass einzelne Individuen zunehmend selbstbestimmt und losgelöst von institutionellen Vorgaben über ihre Religion bestimmen. Anhänger der Individualisierungsthese gehen davon aus, dass Religiosität eine Konstante ist. Durch ein beständiges menschliches Bedürfnis nach Religion zur Bewältigung von Lebenskrisen kann Religiosität demnach nicht zurückgehen. Somit liegt hier ein funktionaler Religionsbegriff zugrunde. Die Individualisierungsthese wurde erstmals von Luckmann (1963, 1967, 1996, 2014) vertreten. Er grenzt sein Religionsverständnis deutlich
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2. Theoretische Grundlagen
von dem der Säkularisierungstheorie ab. Seiner Ansicht nach hat sich Religiosität in der Moderne trotz umfassender sozialer und kultureller Veränderungen nicht grundlegend verändert: Ich möchte dem im Säkularisierungsmythos erstarrten Begriff der Religion als spezialisierter Institution ein anderes Religionsverständnis entgegenstellen, von dem ich meine, daß es geeigneter ist, Religion im Allgemeinen und besonderen in der Moderne zu erfassen. Ich gehe davon aus, daß - so sehr sich die Lebensweise der Menschen in modernen Gesellschaften von jenen anderen Kulturen unterscheiden mag – die religiöse Verfassung menschlichen Daseins im Grunde erhalten geblieben ist. Das menschliche Leben ist, im Unterschied zu den Lebensformen anderer Gattungen, durch diese elementare Religiosität gekennzeichnet. Die grundlegenden sozialen und kulturellen Wandlungen änderten nichts daran. (Luckmann 1996: 18) Als wesentliche Folge der Moderne, mit der damit verbundenen funktionalen Differenzierung der Sozialstruktur, sieht Luckmann (1996: 25) die Privatisierung der Religion. Sie führt dazu, dass Religion „unsichtbar“ (Luckmann 2014) wird – und somit auch schwerer zu erfassen. Neben diesem Begriff der „unsichtbaren Religion“ ist für die Individualisierungsthese auch die Formulierung und der gleichlautende Buchtitel „Believing without Belonging“ von Davie (2003, 2012, 2015) zentral. Damit wird die Kirchlichkeit deutlich vom Glauben abgekoppelt. Das für dieses Modell ebenfalls wesentliche Konzept der Individualisierung (Beck 1986) wird im Kapitel 2.4.2 ausführlich erläutert, daher soll es hier nur knapp erwähnt werden: In der Moderne können Individuen zunehmend selbstbestimmt über ihr Leben entscheiden und aus mehreren Optionen auswählen; die Fremdbestimmung durch soziale Strukturen oder Autoritäten geht zurück; Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung werden zu neuen Wertorientierungen, individuelle Entscheidungen stärker geschätzt. Für die Religiosität hat Individualisierung verschiedene Folgen. Zum einen führt die abnehmende Fremdbestimmung durch die Kirchen dazu, sodass Menschen sich weniger an religiöse Normen gebunden fühlen. Gleichzeitig bewirkt die höhere Entscheidungsfreiheit zusammen mit der steigenden Mobilität, dass der soziale Druck auf Individuen bezüglich ihrer Religiosität abnimmt. Auch hierdurch fühlen sich Individuen in geringerem Maße religiösen Vorgaben verpflichtet. Die wachsende
2.1. Moderne theoretische Modelle der Religionssoziologie
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Selbstbestimmung bewirkt schließlich nicht nur, dass Individuen zunehmend eigenständig über ihre Religion entscheiden, sondern auch, dass sie häufiger verschiedene Formen von Religiosität miteinander kombinieren, also zum Beispiel traditionelle kirchliche Religiosität mit New AgeElementen verbinden. Neue synkretistische Glaubenssysteme entstehen, die auch mit dem Namen „Patchwork-Religiosität“ bezeichnet werden. Luckmann (2014: 141) beschreibt diesen Prozess mit folgenden Worten: Ist die Religion erst einmal zur „Privatsache“ geworden, kann das Individuum nach freiem Belieben aus dem Angebot „letzter“ Bedeutungen wählen. Geleitet wird es dabei nur noch von den Vorlieben, die sich aus seiner sozialen Biographie ergeben. Ein weiteres mit der Individualisierungsthese verbundenes Konzept ist das der „Vicarious Religion“, also der „Stellvertreterreligion“, das Davie (2012: 168) einige Jahre nach ihrem Konzept „Believing without Belonging“ entwickelte. Dahinter steht die Idee, dass zwar nur noch eine Minderheit der Bevölkerung in vielen europäischen Ländern aktiv am religiösen (kirchlichen) Leben teilnimmt, sie dies jedoch unter wohlwollender Kenntnisnahme eines großen Teils der verbleibenden Bevölkerung tut. Die letztgenannten greifen auf kirchliche Angebote vor allem zu bestimmten Feierlichkeiten, in persönlichen Lebenskrisen oder auch in Katastrophensituationen zurück (vgl. Schluchter/Graf 2005). Das Konzept der „Vicarious Religion“ trägt dem Umstand Rechnung, dass beispielsweise in skandinavischen Ländern viele Menschen nach wie vor Mitglieder der dortigen Kirche sind, regelmäßig ihre Kirchensteuern entrichten, aber nicht aktiv am kirchlichen Leben teilnehmen. Ein solches Verhalten wird mit dem Konzept „Believing without Belonging“ nicht erfasst; es könnte vielmehr umgekehrt mit „Belonging without Believing“ umschrieben werden. Anhand des Konzeptes der „Vicarious Religion“ (und unterschiedlicher Reaktionen darauf in Europa beziehungsweise in den USA) lassen sich auch die verschiedenen Rollen von Europas historischen Kirchen und den amerikanischen Kirchen deutlich machen (vgl. Davie 2012: 172). So sehen Menschen in vielen europäischen Ländern Kirchen noch immer als eine Art öffentliches Gut an, das zum Wohle der Allgemeinheit aufrechterhalten werden sollte. Hierzu passt auch der Gedanke, dass theologische Lehren im Namen der Bevölkerung an Universitäten unterrichtet und weitergegeben werden. Das Konzept der „Vicarious Religion“ wird entsprechend von einem europäischen Publikum in der Regel recht schnell erfasst.
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2. Theoretische Grundlagen
In den USA hingegen hat die dortige unterschiedliche Kirchengeschichte nicht nur schon früh zu einer Vielzahl von Denominationen, sondern auch zu einem anderen Verständnis des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft geführt. Als Folge davon kann die empirische Situation dort eher als ein Markt beschrieben werden. Hierzu passt auch das im folgenden Unterpunkt 2.1.3 erläuterte Marktmodell des Religiösen. Das Konzept der „Vicarious Religion“ einem amerikanischen Publikum zu erklären, ist aus diesem Grund deutlich schwieriger. Als eine zentrale Vertreterin der Individualisierungstheorie gilt auch Hervieu-Léger (2006). Zwar beobachtet auch sie einen mit der Moderne einhergehenden Säkularisierungsprozess, der zum einen durch den bruchstückartigen Charakter moderner Erscheinungsformen des Glaubens, zum anderen durch den Verlust der Verbindung zwischen Gesellschaft und Religion gekennzeichnet ist (vgl. Hervieu-Léger/Lee 2006: 29). Jene Verbindung hatte die Grundlage einer religiösen Kultur gebildet, die alle Aspekte des sozialen Lebens in westlichen Gesellschaften prägte. Allerdings hat die Moderne der Autorin zufolge lediglich traditionelle Glaubenssysteme, nicht jedoch den Glauben an sich unterlaufen: Modernity has deconstructed the traditional systems of believing, but has not forsaken belief. Believing finds expression in an individualized, subjective and diffuse form, and resolves into a multiplicity of combinations and orderings of meaning which are elaborated independently of control by institutions of believing, by religious institutions in particular. (HervieuLéger/Lee 2006: 74-75). Entgegen der Annahmen der Säkularisierungstheorie führt HervieuLéger (2006: 28) zufolge die Modernisierung nicht zu einem Rückgang des Glaubens. Vielmehr ziehen umgekehrt die in der Moderne auftretenden neuen Unsicherheiten neue spirituelle Bedürfnisse und somit sogar eher eine Stärkung des Glaubens nach sich. Als Beispiele für Vertreter dieser neuen Form des Glaubens führt die Autorin Pilger oder Konvertiten an. Im Hinblick auf die genannten neuen Unsicherheiten ist ebenfalls ein Anschluss an Becks (1986) Gedanken - hier sein Konzept der „Risikogesellschaft“ - gut möglich. Ihm zufolge sind Menschen in der Moderne neuen Arten von Risiken ausgesetzt, und zwar über alle Klassengrenzen hinweg. Diese können sich zum Beispiel durch mit der Atomtechnik verbundene Gefahren oder auch durch das Risiko, arbeitslos zu werden, ausdrücken. Kritiker der Individualisierungsthese nehmen häufig auf den dort genutzten breiten Religionsbegriff Bezug. So findet sich Religion „überall
2.1. Moderne theoretische Modelle der Religionssoziologie
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dort, wo das Verhalten der Gattungsmitglieder zum sinn-orientierten Handeln wird“ (Luckmann 1996: 18). Die Annahme, dass Religion eine Konstante ist, ebenso wie die Annahme, dass Religion unsichtbar ist, erschweren zusätzlich eine empirische Überprüfung. In Reaktion auf diese Kritik weisen Anhänger der Theorie häufig auf neue Formen von Religiosität und Spiritualität hin, zum Beispiel Esoterik, New Age oder Zen-Meditation. Auch Aktivitäten in anderen Lebensbereichen, etwa in der Kultur und im Sport wie zum Beispiel Fußball, Bodybuilding oder Aerobic, werden als quasi-religiöse Phänomene beschrieben (vgl. Knoblauch 2014: 29). Bei einem solch umfassenden Verständnis von Religion und religiösen Phänomenen liegt es auf der Hand, dass eine Abnahme der sozialen Bedeutung von Religion, wie Anhänger der Säkularisierungstheorie sie annehmen, kaum nachgewiesen werden kann. Eine empirische Überprüfung der Theorie am Beispiel Deutschlands von Pollack und Pickel (2003: 459-465) ergab, dass - entgegen der Annahmen der Anhänger der Individualisierungsthese - sowohl die traditionale Kirchlichkeit als auch die individuelle christliche Religiosität seit den 1960er Jahren abgenommen haben. Weitere Analysen zeigten, dass außerkirchliche Religiosität traditionale Kirchlichkeit nicht ersetzt, weder deren Verluste kompensiert noch durch sie unterstützt wird. Zugleich zeigten die Autoren jedoch auch, dass offenbar lediglich traditionale Kirchlichkeit und individuelle christliche Religiosität negativ von Modernisierungsprozessen wie Urbanisierung und Bildungszuwachs beeinflusst werden, während außerkirchliche Religiosität von diesen Prozessen eher profitiert. Aufgrund der geringen Anzahl der Anhänger neuer außerkirchlicher Religiositätsformen sollte dieser Effekt jedoch nicht als zu hoch eingeschätzt werden. Obwohl die Individualisierungsthese in Europa sehr häufig vertreten wird, tritt sie in internationalen Forschungszusammenhängen eher in den Hintergrund. Insbesondere amerikanische Religionssoziologen sehen in der Individualisierungsthese eher eine Unterthese der Säkularisierungstheorie. Beide Ansätze stehen in ihren Augen im Gegensatz zum dort häufig vertretenen Marktmodell, das im folgenden Unterpunkt erläutert wird. 2.1.3
Marktmodell des Religiösen
Im Marktmodell des Religiösen werden angebotsorientierte wirtschaftswissenschaftliche Ansätze auf den religiösen Markt übertragen, um dadurch Veränderungen der religiösen Vitalität zu erklären. Das Modell geht auf Adam Smith (1862) zurück. In „The Wealth of Nations“ führt er aus,
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2. Theoretische Grundlagen
welche Nachteile eine Staatskirche gegenüber einem unregulierten religiösen Markt habe. Beispielsweise erklärt er, dass Fleiß und Arbeitsbereitschaft von Pfarrern, deren Einkommen von freiwilligen Beiträgen ihrer Gemeinde abhängen, höher seien als bei solchen, die sich in einem beamtenähnlichen Beschäftigungsverhältnis befinden (vgl. Smith 1862: 330). Smith zufolge sind Kirchen genau wie Firmen Marktgesetzen unterworfen. Staatliche Regulierung beziehungsweise Monopole oder Oligopole wirkten sich im religiösen Markt ebenso nachteilig aus wie in anderen Wirtschaftsbereichen. Wettbewerb und Konkurrenz hingegen hätten demnach positive Effekte. Folglich gehen Anhänger des Marktmodells davon aus, dass Staat und Kirche strikt getrennt sein müssen, damit sich der religiöse Markt frei entwickeln kann. In einer solchen Situation können sich viele unterschiedliche Religionsgemeinschaften bilden; das religiöse Angebot steigt (Pluralismus). Damit erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Personen auf dem Markt ein Angebot finden, das ihren individuellen Bedürfnissen entspricht. Die Folge ist eine insgesamt höhere religiöse Vitalität. Im Gegensatz zu den Annahmen der Säkularisierungstheorie profitiert Religion hier also von Modernisierungs-, Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen. Finke und Stark (2005) erklären diesen „natürlichen“ Zustand religiöser Märkte wie folgt: A major consideration in analyzing religious economies, as in the analysis of commercial economies, is their degree of regulation. Some are virtually unregulated; some are restricted to state-imposed monopolies. In keeping with supply and demand principles, to the degree that a religious economy is unregulated, pluralism will thrive. That is, the ‘natural’ state of religious economies is one in which a variety of religious groups successfully caters to the special needs and interests of specific market segments. Religious variety arises because of the inherent inability of a single product to satisfy very divergent tastes. Or, to note the specific features of religious firms and products, pluralism arises because of ‘normal’ variations in the human condition such as social class, age, gender, health, life experiences, and socialization. (Finke/Stark 2005: 9-10) In einer Studie zur Kirchlichkeit in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts zeigen die beiden Soziologen, dass in Städten ab 25.000 Einwohnern
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durchschnittlich mehr Menschen Mitglied einer Kirche waren als auf dem Land (vgl. Finke/Stark 1988: 44). Zugleich war in den Städten das religiöse Angebot größer als in ländlichen Gebieten; die Menschen konnten zwischen unterschiedlichsten Denominationen wählen. Daraus schließen Finke und Stark, dass Urbanisierung sowie religiöser Pluralismus, auch Konkurrenz und Wettbewerb, sich positiv auf die religiöse Vitalität auswirken. Ihnen zufolge sind viele unabhängige religiöse Gemeinschaften eher in der Lage, einen größeren Anteil der Bevölkerung zu erreichen und dadurch auch die religiöse Vitalität insgesamt zu erhöhen, als eine oder wenige Kirchen (vgl. Finke/Stark 2005: 11; Finke/Stark 1988: 42). Einer Analyse von Iannaccone (1991: 157) zufolge ist die religiöse Vitalität (gemessen an Kirchgang und Glaubensintensität) zumindest unter Protestanten höher, wenn mehrere Kirchen in einem Land miteinander konkurrieren. Was Katholiken anbelangt, deren religiöse Vitalität kaum vom Grad des Pluralismus abzuhängen scheint, verweisen Anhänger des Marktmodells zum einen auf die Vielfalt an Glaubensrichtungen innerhalb des Katholizismus, zum anderen darauf, dass soziale Konflikte sich in ähnlicher Weise auf die religiöse Vitalität auswirken können wie Wettbewerb (vgl. Iannaccone 1991: 170; Finke/Stark 2003: 103). Das Marktmodell beruht auf einem Rational-Choice-Ansatz. Es wird angenommen, dass Menschen sich unter Abwägung von Kosten und Nutzen für eine bestimmte Religionsgemeinschaft entscheiden. Die rationale Entscheidungsfindung unterliegt allerdings gewissen Grenzen. „Within the limits of their information and understanding, restricted by available options, guided by their preferences and tastes, humans attempt to make rational choices“ (Stark/Finke 2000: 18). Entsprechend der Rational-ChoiceTheorie steht das individuelle religiöse Handeln für die Theoretiker um Finke und Stark im Zentrum des Forschungsinteresses. Religiöse Überzeugungen kommen lediglich als Motive für diese Handlungen in Betracht. Das Marktmodell ist folglich vor allem am religiösen Angebot, der supply side, ausgerichtet – ein wesentlicher Unterschied zur Säkularisierungstheorie (vgl. Finke/Stark 2003: 100). Mit der religiösen Nachfrage, gekennzeichnet zum Beispiel durch individuelle Überzeugungen und Vorzüge, setzt sich das Modell wenig auseinander. Es geht vielmehr davon aus, dass eine religiöse Nachfrage immer besteht und auch weitgehend stabil bleibt (vgl. Stark/Finke 2000: 193).5 5 Eine
andere Sichtweise nehmen die Rational-Choice-Theoretiker um Sherkat und Ellison (1999) ein, die die demand side von Religion stärker in den Blick nehmen. Sie untersuchen zum Beispiel Veränderungen religiöser Vorzüge und soziale Einflüsse auf religiöse Entscheidungen von Individuen. Frühere religiöse Erfahrungen beeinflussen ihnen zufolge
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2. Theoretische Grundlagen
Finke und Stark (2005: 276) zufolge sind vor allem solche Angebote religiöser Gemeinschaften erfolgreich, die einen engen Bezug an die Transzendenz mit hohen Anforderungen an die Mitgliedschaft verbinden, ohne das Individuum von der säkularen Gesellschaft völlig zu isolieren. Den fehlenden engen Transzendenzbezug machen sie unter anderem auch als Grund dafür aus, dass die liberalen mainline churches in den USA gegenüber eher konservativen religiösen Gemeinschaften (zum Beispiel evangelikale Gruppen) seit den 1940er Jahren (beziehungsweise im Grunde seit Bestehen der USA) stetig Marktanteile verloren haben (vgl. Finke/Stark 2005: 247). Wie schon der Hinweis auf soziale Konflikte gezeigt hat, ist einigen Markttheoretikern zufolge Pluralismus nicht allein ursächlich für religiöse Vitalität. So stellt Iannaccone (1998: 1472) heraus, dass jedes Maß an religiöser Beteiligung, sei es Glaube, Kirchgang oder Spenden, positiv mit dem Maß an Konservatismus der entsprechenden protestantischen Kirche oder Gruppe korreliert. Anhänger konservativerer Gruppen zeigen dementsprechend tendenziell einen stärkeren Glauben, was meist verbunden ist mit der Überzeugung, dass die Bibel unfehlbar sei. Sie gehen häufiger in die Kirche und spenden höhere Beträge an ihre Gemeinde.6 Dass die religiöse Vitalität in den USA deutlich höher ist als in Deutschland, könnte insofern auch mit dem höheren Anteil an Anhängern konservativer Gruppen zusammenhängen. Beim später erfolgenden Vergleich der Einstellungen (beziehungsweise der religiösen Vitalität) in Deutschland und den USA soll dieser Befund noch einmal aufgegriffen werden. Auch die Entscheidung für den Eintritt in eine kleine hochreligiöse Gruppe und somit für häufig mit sozialem Stigma verbundene rigide Kleidungs- und Verhaltensvorschriften lässt sich mit dem Marktmodell erklären: Zum einen dienen solche Vorgaben als Barriere, um weniger aktive Mitglieder, sogenannte free rider, von der Teilnahme fernzuhalten. Zum anderen erhöht sich dadurch das Engagement innerhalb der Gruppe, auch weil die Wahrnehmung externer Aktivitäten zunehmend schwierig wird: „Efficient religions may thus embrace stigma, self-sacrifice and bizarre behavioral standards; and perfectly rational people can be drawn to decidedly unconventional groups“ (Iannaccone 1992: 128). Entspricht es eher rationalem Verhalten, bei der einmal gewählten Kirche zu bleiben (brand loyalty) oder immer mal wieder die Gemeinde zu auch die Wünsche nach späterem religiösem Engagement. Diese Gruppe macht den kleineren Teil der Marktmodell-Anhänger aus. 6 Katholiken entsprechen nicht diesem Muster: Sie gehen deutlich häufiger zur Kirche, spenden aber weniger als Protestanten, vgl. Iannaccone (1998: 1474).
2.1. Moderne theoretische Modelle der Religionssoziologie
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wechseln (church shopping)? Unter den Vertretern des Marktmodells gibt es zu dieser und anderen Fragen verschiedene Erklärungsansätze. In einem Überblicksartikel betont Warner (1993: 1055) daher, dass ein Paradigma noch keine Theorie sei, sondern lediglich eine Zusammenstellung von Ideen, die manche Fragen offensichtlicher machen als andere. Viele Aspekte des Marktmodells müssten daher noch genauer untersucht beziehungsweise spezifiziert werden. Methodische Diskussionen bei Analysen zur Gültigkeit des Marktmodells entspannen sich häufig über ein geeignetes Maß für religiösen Pluralismus, wobei sich Konkurrenz selbst schwer messen lässt. Auch geeignete Analyseeinheiten, zum Beispiel Städte ab einer bestimmten Einwohnerzahl, Regionen etc., sind in der Diskussion. In diesem Zusammenhang verweisen Kritiker des Modells auf Gebiete in den USA, die keinen besonders hohen Grad an Pluralismus, wohl aber eine hohe religiöse Vitalität aufweisen, zum Beispiel auf das von Mormonen geprägte Utah. Das Marktmodell wird überwiegend in Nordamerika vertreten, wohl auch, weil es die Situation in den USA (strikte Trennung von Staat und Kirche, außerordentlich großer Pluralismus, hohe religiöse Vitalität) gut erklären kann. Auch werden Kirchen dort tatsächlich eher als miteinander in Konkurrenz stehende Unternehmen verstanden als in Europa. Der Wechsel von einer religiösen Gemeinschaft zu einer anderen ist eher selbstverständlich, auch wenn er meist zwischen einander ähnlichen Religionsgemeinschaften erfolgt (vgl. Iannaccone 1998: 1479-1482) als in Deutschland, wo die religiöse Sozialisation tendenziell eine größere Rolle spielt und somit selten eine bewusste Wahl der eigenen Konfession getroffen wird. Die Möglichkeit der Übertragung des Marktmodells auf die Situation in Europa ist auch aus diesen Gründen Gegenstand kontroverser Diskussionen. Zusammenfassung In diesem Unterkapitel werden die drei gegenwärtig diskutierten Modelle zur Erklärung religiöser Veränderungen in der Moderne vorgestellt. Die Säkularierungstheorie geht von einem Spannungsverhältnis zwischen Religion und Moderne aus, das sich langfristig negativ auf Religion und Kirche auswirkt. Säkularisierung wird dabei als ein sich über Generationen entwickelnder Prozess verstanden, bei dem Religion an sozialer Bedeutung verliert. Die Individualisierungsthese geht zwar auch von einem Rückgang der Bedeutung institutionalisierter Religion (also zum Beispiel von Kirchen) aus. Jedoch nimmt sie keinen grundsätzlichen Rückgang von Religiosität an, weil die sich dieser Theorie zufolge lediglich in den privaten Bereich verlagert. Das Marktmodell des Religiösen schließlich überträgt
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2. Theoretische Grundlagen
Annahmen aus der (angebotsorientierten) Wirtschaftswissenschaft auf den religiösen „Markt“. Demnach ist die Religiosität umso höher, je weniger reguliert dieser Markt ist. Die Trennung von Staat und Kirche ist entscheidend. Ebenso ist die religiöse Vitalität höher, je mehr religiöse Angebote es gibt. Pluralismus und Religiosität hängen somit eng miteinander zusammen. 2.2
Grundlagen der Einstellungs-, Werte- und Diffusionsforschung
Um die Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen und Werte nachzeichnen zu können, soll hier zunächst kurz erklärt werden, was Einstellungen und Wertorientierungen sind, wie sie gemessen werden können, wie sie entstehen und wie sie sich ändern. Auch wird ein Blick darauf geworfen, wie sich Einstellungen auf das Verhalten auswirken. Anschließend wird anhand des Diffusionsbegriffs erläutert, wie vormals nicht bekannte Ideen sich über Landesgrenzen hinweg verbreiten und somit Änderungen in Einstellungen und Werten bewirken können. 2.2.1
Komponenten und Struktur von Einstellungen und Werten
Eine Einstellung bezeichnet in der Sozialpsychologie eine Bewertung eines bestimmten Einstellungsobjektes durch eine Person. Eagly und Chaiken (1993: 1) definieren Einstellung als „a psychological tendency that is expressed by evaluating a particular entity with some degree of favor or disfavor“. Bei der Entität kann es sich um eine Person, eine Gruppe, ein Objekt, ein Symbol, ein soziales Problem, eine Verhaltensweise oder auch um einen Begriff handeln. Einstellungen sind hypothetische Konstrukte. Sie können nicht direkt beobachtet werden. Einstellungen sind abzugrenzen von Werten, die weniger objektbezogen und weniger spezifisch sind und allgemeine Vorstellungen vom Wünschenswerten umfassen. So definiert Kluckhohn (1962: 395) Werte als “conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means and ends of action“. Für Lipset (1996) sind Werte deep sets of feelings, much more stable than attitudes, superordinate sentiments, and are reflected in cross-national differences over beliefs about class relationships, equality and inequality, the role of the state, individualism, communitarianism, and the like. (Lipset 1996: 102)
2.2. Grundlagen der Einstellungs-, Werte- und Diffusionsforschung
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In dieser Arbeit sollen diejenigen Einstellungen und Werte vergleichend untersucht werden, die ihren Ursprung in Luthers Berufsbild und in den in der Reformation begründeten Individualisierungsprozessen gehabt haben könnten, also zum Beispiel eine Vorstellung von Arbeit als Verpflichtung, Leistungsorientierung, Institutionenkritik etc. Einstellungen haben eine affektive, eine kognitive und eine verhaltensbezogene Komponente. Die Gültigkeit dieses dreigeteilten Modells, das in den 1960er Jahren zu einem zentralen Bestandteil der Einstellungsforschung wurde, wies Breckler (1984) in zwei Studien empirisch nach. Einstellungen definierte er dabei als Reaktion auf ein Einstellungsobjekt: Attitude is defined as a response to an antecedent stimulus or attitude object. The stimulus may or may not be observable, and can best be thought of as an independent or exogenous variable. Affect, behavior and cognition are three hypothetical, unobservable classes of response to that stimulus. (Breckler 1984: 1191) Die affektive Komponente beschreibt die Emotionen und Gefühle, die eine Person mit dem Einstellungsobjekt verbindet. Die kognitive Komponente besteht aus den Überzeugungen, Meinungen und Kenntnissen einer Person hinsichtlich des Einstellungsobjekts. Die verhaltensbezogene Komponente umfasst Informationen, die die Person aus ihrem eigenen Verhalten in Bezug auf das Einstellungsobjekt herleitet. Was die Struktur von Einstellungen und ihre Repräsentation angeht, gibt es zwei verschiedene Konzepte. Bei eindimensionalen Konzeptionen wird angenommen, dass alle Informationen zum Einstellungsobjekt auf einer Dimension abgespeichert werden. Die Einstellung ist dann entweder im positiven oder im negativen Bereich dieser Dimension verortet. Zweidimensionale Konzeptionen hingegen trennen positive und negative Bewertungen und weisen ihnen jeweils eigene Dimensionen zu. Sie sind insbesondere dafür geeignet, Einstellungsambivalenz zu erklären. Beispielsweise geht aus einem Wert 0 auf einer eindimensionalen Skala nicht hervor, ob es sich um Neutralität, Gleichgültigkeit, Unsicherheit oder Ambivalenz dem Einstellungsobjekt gegenüber handelt. Durch Verwendung von zwei Skalen hingegen kann Ambivalenz ermittelt werden (vgl. Breckler 1994). 2.2.2
Einstellungsstärke und -funktionen
Einstellungen unterscheiden sich zum einen hinsichtlich ihrer Valenz (also ihrer Wertigkeit als positiv oder negativ), zum anderen hinsichtlich ihrer
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2. Theoretische Grundlagen
Stärke (messbar zum Beispiel an der Reaktionszeit). Starke Einstellungen gelten als stabiler und schwieriger zu verändern (etwa durch Persuasionsversuche anderer Personen). Außerdem haben sie meist größere Wirkungen auf das Verhalten als schwache Einstellungen. Einstellungen haben Katz (1960) zufolge vier wesentliche Funktionen: • Instrumentelle Funktion oder Anpassungsfunktion: Einstellungen können dem Individuum helfen, angenehme oder wünschenswerte Erfahrungen anzustreben sowie unangenehme Erfahrungen zu meiden. So entwickeln Personen gegenüber Objekten, mit denen sie positive Erfahrungen verbinden, auch positive Einstellungen. Umgekehrt entstehen negative Einstellungen aus unangenehmen Erfahrungen (zum Beispiel Frustration) in Bezug auf das Einstellungsobjekt. Die Entwicklung von Einstellungen hängt hier also von der (gegenwärtigen und vergangenen) Wahrnehmung davon ab, wie nützlich das Einstellungsobjekt für das Individuum ist (Katz 1960: 171). In der Zukunft passt die Person ihr Verhalten den Einstellungen durch Annäherungs- oder Vermeidungstendenzen entsprechend an. • Ich-Verteidigungsfunktion: Einstellungen können zum Schutz vor Konflikten sowie zum Abbau von Ängsten beitragen. Hierbei übertragen Menschen negative Attribute auf andere Personen(gruppen), denen gegenüber sie in der Folge negative Einstellungen entwickeln. Beispielsweise kann jemand ein Gefühl der Unterlegenheit, das er bei sich selbst nicht zulassen will, auf eine bestimmte Minderheit projizieren, der gegenüber er sich dann überlegen fühlt (Katz 1960: 172). Dadurch entlastet er sich selbst; das eigene Selbstwertgefühl wird gestärkt. Solche Einstellungen entstehen aus inneren Konflikten heraus, nicht (wie bei der Anpassungsfunktion) in Reaktion auf ein äußeres Einstellungsobjekt. • Wertausdrucksfunktion: Bei dieser Funktion dienen Einstellungen dazu, zentrale Werte zum Ausdruck zu bringen und zu kommunizieren, welches Bild man von sich selbst hat (Katz 1960: 175). Sie helfen Menschen also, ihre soziale Identität zu definieren. Indem sie sich zu bestimmten Werten bekennen, identifizieren sie sich mit anderen Personen, die ähnliche Überzeugungen haben, und grenzen sich gegenüber Gruppen ab, die diese Ansichten nicht teilen. Gleichzeitig stärken Menschen dadurch ihr Selbstkonzept. • Wissensfunktion: Einstellungen können Individuen helfen, die Welt zu verstehen und sich darin zurechtzufinden. Indem sie es ermögli-
2.2. Grundlagen der Einstellungs-, Werte- und Diffusionsforschung
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chen, neue Informationen und Erfahrungen auf der Grundlage zuvor erworbener Bewertungsmaßstäbe einzuordnen, erleichtern sie die Strukturierung und Verarbeitung neuer Informationen. Die eigenen Einstellungen ändern sich erst dann durch neue Informationen, wenn das Individuum die bestehenden Einstellungsstrukturen in Bezug auf eine neue Situation als inadäquat, unvollständig oder inkonsistent wahrnimmt (Katz 1960: 176). 2.2.3
Messung von Einstellungen und Werten
Es bestehen mehrere Verfahren zur Messung von Einstellungen. Sie lassen sich grundsätzlich in zwei Kategorien unterteilen: explizite Maße (indem Personen ihre Einstellung dem entsprechenden Objekt gegenüber verbal ausdrücken) und implizite Maße (ohne Einbeziehung von Aussagen der Person, zum Beispiel durch Messung von Reaktionszeiten). Bei expliziten Messverfahren wird wiederum zwischen eindimensionalen und mehrdimensionalen Verfahren unterschieden. Zu ersteren zählt die Likert-Einstellungsskala. Sie besteht aus mehreren Aussagen über das Einstellungsobjekt. Zu jedem dieser sogenannten Items sollen die befragten Personen angeben, inwieweit sie der Aussage zustimmen oder sie ablehnen. Dabei können sie zwischen mehreren Alternativen auf einer Ratingskala auswählen (zum Beispiel „Stimme voll und ganz zu“, „stimme eher zu“, etc.). Für die Auswertung werden die Werte aller Antworten addiert und daraus ein Gesamtwert der Einstellung ermittelt. Ein weiteres eindimensionales Messverfahren ist die Guttmann-Skala, bei der Aussagen zum Einstellungsobjekt so gegliedert werden, dass die befragte Person einem Item in der Regel nur dann zustimmt, wenn sie den vorangegangenen Aussagen auch zugestimmt hat. Zu den mehrdimensionalen Verfahren zählen das semantische Differenzial und Multiattributionsmodelle. Ein möglicher Nachteil expliziter Verfahren zur Einstellungsmessung zeigt sich darin, dass befragte Personen dazu neigen können, Fragen nach sozialer Erwünschtheit zur beantworten. Um dies auszuschließen, wurden implizite Verfahren wie der Implicit Association Test (IAT) entwickelt. Hierbei werden Reaktionszeitunterschiede bei gleichzeitig oder unmittelbar aufeinanderfolgender Projektion des Einstellungsobjektes und anderen Vergleichsobjekten gemessen, wobei die Vergleichsobjekte eine eindeutige emotionale Valenz haben. Für die hier vorliegende Arbeit wurden Fragen aus dem World Values Survey sowie aus dem International Social Survey Programme ausgewertet. Überwiegend wurden die Einstellungen zur Arbeit, zum Kapitalismus
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2. Theoretische Grundlagen
oder zu Institutionen und anderem hier anhand von Likertskalen gemessen. Die folgenden Beispiele sind der fünften und sechsten Erhebungswelle des World Values Survey (2005-2008 beziehungsweise 2010-1014) entnommen. Hier konnten die Befragten bei einigen Fragen ihre Zustimmung oder Ablehnung zu einer bestimmten Aussage, zum Beispiel „Arbeit ist eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft“, auf einer Skala mit fünf Ausprägungen zwischen „stimme stark zu“ bis „lehne stark ab“ zum Ausdruck bringen. Bei anderen Fragen sollten sie auf einer Skala mit sechs Ausprägungen, von „vollkommen ähnlich“ bis „vollkommen unähnlich“, einschätzen, wie ähnlich sie ihre eigene Person in Bezug auf eine bestimmte Personenbeschreibung halten. Ein Beispiel: „Sie (Er) möchte erfolgreich sein und dass andere Menschen ihre (seine) Leistungen anerkennen.“ Einige Fragen, beispielsweise die nach dem Vertrauen in bestimmte Institutionen, wurden mit Likertskalen mit vier Ausprägungen zwischen „sehr“ und „überhaupt nicht“ gemessen. Bei wieder anderen Fragen wurden zwei gegensätzliche Aussagen formuliert. Aufgezeigt wird hier das Beispiel: „Die Menschen sollten mehr Verantwortung für sich selbst übernehmen“, im Gegensatz zu „Der Staat sollte mehr Verantwortung dafür übernehmen, dass jeder Bürger abgesichert ist.“ Hierbei konnten die Befragten auf einer Skala mit zehn Ausprägungen zwischen 1 (Erste Meinung wird voll und ganz vertreten) und 10 (Zweite Meinung wird voll und ganz vertreten) auswählen. Bei einigen Wertvorstellungen wurde in den genannten Erhebungswellen des World Values Survey auch ein anderes Verfahren angewandt. So wurde zum Beispiel gefragt, welche Eigenschaften Kinder im Elternhaus lernen sollten. Die Befragten konnten hier aus elf vorgeschlagenen Antworten, wie zum Beispiel „Unabhängigkeit, Selbstständigkeit“ oder „Gehorsam“, maximal fünf auswählen. Bei einigen Fragen aus dem International Social Survey Programme (2000; 2012), zum Beispiel derjenigen nach dem Bibelverständnis, wurde ebenfalls ein anderes Messverfahren als das der Likertskala verwendet. Stattdessen konnten die Befragten aus mehreren möglichen Antworten eine auswählen, die ihrem Verständnis der Bibel am ehesten entspricht (zum Beispiel „Die Bibel ist das tatsächliche Wort Gottes und sollte wörtlich genommen werden“). Alternativ war hier auch die Antwort „Dies betrifft mich nicht.“ möglich.
2.2. Grundlagen der Einstellungs-, Werte- und Diffusionsforschung
2.2.4
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Einstellungsänderung
Einstellungen können sich grundsätzlich auf drei Arten ändern. Erstens können Menschen in direkten Kontakt mit dem Einstellungsobjekt gebracht werden. Neue Erfahrungen können so Einstellungsänderungen nach sich ziehen. In dieser Arbeit könnte beispielsweise angenommen werden, dass Menschen durch Gottesdienste, Lektüre oder Gespräche mit bestimmten Einstellungsobjekten in Kontakt kamen und infolgedessen ihre Einstellung dazu änderten. Zweitens können Verhaltensanreize geschaffen werden, die eine Änderung des Verhaltens und somit auch eine Anpassung der Einstellung gegenüber dem Verhalten bewirken können. Für die Fragestellung dieser Arbeit wäre interessant, ob Verhaltensanreize auch eine Rolle bei Einstellungsänderungen im Zuge der Reformation gespielt haben. Möglicherweise kann zum Beispiel darin, dass die Mitgliedschaft in einer protestantischen Gruppe in den USA Vorteile für das berufliche Fortkommen brachte, ein Verhaltensanreiz gesehen werden. Die dritte Möglichkeit besteht in der Einstellungsänderung durch Persuasion, also durch Argumente. Dies könnte hier vielleicht durch Gespräche über religiöse Themen, Kontakte mit Seelsorgern oder auch durch missionarische Tätigkeiten von Kirchen und anderen protestantischen Gruppen erfolgt sein. Nach dem Elaboration-Likelihood-Modell von Petty und Cacioppo (1986) gibt es zwei Wege, auf denen Einstellungen durch Persuasion geändert werden können: die zentrale Route und die periphere Route. Beim zentralen Weg setzt sich die Person kritisch mit den vorgebrachten Argumenten auseinander, erinnert sich an erworbene Vorkenntnisse, bringt dieses Wissen mit der neuen Botschaft in Verbindung und wägt sorgfältig ab, ob sie der Argumentation folgt. Die Qualität der Argumente ist hier von großer Bedeutung. Beim peripheren Weg wird die Einstellung hingegen ohne große Berücksichtigung dieser Qualität geändert. Stattdessen stehen einfache Heuristiken im Vordergrund, etwa die Glaubwürdigkeit der Quelle, die Länge der Nachricht oder auch die Attraktivität der Person, die die Botschaft vermittelt. Die erbrachte kognitive Leistung ist hier (im Vergleich zum zentralen Weg) eher gering. Welchen Verarbeitungsweg eine Person wählt, hängt von ihrer Motivation und ihrer Fähigkeit ab, die neuen Informationen aufzunehmen und zu bewerten. Ist jemand von einer bestimmten Argumentation persönlich betroffen, erfolgt die Einstellungsänderung sehr wahrscheinlich auf dem zentralen Weg. Ist das Thema für ihn hingegen nicht relevant oder ist er abgelenkt, ist der periphere Weg wahrscheinlicher. Weitere Faktoren, die Einfluss auf die Art der Verarbeitung haben, sind die persönliche Stimmung
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2. Theoretische Grundlagen
(ist man gut gelaunt, lässt man sich eher von peripheren Reizen beeinflussen) und persönliche Eigenschaften wie Intelligenz, Kognitionsbedürfnis und Selbstwertgefühl. Wird eine Einstellung über den zentralen Weg geändert, so ist sie in der Regel eher von Dauer und weniger anfällig gegen neue Persuasionsversuche, als es bei über den peripheren Weg geänderten Einstellungen der Fall ist. 2.2.5
Wirkungen von Einstellungen auf das Verhalten
Erste Untersuchungen zu der Frage, ob sich aus Einstellungen Prognosen zum Verhalten treffen lassen, stellten eher geringe Korrelationen zwischen Einstellung und Verhalten fest (vgl. zum Beispiel LaPiere 1934). Später arbeiteten Ajzen und Fishbein (1977) Bedingungen heraus, die erfüllt sein müssen, um Verhalten einigermaßen zuverlässig aus Einstellungen vorhersagen zu können. Ihrem Korrespondenzprinzip zufolge müssen sich die Maße für Einstellung und Verhalten zumindest in Bezug auf das Ziel- und Handlungselement, möglichst jedoch auch im Hinblick auf das Kontextund Zeitelement entsprechen, um das Verhalten einer Person relativ sicher vorhersagen zu können. Wie sich neben persönlichen Einstellungen auch soziale Einflüsse auf das Verhalten auswirken, haben Ajzen und Madden (1986) in der Theorie des geplanten Verhaltens erarbeitet. Ihr zufolge wirken sich neben der Einstellung gegenüber dem Verhalten auch die subjektive Norm und die wahrgenommene Verhaltenskontrolle auf die Verhaltensintention aus, welche wiederum den besten Prädikator für das Verhalten darstellt. Die subjektive Norm zeichnet sich zum einen durch die Erwartungen anderer im Hinblick auf das Verhalten aus, zum anderen durch die eigene Motivation, diesen Erwartungen gerecht zu werden. In der wahrgenommenen Verhaltenskontrolle drückt sich die Einschätzung der Person aus, wie einfach oder wie schwierig es ist, das entsprechende Verhalten auszuführen. Die wahrgenommene Verhaltenskontrolle, nicht zu verwechseln mit der tatsächlichen Verhaltenskontrolle, die sich schwer messen lässt, kann sich zum einen auf die Verhaltensintention auswirken, zum anderen aber auch das Verhalten direkt beeinflussen. Bei Einstellung und subjektiver Norm ist dies nicht der Fall. Dabei wirkt sich die wahrgenommene Verhaltenskontrolle umso günstiger aus, je eher die Person von ihren eigenen Möglichkeiten und Mitteln überzeugt ist: The more resources and opportunities individuals think they possess, and the fewer obstacles or impediments they anticipa-
2.2. Grundlagen der Einstellungs-, Werte- und Diffusionsforschung
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te, the greater should be their perceived control over the behavior. (Ajzen/Madden 1986: 457) Wie sehr Einstellung und Verhalten korrelieren, hängt außerdem von persönlichen Faktoren wie dem Self-Monitoring und der Selbstidentität ab. Personen mit niedrigem Self-Monitoring richten ihr Verhalten vorwiegend an ihren eigenen Gefühlen und Einstellungen aus. Hier besteht ein größerer Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten als bei Personen mit hohem Self-Monitoring, die ihr Verhalten eher an den Erwartungen anderer orientieren. Außerdem ist der Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten dann höher, wenn die Einstellung zu einem Verhalten untersucht wird, das für die Selbstidentität der Person von großer Bedeutung ist. Weitere Faktoren, die sich auf die Vorhersage von Verhalten auswirken können, sind die Salienz der Einstellung (das heißt, wie leicht sie im Gedächtnis zugänglich ist; leichter verfügbare Einstellungen sind in der Regel konsistenter mit dem Verhalten), vorangehende persönliche Erfahrungen mit dem Einstellungsobjekt (wer sich zuvor direkt mit dem Objekt beschäftigt hat, bei dem stimmen Einstellung und Verhalten eher überein), Gewohnheiten (diese können größeren Einfluss auf das Verhalten haben als Einstellungen), moralische Verpflichtungen und sozialer Druck. In Ergänzung zur Theorie des geplanten Handelns und den weiteren genannten Einflussfaktoren sei hier auf das MODE-Modell (Motivation and Opportunity as Determinants of Behavior) von Fazio (1990) verwiesen. Mit diesem ist auch die Erklärung von spontanem Verhalten möglich. Demnach ist ein Einfluss von Einstellungen auf Verhalten auch dann möglich, wenn keine Gelegenheit oder Motivation zur Abwägung, eine Handlung auszuführen, besteht. Auch hier ist ein größerer Effekt von leicht zugänglichen beziehungsweise starken Einstellungen zu erwarten. Der Bewertungsmaßstab gegenüber dem Einstellungsobjekt wird automatisch im Gedächtnis aktiviert und beeinflusst die unmittelbare Wahrnehmung sowie das Verhalten der Person. 2.2.6
Verlauf von Diffusionsprozessen
Auch Diffusionsprozesse bewirken Einstellungsänderungen, wobei mehrere der eben genannten Möglichkeiten zum Tragen kommen: So wird eine Person zunächst mit einer neuen Idee in Kontakt gebracht. Später wird sie womöglich von ihr nahestehenden Personen überzeugt, die Idee für sich zu übernehmen. Unter Diffusion wird der Prozess der Verbreitung einer
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2. Theoretische Grundlagen
als neu wahrgenommenen Idee verstanden. Rogers (2003: 5) definiert Diffusion als „the process in which an innovation is communicated through certain channels over time among the members of a social system“. Für diese Arbeit soll der Diffusionsbegriff dahingehend eingegrenzt werden, dass damit ausschließlich die nicht intendierte Verbreitung von Ideen gemeint ist, welche von den Rezeptoren als attraktiv wahrgenommen werden und deren Aneignung auf freiwilliger Basis erfolgt (vgl. Lauth/Pickel 2009: 42). Dieser Prozess verläuft diffus, also nicht zielgerichtet, über Ländergrenzen hinweg und durch Medien, Akteure oder Migration. Beim ersten Punkt ist an eine Verbreitung durch Massenmedien wie Zeitungen, Rundfunk oder das Internet gedacht. Der zweite bezieht sich auf Akteursnetzwerke, wobei es sich auch beispielsweise um internationale Organisationen handeln kann. Beim dritten Punkt gelangt die neue Idee über Migranten in das Land. Neben diesen drei Punkten ist Diffusion auch durch Sekundärsozialisation möglich (vgl. Lauth/Pickel 2009: 41), das heißt durch bildungsoder berufsbezogene Auslandsaufenthalte. Für die Analyse der hier vorliegenden Fragestellung ist vor allem der dritte Punkt, die Diffusion über Migration, relevant. So lässt sich damit aufzeigen, wie durch den Protestantismus geprägte Einstellungen und Werte über Diffusion in die Neue Welt gelangen konnten und wie sie durch diesen Prozess möglicherweise transformiert wurden. Die Diffusionsforschung untersucht, unter welchen Umständen Diffusionsprozesse erfolgreich verlaufen und sich nachhaltig auswirken. Dabei befasst sie sich auch mit den Schritten, die ein Individuum durchläuft, wenn es die neue Idee adaptiert: • Das Individuum erfährt erstmals von der Idee (Wissen) • Es entwickelt eine Einstellung gegenüber der Idee (Überzeugung) • Es entscheidet sich, die Idee zu adaptieren oder sie abzulehnen (Entscheidung) • Das Individuum eignet sich die Idee an und wendet sie an (Anwendung) • Es bestätigt für sich die Annahme der Idee oder verwirft sie (Bestätigung; vgl. Rogers 2003: 169) Untersucht wird also nicht nur die Kenntnis der Idee (kognitive Ebene), sondern auch ihre Akzeptanz (evaluative Ebene und Einstellungsänderung) sowie ihre Umsetzung (Verhaltensänderung; vgl. Lauth/Pickel 2009:
2.2. Grundlagen der Einstellungs-, Werte- und Diffusionsforschung
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40). Dabei ist nicht davon auszugehen, dass diese Schritte selbstverständlich aufeinander folgen. Es kann vielmehr an verschiedenen Stellen zu Kommunikationsverzerrungen kommen, zum Beispiel dann, wenn Informationen nicht exakt vermittelt werden, wenn Vorwissen fehlt oder wenn mangelnde Fähigkeiten zu Problemen bei der Handlungsumsetzung führen (vgl. Lauth/Pickel 2009: 42-43). Wenn das Individuum die Idee im Zuge ihrer Aneignung oder Anwendung verändert (was häufig vorkommt), wird von „re-invention“ (oder Synthese) gesprochen (vgl. Rogers 2003: 180). Je stärker die Idee verändert wird, desto schneller wird sie in der Regel angenommen und desto nachhaltiger sind ihre Wirkungen (vgl. Rogers 2003: 183). Bezogen auf die gesamte Gesellschaft, verläuft der Diffusionsprozess in fünf Phasen: 1. Die sogenannten Innovatoren, also risikobereite, technikaffine, kosmopolitisch vernetzte Personen, greifen die Idee erstmals auf und führen sie in ihrem Land ein. Diese Personen haben meist ein gutes Einkommen, das das finanzielle Risiko, eine unrentable Innovation zu übernehmen, abfedert. Sie genießen nicht unbedingt den Respekt anderer Gesellschaftsmitglieder, nehmen im Diffusionsprozess jedoch eine wichtige gatekeeping-Funktion ein. 2. Die „early adopters“ folgen ihnen. Hierunter finden sich viele lokal vernetzte Meinungsführer. Sie werden in der Regel von anderen Gesellschaftsmitgliedern respektiert und wissen, dass sie vernünftige, gut durchdachte Entscheidungen für Innovationen treffen müssen, um diesen Respekt aufrechtzuerhalten. 3. Nun adaptiert die „frühe Mehrheit“, die den Meinungsführern folgt, die Idee. In dieser Phase finden sich viele gut vernetzte Menschen, die jedoch nicht den Meinungsführern angehören. Viele wollen den Anschluss nicht verpassen und entscheiden sich daher, meist nach längerer Überlegungszeit, für die Innovation. In dieser Phase wird auch die Diffusionsschwelle überschritten, wodurch die gesellschaftliche Bedeutung der Innovation deutlich ansteigt. 4. Die „späte Mehrheit“ ist der Innovation gegenüber eher skeptisch und vorsichtig. Sie greift sie erst auf, wenn die meisten anderen Menschen in ihrer Umgebung sie bereits übernommen haben – oft aus finanzieller Notwendigkeit oder sozialem Druck heraus. Die Mitglieder dieser Gruppe haben meist ein geringes Einkommen.
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2. Theoretische Grundlagen
5. Zum Schluss kommen die „Nachzügler“, die viel Wert auf Tradition legen, wenig vernetzt sind (meist nur mit anderen Nachzüglern) und gegenüber Innovationen eher misstrauisch. Unter ihnen gibt es fast keine Meinungsführer. Ihre finanzielle Situation ist meist prekär (vgl. Rogers 2003: 282-285). Diffusionsforscher gehen davon aus, dass die Aneignung einer Idee in einer Gesellschaft einer Normalverteilung, bekannt als Gaußsche Glocke, entspricht (vgl. Rogers 2003: 272). Wird die Anzahl der Personen, die die Idee neu adaptieren und umsetzen, auf einem Zeitstrahl abgebildet, so entspricht der Kurvenverlauf also dem einer Glocke. Werden hingegen kumulativ die Anzahl der Personen, die die Idee bereits übernommen haben, abgebildet, so lässt sich ein S-förmiger Verlauf feststellen. Dies gilt selbstverständlich nur für erfolgreiche Diffusionsprozesse, und auch hier kann es Ausnahmen geben, etwa wenn die Innovation nur für einen bestimmten Teil der Bevölkerung relevant ist und entsprechend vor allem von diesem aufgegriffen wird. Damit Diffusionsprozesse erfolgreich verlaufen, müssen die Innovationen attraktiv sein, zum Beispiel normative Überzeugungskraft besitzen oder eine Gewinnerwartung mit sich bringen (vgl. Lauth/Pickel 2009: 4445). Auch ist es wahrscheinlicher, dass eine Innovation übernommen wird, wenn ähnliche Wertstrukturen gegeben sind, wenn also in dem Land, aus dem die Innovation stammt, vergleichbare Strukturen vorliegen wie in dem Land, in das die Innovation hin diffundiert (Theorem der Homophilie). Dadurch lässt sich zum Beispiel auch erklären, warum neue Ideen häufig in strukturell ähnlichen Nachbarländern (oder Bundesstaaten) angenommen werden (Nachbarschaftseffekte). Rogers (2003: 249) spricht hier von dem „relativen Vorteil“ beziehungsweise der „Kompatibilität“ einer Idee. Der relative Vorteil bezeichnet dabei den Grad, wonach Menschen eine neue Idee als besser als die ihr vorausgehende Vorstellung wahrnehmen. Je höher der wahrgenommene relative Vorteil, desto schneller wird die Idee in der Regel angenommen. Ähnliches gilt für die Kompatibilität einer Idee: Diese ist als hoch einzustufen, wenn potentielle Übernehmer einer Idee diese als übereinstimmend mit bestehenden Werten, vergangenen Erfahrungen und eigenen Bedürfnissen wahrnehmen. Ideen mit einer hohen Kompatibilität werden in der Regel schneller angenommen als andere. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist auch das Konzept von persönlichen Netzwerken von Bedeutung (Rogers 2003: 338). Ein solches Netzwerk besteht aus miteinander verbundenen Individuen, die sich durch den
2.2. Grundlagen der Einstellungs-, Werte- und Diffusionsforschung
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Kommunikationsfluss zu einem gegebenen Individuum auszeichnen. Jedes Individuum besitzt ein persönliches Netzwerk, bestehend aus den Individuen, mit denen es verbunden ist. Ein persönliches Netzwerk, in dem alle Individuen miteinander interagieren, kann man als ineinander greifend oder verzahnt bezeichnen. Es unterscheidet sich von sternförmigen persönlichen Netzwerken, in denen die einzelnen Individuen zwar mit dem Individuum im Zentrum verbunden sind, aber nicht untereinander interagieren. Solche sternförmigen Netzwerke sind offener und ermöglichen dem Individuum einen größeren Informationsaustausch mit seiner Umgebung. Auch spielen sie in Diffusionsprozessen eine wichtigere Rolle, weil ihre Verbindungen über wiederum andere Verbindungen schließlich zum gesamten System hinausreichen. Hier wäre wichtig zu überprüfen, ob die vielen kleinen, hochreligiösen Gruppen, die die amerikanische religiöse Landschaft prägten, möglicherweise eher zu den ineinander greifenden, nach außen tendenziell abgeschlossenen Netzwerken zählten. Dies könnte eine Begründung dafür sein, dass sich manche Ideen, wie etwa die Vorstellung der Unfehlbarkeit der Bibel, dort über Jahrhunderte hinweg besser halten konnten als beispielsweise in Deutschland. Hierauf wird im Unterpunkt 3.5.2.2.2 noch genauer eingegangen. Zusammenfassung In diesem Unterkapitel stehen die Grundlagen der Einstellungs-, Werte- und Diffusionsforschung im Vordergrund. Dabei werden zunächst Einstellungen – als Bewertung eines bestimmten Einstellungsobjektes durch eine Person – und Werte – als allgemeine Vorstellungen vom Wünschenswerten – definiert. Anschließend geht es um drei Komponenten von Einstellungen: Dabei beschreibt die affektive Komponente die Gefühle, die kognitive Komponente die Überzeugungen, Meinungen und Kenntnisse einer Person in Bezug auf das Einstellungsobjekt. Die verhaltensbezogene Komponente umfasst Informationen, die die Person aus ihrem eigenen Verhalten hinsichtlich des Einstellungsobjektes ableitet. Weiter geht es um die Valenz (also die Wertigkeit als positiv oder negativ) und die Stärke (messbar zum Beispiel an der Reaktionszeit) von Einstellungen. Die vier wesentlichen Funktionen von Einstellungen (instrumentelle Funktion oder Anpassungsfunktion, IchVerteidigungsfunktion, Wertausdrucksfunktion, Wissensfunktion) werden erläutert. Danach wird erklärt, wie Einstellungen durch implizite oder explizite Maße gemessen werden können, wobei Letztere noch in ein- und mehrdimensionale Verfahren unterschieden werden können. In diesem Zusammenhang wird auch dargelegt, dass in dieser Arbeit mit der Likert-Einstellungsskala vor allem ein ex-
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2. Theoretische Grundlagen
plizites, eindimensionales Maß zur Anwendung kommt. Hier können Befragte auf einer Skala mit in der Regel fünf Ausprägungen wählen, ob sie einer Aussage „voll und ganz zustimmen“, ihr „eher zustimmen“, etc. Anschließend wird erörtert, wie Einstellungen sich ändern können. Grundsätzlich kann dies auf drei Arten geschehen: Menschen können in direkten Kontakt mit dem Einstellungsobjekt gebracht werden. Auf diese Weise können neue Erfahrungen Einstellungsänderungen bewirken. Zweitens können Verhaltensanreize geschaffen werden, die eine Änderung des Verhaltens und dadurch auch eine Anpassung der Einstellung gegenüber dem Verhalten bewirken können. Die dritte Möglichkeit der Einstellungsänderung geschieht durch Persuasion, also durch Argumente. Weiter wird erklärt, inwiefern beziehungsweise unter welchen Bedingungen sich Einstellungen auf das Verhalten auswirken. Schließlich wird erläutert, in welchen einzelnen Schritten Diffusionsprozesse verlaufen, wie sich also als neu wahrgenommene Ideen über Ländergrenzen hinweg durch Medien, Akteure oder Migration verbreiten. Dabei geht es auch um die einzelnen Schritte, mit denen die Ideen von einzelnen Individuen beziehungsweise der Gesellschaft nach und nach entweder angenommen, transformiert oder verworfen werden können. 2.3
Analyse von Einstellungen und Werten in der politischen Kulturforschung
Nachdem im vorangehenden Unterkapitel unter anderem erläutert wurde, was Einstellungen und Werte sind, wie sie gemessen werden können und wie sie sich ändern, soll nun kurz skizziert werden, wie Daten zu Einstellungen und Werten in der politischen Kulturforschung genutzt beziehungsweise ausgewertet werden. Danach werden zwei Konzepte dieses Forschungsbereichs vorgestellt, die später für die Erklärung der Ergebnisse dieser Arbeit relevant sind: die Wertewandeltheorie von Ronald Inglehart (1977) und das Konzept des Sozialkapitals von Robert Putnam (2000). Wie bereits in der Einleitung erläutert, wird Kultur in der politischen Kulturforschung als „die Gesamtheit der Werte und Glaubensüberzeugungen der Bürger und ihrer Einstellungen zu – und Vorstellungen von – den politischen Institutionen, den politischen Vorgängen und der Staatstätigkeit“ (Schmidt 2010: 619) definiert. Entsprechend befasst sich die politische Kulturforschung mit den Einstellungen der Bürger zu ihrem politischen System, untersucht zum Beispiel Einstellungen gegenüber Parlamenten, Parteien, dem Bundesverfassungsgericht oder auch bestimmten Inhalten der Verfassung. Von dieser Definition von politischer Kultur wird politische Teilhabe oder auch politisches Verhalten ausdrücklich nicht erfasst.
2.3. Analyse von Einstellungen und Werten in der politischen Kulturforschung
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Im Mittelpunkt stehen ausschließlich Einstellungen und Wertorientierungen. Untersucht werden in der politischen Kulturforschung somit die Verbindungen (beziehungsweise die Interaktionen) zwischen der Bevölkerung und dem Staat, oder auch zwischen Kultur und Struktur (vgl. Pickel/Pickel 2006: 18). Es geht um die Frage, wie sich individuelle Einstellungen auf die nationale (zum Beispiel politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale) Entwicklung auswirken. Die politische Kulturforschung verfolgt dabei vor allem das Ziel, zu erklären, unter welchen Umständen politische Systeme stabil bleiben (beziehungsweise voraussichtlich stabil bleiben werden) und unter welchen Bedingungen die Stabilität möglicherweise nicht dauerhaft erhalten bleiben kann. Dabei ist eine wesentliche Annahme, dass es für die Stabilität einer Demokratie von entscheidender Bedeutung ist, ob sie von der Bevölkerung mitgetragen und akzeptiert wird (vgl. zum Beispiel Almond/Verba 1989a). Für ihre empirischen Untersuchungen greift die politische Kulturforschung auf Umfragedaten zurück, zum Beispiel auf den World Values Survey, das International Social Survey Programme oder auch die Eurobarometer. Während die letztgenannte in den Mitgliedsstaaten der EU erhoben wird, ermöglichen die ersten beiden Studien auch Vergleiche zwischen Ländern verschiedener Kontinente. Im International Social Survey Programme wird die Bevölkerung von derzeit 45 Ländern zu verschiedenen, im Abstand von mehreren Jahren wiederkehrenden Themenschwerpunkten befragt, zum Beispiel Religion, soziale Ungleichheit, nationale Identität, Umwelt, Familie, Regierung etc. Der World Values Survey, der inzwischen in fast 100 Ländern durchgeführt wird und damit fast 90 Prozent der Weltbevölkerung abdeckt, sollte erst vor allem dazu dienen, Wertorientierungen in modernen beziehungsweise postmodernen Gesellschaften zu erforschen. Dabei sollte der im folgenden Unterpunkt 2.3.1 ausführlich erklärte Wertewandel - eine Theorie von Ronald Inglehart (1977), die einen grundlegenden Wandel von materialistischen zu postmaterialistischen Werten beschreibt - herausgestellt werden. Inzwischen werden auch vermehrt Fragen zum politischen System, beispielsweise zur Bewertung der Demokratie, gestellt. Da in den International Social Survey Programmes und in den World Values Surveys neben Fragen zum politischen System unter anderem auch Fragen zum Wirtschaftssystem sowie zu den Themen Beruf und Arbeit, Kirche und Religion gestellt werden, sind sie gut geeignet, um zu untersuchen, wie sich der Protestantismus auf Einstellungen zur Arbeit, zum
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2. Theoretische Grundlagen
Kapitalismus, zu (politischen und religiösen) Institutionen sowie zur Demokratie ausgewirkt haben könnte. 2.3.1
Wertewandeltheorie von Ronald Inglehart
Für die Erklärung der Änderung von Werten im Laufe der Geschichte ist die Wertewandeltheorie von Ronald Inglehart (1977) von zentraler Bedeutung. Inglehart geht davon aus, dass es in modernen Gesellschaften einen Wandel von materialistischen hin zu postmaterialistischen Werten gibt, der mit der nationalen wirtschaftlichen Entwicklung (beziehungsweise einem ausreichend guten Wirtschaftswachstum) und dem damit einhergehenden individuellen Sicherheitsempfinden verbunden ist. Zu den materialistischen Werten zählt Inglehart zum Beispiel Leistungsorientierung, harte Arbeit, Ordnung, wirtschaftliche und physische Sicherheit, ökonomische Effizienz, bürokratische Autorität, wissenschaftliche Rationalität, Gehorsam und Disziplin, zu den postmaterialistischen etwa Selbstverwirklichung, Kreativität, Freizeit, Lebensqualität, Vielfalt, individuelle Unabhängigkeit und Wohlbefinden. Ingleharts Theorie zufolge sind materialistische Werte entscheidend für den Übergang von traditionellen zu industriellen Gesellschaften. Später jedoch, wenn Gesellschaften ausreichend Wohlstand erworben haben und nicht mehr von Mangel gekennzeichnet sind, treten postmaterialistische Werte in den Vordergrund. Auf Leistung ausgerichtete Werte werden von diesen neuen Werten nach und nach überlagert. Dieser Wandel wirkt sich auf politische Einstellungen aus, betrifft darüber hinaus aber auch andere Bereiche, zum Beispiel Einstellungen gegenüber Beruf und Arbeit, Religion, Familie oder Umwelt. Ehe dieser Wandel genauer erläutert wird, soll zunächst ein Blick darauf geworfen werden, welche Werte traditionelle Gesellschaften kennzeichnen. In agrarischen Gesellschaften steht die Grundlage der Produktion, Land, nur in begrenztem Umfang zur Verfügung (vgl. Inglehart 1997: 71). Soziale Mobilität kann nur erfolgen, wenn ein Individuum oder eine Gruppe das Land eines anderen einnimmt. Um den sozialen Frieden zu erhalten, versuchen fast alle traditionellen Gesellschaften, sozialen Aufstieg und die Akkumulation von Kapital zu verhindern. Sie integrieren die Gesellschaft dadurch, dass sie die bestehende Sozialordnung legitimieren. Sozialer Status ist erblich. Traditionelle Gesellschaften fördern Werte wie Teilen, Wohlfahrt und andere Verpflichtungen, die helfen, die Härten eines Lebens unter solchen Bedingungen zu mildern. Am Übergang von präindustriellen zu industriellen Gesellschaften wurden nun eine Reihe von Normen, die typisch für präindustrielle Gesell-
2.3. Analyse von Einstellungen und Werten in der politischen Kulturforschung
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schaften waren und die ökonomische Leistung unterbanden (zum Beispiel die Verhinderung der Akkumulation von Kapital), mit Werten ersetzt, die wirtschaftliche Leistung förderten (vgl. Inglehart 1997: 70). Fortan waren ökonomische Akkumulation erwünscht und soziale Mobilität akzeptabel, ja sogar erstrebenswert. Das Aufkommen dieses materialistischen Wertesystems bedeutete einen wichtigen kulturellen Wandel, der den Weg für Kapitalismus und Industrialisierung frei machte (vgl. Inglehart 1997: 31). Die Rolle, die der Protestantismus dabei spielte, wird in Kapitel 2.4.1 und 3.5.1 ausführlich erläutert. Welche Werte genau zu den materialistischen oder postmaterialistischen Werten gehören, wird in Tabelle 1 dargestellt. Tabelle 1: Werte in präindustriellen, industriellen und postindustriellen Gesellschaften Gesellschaftsform
Werte
Präindustrielle Gesellschaften Industrielle Gesellschaften
Teilen, Wohlfahrt Materialistische Werte: Ordnung, wirtschaftliche und physische Sicherheit, ökonomische Effizienz, bürokratische Autorität, wissenschaftliche Rationalität, Gehorsam, Disziplin, Wirtschaftswachstum, Leistungsmotivation Postmaterialistische Werte: Freizeit, Selbstentfaltung, Kreativität, Lebensqualität, Vielfalt, individuelle Unabhängigkeit und Wohlbefinden
Postindustrielle Gesellschaften
Quelle: Eigene Gegenüberstellung auf Grundlage von Inglehart (1997: 70-71)
Später, wenn Gesellschaften bereits viel Wohlstand erwirtschaftet haben und das Überleben der Bevölkerung als gesichert gilt, treten gemäß der Wertewandel-Theorie postmaterialistische Werte in den Vordergrund. Maßgeblich dafür, ob jemand eher materialistische oder postmaterialistische Werte vertritt, sind Inglehart zufolge Wohlstand und materielle Sicherheit zu der Zeit, in der er aufwächst. Der Wandel vollzieht sich somit über Generationen hinweg. Nach dieser Theorie vertreten ältere Menschen, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind, eher materialistische Werte, jüngere hingegen eher postmaterialistische. Auch tritt diese Verschiebung von materialistischen zu postmaterialistischen Werten nicht ausschließlich in westlichen Ländern, sondern überall dort in Erscheinung, wo in den zurückliegenden Jahrzehnten ein ausreichend ho-
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2. Theoretische Grundlagen
hes Wirtschaftswachstum vorlag, sodass jüngere Generationen während ihres Aufwachsens ein erheblich höheres Sicherheitsniveau erlebten als ältere (vgl. Inglehart 1997: 158). In Gesellschaften, die die Industrialisierung noch nicht durchlaufen haben, gibt es hingegen kaum Unterschiede zwischen den Werten von Jüngeren und Älteren. Klages (1985: 18), der zum Wertewandel in Deutschland forscht, spricht in diesem Zusammenhang nicht von materialistischen und postmaterialistischen Werten, sondern von Pflicht- und Akzeptanzwerten beziehungsweise von Selbstentfaltungswerten. Dabei ordnet er Gehorsam und Disziplin den Pflicht- und Akzeptanzwerten zu, während Kreativität und Selbstverwirklichung bei den Selbstentfaltungswerten angesiedelt sind. Welche weiteren Werte er jeweils zu den beiden Kategorien zählt, wird in der Übersicht in Tabelle 2 dargestellt. Klages (1988: 57-58) zufolge kam es im Zusammenhang mit dem Wertewandel bei den genannten Werten zu einer Rangplatzverschiebung. Das heißt, dass die Pflicht- und Akzeptanzwerte keinesfalls ganz an Bedeutung verloren, jedoch von einer vorherigen durchschnittlich hohen Bewertung auf eine mittlere Bewertung sanken. Umgekehrt stieg die Bewertung der Selbstentfaltungswerte von vorher überwiegend niedrigen Bewertungen auf mittlere Bewertungen an. Im Gegensatz zu Inglehart geht Klages somit nicht davon aus, dass die neuere Wertegruppe die ältere ersetzt, sondern nur, dass sich das Maß an Bedeutung für die einzelnen Gruppen ändert. 2.3.2
Konzept des Sozialkapitals von Robert Putnam
Ebenfalls von Bedeutung für die Analyse der Wirkungen des Protestantismus ist das Konzept des Sozialkapitals von Putnam (2000: 18), wonach soziale Netzwerke äußerst wertvoll sind: „the core idea of social capital theory is that social networks have value.“ (Putnam 2000: 19). Demzufolge beeinflussen soziale Kontakte die Produktivität von Individuen und Gruppen. Sozialkapital bezieht sich auf Kontakte zwischen Individuen, also auf soziale Netzwerke und die Regeln der Gegenseitigkeit und Vertrauenswürdigkeit, die daraus entstehen. Innerhalb des Konzeptes von Sozialkapital wird zwischen „bonding“ und „bridging social capital“ (Putnam 2000: 22) unterschieden. Während ersteres auf die Kontakte innerhalb von Gruppen verweist, bezieht sich das letztere auf Kontakte zwischen Gruppen. Als Beispiele für bonding social capital können etwa Burschenschaften, Frauenlesegruppen in einer Kirche oder Country Clubs gelten. Für bridging social capital führt Putnam das Civil Rights Movement, Jugendgruppen oder ökumenische religiöse
2.3. Analyse von Einstellungen und Werten in der politischen Kulturforschung
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Tabelle 2: Pflicht – und Akzeptanzwerte sowie Selbstentfaltungswerte bei Klages Pflicht- und Akzeptanzwerte Bezug auf die Gesellschaft
Gesellschaftsbezogener Idealismus • Disziplin • Gehorsam • Pflichterfüllung • Treue • Unterordnung • Fleiß • Bescheidenheit
Bezug auf das individuelle Selbst
Selbstentfaltungswerte
• Emanzipation (von Autoritäten) • Gleichbehandlung • Gleichheit • Demokratie • Partizipation • Autonomie (des Einzelnen) Hedonismus
• Selbstbeherrschung • Pünktlichkeit • Anpassungsbereitschaft • Fügsamkeit • Enthaltsamkeit
• Genuss • Abenteuer • Spannung • Abwechslung • Ausleben emotionaler Bedürfnisse Individualismus • Kreativität • Spontaneität • Selbstverwirklichung • Ungebundenheit • Eigenständigkeit
Quelle: Klages (1985: 18)
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2. Theoretische Grundlagen
Organisationen als mögliche Beispiele an. Ihm zufolge ist bonding social capital gut, um gegenseitige Solidarität etwa durch soziale oder psychologische Unterstützung von Mitgliedern der gleichen ethnischen Gruppe zu fördern. Bridging social capital ist hingegen besser geeignet, um zum Beispiel Informationen zu verbreiten oder vielleicht um einen Job zu suchen. Für Inglehart (1997: 188) besteht Sozialkapital aus einer Kultur von Vertrauen und Toleranz, in der ausgedehnte Netzwerke von Freiwilligenverbänden entstehen. Diese Gruppen bieten ihren Mitgliedern sowohl Kontakte als auch Informationsflüsse, die wiederum eine Kultur des Vertrauens und der Kooperation stärken. Das Konzept des Sozialkapitals wird später helfen, die Funktion von Religion in den Untersuchungsländern in der Vergangenheit sowie Gegenwart herauszustellen. Dann wird auch genauer dargestellt, wie Sozialkapital und Religion zusammenhängen können. Zusammenfassung In diesem Unterkapitel geht es zunächst darum, wie Daten zu Einstellungen und Werten in der politischen Kulturforschung genutzt beziehungsweise ausgewertet werden. Kultur wird dabei als die Gesamtheit der Werte, Glaubensüberzeugungen und Einstellungen der Bürger gegenüber ihrem politischen System definiert. Untersucht werden also die Verbindungen zwischen Bevölkerung und Staat, beziehungsweise zwischen Kultur und Struktur. Die politische Kulturforschung greift für ihre empirischen Untersuchungen auf Umfragedaten wie den World Values Survey, das International Social Survey Programme sowie die Eurobarometer zurück. Die ersten beiden Studien ermöglichen Vergleiche zwischen den USA und Deutschland und werden daher in dieser Arbeit zur Auswertung herangezogen. Da sie neben Fragen zum politischen System auch Fragen zum Wirtschaftssystem und zu den Aspekten Arbeit und Beruf sowie Kirche und Religion stellen, sind World Values Survey und International Social Survey Programme gut geeignet, um zu analysieren, wie sich Protestantismus auf Einstellungen zur Arbeit, zum Kapitalismus, zur Demokratie sowie zu politischen und religiösen Institutionen ausgewirkt haben könnte. Anschließend werden zwei wichtige Konzepte der politischen Kulturforschung vorgestellt, die später für die Erklärung der Ergebnisse von Relevanz sind: die Wertewandeltheorie von Ronald Inglehart (1977) und das Konzept des Sozialkapitals von Robert Putnam (2000). Die Wertewandeltheorie ist für die Erklärung der Änderung von Werten im Laufe der Geschichte von zentraler Bedeutung. Ihr zufolge gibt es in modernen Gesellschaften einen Wandel von materialistischen Werten (zum Beispiel Leistungsorientierung, harte Arbeit, Ordnung) hin zu postma-
2.4. Einstellungen und Wertorientierungen im Protestantismus
41
terialistischen Werten (zum Beispiel Selbstentfaltung, Kreativität, Freizeit). Während materialistische Werte entscheidend für den Übergang von traditionellen zu industriellen Gesellschaften sind, treten postmaterialistische Werte dann in den Vordergrund, wenn Gesellschaften bereits ausreichend Wohlstand erworben haben und nicht mehr von Mangel gekennzeichnet sind. Nach dem Konzept des Sozialkapitals von Putnam (2000) beeinflussen soziale Kontakte die Produktivität von Individuen und Gruppen. Sozialkapital bezieht sich auf soziale Netzwerke und die daraus entstehenden Regeln der Gegenseitigkeit und Vertrauenswürdigkeit. Innerhalb des Konzeptes wird zwischen „bonding“ und „bridging social capital“ unterschieden. Ersteres bezieht sich auf Kontakte innerhalb von Gruppen, letzteres auf Kontakte zwischen Gruppen.
2.4
Einstellungen und Wertorientierungen im Protestantismus – theoretische und konzeptionelle Überlegungen
Wie bereits in der Einleitung ausgeführt, werden die Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen und Wertorientierungen in dieser Arbeit ausgehend von zwei Punkten untersucht. Der erste ist das durch die Reformation geprägte neue Berufsbild und der damit verbundene Bedeutungsgewinn der Arbeit. Der zweite Punkt beinhaltet die durch den Protestantismus hervorgerufenen Individualisierungsprozesse sowie die individualisierte Beziehung zu Gott. Hier werden die Theorien vorgestellt, die diesen beiden Punkten zugrunde liegen: die These von Max Weber (2016) zum Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus sowie das Konzept der Individualisierung von Ulrich Beck (1986). 2.4.1
Protestantische (Arbeits-)Ethik: Max Webers These zum Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus
Erster Ausgangspunkt der Analyse ist die im Zuge der Wittenberger Reformation entstandene neue Berufsvorstellung. Martin Luther prägte ein Berufsbild, wonach jeder Mensch in jedem weltlichen Beruf und in jedem sozialen Stand das Seelenheil erreichen kann. Der Begriff der vocatio (Berufung) galt nun nicht mehr nur für Mönche und Kleriker, sondern für alle Tätigkeiten. An die Stelle des vormals geltenden Ideals der mönchischen Askese trat die aktive Askese (vgl. Pickel 2011: 97). Die Arbeit im jeweils gegebenen Beruf war das einzige Mittel, um Gott wohlgefällig zu leben (vgl. Weber 2016: 64). Mit diesem neuen Berufsverständnis war auch die
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2. Theoretische Grundlagen
Vorstellung einer Verpflichtung verbunden, die im Beruf gestellten Aufgaben verantwortungsvoll auszuführen. Weltliche Arbeit wurde zugleich als Gottesdienst und Dienst am Nächsten verstanden. Damit gewann sie an religiöser Anerkennung und an Bedeutung. Um zu untersuchen, wie sich dieses neue Berufsbild und der Bedeutungsgewinn der Arbeit auf heutige Einstellungen und Werte auswirkten, soll hier zunächst auf Max Webers Studien Bezug genommen werden. Anfang des 20. Jahrhunderts untersuchte der Nationalökonom die Wirkungen des Protestantismus auf das ökonomische Verhalten und auf mit Leistungsorientierung verbundene Werte. Unter anderem in seinen Aufsätzen „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ (2016) und „Die protestantischen Sekten und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ (1988) weist Weber auf die Zusammenhänge zwischen Protestantismus, Rationalismus, Kapitalismus und Modernisierung hin. Seine These ist, dass die protestantische Ethik bei ihren Anhängern – er bezieht dies vor allem auf Calvinisten, Pietisten, Methodisten und die aus dem Täufertum hervorgegangenen Gruppen, zum Beispiel Baptisten, Mennoniten und Quäker (vgl. Weber 2016: 77) – zu einer von Fleiß, Leistungsbereitschaft, Sparsamkeit und Selbstverpflichtung geprägten rationalisierten Lebensweise führte, die das Aufkommen des Kapitalismus begünstigte. Der Protestantismus ist dabei nicht ursächlich für den Kapitalismus; vielmehr stehen beide in einer „Wahlverwandtschaft“ (Weber 2016: 75) zueinander. In seiner Untersuchung geht Weber zunächst auf Luthers Berufsbild ein. Wie bereits erwähnt, wird Arbeit im gegebenen Beruf dort vorwiegend als Pflicht verstanden. Diese Vorstellung einer Verpflichtung steht für Weber in direktem Zusammenhang mit der Entstehung des Kapitalismus: In der Tat: jener eigentümliche, uns heute so geläufige und in Wahrheit doch so wenig selbstverständliche Gedanke der Berufspflicht, einer Verpflichtung, die der Einzelne empfinden soll und empfindet gegenüber dem Inhalt seiner „beruflichen“ Tätigkeit, gleichviel worin sie besteht (. . . ) – dieser Gedanke ist es, welcher der „Sozialethik“ der kapitalistischen Kultur charakteristisch, ja in gewissem Sinne für sie von konstitutiver Bedeutung ist. (Weber 2016: 43, Hervorhebungen im Original) Dabei ergänzt Weber, dass dieser Gedanke der Berufspflicht nicht ausschließlich „auf dem Boden des Kapitalismus gewachsen“ (Weber 2016: 43) sei. Auch geht er nicht davon aus, dass die Aneignung der protestantischen Ethik für Arbeiter und Unternehmer zum Zeitpunkt der Entstehung
2.4. Einstellungen und Wertorientierungen im Protestantismus
43
seines Werkes noch erforderlich sei, damit die Vorstellung einer solchen Berufspflicht weiter existieren könne. Bevor die damals beobachtbare, zum Kapitalismus passende Art der Lebensgestaltung und Berufsvorstellung sich gegenüber anderen Formen durchsetzen konnte, musste sie jedoch erst entstehen. Dies ist Weber zufolge „nicht in einzelnen isolierten Individuen, sondern als eine Anschauungsweise, die von Menschengruppen getragen wurde“ (Weber 2016: 44, Hervorhebungen im Original), geschehen - eben jenen oben genannten protestantischen Strömungen und Gruppen. Weber erläutert, dass in dem Wort „Beruf“ (und womöglich noch deutlicher im englischen Wort „calling“) „eine religiöse Vorstellung – die einer von Gott gestellten Aufgabe – wenigstens mitklingt“ (Weber 2016: 59, Hervorhebungen im Original). Er erklärt, dass es den Begriff in seiner Bedeutung als „Lebensstellung“ beziehungsweise „Begrenztes Aufgabengebiet“ lediglich bei protestantischen Völkern gibt, nicht jedoch bei katholischen. Weber weist außerdem darauf hin, dass der Begriff aus den Bibelübersetzungen stammt und sich dabei von der Arbeit der Übersetzer – nicht vom Originaltext – ableitet, so wie auch die Idee an sich aus der Reformationszeit stammt. Im Begriff „Beruf“ kommt ihm zufolge somit ein „Zentraldogma“ der protestantischen Denominationen zum Ausdruck, wonach die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten das einzige Mittel ist, Gott wohlgefällig zu leben (vgl. Weber 2016: 59-64). Luthers Berufsbild mit der Vorstellung einer Berufspflicht ist Weber zufolge jedoch nicht ausreichend, um die wirtschaftlichen Entwicklungen in protestantischen Ländern zu erklären (Weber 2016: 72). Daher zieht er auch die Prädestinationslehre (oder die Lehre von der Gnadenwahl), die im Calvinismus eine zentrale Bedeutung hat, zur Erklärung heran. Diese besagt, dass von Anbeginn an feststeht, welcher Mensch erwählt ist und das Heil erlangen wird und welcher nicht. Für Gläubige war daher die Frage, ob sie selbst zu den Erwählten zählen und ob es äußere Merkmale dafür gibt, dass sie erwählt sind, von großer Bedeutung. Als Mittel, sich selbst des Gnadenstandes zu versichern, empfahlen Seelsorger – neben der Zurückweisung jeglicher Glaubenszweifel – „rastlose Berufsarbeit“ (Weber 2016: 94). So entstand die Vorstellung innerweltlicher Askese: Beruflicher Erfolg und die damit verbundene Anhäufung von Kapital wurden als Zeichen von Erwähltheit angesehen. Anhänger der Gnadenwahllehre entwickelten infolgedessen eine rationalisierte, systematische Lebensgestaltung. Dies unterschied sie, wie Weber betont, deutlich von den Lutheranern: „Dem Luthertum fehlt eben, und zwar infolge seiner Gnadenlehre, der psychologische Antrieb zum Systematischen in der Lebensführung, der ihre methodische Rationalisierung erzwingt.“ (Weber 2016: 110)
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2. Theoretische Grundlagen
Entsprechend unterscheidet sich auch das Berufsbild bei Lutheranern und Anhängern des Calvinismus, wie etwa den Puritanern. Während der Beruf im Luthertum mit der Vorstellung einer Schickung verbunden war, in die Gläubige sich fügen sollten, galt er im Calvinismus eher als Befehl Gottes, seinen Ruhm auf Erden zu mehren (vgl. Weber 2016: 149). Damit ging eine rationale und methodische Auffassung von Arbeit einher: Nicht Arbeit an sich, sondern rationale Berufsarbeit ist eben das von Gott verlangte. Auf diesem methodischen Charakter der Berufsaskese liegt bei der puritanischen Berufsidee stets der Nachdruck, nicht, wie bei Luther, auf dem Sichbescheiden mit dem einmal von Gott zugemessenen Los. (Weber 2016: 150-151) So war es bei den Puritanern – anders als im Luthertum – sowohl möglich, mehrere Berufe zu haben, als auch, den Beruf zu wechseln. Gläubige mussten nicht in dem einmal ergriffenen beziehungsweise gegebenen Beruf verbleiben, und beim Wechsel des Berufes durfte (neben Sittlichkeit und dem Nutzen für die Gemeinschaft) auch der Aspekt der Wirtschaftlichkeit oder „Profitlichkeit“ (Weber 2016: 151) eine Rolle spielen. Das puritanische Ideal der rastlosen, systematischen Berufsarbeit hat nun, verbunden mit der asketischen, sparsamen Lebensführung, zur Bildung von Kapital geführt, das dann wiederum als Anlagekapital zur Verfügung stand (Weber 2016: 165-166). Somit wurde der Aufbau einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung sowohl durch die protestantische Arbeitsethik als auch durch den damit verbundenen Erwerb von Kapital begünstigt. Neben den Unterschieden in der Gnadenwahllehre und beim Berufsbild geht Weber auch auf strukturelle Verschiedenheiten zwischen den genannten Strömungen ein. So hebt er etwa die Unterschiede zwischen lutherischer oder calvinistischer Kirche und der „believers‘ church“ der Baptisten, Mennoniten und Quäker hervor. Während die Kirchen den Charakter einer Anstalt haben, wo die Zugehörigkeit obligatorisch ist, und daher „notwendig Gerechte und Ungerechte“ (Weber 2016: 132) umfassen, handelt es sich bei den letztgenannten Gruppen ausschließlich um Gemeinschaften von persönlich Gläubigen und Wiedergeborenen, von „religiös-ethisch Qualifizierte[n]“ (Weber 1988: 211). Hier wird nur aufgenommen, wer sich einer Prüfung unterzieht und durch einen tadellosen Lebenswandel bereits bewährt hat. Zugleich konnte der Ausschluss aus der religiösen Gemeinschaft das Ende der sozialen Existenz bedeuten, zum Beispiel weil damit auch der Verlust der Kreditwürdigkeit einherging (vgl. Weber 1988: 211212). Somit hatten die Gruppen eine äußerst hohe disziplinierende Wirkung auf ihre Mitglieder. Sie achteten darauf, dass alle Gläubigen die mit
2.4. Einstellungen und Wertorientierungen im Protestantismus
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der protestantischen Arbeitsethik verbundenen Werte nicht nur beim Eintritt in die Gruppe verinnerlichten, sondern auch pflegten (vgl. Weber 1988: 234). Diese strukturellen Unterschiede werden auch in dieser Arbeit besonders beachtet. So wird untersucht, ob sich bestimmte Ideen und Wertvorstellungen in den beschriebenen kleinen protestantischen Gruppen, die die amerikanische Entwicklung prägten, möglicherweise besser halten konnten als in der deutschen evangelischen Kirche (beziehungsweise den Landeskirchen), die bis zur Weimarer Republik Staatskirche war und bis heute staatskirchliche Elemente aufweist. Darauf wird in Unterkapitel 3.2.1 genauer eingegangen. 2.4.2
Protestantismus als Anstoß für Individualisierungsprozesse: Das Konzept der Individualisierung von Ulrich Beck
Die Individualisierung und die individualisierte Beziehung zu Gott bilden den zweiten Ausgangspunkt der Analyse. Mit der Reformation erhielt die individuelle Glaubenserkenntnis, die aus der Bibellektüre entsteht, entscheidendes Gewicht (vgl. Graf 2006: 70). Nicht die „Heilsanstalt“ der Kirche, sondern das gläubige Individuum stand fortan im Mittelpunkt. Die Beziehung zu Gott wurde nicht länger durch die Kirche oder Priester vermittelt, sondern individualisiert. Diese Vorstellung war unter anderem im Puritanismus von großer Bedeutung. Damit verbunden war auch eine Institutionenkritik: Die Fremdbeherrschung durch die Kirche wurde abgelöst durch eine Innerlichkeit, die sich ausschließlich an der Bibel orientierte. In der Auseinandersetzung mit Gottes Wort sowie mit der eigenen Sündhaftigkeit und dem Wunsch nach Erlösung und Heil waren Protestanten ihrem Gewissen verpflichtet und stark auf sich selbst verwiesen. Dies brachte eine „Kultur individualisierter religiöser Reflexivität“ (Graf 2006: 76) zutage, die in dieser Form in katholischen Gegenden nicht vorkam. Dass die Reformation religiös begründete Individualisierungsprozesse begünstigte, zeigt sich bis heute im Vergleich mit katholisch geprägten Lebenswelten, die noch immer stärker auf Institutionen und die Gemeinschaft hin ausgerichtet sind (vgl. Graf 2006: 75). Um die Wirkungen der Reformation in Richtung Individualisierung aufzeigen zu können, wird hier zunächst das Konzept der Individualisierung von Ulrich Beck (1986) vorgestellt. Ihm zufolge gibt es in der Moderne einen Gesellschaftswandel, der Menschen aus den Sozialformen der industriellen Gesellschaft wie Klasse, Schicht, Stand, Familie, Herkunft, Stamm und Religion löst. Damit gelten die traditionalen Kategorien von Groß-
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2. Theoretische Grundlagen
gruppengesellschaften nicht mehr. Der mit Modernisierung und Urbanisierung verbundene Prozess verläuft ähnlich wie in der Reformation, wo Menschen aus der Herrschaft der Kirche in die Gesellschaft „entlassen“ wurden (vgl. Beck 1986: 115). Die Herauslösung aus traditionalen Bindungen („Freisetzungsdimension“) geht einher mit einem Verlust an Sicherheiten in Bezug auf Glauben, leitende Normen und Handlungswissen („Entzauberungsdimension“) sowie mit einer neuen Form der sozialen Einbindung („Kontroll- beziehungsweise Reintegrationsdimension“), und zwar in den Arbeitsmarkt und die Konsumexistenz. Für die einzelnen Individuen ist dieser Prozess mit einer zunehmenden Selbstbestimmung verbunden. In ihrer Entscheidungsfindung sind sie verstärkt auf sich gestellt und weniger abhängig von Autoritäten oder sozialen Strukturen. Individuelle Entscheidungen werden somit wichtiger. Postmaterialistischen Werten wie der Selbstverwirklichung wird mehr Bedeutung beigemessen. Während die Abhängigkeit von Traditionen, Kollektiven und Autoritäten sinkt, steigt zugleich die Abhängigkeit von Institutionen wie dem Wohlfahrtsstaat, aber auch dem Bildungssystem, dem Arbeitsmarkt, den Massenmedien, dem Kapitalismus etc. (vgl. Beck/BeckGernsheim 2002: 3) Individualisierung kann hier nicht als Folge einer freien Entscheidung verstanden werden, sondern vielmehr als eine Verpflichtung: Individualization is a compulsion, albeit a paradoxical one, to create, to stage manage, not only one’s own biography but the bonds and networks surrounding it and to do this amid changing preferences and at successive stages of life, while constantly adapting to the conditions of the labour market, the education system, the welfare state and so on. (Beck/Beck-Gernsheim 2002: 5) Auch wenn Individualisierung mit höherer Selbstbestimmung einhergeht, wäre es somit zu kurz gegriffen, sie mit Unabhängigkeit, Emanzipation oder Freiheit gleichzusetzen. Die neuen Formen von Abhängigkeiten und die damit verbundenen Vorgaben und Regeln müssen vielmehr ebenfalls berücksichtigt werden. Der Individualisierungsprozess bringt vor allem für Frauen weitreichende Folgen mit sich. Ihre Herauslösung aus der Eheversorgung und Einbindung in den Arbeitsmarkt führen zu neuen Familienbildern und -formen. Beck (1986: 208) spricht in diesem Zusammenhang von „Verhandlungsfamilie auf Zeit“. Dabei stellt er heraus, dass mögliche Unterstützungsmaß-
2.4. Einstellungen und Wertorientierungen im Protestantismus
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nahmen des Wohlfahrtsstaats in der Regel auf Individuen, nicht auf Familien, ausgelegt sind, und somit zusätzlich eher gegen den Familienzusammenhalt wirken (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 2002: 4). Becks Überlegungen könnten in dieser Arbeit unterstützend zeigen, wie sich mit dem Protestantismus verbundene Individualisierungsprozesse bis heute auf Werte wie Selbstverwirklichung, Phantasie, Unabhängigkeit etc. sowie auf Einstellungen zum Beispiel gegenüber staatlichen oder kirchlichen Institutionen ausgewirkt haben. Zusammenfassung In diesem Unterkapitel werden die These von Max Weber (2016) zum Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus sowie das Konzept der Individualisierung von Ulrich Beck (1986) dargelegt. Beide können dabei helfen, zu überlegen, wie sich Protestantismus von den zwei Ausgangspunkten der Analyse – neues Berufsbild und Bedeutungsgewinn der Arbeit sowie Individualisierung und individualisierte Beziehung zu Gott – auf heutige Einstellungen und Wertorientierungen ausgewirkt haben könnte. Mit dem neuen Berufsbild ist dabei Martin Luthers Berufsbild gemeint, demzufolge jeder Mensch in jedem weltlichen Beruf und in jedem sozialen Stand das Seelenheil erreichen kann. Mit diesem neuen Berufsverständnis war auch die Vorstellung einer Verpflichtung verbunden, die im Beruf gestellten Aufgaben verantwortungsvoll auszuführen. Weltliche Arbeit gewann an Bedeutung. Um zu überlegen, wie sich dieses Berufsbild auf Einstellungen ausgewirkt haben könnte, wurde auf Max Webers (2016) Aufsatz „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ Bezug genommen, in dem er auf die Zusammenhänge zwischen Protestantismus, Kapitalismus, Rationalismus und Modernisierung hinweist. Webers These ist, dass die protestantische Ethik bei ihren Anhängern zu einer von Fleiß, Leistungsbereitschaft, Sparsamkeit und Selbstverpflichtung geprägten rationalisierten Lebensweise führte, die das Aufkommen des Kapitalismus begünstigte. Mit der Reformation erhielt die individuelle Glaubenserkenntnis, die aus der Bibellektüre entsteht, entscheidendes Gewicht. Fortan stand das gläubige Individuum im Mittelpunkt, nicht (mehr) die Kirche. Damit verbunden ist auch eine Institutionenkritik, da die Fremdbeherrschung durch die Kirche abgelehnt wurde. Um Effekte der Reformation in Richtung Individualisierung aufzeigen zu können, ist das gleichnamige Konzept von Ulrich Beck (1986) von Bedeutung. Demnach gibt es in der Moderne einen Gesellschaftswandel, der Menschen aus den Sozialformen der industriellen Gesellschaften wie Klasse, Schicht, Stand, Familie etc. löst. Für die einzelnen Individuen ist dieser Prozess mit einer zunehmenden
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2. Theoretische Grundlagen
Selbstbestimmung verbunden. Postmaterialistischen Werten wie der Selbstverwirklichung wird mehr Bedeutung beigemessen. Insofern könnten Becks Überlegungen unterstützend zeigen, wie sich Individualisierungsprozesse auf Werte wie Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit sowie auf Einstellungen gegenüber Institutionen ausgewirkt haben.
3
Empirische Analyse
In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der empirischen Analyse dargelegt. Dabei werden zunächst die Methoden und das Design der Untersuchung vorgestellt. Anschließend werden die Ausgangsbedingungen in den USA und in Deutschland (zum Beispiel Verhältnis von Kirche und Staat, religiöse Landschaften) dargestellt. Im Anschluss wird gezeigt, wie protestantische Werte durch Diffusion von Europa in die USA gelangen konnten. Ein weiteres Unterkapitel beschäftigt sich mit den Wertesystemen in den USA und in Deutschland sowie mit der Unterscheidung von liberalen und konservativen Werten. Danach werden die Ergebnisse der Analyse der Umfragedaten, ausgehend von den beiden Ausgangspunkten der Untersuchung – neues Berufsbild und Bedeutungsgewinn der Arbeit sowie Individualisierung und individualisierte Beziehung zu Gott – dargelegt. Anschließend geht es um Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion, ehe im letzten Unterkapitel die Ergebnisse verglichen und interpretiert werden.7 3.1
Methoden und Design der Untersuchung
In dieser Arbeit werden die Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen anhand eines Most-Different-System-Designs untersucht. Diesem Design liegt die Idee zugrunde, dass die Systeme in den einzelnen Untersuchungsländern sehr unterschiedlich, die Ergebnisse, also zum Beispiel die Einstellungsstrukturen, jedoch ähnlich sind (vgl. Ebbinghaus 2009: 204). Dies basiert auf der Annahme, dass die Ausgangssituationen in den USA und in Deutschland zwar sehr verschieden waren, etwa was die historische Entwicklung, die gesellschaftlichen Strukturen und das StaatKirche-Verhältnis anbelangt, die Wirkungen des Protestantismus auf heuti7 Ein
Teil der hier aufgeführte Ergebnisse wurde im Rahmen der Dokumentation des Kongresses „Kulturelle Wirkungen der Reformation“ bereits publiziert (vgl. Schneider 2018).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Schneider, Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen und Wertorientierungen, Politische Kultur in den neuen Demokratien Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30654-0_3
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3. Empirische Analyse
ge Einstellungen jedoch ähnlich sind. Somit sollten sich bis heute ähnliche Einstellungsstrukturen in beiden Ländern nachweisen lassen. Was die Anwendung quantitativer beziehungsweise qualitativer Forschungsmethoden angeht, erfolgt eine Kombination von Ansätzen in Form eines Mixed-Method-Designs. Dabei wird die Fragestellung zuerst anhand von internationalen Umfragedaten (zum Beispiel World Values Survey, International Social Survey Programme) mit Hilfe statistischer Verfahren beantwortet. Dies erfolgt durch den analytischen Vergleich von Häufigkeiten sowie durch Faktoren- und Regressionsanalysen8 . Außerdem werden Struktur- und historische Daten ausgewertet, zum Beispiel Einwanderungsdaten und historische religiöse Statistiken. Die Ergebnisse werden anschließend in Experteninterviews von Mark Valeri, Professor für Religion und Politik an der Washington University in St. Louis, Missouri, und Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, interpretiert. Wie bereits im Unterkapitel 2.2.6 erläutert, ist für diese Arbeit die Annahme zentral, dass protestantische Werte durch Diffusion über Migration von Europa in die USA gelangten. Diffusionsprozesse erfolgen über einen längeren Zeitraum und sind durch kulturelle Entwicklungen bedingt. Beides führt dazu, dass sie sich nicht so leicht nachzeichnen beziehungsweise empirisch überprüfen lassen (vgl. Lauth/Pickel 2009: 52). Hinzu kommt, dass internationale Umfragedaten zu Einstellungen und Werten erst seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts vorliegen. Eine Zeitreihenanalyse, die zum Beispiel die Diffusion protestantischer Werte in die USA über den Verlauf ihrer Geschichte hinweg nachzeichnen könnte, ist daher anhand von Umfragedaten nicht möglich. Alternativ kann der Diffusionsprozess jedoch über den systematischen Ländervergleich nachgezeichnet werden. Dabei nimmt man an, dass sich die protestantischen Werte, die sich im Zuge der Reformation erst innerhalb Deutschlands und Europas verbreiteten und später durch Migration in die USA diffundierten, bis heute in den Einstellungs- und Wertstrukturen beider Länder wiederfinden lassen. Durch den Vergleich der heutigen Einstellungsstrukturen kann man somit auf den zurückliegenden Diffusionsprozess schließen. Dies ist das Vorgehen in dieser Arbeit. Andere (historische) Einflussfaktoren auf Einstellungen und Werte, wie zum Beispiel die Aufklärung, zu kontrollieren, ist auch aufgrund der genannten Gründe, die eine Zeitreihenanalyse ausschließen, schwierig. Eine indirekte Kontrolle ist jedoch über das Most-Different-System-Design 8 Eine
Einführung in diese Methode ist zum Beispiel zu finden in: Schnell et al. (2014: 445).
3.1. Methoden und Design der Untersuchung
51
möglich. Wenn trotz zahlreicher verschiedener potenzieller Einflussfaktoren ein ähnliches Ergebnis in beiden Ländern vorliegt, also zum Beispiel ähnliche Werthaltungen, kann man von einem Effekt durch Diffusion ausgehen (vgl. Lauth/Pickel 2009: 68-69). Grundlage dieser Analyse sind lange verankerte Werte in den Untersuchungsländern und wie sie mit Ausbreitung des Protestantismus von Deutschland (eventuell über andere europäische Länder) in die Neue Welt gelangen konnten. Ergänzt werden sollte hier jedoch, dass heute auch weitere Kommunikationswege für Diffusion, zum Beispiel Medien, bestehen. Diese waren im Verlauf der Geschichte nicht so zentral, beeinflussen heute aber auch die Ergebnisse und können so die Interpretation erschweren. Zusammenfassung In diesem Unterkapitel stehen die angewandten Forschungsmethoden sowie das Design der Untersuchung im Vordergrund. Da mit einem Most-DifferentSystem-Design gearbeitet wird, wird zunächst kurz erläutert, was dies genau bedeutet. Was die Anwendung quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden angeht, erfolgt eine Kombination von Ansätzen in Form eines gleichwertigen Mixed-Method-Designs. Dabei werden zunächst internationale Umfragedaten (zum Beispiel World Values Survey, International Social Survey Programme) anhand verschiedener statistischer Methoden (beispielsweise analytischer Vergleich von Häufigkeiten, Faktoren- und Regressionsanalysen) ausgewertet. Zudem werden Struktur- und historische Daten (zum Beispiel Einwanderungsdaten der USA oder historische religiöse Statistiken) ausgewertet. Die Ergebnisse werden anschließend in Experteninterviews von Mark Valeri, Professor für Religion und Politik an der Washington University in St. Louis, Missouri, und Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, interpretiert. Wie genau die protestantischen Werte durch Diffusion über Migration von Europa in die USA gelangen konnten, lässt sich mangels erforderlicher Daten nicht über eine Zeitreihenanalyse nachzeichnen (internationale Umfragedaten liegen erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts vor). Alternativ kann der Diffusionsprozess jedoch über den systematischen Ländervergleich dargelegt werden. Dabei geht man davon aus, dass sich die protestantischen Werte, die sich zuerst in Deutschland und Europa verbreiteten und später in die USA diffundierten, bis heute in den Einstellungs- und Wertstrukturen beider Untersuchungsländer wiederfinden lassen. Der Vergleich der heutigen Einstellungsstrukturen ermöglicht somit Rückschlüsse auf den zurückliegenden Diffusionsprozess.
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3. Empirische Analyse
3.2
Ausgangsbedingungen in den USA und in Deutschland im Vergleich
In diesem Kapitel sollen die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in den beiden Untersuchungsländern vorgestellt werden. Dabei wird zunächst beleuchtet, wie sich die Reformation auf die Beziehungen von Kirche und Staat auswirkte und wie sich dieses Verhältnis heute gestaltet. Anschließend wird erläutert, welche verschiedenen religiösen Landschaften sich unter den jeweiligen Bedingungen entwickelt haben. Für die Beantwortung der Forschungsfrage, wie sich Protestantismus auf Einstellungen und Werte ausgewirkt hat, liefert dieses Kapitel vorwiegend Hintergrundwissen, auf das bei der späteren Darlegung der Untersuchungsergebnisse Bezug genommen wird. 3.2.1
Beziehungen von Kirche und Staat
In der Neuen Welt hatte die Reformation einen direkten Effekt auf das Verhältnis von Kirche und Staat, wenngleich er mit einer wesentlichen zeitlichen Verzögerung eintrat: 1789 wurde die Trennung von Kirche und Staat in der Verfassung der gerade gegründeten USA verankert.9 Kirchen waren somit als Freikirchen – im Sinne von vom Staat unabhängigen Kir9 Hierzu
sollte ergänzt werden, dass es zu Beginn der amerikanischen Geschichte auch dort Staatskirchen gab und die völlige Trennung erst später mit der Unabhängigkeit erreicht wurde. So waren zum Beispiel in der Massachusetts Bay Colony Religion und Regierung eng verbunden. Alle Bürger mussten Kirchensteuern für den Puritanismus zahlen (vgl. Tietz 2012: 35). Es war Aufgabe der Regierung, für die Einhaltung der zehn Gebote zu sorgen. Andersgläubige durften sich nicht niederlassen. Der Theologe Roger Williams, der sich für Religionsfreiheit und eine Trennung von Staat und Kirche aussprach, wurde aus Massachusetts verbannt. Er gründete daraufhin Providence, das spätere Rhode Island, und die erste baptistische Gemeinde Amerikas. In Rhode Island verwirklichte er seine Vorstellungen von religiöser Toleranz, Demokratie und einer Trennung von Staat und Kirche. Williams prägte das Bild einer „wall of seperation“, auf das sich später viele Politiker, unter anderem US-Präsident Thomas Jefferson, bezogen (vgl. Tietz 2012: 36). Vor Beginn des Unabhängigkeitskrieges war in den meisten Staaten Neuenglands eine Kirche etabliert: In Massachussetts, New Hamphire und Connecticut der Puritanismus, in Virginia, North Carolina, South Carolina, Georgia und Maryland die anglikanische Kirche, in New York verschiedene Konfessionen. Lediglich in Pennsylvania, Delaware, Rhode Island und New Jersey war keine bestimmte Konfession etabliert (vgl. Tietz 2012: 39-40). Doch auch in Staaten ohne etablierte Kirche, zum Beispiel in Pennsylvania, hatte die Regierung die Aufgabe, gegen religiöse Vergehen vorzugehen. Zudem gab es auch dort verschiedene Formen von Kirchensteuern (zum Beispiel für protestantische Konfessionen in New York). Nach der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung 1776 beendeten Virginia, North Carolina, Georgia und New York die Etablierung der anglikanischen Kirche (vgl. Tietz 2012: 41).
3.2. Ausgangsbedingungen in den USA und in Deutschland im Vergleich
53
chen – organisiert. Die Mitgliedschaft war freiwillig. Die Trennung bewirkte, dass sich in den einzelnen Staaten der USA Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen niederlassen konnten. So kamen die Siedler prinzipiell häufiger mit Angehörigen anderer Bekenntnisse in Kontakt. Dieser Pluralismus kann Offenheit fördern, aber auch dazu führen, dass sich Menschen stärker mit ihrer eigenen Religionsgemeinschaft identifizieren und innerhalb ihres Netzwerkes relativ geschlossene Kommunikationszusammenhänge bilden (vgl. Pollack 2009: 39-40). Eine solche Abschottung lässt sich tatsächlich für viele Gruppen bis heute beobachten. Diese relativ geschlossenen protestantischen Milieus (vgl. Pollack 2018: 260, Zeile 87) könnten dazu beigetragen haben, dass sich manche Ideen bis heute in den USA besser halten konnten als in Deutschland. Hierauf wird in Kapitel 3.7 noch genauer eingegangen. Diese strikte Trennung von Staat und Kirche gilt in den USA bis heute. Es gibt keinen Steuereinzug für Kirchen, keine staatliche finanzielle Unterstützung und keinen Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Jedoch stehen das Trennungsgebot und die Garantie der Religionsfreiheit in einem Spannungsverhältnis zueinander, und so zeugen zahlreiche Urteile des Supreme Courts von einer gewissen Ambivalenz hinsichtlich der Trennung. Sie führten teilweise zu der Einschätzung, dass sich das US-amerikanische Staat-Kirche-Modell dem (unten näher erläuterten) Modell der kooperativen Trennung, das in Deutschland gilt, mit der Zeit angenähert habe (vgl. Liedhegener 2006: 68). In Deutschland brachte die Reformation zwar einige Änderungen für das Verhältnis von Staat und Kirche mit sich. Eine Trennung beider Sphären bewirkte sie jedoch nicht. Stattdessen setzte sich zuletzt das Konzept einer Volkskirche durch (vgl. Wallmann 2000: 61-62). Zunächst jedoch wurde das Prinzip des landesherrlichen Kirchenregiments verankert, wodurch der Landesfürst auch Leiter der jeweiligen Landeskirche war. Die Territorien waren somit Staatskirchentümer. Mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 wurde das Prinzip cuius regio, eius religio (wessen Gebiet, dessen Religion) eingeführt. Demnach entschied sich der Landesherr für eine Konfession. Für die Bürger galt hingegen keine Religionsfreiheit. AndersIn der US-amerikanischen Verfassung von 1787 finden sich nur wenige Bezüge zur Religion. Das Verhältnis von Staat und Kirche wird dort nicht explizit geregelt. Der Verfassungskonvent ging damals davon aus, dass diese Fragen bereits auf Ebene der Einzelstaaten gelöst seien (vgl. Tietz 2012: 45). Allerdings misstrauten viele Staaten der Zusicherung der Verfassungsväter, dass die Bundesregierung sich nicht in einzelstaatliche Rechte und Freiheiten (zum Beispiel die Religionsfreiheit) einmischen wolle und könne. Sie forderten eine zusätzliche Bill of Rights, die in Form von Verfassungszusätzen ergänzt werden sollte. Die Trennung von Staat und Kirche wurde dann 1789 im First Amendment verankert.
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3. Empirische Analyse
gläubige hatten lediglich das Recht, auszuwandern. So kam es, dass sich in den meisten Territorien lange Zeit fast nur Angehörige einer bestimmten Konfession gegenüberstanden (vgl. Liedhegener 2006: 46). Kontakte mit Angehörigen anderer Bekenntnisse waren selten. In Deutschland wurde das Staatskirchentum erst 1919 beendet. Das zu dieser Zeit eingeführte Modell ist zwischen einer völligen Trennung und einem Staatskirchenmodell angesiedelt. Es beruht auf Religionsfreiheit und weltanschaulicher Neutralität des Staates. Religionsgemeinschaften bestehen neben dem Staat als Körperschaften öffentlichen Rechts. Bei einigen Feldern gibt es Verschränkungen mit dem Staat, zum Beispiel bei der Bildung, beim Kirchensteuereinzug und in der Militärseelsorge. Dieses Modell, das häufig als „kooperative Trennung“ (Liedhegener 2006: 65) bezeichnet wird, gilt bis heute. Es ist weltweit einzigartig. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg kam es auch in Deutschland zur Durchmischung der Regionen mit den verschiedenen Konfessionen, sodass zu einem gewissen Grad von einer „Nivellierung der konfessionellen Differenzen“ (Pollack 2018: 260, Zeile 86) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesprochen werden kann. Hierauf wird ebenfalls später noch genauer eingegangen. 3.2.2
Religiöse Landschaften heute
Unter den unterschiedlichen Staat-Kirche-Verhältnissen haben sich verschiedene religiöse Landschaften entwickelt. In den USA haben sich sehr viele unterschiedliche protestantische Kirchen und Gruppen etabliert (siehe Abbildung 2). Heute gehören etwa 15 Prozent der Bevölkerung zu einer der mainline churches (zum Beispiel Presbyterianer, Methodisten, Kongregationalisten, Episcopalians etc.), circa 25 Prozent sind evangelikale Protestanten und etwa sieben Prozent gehören zu den Historically Black Protestant. Anhänger der mainline churches gelten als theologisch und politisch eher liberal, Evangelikale als konservativ. Etwa 21 Prozent der Bevölkerung sind katholisch, weniger als ein Prozent sind orthodox, etwa sechs Prozent gehören nicht-christlichen Religionsgemeinschaften an (vgl. Pew Research Center 2018). Während hier eine Kategorisierung in „mainline“ oder evangelikal vorgenommen wurde, erweist es sich tatsächlich als schwierig, in Bezug auf die Religionsgemeinschaften klare Grenzen zu ziehen, da viele Evangelikale formal mainline churches angehören. In Deutschland gehört bis heute die Mehrheit der Protestanten einer der lutherischen, reformierten oder unierten Landeskirchen an (circa 26 Prozent der Bevölkerung; vgl. Evangelische Kirche in Deutschland 2018: 5).
3.2. Ausgangsbedingungen in den USA und in Deutschland im Vergleich
Abbildung 2: Religiöse Landschaft in den USA heute Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des Pew Research Center (2018)
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3. Empirische Analyse
Nur etwa zwei Prozent sind Mitglied einer Freikirche oder einer kleinen religiösen Gruppe. Etwa ein bis drei Prozent der Bevölkerung sind Evangelikale. Diese sind hier jedoch nicht als separate Gruppe zu sehen, da viele von ihnen einer Landeskirche angehören; andere sind in Freikirchen organisiert. Circa 29 Prozent sind Katholiken, etwa zwei Prozent orthodox (vgl. REMID 2018) und etwa fünf Prozent gehören nicht-christlichen Glaubensgemeinschaften an (siehe Abbildung 3).
Abbildung 3: Religiöse Landschaft in Deutschland heute Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von REMID (2018)
3.2. Ausgangsbedingungen in den USA und in Deutschland im Vergleich
57
Nach dieser knappen Darlegung der aktuellen Mitgliederzahlen soll nun noch einmal genauer auf den Protestantismus in beiden Ländern eingegangen werden. Zu Beginn dieser Arbeit wurde bereits die ProtestantismusDefinition von Graf (2006: 18) genannt, wonach all diejenigen christlichen Gruppen, die weder katholisch noch orthodox sind, dem Protestantismus zuzuordnen sind. Um die Vielfalt des amerikanischen Protestantismus nachvollziehen zu können, soll hier ebenfalls zitiert werden, was Marty (2004) darunter versteht. Ihm zufolge umfasst der Begriff „Protestantismus“ mindestens drei verschiedene Phänomene, zu denen zunächst alle protestantischen Kirchen und Gruppen gehören. Diese lassen sich wiederum in vier verschiedene Cluster einteilen (vgl. Marty 2004: 10-13): 1. Die kolonialen „big three“: • Die Anglikaner der südlichen Kolonien (heute Episcopalians) • Die New England Congregationalists der nördlichen Kolonien, Erben des Puritanismus, die heute auch zu den Vorfahren der United Church of Christ gehören • Die vor allem aus den mittleren Kolonien hervorgegangenen Presbyterianer 2. Gruppen, die, obwohl sie ursprünglich zu den Dissentern gehörten, später viel Erfolg an der Grenze hatten, als die Amerikaner nach Westen zogen: • Die Baptisten • Die Methodisten 3. Erben der europäischen kontinentalen Migranten, die nicht Englisch sprachen: • Die deutschen und niederländischen Reformierten • Die Lutheraner aus Skandinavien oder Deutschland • Anabaptisten, Mennoniten, Amische, Church of the Brethen u.a. 4. Pfingstgemeinden und andere charismatische Gruppen Das zweite Phänomen des Protestantismus sind für Marty (2004:12) Individuen, die sich weder einer spezifischen protestantischen noch einer anderen protestantischen oder nicht-protestantischen Gruppe zugehörig fühlen, aber auch nicht als nicht-religiös oder „ohne Präferenz“ in Umfragen
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3. Empirische Analyse
ausgeben. Sie werden von amerikanischen Sozialwissenschaftlern automatisch unter „Protestanten“ gefasst. Das dritte Phänomen ist eine protestantische Kultur. Diese ist Marty zufolge schwer zu definieren beziehungsweise zu fassen. The third, a Protestant culture, is more complex, elusive, hard to define or point to. In economics, this culture is the „Protestant ethic.“ In politics, it has to do with the Protestant character of the American Enlightenment among „founders“ who shaped the legal fabric. Among poets and writers, artists and musicians, it is part of a theme devoted to the Bible, to “grace,” to “works of love and justice.” (Marty 2004: 13) Im deutschen Protestantismus gibt es im Gegensatz zum amerikanischen viel weniger Diversität. Gemessen an den Mitgliederzahlen spielen Freikirchen oder andere kleinere religiöse Gruppen im Verhältnis zu den Landeskirchen wie oben dargestellt eine eher geringe Rolle. Die 20 Landeskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) können in sechs Gruppen unterteilt werden (vgl. Evangelische Kirche in Deutschland 2018): 1. Mitgliedskirchen der Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (UEK; hierzu gehören Lippe, Westfalen, Rheinland, Kurhessen-Waldeck, Hessen und Nassau, Pfalz, Baden, Anhalt, Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz) 2. Gliedkirchen der Vereinigten evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD; hierzu gehören Bayern, Braunschweig, Hannover, Sachsen, Schaumburg-Lippe) 3. Gastkirchen der VELKD und UEK (Oldenburg, Württemberg) 4. VELKD-Gliedkirche und Gaststatus in der UEK (Nordkirche) 5. Glied- und Mitgliedskirche von VELKD und UEK (Mitteldeutschland) 6. Rein reformierte Landeskirche (die Evangelisch-Reformierte Kirche) Unterschiede zwischen den religiösen Landschaften in den USA und Deutschland bestehen nicht nur hinsichtlich der Vielzahl der Gruppen, sondern auch in Bezug darauf, was die Menschen darunter verstehen.
3.2. Ausgangsbedingungen in den USA und in Deutschland im Vergleich
59
So werden in den USA alle Religionsgemeinschaften meist zusammenfassend als denominations (Denominationen) bezeichnet. Während viele Menschen in Deutschland in den Landeskirchen staatsnahe Großorganisationen sehen, nehmen Amerikaner die denominations eher als zivilgesellschaftliche Religionsvereine wahr, in denen Menschen sich freiwillig zusammenschließen (vgl. Graf 2006: 30). Ein bedeutender Unterschied zwischen den beiden Ländern ist auch, dass in den USA die Religiosität in kleinen Gruppen, also nicht in Großkirchen, traditionell die wichtigste Form der Religiosität ausmacht (vgl. Franzmann et al. 2006: 18). Dies kann sich auch auf den Transfer der Ideen auswirken: In hochreligiösen Gruppen wird großer Wert auf die Vermittlung religiösen Wissens gelegt. Es ist möglich, dass sich manche Ideen in einem solchen Umfeld besser halten konnten. Mit der Vorstellung des freiwilligen Zusammenschlusses in den amerikanischen Gemeinden ist auch der Begriff des Kongregationalismus (beziehungsweise im Englischen congregationalism) verbunden, der sich auf ein System individueller, freiwillig gegründeter und sich versammelnder Gemeinden bezieht, das typisch für den amerikanischen Protestantismus war. Dieses System steht im Gegensatz zu einem parochialen System mit geographisch definierten Gemeinden, denen Menschen aufgrund ihres Wohnortes zugeordnet werden. Innerhalb der USA besteht ein solches (parochiales) System für die römisch-katholische Kirche. Auch in Deutschland gehören Kirchenmitglieder in der Regel entsprechend ihrem Wohnort einer bestimmten Kirchengemeinde an. 3.2.2.1 Begriffsdefinitionen Evangelikalismus und Fundamentalismus Um den starken Einfluss des Evangelikalismus in den USA besser verstehen zu können, soll der Begriff hier zunächst genauer erklärt werden. Einen Vorschlag für eine Definition von evangelikal gibt beispielsweise Hochgeschwender (2007:23-24): Evangelikalismus ist ein Gattungsbegriff, der eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Phänomene beschreiben kann: Das Wort selber stammt vom englischen evangelical und meinte vordergründig nichts anderes als das deutsche evangelisch, also eine an der Autorität des Evangeliums ausgerichtete christliche Frömmigkeit. In diesem Sinne sind sowohl die Spiritualität eines Franz von Assisi als auch die lutherische, calvinistische oder radikale und anabaptistische Reformation evangelisch. Im Lauf des 17., 18. und 19. Jahrhunderts hat sich freilich
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3. Empirische Analyse
der Begriffsinhalt von evangelikal erkennbar verschoben. Gerade im US-amerikanischen, aber auch im britischen und deutschen Zusammenhang bezeichnete man damit zunehmend Erweckungsbewegungen, die innerhalb des etablierten Protestantismus darum bemüht waren, die innerliche Beziehung zu Jesus Christus als den messianischen, endzeitlichen Retter und Erlöser in den Vordergrund ihres Glaubenslebens zu stellen. Für Deutschland und Skandinavien müsste man beispielsweise den Pietismus als evangelikale Erweckungsbewegung bezeichnen, in Großbritannien wäre unter anderem der Methodismus betroffen. Dabei spielte in all diesen Bewegungen und religiösen Gemeinschaften durchweg die Bibel als Heilige Offenbarungsschrift eine herausragende Rolle, ohne daß Evangelikalismus und Fundamentalismus auf dieser Ebene notwendig zusammengefallen wären. Evangelikalismus wäre demnach weder von vornherein fundamentalistisch noch konservativ und schon gar nicht antimodern, sondern in erster Linie eine auf individuelle, verinnerlichte Glaubenserfahrung angelegte, stark emotional bestimmte religiöse Lebensweise, die gleichwohl theologisch-spekulative Reflexion nicht ausschließt. Der in den USA (im Vergleich zu Deutschland) starke Fundamentalismus ist dabei – wie oben erläutert – nicht gleichbedeutend mit evangelikal und wird von Hochgeschwender (2007: 22–23) wie folgt definiert: Dabei bietet es sich zum einen an, aus religionstypologischer Sicht Fundamentalismus als einen vorrangig an der Unfehlbarkeit der Offenbarungsschriften interessierten Typus von Religiosität zu verstehen, der für sich in Anspruch nimmt, diese Offenbarungsschriften wortwörtlich (literal) auszulegen. Dies bedeutet nun nicht, daß die fundamentalistische Lektüre heiliger Texte tatsächlich rein literal wäre. Ganz im Gegenteil wird man davon ausgehen müssen, daß der Anspruch der Literalexegese oft genug nichts anderes ist als die Hinwendung zu einer schlecht oder gar nicht reflektierten Tradition dessen, was ich eben als Tradition der Traditionslosigkeit bezeichnet habe. Die präzise Funktion dieses verabsolutierten Primats der Literalexegese muß nämlich stets im historischen Kontext bestimmt werden. Mit Hilfe eines solchen religionstypologischen Zugriffs ist es möglich, einen Begriff von Fundamentalismus zu
3.2. Ausgangsbedingungen in den USA und in Deutschland im Vergleich
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entwickeln, der es uns erlaubt, diesen Typus religionsübergreifend und vergleichend zu verwenden, ohne sofort wertend zu verfahren. Riesebrodt (2001: 54) definiert Fundamentalismus als einen Typ religiöser Revitalisierungsbewegungen, der sich von den utopischen Revitalisierungsbewegungen unterscheidet. Er schreibt: Der fundamentalistische Typ hingegen ist gekennzeichnet durch die Idealisierung patriarchalischer Autorität als gottgewollter Norm. Er betont patriarchalische Unterordnung und Verantwortung sowie strikte Durchsetzung einer patriarchalischen Sozial- und Sexualmoral. Ungerechtigkeit gilt es als gottgewollt hinzunehmen in Erwartung eines künftigen Ausgleichs im Jenseits. Damit ist auch das Geschichtsbild des Fundamentalismus tendenziell an Endzeiterwartungen orientiert. Die ideale Ordnung wird in der Regel durch göttlichen Eingriff realisiert, nicht durch menschliches Handeln. Er ist damit weitaus pessimistischer gegenüber der Vervollkommnungsmöglichkeit des Menschen eingestellt als der utopische Entwurf. (Riesebrodt 2001: 54-55) 3.2.2.2 Trends in der religiösen Landschaft der USA Ein wesentlicher Trend des religiösen Lebens in den USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, dass liberale mainline churches eher an Bedeutung verloren, während konservative evangelikale Gemeinschaften tendenziell Mitglieder gewannen (vgl. zum Beispiel Putnam 2000: 76). Finke und Stark (2005: 3) sehen darin sogar einen Trend, der bis zur Gründung der USA 1776 zurückverfolgt werden kann. Innerhalb des gesamten US-amerikanischen Protestantismus konnten die Gewinne der Evangelikalen die Verluste der mainline churches seit den 1960er Jahren jedoch nicht kompensieren. In jüngster Vergangenheit scheint sich dieser Trend auch zu wandeln: Erhebungen aus dem Zeitraum zwischen 2007 und 2014 zeigen, dass auch Evangelikale mittlerweile von rückläufigen Mitgliederzahlen betroffen sind (vgl. Pew Research Center 2015: 3). Die Mitgliederverluste der mainline churches, die teilweise auf Konversionen, teilweise auf Austritte zurückgehen, sind in etwa so hoch wie die Verluste der katholischen Kirche in den USA (vgl. Putnam 2012: 147). Beide konnten weniger von hohen Geburten- und Immigrationsraten profitieren als beispielsweise Evangelikale. Diese profitierten zumindest während der
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3. Empirische Analyse
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von höheren Kinderzahlen, was ihnen dabei half, ihren Anteil am religiösen Spektrum in den USA insgesamt zu erhöhen. Gleichzeitig gewannen sie mehr Mitglieder durch Konversionen als Katholiken und mainline-Protestanten. Diese neuen Mitglieder kamen vor allem aus dem konservativen politischen Spektrum. Allerdings scheint diese Entwicklung nur bis in die 1990er Jahre angehalten zu haben. Eine wesentliche Veränderung der amerikanischen religiösen Landschaft in den vergangenen Jahrzehnten zeigt sich auch darin, dass eine Polarisierung der Menschen entlang religiöser Linien stattgefunden hat (vgl. Putnam 2012: 3). In diesem Zusammenhang fällt häufig der Begriff culture wars (Hunter 1991). Damit ist gemeint, dass sich einerseits Hochreligiöse, andererseits offen säkulare Menschen an den beiden Seiten des religiösen Spektrums sammeln, während die moderate Mitte immer kleiner wird. Die Spannungen verlaufen also nicht mehr wie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als die mainline Strömungen sehr stark waren, zwischen religiösen Gruppen wie Protestanten, Katholiken und Juden (vgl. Herberg 1960). Aktuell verlaufen sie eher zwischen Hochreligiösen und Nichtreligiösen unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Rhys Williams (1997: 5) beschreibt dies wie folgt: The older divisions of Protestant, Catholic, and Jew have been cross-cut by a liberal-conservative divide running through all three groups. Where religions and denominational identity, largely articulated in terms of doctrine, theology, and religious practices, had been the focus of conflict, now issues of ideology and culture cross-cut identity divisions. As a result, conservative Protestants, for example, now have more in common with conservative Catholics and Jews than they do with liberal Protestants. Hinzu kam, dass diese religiöse Dimension sich mehr und mehr auch am konventionellen politischen Spektrum (links/rechts beziehungsweise Demokraten/Republikaner) ausrichtet und so den sogenannten God gap schafft. Politische und religiöse Spaltungen bestärken einander somit gegenseitig, anstatt sich wechselseitig abzuschwächen (vgl. Putnam 2012: 82). Auch Hochgeschwender (2006: 26-27) hält fest, dass Pfingstler und Charismatiker zwar weder politisch noch theologisch auf eine bestimmte Parteilinie festgelegt sind, dass jedoch ein Trend hin zum Konservatismus erkennbar sei. Ähnliches gelte auch für Fundamentalisten. Dass sich – wie im Unterpunkt 2.4.1 beschrieben – Menschen in Amerika gemäß dem „voluntary principle“ freiwillig in religiösen Gemeinschaften
3.2. Ausgangsbedingungen in den USA und in Deutschland im Vergleich
63
zusammenschlossen und nicht quasi „automatisch“ per Geburt Mitglied einer Staatskirche wurden, wirkte sich auch noch auf andere Weise auf die amerikanische Gesellschaft aus: Es förderte die Vielzahl von Vereinen, die das Land bis heute prägen und die die civil society ausmachen (vgl. Putnam 2000). Diese schaffen Kommunikationsnetzwerke von Menschen mit ähnlichen Positionen und Interessen und ermöglichen somit die Beteiligung der Bürger. Bis heute ist der Anteil der Menschen, die Mitglied eines Vereins sind, in den USA im Vergleich zu anderen westlichen Ländern sehr hoch (vgl. Lipset 1996: 277). Putnam (2000: 66) stellt dabei heraus, dass ein enger Zusammenhang zwischen Religiosität und Sozialkapital in den USA besteht, da beispielsweise fast die Hälfte der Mitgliedschaften in Assoziationen kirchenbezogen ist. Der Trend, dass evangelikale Gruppen tendenziell Mitglieder gewinnen, während mainline churches Verluste erleiden, sowie die Tendenz, dass evangelikale Gruppen eher daraufhin ausgerichtet sind, Kontakte innerhalb der Gruppen zu stärken, schränken jedoch die ansonsten günstigen Effekte auf das amerikanische Sozialkapital wieder ein (Putnam 2000: 79). Durch diese Trends im religiösen Leben wird somit das Einbrechen sozialer Verbundenheit in der säkularen Gemeinschaft eher verstärkt, als es auszugleichen. Ein weiterer Trend in der religiösen Landschaft der USA ist, dass es immer mehr sogenannte nones gibt, also Menschen, die sich zu keiner religiösen Gruppe bekennen. Dieser Trend könnte darauf hindeuten, dass auch in den USA Säkularisierung stattfindet. Da der Anstieg sehr abrupt erfolgte, sieht Putnam (2012: 127) hierin jedoch keine Säkularisierungstendenz, da Säkularisierungstheorien in der Regel Zeiträume von mehreren Jahrzehnten beziehungsweise Generationen umfassen. Was ihre politische Ausrichtung angeht, kommen die meisten dieser nones aus dem Zentrum beziehungsweise dem linken politischen Spektrum. Der Anstieg erfolgte wenige Jahre, nachdem die sogenannte Religious Right öffentlich sichtbar wurde, könnte also auch im Sinne einer Gegenbewegung dazu gedeutet werden. Was die Sozialstruktur angeht, so sind Männer, Weiße und Menschen, die nicht aus den Südstaaten kommen, tendenziell eher nones als Frauen, Nicht-Weiße und Südstaatler (Putnam 2012: 126). 3.2.2.3 Trends in der religiösen Landschaft Deutschlands Die deutsche Teilung und die unterschiedlichen Regierungsformen von Bundesrepublik Deutschland (BRD) und Deutscher Demokratischer Republik (DDR) sind bis heute in der religiös-kirchlichen Situation spürbar.
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3. Empirische Analyse
Während in Westdeutschland noch immer etwa 68 Prozent der Menschen entweder evangelisch oder katholisch sind (vgl. Pollack/Rosta 2015: 102), gehören im Osten etwa 21 Prozent der evangelischen Kirche an, 4 Prozent sind katholisch, 1-2 Prozent gehören zu einer Freikirche oder kleineren religiösen Gemeinschaft (vgl. Statistisches Jahrbuch 2005: 63-64; Pollack 2009: 126)10 . 1949 lag der Anteil der Bevölkerung, der einer Kirche angehörte, in beiden Teilen Deutschlands noch bei über 90 Prozent. In Ostdeutschland kann daher von einem dramatischen Entkirchlichungsprozess gesprochen werden. Pollack (2003: 80-81) macht dafür neben den politischen Repressionen des SED-Staates auch den sozial-strukturellen Umbau sowie Modernisierungsprozesse verantwortlich. Zudem verweist er darauf, dass bereits seit dem 19. Jahrhundert im Osten Deutschlands Tendenzen einer inneren Säkularisierung nachweisbar sind, die bei vielen Mitgliedern zu einer inneren Distanz der Kirche gegenüber geführt haben. Tendenziell ist in den Großstädten, bei Menschen mit einer hohen formalen Bildung und höherem Einkommen, bei jüngeren Altersgruppen und bei Männern ein höherer Grad an Entkirchlichung feststellbar (vgl. Pollack 2009: 126). Auch wenn anhaltend Menschen aus den Kirchen austreten, sind Deutsche im Unterschied zu Amerikanern sehr selten bereit, ihre Konfession zu wechseln (vgl. Pollack 2003: 140). Traditionelle Funktionen der Integration und der Orientierung hat die Kirche Pollack (2003: 84) zufolge heute an andere gesellschaftliche Funktionssysteme abgegeben. Dazu gehören das politische System, das Erziehungs- und Rechtssystem, die Öffentlichkeit, die Massenmedien sowie das medizinische System. Pollack hält fest, dass Säkularisierung für Deutschland kein „moderner Mythos“ sei, sondern eine „auf der individuellen Ebene der religiösen Einstellungen und Verhaltensweisen nachweisbare Tendenz, auch wenn der durch den Begriff der Säkularisierung bezeichnete dominante Trend durch leichte Gegenbewegungen konterkariert wird“ (Pollack 2003: 181). In seinen Studien weist er auch auf einen deutlichen Zusammenhang zwischen einer religiösen Sozialisation und Religiosität und Kirchlichkeit hin (vgl. Pollack 2003: 194). Wer religiös erzogen wurde, ist der Tendenz nach also auch im Erwachsenenalter eher religiös als andere. Mit dem Erbe des Staatskirchentums, das im vorigen Unterpunkt 3.2.1 dargestellt wurde, kämpfen die Kirchen in Deutschland bis heute. Sie wur10 Aktuellere
Zahlen wurden weder im Statistischen Jahrbuch 2017 noch in der bereits zitierten Publikation „Gezählt“ der EKD (2018) gefunden, da dort nicht (mehr) nach West und Ost differenziert wird.
3.2. Ausgangsbedingungen in den USA und in Deutschland im Vergleich
65
den nur selten als Institutionen wahrgenommen, die auf der Seite der Bevölkerung standen. Ein Beispiel für eine solche Situation ist das Auftreten der Kirche im Zuge der revolutionären Umbruchsereignisse 1989 in der ehemaligen DDR (vgl. Pollack 2003: 200). Stattdessen sehen viele Menschen in Deutschland, wie oben dargelegt, in den Kirchen noch immer staatsnahe Großorganisationen. Zusammenfassung In diesem Unterkapitel geht es zunächst um das Verhältnis von Kirche und Staat in den beiden Untersuchungsländern. Dabei wird dargestellt, wie die Reformation in der Neuen Welt einen direkten Effekt auf die Beziehungen von Kirche und Staat hatte: 1789 wurde die Trennung in der Verfassung verankert. Kirchen waren von nun an als Freikirchen – im Sinne von vom Staat unabhängigen Kirchen – organisiert. In Deutschland hingegen bewirkte die Reformation zwar ebenfalls Änderungen im Verhältnis von Kirche und Staat, eine Trennung beider Sphären erfolgte jedoch nicht. Stattdessen setzte sich mit dem landesherrlichen Kirchenregiment auch das Konzept einer Staatskirche und später einer Volkskirche durch. Ab 1555 galt der Grundsatz cuius regio, eius religio (wessen Gebiet, dessen Religion). Andersgläubige hatten lediglich das Recht, auszuwandern. In den USA hingegen herrschte von der Gründung an Religionsfreiheit. Dann werden die religiösen Landschaften in den USA und Deutschland beschrieben und anhand von Diagrammen auch grafisch dargestellt. Hier zeigt sich, wie stark der Einfluss Evangelikaler in den USA ist, während in Deutschland nur vergleichsweise wenige Menschen dieser Richtung angehören. Anschließend wird unter Rückgriff auf Marty (2004) sowie Daten der Evangelischen Kirche in Deutschland (2018) knapp dargelegt, aus wie vielen unterschiedlichen Strömungen sich der amerikanische Protestantismus zusammensetzt. Für Deutschland, in denen die meisten Protestanten einer der evangelischen Landeskirchen angehören, werden diese aufgelistet. Evangelikalismus und Fundamentalismus werden definiert. Danach geht es um Trends in den religiösen Landschaften der USA und Deutschlands. Dabei wird erwähnt, dass in den USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die mainline-Kirchen an Mitgliedern verloren, während Evangelikale Mitglieder gewannen. Dieser Trend scheint sich jedoch seit 2007 zu wandeln, sodass auch Evangelikale von Mitgliederverlusten betroffen sind. Zugleich wird ausgeführt, dass die Gruppe derjenigen, die keiner Denomination angehören, in den USA am stärksten wächst. Die Begriffe culture wars und God gap werden erläutert, mögliche Zusammenhänge zwischen Religiosität und Sozialkapital aufgeführt. Für Deutschland wird dargelegt, dass im Osten Deutschlands unter dem
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3. Empirische Analyse
Sozialismus ein dramatischer Entkirchlichungsprozess stattgefunden hat, der sich bis heute stark in den Mitgliederzahlen der Konfessionen im Westen und Osten zeigt. Außerdem wird erklärt, dass die Kirchen in Deutschland bis heute mit dem Erbe des Staatskirchentums zu kämpfen haben. 3.3
Diffusion protestantischer Werte von Europa in die USA
Ehe die Auswertung der Umfragedaten vorgestellt wird, soll ein kurzer Blick darauf geworfen werden, wie protestantische Werte durch Diffusion über Migration von Europa in die USA gelangen konnten. Dies soll zum einen, und insbesondere bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, anhand von Literatur zur amerikanischen Immigration (vgl. zum Beispiel Jones 1992) erfolgen. Zum anderen sollen offizielle Einwanderungsdaten aus den „Historical Statistics of the United States“ (2006) herangezogen werden. Diese nach Ländern aufgeschlüsselten Daten wurden erst ab 1820 systematisch erfasst. Für die Zeit davor liegen lediglich Schätzungen vor. Daher bilden die unten dargestellten Diagramme den Zeitraum ab 1820 ab, und die Literatur wird vor allem für den Zeitraum davor herangezogen. Der größte Teil der ersten Siedler in der Neuen Welt waren englischer Herkunft. Die Pilgerväter, die 1620 auf der Mayflower den Atlantik überquerten, wurden als religiöse Separatisten in England verfolgt. Vor der Überfahrt fanden sie vorübergehend Zuflucht in Holland. Während die Pilgerväter zwar Schutz vor Gefahr suchten, verbanden sie darüber hinaus aber mit ihrer Übersiedlung keinen größeren Zweck. Die Puritaner, die 1630 auf der Arbella in die Gegend des heutigen Boston gelangten und sich in der Massachusetts Bay Colony ansiedelten, wollten hingegen ein neues System von Regierung und Kirche schaffen. Sie wollten nicht länger unter dem britischen kirchlichen System leben, sondern wünschten sich ein System, das es ihnen erlaubte, ihren Glauben so zu leben, wie sie es wollten. Da sie überzeugt waren, dass ihre Religion die einzige wahre Religion darstellte, wollten sie dabei keine andere Glaubensrichtung tolerieren. Das Bild der „City upon a Hill“ aus der Predigt des späteren Gouverneurs John Winthrop spiegelt das Sendungsbewusstsein dieser Siedler wider. Während im Jahr 1630 etwa 2 000 Menschen in die Massachusetts Bay Colony kamen, waren es am Ende des Jahrzehnts schon fast 20 000 (vgl. Jones 1992: 13-14). Zu den ersten Siedlungen zählten außerdem die sogenannten Cheasapeake Colonies Virginia (Gründung 1607) und Maryland (1634) (vgl. Jones 1992: 9-11). Während Virginia von Protestanten gegründet wurde, die sich hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen dort ansiedelten, diente Ma-
3.3. Diffusion protestantischer Werte von Europa in die USA
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ryland unter anderem als Rückzugsort für englische Katholiken, und zwar während der gesamten Kolonialgeschichte Amerikas. Der Großteil der Siedler in Maryland waren jedoch stets Protestanten (vgl. Noll/Haendler 2000: 66). Außerdem gab es zwischen der Massachusetts Bay und der Chesapeake Bay kleinere Siedlungen von Niederländern am Hudson sowie von Schweden am Delaware (vgl. Jones 1992: 14). New York wies von Anfang an eine große ethnische Vielfalt auf (vgl. Jones 1992: 15). Dort siedelten sich neben Niederländern, Wallonen und französischen Hugenotten auch englische Siedler aus Massachusetts und Connecticut, Schwarze sowie Juden aus Brasilien an. Die Mehrzahl der Bewohner waren Niederländer mit etwa 7 000 Menschen. Insofern spielte der niederländisch-reformierte Glaube hier eine große Rolle (vgl. Noll/Haendler 2000: 66). Carolina wurde 1670 von englischen Höflingen gegründet, die in erster Linie ihren eigenen Wohlstand steigern wollten. Viele Schwarze ließen sich hier nieder beziehungsweise wurden dorthin gebracht, und um 1700 war etwa die Hälfte der Bevölkerung von insgesamt 7 000 schwarz. Während Carolina aus materialistischen Erwägungen gegründet wurde, herrschte in Pennsylvania ein „Geist universeller Philanthropie und Brüderlichkeit“ (vgl. Jones 1992: 15-16). Das „heilige Experiment“ von William Penn war ein Zufluchtsort für Verfolgte jeder ethnischen oder religiösen Herkunft. Die große Mehrzahl der ersten Siedler in Pennsylvania war englisch, irisch oder walisisch. Unter ihnen waren auch viele deutsche Pietisten. Die steigende religiöse Intoleranz in Frankreich und die Rücknahme des Edikts von Nantes 1685 führte dazu, dass einige Hugenotten sich in South Carolina, Pennsylvania, Virginia und New York niederließen. Nach Neuengland kamen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts abgesehen von einigen Hugenotten-Familien kaum neue Immigranten, was auch an der Haltung vieler Menschen in Neuengland lag, die in Fremden teilweise eine Gefahr für das puritanische Experiment sahen (vgl. Jones 1992: 16–17). In die Cheasapeake Colonies Virginia und Maryland hingegen kamen weiterhin regelmäßig, wenn auch in eher kleinen Zahlen, Immigranten aus Europa, die meisten von ihnen Diener aus England oder Irland. Nach Schätzungen wurden im Lauf des 18. Jahrhunderts außerdem mindestens 50 000 verurteilte Verbrecher von Großbritannien nach Amerika beziehungsweise auf die West Indies geschickt, die meisten von ihnen nach Virginia und Maryland (vgl. Jones 1992: 18). Abgesehen von diesen „Missetätern“ kamen im 18. Jahrhundert jedoch relativ wenige Engländer in die Neue Welt. Weder Georgia noch Nova Scotia, die beiden einzigen Koloni-
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3. Empirische Analyse
en, die nach 1700 gegründet wurden, zogen größere Gruppen an Immigranten an (vgl. Jones 1992: 18). Die größte Gruppe der neu Ankommenden waren im 18. Jahrhundert wahrscheinlich die Scotch-Irish aus der irischen Provinz Ulster. Ungefähr 250 000 kamen in den 50 Jahren vor der Revolution, von denen sich die meisten schließlich in Pennsylvania niederließen (vgl. Jones 1992: 19). Aus Irland reiste auch eine jedoch deutlich kleinere Gruppe von keltischen Iren ein, die sich meist ebenfalls in Pennsylvania oder auch in Maryland ansiedelten. Vor allem wegen kolonialer Hindernisse gegen die Einwanderung von Katholiken gab es keine ähnlich große Bewegung aus Südirland wie diejenige aus Ulster. Aus Schottland konnten im 17. Jahrhundert nur sehr wenige Menschen in die Neue Welt ausreisen, da Schottland vom britischen Handel ausgeschlossen war. Dies änderte sich mit dem Act of Union im Jahr 1707. In der Folge setzte eine größere Migrationsbewegung aus Schottland ein (vgl. Jones 1992: 22). In weitaus größerer Zahl als Schotten traten auch Deutsche die Reise über den Atlantik an. Sie kamen aus verschiedenen deutschen Territorien (bis 1806: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation) beziehungsweise aus deutschsprachigen Kantonen in der Schweiz. Unter ihnen waren viele Pietisten und Angehörige pazifistischer religiöser Gruppen, die Schutz vor Verfolgung suchten. Die bekannteste Gruppe unter ihnen waren die Herrnhuter, die sich 1736 nach der Vertreibung aus ihrem Stammsitz Herrenhut (Sachsen) durch den Staat Sachsen in Georgia niederließen und später nach Pennsylvania weiterzogen. Die große Mehrzahl der Deutschen waren jedoch Lutheraner oder Angehörige der Deutschen Reformierten Kirche. Sie kamen nicht vorrangig aus religiösen, sondern eher aus ökonomischen Gründen nach Amerika (vgl. Jones 1992: 23-24). Neben den deutschen Lutheranern und Reformierten gab es noch weitere Gruppen protestantischer nicht-englischsprachiger Einwanderer. Sie kamen meist zunächst in Pennsylvania, New Jersey oder New York an und siedelten sich später oft im Mittleren Westen oder in anderen Regionen an. Zu ihnen gehörten Reformierte aus den Niederlanden (die sich, ähnlich wie die deutschen Reformierten, später häufig in Iowa, Michigan etc. niederließen), Lutheraner aus Skandinavien (die sich, auch ähnlich wie die deutschen Lutheraner, bevorzugt im nördlichen Mittleren Westen ansiedelten), Anabaptisten, Mennoniten sowie Mitglieder der Amischen, der Church of the Brethen und andere (vgl. Marty 2004: 11). Die meisten der französischen Hugenotten kamen in den letzten 15 Jahren des 17. Jahrhunderts in den Kolonien an (vgl. Jones 1992: 26). Kleinere
3.3. Diffusion protestantischer Werte von Europa in die USA
69
Gruppen kamen jedoch auch später in der Kolonialzeit noch in die Neue Welt. So segelten beispielsweise 1764 mehrere Hundert Hugenotten von Frankreich nach South Carolina. Die erste Gruppe jüdischer Immigranten kam 1654 in New Amsterdam (dem späteren New York City) an. Danach entwickelten sich jüdische Gemeinschaften vor allem in Städten wie Newport, Philadelphia und Charleston (vgl. Jones 1992: 26). Zur Zeit der Revolution lebten insgesamt etwa 2 000 bis 3 000 Juden in den Kolonien. Nachdem nun grob anhand von Schätzungen in der Literatur die Einwanderungsbewegung von Europa in die USA bis zum Ende der Kolonialzeit skizziert wurde, soll jetzt unter Rückgriff auf Einwanderungsdaten dargelegt werden, wie viele Menschen im 19. Jahrhundert aus welchen europäischen Ländern in die USA emigrierten. Welche von ihnen Protestanten gewesen sein könnten, wird direkt im Anschluss unter Rückgriff auf historische religiöse Statistiken dargestellt. Das Diagramm in Abbildung 4 zeigt zum einen den großen Anteil der Einwanderer aus Großbritannien (gelb) und aus Irland (orange). Den größten Anteil an Einwanderern bilden in diesem Zeitraum Deutsche (blau). Bei der Ankunft in den USA wurde die Religionszugehörigkeit der Einwanderer nicht erfasst. Hier kann also nur das Herkunftsland als Indikator dafür dienen, ob die Einreisenden Protestanten waren oder nicht. In zwei der Religious-Bodies-Studien (1910, 1919), die vom amerikanischen Census Bureau Anfang des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurden und die Daten zu den einzelnen religiösen Denominationen aufführen, sind jedoch auch Angaben zu in den Gottesdiensten verwendeten Sprachen enthalten. Mit gewissen Einschränkungen (schließlich könnten sich etwa schwedischsprachige Einwanderer auch einer Gemeinde angeschlossen haben, die ihre Gottesdienste ausschließlich auf Englisch hält) sind daraus Rückschlüsse auf die Religionszugehörigkeit der Einwanderer möglich. Da in den Studien eine sehr große Anzahl an (teilweise äußerst kleinen) Kirchen und religiösen Gruppen aufgeführt wird, erweist sich eine umfassende Analyse der Angaben aller Denominationen als in dieser Arbeit nicht möglich. Die Auswertung der Studien wurde daher auf Denominationen mit einer Mitgliederzahl von mindestens 25 000 beschränkt. Um den Einfluss des Protestantismus auf die religiöse Landschaft der USA darzustellen, wurden für die nun folgende Analyse Daten ausgewertet, welche die verwendeten Sprachen für die einzelnen Denominationen spezifizieren. Hierbei wurde jeweils mit der Anzahl der Mitglieder gearbeitet, die in Gottesdiensten die genannte Sprache (Deutsch, Schwedisch, Norwegisch oder - zusammengefasst - Niederländisch oder Flämisch) ver-
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3. Empirische Analyse
Abbildung 4: Einwanderung aus Europa in die USA, 1820-1900 Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Historical Statistics of the United States (2006)
3.3. Diffusion protestantischer Werte von Europa in die USA
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wendete - gegebenenfalls in Kombination mit Englisch. Sofern Gemeinden angaben, neben der genannten Sprache und Englisch weitere Sprachen zu verwenden, wurden deren Mitgliederzahlen hier nicht berücksichtigt.11 Zunächst lässt sich aus den Daten erkennen, dass neben den zahlreichen protestantischen Einwanderern britischer Herkunft auch deutsch-, schwedisch-, norwegisch-, niederländisch- und flämischsprachige Immigranten zum Transfer protestantischer Ideen in die Neue Welt beitrugen. Dabei wurde Deutsch, Norwegisch und Schwedisch vor allem, jedoch nicht ausschließlich, in lutherischen Gottesdiensten verwendet. Niederländisch und Flämisch wurden vorwiegend in reformierten Gemeinden gesprochen. Der Überblick in Tabelle 3 zeigt diejenigen protestantischen Denominationen, in denen einige Gemeinden andere (europäische) Sprachen in Gottesdiensten verwendeten, zusammen mit der Sprache, die am Häufigsten verwendet wurde.12 So kann man sehen, anhand welcher Sprachen (neben Englisch) protestantische Ideen in die USA diffundierten. Der Haupteinfluss der entsprechenden Sprache wurde dabei an der Zahl der Mitglieder bemessen, die diese in Gottesdiensten zu hören bekommen konnten. Im Folgenden soll präzisiert werden, wie viele Mitglieder der genannten Denominationen jeweils die entsprechende Sprache verwendeten. Um den Einfluss der einzelnen Sprachen besser einschätzen zu können, wird diese Zahl ins Verhältnis zur gesamten Zahl der Mitglieder gesetzt, die innerhalb der Denomination Gottesdienste in fremden Sprachen (gegebenenfalls in Kombination mit Englisch) hörten. Dabei wird auch der Anteil (in Prozent) herausgestellt. Tabelle 4 gibt zunächst einen Überblick über diejenigen Denominationen, die vorwiegend Deutsch in Gottesdiensten verwendeten.13 11 Bei fast allen der oben aufgeführten Denominationen gab es auch Gemeinden, die ihre Got-
tesdienste ausschließlich auf Englisch hielten. Da diese Analyse speziell darauf abzielt, den Einfluss der Einwanderer aus verschiedenen europäischen Ländern abzuschätzen, wurde die Anzahl dieser Gemeinden und ihrer Mitglieder hier jedoch nicht mit ausgewertet. Eine Übersicht der Denominationen, die die Anzahl der Gemeinden und Mitglieder, die ausschließlich Englisch in Gottesdiensten verwendeten, denjenigen gegenüberstellt, die fremde Sprachen (gegebenenfalls in Kombination mit Englisch) nutzten, ist jedoch in der hier zugrunde liegenden Religious-Bodies-Studie zu finden (United States, Bureau of the Census 1910: 107-109). 12 Nicht aufgeführt wurde hier die Protestant Episcopal Church, weil dort „Indian (American)“ – also keine europäische Sprache – am Häufigsten verwendet wurde (United States, Bureau of the Census 1910: 118) 13 Hierbei sei ergänzt, dass der Einfluss deutschsprachiger Immigranten auf die Northern Baptist Convention (mit 21 656 von 66 692 Mitgliedern) sowie auf die Congregationalists
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3. Empirische Analyse
Tabelle 3: Sprachen, die protestantische Denominationen in Gottesdiensten nutzten Name der Denomination
Sprache, die am häufigsten in Gottesdiensten verwendet wurde (außer Englisch)
Northern Baptist Convention Congregationalists Evangelical Association German Evangelical Synod of North America General Synod of the Evangelical Lutheran Church in the United States of America General Council of the Evangelical Lutheran Church in North America Evangelical Lutheran Synodical Conference of America United Norwegian Lutheran Church in America Evangelical Lutheran Joint Synod of Ohio and Other States Hauge’s Norwegian Evangelical Lutheran Synod Evangelical Lutheran Synod of Iowa and Other States Synod for the Norwegian Evangelical Lutheran Church in America Norwegian Lutheran Free Church Methodist Episcopal Church Presbytarian Church in the United States of America Reformed Church in America
Schwedisch Schwedisch Deutsch Deutsch Deutsch
Reformed Church in the United States Christian Reformed Church
Deutsch Deutsch Norwegisch Deutsch Norwegisch Deutsch Norwegisch Norwegisch Deutsch Deutsch Niederländisch / Flämisch Deutsch Niederländisch / Flämisch
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Religious-Bodies-Studie von 1906 (United States, Bureau of the Census 1910: 111-119)
3.3. Diffusion protestantischer Werte von Europa in die USA
73
Tabelle 4: Protestantische Denominationen, die Deutsch verwendeten Name der Denomination
Evangelical Association German Evangelical Synod of North America General Synod of the Evangelical Lutheran Church in the United States of America General Council of the Evangelical Lutheran Church in North America Evangelical Lutheran Synodical Conference of America Evangelical Lutheran Joint Synod of Ohio and Other States Evangelical Lutheran Synod of Iowa and Other States Methodist Episcopal Church Presbytarian Church in the United States of America Reformed Church in the United States
Anzahl der Mitglieder, die Deutsch im Gottesdienst verwendeten
Anzahl der Mitglieder, die fremde Sprachen im Gottesdienst verwendeten (gesamt)
Anteil
59 527 288 693
59 527 288 693
100% 100%
46 273
46 385
99,8%
244 827
421 568
58,1%
623 452
628 239
99,2%
104 723
104 723
100%
108 892
108 892
100%
64 574 17 448
99 404 41 906
65,0% 41,6%
143 023
147 195
97,1%
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Religious-Bodies-Studie von 1906 (United States, Bureau of the Census 1910: 111-119)
74
3. Empirische Analyse
In Tabelle 5 werden nun diejenigen Denominationen herausgestellt, die vorwiegend Schwedisch in Gottesdiensten verwendeten.14 Tabelle 5: Protestantische Denominationen, die Schwedisch verwendeten Name der Denomination
Northern Baptist Convention Congregationalists
Anzahl der Mitglieder, die Schwedisch im Gottesdienst verwendeten
Anzahl der Mitglieder, die fremde Sprachen im Gottesdienst verwendeten (gesamt)
Anteil
22 452 9 970
66 692 38 184
33,7% 26,1%
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Religious-Bodies-Studie von 1906 (United States, Bureau of the Census 1910: 111-119)
Entsprechend zeigt Tabelle 6 die Denominationen an, die überwiegend Norwegisch in Gottesdiensten verwendeten. Abschließend gibt Tabelle 7 eine Übersicht über die beiden Denominationen, die vorwiegend Niederländisch oder Flämisch in Gottesdiensten verwendeten. In einem Großteil der genannten Denominationen gab es auch Gottesdienste in anderen Sprachen. Aufgrund der Fokussierung auf die Sprache mit dem jeweils größten Einfluss wurde jedoch darauf verzichtet, diese separat aufzuführen. Generell lässt sich feststellen, dass Deutsch die Sprache war, die am häufigsten von Denominationen als die in Gottesdiensten verwendete Fremdsprache angegeben wurde (United States, Bureau of the Census 1910: 121). So gaben insgesamt 77 Denominationen 1906 die Verwendung von Deutsch in Gottesdiensten an. Dies betraf 13 034 Gemeinden und damit gut dreieinhalb Millionen Mitglieder (3 601 943)15 . Der größere Anteil davon (mit 9 539 von 38 184 Mitgliedern) ebenfalls hoch war, auch wenn in beiden Denominationen Schwedisch etwas häufiger Verwendung fand. 14 Auch hier sei ergänzt, dass der Einfluss schwedischsprachiger Einwanderer auch auf die General Council of the Evangelical Lutheran Church in North America (175 421 von 421 568 Mitgliedern) sowie auf die Methodist Episcopal Church (17 883 von 99 404 Mitgliedern) hoch war, auch wenn Deutsch jeweils häufiger Verwendung fand. 15 Sprachen, die mit jeweils circa einer Million Mitglieder nach Deutsch ebenfalls häufig verwendet wurden, waren Französisch und Italienisch. Hier sind allerdings die Einflüsse auf
3.3. Diffusion protestantischer Werte von Europa in die USA
75
Tabelle 6: Protestantische Denominationen, die Norwegisch verwendeten Name der Denomination
United Norwegian Church in America Hauge’s Norwegian Evangelical Lutheran Synod Synod for the Norwegian Evangelical Lutheran Synod Norwegian Lutheran Free Church
Anzahl der Mitglieder, die Norwegisch im Gottesdienst verwendeten
Anzahl der Mitglieder, die fremde Sprachen im Gottesdienst verwendeten (gesamt)
Anteil
180 083
180 669
99,7%
32 227
32 227
100%
103 836
106 393
97,6%
26 864
26 864
100%
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Religious-Bodies-Studie von 1906 (United States, Bureau of the Census 1910: 111-119)
Tabelle 7: Protestantische Denominationen, die Niederländisch / Flämisch verwendeten Name der Denomination
Reformed Church in America Christian Reformed Church
Anzahl der Mitglieder, die Niederländisch oder Flämisch im Gottesdienst verwendeten
Anzahl der Mitglieder, die fremde Sprachen im Gottesdienst verwendeten (gesamt)
Anteil
23 830 24 085
32 364 25 135
73,6% 95,8%
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Religious-Bodies-Studie von 1906 (United States, Bureau of the Census 1910: 111-119)
76
3. Empirische Analyse
(1 855 878 Mitglieder) verwendete nicht ausschließlich Deutsch in Gottesdiensten, sondern daneben auch eine oder mehrere andere Sprachen (einschließlich Englisch). 1906 machten 210 418 Gemeinden mit insgesamt 32 936 445 Mitgliedern Angaben gegenüber dem Zensusbüro (United States, Bureau of the Census 1910: 25). Der Anteil der Mitglieder von Gemeinden, die (unter anderem) Deutsch im Gottesdienst verwendeten, liegt somit bei knapp 11 Prozent aller in der Studie aufgeführten Mitglieder. Der entsprechende Anteil der Mitglieder, welche die anderen oben aufgeführten Sprachen verwendeten, lag mit Schwedisch bei 0,8 Prozent (21 Denominationen mit 2 117 Gemeinden und 266 603 Mitgliedern), mit Norwegisch bei 1,1 Prozent (22 Denominationen mit 2 849 Gemeinden und 357 865 Mitgliedern) und mit Niederländisch und Flämisch bei 0,1 Prozent (19 Denominationen mit 464 Gemeinden und 42 899 Mitgliedern, United States, Bureau of the Census 1910: 121). Auch wenn somit ein relativ großer Einfluss deutschsprachiger Einwanderer auf die religiöse Landschaft der USA festgestellt werden kann, sollte natürlich präzisiert werden, dass die Denominationen, die Deutsch als Sprache verwendeten, nicht alle protestantisch waren. So gaben beispielsweise innerhalb der römisch-katholischen Kirche 1 881 Gemeinden mit insgesamt 1 519 978 Mitgliedern die Verwendung von Deutsch in Gottesdiensten an (United States, Bureau of the Census 1910: 118). Die Mitgliederzahl der römisch-katholischen Kirche lag damals insgesamt bei 5 342 023. Der Anteil der Mitglieder, der Deutsch verwendete, lag folglich bei 28,5 Prozent. Auch innerhalb der jüdischen Gemeinden verwendeten sieben Gemeinden mit 1 125 Mitgliedern Deutsch in Gottesdiensten (United States, Bureau of the Census 1910: 114). Insgesamt hatten die jüdischen Gemeinden 82 844 Mitglieder. Der Anteil der Mitglieder, der Deutsch verwendete, lag somit bei 1,4 Prozent. Auch betrifft der Einfluss deutschsprachiger Immigranten selbstverständlich nicht nur deutsche Einwanderer, sondern auch Einwanderer aus Österreich und der Schweiz. Was den Einfluss der schwedisch- und norwegischsprachigen Einwanderer angeht, ist hingegen von einer fast ausschließlichen Wirkung in Richtung Protestantismus auszugehen. In der römisch-katholischen Kirche gab es keine Gottesdienste in den beiden Sprachen. Anders ist dies bei den Einwanderern, die Niederländisch oder Flämisch sprachen. In diesen Sprachen gab es auch in der römisch-katholischen Kirche Gottesdienste. Dies den Katholizismus wesentlich, obgleich es auch geringere Einflüsse in Richtung Protestantismus gab, zum Beispiel in der Presbytarian Church in the United States of America (United States, Bureau of the Census 1910: 117).
3.3. Diffusion protestantischer Werte von Europa in die USA
77
betraf 12 799 Mitglieder (United States, Bureau of the Census 1910: 118) und damit 0,2 Prozent aller Mitglieder der römisch-katholischen Kirche. Für diese Analyse wurden Daten aus der (1910 erschienenen) ReligiousBodies-Studie von 1906 verwendet. Im Vergleich mit der zehn Jahre später publizierten Studie lässt sich sagen, dass in den einzelnen Denominationen viele Gemeinden, die 1906 nur Deutsch in Gottesdiensten verwendeten, 1916 Deutsch und Englisch (oder teilweise sogar nur Englisch) nutzten. Der Anteil der ausschließlich auf Deutsch gehaltenen Gottesdienste ist somit während dieser zehn Jahre deutlich zurückgegangen (United States, Bureau of the Census 1919: 83-84). Hierbei muss jedoch ergänzt werden, dass die öffentliche Verwendung von Deutsch im Zuge des Ersten Weltkrieges verboten wurde (vgl. Jewett/Wangerin 2008: 178-179). Die Folgen waren deutlich: Beispielsweise ist in der German Evangelical Synod of North America die Anzahl der Gemeinden, die nur Deutsch in Gottesdiensten verwendete, von 952 im Jahr 1906 auf 527 im Jahr 1916 gesunken (ein Minus von 425, beziehungsweise 44,6 Prozent), während die Anzahl der Gemeinden, die beide Sprachen verwendete, im gleichen Zeitraum von 236 auf 747 (ein Plus von 511, was einem Anstieg von 216,5 Prozent entspricht) anstieg. Ähnliche Entwicklungen waren auch in den meisten der oben aufgeführten lutherischen Denominationen (zum Beispiel dem General Council of the Evangelical Lutheran Church in North America, der Evangelical Lutheran Synodical Conference of America und der Evangelical Lutheran Synod of Iowa and Other States) zu beobachten. In diesen Fällen wurde das Absinken der Anzahl der Gemeinden, die nur Deutsch verwendeten, in etwa von dem Anstieg der Anzahl der Gemeinden, die beide Sprachen verwendeten, ausgeglichen. Ein deutliches Absinken war auch für die Methodist Episcopal Church feststellbar. In der Evangelical Association war die Entwicklung ein wenig anders. Dort ist die Zahl der Gemeinden, die nur Deutsch nutzten, von 554 im Jahr 1906 auf 180 im Jahr 1916 gesunken (ein Minus von 374, beziehungsweise 67,5 Prozent), während gleichzeitig die Anzahl der Gemeinden, die eine Fremdsprache und Englisch nutzten, nur leicht, nämlich von 363 auf 402, anstieg (ein Plus von 39, beziehungsweise ein Anstieg von 10,7 Prozent). Hier sind also offenbar mehr Gemeinden in den Jahren zwischen 1906 und 1916 dazu übergegangen, Gottesdienste ausschließlich auf Englisch zu halten. Grundsätzlich lässt sich in der Tendenz festhalten, dass die Bedeutung von Deutsch in amerikanischen Gottesdiensten Anfang des 20. Jahrhunderts eher zurückgegangen ist. Als Nächstes soll der Verlauf der Einwanderung von Europa in die USA in den Blick genommen werden. Dabei soll der Fokus nachfolgend auf den-
78
3. Empirische Analyse
jenigen Ländern liegen, bei denen soeben ein starker Einfluss auf protestantische Denominationen festgestellt werden konnte. In den folgenden Diagrammen (Abbildungen 5-7) wird die Einwanderung aus Großbritannien, Deutschland und Skandinavien16 in der Zeit von 1820 bis 1997 dargestellt. Anschließend werden die jeweiligen Anteile der Einwanderer aus Großbritannien, Deutschland und Skandinavien in einem gestapelten Flächendiagramm zusammen mit der Gesamtzahl der Einwanderer aus Europa dargestellt. Wichtig ist hierbei, sich vor Augen zu führen, dass nur an der Kurve für Deutschland die konkrete Zahl der Einwanderer an der YAchse abgelesen werden kann, während der Graf für Großbritannien hier die jeweilige Summe der Einwanderer aus Deutschland und Großbritannien zu einem bestimmten Zeitpunkt abbildet, etc. Aus den Abbildungen 5 bis 7 wird ersichtlich, dass im abgebildeten Zeitraum die meisten Briten und Deutschen zwischen 1840 und 1900 und die meisten Skandinavier zwischen 1870 und 1900 in die USA kamen. Der Blick auf den Verlauf der gesamten Einwanderung aus Europa zeigt jedoch, dass die meisten Menschen hier erst etwa zwischen 1905 und 1915 in den USA eintrafen. Dies gibt Anlass zu der Vermutung, dass der Einfluss europäischer Einwanderer auf protestantische Denominationen im 19. Jahrhundert etwas stärker war als im 20. Jahrhundert. Zusammenfassung In diesem Unterkapitel wird dargestellt, wie protestantische Werte durch Diffusion über Migration von Europa in die USA gelangen konnten. Dabei wird zunächst anhand von Literatur dargelegt, wie viele Einwanderer (schätzungsweise) aus welchen Regionen Europas wann und aus welchen Gründen bis etwa zum Ende der Kolonialzeit in die Neue Welt kamen. Ab 1820 liegen systematisch erfasste Einwanderungsdaten (Historical Statistics of the United States, Carter 2006) vor, sodass ab diesem Zeitpunkt auch anhand genauer Zahlen dargestellt werden kann, aus welchen europäischen Ländern Einwanderer in die USA kamen. So wird anhand eines Diagramms zunächst veranschaulicht, woher aus Europa im 19. Jahrhundert wie viele Menschen in die Vereinigten Staaten kamen. Da in den Einwanderungsdaten keine Angaben zur Religion der Immigranten enthalten sind, wird 16 Neben
Norwegen und Schweden sind hier auch Dänemark und Island enthalten. Die Einwanderung aus den Niederlanden beziehungsweise aus Belgien wurde in den Daten in einer Ländergruppe zusammen mit Luxemburg, Frankreich und der Schweiz erfasst (Historical Statistics of the United States 2006: 1-564). Eine separate Darstellung war daher nicht möglich. Auf eine gemeinsame Darstellung wurde aufgrund des starken Einflusses der französischen Einwanderer in Richtung Katholizismus verzichtet.
3.3. Diffusion protestantischer Werte von Europa in die USA
Abbildung 5: Einwanderung aus Großbritannien in die USA, 1820-1997 Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Historical Statistics of the United States (2006)
Abbildung 6: Einwanderung aus Deutschland in die USA, 1820-1997 Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Historical Statistics of the United States (2006)
79
80
3. Empirische Analyse
Abbildung 7: Einwanderung aus Skandinavien in die USA, 1820-1997 Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Historical Statistics of the United States (2006)
anschließend anhand von Daten aus den Religious-Bodies-Studien (1910, 1919) ermittelt, in welchen protestantischen Gemeinden andere europäische Sprachen als Englisch (hier: Deutsch, Schwedisch, Norwegisch, Niederländisch oder Flämisch) in Gottesdiensten verwendet wurden. Auf diese Weise können Rückschlüsse darauf gezogen werden, aus welchen europäischen Ländern Protestanten in die USA einreisten. Dabei wird ein starker Einfluss deutschsprachiger Einwanderer auf die religiöse Landschaft in den USA festgestellt, der jedoch nicht ausschließlich protestantische, sondern auch katholische und jüdische Gemeinden betrifft. Gleichzeitig wird festgehalten, dass der Einfluss des Deutschen als in Gottesdiensten verwendete Sprache Anfang des 20. Jahrhunderts merklich zurückgeht, was sich am Vergleich der Daten aus den beiden Studien zeigt. Anschließend wird in Diagrammen dargestellt, in welchen Zahlen Einwanderer aus Großbritannien, Deutschland und Skandinavien von 1820 bis 1997 in die USA kamen. Abschließend werden die Anteile der Einwanderer aus Deutschland, Großbritannien und Skandinavien zusammen mit der Gesamteinwanderung aus Europa in die USA in einem gemeinsamen gestapelten Flächendiagramm abgebildet. Aus der Analyse der verschiedenen Darstellungen ergibt sich, dass der Einfluss des Protestantis-
3.3. Diffusion protestantischer Werte von Europa in die USA
Abbildung 8: Einwanderung aus Europa in die USA, 1820-1997 Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Historical Statistics of the United States (2006)
81
82
3. Empirische Analyse
mus durch europäische Einwanderer im 19. Jahrhundert möglicherweise größer war als im 20. Jahrhundert. 3.4
Zentrale Werte in den USA und in Deutschland
Vor der Darstellung der Ergebnisse der statistischen Untersuchungen soll kurz auf die Entwicklung der Wertesysteme in den USA und Deutschland eingegangen werden.17 Dabei wird dargelegt, welche Werte sich unter den unterschiedlichen strukturellen Bedingungen in beiden Ländern bilden und halten konnten. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist dies wichtig, weil in diesem Zusammenhang gleichzeitig dargestellt werden kann, welche Rolle der Protestantismus bei der Bildung der beiden Wertesysteme gespielt haben könnte. 3.4.1
Liberale und konservative Werte
Zu Beginn sollte kurz eine Klärung vorgenommen werden, was genau mit konservativen und mit liberalen Werten gemeint ist, da diese Begriffe im deutschen beziehungsweise amerikanischen Kontext unterschiedlich konnotiert sind. Was in Europa als Konservatismus gilt, geht auf das historische Bündnis von Kirche und Regierung (Thron und Altar) zurück und steht in enger Verbindung mit dem Aufkommen des Wohlfahrtsstaates. Eine solche konservative Haltung ist geprägt durch elitäre Werte und ein starkes Vertrauen auf die Regierung, in wirtschaftlichen und sozialen Fragen aktiv zu werden. Somit wird ein starker Staat befürwortet. Als wichtige Vertreter einer konservativen europäischen Politik nennt Lipset (1996: 35) Bismarck in Deutschland sowie Disraeli in Groß-Britannien, die beide wesentlich am Aufbau des Wohlfahrtsstaates in ihren Ländern beteiligt waren. Sie standen für ländliche und aristokratische Elemente, lehnten Kapitalismus, die Bourgeoisie sowie wettbewerbsorientierte Werte ab und vertraten stattdessen eine noblesse oblige-Haltung. Demnach waren Privilegierte und die Wirtschaft verpflichtet, die benachteiligten Teile der Bevölkerung zu unterstützen. Nach dieser Definition gefasster Konservatismus war in den USA historisch sehr schwach. Was dort als conservatism bezeichnet wird, würde in Europa eher als ein mit dem Bürgertum verbundener „klassischer 17 Ein
Schwerpunkt wurde in diesem Kapitel für die Darstellung der Entwicklung des Wertesystems in den USA auf die Werke von Lipset (1996) und McClosky/Zaller (1984) gelegt, in Deutschland auf Baker et al. (1981), da diese als zentral angesehen wurden.
3.4. Zentrale Werte in den USA und in Deutschland
83
Liberalismus“ (oder Altliberalismus) gesehen werden: Eine zutiefst antistaatliche Haltung18 , die die Vorteile des laissez-faire hervorhebt (vgl. Lipset 1996: 36). Hier wird ein schwacher Staat befürwortet, der möglichst wenig regulierend in das Wirtschaftsgeschehen eingreift und auch möglichst wenige Sozialleistungen erbringt. Mit dieser Ideologie werden etwa der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman und der ehemalige USPräsident Ronald Reagan in Verbindung gebracht. Anhänger dieses conservatism lehnen die Aristokratie, eine etablierte Staatskirche sowie soziale Klassenhierarchien ab. Individuelle Verantwortlichkeit ist ihnen ebenso wichtig wie marktkapitalistisches Streben nach Profit (vgl. Hochgeschwender 2007: 28). Eine Gegenüberstellung der zentralen Werte des Konservatismus in den USA sowie in Europa ist in Tabelle 8 aufgeführt. Tabelle 8: Zentrale Werte des amerikanischen und europäischen Konservatismus Conservatism in Amerika
Konservatismus in Europa
• Anti-staatliche Haltung
• Bündnis von Kirche und Regierung
• laissez-faire und kapitalistisches Streben nach Gewinn
• Elitäre Werte
• Schwacher Staat • Wenige Sozialleistungen und individuelle Verantwortlichkeit • Ablehnung von Aristokratie, Staatskirche und Klassenhierarchien
• Starker Staat • noblesse oblige • Ablehnung von Kapitalismus und Bourgeoisie
Quelle: Eigene Gegenüberstellung auf Grundlage von Lipset (1996) und Hochgeschwender (2007)
Amerikanische konservative Politiker treten für die Bedürfnisse der Wirtschaft und darüber hinaus für Ordnung, Stabilität sowie den Erhalt des Status quo ein (vgl. McClosky/Zaller 1984: 189–190). In dieser Hinsicht 18 Hier
könnte ergänzt werden, dass Konservative in den USA eine starke Regierung nicht immer abgelehnt haben. Im frühen 19. Jahrhundert befürworteten sie noch eine starke zentrale Regierung, weil sie in ihren Augen geeignet war, die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten. Erst, als die Regierung im 20. Jahrhundert vermehrt soziale Reformen anstieß, begannen Konservative, einen starken Staat abzulehnen (vgl. McClosky/Zaller 1984: 191). Die historische Entwicklung des amerikanischen Wertesystems wird im folgenden Unterpunkt 3.4.2 ausführlich dargelegt.
84
3. Empirische Analyse
sind sie somit europäischen konservativen Politikern ähnlich. Ihr Menschenbild ist eher pessimistisch: Konservative glauben, dass die meisten Menschen sehr schwach sind. In ihren Augen sind daher starke Gesetze und moralische Vorgaben erforderlich, um die soziale Ordnung zu erhalten. Wer im Leben scheitert, ist ihnen zufolge selbst für sein Unglück verantwortlich. Armut sehen Konservative als ein Zeichen fehlender Leistungsbereitschaft und Charakterschwäche, Wohlstand hingegen als ein Zeichen von Disziplin, Durchsetzungskraft und Charakterstärke. Entsprechend vertreten Konservative die Ansicht, dass reiche Menschen sich ihren Wohlstand durch harte Arbeit und Talent wohl verdient haben und entsprechend ein Recht haben, ihn zu behalten (vgl. McClosky/Zaller 1984: 196-200). Starke Einkommensunterschiede zwischen Arbeitern und Unternehmern erscheinen ihnen als gerecht. Gesetze und Maßnahmen, die Armut reduzieren oder strukturell benachteiligte Gruppen (zum Beispiel Frauen, Schwarze, Homosexuelle) speziell fördern sollen, lehnen sie ab. Was in den USA als liberalism bezeichnet wird, wäre in Europa hingegen wohl am ehesten mit dem Linksliberalismus oder dem rechten Flügel der Sozialdemokratie vergleichbar (vgl. Hochgeschwender 2007: 28–29): Hier wird ein verhältnismäßig starker (Wohlfahrts-)Staat befürwortet. Den Kapitalismus sehen Liberale in den USA kritisch, wobei sie ihn grundsätzlich als Wirtschaftssystem befürworten.19 Ein regulierendes Eingreifen des Staates in die Wirtschaft erachten sie jedoch als notwendig. Mit dieser Ideologie verbindet sich auch die Befürwortung von Sozialleistungen: Liberale Politiker treten für Gleichheit, Unterstützung für Benachteiligte und Toleranz von Andersdenkenden ein (vgl. McClosky/Zaller 1984: 189–190). Sie streben außerdem eine aktive Veränderung der Gesellschaft an. Wesentliche Werte des amerikanischen liberalism sind in Tabelle 9 aufgeführt. Der persönliche Erfolg eines Individuums ist liberalen Politkern zufolge nicht in erster Linie auf dessen Charakterstärke zurückzuführen, sondern hängt auch stark von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen ab (vgl. McClosky/Zaller 1984: 189–190). Entsprechend versu19 Dies
war nicht immer so. Im 18. Jahrhundert, als der Kapitalismus ein relativ neues ökonomisches System war, das versprach, individuelle Freiheit und Gleichheit zu vermehren, standen viele Liberale der freien Marktwirtschaft positiv gegenüber, während Konservative, vor allem in Europa, ein größeres Maß an staatlicher Kontrolle über wirtschaftliche Angelegenheiten behalten wollten (vgl. McClosky/Zaller 1984: 218). Mit dem Aufkommen von wirtschaftlichen Unternehmungen in großem Umfang im neunzehnten Jahrhundert schien es vielen Liberalen so, als ob laissez-faire-Kapitalismus eher ein Hindernis für Freiheit und Gleichheit wurde, anstatt diese Werte zu fördern. In der Folge wurden Liberale kritischer gegenüber uneingeschränktem Kapitalismus, während Konservative ihm positiver gegenüberstanden.
3.4. Zentrale Werte in den USA und in Deutschland
85
Tabelle 9: Zentrale Werte des amerikanischen Liberalismus Liberalism in Amerika • Starker Staat (big government) • Kapitalismus wird kritisch gesehen • Befürwortung von Sozialleistungen (welfare state) und wirtschaftlicher Regulierung • Aktive Gesellschaftsveränderung
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Lipset (1996) und Hochgeschwender (2007)
chen Liberale, die Situation von einkommensschwachen und benachteiligten Menschen durch institutionelle Reformen zu verbessern. Im Gegensatz zu den Konservativen halten Liberale die meisten Menschen nicht für schwach, sondern für fähig, selbst Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Materielle Gewinne einzelner Personen sollten ihnen zufolge möglichst der gesamten Bevölkerung zu Gute kommen. Große Einkommensunterschiede sind für sie weniger auf charakterliche Stärke beziehungsweise Schwäche zurückzuführen als auf den Einfluss ungerechter Institutionen (vgl. McClosky/Zaller 1984: 200). Doch auch wenn Liberale im Vergleich zu Konservativen einen vergleichsweise starken Staat anstreben, ist ein Sozialstaat wie etwa in Deutschland mit seinen umfangreichen Leistungen (zum Beispiel gesetzliche Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung) für die meisten Menschen in den USA in dieser Form wohl nicht vorstellbar. Die Auffassungen von den Aufgaben des Staates und von individueller Verantwortung sind hierfür trotz einiger Annäherungen im Lauf der Geschichte bis heute zu unterschiedlich, was weiter unten noch genauer erläutert wird. Eine Gegenüberstellung der Begriffsverständnisse von Konservatismus und Liberalismus in den USA und in Europa ist in Tabelle 10 zu finden. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollen in dieser Arbeit an den entsprechenden Stellen die englischen Begriffe verwendet werden (zum Beispiel „im Sinne des amerikanischen conservatism“), um darauf hinzuweisen, dass in diesem Fall dem amerikanischen Verständnis nach konservative Werte gemeint sind.
86
3. Empirische Analyse
In den bisherigen Gegenüberstellungen wurde zwar der amerikanische liberalism mit dem rechten Flügel der Sozialdemokratie in Europa verglichen. Eine im deutschen (und europäischen) politischen Spektrum üblicherweise ebenfalls aufzufindende links davon stehende Position wurde jedoch bislang nicht aufgeführt. Dies liegt daran, dass sich eine vergleichbare Ideologie in den USA nicht etabliert hat. Vielmehr führte das leistungsorientierte amerikanische Wertesystem, das im folgenden Unterkapitel 3.4.2 ausführlich dargestellt wird, dazu, dass die Vorstellung starrer, vererblicher Klassen in den USA nie akzeptiert wurde.20 Um im Leben erfolgreich zu sein, waren den Amerikanern Eigenschaften und Werte wie harte Arbeit, Ehrgeiz, Bildung und Talent wichtiger als die soziale Herkunft (vgl. Lipset 1996: 81). Damit wirkte das amerikanische Ethos auch dem Entstehen einer sozialdemokratischen oder sozialistischen Partei sowie einer starken Gewerkschaftsbewegung entgegen. Zusammen mit der egalitären Statusstruktur, dem relativen Wohlstand des Landes, dem Fehlen einer aristokratischen Vergangenheit und der historischen Entwicklung einer Demokratie noch vor der Industrialisierung wirkten diese Wertorientierungen in Richtung eines Systems, das für eine klassenbewusste linke politische Ideologie unempfänglich blieb (vgl. Lipset 1996: 109). Die Sozialpolitik Bismarcks hingegen, die im Unterkapitel 3.4.3 zum deutschen Wertesystem genauer erläutert wird, zielte darauf, das Schicksal der weniger Wohlhabenden zu verbessern, ohne notwendigerweise ihre Position in der sozialen Ordnung zu verändern. Sie beförderte so das Entstehen einer sozialdemokratischen, auf die Unterschicht orientierten Linken (vgl. Lipset 1996: 117). Tabelle 10: Verständnis von Konservatismus und Liberalismus in den USA und in Europa Amerikanisches Verständnis
Europäisches Verständnis
Conservatism Liberalism
Klassischer Liberalismus / Altliberalismus Linksliberalismus oder rechter Flügel der Sozialdemokratie Konservatismus
(historisch sehr schwach)
Quelle: Eigene Gegenüberstellung auf Grundlage von Lipset (1996) und Hochgeschwender (2007)
20 Eine
Ausnahme bildete hier bis vor wenigen Jahrzehnten die Minderheit der Schwarzen in den USA (vgl. Lipset 1996: 81).
3.4. Zentrale Werte in den USA und in Deutschland
3.4.2
87
Das amerikanische Wertesystem
Als Erstes soll nun das amerikanische Wertesystem vorgestellt werden, danach dann das deutsche. Im Zentrum des amerikanischen Ethos stehen Lipset (1996: 19) zufolge die Werte Freiheit und Gleichheit (verstanden als Chancengleichheit). Als weitere für die USA wesentliche Werte nennt er Individualismus, Bürgernähe und laissez-faire. In diesen Werten spiegelt sich deutlich wider, dass die amerikanische postrevolutionäre neue Gesellschaft keinerlei feudale Strukturen, Monarchien und Aristokratien kannte. Die Betonung sozialer Hierarchien oder Statusunterschiede, die in monarchischen oder postfeudalen Gesellschaften üblich waren, gab es in der Neuen Welt nicht. Ebensowenig entwickelte sich die Vorstellung einer Gehorsamspflicht gegenüber staatlichen Autoritäten, wie sie in europäischen Ländern und (in Verbindung mit dem Luthertum) gerade auch in Deutschland entstand. McClosky und Zaller (1984: 2) zufolge standen mit Kapitalismus und Demokratie verbundene Wertvorstellungen von der Gründung des Landes an im Zentrum des amerikanischen Ethos – und sind bis heute zentral für die politische Kultur der USA. Mit Demokratie ist dabei die Vorstellung verbunden, dass alle Menschen gleich sind und ein Recht haben, an der Regierung mitzuwirken – indem sie sich selbst regieren oder indem sie Politiker wählen, die ihre Interessen vertreten sollen. Ebenfalls mit Demokratie verbundene Werte sind Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Glaubensfreiheit. Mit Kapitalismus verbundene Werte sind das Recht auf Besitz, das uneingeschränkte Streben nach Profit durch Unternehmer und das Recht, durch ökonomische Aktivitäten unbegrenzt Gewinn zu erwirtschaften. Weiter sind Wettbewerb unter den Produzenten und laissez-faire mit Kapitalismus assoziierte Werte. Ebenso gehören Individualismus und die protestantische Ethik, also eine Betonung von Leistung und harter Arbeit, zu den kapitalistischen Werten. Die Werte der beiden Kategorien sind in Tabelle 11 nochmals aufgeführt. Beide Traditionen zeigen bei einigen Wertvorstellungen Gemeinsamkeiten, wie ein Bekenntnis zu Freiheit, Individualismus und einem schwachen Staat. Jedoch stehen einige Werte auch im Konflikt miteinander: So zielt Kapitalismus in erster Linie auf Gewinnmaximierung, während Demokratie Freiheit, Gleichheit und das öffentliche Wohl stärken möchte (vgl. McClosky/Zaller 1984: 7). Neben diesen beiden Hauptkomponenten des amerikanischen Wertesystems gibt es McClosky und Zaller (1984: 17) zufolge einige weitere Elemente, die Einfluss auf die politische Kultur nehmen. Als Beispiele nen-
88
3. Empirische Analyse
Tabelle 11: Für das amerikanische Ethos zentrale demokratische und kapitalistische Werte Demokratische Werte
Kapitalistische Werte
• Gleichheit
• Recht auf Besitz
• Recht, an der Regierung mitzuwirken
• Streben nach Profit
• Meinungsfreiheit
• Recht auf Gewinn
• Glaubensfreiheit
• Wettbewerb
• Pressefreiheit
• laissez-faire
• Versammlungsfreiheit
• Individualismus • Protestantische Ethik (Betonung von Leistung und harter Arbeit)
Quelle: Eigene Zusammenstellung auf Grundlage von McClosky / Zaller (1984: 2)
nen die Autoren Fortschrittsglaube, Patriotismus, Rationalismus, Mitgefühl mit Bedürftigen und Religion. Dass das amerikanische Wertesystem in dieser Form entstehen konnte, führt Lipset (1996: 53) zum einen auf die Geschichte des Landes zurück, das sich als eine neue Siedler- beziehungsweise Einwanderergesellschaft bildete. Durch diese Entstehungsgeschichte war die Idee der Gleichheit von Beginn an zentral für die nationale Identität der Amerikaner. Auf diese Weise konnten Werte wie egalitäre soziale Beziehungen, Leistung und gleiche Chancen für alle auf ökonomischen und sozialen Aufstieg entstehen. Eine Form von Ehrerbietung der sozial niedriger Gestellten gegenüber Höhergestellten wurde in einem solchen Umfeld nicht erwartet. Zum anderen spielten die protestantischen Glaubensgemeinschaften eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des Wertesystems, was auch strukturelle Gründe hatte (vgl. Lipset 1996: 61). So waren die meisten Menschen in der Neuen Welt Mitglieder kleiner religiöser Gruppen. Da diese Gruppen in der Regel in einzelnen Gemeinden organisiert waren und keine hierarchischen Strukturen kannten, förderten sie egalitäre, individualistische, bürgernahe und anti-elitistische Werte. So bestärkten das politische und das religiöse Wertesystem einander gegenseitig. Auch hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber dem Staat unterschieden sich diese kleinen Gruppen deutlich von den großen europäischen Kirchen (vgl. Lipset 1996: 93).
3.4. Zentrale Werte in den USA und in Deutschland
89
So blieb beispielsweise ein starkes Misstrauen gegenüber dem Staat in diesen Gruppen sehr stark erhalten. Bis heute betonen sie eine persönliche, individualisierte Beziehung zu Gott, die nicht von staatlich unterstützten, hierarchisch organisierten Kirchen vermittelt ist. Dieses Misstrauen gegenüber dem Staat und das damit verbundene Ideal eines schwachen Staates waren schon in der frühen Republik sehr tief in der politischen Kultur verankert (vgl. McClosky/Zaller 1984: 266). Zwar hatte die zentrale Regierung, welche die Gründerväter der USA gestalteten, ausreichend Macht, um die ganze Nation zu regieren. Dennoch wollten nur wenige, dass sie das wirtschaftliche oder politische Leben dominierte. Aus ihrer Erfahrung mit der britischen Kolonialregierung hatten sowohl Politiker als auch Wähler ein tiefes Misstrauen gegenüber politischer Macht gezogen. Zugleich war ihnen bewusst, dass die Regierungen der meisten Nationen der Welt zu Absolutismus neigten. Fast niemand vertrat zu dieser Zeit die Auffassung, dass die Regierung für das Wohlergehen der einzelnen Bürger sorgen müsse. Vielmehr waren die amerikanischen Bürger davon überzeugt, dass jedes Individuum verpflichtet war, für sich selbst zu sorgen – selbst bei persönlichem Scheitern oder materieller Not. Dieser Glaube an individuelle Verantwortung wurde durch den Vergleich mit den in Europa herrschenden Bedingungen noch verstärkt (vgl. McClosky/Zaller 1984: 266). Im 18. und frühen 19. Jahrhundert hielten viele Amerikaner Europäer für unmotiviert, ungebildet und unterwürfig. Sie glaubten, die Abhängigkeit von Lehnsherren nehme ihnen jegliche Initiative und Phantasie. Sich selbst hingehen sahen die Amerikaner als leistungsstark, unabhängig und geschäftstüchtig, und führten dies häufig auf den Einfluss von Amerikas freien Institutionen zurück. Weder Lehnsherren noch Gebräuchen gegenüber verpflichtet, sahen sie sich als vor allem sich selbst gegenüber verantwortlich (vgl. McClosky/Zaller 1984: 267). Sie glaubten außerdem, dass eine solche Unabhängigkeit bürgerliche Verantwortung fördere. Diese Ideen wurden zu den Grundsätzen der jungen Republik. Zusätzlich gestärkt wurden sie durch die starke protestantische Tradition Amerikas, derzufolge Individuen ihren eigenen Weg zum Heil finden müssen und dabei nicht (im Gegensatz zum Katholizismus) auf die Anleitung und Unterstützung der Kirche angewiesen sind. Entsprechend wurde von den Individuen erwartet, mit wenig oder gar keiner Hilfe der Regierung oder anderer Institutionen auszukommen. Die Einstellungen der Bevölkerung gegenüber staatlicher Unterstützung und dem Wohlfahrtsstaat wurden darüber hinaus durch traditionelle amerikanische Werte zur Bedeutung von harter Arbeit beeinflusst (vgl. McClosky/Zaller 1984: 274). In Übereinstimmung mit der protestantischen Ethik
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3. Empirische Analyse
nahmen viele Amerikaner Mitmenschen, die anhaltend gewissenhaft, diszipliniert und produktiv arbeiteten, nicht nur als gute Bürger wahr sondern zugleich auch als Menschen, die in Gottes Gunst stehen. Die protestantische Wertschätzung harter Arbeit wurde durch den Sozialdarwinismus noch verstärkt und förderte somit bei vielen Amerikanern die Vorstellung individueller Verantwortung und die Ablehnung eines Wohlfahrtsstaats. Von letzterem nahmen sie an, dass er Menschen unterstütze, ohne von ihnen zu verlangen, dass sie arbeiten. Doch nicht nur der Wert der individuellen Verantwortung war eng mit dem tiefen Misstrauen gegenüber der Regierung und dem Ideal eines schwachen Staates verbunden, sondern auch der Wert der Gleichheit. Hinsichtlich Chancengleichheit waren viele Amerikaner davon überzeugt, dass eine mächtige zentrale Regierung zwangsläufig von Menschen mit Wohlstand, Macht und Einfluss als Mittel genutzt würde, um sich selbst Vorteile zu verschaffen und die weniger Wohlhabenden um ihre fairen Verdienste zu bringen (vgl. McClosky/Zaller 1984: 86). Um dies zu verhindern, durfte die Regierung nicht allzu viel Einfluss erhalten. Somit wurde ein schwacher Staat auch angestrebt, um (Chancen-)Gleichheit sicherzustellen. Laissez-faire sowie die Idee, dass der Staat eine minimale Rolle in der Wirtschaft spielen sollte, passten ebenfalls absolut zum fest verankerten Misstrauen der Amerikaner gegenüber der Regierung als einer despotischen Institution. Das Prinzip war auch im Einklang mit den protestantischen Werten und der aufkeimenden Philosophie des Individualismus, die beide den individuellen Unternehmer in den Mittelpunkt stellten. Die Doktrin des laissez-faire unterstützte den Glauben, dass Individuen selbst für ihr ökonomisches Handeln verantwortlich sind. Es war somit vollkommen in Einklang mit den fundamentalen nationalen Werten. Häufig wird angenommen, dass sich amerikanische Werte in ihren Hauptgesichtspunkten seit Entstehen der Nation kaum geändert haben. Dies lässt sich dadurch erklären, dass die USA mit Werten wie Gleichheit, Individualismus und Leistungsorientierung schon bei ihrer Gründung ein modernes Land waren (vgl. Lipset 1996: 248). Doch auch wenn die ursprünglichen Werte der USA bis heute erkennbar sind, hat sich auch dort ein Wandel vollzogen. Das Wertesystem der Gründerväter, mit seinem Misstrauen gegenüber dem Staat und seiner Betonung auf individuellen Rechten, wurde spürbar modifiziert. Dieser Wandel lässt sich unter anderem auf die durch die Industrialisierung veränderte wirtschaftliche Situation Ende des 19. Jahrhunderts und auf die im Zuge des Zweiten Weltkriegs gewachsene Bedeutung des Staates zurückführen. Auch die Bürgerrechts-
3.4. Zentrale Werte in den USA und in Deutschland
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bewegung der 1960er Jahre, die ethnische oder genderbezogene Gruppenrechte stärker in den Vordergrund rückte, spielte eine wesentliche Rolle. Einflussreich war auch der Kalte Krieg, der dazu führte, dass für viele Amerikaner die Ideen von einem freien Markt, Demokratie, Religion und nationalem Wohlbefinden gut zusammenpassten, im Gegensatz zum Sowjetblock, mit dem Vorstellungen wie Anti-Demokratie, Sozialismus, AntiReligion, Tyrannei verbunden wurden (vgl. Valeri 2017: 253, Zeilen 70-74). Dies wird später noch genauer erläutert. Anhand dieser Stationen sollen die Änderungen im amerikanischen Wertesystem kurz skizziert werden. Nach dem Höhepunkt des laissez-faire-Kapitalismus Mitte des 19. Jahrhunderts brachte die Industrialisierung einen ersten großen Einschnitt im amerikanischen Ethos. Sie beschleunigte sich nach dem Bürgerkrieg und machte Ende des 19. Jahrhunderts neues wirtschaftspolitisches Handeln erforderlich. Allgemein verändert die Industrialisierung die soziale Struktur einer Gesellschaft, weil sie zum Beispiel zu Bildungsanstieg, Urbanisierung, wachsenden organisatorischen Netzwerken und beruflicher Spezialisierung führt (vgl. Inglehart 1997: 162). In den USA wandelte sie zusammen mit anderen drastischen wirtschaftlichen Veränderungen den Charakter der Gesellschaft so grundlegend, dass am Prinzip des laissez-faire in seiner ursprünglichen Form nicht länger festgehalten werden konnte (vgl. McClosky/Zaller 1984: 154-155). Die „unsichtbare Hand“21 (Smith 1862) allein schien nicht mehr geeignet, das ökonomische Geschehen zu leiten. Vertreter der Arbeiterklasse, progressive Reformer und liberale Intellektuelle drängten die Regierung, im Sinne keynesianischer Wirtschaftspolitik zu intervenieren, um wirtschaftliche Abschwünge abzumildern und Armut zu lindern. Beide Problematiken schienen sich durch die Marktkräfte allein nicht lösen zu lassen. Auf der anderen Seite argumentierten Konservative sowie Unternehmer, wirtschaftliche Regulierung durch die Regierung müsse auf ein Minimum begrenzt bleiben. Anders als in Europa mit seiner Tradition starker Regierungen, wo Politiker unter den veränderten Bedingungen relativ schnell in das Wirtschaftsgeschehen eingriffen, worauf weiter unten noch genauer eingegangen wird, war es in den USA ein langer Prozess für Politiker beider Parteien, sich zu verstärktem Regierungshandeln zu bekennen (vgl. McClos21 Metaphorischer Begriff des schottischen Wirtschaftswissenschaftlers Adam Smith, mit dem
die Idee beschrieben wird, dass in einem Wirtschaftssystem eine ausreichende Menge an Gütern in guter Qualität produziert und auch gerecht verteilt werden, wenn alle Akteure an ihrem eigenen Vorteil interessiert sind. Der Markt reguliert sich quasi von selbst durch die unsichtbare Hand. Maßnahmen seitens des Staates zur Regulierung der Wirtschaft sind nicht erforderlich beziehungsweise sogar eher nachteilig.
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3. Empirische Analyse
ky/Zaller 1984: 150). Aufgewachsen mit der Doktrin einer schwachen Regierung fiel es auch liberalen Politikern deutlich schwerer, staatlichen Regulierungen etwas abzugewinnen. Mit den Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verabschiedeten Reformen (zum Beispiel zur Auflösung wirtschaftlicher Monopole sowie zur Beendung anderer nicht den Wettbewerb fördernder Wirtschaftspraktiken) räumten Politiker beider Parteien erstmals ein, dass aktives Regierungshandeln erforderlich sein kann, um Chancengleichheit zu gewährleisten (vgl. McClosky/Zaller 1984: 87). Diese Reformen mögen im Rückblick gering erscheinen, bedeuteten damals aber eine wesentliche Veränderung. Gleichzeitig brachten sie eine Abwendung von der früheren Überzeugung, dass eine schwache Regierung Gleichheit fördere, mit sich. Nach der Industrialisierung haben auch der Zweite Weltkrieg und die vorangehende Große Depression das amerikanische Wertesystem verändert. In den USA begannen die Bürger, sich mehr auf den Staat zu verlassen sowie staatliche Interventionen stärker zu befürworten (vgl. Lipset 1996: 22). Dieser Einfluss ist bis heute in der politischen Kultur feststellbar und unterscheidet die Einstellungen und Werthaltungen der Amerikaner heute von denjenigen aus der Zeit vor der Depression. McClosky und Zaller (1984: 264) sehen im Wachstum des Wohlfahrtsstaates im Zuge des Zweiten Weltkrieges sogar die Entwicklung, die seit der Industrialisierung den stärksten Effekt auf das politische und wirtschaftliche Leben in den USA hatte. Diese Entwicklung wurde von zahlreichen Kontroversen begleitet. Fragen zur Rolle der Regierung bei der Aufsicht der Wirtschaft, bei der Bereitstellung von Lebensmitteln, Schutz und medizinischer Versorgung für die Bevölkerung sowie bei der Förderung von Frauen, ethnischen Minderheiten und anderen benachteiligten Gruppen haben die amerikanische Bevölkerung über viele Jahrzehnte beschäftigt und beschäftigen sie bis heute. Die Argumentationsmuster sind dabei ähnlich und entsprechen den bereits dargestellten unterschiedlichen Wertvorstellungen zwischen Konservativen und Liberalen. So befürworten Konservative einen schwachen Staat und argumentieren, dass die Regierung Werte wie Eigenverantwortung, Eigeninitiative, Wettbewerb und Leistungsbereitschaft unterminiert sowie die private Wirtschaft unterdrückt, wenn sie versucht, das Wohlergehen der Bürger sicherzustellen. Liberale argumentieren hingegen, dass das Versprechen der amerikanischen Demokratie ohne die Unterstützung des Wohlfahrtsstaates nicht realisiert werden kann. Eine echte Demokratie kann ihnen zufolge kaum erreicht werden, wenn mächtige private Interessen die Gesellschaft dominieren und zahlreiche Bürger nicht genügend Einkommen haben, um ein erfüllendes Leben zu führen. Die Debatte
3.4. Zentrale Werte in den USA und in Deutschland
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über den Wohlfahrtsstaat ist somit zugleich eine Debatte darüber, welchem Strang des Wertesystems, dem demokratischen oder dem kapitalistischen, der Vorrang gegeben werden sollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Bürgerrechtsbewegung Einfluss auf das amerikanische Wertesystem, da sie die Gesellschaft für die strukturelle Benachteiligung bestimmter Gruppen (zum Beispiel ethnische Minderheiten, Frauen, Homosexuelle) sensibilisierte und somit Gruppenrechte stärker ins Bewusstsein rückte. Dazu ist zunächst zu erwähnen, dass gruppenorientierte Werte und Verpflichtungen in den USA historisch schwach ausgeprägt sind, da die religiöse Tradition mit ihren puritanischen Wurzeln Individualismus und persönliche Rechte betonte. Amerikaner neigen daher eher als Bewohner anderer Länder dazu, von Individuen zu erwarten, dass sie das Beste für sich selbst tun, nicht für andere (vgl. Lipset 1996: 238). Ihre Rechte sollen sie selbst einfordern und schützen. Dennoch konnte auch in den USA die Vorstellung einer Verantwortung für die Gemeinschaft entstehen, wenn auch in anderer Form als in Europa: So führte die protestantische Ethik, in Verbindung mit der liberalen Betonung auf Individualismus und Leistung, zu Werten, die einem dezentralen demokratischen System sehr zuträglich waren. Sie förderten zugleich das Entstehen einer Elite, die ihre Verantwortung für die Gemeinschaft sehr ernst nahm (vgl. Lipset 1996: 69). Um den strukturellen Benachteiligungen Schwarzer und anderer Minderheiten zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt etwas entgegenzusetzen, wurden in den 1950er und 1960er Jahren gruppenorientierte Maßnahmen eingeleitet, die unter dem Titel „affirmative action“ (auf Deutsch positive Diskriminierung) standen. So versuchten die Regierungen unter den Präsidenten Kennedy and Johnson, Schwarze in das Rennen um Gewinn und Erfolg zu involvieren, und zwar zu gleichen Bedingungen wie alle anderen (vgl. Lipset 1996: 118-119). Folglich wurden Programme aufgelegt wie der „War on Poverty“, „Head Start“ für mehr öffentliche Ausgaben für Bildung, „Aid to Families with Dependent Children“ etc. Alle zielten darauf, die Situation der Unterschicht zu verbessern, der viele Schwarze angehörten. Da diese Maßnahmen zum Ziel hatten, ganze Gruppen zu fördern, standen sie im Widerspruch zu den ursprünglichen amerikanischen Werten, die vor allem die Chancengleichheit einzelner Individuen im Blick hatten. Dies zeigt sich auch an späteren, unter Präsident Nixon eingeführten Maßnahmen wie Quoten für Schwarze oder Angehörige anderer Minderheiten. Im Gegensatz zum früheren amerikanischen Ethos fördern solche Maßnahmen eine Gleichheit im Ergebnis für bestimmte Gruppen, nicht Chan-
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3. Empirische Analyse
cengleichheit für einzelne Individuen am Beginn des „Rennens“ (vgl. Lipset 1996: 119). Schließlich hatte auch der Kalte Krieg einen deutlichen Einfluss auf das Wertesystem. Er führte dazu, dass viele Amerikaner glaubten, die Vorstellungen eines freien Marktes, Religion und nationalem Wohlbefinden passten gut zusammen, im Gegensatz zu den Vorstellungen, die sie mit der ehemaligen Sowjetunion verbanden: Eiserner Vorhang, Anti-Kapitalismus, Anti-Religion, Anti-Demokratie, eine Art Tyrannei (vgl. Valeri 2017: 253, Zeilen 70-74). Valeri ergänzt hier, dass man anhand des Kalten Krieges beziehungsweise dessen Ende sehr gut generationenübergreifende Änderungen feststellen könne. So glaubten ältere Amerikaner eher, dass kapitalistische Ideen wie die des freien Marktes auch gut seien für das nationale Wohlbefinden. Jüngere Amerikaner hingegen, die nach dem Ende des Kalten Krieges aufwuchsen, haben demnach weniger einen Sinn dafür, dass Kapitalismus auch einem höheren moralischen Zweck (wie dem des nationalen Wohlbefindens) dienen könnte. Hinsichtlich jüngerer Entwicklungen lässt sich sagen, dass der Wohlstand der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auch dazu geführt hat, dass die Bevölkerung sich teilweise wieder den individualistischen und wettbewerbsorientierten Werten der klassischen liberalen Ideologie, das heißt dem amerikanischen conservatism, zuwandte und einem starken Staat misstraute (vgl. Lipset 1996: 22). Die Unterstützung für staatliche Sozialleistungen ging zurück, und viele Amerikaner wollen die Aufgaben des Staates weiter reduzieren. Ein Beispiel ist die anhaltende Diskussion um eine Krankenversicherungspflicht und staatliche Zuschüsse zu Versicherungsbeiträgen für Menschen mit geringem Einkommen nach dem 2010 verabschiedeten Patient Protection and Affordable Care Act („Obamacare“). Auch ist die ökonomische Rolle der Regierung in den USA bis heute schwächer als die von anderen industrialisierten Nationen (vgl. Lipset 1996: 289). Die Betonung von Gruppenrechten ist in den 1990er Jahren zudem verstärkt in die Kritik geraten. Dies könnte als eine erneute Bestärkung der ursprünglichen Werte wie individueller Erfolg und (Chancen)Gleichheit gesehen werden. Trotz des nachhaltigen Einflusses durch den Zweiten Weltkrieg hinsichtlich der Rolle der Regierung in sozialen und wirtschaftlichen Fragen lässt sich also folgern, dass die Amerikaner bis heute sehr viel individualistischer, misstrauischer gegenüber dem Staat sowie leistungsorientierter sind als andere Nationen. Dieser Trend kann jedoch auch anders interpretiert werden. McClosky und Zaller (1984) zufolge beispielsweise befinden sich die USA langfristig auf einem Weg in Richtung Wohlfahrtsstaat, der jedoch immer wieder von
3.4. Zentrale Werte in den USA und in Deutschland
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Phasen unterbrochen wird, in denen die Menschen sich stärker kapitalistischen Werten zuwenden. Demnach hängt es auch von der jeweiligen Zeit ab, ob Amerikaner vorrangig kapitalistische oder demokratische Werte stützen. So gab es in der jüngeren Geschichte immer wieder Phasen, in denen eine der beiden Traditionen stärker im Vordergrund stand. In den 1920ern, 1950ern und 1980ern waren es kapitalistische Werte, in den 1930ern, 1960ern und 1970ern demokratische Werte. Zwischen den unterschiedlichen Phasen sehen McClosky/Zaller (1984: 292) jedoch eine deutliche Asymmetrie. So scheinen die kapitalistischen Phasen eher vorübergehende, jedoch nicht nachhaltige Versuche des Aufhaltens eines Trends in Richtung Wohlfahrtsstaat zu sein. Die demokratischen Phasen hingegen scheinen einen langfristigen Effekt auf die Einstellungen der Bürger gehabt zu haben. Die demokratische Tradition scheint also insgesamt sicherer in der politischen Kultur des Landes verankert zu sein als die kapitalistische. Dies zeigt sich gerade auch im Blick auf jüngere Menschen: Sie neigen wesentlich stärker als Ältere dazu, Demokratie und Wohlfahrtsstaat zu unterstützen, und wesentlich weniger als Ältere dazu, Kapitalismus in seiner laissez-faire-Form zu favorisieren (vgl. McClosky/Zaller 1984: 297). Dieser Ansicht stimmt auch Mark Valeri (2017: 253, Zeilen 74-82) im Interview zu. Wie genau die protestantische Arbeitsethik und Individualisierung die Werte beeinflussten, wird im folgenden Kapitel 3.5 genauer ausgeführt. Hier lässt sich zusammenfassend bereits sagen, dass die protestantische Ethik, bezogen auf die gesamte Geschichte der USA, ihren stärksten Einfluss auf die politische Kultur durch die frühen puritanischen Siedler hatte (vgl. McClosky/Zaller 1984: 127-128). Im 18. und 19. Jahrhundert traten dann andere, eher säkulare Werte wie zum Beispiel Wettbewerb in den Vordergrund. In der Mitte des 19. Jahrhunderts, dem Höhepunkt des laissezfaire-Kapitalismus in den USA, beruhte das Wirtschaftssystem sowohl auf religiösen als auch säkularen Werten. Heute scheint der Kapitalismus seine Legitimität jedoch weniger aus einer (asketischen) protestantischen Ethik zu ziehen, sondern sich eher auf säkulare Werte wie ökonomische Effizienz zu stützen. Starke säkulare Werte scheinen somit die Rolle einzunehmen, die früher vom religiösen Glauben gefüllt wurde (vgl. Valeri 2017: 253, Zeilen 93-96). Doch auch wenn religiöse Werte im amerikanischen Wirtschaftssystem kaum mehr von Bedeutung sind und immer mehr Menschen sich hinsichtlich ihrer Religionszugehörigkeit zu den nones zählen, sollte man daraus nicht schließen, dass Glaubensüberzeugungen in den USA grundsätzlich keine Rolle mehr spielen. Wie bereits erwähnt, sind die Amerikaner bis heute die gläubigste unter den westlichen Nationen, was sich unter ande-
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3. Empirische Analyse
rem an der Häufigkeit von Gottesdienstbesuchen zeigt. In diesem Zusammenhang erklärt Lipset (1996: 247), dass Religion dazu beiträgt, Werte und Praktiken vorangehender Epochen zu institutionalisieren. Dass die Amerikaner bis heute so gläubig sind, führt er dementsprechend auf die gleichen protestantischen Gruppen zurück, die auch Individualismus und rationales Marktverhalten gefördert hatten. Durch sie blieben zahlreiche Werte und Glaubensüberzeugungen aus der Zeit vor der Industrialisierung westlicher Gesellschaften in den USA erhalten. Das Land ist somit ein Gegenbeispiel für die Annahme, dass das Aufkommen einer entwickelten urbanen Wirtschaft notwendigerweise Traditionen unterminiert. Lipset (1996: 248) betont, dass die meisten Amerikaner noch heute vormodernen Glaubensvorstellungen anhängen. Somit könnten die USA in mancher Hinsicht als traditioneller gelten als europäische Länder, obwohl sie mindestens genauso modern und technologisch entwickelt sind wie diese. Dies wird von Untersuchungen von Inglehart und Welzel (2010: 65) gestützt. Anhand mehrerer „kultureller Landkarten“, die zum Beispiel traditionelle versus säkular-rationale Autorität und Überlebens- versus Selbstentfaltungswerte zum Ausdruck bringen (vgl. Inlgehart/Welzel 2010: 57), zeigen sie, dass die USA nicht der Prototyp kultureller Modernisierung sind, deren Beispiel andere Gesellschaften folgen. Tatsächlich bilden sie einen abweichenden Fall mit einem sehr viel traditionelleren Wertesystem als andere postindustrielle Gesellschaften (mit Ausnahme von Irland). So sind die USA hinsichtlich der traditionellen beziehungsweise säkularen Dimension22 weit unter anderen wohlhabenden Gesellschaften angesiedelt und weisen ein deutlich höheres Level an Religiosität sowie deutlich mehr nationalen Stolz auf. Diese Ausprägung an Religiosität und Nationalstolz ähnelt eher der mancher noch in der Entwicklung befindlichen Länder. Bezüglich Überlebens- beziehungsweise Selbstentfaltungswerten belegen die USA hingegen einen Spitzenplatz unter den am meisten entwickelten Nationen. Lediglich von den Schweden, Niederländern und Australiern werden sie noch übertroffen. 22 Zu
traditionellen Werten zählen zum Beispiel die Bedeutung von Gott im eigenen Leben, dass ein Kind eher Gehorsam und religiösen Glauben lernen sollte als Unabhängigkeit und Entschlossenheit, dass Schwangerschaftsabbrüche niemals zu rechtfertigen sind, ein starker Nationalstolz, Respekt für Autorität, während säkular-rationale Werte das Gegenteil davon betonen. Zu den Überlebenswerten zählen, dass der Befragte wirtschaftlicher und körperlicher Sicherheit Priorität vor Selbstentfaltung und Lebensqualität gibt, sich selbst als nicht sehr glücklich beschreibt, Homosexualität niemals zu rechtfertigen ist, und dass der Befragte der Ansicht ist, dass man sehr vorsichtig sein muss, wem man vertraut (vgl. Inglehart/Welzel 2010: 49).
3.4. Zentrale Werte in den USA und in Deutschland
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Die hohe Religiosität der Amerikaner zeigt sich auch darin, dass viele Konservative ihre moralischen Vorstellungen (etwa in Bezug auf HomoEhen oder Schwangerschaftsabbrüche) auch politisch sehr viel aggressiver zum Ausdruck bringen als Gläubige in anderen christlichen Ländern. Lipset (1996: 207) führt dies zum einen auf das Wertesystem, zum anderen auf die Prägung durch protestantische Gruppen zurück. So spielt ihm zufolge der utopische ideologische Kontext des amerikanischen Wertesystems eine wesentliche Rolle, den Länder, die sich über eine gemeinsame Geschichte anstelle einer Ideologie definieren, in dieser Form nicht haben. Hinzu kommt eine unterschiedliche konfessionelle Prägung als in anderen protestantischen Ländern, da die protestantischen Gruppen, die die USA dominierten, in anderen Ländern meist eine Minderheit darstellten. In diesem Kontext konnte neben einem starken Patriotismus auch ein starker Moralismus entstehen, der sich in Verhaltensweisen wie der Betonung der persönlichen Moralität zeigt, die in anderen Ländern eher unüblich waren. Bis heute sind Amerikaner tendenziell moralistischer und bestehen stärker auf absoluten Standards als Menschen in anderen entwickelten Ländern. Der Moralismus der protestantischen Gruppen in den USA führt bis heute zu Konflikten, die oft mit dem Begriff culture wars (vgl. Hunter 1991) beschrieben werden: Politische und soziale Kontroversen werden eher als nicht verhandelbare moralische Angelegenheiten wahrgenommen denn als Konflikte zwischen verschiedenen materiellen Interessen, die mit einem Kompromiss gelöst werden könnten (vgl. Lipset 1996: 226). Thematisch geht es bei diesen Kontroversen beispielsweise um Homo-Ehe, Schwangerschaftsabbruch, Drogenkonsum oder auch um Waffenpolitik. 3.4.3
Das deutsche Wertesystem
Anders als Amerika war Deutschland (beziehungsweise zur damaligen Zeit die Territorien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation) eine traditionelle und feudale Gesellschaft und blieb es bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein (vgl. Baker et al. 1981: 3). Im Vergleich zu seinen Nachbarn im Nordwesten Europas setzten die Industrialisierung und die damit verbundenen Modernisierungsprozesse in Deutschland verspätet ein. Die Entwicklung in Deutschland unterschied sich von der in anderen europäischen Ländern außerdem dadurch, dass die Industrialisierung dort vom Staat und somit von der herrschenden Elite angestoßen und durchgeführt wurde. Trotz der industriellen Revolution behielt sie ihre feudale Weltanschauung bei und lehnte es ab, sich in die neuen sozialen Strukturen zu integrieren. Preußische Werte wie Disziplin, Gehorsam
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3. Empirische Analyse
und Ehrerbietigkeit gegenüber der Autorität blieben daher bestehen. Diese Pflicht- und Gehorsamswerte waren für die Disziplinierung der vielen Menschen, die damals vom Land in die Stadt zogen, von erheblicher Bedeutung (vgl. Klages 1988: 36-37). Zugleich lieferten sie die Grundlage für die hohe Akzeptanzfähigkeit und die tägliche Arbeitsleistung großer Teile der Bevölkerung unter den harten Bedingungen des industriellen Aufbruchs. Diese harte Arbeit umfassende Diszipliniertheit wurde auch von der protestantischen Kirche mitgetragen und wurde schnell zu einem wesentlichen Element des nationalen Selbstverständnisses. Doch auch wenn die protestantische Kirche (ebenso wie die protestantischen Gruppen in den USA) den Wert der harten Arbeit schätzte, war ihr Einfluss auf das Wertesystem grundsätzlich sehr unterschiedlich von dem der amerikanischen protestantischen Gruppen. Dies lag unter anderem an den bereits erläuterten verschiedenen Strukturen. Anders als in den USA, wo die protestantischen Gruppen unabhängig vom Staat waren, egalitäre und anti-elitistische Werte förderten und sich ein tiefes Misstrauen gegenüber der Regierung erhielten, waren die Kirchen in Deutschland staatlich finanziert und hielten ihre Mitglieder an, das politische System zu unterstützen. In diesen hierarchischen Strukturen blieben Werte, die in mittelalterlichen, agrarischen Gesellschaften entstanden waren, erhalten. Zentral ist hier die Vorstellung der Verantwortung der Gemeinschaft für das Wohlergehen der Mitglieder. Die Vorstellung einer bürgerlichen Gesellschaft hingegen gefiel den Kirchen, besonders der katholischen Kirche, nicht – ebensowenig wie dem Adel (vgl. Lipset 1996: 62). Unter diesen Bedingungen entwickelte sich in Deutschland auch kein vergleichbarer Moralismus, wie er in den USA entstand. Dies lag daran, dass das religiöse Ethos und die Haltungen hinsichtlich persönlicher Moralität die Werte hierarchisch organisierter, staatsbezogener Kirchen widerspiegelten. Diese waren von der Annahme geprägt, dass Menschen und ihre Institutionen von Natur aus nicht perfekt sind. Entsprechend wurden keine absoluten Standards erwartet (vgl. Lipset 1996: 207). Da die Aristokratie in Deutschland weiterhin die wirtschaftliche und politische Entwicklung kontrollierte, wurde auch das Aufkommen einer einflussreichen Mittelklasse verzögert. Während in anderen Teilen Europas die Mittelklasse eine wesentliche Rolle im kapitalistischen System sowie bei der Entwicklung der Gesellschaft spielte, konnte sie in Deutschland keinen vergleichbaren Einfluss entwickeln. Politisch verzögerte die Schwäche der Mittelklasse die Entwicklung einer liberalen Demokratie nach dem Vorbild der USA oder Frankreichs (vgl. Baker et al. 1981: 4). Das spezielle Muster der Industrialisierung in Deutschland führte außerdem dazu, dass
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99
die bereits bestehende Spaltung zwischen den sozialen Klassen (Proletariat und Bürgertum) aufrechterhalten wurde. Auch die religiöse Spaltung zwischen einer protestantischen Mehrheit und einer katholischen Minderheit wurde durch die Industrialisierung nicht moderiert und blieb somit weiterhin bedeutsam. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Deutschland also tief gespalten zwischen Bürgertum und Proletariat, Katholiken und Protestanten, Liberalen und Konservativen. Modernisierung und Demokratisierung wurden erst durch äußere Ereignisse angetrieben. Wie oben bereits angedeutet, unterschieden sich die Reaktionen der deutschen (und generell der europäischen) Politik auf die Industrialisierung grundlegend von denen der USA. Traditionell an starke Regierungen gewohnt, begannen die europäischen Länder schnell, ihre Regierungen in die Leitung des Wirtschaftsgeschehens einzubeziehen (vgl. McClosky/Zaller 1984: 150). Mit Bismarck in Deutschland und Disraeli in Großbritannien unternahmen auch konservative Politiker Maßnahmen zur Regulierung der Wirtschaft und zur Linderung der Armut. Mit der Einrichtung einer gesetzlichen Kranken-, Renten- und Unfallversicherung trug Bismarck wesentlich zum Aufbau des Wohlfahrtsstaates in Deutschland bei. Dies passt durchaus zum (europäischen) konservativen Verständnis und dem damit verbundenen Vertrauen auf die Regierung, in wirtschaftlichen und sozialen Fragen aktiv zu werden. In den USA hingehen lehnen viele Konservative zum Beispiel eine allgemeine Krankenversicherungspflicht bis heute ab, wie oben bereits skizziert. Während der Erste Weltkrieg viele der traditionellen Grundlagen Deutschlands unterminierte, gelang es während der Weimarer Republik noch nicht, traditionelle Werte, soziale Normen und politische Stile zu modernisieren und demokratisieren, sodass sie den veränderten politischen und wirtschaftlichen Strukturen hätten entsprechen können. Vielmehr sahen viele Deutsche in den demokratischen Institutionen ein Fremdelement, das ihnen nach der Niederlage im ersten Weltkrieg von außen aufgedrängt wurde (vgl. Inglehart 1997: 175). Autoritäre Eliten besetzten noch immer einflussreiche Positionen, und die politische Kultur der breiten Bevölkerung entsprach nicht den demokratischen Institutionen. In diesem Umfeld entwickelten die Massen keine Loyalität gegenüber der Demokratie. Die fehlende Legitimität und Unterstützung durch die Bevölkerung führten angesichts der ökonomischen Schwierigkeiten im Zuge der Großen Depression letztlich zum Zusammenbruch der Weimarer Republik. Das Dritte Reich brachte schließlich das Ende der alten Werte. Da Hitler Kontrolle über die gesamte Gesellschaft erlangen wollte, versuchte er,
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3. Empirische Analyse
traditionelle Loyalitäten und Identifikationen zu zerstören und sie mit von den Nationalsozialisten vorgeschriebenen sozialen Bindungen und Organisationen zu ersetzen. Organisationen und Ministerien wurden gegründet, um Nazi-Ideologie zu propagieren und Bildung, Jugend und Arbeiter zu kontrollieren. Zentrales Element war hier der Gehorsam gegenüber dem „Führer“. Dadurch, dass Hitler selbst bestimmte, wer leitende Positionen einnehmen sollte, wurde die traditionelle Herrschaft durch die Aristokratie beendet (vgl. Baker et al. 1981: 5). Die Verbindungen, die die politischen und sozialen Beziehungen in Deutschland über die vergangenen Jahrhunderte hinweg bestimmt hatten, wurden also durch die Naziherrschaft deutlich geschwächt. Dieser Prozess wurde durch die Zerstörung, die mit dem Zweiten Weltkrieg einherging, und die anschließende Politik der Besatzungsmächte noch verstärkt. Die Denazifizierungspolitik ruinierte den Ruf vieler noch verbleibender Mitglieder des Adels. Der vorher bestehende Konflikt über Religion wurde dadurch entschärft, dass in der BRD fast gleich viele Protestanten wie Katholiken lebten. Die massive Migration aus den früheren Ostgebieten des Reiches trug ebenso dazu bei, dass regionale Spaltungen reduziert wurden. Baker et al. (1981: 5) zufolge begann die Modernisierung in Deutschland somit erst mit dem Jahr 1945. Dann jedoch schlug auch die Demokratie langsam Wurzeln, und so konnte sich Westdeutschland bis zu den 1980er Jahren nach und nach zu einer stabilen Demokratie entwickeln (vgl. Inglehart 1997: 175). Dass demokratische Institutionen an Akzeptanz gewannen, lag zunächst vor allem am Wirtschaftswunder. Gerade im Vergleich mit Amerikanern und Briten brachten die Deutschen in den 1950er Jahren noch wenig Begeisterung für ihre politischen Institutionen zum Ausdruck, aber auf ihre wirtschaftliche Leistung waren sie durchaus stolz (vgl. Almond/Verba 1989a). Jedoch waren die ökonomischen Erfolge nicht der einzige Grund für die steigende Legitimität der Demokratie. Im Gegensatz zu den Institutionen der Weimarer Republik gelang es denjenigen der BRD, die innere Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie gewährleisteten beispielsweise 1969 eine friedliche Übertragung der Macht von der großen Koalition unter CDU und SPD auf eine von SPD und FDP geführte Regierung. In den späten 1970er Jahren schließlich brachten die Deutschen stärkere Zufriedenheit über das Funktionieren ihres politischen Systems zum Ausdruck als die Mehrheit der Menschen aus anderen westeuropäischen Ländern, darunter auch der Briten. Auf der bereits im vorangehenden Unterpunkt kurz erläuterten kulturellen Landkarte von Inglehart und Welzel (2010: 57) liegt Deutschland im Gegensatz zu den USA auf einem relativ hohen Niveau, was säkular-
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rationale Werte anbelangt, während die USA in dieser Hinsicht stärker traditionelle Werte vertreten. Hinsichtlich der Dimension Überlebenswerte / Selbstentfaltungswerte werden in den USA hingegen Selbstentfaltungswerte etwas stärker vertreten als in Deutschland. 3.4.4
Amerikanische und deutsche Werte im Vergleich
Nach diesem kurzen historischen Abriss der Werteentwicklung in beiden Ländern werden die unterschiedlichen Werte und die strukturellen Bedingungen, in denen sie sich entwickelten, nachfolgend in Tabelle 12 einander gegenübergestellt. Tabelle 12: Strukturelle Bedingungen in den USA und in Deutschland im Vergleich USA Gesellschaftliche • Postrevolutionäre Gesellschaft Strukturen • Siedler- bzw. Einwanderergesellschaft
Deutschland • Traditionelle Gesellschaft • Feudale, aristokratische und monarchische Strukturen
• Keine feudalen, aristokratischen oder monarchischen Strukturen Staat-KircheVerhältnis
• Trennung von Kirche und Staat • Religionsfreiheit • Viele kleine religiöse Gruppen
• Hierarchische Staat-Kirche-Strukturen • Eingeschränkte Religionsfreiheit (Cuius regio, eius religio) • Großkirchen
Rolle des Staates
• Schwacher Staat
• Starker Staat
Quelle: Eigene Gegenüberstellung nach Lipset (1996)
Auch die Werte, die sich unter den jeweiligen strukturellen Bedingungen anfangs entwickelten, werden hier noch einmal in Tabelle 13 aufgeführt. Wie bereits dargestellt, haben sich diese anfangs sehr unterschiedlichen Werte jedoch mit der Zeit angenähert. Dies liegt vor allem daran, dass sich
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3. Empirische Analyse
Tabelle 13: Zentrale Werte in den USA und Deutschland im Vergleich Zentrale Werte USA
Zentrale Werte Deutschland
• Freiheit
• Betonung sozialer Hierarchien und Statusunterschiede
• (Chancen-)Gleichheit • Individualismus • Bürgernähe • laissez-faire
• Gehorsamspflicht und Ehrerbietigkeit gegenüber staatlichen Autoritäten • Disziplin
Quelle: Eigene Gegenüberstellung nach Lipset (1996)
die Werte in Deutschland (ebenso wie in den anderen postfeudalen europäischen Gesellschaften mit ihrer Betonung auf Hierarchien, Partikularismus und Ständen) stark gewandelt haben, um den Anforderungen einer industriellen Gesellschaft zu entsprechen (vgl. Lipset 1996: 248). Die postfeudalen Elemente sind stark zurückgegangen. In Bezug auf ihre soziale Struktur haben sich diese Länder somit in gewisser Weise Amerika angepasst (vgl. Lipset 1996: 288-289). Zudem haben sich die Werte in Deutschland wie oben beschrieben in der Zeit nach 1945 nachhaltig demokratisiert und modernisiert. Ein weiterer Grund für eine Annäherung könnte die im Zuge des Zweiten Weltkrieges gestiegene Bedeutung des Staates in den USA sein. Außerdem führten das Scheitern verschiedener Formen des Sozialismus und die höhere Akzeptanz des Marktes als dynamische Kraft, auf der das Wirtschaftswachstum basiert, zu einem Aufschwung des Marktliberalismus in Europa, der individuelle Leistung und Wettbewerb in den Vordergrund stellte. Gleichzeitig führten in den USA das gestiegene Bewusstsein für Diskriminierungen und die bessere Organisation von Schwarzen zu stärkeren auf Gruppen bezogenen Anstrengungen, Ungleichheit abzubauen (vgl. Lipset 1996: 147). Dennoch gibt es bis heute Unterschiede in den Wertorientierungen von Amerikanern und Europäern. So sind die Amerikaner im Vergleich nach wie vor religiöser, patriotischer, bürgernäher, anti-elitistischer und egalitärer als Europäer (vgl. Lipset 1996: 289). Amerikanische Werte sind außer-
3.4. Zentrale Werte in den USA und in Deutschland
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dem bis heute individualistischer, moralistischer und kulturell konservativer als europäische Werte (vgl. Norris/Inglehart 2004: 94). Um die Unterschiede in den Wertorientierungen beider Gesellschaften (und deren Annäherung in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg) herauszustellen, ist auch ein Blick auf die in der politischen Kulturforschung zentrale Civic-Culture-Studie von Gabriel Almond und Sidney Verba (1989a) interessant. Sie wurde im Jahr 1963 erstmals publiziert und verglich die politischen Kulturen der USA, Großbritanniens, Mexikos, der Bundesrepublik Deutschlands und Italiens miteinander. Dabei stellten die Autoren drei (Ideal-)Typen politischer Kulturen heraus: 1. Vormoderne parochiale Kultur (Parochial Culture): In diesem Typ politischer Kulturen sind die Menschen nicht politisch und interessieren sich auch nicht für das politische Geschehen. Die einzelnen Individuen nehmen in erster Linie ihre direkte eigene Umgebung wahr. Hier bilden sich folglich keine Einstellungen gegenüber dem politischen System heraus. Ein mögliches Beispiel für eine solche parochiale Kultur wäre eine feudale Gesellschaft. 2. Untertanenkultur (Subject Culture): In diesem Typ politischer Kulturen machen sich die Menschen zwar ein Bild von den Herrschenden und deren Handlungen sowie dem politischen System. Sie entwickeln also (positive oder negative) Einstellungen ihnen gegenüber, nehmen dabei jedoch das System und die Herrschenden eher als Ganzes wahr. Tendenziell besitzen die Bürger eher wenig politisches Wissen und sind auch nicht selbst politisch aktiv. Als Beispiel für eine solche Untertanenkultur könnte das Deutsche Kaiserreich genannt werden. 3. Partizipative politische Kultur (Participant Culture): Hier haben die Bürger nicht nur ein umfassendes politisches Wissen. Sie bringen sich auch aktiv ins politische Leben ein. Entsprechend entwickeln sie differenzierte Einstellungen gegenüber auch einzelnen Aspekten des politischen Systems. Sie kennen ihre Möglichkeiten, politisch Einfluss zu nehmen, und nutzen sie aktiv. Somit entsprechen sie der Vorstellung mündiger Bürger in der Moderne. Es ist unwahrscheinlich, dass eine politische Kultur genau einem dieser Idealtypen entspricht. Vielmehr gibt es Mischformen. Auch bilden die drei beschriebenen Formen keine Etappen, die Gesellschaften auf ihrem Weg
104
3. Empirische Analyse
zu einer partizipativen politischen Kultur notwendigerweise nacheinander durchschreiten müssen. Vielmehr ist es auch möglich, dass sich einzelne Bestandteile der verschiedenen Kulturen überlagern oder vermischen (vgl. Pickel/Pickel 2006: 66). Die Ergebnisse der Civic-Culture-Studie waren, dass die USA der partizipativen Kultur zugeordnet und hierbei sogar als ein Musterbeispiel genannt wurden. Das Deutschland der 1950er und 1960er Jahre jedoch bewerteten die Forscher noch als Untertanenkultur. Bei einer Folgeuntersuchung, die Almond und Verba (1989b) im Jahr 1980 veröffentlichten, hatten sich die Ergebnisse hingegen teilweise deutlich verändert: Nun wurde Deutschland hinsichtlich seiner politischen Kultur fast genauso positiv bewertet wie die USA (vgl. Conradt 1989). Deren Beurteilung fiel in dieser zweiten Untersuchung ähnlich aus wie 1963: Die politische Kultur der USA galt weiterhin als vorbildlich für eine partizipative Kultur. In einem neueren Artikel beschreibt Conradt (2015: 251-252) die Entwicklung der politischen Kultur in Westdeutschland in drei Stadien. Demnach war die Nachkriegszeit in Deutschland vorrangig von Gleichgültigkeit gegenüber der Politik geprägt. Viele Deutsche zogen sich lieber ins Privatleben zurück, als sich mit politischen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Über demokratische Werte und Institutionen hatten sie nur ein geringes Wissen. Auch unterstützten noch etwa 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung das vorherige nationalsozialistische Regime beziehungsweise das Deutsche Kaiserreich. Ab dem Ende der 1950er Jahre trugen jedoch die Leistungen des politischen Systems, vor allem aber das eingetretene Wirtschaftswunder, dazu bei, dass die Unterstützung des Systems durch die Bevölkerung anstieg (vgl. Conradt 2015: 252). Dennoch hatten die Deutschen in dieser Zeit, in der auch die erste Civic-Culture-Studie erstellt wurde, immer noch deutlich abweichende Einstellungen gegenüber dem politischen System als die Bevölkerung in etablierten Demokratien. So waren politisches Interesse und Teilhabe im Vergleich zu den USA in Deutschland sehr niedrig. Die Zeitreihenanalyse von Daten seit den 1950er Jahren bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im Jahr 2015 habe jedoch gezeigt, dass sich die Einstellungen der Deutschen gegenüber ihrem politischen System signifikant verändert haben. So war die Unterstützung für die alten Regime in den 1960er Jahren bereits nahezu verschwunden. Zwischen 70 und 90 Prozent der Bevölkerung unterstützten demokratische Institutionen und Normen wie Meinungsfreiheit, politischen Wettbewerb, politische Repräsentation etc. Diesem hohen Maß an Unterstützung schlossen sich im Laufe der Zeit alle sozioökonomischen Schichten an.
3.4. Zentrale Werte in den USA und in Deutschland
105
Ostdeutsche unterscheiden sich hierbei jedoch deutlich von Westdeutschen: Sie sind weniger zufrieden mit der Demokratie, vertrauen weniger darauf, dass das demokratische System künftige Probleme lösen kann, vertrauen demokratischen Institutionen im Allgemeinen weniger und schätzen ökonomische Werte wie Wettbewerb und individuelle Verantwortung weniger als Westdeutsche (Conradt 2015: 254). Auch bedeutet Freiheit ihnen weniger als Gleichheit und wirtschaftliche Sicherheit. Gleichzeitig erwarten sie, dass die Regierung mehr für sie tut, als Westdeutsche es erwarten. Zusammenfassung In diesem Unterkapitel geht es um zentrale Werte in den USA und in Deutschland, wie sie entstanden sind, wie sie sich halten konnten und wie sie eventuell transformiert wurden. Dabei wird immer wieder auch darauf Bezug genommen, welche Rolle der Protestantismus beziehungsweise die protestantischen Kirchen dabei gespielt haben könnten. Zunächst wird erklärt, was genau in Amerika beziehungsweise Europa unter konservativen und liberalen Werten verstanden wird. Bei der Entstehung der Wertesysteme in den USA und Deutschland sind wichtige Etappen zu berücksichtigen. In den USA sind dies die Industrialisierung, die sich nach dem Bürgerkrieg beschleunigte, die Große Depression, der Zweite Weltkrieg, die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre sowie der Kalte Krieg. In Deutschland werden ebenfalls die Industrialisierung, der Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik, das Dritte Reich beziehungsweise der Zweite Weltkrieg sowie die Teilung Deutschlands in Ost und West bis 1989 (und damit ebenfalls der Kalte Krieg) in den Blick genommen. Die Gegenüberstellung der Werte in beiden Ländern zeigt, wie sie sich mit der Zeit angenähert haben beziehungsweise welche Unterschiede bis heute bestehen. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Civic-Culture-Studie von Almond und Verba (1989a) sowie Folgeuntersuchungen zurückgegriffen. So wird aufgezeigt, wie sich (West-)Deutschland von den 1950er Jahren, in denen die meisten Menschen wenig Interesse an und Wissen über demokratische Institutionen hatten, bis zu den 1980er Jahren zu einer im Sinne der Autoren vorbildlichen Demokratie entwickeln konnte. (Die USA wurden in dieser Hinsicht bereits in den 1950er Jahren als vorbildlich eingestuft. Diese Bewertung änderte sich bei der Folgeuntersuchung in den 1980er Jahren nicht.) Mit Blick auf Conradt (2015) wird hier auch die besondere Entwicklung der politischen Kultur Ostdeutschlands knapp umrissen.
106
3. Empirische Analyse
3.5
Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland
In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der Analyse der Umfragedaten vorgestellt. Die Darstellung folgt zunächst anhand der beiden Ausgangspunkte der Untersuchung: neues Berufsbild und Bedeutungsgewinn der Arbeit sowie Individualisierung und individualisierte Beziehung zu Gott. Innerhalb dieser Unterkapitel wird jeweils nochmals unterschieden nach Ergebnissen für die USA und Deutschland (also Modelle, die Daten aus beiden Ländern beinhalten) sowie separaten Ergebnissen für die USA und für Deutschland. Nach den Analysen zum Protestantismus werden dabei in einem Exkurs noch Analysen zum Katholizismus aufgeführt, um zu zeigen, ob beziehungsweise an welchen Stellen sich auch hier Effekte finden lassen. Ein weiterer Exkurs zu möglichen Einflüssen des Sozialismus im Osten Deutschlands schließt das Kapitel ab. 3.5.1
Wirkungen durch das neue Berufsbild und den Bedeutungsgewinn der Arbeit
Wie haben sich Luthers Berufsbild und der Bedeutungsgewinn der Arbeit konkret auf Einstellungen und Wertorientierungen in den USA und Deutschland ausgewirkt? Lassen sich Indizien für die These von Max Weber (2016), wonach der Protestantismus Werte wie Leistungsbereitschaft, Fleiß, Selbstverpflichtung und Sparsamkeit fördert und mit dem Kapitalismus in einer Wahlverwandtschaft steht, bis heute in den Einstellungsstrukturen beider Länder wiederfinden? Inwiefern wirkte sich die protestantische Arbeitsethik ähnlich aus, und worin unterscheiden sich die Einflüsse in beiden Ländern? Welche Rolle spielten dabei strukturelle Unterschiede in den beiden Gesellschaften? Diesen Fragen soll hier unter anderem mit Rückgriff auf die Wertestudien von Lipset (1996), McClosky/Zaller (1984), Inglehart (1997) und Norris/Inglehart (2004) nachgegangen werden. Eine Überprüfung erfolgt anhand von Umfragedaten aus dem World Values Survey. Es ist umstritten, ob Webers Thesen bis heute Gültigkeit haben (vgl. Kaufmann 2017: 362). Verschiedene Studien zu dieser Frage kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen (Darstellung weiter unten). Dennoch wird in der politischen Kulturforschung allgemein angenommen, dass die protestantische Arbeitsethik Einstellungen und Wertorientierungen in den USA und Deutschland maßgeblich beeinflusste (vgl. Lipset 1996; McClosky/Zaller 1984). Die Wirkungen fielen dabei jedoch unterschiedlich aus,
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 107
was auch auf die bereits erläuterten Gesellschaftsstrukturen zurückzuführen ist. In den überwiegend calvinistisch geprägten USA, die keinerlei feudale Strukturen, Monarchien oder Aristokratien kannten und wo die Trennung von Staat und Kirche schon kurz nach der Gründung in der Verfassung verankert wurde, war die Arbeitsethik von Anfang an eng mit individualistischen Wertvorstellungen verbunden. Die beiden zentralen Werte des amerikanischen Ethos, Freiheit und Gleichheit (im Sinne von Chancengleichheit), sind eng an die protestantische Ethik gekoppelt (vgl. Fuchs 2000: 43). Nach der für den Calvinismus zentralen Prädestinationslehre, die in Kapitel 2.4.1 erläutert wurde, steht von Anbeginn an fest, wer „erwählt“ ist und das Seelenheil erreichen wird und wer nicht. Dass manche Menschen im Berufsleben erfolgreicher sind als andere, kann demnach nicht als ungerecht empfunden werden. Dadurch ergibt sich eine stark auf individuelle Leistung und Konkurrenz ausgerichtete Haltung, die einen schwachen Staat befürwortet: Die Verantwortung für die Gestaltung ihres Lebens liegt allein bei den Individuen. Im aristokratisch und durch hierarchische Staat-Kirche-Strukturen geprägten Deutschland wirkte die Arbeitsethik in Verbindung mit der lutherischen Gehorsamspflicht hingegen stabilisierend auf den (preußischen) Staat. Sie ermöglichte den Aufbau eines Wohlfahrtsstaates unter Bismarck, in dem der Staat in hohem Maße für die Lebensgestaltung der Individuen verantwortlich war. Der Zweite Weltkrieg bewirkte zumindest in Westdeutschland deutliche Einstellungsänderungen der Menschen in Richtung der Befürwortung individualistischer Werte (vgl. Fuchs 2000: 46). Was das Arbeitsethos angeht, kann hingegen von einer Kontinuität in der kulturellen Tradition gesprochen werden. Eine Übersicht der Wirkungen des Protestantismus unter den jeweiligen Ausgangsbedingungen zeigt Tabelle 14. Unterschiedliche Auswirkungen der Arbeitsethik in den beiden Ländern lassen sich außerdem auf verschiedene Traditionen zurückführen. So ergriffen in den älteren, traditionellen Gesellschaften Europas viele Menschen denselben Beruf wie ihre Eltern und Vorfahren (vgl. McClosky/Zaller 1984: 114). Die Kinder von Leibeigenen waren angehalten, dasselbe Land zu kultivieren wie ihre Vorfahren. Einen höheren sozialen Status anzustreben, war gegen die Tradition und wurde häufig von bestehenden Gesetzen verhindert. Auch die Aristokratie und die Kirchen wandten sich in vielen europäischen Ländern gegen ökonomischen Materialismus, weil sie glaubten, er fördere unmoralisches Verhalten (vgl. Lipset 1996: 54). Obwohl einige dieser Einstellungen ursprünglich in die Neue Welt übertragen wurden, konnten sie sich unter den dortigen sozialen und ökonomischen Bedingungen nicht halten. Harte Arbeit, Ehrgeiz und der Wunsch
108
3. Empirische Analyse
nach sozialem Aufstieg wurden dort nicht länger als etwas Negatives angesehen, sondern wandelten sich zum neuen Ideal. Tabelle 14: Wirkungen des Protestantismus in den Gesellschaften der Untersuchungsländer USA
Deutschland
• Calvinistische Prägung
• Lutherische Prägung
• Postrevolutionäre Gesellschaft ohne feudale, aristokratische oder monarchische Strukturen
• Traditionelle Gesellschaft mit feudalen, aristokratischen und monarchischen Strukturen
• Trennung von Kirche und Staat
• Verschränkung von Kirche und Staat
⇒ Wirkung in Richtung eines schwachen Staates
⇒ Wirkung in Richtung eines starken Staates
Quelle: Eigene Gegenüberstellung nach Fuchs (2000)
McClosky und Zaller (1984: 104) zufolge ist Webers These besonders geeignet, um den amerikanischen Kapitalismus zu verstehen. So war Amerika von seiner Gründung an eine vorwiegend protestantische Nation, was sich bereits auf die ersten Siedlungen zurückführen lässt. Am einflussreichsten waren die Puritaner. Den Autoren zufolge verstärkten sich die Werte des Protestantismus und des frühen Kapitalismus in wenigen Teilen der Welt so sehr gegenseitig wie in diesen puritanischen Siedlungen. Vor allem in seiner calvinistischen Form war Protestantismus von einer Angst vor der Sündhaftigkeit des Menschen und dem Bedürfnis nach strengen moralischen Vorschriften geprägt. Ordnung, Prinzipientreue, Willenskraft und Selbstbeherrschung wurden hoch geschätzt, während man unkontrollierten Emotionen, Spontaneität und Spiel mit Skepsis begegnete. In zahlreichen Predigten wurden die Siedler aufgefordert, weltliche Vergnügen zu meiden, ihre Bedürfnisse zu zügeln und den „göttlichen Wegen“ zu folgen. Auch wenn der Puritanismus in seiner ursprünglichen Form kaum ein Jahrhundert in der amerikanischen Wildnis überstand, prägten seine feste moralistische Orientierung und sein Anspruch, menschliche Gefühle und Leidenschaften einer rationalen Kontrolle zu unterziehen, die amerikanische Kultur dauerhaft. Ihr Umgang mit menschlicher Schwäche und Sünde war es auch, der die protestantischen Gruppen am meisten von anderen jüdisch-christlichen
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 109
Traditionen unterschied (vgl. McClosky/Zaller 1984: 105). Anstatt den Gläubigen zu empfehlen, ihren Schwächen durch den Rückzug in Klöster zu entfliehen oder sich auf Gebet und Meditation zu konzentrieren, lösten Protestanten diese Frage durch eine Lebensführung unablässiger weltlicher Arbeit. Der Kampf, sich den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, wurde nicht länger als eine Ablenkung vom spirituellen Leben gesehen, sondern vielmehr als eine göttliche Berufung. Der hart arbeitende, nüchterne und sparsame Handwerker, Händler oder Unternehmer, der durch seine mit Ehrgeiz, Fleiß und Gewissenhaftigkeit ausgeführte tägliche Arbeit große Vorräte materieller Güter ansammelte, repräsentierte das tugendhafte Leben. Wirtschaftliche Erfolge wurden zum Maß der eigenen moralischen Position in der Gesellschaft. Diese radikal neue religiöse Perspektive hatte einen wesentlichen Einfluss auf das weltliche Leben (vgl. McClosky/Zaller 1984: 106). So wurde das bewusste Streben nach Wohlstand und materiellen Gütern, das zuvor von der Aristokratie sowie der katholischen Kirche mit Skepsis gesehen und gering geschätzt worden war, nunmehr religiös gebilligt. Auch tat sich jetzt zwischen der (neuen) puritanischen Wertschätzung moralischer Beherrschung und den Werten, die das aufkommende Bürgertum betonte, eine gewisse Affinität auf: In beiden wurden Sparsamkeit, Arbeit, Mäßigkeit, Nüchternheit, Erfüllung der eigenen vertraglichen Pflichten, Umsicht im persönlichen Verhalten sowie in wirtschaftlichen Angelegenheiten hoch geschätzt. Der neue Anspruch, die eigenen Energien durch disziplinierte wirtschaftliche Bemühungen zu bündeln, passte auch deutlich besser zu einer rationalen, unpersönlichen und an Effizienz orientierten Wirtschaft als zu Lebensweisen traditioneller Gesellschaften. Innerhalb der protestantischen Ethik wurde die Verpflichtung zur Arbeit, die eifrig, pflichtbewusst und methodisch erfolgen sollte, somit verbunden mit guten Angewohnheiten wie Genügsamkeit, Nüchternheit, Demut und Einfachheit im Verhalten. Diese Angewohnheiten sollte man erwerben, um seine Fähigkeiten zu Selbstbeherrschung, Selbstzurückweisung und Hingabe zur eigenen Berufung und zu Gott zu demonstrieren (vgl. McClosky/Zaller 1984: 107). Auf diese Weise konnte Erwerbsstreben mit Beherrschung einhergehen, wie bereits im Unterkapitel 2.4.1 unter Bezugnahme auf Max Webers These erläutert. Die protestantische Arbeitsethik ist auch eng mit dem für das amerikanische Ethos zentralen Wert der Gleichheit verbunden (vgl. McClosky/Zaller 1984: 165). Vor dem Aufkommen des Kapitalismus galt das Leben eines grand seigneurs in Europa als das Ideal weltlichen Erfolgs – ein Leben in Freizeit, Luxus und Vergnügen, das weitgehend frei von Mühe
110
3. Empirische Analyse
war. Mitglieder des Adels sahen Arbeit meist als erniedrigend und geschmacklos an. Die Anhänger des Kapitalismus jedoch hielten dem Adel diese Untätigkeit vor und nahmen sich stattdessen wie oben bereits ausgeführt die fleißigen Bürger und Handwerker zum Vorbild. In der Wahl dieser Leitbilder, und in der protestantischen Ethik, die sie idealisierte, war implizit auch die Tendenz zur Egalisierung vorhanden. Zwar implizierte das kapitalistische Wertesystem nicht, dass alle auf dem gleichen moralischen oder materiellen Niveau stehen sollten. In ihren Möglichkeiten, Gewinn zu machen, und in ihrer Verpflichtung, zu ihrem eigenen Wohl sowie zum Wohle der Gesellschaft zu arbeiten, waren jedoch alle gleich. Auch wenn heute einige den Kapitalismus mit einer Gesellschaft verbinden, die so sehr von ökonomischer Ungleichheit und der Dominanz der Schwachen durch die Starken geprägt ist, dass demokratisches Leben kaum möglich ist, teilten wenige Amerikaner im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert diese Ansicht. Für sie bildeten die Werte, die mit der freien Marktwirtschaft verbunden waren, die Grundlage für eine demokratische und weitgehend egalitäre Sozialordnung. Wirtschaftlicher Wettbewerb implizierte die Beseitigung sozialer Privilegien. Alle, unabhängig von Herkunft, Wohlstand oder politischem Einfluss, standen auf einer Ebene vor den neutralen Kräften des freien Marktes. Losgelöst von ihrem theologischen Ursprung wurde die Sicht auf Arbeit als eine Berufung und als eine Verpflichtung in das amerikanische Wertesystem integriert. Auch als die strengen theologischen Grundsätze des Puritanismus längst nicht mehr als Verhaltensgebote galten, sahen viele Amerikaner Arbeit und Wohlstand weiterhin aus der Perspektive protestantischer Werte. Diese Einstellung gegenüber Arbeit besteht bis heute. Sowohl unter Eliten als auch in der allgemeinen Bevölkerung wird der hohe Wert der Arbeit befürwortet (vgl. McClosky/Zaller 1984: 109). Arbeitslos zu sein, von Sozialhilfe zu leben oder das Leben eines Privatiers zu genießen, ruft Geringschätzung hervor. Während Arbeit als ehrenhaft und reinigend wahrgenommen wird, empfindet man Untätigkeit als Zeichen charakterlicher Schwäche. Damit ist nicht gesagt, dass Amerikaner heute Kapitalismus in der gleichen Art weltlicher Askese auffassen, wie dies bei den Puritanern der Fall war (vgl. McCloskey/Zaller 1984: 110-111). Mit ihrem Wunsch nach Konsumgütern und Vergnügen entsprechen viele Amerikaner auch nicht dem Bild religiöser Asketen, das von den Puritanern gezeichnet wurde. Dennoch bestehen die mit der protestantischen Ethik verbundenen Werte weiter in den Einstellungen der Amerikaner gegenüber der Wirtschaft. Auch wenn es in allen Teilen der Bevölkerung eine starke Zustimmung zu kapi-
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 111
talistischen Werten gibt, ist es bei denjenigen, die die Werte der protestantischen Ethik teilen, wahrscheinlicher, dass sie die Prinzipien des Kapitalismus und der freien Marktwirtschaft unterstützen. Dies gilt etwa für die Befürwortung von Wettbewerb, Privatbesitz und Deregulierung sowie für Widerstand gegenüber staatlichen Unternehmen. Während Weber auf die Wahlverwandtschaft von Protestantismus und Kapitalismus verwies und betonte, beide Entwicklungen begünstigten einander gegenseitig, machen einige Beobachter in den USA auch auf einen anderen Zusammenhang aufmerksam: Demnach konnte sich der Kapitalismus mit seinem Anreiz zur Ansammlung materieller Güter auch nachteilig auf protestantische Wertvorstellungen auswirken, indem er etwa Konsum anstelle von Sparsamkeit gefördert hat (vgl. McClosky/Zaller 1984: 123-124). So wird mit einem hedonistischen Lebensstil zugleich ein Rückgang der innerweltlichen Askese, die ursprünglich mit der protestantischen Ethik zusammenhing, verbunden. Dass häufig von einer „Erosion der protestantischen Ethik“ (Bell 1996: 55) gesprochen wird, lässt sich auch mit der in Kapitel 2.3.1 dargelegten Theorie des Wertewandels von Inglehart (1977) begründen. Demnach entspricht die protestantische Ethik mit ihrer Betonung auf Leistung und harter Arbeit materialistischen Werten. Diese Werte waren entscheidend für den Übergang von traditionellen zu industriellen Gesellschaften. Der Einfluss des Protestantismus war somit wesentlich, um diesen Übergang zu ermöglichen (vgl. Inglehart 1997: 70). Durch die Reformation wurden eine Reihe religiöser Normen, die charakteristisch für präindustrielle Gesellschaften waren und die ökonomische Leistung unterbinden sollten, mit Werten ersetzt, die wirtschaftliche Leistung förderten. Soziale Mobilität, die man in traditionellen Gesellschaften verhindert hat, wurde dadurch nicht nur ermöglicht, sie galt sogar als erstrebenswert. Auch die Akkumulation von Kapital, vorher verachtet und verhindert, war fortan akzeptabel und erwünscht. Sie galt nun sogar als ein Beweis göttlicher Gunst. Die Reformation half somit, die mittelalterliche christliche Weltanschauung in einem bedeutenden Teil Europas aufzuheben (vgl. Inglehart 1997: 71). Dies geschah im Zusammenspiel mit wissenschaftlichen Entwicklungen, die bereits begonnen hatten, diese Weltanschauung zu unterminieren. Gemeinsam mit weiteren Faktoren (zum Beispiel sich wandelnden Handelsmustern und einer abnehmenden Lebensmittelproduktion) wirkte sich der Protestantismus somit wesentlich auf die ökonomische Entwicklung aus. So war Südeuropa vor der Reformation ökonomisch weiter entwickelt als Nordeuropa. Nach der Reformation zeigte das protestantische Europa jedoch eine außergewöhnliche wirtschaftliche Entwicklung, die es weit vor
112
3. Empirische Analyse
das katholische Europa brachte. Während der drei Jahrhunderte nach der Reformation entstand Kapitalismus vorwiegend in protestantischen Ländern, oder unter den protestantischen Minderheiten in katholischen Ländern. Auch in den ersten 150 Jahren der industriellen Revolution fand industrielle Entwicklung fast ausschließlich in den protestantischen Regionen Europas und den protestantischen Teilen der Neuen Welt statt (vgl. Inglehart 1997: 219). Die bis heute feststellbaren Unterschiede der Wertstrukturen in Gesellschaften protestantischer und katholischer Prägung lassen sich unter anderem auf diese früher erfolgte Industrialisierung zurückführen (vgl. Inglehart 1997: 99). Diese Entwicklung änderte sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als diejenigen, die am stärksten von der protestantischen Ethik beeinflusst waren, begannen, Wirtschaftswachstum weniger zu schätzen. Wie Inglehart (1997: 72) herausstellt, taten sie das genau aus diesem Grund: weil sie auch durch das vorherige Wirken der protestantischen Ethik ökonomische Sicherheit erlangt hatten und diese als selbstverständlich ansahen. Die Sicherheit, die der erworbene Wohlstand mit sich brachte (die Länder waren nun nicht mehr von Mangel gekennzeichnet, und das Überleben der Bevölkerung galt als gesichert), machte es möglich, dass gemäß der Wertewandeltheorie postmaterialistische Werte in den Vordergrund traten, zum Beispiel Freizeit, Selbstentfaltung und Kreativität. Die zuvor vorherrschenden, auf Leistung ausgerichteten Werte wurden von diesen neuen Werten zunehmend überlagert. Da viele westliche Nationen (darunter auch die USA und Deutschland) diesen Wechsel inzwischen vollzogen haben und materialistische Werte mehr und mehr in den Hintergrund treten, wird auch von einem schwindenden Einfluss der protestantischen Ethik ausgegangen. Dennoch sollte die Bedeutung der protestantischen Ethik in einem früheren Stadium der Entwicklung der USA und Deutschlands nicht übersehen werden (vgl. Inglehart 1997: 31). So haben materialistische Werte die Kulturen beider Länder nachhaltig geprägt, auch wenn sie heute tendenziell weniger stark vertreten werden. Lassen sich trotz des abnehmenden Einflusses der protestantischen Ethik bis heute Wirkungen im Sinne der These von Max Weber nachweisen? Vor der Darstellung der eigenen Analyse sollen einige jüngere Studien angesprochen werden. So zeigen Norris und Inglehart (2004: 163165) anhand des World Values Survey, dass protestantische Länder heute im Vergleich mit Ländern anderer religiöser Prägungen die geringste Arbeitsethik aufweisen. Entgegen der Annahmen Webers haben katholische Länder heute eine etwas stärkere Arbeitsethik als protestantische Länder. Am höchsten ist die Arbeitsethik ihrer Studie zufolge in muslimischen
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 113
Ländern. Dies führen die Autoren auf den eben dargestellten Wertewandel zurück, der im Zusammenhang mit steigendem Wohlstand und dem Aufbau von Wohlfahrtsstaaten in vielen Ländern mit historisch protestantischer Prägung entstehen konnte. Reiche postindustrielle Gesellschaften haben demnach deshalb die schwächste Arbeitsethik, weil sie heute am meisten Wert auf Freizeit, Erholung und Selbsterfüllung außerhalb des Arbeitsplatzes legen. Auf die Belohnungen, die Arbeit mit sich bringt, legen sie nur noch mäßigen Wert. In ärmeren, weniger entwickelten Ländern hingegen, wo Arbeit bis heute wesentlich für das Überleben ist, wo der Alltag durch lange Arbeitszeiten und wenig Freizeit geprägt ist und meist nur ein unzureichendes soziales Sicherungsnetz vorhanden ist, werden Arbeitswerte am meisten geschätzt. Die Unterschiede, die die Autoren hier fanden, waren unter armen und reichen Ländern größer als diejenigen, die sich durch die religiöse Kultur der jeweiligen Länder erklären lassen. Im direkten Vergleich zwischen protestantischen und katholischen Ländern – worauf sich auch Max Webers Vergleiche bezogen – fanden Norris und Inglehart (2004: 165) trotz der insgesamt schwächeren Arbeitsethik unter protestantischen Ländern jedoch auch einige Werte, die dort bis heute stärker vertreten werden als in katholischen Ländern. So legen Menschen in protestantisch geprägten Kulturen bis heute stärkeren Wert auf Berufe, die Initiative erfordern, die sie als interessant empfinden und die Leistungsbereitschaft voraussetzen. Zugleich stellen die Autoren fest, dass die USA bis heute unter den protestantischen Ländern eine ausgeprägte Arbeitsethik aufweisen (vgl. Norris/Inglehart 2004: 167). Die protestantische Ethik selbst beschreiben Norris und Inglehart (2004: 162) in ihrer Studie im Sinne der Wertewandeltheorie als ein Set von Werten, die vor allem in Gesellschaften vorherrschen, die von Mangel geprägt sind. Sie können unterstützend in Richtung wirtschaftliches Wachstum wirken. Da sie jedoch Werte einer Umgebung reflektieren, in der es an ökonomischer Sicherheit mangelt, würden sie unter den Bedingungen von Wohlstand verschwinden – wie die Autoren auch an ihren Ergebnissen belegen. Andere Studien, die die These von Max Weber empirisch prüfen, kommen aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Bereich: So fanden Becker und Woessmann (2009) zwar Hinweise für einen Zusammenhang zwischen Protestantismus und höherem Wohlstand in den Regionen um Wittenberg (sie nahmen den geographischen Abstand zu Wittenberg als einen Indikator für Protestantismus), führten diesen jedoch nicht vorrangig auf die protestantische Ethik, sondern auf die mit dem Protestantismus einhergehende höhere Bildung (und insbesondere Lesefähigkeit) zurück. Cantoni
114
3. Empirische Analyse
(2013) überprüfte die These Max Webers für die deutschen Bundesländer anhand von Bevölkerungszahlen aus 272 Städten aus der Zeit zwischen 1300 und 1900. Er fand keinen Effekt des Protestantismus auf das Wirtschaftswachstum. Ergebnisse der Analyse von Umfragedaten Lassen sich Hinweise für die aufgeführten Zusammenhänge von protestantischer Arbeitsethik und Kapitalismus auch in den Umfragedaten finden? Anhand der fünften Erhebungswelle des World Values Survey (20052008) wurden folgende Hypothesen überprüft: 1. Luthers Berufsbild, also die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung, wird von Protestanten in den USA und Deutschland bis heute stärker befürwortet als von anderen. 2. Auch andere Werte der protestantischen Ethik, zum Beispiel das Streben nach Wohlstand und Erfolg sowie die Ablehnung von Hedonismus, werden bis heute in beiden Ländern stärker von Protestanten geteilt als von anderen. 3. In beiden Ländern sind Protestanten bis heute kapitalistischer eingestellt als andere. Im Folgenden werden Fragen, die beispielsweise die Befürwortung von Luthers Berufsbild oder eine kapitalistische Haltung messen, daraufhin untersucht, inwieweit Protestanten und Nicht-Protestanten in beiden Ländern ihnen jeweils zustimmen. Neben dem Vergleich von diesen beiden Gruppen erfolgt auch ein Vergleich von Regionen innerhalb der Länder. In den USA werden dabei die Einstellungen der Menschen aus dem Gebiet der ursprünglichen Dreizehn Kolonien mit jenen aus anderen Regionen des Landes verglichen. In Deutschland werden historisch protestantisch und historisch katholisch geprägte Regionen einander gegenüber gestellt. Bei dieser Erhebungswelle des World Values Survey wurden die Bundesstaaten, in denen die einzelnen Interviews geführt wurden, nicht erfasst, jedoch einzelne Regionen, zum Beispiel New England, erhoben. Für den Vergleich der Länder, die aus den ehemaligen Dreizehn Kolonien hervorgegangen sind, mit dem Rest des Landes wurden die Regionen „New England“, „Middle Atlantic States“ und „South Atlantic“ zusammengefasst. Dies entspricht in etwa den ursprünglichen Dreizehn Kolonien, wobei durch „South Atlantic“ auch Florida mit aufgenommen wird, das nicht zum Gebiet der Kolonien gehörte.
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 115
In Deutschland wurde zur Einteilung in stärker protestantisch beziehungsweise stärker katholisch geprägte Bundesländer eine Karte aus dem „Atlas of the World’s Religions“ (Denny 2007: 172) herangezogen, die die nach dem Westfälischen Frieden 1648 in den einzelnen Territorien des Heiligen Römischen Reiches vorherrschende Konfession abbildet. Diese wurde mit den Grenzen der heutigen Bundesländer abgeglichen. Das Ergebnis war, dass der weit überwiegende Teil der heutigen Länder historisch protestantisch geprägt ist. Lediglich (große Teile von) Bayern und BadenWürttemberg sowie das gesamte Saarland lagen in katholischen Gebieten und wurden somit den historisch katholisch geprägten Ländern zugerechnet.23 Mit den zu Luthers Berufsbild, weiteren Werten der protestantischen Ethik sowie zum Kapitalismus ausgewählten Fragen wurde zunächst eine explorative Faktorenanalyse durchgeführt (siehe Tabelle 15). Die Analyse ergab vier Faktoren, die sich wie folgt interpretieren lassen: Arbeit als Verpflichtung: Der erste Faktor könnte Luthers Berufsbild abbilden. Alle Items zielen darauf, Arbeit als eine wesentliche Verpflichtung anzusehen, der jeder in der Gesellschaft nachkommen sollte. Die zu Luthers Berufsbild herausgesuchten Items messen somit tatsächlich etwas Gemeinsames. Kennzeichnungsitem ist die Zustimmung zur Aussage „Arbeit ist eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft“. Hedo-Materialismus: Auf dem zweiten Faktor laden sowohl die Items, die eine Wertschätzung von Wohlstand und beruflichem Erfolg zum Ausdruck bringen, als auch das Item, das Hedonismus abbildet. Diesen Zusammenhang zwischen dem Streben nach Erfolg und Wohlstand und der Zustimmung zu Hedonismus (nicht, wie es der asketischen protestantischen Ethik entspräche, mit dessen Ablehnung) nennt man in der Werteforschung Hedo-Materialismus. Die eingangs erwähnte Beobachtung, dass Kapitalismus mit seinem Anreiz zur Akkumulation von Kapital anstelle von Sparsamkeit auch einen hedonistischen Lebensstil fördern könnte, scheint also zuzutreffen. Heute zumindest sind die Menschen, die am stärksten nach Erfolg 23 Ein
Abgleich mit den Daten des Zensus 2011 ergab zudem, dass diese Einteilung in weiten Teilen bis heute zutrifft, wenn man berücksichtigt, ob heute mehr Protestanten oder Katholiken in einem bestimmten Bundesland leben. Lediglich in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, zwei historisch protestantischen Regionen, leben heute mehr Katholiken als Protestanten. Für alle anderen Bundesländer ist die Prägung heute noch die gleiche wie 1648.
116
3. Empirische Analyse
Tabelle 15: Faktorenanalyse zur Arbeitsethik und zur Wirtschaftsordnung Varia- Kodierung ble
Arbeit als Verpflichtung
V53
1-5
0,736
V54
1-5
V52
1-5
V51
1-5
V81 V85 V83 V119
1-6 1-6 1-6 1-10
V120
1-10
V117
1-10
V116
1-10
V118
1-10
Arbeit ist eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft Die Arbeit sollte immer zuerst kommen, auch wenn das weniger Freizeit bedeutet Menschen, die nicht arbeiten, werden faul Es ist demütigend, Geld zu erhalten, ohne dass man dafür arbeiten muss Streben nach Wohlstand Streben nach Erfolg Hedonismus Wertschätzung von Wettbewerb Wertschätzung harter Arbeit Wertschätzung von Privatisierungen Wertschätzung von Einkommensunterschieden Wertschätzung von individueller Verantwortung
HedoMaterialismus
Kapitalismus Wirtschaft
Kapitalismus Sozialpolitik
0,667
0,659 0,648
0,775 0,761 0,735 0,835 0,726 0,615 0,799 0,757
Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse) mit Olimin-Rotation und Kaiser-Normalisierung. Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 5. Erhebungswelle des World Values Survey (2005-2008)
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 117
und Wohlstand streben, zugleich diejenigen, die sich auch gern etwas gönnen. Kennzeichnungsitem ist hier das Streben nach Wohlstand. Kapitalistische Haltung in der Wirtschaftspolitik: Der dritte Faktor könnte für eine kapitalistische Haltung stehen. Hier verbindet sich die Betonung von Wettbewerb und harter Arbeit mit der Wertschätzung eines schwachen Staates in der Wirtschaft (laissez-faire). Kennzeichnungsitem ist die Wertschätzung von Wettbewerb. Kapitalistische Haltung in der Sozialpolitik: Der vierte Faktor in der Analyse könnte ebenfalls für eine kapitalistische Haltung stehen, hier jedoch im Hinblick auf die Rolle des Staates in der Sozialpolitik. In der Wertschätzung von Einkommensunterschieden sowie individueller Verantwortung (anstelle von staatlicher Verantwortung) kommt die Zustimmung zu einem schwachen Staat zum Ausdruck. Ein Wohlfahrtsstaat wird abgelehnt. Kennzeichnungsitem ist die Wertschätzung von Einkommensunterschieden. Mit den ersten drei sich ergebenden Faktorwerten (Kapitalistische Haltung in der Wirtschaftspolitik, Arbeit als Verpflichtung, HedoMaterialismus) wurden anschließend multiple lineare Regressionsanalysen24 durchgeführt, um den Einfluss des Protestantismus und der Nation auf die Einstellungen zur Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung unter Berücksichtigung anderer Merkmale zu prognostizieren. Neben den Modellen, die alle in den USA und in Deutschland erhobenen Daten enthalten, wurden separate Analysen für die beiden Untersuchungsländer durchgeführt. Anstelle der Nation wurde hierbei der Einfluss der Region innerhalb der Länder berücksichtigt. Beim vierten Faktor, kapitalistische Haltung in der Sozialpolitik, entspricht die Residualdiagnostik nicht den Erwartungen. Hier könnte Heteroskedastizität vorliegen. Anstelle einer Regressionsanalyse mit diesem Faktorwert wurden daher Regressionsanalysen mit einem der beiden Items zur Sozialpolitik, der Wertschätzung von individueller Verantwortung gegenüber staatlicher Verantwortung, durchgeführt, um auch hier die Einflüsse von Protestantismus und Nation (beziehungsweise Region) zu prognostizieren. Dieses Item wurde gewählt, da es (bei etwa gleich hohen Faktorladungen) inhaltlich besser zur Fragestellung dieser Arbeit passt. Die Ergebnisse werden unten in Tabellen dargestellt.
24 Eine
Einführung in diese Methode ist zum Beispiel zu finden in Schnell et al. (2014: 445)
118
3. Empirische Analyse
3.5.1.1 Ergebnisse für die USA und Deutschland Vor der Darstellung der Ergebnisse der Regressionsanalysen, die neben dem Protestantismus auch andere mögliche Einflussfaktoren berücksichtigen, soll zunächst durch Balkendiagramme das unterschiedliche Antwortverhalten von Protestanten und anderen anhand der Kennzeichnungsitems aus der Faktorenanalyse (Tabelle 15) dargestellt werden.
3
4 3
2
2 1
1 0 Deutschland
USA
0 Deutschland
Andere
USA
Protestantismus
Protestantismus
Andere
Protestanten
Protestanten
(b) Mittelwert Hedo-Materialismus
(a) Mittelwert „Arbeit als Verpflichtung“ 8 6
6
4
4
2
2
0
0 Deutschland
USA
Protestantismus Andere
Protestanten
Deutschland
USA
Protestantismus Andere
Protestanten
(c) Mittelwert Kapitalismus (Wirtschafts-(d) Mittelwert Kapitalismus (Sozialpolipolitik) tik)
Abbildung 9: Mittelwertvergleiche der Kennzeichnungsitems aus der Faktorenanalyse (I) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der 5. Erhebungswelle des WVS (2005-2008)
Das erste Balkendiagramm in Abbildung 9 zeigt, dass die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung in beiden Ländern bis heute von Prote-
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 119
stanten stärker befürwortet wird als von anderen. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Vorstellung insgesamt von Deutschen (64,8 Prozent sagen „stimme stark zu“ oder „stimme zu“) etwas stärker befürwortet wird als von US-Amerikanern (hier antworten 54,6 Prozent mit „stimme stark zu“ oder „stimme zu“). Entsprechend der Erwartung teilen Protestanten die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung stärker als andere. In Deutschland konnte sich diese Idee etwas besser halten als in den USA. Das zweite Balkendiagramm zeigt, dass Protestanten in beiden Ländern heute entgegen der Erwartung weniger nach Wohlstand streben als andere. Zugleich erkennt man, dass US-Amerikaner insgesamt weniger nach Wohlstand streben als Deutsche. Möglicherweise könnte diese Entwicklung mit der im Unterkapitel 2.3.1 dargestellten Wertewandeltheorie von Inglehart (1977) erklärt werden: Wenn ausreichend Wohlstand und damit materielle Sicherheit erwirtschaftet ist, treten andere Werte (zum Beispiel Selbstentfaltung) in den Vordergrund. Aus der Darstellung des dritten Balkendiagramms ist ersichtlich, dass Protestanten in den USA bis heute deutlich kapitalistischer eingestellt sind als andere, was die Wirtschaftspolitik anbelangt. In Deutschland hat sich der Protestantismus in dieser Hinsicht offenbar anders ausgewirkt: Protestanten schätzen Wettbewerb etwas weniger als andere. Gleichzeitig zeigt sich, dass US-Amerikaner (hinsichtlich dieses Aspekts) grundsätzlich kapitalistischer eingestellt sind als Deutsche. Auf dieses Ergebnis wird später noch ausführlich eingegangen. An dieser Stelle soll jedoch schon einmal gesagt werden, dass dies zumindest für die USA als eine schwache Bestätigung der These von Max Weber (2016) gedeutet werden kann. Das vierte Balkendiagramm zeigt, dass Protestanten in Deutschland individuelle Verantwortung (entgegen der Erwartung) etwas weniger schätzen als andere, während es in den USA umgekehrt ist und somit der Erwartung entspricht. Zugleich wird deutlich, dass US-Amerikaner individuelle Verantwortung (gegenüber staatlicher Verantwortung) grundsätzlich wesentlich stärker befürworten als Deutsche, was sicher mit der unterschiedlichen Vorstellung der Aufgaben des Staates zusammenhängt. Was die Unterschiede zwischen Protestanten und anderen angeht, kann auch dieses Ergebnis – zumindest für die USA – als eine Bestätigung der These von Max Weber (2016) gelesen werden. Als Nächstes werden die Ergebnisse der Regressionsanalysen vorgestellt. In diesen Modellen wurden neben den unabhängigen Variablen Protestantismus und Nation (hier dargestellt durch den Effekt der Nationalität USA) folgende Kontrollvariablen berücksichtigt: Alter, Geschlecht (hier dargestellt durch den Effekt des männlichen Geschlechts), Bildung (hier
120
3. Empirische Analyse
dargestellt durch den Effekt von niedriger beziehungsweise hoher Bildung gegenüber mittlerer Bildung) und Arbeitslosigkeit. Tabelle 16: Regressionsanalysen Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung (USA/Deutschland I)
Protestantismus Nation (USA) Alter Geschlecht (männlich) Niedrige Bildung Hohe Bildung Arbeitslosigkeit R2
Arbeit als Verpflichtung
HedoMaterialismus
Kapitalismus (Wirtschaft)
Kapitalismus (Sozialpolitik)
n.s. -0,091** 0,172** 0,045* 0,063** -0,042* -0,040* 0,060
-0,050** -0,349** -0,207** 0,132** n.s. n.s. n.s. 0,179
0,060** 0,226** 0,061** 0,110** n.s. n.s. -0,044* 0,073
0,034* 0,215** n.s. n.s. -0,137** n.s. -0,068** 0,094
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 5. Erhebungswelle des World Values Survey (2005-2008)
Die Analyse zeigt, dass Protestantismus unter Berücksichtigung der anderen Merkmale entgegen der Erwartung keinen signifikanten Effekt auf Arbeit als Verpflichtung hat (jedoch zeigt sich später bei der separaten Analyse für die USA ein signifikanter Effekt, siehe unten). Auf den zweiten Faktor, Hedo-Materialismus, hat Protestantismus einen leichten negativen Effekt. Protestanten könnten also heute einer hedo-materialistischen Haltung gegenüber etwas stärker abgeneigt sein als andere. Entsprechend der Erwartung übt Protestantismus einen leichten positiven Effekt auf eine kapitalistische Haltung in der Wirtschaftspolitik aus. Die Berechnung zur Sozialpolitik zeigt ebenfalls entsprechend der Erwartung einen signifikanten Effekt des Protestantismus: Protestanten schätzen individuelle Verantwortung (gegenüber staatlicher Verantwortung) bis heute stärker als andere. Bei Luthers Berufsbild geht der stärkste Effekt vom Alter aus: Ältere Menschen stimmen der Vorstellung von Arbeit als Verpflichtung eher zu als Jüngere. US-Amerikaner scheinen sie etwas weniger zu umfassen als Deutsche, Männer etwas stärker als Frauen, Höhergebildete etwas weni-
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 121
ger als Menschen mit mittlerer Bildung. Umgekehrt stimmen Menschen mit niedriger Bildung der Vorstellung etwas stärker zu. Arbeitslose lehnen sie hingegen etwas stärker ab als andere. Bei diesem Punkt ist es wesentlich, auch die unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatssysteme in beiden Ländern zu berücksichtigen. Das System in den USA unterscheidet sich deutlich vom Sozialversicherungssystem, das in Deutschland unter Bismarck entstanden ist. Dies könnte bereits auf unterschiedlichen Arbeitsethiken und -verständnissen basieren. Eventuell ist hier auch eine Interpretation im Sinne der Wertewandeltheorie von Inglehart (1977) möglich, wonach ältere Menschen eher materialistische Werte wie harte Arbeit befürworten und jüngere eher postmaterialistische (zum Beispiel Freizeit). Beim Hedo-Materialismus geht der stärkste Effekt von der Nation aus, hier allerdings von den Deutschen. US-Amerikaner scheinen weniger an Erfolg, Wohlstand und Hedonismus orientiert zu sein als sie. Auch nimmt die Erfolgsorientierung mit dem Alter ab. Männer sind erfolgsorientierter als Frauen. Arbeitslosigkeit und Bildung haben hier keinen signifikanten Effekt. Der stärkste Effekt auf eine kapitalistische Haltung in der Wirtschaftspolitik geht diesem Modell zufolge ebenfalls von der Nationalität aus: US-Amerikaner sind somit dieser Analyse zufolge deutlich kapitalistischer eingestellt als Deutsche. Ebenso geht ein deutlicher Effekt vom Geschlecht aus: Männer neigen eher zu kapitalistischen Haltungen als Frauen. Auch sind ältere Menschen tendenziell kapitalistischer eingestellt als jüngere. Arbeitslose sind weniger kapitalistisch eingestellt als andere. Bildung hat hier keinen signifikanten Effekt. Der größte Effekt geht bei der Sozialpolitik ebenfalls von der Nation aus: US-Amerikaner schätzen individuelle Verantwortung mehr als Deutsche. Menschen mit niedriger Bildung schätzen sie zudem deutlich weniger als Menschen mit mittlerer Bildung, Arbeitslose weniger als andere. Die Einflüsse von Alter, Geschlecht und hoher Bildung sind nicht signifikant. 3.5.1.2 Ergebnisse für die USA Für die einzelnen Faktoren wurden entsprechend Regressionsanalysen ausschließlich mit den in den USA erhobenen Daten gerechnet und auch die Region als unabhängige Variable einbezogen. Dargestellt wird somit der Effekt, den ein Wohnsitz in einer der ehemaligen Dreizehn Kolonien auf heutige Einstellungen hat. Daneben wurde (wie oben) der Effekt von Alter, Geschlecht, Bildung und Arbeitslosigkeit prognostiziert. Außerdem beachtet diese Analyse den Effekt der Ethnizität und berücksichtigt
122
3. Empirische Analyse
drei Gruppen: weiß, schwarz und andere. Der Effekt wurde jeweils für die Zugehörigkeit zur Gruppe „schwarz“ oder „andere“ herausgestellt, mit „weiß“ als Referenzkategorie. Es zeigt sich, dass Protestantismus auf den ersten Faktor, Luthers Berufsbild, in den USA entsprechend der Erwartung einen positiven Effekt hat. Bei Hedo-Materialismus zeigt sich hingegen kein signifikanter Effekt. Außerdem kann man feststellen, dass Protestantismus in den USA bis heute einen starken Einfluss auf eine kapitalistische Haltung hat: Unter allen im Modell berücksichtigten Merkmalen ist der Effekt des Protestantismus hier am stärksten (siehe Tabelle 17). Tabelle 17: Regressionsanalysen Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung (USA I)
Protestantismus Region (ehemalige Dreizehn Kolonien) Alter Geschlecht (männlich) Arbeitslosigkeit Niedrige Bildung Hohe Bildung Ethnische Gruppe »schwarz« Ethnische Gruppe »andere« R2
Arbeit als Verpflichtung
HedoMaterialismus
Kapitalismus (Wirtschaft)
Kapitalismus (Sozialpolitik)
0,080** n.s.
n.s. n.s.
0,117** n.s.
0,094** n.s.
0,132** 0,106** n.s. n.s. -0,115** 0,084** n.s. 0,056
-0,204** 0,125** n.s. n.s. 0,075** 0,082** 0,091** 0,096
0,114** 0,065* n.s. n.s. n.s. -0,099** -0,09** 0,059
0,120** n.s. -0,069* -0,067* n.s. -0,110** n.s. 0,058
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 5. Erhebungswelle des World Values Survey (2005-2008)
Auf den ersten Faktor, Arbeit als Verpflichtung, hat das Alter den stärksten Effekt (ebenso wie im Modell für die USA und Deutschland): Ältere teilen diese Vorstellung eher als Jüngere. Männer befürworten sie eher als Frauen, Schwarze eher als Weiße, Höhergebildete weniger als Menschen mit mittlerer Bildung. Die Effekte von einem Wohnort im Gebiet der ehe-
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 123
maligen Kolonien, von Arbeitslosigkeit, niedriger Bildung und der Zugehörigkeit zu anderen ethnischen Gruppen ist nicht signifikant. Beim zweiten Faktor, Hedo-Materialismus, geht wiederum der stärkste Effekt vom Alter aus: Jüngere sind stärker an Wohlstand, Erfolg und Hedonismus interessiert als Ältere. Ebenso sind Männer stärker daran interessiert als Frauen, Höhergebildete eher als Menschen mit mittlerer Bildung. Schwarze und Angehörige anderer ethnischer Gruppen sind stärker an Erfolg und Wohlstand orientiert als Weiße. Ein Wohnsitz im Gebiet der ehemaligen Kolonien, niedrige Bildung und Arbeitslosigkeit haben keinen signifikanten Effekt. Der zweitgrößte Einfluss auf eine kapitalistische Haltung innerhalb der USA ist das Alter: Ältere Menschen sind kapitalistischer eingestellt als Jüngere. Ebenso sind Männer kapitalistischer eingestellt als Frauen. Schwarze und Mitglieder anderer ethnischer Gruppen sind weniger kapitalistisch eingestellt als Weiße. Die Effekte von einem Wohnort im Gebiet der ehemaligen Kolonien, von Bildung und Arbeitslosigkeit sind hier nicht signifikant. Ebenso wie im Modell für beide Länder konnte im Hinblick auf die Wertschätzung von individueller Verantwortung (beziehungsweise kapitalistische Einstellungen in der Sozialpolitik) ein signifikanter Effekt des Protestantismus festgestellt werden: Amerikanische Protestanten schätzen individuelle Verantwortung bis heute stärker als andere. Ältere schätzen sie mehr als Jüngere, Menschen mit hoher sowie Menschen mit niedriger Bildung weniger als Menschen mit mittlerer Bildung. Schwarze schätzen sie weniger als Weiße. Die Effekte von Region, Geschlecht, Arbeitslosigkeit und Zugehörigkeit zu anderen ethnischen Gruppen waren nicht signifikant. Diese Ergebnisse decken sich weitgehend mit Putnams (2012: 255) Auswertung seiner Faith-Matters-Umfragedaten, wonach Schwarze und Latinos tendenziell hochreligiös sind und zugleich eine Anti-Armutspolitik befürworten, während Weiße eine egalitäre Sozialpolitik insgesamt weniger unterstützen (besonders dann, wenn sie hochreligiös sind). Gleichzeitig stellt Putnam heraus, dass etwa 66 Prozent der am meisten säkularen Amerikaner Regierungshandeln befürworten, das dazu dient, die Lücke zwischen Arm und Reich zu schließen, während es unter dem am ausgeprägtest religiösen Fünftel der Bevölkerung 57 Prozent sind. Etwa zwei Drittel der säkularen Amerikaner befürworten zusätzliche Regierungshilfe für Arme, im Vergleich zu 46 Prozent des am meisten religiösen Fünftels der Bevölkerung. Religiosität ist also, zumindest bei weißen Amerikanern, verbunden mit einem dem amerikanischen Verständnis nach eher konser-
124
3. Empirische Analyse
vativen Blick auf Sozialhilfeprogramme, wobei diese Korrelation deutlich schwächer ist als beispielsweise die zwischen Religiosität und der Haltung gegenüber Sexualmoral (vgl. Putnam 2012: 256) oder auch die zwischen politischer Ideologie und dem Blick auf Hilfe gegenüber den Armen. Insgesamt sind hochreligiöse Amerikaner in den meisten Aspekten etwas weniger unterstützend hinsichtlich einer Sozialpolitik, die Armut und Ungleichheit ausgleichen soll, als die generelle Bevölkerung. Insofern unterscheiden sie sich von den Hochreligiösen der Vergangenheit, die oft leidenschaftlich für größere Gleichheit und soziale Gerechtigkeit kämpften. Jedoch spenden Hochreligiöse auch etwas mehr und engagieren sich mehr ehrenamtlich, was mit ihrer Wertschätzung der privaten Vorsorge gut zusammenpasst (vgl. Putnam 2012: 257-8). 3.5.1.3 Ergebnisse für Deutschland Entsprechend wurden für die einzelnen Faktorwerte Regressionsanalysen nur für Deutschland durchgeführt. Auch hier wurde die Region als unabhängige Variable in die Analyse einbezogen, hier als Effekt des Wohnsitzes in einem der historisch protestantischen Bundesländer. Außerdem wurde der Effekt von Alter, Geschlecht, Bildung und Arbeitslosigkeit berücksichtigt. Auf den ersten Blick scheint der Effekt des Protestantismus in diesen Modellen zu vernachlässigen zu sein: Weder bei Arbeit als Verpflichtung noch bei den kapitalistischen Einstellungen zeigt sich ein signifikanter Effekt (siehe Tabelle 18). Auf Hedo-Materialismus hat Protestantismus (ähnlich wie im Modell für beide Länder) einen leichten negativen Effekt. Beim Blick auf den Einfluss der Region zeigen sich hingegen deutliche Effekte: Menschen mit Wohnsitz in historisch protestantischen Ländern sind bis heute deutlich kapitalistischer eingestellt als andere und teilen auch die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung deutlich stärker als andere. Möglicherweise spielt also die heutige Konfessionszugehörigkeit für die Einstellungen zu Arbeitsethik und zur Wirtschaftsordnung in Deutschland weniger eine Rolle als die historische Prägung der Region, in der die Menschen leben. Der Effekt der Region auf Hedo-Materialismus ist hingegen nicht signifikant. Bei Arbeit als Verpflichtung geht der stärkste Effekt hier wieder, ähnlich wie im Modell für beide Länder, vom Alter aus: Ältere Menschen teilen sie eher als Jüngere, Menschen mit niedriger Bildung eher als Menschen mit mittlerer Bildung. Arbeitslose lehnen sie etwas stärker ab als andere. Die Effekte von Geschlecht und hoher Bildung sind hingegen nicht signifikant.
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 125
Tabelle 18: Regressionsanalysen Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung (Deutschland I)
Protestantismus Region (Historisch protestantische Länder) Alter Geschlecht (männlich) Arbeitslosigkeit Niedrige Bildung Hohe Bildung R2
Arbeit als Verpflichtung
HedoMaterialismus
Kapitalismus (Wirtschaft)
Kapitalismus (Sozialpolitik)
n.s. 0,144**
-0,054** n.s.
n.s. 0,129**
n.s. -0,067**
0,200** n.s. -0,092** 0,085** n.s. 0,087
-0,210** 0,153** n.s. n.s. -0,078** 0,083
n.s. 0,155** -0,074** n.s. n.s. 0,045
-0,067** n.s. -0,076** -0,116** n.s. 0,040
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 5. Erhebungswelle des World Values Survey (2005-2008)
126
3. Empirische Analyse
Beim zweiten Faktor, Hedo-Materialismus, geht der stärkste Effekt vom Alter aus: Jüngere sind stärker an Erfolg, Wohlstand und Hedonismus interessiert als Ältere, Männer stärker als Frauen, Höhergebildete weniger als Menschen mit mittlerer Bildung. Die Effekte von Arbeitslosigkeit und niedriger Bildung sind nicht signifikant. Übertroffen wird der Effekt der Region auf kapitalistische Einstellungen in der Wirtschaftspolitik lediglich vom Effekt des Geschlechts: Männer sind kapitalistischer eingestellt als Frauen. Arbeitslose sind weniger kapitalistisch eingestellt als andere. Die Effekte von Alter und Bildung sind nicht signifikant. Beim vierten Faktor, individueller Verantwortung beziehungsweise kapitalistischen Einstellungen in der Sozialpolitik, geht der stärkste Effekt von der Bildung aus: Menschen mit niedriger Bildung schätzen individuelle Verantwortung weniger als Menschen mit mittlerer Bildung. Anders als in den USA hat Protestantismus in Deutschland keinen signifikanten Effekt auf die Wertschätzung individueller Verantwortung. Ein (negativer) Effekt geht hingegen von der Region aus: Menschen aus historisch protestantischen Ländern schätzen individuelle Verantwortung weniger als andere. Ältere schätzen sie weniger als Jüngere (was insofern interessant ist, als der Effekt in den USA unter einem anderen Vorzeichen steht), Menschen mit niedriger Bildung weniger als Menschen mit mittlerer Bildung, Arbeitslose weniger als andere. Die Effekte von Geschlecht und hoher Bildung sind nicht signifikant. Mit Blick auf die aufgestellten Hypothesen lässt sich feststellen: 1. Ein Effekt des Protestantismus auf die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung lässt sich im Modell für beide Länder nicht zeigen, in der Analyse der USA jedoch schon. Innerhalb Deutschlands ist der Effekt des Protestantismus nicht signifikant. Jedoch lässt sich in Deutschland ein positiver Effekt der historisch protestantischen Region auf Luthers Berufsbild nachweisen (in den USA nicht). 2. Entgegen der ursprünglichen protestantischen Ethik gibt es heute einen Zusammenhang zwischen dem Streben nach Erfolg und Wohlstand sowie Hedonismus. Der Effekt des Protestantismus auf HedoMaterialismus ist leicht negativ (im Modell für beide Länder sowie für Deutschland, in den USA ist er nicht signifikant). Der Effekt der Regionen ist in beiden Ländern nicht signifikant. Protestanten könnten also heute einer hedo-materialistischen Haltung gegenüber etwas stärker abgeneigt sein als andere.
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 127
3. Ein Effekt des Protestantismus auf kapitalistische Einstellungen hinsichtlich der Wirtschaftspolitik lässt sich bis heute nachweisen, sowohl im Modell für beide Länder als auch (noch stärker) im Modell für die USA. In Deutschland lässt sich zwar kein signifikanter Effekt des Protestantismus zeigen, jedoch gibt es einen positiven Effekt der historisch protestantischen Region auf kapitalistische Einstellungen. In den USA ist der Effekt der Region nicht signifikant. Was die kapitalistischen Einstellungen bezüglich der Sozialpolitik angeht, lässt sich hinsichtlich der Wertschätzung von individueller Verantwortung ein positiver Effekt des Protestantismus feststellen und zwar sowohl im Modell für beide Länder als auch im Modell für die USA. In Deutschland ist der Effekt des Protestantismus nicht signifikant. Jedoch gibt es hier (entgegen der Erwartung) einen negativen Effekt der Region. In den USA ist der Effekt der Region nicht signifikant. 3.5.1.4 EXKURS: Mögliche Effekte des Katholizismus Wie oben bereits erläutert, sollen an dieser Stelle die gleichen Analysen noch einmal gdurchgeführt werden, hier allerdings mit Katholizismus anstelle von Protestantismus. Auf diese Weise kann man sehen, ob der Katholizismus eventuell ebenfalls einen signifikanten Effekt auf manche der untersuchten Vorstellungen hat oder nicht. Lässt sich hier ein signifikanter Effekt finden, sind jedoch aufgrund der unterschiedlichen Modelle die Beta-Koeffizienten von Protestantismus und Katholizismus nur bedingt miteinander vergleichbar. Aus diesem Grund werden Vergleiche hier nur angedeutet (formuliert etwa mit einem „dieser Effekt könnte größer sein als. . . “ oder „soweit dies vergleichbar ist, könnte. . . “). Zunächst zeigt die Berechnung, dass der Katholizismus keinen signifikanten Effekt auf die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung hat (siehe Tabelle 19). Das gleiche war beim Protestantismus der Fall. Alle übrigen Werte des Modells sind ähnlich wie im Modell zum Protestantismus. Auch das R2 ist mit 0,061 etwa gleich hoch wie im anderen Modell (0,060). Die Analyse zeigt weiter auch keinen signifikanten Effekt des Katholizismus auf Hedo-Materialismus. Der Effekt des Protestantismus lag hier bei einem Beta-Koeffizienten von -0,050, signifikant auf dem 0,01-Niveau. Die anderen Werte sind ähnlich. R2 ist mit 0,177 nur etwas niedriger als im Modell zum Protestantismus (0,0179). Ebenfalls keinen signifikanten Effekt hat Katholizismus auf kapitalistische Einstellungen in der Wirtschaft. Bei den Berechnungen zum Prote-
128
3. Empirische Analyse
Tabelle 19: Regressionsanalysen Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung (USA/Deutschland II)
Katholizismus Nation (USA) Alter Geschlecht (männlich) Niedrige Bildung Hohe Bildung Arbeitslosigkeit R2
Arbeit als Verpflichtung
HedoMaterialismus
Kapitalismus (Wirtschaft)
Kapitalismus (Sozialpolitik)
n.s. -0,090** 0,175** 0,044* 0,064** -0,042* -0,042* 0,061
n.s. -0,350** -0,215** 0,136** n.s. n.s. n.s. 0,177
n.s. 0,227** 0,070** 0,107** n.s. n.s. -0,046* 0,070
0,057** 0,215** n.s. n.s. -0,139** n.s. -0,066** 0,096
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 5. Erhebungswelle des World Values Survey (2005-2008)
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 129
stantismus ergab sich hier ein Beta-Koeffizient von 0,060, signifikant auf dem 0,01-Niveau. Dies könnte als schwache Bestätigung der Weber-These gedeutet werden. R2 liegt hier mit 0,070 etwas niedriger als im Modell zum Protestantismus (0,073). Interessant ist, dass Katholizismus auf die kapitalistischen Einstellungen in der Sozialpolitik (hier wie oben erläutert berechnet mit der Frage zu individueller Verantwortung gegenüber staatlicher Verantwortung) einen signifikanten positiven Effekt hat (Beta-Koeffizient: 0,057, signifikant auf dem 0,01-Niveau), der sogar, soweit dies vergleichbar ist, stärker zu sein scheint als der des Protestantismus (0,034, signifikant auf dem 0,05Niveau). Die anderen Werte sind ähnlich. R2 liegt mit 0,096 nur wenig über dem Modell zum Protestantismus (0,094). Berechnungen zum Katholizismus in den USA Auch innerhalb der USA soll noch einmal vergleichend dargestellt werden, ob auch der Katholizismus auf die einzelnen Vorstellungen einen signifikanten Effekt hat oder nicht. Die Berechnung zu Luthers Berufsbild in Tabelle 20 zeigt, dass Katholizismus hier, ähnlich wie im Modell für beide Länder, keinen signifikanten Effekt auf die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung hat. Für den Protestantismus ergab die Berechnung einen Effekt in Höhe eines Beta-Koeffizienten von 0,080, signifikant auf dem 0,01-Niveau. Die anderen Werte sind ähnlich, R2 liegt in der Berechnung zum Katholizismus mit 0,051 etwas unterhalb des R2 im Modell zum Protestantismus (0,056). Während Protestantismus im Modell für die USA keinen signifikanten Effekt auf Hedo-Materialismus hatte, zeigt sich im Modell für den Katholizismus interessanterweise ein signifikanter Effekt: Der Beta-Koeffizient beträgt hier 0,098, signifikant auf dem 0,01-Niveau. Katholiken in den USA scheinen also mehr an Hedonismus, Erfolg und Wohlstand orientiert zu sein als Protestanten. Auch wenn hier eigentlich ursprünglich erwartet wurde, dass Protestantismus zumindest positiv mit Erfolg und Wohlstand (wenn auch nicht mit Hedonismus) zusammenhängt, könnte dieses Ergebnis vielleicht auch in dem Sinne interpretiert werden, dass der asketische Protestantismus in den USA traditionell sehr stark war. Die anderen Werte sind ähnlich, R2 liegt mit 0,103 etwas über dem R2 im Modell zum Protestantismus (0,096). Interessant ist auch das Ergebnis für den dritten Faktorwert, Kapitalismus in der Wirtschaftspolitik: Während im Modell zum Protestantismus derselbe den größten von allen Effekten hatte (Beta-Koeffizient von 0,117,
130
3. Empirische Analyse
Tabelle 20: Regressionsanalysen Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung (USA II)
Katholizismus Region (ehemalige Dreizehn Kolonien) Alter Geschlecht (männlich) Arbeitslosigkeit Niedrige Bildung Hohe Bildung Ethnische Gruppe »schwarz« Ethnische Gruppe »andere« R2
Arbeit als Verpflichtung
HedoMaterialismus
Kapitalismus (Wirtschaft)
Kapitalismus (Sozialpolitik)
n.s. n.s.
0,098** n.s.
n.s. n.s.
n.s. n.s.
0,147** 0,105** n.s. n.s. -0,108** 0,080**
-0,217** 0,125** n.s. n.s. 0,071* 0,098**
0,139** 0,062* n.s. n.s. n.s. -0,111**
0,138** n.s. n.s. -0,061* n.s. -0,109**
n.s.
0,081**
-0,102**
-0,076*
0,051
0,103
0,048
0,052
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 5. Erhebungswelle des World Values Survey (2005-2008)
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 131
signifikant auf dem 0,01-Niveau), zeigt Katholizismus in einer ähnlichen Berechnung gar keinen signifikanten Effekt auf kapitalistische Einstellungen in der Wirtschaftspolitik. Auch dies scheint, wie oben im Modell für beide Länder schon angedeutet, im Sinne der These von Max Weber interpretiert werden zu können. Die anderen Ergebnisse sind ähnlich. R2 liegt mit 0,048 etwas unter dem Wert des anderen Modells (0,059). Auch beim vierten Aspekt, der individuellen Verantwortung beziehungsweise den kapitalistischen Einstellungen in der Sozialpolitik ergibt sich ein interessantes Ergebnis: Auch hier hat Katholizismus keinen signifikanten Effekt, während für das Modell zum Protestantismus ein BetaKoeffizient von 0,094 (signifikant auf dem 0,01-Niveau) ermittelt werden konnte. Die anderen Ergebnisse sind ähnlich, mit Ausnahme, dass in diesem Modell Arbeitslosigkeit nicht signifikant ist, während sie es im Modell zum Protestantismus war (Beta-Koeffizient 0,072, signifikant auf dem 0,05-Niveau). Umgekehrt wird in diesem Modell der Effekt der ethnischen Gruppe „andere“ (Beta-Koeffizient -0,076, signifikant auf dem 0,05Niveau) signifikant, der es im Modell zum Protestantismus nicht war. R2 liegt mit 0,052 etwas unterhalb des Wertes zum Modell zum Protestantismus (0,058). Berechnungen zum Katholizismus in Deutschland Wie oben werden auch für Deutschland nochmals weitere Regressionsanalysen aufgeführt, die anstelle der Effekte Protestantismus diejenigen des Katholizismus zeigen. Für das erste Modell, Arbeit als Verpflichtung, ergeben sich in Deutschland kaum Unterschiede (siehe Tabelle 21). Weder Katholizismus noch Protestantismus haben einen signifikanten Effekt auf diese Vorstellung. Die anderen Werte ändern sich, wenn überhaupt, nur geringfügig. Sogar das R2 ist mit 0,087 exakt gleich groß wie das R2 des Modells zum Protestantismus. Für das zweite Modell zum Hedo-Materialismus ergibt sich kein signifikanter Effekt des Katholizismus, während für den Protestantismus ein schwacher negativer Effekt gefunden werden konnte (Beta-Koeffizient 0,054, signifikant auf dem 0,01-Niveau). Die anderen Werte sind ähnlich. Auch R2 ist mit 0,081 nur leicht geringer als im Modell zum Protestantismus (0,083). Bei den kapitalistischen Einstellungen in der Wirtschaftspolitik zeigt das Modell interessanterweise einen signifikanten Effekt des Katholizismus (Beta-Koeffizient 0,064, signifikant auf dem 0,05-Niveau), während es im
132
3. Empirische Analyse
Tabelle 21: Regressionsanalysen Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung (Deutschland II)
Katholizismus Region (Historisch protestantische Länder) Alter Geschlecht (männlich) Arbeitslosigkeit Niedrige Bildung Hohe Bildung R2
Arbeit als Verpflichtung
HedoMaterialismus
Kapitalismus (Wirtschaft)
Kapitalismus (Sozialpolitik)
n.s. 0,142**
n.s. n.s.
0,064* 0,153**
n.s. -0,049*
0,198** n.s. -0,092** 0,085** n.s. 0,087
-0,214** 0,158** n.s. n.s. -0,079** 0,081
n.s. 0,154** -0,071** n.s. n.s. 0,044
-0,070** n.s. -0,074** -0,118** n.s. 0,042
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 5. Erhebungswelle des World Values Survey (2005-2008)
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 133
Modell zum Protestantismus keinen signifikanten Effekt gab. Die anderen Werte sind ähnlich. R2 liegt mit 0,044 nur etwas unter dem Wert vom Modell zum Protestantismus mit 0,045. Für das vierte Modell ergeben sich ähnliche Ergebnisse wie im Modell zum Protestantismus: Katholizismus hat in Deutschland keinen signifikanten Effekt auf die Vorstellung von individueller Verantwortung (ebensowenig wie es der Protestantismus hatte). Die anderen Effekte sind ähnlich. R2 liegt mit 0,042 leicht über dem R2 aus dem Modell zum Protestantismus (0,040). Mit Blick auf die aufgestellten Hypothesen lässt sich feststellen: 1. Die Berechnungen zum Katholizismus zeigen für beide Länder ebenso wie oben für den Protestantismus, dass der Katholizismus keinen signifikanten Effekt auf die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung hat. Innerhalb der USA hat Katholizismus auch keinen signifikanten Effekt, während für Protestantismus ein Effekt gefunden wurde. Dies könnte die Weber-These schwach bestätigen. In Deutschland hat der Katholizismus ebensowenig wie der Protestantismus einen signifikanten Effekt. 2. Die weiteren Berechnungen zeigen für beide Länder keinen signifikanten Effekt des Katholizismus auf Hedo-Materialismus, während für den Protestantismus ein leichter negativer Effekt gefunden werden konnte. Während Protestantismus im Modell für die USA keinen signifikanten Effekt auf Hedo-Materialismus hatte, zeigt sich im Modell für den Katholizismus interessanterweise ein signifikanter positiver Effekt. Katholiken in den USA scheinen also mehr an Hedonismus, Erfolg und Wohlstand orientiert zu sein als Protestanten. In Deutschland lässt sich in dieser Hinsicht kein signifikanter Effekt des Katholizismus feststellen, während für den Protestantismus ein schwacher negativer Effekt gefunden werden konnte. 3. Die Berechnungen zum Katholizismus im Modell der beiden Länder zeigen, dass Katholizismus keinen signifikanten Effekt auf kapitalistische Einstellungen in der Wirtschaftspolitik hat. Bei den Berechnungen zum Protestantismus ergab sich hier ein signifikanter Effekt. Dies könnte als schwache Bestätigung der Weber-These gedeutet werden. Interessant ist auch das Ergebnis im Modell der USA: Während im Modell zum Protestantismus derselbe den größten von allen Effekten hatte, zeigt Katholizismus in einer ähnlichen Berechnung gar keinen signifikanten Effekt auf kapitalistische Einstellungen in der Wirt-
134
3. Empirische Analyse
schaftspolitik. Auch dies könnte, wie oben im Modell für beide Länder bereits beschrieben, im Sinne der These von Max Weber interpretiert werden. In Deutschland zeigt sich bei den kapitalistischen Einstellungen in der Wirtschaftspolitik interessanterweise ein signifikanter positiver Effekt des Katholizismus, während es im Modell zum Protestantismus keinen signifikanten Effekt gab. Für Deutschland scheint sich die Weber-These somit nicht so einfach bestätigen (beziehungsweise in dieser Hinsicht sogar eher widerlegen) zu lassen. Interessant ist, dass Katholizismus auf die kapitalistischen Einstellungen in der Sozialpolitik im Modell für beide Länder einen signifikanten positiven Effekt hat, der sogar, soweit dies vergleichbar ist, stärker sein könnte als der des Protestantismus. Im Modell für die USA hingegen hat Katholizismus keinen signifikanten Effekt, während für das Modell zum Protestantismus ein positiver Effekt ermittelt werden konnte. Innerhalb Deutschlands ergibt sich für den Katholizismus keinen signifikanten Effekt auf die Vorstellung individueller Verantwortung, so wie auch für den Protestantismus kein Effekt ermittelt werden konnte. 3.5.1.5 EXKURS: Mögliche Effekte des Sozialismus in Ostdeutschland Beim Betrachten der bisher vorgestellten Ergebnisse könnte die Frage aufkommen: Sind die Effekte der (historisch protestantisch geprägten) Region möglicherweise nicht auf die protestantische Vergangenheit, sondern auf den Sozialismus im Gebiet der ehemaligen DDR zurückzuführen? Zwar sind die Gebiete selbstverständlich nicht deckungsgleich, jedoch kann man sagen, dass das gesamte ehemalige Ostdeutschland in das historisch protestantisch geprägte Gebiet fällt. Aus diesem Grund wurden hier noch einmal weitere Regressionsanalysen durchgeführt, um die Effekte der Region Ostdeutschland herauszustellen. Zwar sind diese aufgrund der unterschiedlichen Modelle nicht direkt mit den bisherigen Ergebnissen vergleichbar, aber eine Vermutung, ob der Effekt der ehemaligen DDR hier stärker sein könnte als der der historisch protestantisch geprägten Region, lässt sich durchaus treffen. Die Ergebnisse in Tabelle 22 zeigen für den Effekt des Gebiets der ehemaligen DDR auf die Vorstellung von „Arbeit als Verpflichtung“ einen Beta-Koeffizienten von 0,125 (signifikant auf dem 0,01 Niveau). Im entsprechenden Modell zur historisch protestantisch geprägten Region hatte diese ebenfalls einen Effekt in Höhe eines Beta-Koeffizienten von 0,144
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 135
Tabelle 22: Weitere Regressionsanalysen zu Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung
Protestantismus Region (Ehemalige DDR) Alter Geschlecht (männlich) Arbeitslosigkeit Niedrige Bildung Hohe Bildung R2
Arbeit als Verpflichtung
HedoMaterialismus
Kapitalismus (Wirtschaft)
Kapitalismus (Sozialpolitik)
n.s. 0,125** 0,195** n.s. -0,094** 0,097** n.s. 0,081
n.s. 0,064** -0,214** 0,154** n.s. n.s. -0,079** 0,086
n.s. n.s. n.s. 0,154** -0,063* n.s. n.s. 0,029
n.s. -0,101** -0,062* n.s. -0,070** -0,126** 0,048* 0,046
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 5. Erhebungswelle des World Values Survey (2005-2008)
(signifikant auf dem 0,01-Niveau). Hier könnte man also vermuten, dass der Effekt der historisch protestantisch geprägten Region größer ist als der des Sozialismus, wenngleich auch dieser auf die Vorstellung von „Arbeit als Verpflichtung“ einen recht starken Effekt hatte. Die anderen Werte sind ähnlich. R2 liegt mit 0,081 etwas niedriger als das R2 im Modell zum Protestantismus (0,087). Während es im Modell mit der historisch protestantischen Region einen schwachen negativen Effekt des Protestantismus auf Hedo-Materialismus gab (Beta-Koeffizient von -0,054, signifikant auf dem 0,01-Niveau), kann hier kein signifikanter Effekt des Protestantismus festgestellt werden. Umgekehrt lässt sich hier ein schwacher signifikanter Effekt der Region der ehemaligen DDR finden (Beta-Koeffizient von 0,064, signifikant auf dem 0,01-Niveau), während es für die Region der ehemals protestantischen Region keinen Effekt gab. Menschen, die im Osten Deutschlands leben, könnten also heute etwas stärker an Hedonismus, Erfolg und Wohlstand interessiert sein als Menschen aus dem Westen, während es keinen signifikanten Unterschied zwischen Menschen aus den historisch protestantisch geprägten Regionen und jenen aus den historisch katholisch geprägten Re-
136
3. Empirische Analyse
gionen gibt. Die anderen Werte sind ähnlich. R2 liegt mit 0,086 etwas über dem Wert des Modells zur historisch protestantischen Region (0,083). Auf kapitalistische Einstellungen in der Wirtschaftspolitik ist der Effekt der ehemaligen DDR nicht signifikant, während für die historisch protestantisch geprägte Region ein relativ starker Effekt von einem BetaKoeffizienten von 0,129 ausging (signifikant auf dem 0,01-Niveau). Hier zeigt sich also deutlich, dass der Effekt auf kapitalistische Einstellungen in der Wirtschaftspolitik eher von der historisch protestantisch geprägten Region ausgehen könnte als von der Region des ehemaligen Ostdeutschlands. Allerdings sollten die Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden: R2 liegt hier nur bei 0,029 (im Modell zur historisch protestantischen Region lag es immerhin bei 0,045). Interessant ist auch der Blick auf das Ergebnis beim vierten Aspekt, den kapitalistischen Einstellungen in der Sozialpolitik: Hier lässt sich ein starker negativer Effekt der ehemaligen DDR feststellen (der Beta-Koeffizient beträgt -0,101, signifikant auf dem 0,01-Niveau), während der Effekt der historisch protestantisch geprägten Region im Verhältnis dazu geringer ausgefallen war (Beta-Koeffizient von -0,067, signifikant auf dem 0,01Niveau)25 . Menschen aus dem Gebiet der ehemaligen DDR sind also bis heute deutlich weniger kapitalistisch eingestellt als Westdeutsche, wenn es um Fragen der Sozialpolitik (beziehungsweise der individuellen Verantwortung) geht. R2 liegt mit 0,046 etwas über dem R2 im Modell der historisch protestantisch geprägten Region (0,040), ist jedoch noch immer niedrig. Entsprechend sollten die Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert wird. Zusammenfassend kann man vermuten, dass die protestantisch geprägte Region einen stärkeren Effekt auf „Arbeit als Verpflichtung“ haben könnte als der Osten Deutschland, während umgekehrt ein Wohnsitz in der ehemaligen DDR einen größeren negativen Effekt auf kapitalistische Einstellungen in der Sozialpolitik haben könnte als ein Wohnsitz im historisch protestantisch geprägten Gebiet. Interessant ist auch, dass das protestantisch geprägte Gebiet einen relativ starken positiven Effekt auf kapitalistische Einstellungen in der Wirtschaftspolitik hat, während die Region Ostdeutschland hier keinen signifikanten Effekt zeigt.
25 Dies
entspricht, wie oben bereits dargelegt, nicht der Weber-These, derzufolge der Effekt positiv hätte sein müssen. Menschen aus dem historisch protestantisch geprägten Gebiet sind also, was die Sozialpolitik anbelangt, weniger kapitalistisch eingestellt als Menschen aus den historisch katholischen Gebieten.
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 137
3.5.2
Wirkungen durch Individualisierung und die individualisierte Beziehung zu Gott
Ein weiterer zentraler Wert des amerikanischen Ethos ist Individualismus. Während es in dieser Arbeit vor allem um das Konzept der Individualisierung (Beck 1986) geht, das im Kapitel 2.4.2 bereits ausführlich dargelegt wurde, soll hier dennoch auch kurz auf den Wert des Individualismus eingegangen werden. Für Amerikaner bedeutete er das Prinzip, das die Menschen gleichzeitig von den Tyranneien der Alten Welt befreien und sie dazu bringen würde, selbst einzigartige Errungenschaften zu erbringen (vgl. McClosky/Zaller 1984: 111-112). Während es für viele europäische Beobachter als synonym mit Egoismus betrachtet wurde, bedeutete Individualismus für Amerikaner Selbstbestimmtheit, moralische Freiheit und Menschenwürde. Bellah (1985: 142) beschreibt das Entstehen des Wertes mit folgenden Worten: Modern individualism emerged out of the struggle against monarchical and aristocratic authority that seemed arbitrary and oppressive to citizens prepared to assert the right to govern themselves. In diesem Kampf seien die klassische politische Philosophie sowie die biblische Religion wichtige kulturelle Ressourcen gewesen. Im Zusammenhang mit dem klassischen Republikanismus entstand auch das Bild des aktiven Bürgers, der zum öffentlichen Wohl beitrug. Gemeinsam mit dem (protestantischen) Christentum, sowohl in puritanischer als auch in der Form anderer kleiner protestantischer Gruppen, wurde so die Vorstellung einer Regierung ermöglicht, die auf der freiwilligen Teilhabe von Individuen beruhte. Dass Individualismus für Amerikaner attraktiver war als für Europäer, führen McClosky und Zaller (1984: 112) auf die unterschiedlichen sozialen Strukturen zurück. Da europäische Gesellschaften im 18. Jahrhundert von erblichen Aristokratien dominiert wurden, standen sie der Idee der Freiheit nicht sehr offen gegenüber. Wie bereits dargelegt, waren die meisten Menschen in Europa in enge soziale Strukturen eingebunden, die sie davon abhielten, den Beruf zu wechseln oder höhere Positionen anzustreben. In den Augen der europäischen regierenden Klassen waren die meisten Menschen zu widerspenstig, ignorant und brutal, um mit Freiheit verantwortungsvoll umzugehen oder ihr eigenes Leben zu organisieren, viel weniger noch, an der Regierung mitzuwirken. Daher erforderte es das „Ge-
138
3. Empirische Analyse
meinwohl“, dass die Bevölkerung unter strenger Kontrolle gehalten und nicht ihren eigenen Initiativen überlassen wurde. Mit dem Konzept des Individualismus wurde die Vorstellung einer Gesellschaft, die dem Individuum dient, erfasst (vgl. McClosky/Zaller 1984: 113). Das Individuum muss frei sein, für sich selbst zu sprechen, seine Angelegenheiten selbst zu regeln und – im Rahmen der geltenden Gesetze – seine eigene Vorstellung eines guten Lebens zu verfolgen. Die Betonung von privater Leistung und maximaler individueller Freiheit, die in diesem Konzept steckt, war offensichtlich mit der kapitalistischen Vorstellung von individueller Initiative, ökonomischem Wettbewerb, persönlichem Profit und einem schwachen Staat gut vereinbar. So gesehen verkörperte Individualismus kapitalistische Werte und bestätigte sie als moralische Imperative. Individualismus wurde jedoch weder nur von der aufkommenden Unternehmerklasse erfunden, noch wurde er ausschließlich mit der Wirtschaft in Verbindung gebracht. Stattdessen war er zugleich eine Idee, von der man annahm, dass sie politische Freiheit, Gleichheit, religiöse Toleranz, ordentliche Gerichtsverfahren und das Recht auf Privatsphäre fördere. Im 18. Jahrhundert wurde er sowohl von den führenden Demokraten als auch von den Unternehmen als eine progressive und befreiende Idee angenommen, als ein wesentliches Element für wirtschaftliche Freiheit und Unabhängigkeit. Individualismus stellte so das Grundprinzip für persönliche Unabhängigkeit sowohl in der politischen als auch der ökonomischen Sphäre bereit und diente den Werten des Kapitalismus wie auch denen der Demokratie. Interessant sind auch Änderungen im Begriffsverständnis von „Individualismus“. So ist die im Unterkapitel 3.4.2 ausführlich dargestellte Abkehr vom Prinzip der individuellen Selbstverantwortung – in der frühen Republik noch von fast allen geteilt – auch dadurch zu verstehen, dass der Begriff „Individualismus“ im frühen 19. Jahrhundert nicht genau das Gleiche meinte wie heute (vgl. McClosky/Zaller 1984: 268-269). Damals berief man sich auf Individualismus und die damit verbundenen Werte, um das amerikanische Experiment der demokratischen Freiheit und Gleichheit zu rechtfertigen. Dass die USA im Vergleich zu Europa relativ wohlhabend waren, stärkte die Idee zusätzlich. Dies änderte sich jedoch Ende des 19. Jahrhunderts, als die Arbeiter in den Städten immer stärker von Armut betroffen waren. Zudem machten sich manche die traditionelle Vorstellung von Individualismus zunutze, um die zunehmende soziale und ökonomische Schichtenbildung zu rechtfertigen. Je mehr Individualismus jedoch mit den Ungerechtigkeiten des industriellen Kapitalismus in Verbindung gebracht wurde, desto weniger wurde er von der Bevölkerung geschätzt.
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 139
Die traditionelle Vorstellung von Individualismus wurde außerdem durch neue sozialwissenschaftliche Ansätze herausgefordert (vgl. McClosky/Zaller 1984: 269). Der frühe amerikanische Individualismus beschrieb Menschen als einzigartig und unabhängig voneinander und von der Gesellschaft. Vielen Sozialwissenschaftlern des späten 19. Jahrhunderts zufolge war die Gesellschaft jedoch ein verflochtenes System von Werten und sozialen Einflüssen, das nicht nur soziale Interaktion, sondern auch das menschliche Wesen an sich prägte. So gesehen sind Menschen zwar noch immer verantwortlich moralisch Handelnde, aber ihre Persönlichkeiten, Ambitionen und Fähigkeiten sind in weiten Teilen durch die Gesellschaft geprägt, in der sie leben. Diese neue Perspektive griffen viele progressive Gesellschaftskritiker als Argument für staatliche Interventionen zur Milderung der Armut auf. Menschen, die zu weiten Teilen ein Produkt ihrer Umgebung sind, seien nicht persönlich für ihre Armut verantwortlich, folgerten sie. Vielmehr sahen sie hier ein Versagen der Gesellschaft, die nun in der Pflicht sei, die Armut durch angemessene Maßnahmen zu beenden. Einfache Ermahnungen zur Selbsthilfe und moralischen Besserung in Richtung der Armen erschienen ihnen nicht als hilfreich. Folglich plädierten sie für Mindestlöhne, Renten, mehr Mittel für öffentliche Bildung und eine deutlich stärkere staatliche Regulierung der Wirtschaft (vgl. McClosky/Zaller 1984: 270). Diese Forderungen waren damals radikal, auch wenn vieles davon in den kommenden Jahrzehnten umgesetzt wurde (so wurde zum Beispiel 1938 ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt). Dennoch konnten sich auch die traditionellen Ideen von Individualismus und Eigenständigkeit erhalten. Sie werden bis heute aufgegriffen, um Kritik am Wohlfahrtskapitalismus zu rechtfertigen. Dies ist auch vor dem Hintergrund interessant, dass die amerikanischen Ideen zur Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von der Regierung in einer Zeit entstanden sind, in der der größte Teil der Bevölkerung auf dem Land lebte. Dass diese Ideale auch unter den Bedingungen des modernen industriellen Kapitalismus erhalten blieben, zeigt nicht nur, dass diese Ideen stark genug waren, um unter neuen und unvorhergesehenen Bedingungen zu überstehen, sondern auch, dass sie die Antworten der amerikanischen Nation auf neu auftretende Probleme prägten. Bemerkenswert ist auch ein weiterer Effekt des Individualismus: So lässt sich in den USA beobachten, dass er den Zusammenhalt der bürgerlichen Gesellschaft eher stärkt als schwächt (vgl. Lipset 1996: 277). So sind es gerade die individualistischsten Menschen, die am meisten tun, um anderen zu helfen – sei es durch freiwillige Arbeit, Engagement in der lokalen religiösen Gemeinschaft oder durch Spenden. Philanthropie ist in den USA
140
3. Empirische Analyse
im Verhältnis zu anderen westlichen Nationen sehr stark ausgeprägt: Amerikaner geben weltweit am meisten Geld beziehungsweise Zeit für andere (vgl. Lipset 1996: 289). Dies widerspricht klar dem Bild einer narzisstischen, materialistischen Gesellschaft, das häufig von den USA gezeichnet wird. 3.5.2.1 Individualisierung und Institutionenkritik Lassen sich die vermuteten Zusammenhänge zwischen Protestantismus und Individualisierung bis heute in den Umfragedaten zeigen? Anhand der sechsten Erhebungswelle des World Values Survey (2010-2014) sollen folgende Hypothesen überprüft werden: 1. Protestanten (beziehungsweise Menschen aus historisch protestantischen Regionen) teilen Werte der Individualisierung, zum Beispiel Unabhängigkeit, Selbstentfaltung und Phantasie, in den USA und Deutschland bis heute stärker als andere. 2. Politischen und kirchlichen Institutionen stehen Protestanten (beziehungsweise Menschen aus historisch protestantischen Regionen) in beiden Ländern bis heute skeptischer gegenüber als andere. In dieser Erhebungswelle des World Values Survey wurden die einzelnen Bundesstaaten in den USA genau erfasst, sodass eine exakte Darstellung des Gebietes der ehemaligen Dreizehn Kolonien möglich ist. Zunächst wurde mit den zu Individualisierung und Institutionenkritik herausgesuchten Fragen eine explorative Faktorenanalyse (siehe Tabelle 23) durchgeführt. Die Analyse ergab drei Faktoren, die sich folgendermaßen interpretieren lassen: Skepsis gegenüber politischen Institutionen: Die Variablen, die Misstrauen gegenüber politischen beziehungsweise staatlichen Institutionen messen, laden alle auf dem ersten Faktor. Dabei geht es um Skepsis gegenüber dem Parlament, der Regierung, den politischen Parteien, der Verwaltung sowie den Gerichten. Kennzeichnungsitem ist das Misstrauen gegenüber dem Parlament. Wertschätzung von Demokratie und Ablehnung anderer Regierungsformen: Der zweite Faktor könnte als „Wertschätzung von Demokratie“ interpretiert werden. Kennzeichnungsitem ist die Frage nach der Bewertung von Demokratie. Neben der Zustimmung zum demokratischen System laden auch die Items, die eine Ablehnung gegenüber
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 141
Tabelle 23: Faktorenanalyse zu Individualisierung und Institutionenkritik (I) Variable
Kodierung
Skepsis politische Institutionen
V117 V115 V116 V118 V114 V140
1-4 1-4 1-4 1-4 1-4 1-10
0,853 0,840 0,801 0,683 0,645
V129 V127 V130 V108 V22
1-4 1-4 1-4 1-4 0/1
V21 V70
0/1 1-6
V15 V69
0/1 1-3
V12
0/1
V216
1-4
Misstrauen Parlament Misstrauen Regierung Misstrauen politische Parteien Misstrauen Verwaltung Misstrauen Gerichte Bedeutung Demokratie (Wie wichtig ist es für Sie, in einem Land zu leben, das demokratisch regiert wird?) Ablehnung Militärherrschaft Ablehnung Diktatur Befürwortung Demokratie Misstrauen Kirchen Wertschätzung Selbstentfaltung Ablehnung Gehorsam Selbsteinschätzung: Es ist der Person wichtig, neue Ideen zu entwickeln, kreativ zu sein, Dinge auf ihre eigene Weise zu tun Wertschätzung Phantasie Ablehnung von „Mehr Respekt vor Autorität“ Wertschätzung Unabhängigkeit Einschätzung der eigenen Person als unabhängiges Individuum
Wertschätzung Demokratie
Individualisierung und Skepsis Kirchen
0,742
0,727 0,715 0,659 0,525 0,516 0,510 0,479
0,443 0,426 0,421 0,421
Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse) mit Olimin-Rotation und Kaiser-Normalisierung. Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 6. Erhebungswelle des World Values Survey (2010-2014)
142
3. Empirische Analyse
einer Militärherrschaft oder einer Diktatur zum Ausdruck bringen, auf diesem Faktor. Individualisierung und Skepsis gegenüber Kirchen: Der dritte Faktor umfasst eine Reihe von Variablen, die das Konzept der Individualisierung messen könnten – und interessanterweise zugleich die Skepsis gegenüber Kirchen. Menschen, die Selbstentfaltung, Kreativität, Phantasie und Unabhängigkeit schätzen, sich selbst als unabhängiges Individuum sehen sowie Gehorsam und Respekt vor Autoritäten ablehnen, scheinen also zugleich Kirchen gegenüber misstrauisch eingestellt zu sein. Kennzeichnungsitem ist hier die Skepsis gegenüber Kirchen. Es scheint also dieser Analyse zufolge ein Spannungsverhältnis zwischen individualistischen Werten und dem Vertrauen gegenüber Kirchen zu geben. In einer früheren Fassung dieser Arbeit wurden mit den soeben beschriebenen Faktorwerten Regressionsanalysen gerechnet. Jedoch ergaben sich dabei insbesondere beim dritten Faktor Probleme bei der Interpretation, da man nicht genau sagen konnte, ob die Regressionskoeffizienten auf Individualisierung oder Skepsis gegenüber Kirchen zurückgeführt werden können (vgl. Pollack 2018: 261, Zeilen 136-140). Daher erschien es aus theoretischen Gründen sinnvoll, diesen Faktorwert noch einmal zu trennen. Entsprechend wurde die gleiche Faktorenanalyse noch einmal gerechnet (siehe Tabelle 24), dieses Mal jedoch ohne das Item „Misstrauen Kirchen“. Bei dieser neuen Faktorenanalyse bleibt die Interpretation der ersten beiden Faktorwerte gleich (wie oben). Der dritte Faktor wurde nun wie folgt interpretiert: Individualisierung: Der dritte Faktor umfasst eine Reihe von Variablen, die das Konzept der Individualisierung messen könnten: Selbstentfaltung, Kreativität, Phantasie und Unabhängigkeit, eine Selbsteinschätzung als unabhängiges Individuum sowie die Ablehnung von Gehorsam und Respekt vor Autoritäten. Kennzeichnungsitem ist hier die Ablehnung von Gehorsam. Mit diesen neuen Faktorwerten wurden anschließend nochmals Regressionsanalysen durchgeführt, um die Effekte des Protestantismus und der Nation auf Individualisierung und Institutionenkritik zu prognostizieren. Außerdem wurden mit dem Item, das die Skepsis gegenüber Kirchen ausdrückt, separate Regressionsanalysen gerechnet.
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 143
Tabelle 24: Faktorenanalyse zu Individualisierung und Institutionenkritik (II) Variable
Kodierung
Skepsis politische Institutionen
V117 V115 V116 V118 V114 V140
1-4 1-4 1-4 1-4 1-4 1-10
0,856 0,844 0,803 0,686 0,645
V129 V127 V130 V21 V70
1-4 1-4 1-4 0/1 1-6
V15 V22
0/1 0/1
V69
1-3
V216
1-4
V12
0/1
Misstrauen Parlament Misstrauen Regierung Misstrauen politische Parteien Misstrauen Verwaltung Misstrauen Gerichte Bedeutung Demokratie (Wie wichtig ist es für Sie, in einem Land zu leben, das demokratisch regiert wird?) Ablehnung Militärherrschaft Ablehnung Diktatur Befürwortung Demokratie Ablehnung Gehorsam Selbsteinschätzung: Es ist der Person wichtig, neue Ideen zu entwickeln, kreativ zu sein, Dinge auf ihre eigene Weise zu tun Wertschätzung Phantasie Wertschätzung Selbstentfaltung Ablehnung von „Mehr Respekt vor Autorität“ Einschätzung der eigenen Person als unabhängiges Individuum Wertschätzung Unabhängigkeit
Wertschätzung Demokratie
Individualisierung
0,736
0,734 0,714 0,657 0,552 0,541
0,501 0,488 0,472 0,417
0,376
Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse) mit Olimin-Rotation und Kaiser-Normalisierung. Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 6. Erhebungswelle des World Values Survey (2010-2014)
144
3. Empirische Analyse
3.5.2.1.1 Ergebnisse für die USA und Deutschland Auch hier soll vor der Darstellung der Ergebnisse der Regressionsanalysen durch Balkendiagramme das unterschiedliche Antwortverhalten von Protestanten und anderen dargestellt werden. Dafür werden die Mittelwerte der Kennzeichnungsitems aus der Faktorenanalyse (siehe Abbildung 10)26 sowie des Items Skepsis gegenüber Kirchen miteinander verglichen. Im ersten Balkendiagramm in Tabelle 10 sieht man, dass deutsche Protestanten dem Parlament entgegen der Erwartung etwas weniger misstrauen als andere. Bei den Amerikanern misstrauen Protestanten dem Parlament entsprechend der Erwartung etwas stärker als andere. Der Unterschied ist jedoch gering. Grundsätzlich misstrauen Amerikaner ihrem Parlament deutlich stärker als Deutsche. Dies könnte an dem grundsätzlichen Misstrauen der Amerikaner gegenüber Institutionen und Hierarchien seit Gründung der USA liegen. Aus dem zweiten Balkendiagramm ist ersichtlich, dass Protestanten in Deutschland und in den USA Demokratie entsprechend der Erwartung stärker schätzen als andere. Grundsätzlich ist die Wertschätzung der Demokratie in beiden Ländern etwa gleich stark. Dass Protestanten die Demokratie mehr schätzen als andere, könnte die eingangs aufgestellte Hypothese schwach bestätigen. Hierauf wird später noch genauer eingegangen. Im dritten Balkendiagramm sieht man, dass Protestanten in beiden Ländern Werte der Individualisierung (hier: Selbsteinschätzung als kreativ) entgegen der Erwartung weniger teilen als andere. Wie sich bereits in der ersten Faktorenanalyse abzeichnete (siehe Tabelle 23), könnte dies ebenfalls auf ein Spannungsverhältnis zwischen Kirchlichkeit und individualistischen Werten hindeuten. Grundsätzlich scheinen Amerikaner individualistische Werte etwas weniger zu teilen als Deutsche. Aus dem vierten Balkendiagramm lässt sich erkennen, dass Protestanten in beiden Ländern Kirchen entgegen der Erwartung weniger misstrauen - oder auch stärker vertrauen - als andere. Eine mögliche Erklärung dafür erfolgt unten. Grundsätzlich ist das Misstrauen gegenüber Kirchen in Deutschland deutlich stärker als in den USA, was im weitesten Sinne am Erbe des Staatskirchentums liegen könnte und daran, dass Kirchen
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 145
4
10
3
8 6
2
4
1
2
0 Deutschland
0
USA
Deutschland
Protestantismus Andere
USA
Protestantismus
Protestanten
Andere
Protestanten
(a) Mittelwert Skepsis politische Institutio- (b) Mittelwert Wertschätzung Demokratie nen 5
3
4 2
3 2
1
1 0 Deutschland
USA
Protestantismus Andere
Protestanten
(c) Mittelwert Individualisierung
0 Deutschland
USA
Protestantismus Andere
Protestanten
(d) Mittelwert Skepsis Kirchen
Abbildung 10: Mittelwertvergleiche der Kennzeichnungsitems aus der Faktorenanalyse (II) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der 6. Erhebungswelle des World Values Survey (2010-2014)
146
3. Empirische Analyse
Tabelle 25: Regressionsanalysen Individualisierung und Institutionenkritik (USA/Deutschland I) Skepsis politische Institutionen
Wertschätzung Demokratie
Individualisierung
Skepsis Kirchen
Protestantismus Nation (USA) Alter Geschlecht (männlich)
-0,048** 0,201** n.s. 0,041*
0,072** -0,387** 0,215** 0,036*
-0,075** -0,408** -0,132** n.s.
-0,228** -0,327** -0,105** 0,054**
Niedrige Bildung Hohe Bildung Arbeitslosigkeit R2
n.s. n.s. 0,058** 0,047
-0,086** 0,217** -0,066** 0,184
-0,143** 0,149** n.s. 0,163
-0,040* n.s. n.s. 0,168
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 6. Erhebungswelle des World Values Survey (2010-2014)
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 147
immer noch als staatsnahe Großorganisationen wahrgenommen werden, während sie in den USA eher als Teil der Zivilgesellschaft gelten. Als Nächstes sollen auch hier die Ergebnisse der Regressionsanalysen dargestellt werden. Die Erwartung, dass Protestantismus sich in den Untersuchungsländern grundsätzlich in Richtung einer stärkeren Skepsis gegenüber Institutionen auswirkte, kann anhand dieser Analyse nicht bestätigt werden (siehe Tabelle 25). Vielmehr hat Protestantismus auf die Skepsis gegenüber politischen Institutionen einen leichten negativen Effekt (Protestanten scheinen Institutionen somit entgegen der Erwartung etwas mehr zu vertrauen als andere). Was die Wertschätzung von Demokratie anbelangt, kann (entsprechend der Erwartung) ein positiver Effekt des Protestantismus festgestellt werden. Beim dritten Faktor wiederum, der Individualisierung messen könnte, ist ein leichter negativer Effekt des Protestantismus festzustellen. Protestanten scheinen mit Individualisierung verknüpfte Wertvorstellungen somit entgegen der Erwartung weniger zu teilen als andere. Was die Skepsis gegenüber Kirchen angeht, hat Protestantismus einen starken negativen Effekt. Protestanten vertrauen Kirchen demnach deutlich mehr als andere. Den größten Effekt auf den ersten Faktor, Skepsis gegenüber politischen Institutionen, hat die Nation: US-Amerikaner misstrauen ihren Institutionen offenbar deutlich stärker als Deutsche. Auch sind Männer skeptischer als Frauen, Arbeitslose misstrauischer als andere. Das Alter und die Bildung haben auf diesen Faktor keinen signifikanten Effekt. Auch beim zweiten Faktor, Wertschätzung der Demokratie und Ablehnung anderer Regierungsformen, geht der größte Effekt von der Nation aus. US-Amerikaner schätzen die Demokratie nicht so stark wie Deutsche. Ältere schätzen sie mehr als Jüngere, Männer mehr als Frauen, niedrig Gebildete weniger und höher Gebildete mehr als Menschen mit mittlerer Bildung, Arbeitslose weniger als andere. Beim dritten Faktor, Individualisierung, geht ebenfalls der größte Effekt von der Nation aus: US-Amerikaner befürworten mit Individualisierung verbundene Werte somit weniger als Deutsche. Auch scheinen Jüngere das Konzept eher zu befürworten als Ältere. Höher Gebildete befürworten es eher und niedrig Gebildete weniger als Menschen mit mittlerer Bildung. Geschlecht und Arbeitslosigkeit haben keinen signifikanten Effekt. Was die Skepsis gegenüber Kirchen anbelangt, geht auch wieder der größte Effekt von der Nation aus: Amerikaner trauen Kirchen demnach 26 Für
Individualisierung wurde hier das Item mit der zweithöchsten Faktorladung gewählt, da eine grafische Darstellung des Items mit der höchsten Ladung sich aufgrund des Messverfahrens als schwierig erwies.
148
3. Empirische Analyse
deutlich stärker als Deutsche. Ältere trauen ihnen mehr als Jüngere, Männer weniger als Frauen, Menschen mit niedriger Bildung mehr als Menschen mit mittlerer Bildung. Hohe Bildung und Arbeitslosigkeit haben keinen signifikanten Effekt. 3.5.2.1.2 Ergebnisse für die USA Innerhalb der USA hat Protestantismus keinen signifikanten Effekt auf den ersten Faktor, Skepsis gegenüber politischen Institutionen (siehe Tabelle 26). Auf die Wertschätzung von Demokratie hingegen hat Protestantismus einen leichten positiven Effekt. Beim dritten Faktor, Individualisierung, ist der Effekt des Protestantismus negativ, und es handelt sich hierbei sogar um den größten Regressionskoeffizienten im Modell. Das gleiche trifft auf die Berechnung zu Skepsis gegenüber Kirchen zu: Auch hier ist der negative Effekt des Protestantismus der größte im Modell. Dies könnte mit der starken Kirchlichkeit des amerikanischen Protestantismus zusammenhängen, beziehungsweise mit dessen Verständnis von Kirchen als Gemeinden, nicht als hierarchisch organisierten Großkirchen. Der größte Effekt auf den ersten Faktor, die Skepsis gegenüber politischen Institutionen, geht innerhalb der USA vom Geschlecht aus: Männer sind misstrauischer als Frauen, Arbeitslose misstrauischer als andere. Die Effekte der Region, des Alters, der Bildung und der Ethnizität sind nicht signifikant. Insgesamt muss man aber sagen, dass die Erklärungskraft dieses Modells nicht sehr hoch ist. Beim zweiten Faktor, der Wertschätzung der Demokratie, hat das Alter den stärksten Effekt: Ältere schätzen die Demokratie mehr als Jüngere. Auch schätzen Männer sie mehr als Frauen, höher Gebildete stärker und weniger Gebildete weniger als Menschen mit mittlerer Bildung, Arbeitslose weniger als andere. Angehörige der ethischen Gruppen „schwarz“ und „andere“ schätzen sie etwas weniger als Angehörige der Gruppe „weiß“. Der Effekt der Region ist nicht signifikant. Beim dritten Faktor, Individualisierung, zeigt sich, dass Ältere diese Werte weniger teilen als Jüngere, Menschen mit niedriger Bildung weniger und Menschen mit hoher Bildung mehr als Menschen mit mittlerer Bildung. Schwarze teilen sie weniger als Weiße. Die Effekte von Region, Geschlecht, Arbeitslosigkeit und von der Zugehörigkeit zur ethnischen Gruppe „andere“ sind nicht signifikant. Der im Vergleich größte Effekt des Protestantismus könnte hier wieder mit dem bereits dargelegten Spannungsverhältnis zwischen individualistischen Werten und Kirchlichkeit in Verbindung gebracht werden.
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 149
Tabelle 26: Regressionsanalysen Individualisierung und Institutionenkritik (USA I) Skepsis politische Institutionen
Wertschätzung Demokratie
Individualisierung
Skepsis Kirchen
Protestantismus Region (ehemalige Dreizehn Kolonien) Alter Geschlecht (männlich)
n.s. n.s.
0,089** n.s.
-0,138** n.s.
-0,267** n.s.
n.s. 0,084**
0,274** 0,077**
-0,133** n.s.
-0,094** n.s.
Niedrige Bildung Hohe Bildung Arbeitslosigkeit Ethnische Gruppe „schwarz“ Ethnische Gruppe „andere“ R2
n.s. n.s. 0,068** n.s.
-0,048* 0,257** -0,062** -0,089**
-0,075** 0,132** n.s. -0,075**
n.s. 0,080** n.s. -0,043*
n.s. 0,017
-0,053* 0,207
n.s. 0,072
n.s. 0,093
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 6. Erhebungswelle des World Values Survey (2010-2014)
150
3. Empirische Analyse
Was die Skepsis gegenüber Kirchen angeht, misstrauen Jüngere ihnen mehr als Ältere, Menschen mit höherer Bildung mehr als Menschen mit mittlerer Bildung. Schwarze vertrauen Kirchen mehr als Weiße. Eine mögliche Erklärung für den starken negativen Effekt des Protestantismus wurde bereits oben gegeben. Die Effekte von Region, Geschlecht, niedriger Bildung, Arbeitslosigkeit und der Zugehörigkeit zur ethnischen Gruppe „andere“ waren nicht signifikant. 3.5.2.1.3 Ergebnisse für Deutschland Auch innerhalb Deutschlands hat Protestantismus einen leichten negativen Effekt auf die Skepsis gegenüber politischen Institutionen (siehe Tabelle 27). Protestanten vertrauen Institutionen also offenbar mehr als andere. Bei der Wertschätzung der Demokratie ist der Effekt des Protestantismus in Deutschland nicht signifikant, ebenso bei der Individualisierung. Bei Skepsis gegenüber Kirchen zeigt sich ein starker negativer Effekt des Protestantismus: Protestanten vertrauen Kirchen also entgegen der Erwartung mehr als andere. Der größte Effekt auf die Skepsis gegenüber politischen Institutionen geht in diesem Modell vom Alter aus: Ältere vertrauen politischen Institutionen mehr als Jüngere. Der Effekt des Protestantismus ist jedoch fast genauso groß: Protestanten vertrauen Institutionen mehr als andere. Arbeitslose misstrauen ihnen mehr als andere. Die Effekte von Region, Geschlecht und Bildung sind nicht signifikant. Auch hier ist die Erklärungskraft des Modells insgesamt nicht sehr hoch. Den stärksten Effekt auf die Wertschätzung von Demokratie innerhalb Deutschlands übt wiederum das Alter aus: Ältere schätzen die Demokratie mehr als Jüngere. Menschen mit niedriger Bildung schätzen sie weniger, Menschen mit hoher Bildung mehr als Menschen mit mittlerer Bildung. Die Effekte von Region, Geschlecht und Arbeitslosigkeit sind nicht signifikant. Auch hier ist die Erklärungskraft des Modells insgesamt nicht sehr hoch. Auf den dritten Faktor, Individualisierung, geht der größte Effekt von niedriger Bildung aus: Menschen mit niedriger Bildung lehnen die damit verbundenen Werte eher ab als Menschen mit mittlerer Bildung. Menschen mit hoher Bildung teilen diese Werte hingegen eher als Menschen mit mittlerer Bildung. Menschen aus den historisch protestantischen Ländern teilen sie entgegen der Erwartung weniger als Menschen aus historisch katholischen Regionen. Jüngere teilen sie eher als Ältere. Die Effekte von Geschlecht und Arbeitslosigkeit sind nicht signifikant.
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 151
Tabelle 27: Regressionsanalysen Individualisierung und Institutionenkritik (Deutschland I)
Protestantismus Region (Historisch protestantische Länder) Alter Geschlecht (männlich) Niedrige Bildung Hohe Bildung Arbeitslosigkeit R2
Skepsis politische Institutionen
Wertschätzung Demokratie
Individualisierung
Skepsis Kirchen
-0,077** n.s.
n.s. n.s.
n.s. -0,064**
-0,211** 0,084**
-0,086** n.s. n.s. n.s. 0,055* 0,020
0,142** n.s. -0,105** 0,105** n.s. 0,046
-0,142** n.s. -0,188** 0,163** n.s. 0,122
-0,121** 0,096** -0,083** -0,056* 0,060** 0,104
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 6. Erhebungswelle des World Values Survey (2010-2014)
152
3. Empirische Analyse
Bei der Skepsis gegenüber Kirchen ist der (negative) Effekt des Protestantismus tatsächlich der stärkste im Modell. Protestanten vertrauen Kirchen also mehr als andere. Auf diesen Effekt wird später noch genauer eingegangen. Hier sei jedoch schon einmal gesagt, dass sich hierin tatsächlich ein Effekt der Kirchenbindung zeigen könnte. So könnten Protestanten Kirchen deutlich mehr vertrauen als beispielsweise Konfessionslose. Die Region hat auf Skepsis gegenüber Kirchen einen leichten positiven Effekt. Entsprechend der Erwartung sind Menschen aus historisch protestantischen Ländern also skeptischer gegenüber Kirchen eingestellt als andere. Ältere vertrauen Kirchen mehr als Jüngere, Frauen mehr als Männer. Sowohl Menschen mit niedriger als auch Menschen mit hoher Bildung vertrauen Kirchen mehr als Menschen mit mittlerer Bildung. Arbeitslose misstrauen ihnen mehr als andere. Im Hinblick auf die aufgestellten Hypothesen lässt sich sagen: 1. Der vermutete positive Zusammenhang zwischen Protestantismus und Individualisierung konnte anhand der Daten nicht bestätigt werden. Entgegen der Erwartung gibt es hier vielmehr einen negativen Zusammenhang: Protestanten befürworten Werte wie Unabhängigkeit, Selbstentfaltung und Kreativität weniger als andere. Dies zeigte sich sowohl in der Analyse für beide Länder als auch in der Analyse für die USA. In Deutschland war der Effekt des Protestantismus nicht signifikant. Hier konnte jedoch ein (negativer) Effekt der Region auf die genannten Werte festgestellt werden: Menschen aus historisch protestantischen Regionen sind demnach weniger individualistisch als Menschen aus historisch katholischen Regionen. 2. Die Items, die zur Messung von Institutionenkritik herausgesucht werden, teilten sich auf verschiedene Faktoren auf (beziehungsweise wurden, was die Skepsis gegenüber Kirchen anbelangt, hier aus theoretischen Gründen nochmals getrennt), sodass das Ergebnis hier differenziert dargestellt werden kann: Bei der Skepsis gegenüber politischen Institutionen konnte kein positiver Effekt des Protestantismus festgestellt werden. Tatsächlich ließ sich ein leichter negativer Effekt zeigen, und zwar im Modell für beide Länder sowie im Modell für Deutschland. In den USA war der Effekt des Protestantismus nicht signifikant. Protestanten scheinen politischen Institutionen also entgegen der Vermutung stärker zu vertrauen als andere. Die Effekte der Regionen sind in beiden Ländern nicht signifikant.
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 153
Bei den Items, die eine Wertschätzung von Demokratie als Regierungsform zum Ausdruck bringen könnten, lässt sich hingegen entsprechend der Erwartung ein positiver Effekt des Protestantismus zeigen (für beide Länder sowie für die USA, in Deutschland ist der Effekt nicht signifikant). Die Effekte der Region sind in beiden Ländern nicht signifikant. Bei der Skepsis gegenüber Kirchen sind die Effekte des Protestantismus entgegen der Erwartung negativ. Protestanten vertrauen Kirchen also mehr als andere. Dies zeigt sich in allen drei Modellen. In Deutschland konnte jedoch ein positiver Effekt der Region gefunden werden. Menschen aus historisch protestantischen Regionen misstrauen Kirchen demnach entsprechend der Erwartung mehr als andere. 3.5.2.1.4 EXKURS: Mögliche Effekte des Katholizismus Wie oben werden auch hier nochmals separate Berechnungen zum Katholizismus aufgeführt, um zu zeigen, ob auch dieser einen signifikanten Effekt auf die untersuchten Vorstellungen hat oder nicht. Die zu Vergleichszwecken durchgeführten Berechnungen zum Katholizismus (siehe Tabelle 28) zeigen, dass sich dieser möglicherweise noch stärker negativ auf die Skepsis gegenüber politischen Institutionen ausgewirkt haben könnte als der Protestantismus: Der standardisierte Beta-Koeffizient beträgt hier -0,111 (im Gegensatz zu -0,048 beim Protestantismus, beide signifikant auf dem 0,01-Niveau). Das könnte bedeuten, dass Protestanten politischen Institutionen zwar mehr vertrauen als andere, Katholiken ihnen jedoch bei einer ähnlichen Berechnung noch einmal deutlich mehr vertrauen. Dies könnte man so auslegen, dass Protestanten misstrauischer gegenüber politischen Institutionen sind als Katholiken. Die übrigen Ergebnisse zum Einfluss der Nation, Geschlecht, Arbeitslosigkeit und Bildung sind ähnlich wie bei der ersten Berechnung. Die Erklärungskraft dieses Modells ist jedoch etwas höher als bei dem Modell zum Protestantismus: R2 liegt hier bei 0,057 (im Gegensatz zu 0,047). Beim zweiten Aspekt, der Wertschätzung der Demokratie, zeigt die Berechnung beim Katholizismus keinen signifikanten Effekt (beim Protestantismus lag der Effekt bei 0,072, signifikant auf dem 0,01-Niveau). Insgesamt hat das Modell auch eine etwas geringere Erklärungskraft wie das zum Protestantismus: R2 liegt hier bei 0,179 (im Vergleich zu 0,184). Die übrigen
154
3. Empirische Analyse
Tabelle 28: Regressionsanalysen Individualisierung und Institutionenkritik (USA/Deutschland II) Skepsis politische Institutionen
Wertschätzung Demokratie
Individualisierung
Skepsis Kirchen
Katholizismus Nation (USA) Alter Geschlecht (männlich)
-0,111** 0,205** n.s. 0,041**
n.s. -0,387** 0,223** 0,033*
-0,031* -0,407** -0,139** n.s.
-0,189** -0,319** -0,129** 0,060**
Niedrige Bildung Hohe Bildung Arbeitslosigkeit R2
n.s. n.s. 0,057** 0,057
-0,084** 0,221** -0,071** 0,179
-0,142** 0,145** n.s. 0,158
n.s. n.s. n.s. 0,153
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 6. Erhebungswelle des World Values Survey (2010-2014)
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 155
Effekte von Nation, Geschlecht und Bildung sind hier etwa gleich hoch wie im Modell zum Protestantismus. Das Modell zu Individualisierung zeigt hier einen negativen Effekt des Katholizismus, der mit einem Beta-Koeffizienten von -0,031 jedoch niedriger ausfällt als im Modell zum Protestantismus (hier lag er bei -0,075, beide signifikant auf dem 0,01-Niveau). Dies könnte man so deuten, dass auch Katholiken weniger individualistisch sind als andere, der Effekt insgesamt jedoch nicht so stark ist wie beim Protestantismus. Protestanten scheinen also weniger individualistisch zu sein als Katholiken (was im Übrigen auch für die Gruppe der Katholiken gegenüber allen anderen gilt).27 Die Erklärungskraft des Modells ist hier etwas geringer als im Modell zum Protestantismus: R2 liegt hier bei 0,158 (im Gegensatz zu 0,163 beim Protestantismus). Berechnungen zum Katholizismus in den USA Im Gegensatz zu dem Modell zum Protestantismus zeigen die Berechnungen mit Berücksichtigung des Katholizismus (siehe Tabelle 29) im Modell der USA einen starken Effekt des Katholizismus auf die Skepsis gegenüber politischen Institutionen (der standardisierte Beta-Koeffizient liegt hier bei -0,120, signifikant auf dem 0,01 Niveau, während für den Protestantismus kein signifikanter Effekt gefunden wurde). Katholiken vertrauen demnach politischen Institutionen deutlich mehr als andere. Die anderen Effekte sind ähnlich. Interessant ist, dass der Effekt der ethnischen Gruppe „schwarz“ hier signifikant wird (mit -0,056, signifikant auf dem 0,05-Niveau), während im Modell mit Protestantismus kein signifikanter Effekt festzustellen war. Schwarze scheinen also politischen Institutionen etwas stärker zu vertrauen als andere (auch wenn der Effekt nur vergleichsweise schwach ist). R2 ist in diesem Modell mit 0,029 zwar höher als im Modell für den Protestantismus (0,017). Jedoch bedeutet dies immer noch eine sehr geringe Erklärungskraft. Das Modell sollte daher mit Vorsicht interpretiert werden. Ähnlich wie im Modell für beide Länder geht auch im Modell der USA kein signifikanter Effekt von Katholizismus auf die Wertschätzung von Demokratie aus, während dies beim Protestantismus der Fall war (der standardisierte Beta-Koeffizient lag dort bei 0,089, signifikant auf dem 0,01Niveau). Auch hier scheint sich also der erwartete positive Effekt des Pro27 Hierin
könnte sich auch eine Kirchenbindung zeigen, was im folgenden Kapitel unter Bezug auf das Interview mit Detlef Pollack (2018: 261, Zeilen 130-136) noch genauer herausgestellt wird.
156
3. Empirische Analyse
Tabelle 29: Regressionsanalysen Individualisierung und Institutionenkritik (USA II) Skepsis politische Institutionen
Wertschätzung Demokratie
Individualisierung
Skepsis Kirchen
Katholizismus Region (ehemalige Dreizehn Kolonien) Alter Geschlecht (männlich)
-0,120** n.s.
n.s. n.s.
-0,045* 0,051*
-0,133** 0,043*
n.s. 0,082**
0,290** 0,076**
-0,149** n.s.
-0,126** n.s.
Niedrige Bildung Hohe Bildung Arbeitslosigkeit Ethnische Gruppe „schwarz“ Ethnische Gruppe „andere“ R2
n.s. n.s. 0,069** -0,056*
-0,048* 0,264** -0,068** -0,094**
-0,069* 0,120** n.s. -0,079**
n.s. 0,053* n.s. -0,051*
n.s. 0,029
-0,061* 0,200
n.s. 0,056
0,055* 0,043
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 6. Erhebungswelle des World Values Survey (2010-2014)
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 157
testantismus auf Demokratie zu bestätigen. Die anderen Ergebnisse sind ähnlich. R2 liegt mit 0,200 nur geringfügig unter dem Wert des Modells zum Protestantismus (0,207), wobei hier in beiden Fällen eine hohe Erklärungskraft zugrunde liegt. Auch beim dritten Modell zu Individualisierung sind die Effekte ähnlich wie im Modell für beide Länder. Zwar zeigt sich hier ein negativer Effekt des Katholizismus (der standardisierte Beta-Koeffizient liegt bei 0,045, signifikant auf dem 0,05-Niveau), dieser ist jedoch deutlich kleiner als im Modell zum Protestantismus (-0,138, signifikant auf dem 0,01Niveau). Katholiken sind also weniger individualistisch als alle anderen. Im Vergleich mit Protestanten scheinen sie aber immer noch individualistischer zu sein. Anders als im Modell zum Protestantismus zeigt sich in diesem Modell ein leichter Effekt der Region, der mit einem standardisierten Beta-Koeffizienten von 0,051 (signifikant auf dem 0,05-Niveau) jedoch recht gering ausfällt. Menschen aus den ehemaligen Dreizehn Kolonien sind also entsprechend der Erwartung individualistischer als Menschen aus anderen Regionen des Landes. Die anderen Ergebnisse sind ähnlich. Die Erklärungskraft des Modells liegt mit einem R2 von 0,056 etwas niedriger als die des Modells zum Protestantismus mit 0,072. Zur Skepsis gegenüber Kirchen lässt sich ein negativer Effekt des Katholizismus feststellen (Beta-Koeffizient von -0,133), der jedoch deutlich kleiner sein könnte als derjenige aus dem Modell zum Protestantismus (-0,267, beide signifikant auf dem 0,01-Niveau). Katholiken in den USA könnten also Kirchen zwar mehr vertrauen als andere, jedoch nicht so stark wie Protestanten. Für die Region ergibt sich im Modell zum Katholizismus ein leichter positiver Effekt (Beta-Koeffizient von 0,045, signifikant auf dem 0,05-Niveau). Menschen aus den ehemaligen Dreizehn Kolonien sind also heute entsprechend der Erwartung etwas skeptischer gegenüber Kirchen als andere. Die anderen Effekte sind ähnlich, jedoch ist die Erklärungskraft mit einem R2 von 0,043 deutlich geringer als im Modell zum Protestantismus, wo das R2 bei 0,093 lag. Berechnungen zum Katholizismus in Deutschland Ähnlich wie in den beiden bereits aufgeführten Modellen ergibt die Berechnung zum Katholizismus in Deutschland (siehe Tabelle 30), dass Katholizismus einen stärkeren (negativen) Effekt auf die Skepsis gegenüber politischen Institutionen zu haben scheint (der Beta-Koeffizient liegt hier bei -0,119) als der Protestantismus im entsprechenden Modell (-0,077, beide signifikant auf dem 0,01-Niveau). Katholiken scheinen demnach poli-
158
3. Empirische Analyse
tischen Institutionen auch in Deutschland stärker zu vertrauen als Protestanten. Das R2 liegt hier mit 0,027 etwas höher als im Modell zum Protestantismus mit 0,020, allerdings ist die Erklärungskraft der Modelle in beiden Fällen gering. Tabelle 30: Regressionsanalysen Individualisierung und Institutionenkritik (Deutschland II)
Katholizismus Region (Historisch protestantische Länder) Alter Geschlecht (männlich) Niedrige Bildung Hohe Bildung Arbeitslosigkeit R2
Skepsis politische Institutionen
Wertschätzung Demokratie
Individualisierung
Skepsis Kirchen
-0,119** n.s.
0,068** n.s.
-0,056* -0,076**
-0,278** n.s.
-0,090** n.s. n.s. n.s. 0,054* 0,027
0,142** n.s. -0,110** 0,100** n.s. 0,051
-0,142** n.s. -0,184** 0,167** n.s. 0,125
-0,135** 0,103** -0,074** n.s. 0,054* 0,133
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 6. Erhebungswelle des World Values Survey (2010-2014)
Die Berechnung zeigt außerdem, dass in Deutschland der Katholizismus bei der Wertschätzung der Demokratie einen signifikanten Effekt zeigt (Beta-Koeffizient von 0,068, signifikant auf dem 0,01-Niveau) – im Gegensatz zum Protestantismus, der hier keinen Effekt hat. Dies ist interessant, weil es die Hypothese eines positiven Zusammenhangs von Protestantismus und Demokratie in Deutschland zumindest schwach widerlegt. Die anderen Ergebnisse sind ähnlich. R2 ist mit 0,051 etwas höher als dasjenige des Modells zum Protestantismus mit 0,046. Die weiteren Berechnungen zeigen auch, dass innerhalb Deutschlands ein leichter negativer Effekt des Katholizismus auf Individualisierung mit einem standardisierten Beta-Koeffizienten von -0,056 (signifikant auf dem 0,05-Niveau) zu finden ist, während der Protestantismus hier keinen signifikanten Effekt hatte. Katholiken sind demnach in Deutschland weniger
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 159
individualistisch eingestellt als andere. Außerdem lässt sich auch hier ein negativer Effekt der Region feststellen (der standardisierte Beta-Koeffizient liegt hier bei -0,076, signifikant auf dem 0,01-Niveau). Im Modell zum Protestantismus betrug der Effekt -0,064 (ebenfalls signifikant auf dem 0,01Niveau). Menschen aus historisch protestantischen Bundesländern scheinen also entgegen der Erwartung weniger individualistisch zu sein als Menschen aus historisch katholischen Ländern. Die anderen Effekte sind ähnlich. Die Erklärungskraft des Modells ist mit einem R2 von 0,125 nur etwas höher als im Modell zum Protestantismus (wo ein R2 von 0,122 vorliegt). Was die Skepsis gegenüber Kirchen angeht, so lässt sich in den weiteren Berechnungen ein starker negativer Effekt des Katholizismus feststellen (der standardisierte Beta-Koeffizient beträgt -0,278). Im Modell zum Protestantismus liegt der Effekt desselben bei -0,211 (beide signifikant auf dem 0,01-Niveau). Demnach vertrauen sowohl Protestanten als auch Katholiken Kirchen mehr als andere, wobei Katholiken ihnen noch einmal mehr vertrauen könnten als Protestanten. Im Modell zum Katholizismus wird der Effekt der Region nicht signifikant (im Modell zum Protestantismus lag er bei einem Beta-Koeffizienten von 0,084, signifikant auf dem 0,01-Niveau). Ähnliches gilt für hohe Bildung, die in diesem Modell keinen signifikanten Effekt hat (im Modell zum Protestantismus beträgt der Effekt hier -0,054, signifikant auf dem 0,01-Niveau). Die anderen Effekte sind ähnlich. R2 liegt mit 0,133 über dem R2 im Modell zum Protestantismus, wo dieses 0,104 beträgt. Hinsichtlich der aufgestellten Hypothesen kann man mit Blick auf den Katholizismus festhalten: 1. Die zum Vergleich gerechneten Analysen zum Katholizismus ergeben in allen drei Modellen, dass auch Katholizismus einen signifikanten negativen Effekt auf Individualisierung hat. Für den Protestantismus zeigte sich in dieser Hinsicht ebenfalls ein negativer Effekt, jedoch nur im Modell für beide Länder und für die USA. Für Deutschland war der Effekt des Protestantismus auf Individualisierung nicht signifikant. Allerdings könnten die Effekte des Katholizismus in beiden Ländern sowie in den USA – soweit dies vergleichbar ist – geringer ausfallen als die entsprechenden Effekte im Modell zum Protestantismus. Das könnte bedeuten, dass Katholiken zwar weniger individualistisch sind als andere. Jedoch kann man vermuten, dass sie individualistischer sind als Protestanten. Dies ist vor dem Hintergrund interessant, als es die ursprüngliche Annahme eines positiven
160
3. Empirische Analyse
Zusammenhangs zwischen Protestantismus und Individualisierung zusätzlich untergräbt. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass der direkte Vergleich von Beta-Koeffizienten aus verschiedenen Modellen nicht ohne weiteres und nur mit großer Vorsicht möglich ist. 2. Wie bereits dargestellt, teilten sich die Items, die zur Messung von Institutionenkritik herausgesucht wurden, auf verschiedene Faktoren auf, sodass das Ergebnis hier differenziert dargestellt werden muss. Die Berechnungen zum Katholizismus ergaben, dass dieser sogar einen stärkeren (negativen) Effekt auf die Skepsis gegenüber politischen Institutionen hat als der Protestantismus. Dies zeigt sich in allen drei Modellen. (Für den Protestantismus waren die Effekte im Modell für beide Länder sowie für Deutschland schwächer, während im Modell für die USA kein signifikanter Effekt des Protestantismus auf die Skepsis gegenüber politischen Institutionen gefunden wurde.) Katholiken könnten politischen Institutionen also mehr vertrauen als Protestanten, was wiederum unter Umständen als eine schwache Bestätigung der ursprünglichen Erwartung eines Zusammenhangs zwischen Protestantismus und Skepsis gegenüber Institutionen gelesen werden könnte. Die weiteren Analysen zeigen zudem im Modell für beide Länder sowie im Modell für die USA keinen signifikanten Effekt des Katholizismus auf die Wertschätzung von Demokratie, während im Modell zum Protestantismus positive Effekte desselben auf demokratische Werte feststellbar waren. Dies könnte nochmals die Erwartung eines positiven Zusammenhangs zwischen Protestantismus und Demokratie bestätigen. Interessant ist hier jedoch ein anderer Zusammenhang in Deutschland: So zeigte die Berechnung dort, dass der Katholizismus auf die Wertschätzung der Demokratie einen signifikanten positiven Effekt zeigt – im Gegensatz zum Protestantismus, der hier keinen Effekt hat. Dies könnte als eine schwache Widerlegung der Hypothese eines positiven Zusammenhangs von Protestantismus und Demokratie zumindest in Deutschland gelesen werden. Was die Skepsis gegenüber Kirchen angeht, so lässt sich in allen drei Modellen ein negativer Effekt des Katholizismus feststellen. Katholiken vertrauen Kirchen demnach mehr als andere. Inwieweit sie Kirchen möglicherweise noch stärker vertrauen könnten als Protestanten, scheint jedoch vom Untersuchungsland abzuhängen: In den USA sowie im Modell für beide Länder ist der negative Effekt des Katholizismus hier geringer als der des Protestantismus. Demnach könnten Katholiken Kirchen zwar mehr
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 161
vertrauen als andere, jedoch nicht so stark wie Protestanten (was der ursprünglichen Erwartung widerspricht). In Deutschland ist es jedoch umgekehrt: Hier ist der negative Effekt des Katholizismus stärker als derjenige im Modell zum Protestantismus. Entsprechend könnten Katholiken in Deutschland Kirchen mehr vertrauen als Protestanten (was der ursprünglichen Erwartung entspricht). 3.5.2.1.5 EXKURS: Mögliche Effekte des Sozialismus in Ostdeutschland Wie oben bei den Einstellungen zu Arbeitsethik und Kapitalismus könnte auch bei den Haltungen gegenüber Individualisierung und Institutionenkritik von Interesse sein, welche Effekte der Sozialismus gehabt haben könnte. Daher wurden, ähnlich wie oben, auch hier noch einmal separate Regressionsanalysen durchgeführt, um die Effekte der ehemaligen DDR herauszustellen (siehe Tabelle 31). Auch hier muss man sagen, dass sich die Effekte aus verschiedenen Modellen zwar nicht direkt vergleichen lassen, aber Vermutungen durchaus möglich sind. Tabelle 31: Weitere Regressionsanalysen zu Individualisierung und Institutionenkritik
Protestantismus Region (ehemalige DDR) Alter Geschlecht (männlich) Niedrige Bildung Hohe Bildung Arbeitslosigkeit R2
Skepsis politische Institutionen
Wertschätzung Demokratie
Individualisierung
Skepsis Kirchen
-0,068** 0,063* -0,087** n.s. n.s. n.s. 0,051* 0,022
n.s. -0,149** 0,156** n.s. -0,125** 0,093** n.s. 0,067
n.s. -0,102** -0,139** n.s. -0,192** 0,158** n.s. 0,128
-0,191** 0,151** -0,128** 0,091** -0,075** -0,047* 0,048* 0,119
Lineare Regression, Beta-Koeffizienten * signifikant auf dem 0,05-Niveau ** signifikant auf dem 0,01-Niveau n.s. nicht signifikant Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 6. Erhebungswelle des World Values Survey (2010-2014)
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3. Empirische Analyse
Zunächst ist hier zu sagen, dass ein Wohnsitz in der ehemaligen DDR einen positiven Effekt auf die Skepsis gegenüber politischen Institutionen hat. Der Beta-Koeffizient liegt hier bei 0,063 (signifikant auf dem 0,05Niveau). Menschen aus der ehemaligen DDR scheinen also politischen Institutionen gegenüber skeptischer zu sein als Menschen aus dem ehemaligen Westdeutschland. In den entsprechenden Berechnungen zu den historisch protestantischen Ländern ließ sich hier hingegen kein signifikanter Effekt der Region feststellen. R2 liegt hier mit 0,022 etwas über dem R2 im Modell zur historisch protestantisch geprägten Region (0,020), wobei bei beiden Modellen betont werden muss, dass die Erklärungskraft hier eher gering ist. Beim nächsten Aspekt, der Wertschätzung der Demokratie, ergibt sich ein relativ starker negativer Effekt der ehemaligen DDR (Betakoeffizient von -0,149, signifikant auf dem 0,01-Niveau), während es für die historisch protestantisch geprägte Region keinen Effekt gab. Menschen aus dem Osten Deutschlands scheinen also demnach die Demokratie bis heute deutlich weniger zu schätzen als Westdeutsche. R2 liegt hier mit 0,067 merklich über dem Modell für die historisch protestantische Region (0,046). Beim dritten Aspekt, Individualisierung, gab es für die ehemalige DDR einen negativen Effekt mit einem standardisierten Beta-Koeffizienten von -0,102. Bei der entsprechenden Berechnung zur historisch protestantisch geprägten Region lag der Effekt bei -0,064 (beide signifikant auf dem 0,01Niveau). Sowohl ein Wohnsitz im ehemaligen Osten oder auch im protestantisch geprägten Raum scheinen sich also negativ auf Haltungen gegenüber Individualisierung auszuwirken, wobei der Effekt des Ostens hier stärker sein könnte. R2 ist hier mit 0,128 etwa gleich hoch wie dasjenige im Modell zur historisch protestantischen Region (0,122). Zu der Skepsis gegenüber Kirchen lässt sich sagen, dass ein Wohnsitz im Osten Deutschlands mit einem Beta-Koeffizienten von 0,151 einen deutlich stärkeren Effekt zu haben scheint als ein Wohnsitz in der historisch protestantisch geprägten Region (mit einem Beta-Koeffizienten von 0,084, beide signifikant auf dem 0,01-Niveau). Menschen aus dem ehemaligen Osten sind also äußerst skeptisch gegenüber Kirchen eingestellt. Das R2 liegt hier mit 0,119 etwas über demjenigen aus dem Modell zur historisch protestantisch geprägten Region (0,104). Zusammenfassend kann man sagen, dass Menschen aus dem Osten Deutschlands politischen Institutionen ebenso wie Kirchen gegenüber skeptischer eingestellt sind als Menschen aus dem Westen. Zudem schätzen sie die Demokratie weniger und sind weniger individualistisch. In al-
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 163
len vier Fällen sind die Effekte entweder stärker als diejenigen aus den Modellen zur historisch protestantisch geprägten Region, oder aber es zeigen sich nur hier signifikante Effekte, während es im Modell zur historisch protestantisch geprägten Region keine Effekte gab. Dies gibt Anlass zu der Vermutung, dass die Prägung durch den Sozialismus stärkere Effekte auf die politische Kultur im Osten Deutschlands hatte, als es bei der historisch protestantisch geprägten Region der Fall ist. 3.5.2.2 Individualisierte Beziehung zu Gott Für die Analyse des zweiten Aspektes, der individualisierten Beziehung zu Gott, kommen lediglich einzelne Fragen in den genannten Studien in Betracht, sodass auf eine Faktorenanalyse hier verzichtet wird. Es erfolgen jedoch analytische Vergleiche der Häufigkeiten sowie Mittelwertvergleiche. Unter Verwendung von Fragen aus dem International Social Survey Programme werden folgende Hypothesen getestet: 1. Unter Protestanten (beziehungsweise Menschen aus historisch protestantischen Regionen) in den USA und Deutschland ist die Vorstellung einer individualisierten Beziehung zu Gott stärker verbreitet als bei anderen. 2. Die Vorstellung, dass die Bibel das Wort Gottes und als solches wörtlich zu verstehen ist, ist unter Protestanten (beziehungsweise Menschen aus historisch protestantischen Regionen) in beiden Ländern bis heute stärker verbreitet als bei anderen. 3.5.2.2.1 Eigener Weg, mit Gott in Verbindung zu treten, in den USA und in Deutschland Die erste hier analysierte Frage, mit der die erste Hypothese getestet werden soll, ist dem International Social Survey Programme 2012 zu Religion entnommen. Ähnlich wie in der fünften Erhebungswelle des World Values Survey (2005-2008) wurden hier in den USA lediglich Regionen, nicht einzelne Staaten, erhoben. Das Gebiet, mit dem die ehemaligen Kolonien abgebildet werden, enthält somit (wie oben erläutert) auch Florida, obwohl dies nicht ursprünglich zu den Kolonien gehörte. In der Studie wurde die Zustimmung zu der Aussage „Ich habe meinen eigenen Weg, mit Gott in Verbindung zu treten, ohne Kirchen oder Gottesdienste“28 mit einer Likertskala mit fünf Ausprägungen gemessen. Beim 28 Variable
Nummer 47 im International Social Survey Programme (2012)
164
3. Empirische Analyse
Vergleich der Häufigkeiten zeigt sich zunächst, dass die Vorstellung einer individualisierten Beziehung zu Gott in den USA deutlich stärker verbreitet ist als in Deutschland: So stimmen unter den Amerikanern 66,4 Prozent der Aussage zu (das heißt, sie antworten mit „stimme stark zu“ oder „stimme zu“), unter den Deutschen lediglich 43,4 Prozent. Innerhalb der USA stimmen Protestanten (62,3 Prozent) dieser Vorstellung entgegen der Erwartung weniger zu als Katholiken (75,0 Prozent) und sogar als andere (72,2 Prozent) und selbst – wenn auch nur mit geringem Unterschied – als Konfessionslose (62,5 Prozent). Zwischen den Regionen gibt es kaum Unterschiede: So stimmen 65,8 Prozent der Menschen aus dem Gebiet der ehemaligen Kolonien der Aussage zu, während es in anderen Teilen des Landes 66,7 Prozent sind. In Deutschland wird die Vorstellung, ohne die Vermittlung von Kirchen oder Gottesdiensten mit Gott in Verbindung zu treten, von Protestanten (56,8 Prozent) entsprechend der Erwartung stärker geteilt als von Katholiken (54,1 Prozent), anderen (50,7 Prozent) und Konfessionslosen (21,4 Prozent). Beim Vergleich der Regionen zeigt sich hingegen, dass die Vorstellung in den historisch protestantischen Ländern (40,7 Prozent) weniger verbreitet ist als in den historisch katholischen (52,1 Prozent). Zugleich ist sie im ehemaligen Ostdeutschland (20,0 Prozent) weniger verbreitet als im ehemaligen Westdeutschland (54,2 Prozent). Während bisher die prozentualen Anteile derjenigen, die der Aussage zustimmen, verglichen wurden, sollen nun noch einmal anhand einer grafischen Darstellung der Mittelwerte (Abbildung 11) die Unterschiede zwischen Protestanten und anderen in beiden Ländern herausgestellt werden. Auch hier wird deutlich, dass Protestanten in Deutschland die Vorstellung einer individualisierten Beziehung zu Gott stärker teilen als andere, während es in den USA umgekehrt ist. 3.5.2.2.2 Bibelverständnis in den USA und in Deutschland Die Frage, mit der das Bibelverständnis operationalisiert werden soll, wurde im International Social Survey Programme (2012) in den Untersuchungsländern nicht gestellt. Daher wird hier auf die entsprechende Frage aus der vorangehenden Studie zum Thema Religion von 2000 zurückgegriffen (V43). Auch in diesem Datensatz wurden in den USA lediglich die Regionen erfasst, sodass aus den oben genannten Gründen bei den ehemaligen Dreizehn Kolonien auch Florida enthalten ist. Bei dieser Frage konnten die Befragten aus mehreren als Aussage formulierten Antwortmöglichkeiten diejenige aussuchen, die ihr Verständnis
Mittelwert Eigener Weg, mit Gott in Verbindung zu treten
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 165
Protestantismus 4
andere Protestanten
3
2
1
0 Deutschland
USA
Nation
Abbildung 11: Mittelwerte Individualisierte Beziehung zu Gott (USA/Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des International Social Survey Programmes (2012)
166
3. Empirische Analyse
der Bibel am besten wiedergibt. Hier werden die Anteile derjenigen herausgestellt, die antworteten, die Bibel sei das „tatsächliche Wort Gottes, das wörtlich zu nehmen ist“29 . Zunächst lässt sich sagen, dass diese Vorstellung in den USA bis heute deutlich verbreiteter ist als in Deutschland: So stimmten 30,1 Prozent der Amerikaner dieser Aussage zu. Unter den Deutschen waren es lediglich 7,8 Prozent. Das Balkendiagramm in Abbildung 12 zeigt das unterschiedliche Antwortverhalten von Amerikanern und Deutschen in dieser Frage. Nation USA 50
Deutschland USA
Prozent
40
30
20
10
0 tatsächliches Wort Gottes
von Gott inspiriert
altes Buch betrifft mich mit nicht Geschichten
Bibelverständnis der Befragten
Abbildung 12: Bibelverständnis (USA/Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2000)
29 Andere
Antwortmöglichkeiten waren „Die Bibel ist von Gott inspiriert, aber nicht alles ist wörtlich zu nehmen“, „Die Bibel ist ein altes Buch mit Geschichten“ und „Betrifft mich nicht“.
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 167
Innerhalb der USA teilen Protestanten diese Vorstellung noch einmal deutlich stärker (42,0 Prozent) als Katholiken (19,9 Prozent), andere (22,4 Prozent) und Konfessionslose (11,2 Prozent). Zwischen den Regionen (ehemalige Dreizehn Kolonien und andere) lassen sich hingegen kaum Unterschiede feststellen: In den ehemaligen Kolonien halten 30,2 Prozent der Menschen die Bibel für das tatsächliche Wort Gottes, in anderen Regionen sind es 30,0 Prozent. In Abbildung 13 wird noch einmal grafisch dargestellt, wie sich das Antwortverhalten von Protestanten, Katholiken, Konfessionslosen und anderen in den USA voneinander unterscheidet. Dabei zeigt sich, dass Protestanten in den USA am häufigsten die erste Antwortmöglichkeit („Die Bibel ist das tatsächliche Wort Gottes“) wählen, während die zweite Option („Die Bibel ist von Gott inspiriert“) häufiger von Katholiken gewählt wird. Für andere und für Konfessionslose ist die Bibel am ehesten ein „altes Buch mit Geschichten“. Innerhalb Deutschlands teilen Protestanten (11,8 Prozent) die Vorstellung, die Bibel sei das tatsächliche Wort Gottes, entgegen der Erwartung nicht so stark wie Katholiken (12,1 Prozent) und andere (22,0 Prozent), jedoch deutlich stärker als Konfessionslose (1,0 Prozent). Gleichzeitig sehen in den historisch katholischen Ländern interessanterweise mehr Menschen die Bibel als das tatsächliche Wort Gottes an (10,6 Prozent) als in den historisch protestantischen Ländern (7,2 Prozent). In den Ländern der ehemaligen DDR sehen weniger Menschen (6,2 Prozent) die Bibel als das tatsächliche Wort Gottes an als in den Ländern im Westen Deutschlands (9,3 Prozent). Auch hier wird das unterschiedliche Antwortverhalten von Protestanten, Katholiken, anderen und Konfessionslosen noch einmal grafisch dargestellt (Abbildung 14). Darin wird auch deutlich, dass in Deutschland wesentlich mehr Protestanten, aber auch Katholiken, die zweite Antwortmöglichkeit wählen, die besagt, dass die Bibel von Gott inspiriert sei, jedoch nicht alles wörtlich genommen werden sollte. Im Vergleich mit der vorherigen Abbildung wird außerdem deutlich, dass wesentlich mehr Menschen in Deutschland die Bibel als ein altes Buch mit Geschichten ansehen oder „betrifft mich nicht“ antworten als in den USA. Hinsichtlich der zu prüfenden Hypothesen lässt sich festhalten: Grundsätzlich wird die Vorstellung einer individualisierten Beziehung zu Gott in den USA stärker befürwortet als in Deutschland. Dass sie unter Protestanten eher verbreitet ist als unter anderen, trifft lediglich für Deutschland zu. In den USA ist es umgekehrt.
168
3. Empirische Analyse
Konfession Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
60
40
20
0 tatsächliches Wort Gottes
von Gott inspiriert
altes Buch betrifft mich mit nicht Geschichten
Bibelverständnis der Befragten
Abbildung 13: Bibelverständnis (USA) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des International Social Survey Programmes (2000)
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 169
Konfession 50
Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
40
30
20
10
0 tatsächliches Wort Gottes
von Gott inspiriert
altes Buch betrifft mich mit nicht Geschichten
Bibelverständnis der Befragten
Abbildung 14: Bibelverständnis (Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des International Social Survey Programmes (2000)
170
3. Empirische Analyse
Für die unterschiedlichen Regionen lassen sich die erwarteten Effekte nicht feststellen: In den USA gibt es kaum Unterschiede; in Deutschland geben in den historisch katholischen Regionen mehr Menschen an, ihren eigenen Weg zu haben, mit Gott in Verbindung zu treten, als in den historisch protestantischen Regionen. Im ehemaligen Ostdeutschland ist die Vorstellung deutlich weniger verbreitet als im ehemaligen Westen Deutschlands. Die Idee, dass die Bibel das tatsächliche Wort Gottes ist, wird in den USA ebenfalls wesentlich häufiger vertreten als in Deutschland. In den USA wird sie entsprechend der Erwartung von Protestanten häufiger geteilt als von Katholiken und von anderen. In Deutschland ist es (entgegen der Erwartung) umgekehrt: Hier halten (wenn auch nur geringfügig) mehr Katholiken die Bibel für das tatsächliche Wort Gottes als Protestanten, beide jedoch deutlich weniger stark als andere und gleichzeitig deutlich stärker als Konfessionslose. Auch hier lassen sich die erwarteten Effekte hinsichtlich der Regionen nicht feststellen: In den USA gibt es kaum Unterschiede, in Deutschland sind es entgegen der Erwartung die Menschen aus den historisch katholischen Ländern, die der Vorstellung eher zustimmen als andere. Im ehemaligen Ostdeutschland teilen die Menschen die Vorstellung wesentlich seltener als im Westen. Zusammenfassung In diesem Unterkapitel werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen dargelegt. Anhand von internationalen Umfragedaten (World Values Survey, International Social Survey Programme) werden analytische Vergleiche von Häufigkeiten, Mittelwertvergleiche, Faktoren- und Regressionsanalysen durchgeführt. Bei letzteren, durch die der Einfluss des Protestantismus auf Einstellungen zu Beruf und Arbeit, Hedo-Materialismus, Kapitalismus, Individualisierung, politischen und kirchlichen Institutionen und zur Demokratie herausgestellt wird, werden jeweils drei Analysen gerechnet: Eine mit den Daten beider Länder sowie jeweils eine separate Analyse für die USA und für Deutschland. In den Berechnungen für die einzelnen Länder werden jeweils auch Regionen verglichen: in den USA die ehemaligen Dreizehn Kolonien mit dem Rest des Landes, in Deutschland historisch protestantisch geprägte Regionen mit historisch katholisch geprägten Regionen. In Exkursen werden jeweils auch mögliche Effekte des Katholizismus sowie Ostdeutschlands herausgestellt. Die wichtigsten Ergebnisse sind:
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 171
Neues Berufsbild und Bedeutungsgewinn der Arbeit • Ein Effekt des Protestantismus auf die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung lässt sich in der Analyse der USA zeigen. In Deutschland lässt sich ein positiver Effekt der historisch protestantischen Region auf Luthers Berufsbild nachweisen. • Entgegen der ursprünglichen protestantischen Ethik gibt es heute einen Zusammenhang zwischen dem Streben nach Erfolg und Wohlstand sowie Hedonismus. Der Effekt des Protestantismus auf HedoMaterialismus ist leicht negativ (im Modell für beide Länder sowie für Deutschland). • Ein positiver Effekt des Protestantismus auf kapitalistische Einstellungen hinsichtlich der Wirtschaftspolitik lässt sich bis heute nachweisen, und zwar sowohl im Modell für beide Länder als auch im Modell für die USA. In Deutschland gibt es einen positiven Effekt der historisch protestantischen Region auf kapitalistische Einstellungen. • Hinsichtlich der Wertschätzung individueller Verantwortung lässt sich ein positiver Effekt des Protestantismus feststellen, und zwar sowohl im Modell für beide Länder als auch im Modell für die USA. In Deutschland gibt es einen negativen Effekt der Region. • Die Berechnungen zum Katholizismus zeigen in allen drei Modellen, dass der Katholizismus keinen signifikanten Effekt auf die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung hat. • In den USA konnte ein positiver Effekt des Katholizismus auf HedoMaterialismus gezeigt werden. • Im Modell für beide Länder sowie im Modell für die USA hat Katholizismus keinen signifikanten Effekt auf kapitalistische Einstellungen in der Wirtschaftspolitik. In Deutschland zeigt sich ein positiver Effekt des Katholizismus. • Im Modell für beide Länder hat Katholizismus auf kapitalistische Einstellungen in der Sozialpolitik einen positiven Effekt. • Ein Wohnsitz im Gebiet der ehemaligen DDR hat einen positiven Effekt auf die Vorstellung von „Arbeit als Verpflichtung“. • Ein Wohnsitz im Gebiet der ehemaligen DDR hat einen schwachen positiven Effekt auf Hedo-Materialismus. • Ein Wohnsitz im Osten Deutschlands hat außerdem einen starken negativen Effekt auf kapitalistische Einstellungen in der Sozialpolitik.
172
3. Empirische Analyse
Individualisierung und Institutionenkritik • Der vermutete positive Zusammenhang zwischen Protestantismus und Individualisierung konnte anhand der Daten nicht bestätigt werden. Entgegen der Erwartung gibt es hier einen negativen Zusammenhang: Protestanten befürworten Werte wie Unabhängigkeit, Selbstentfaltung und Kreativität weniger als andere. Dies zeigt sich sowohl in der Analyse für beide Länder als auch in der Analyse für die USA. Für Deutschland konnte ein negativer Effekt der Region festgestellt werden. • Bei der Skepsis gegenüber politischen Institutionen konnte ein leichter negativer Effekt des Protestantismus festgestellt werden, und zwar im Modell für beide Länder sowie im Modell für Deutschland. • Bei den Items, die eine Wertschätzung von Demokratie als Regierungsform zum Ausdruck bringen könnten, lässt sich entsprechend der Erwartung ein positiver Effekt des Protestantismus zeigen (für beide Länder sowie für die USA). • Bei der Skepsis gegenüber Kirchen sind die Effekte des Protestantismus entgegen der Erwartung negativ. Dies zeigt sich in allen drei Modellen. In Deutschland konnte ein positiver Effekt der Region gefunden werden. • Die zum Vergleich gerechneten Analysen zum Katholizismus ergeben in allen drei Modellen, dass Katholizismus einen negativen Effekt auf Individualisierung hat. • Katholizismus hat einen starken negativen Effekt auf die Skepsis gegenüber politischen Institutionen. Dies zeigt sich in allen drei Modellen. • Die Analysen zeigen im Modell für beide Länder sowie im Modell für die USA keinen signifikanten Effekt des Katholizismus auf die Wertschätzung von Demokratie, während im Modell zum Protestantismus positive Effekte desselben auf demokratische Werte feststellbar waren. Interessant ist hier jedoch ein anderer Zusammenhang in Deutschland: So zeigte die Berechnung dort, dass der Katholizismus auf die Wertschätzung der Demokratie einen positiven Effekt zeigt – im Gegensatz zum Protestantismus, der hier keinen Effekt hat. • Was die Skepsis gegenüber Kirchen angeht, so lässt sich in allen drei Modellen ein negativer Effekt des Katholizismus feststellen.
3.5. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen in den USA und in Deutschland 173
• Ein Wohnsitz in der ehemaligen DDR hat einen positiven Effekt auf die Skepsis gegenüber politischen Institutionen. • Ein Wohnsitz im Osten Deutschlands hat einen relativ starken negativen Effekt auf die Wertschätzung der Demokratie. • Ein Wohnsitz in der ehemaligen DDR hat außerdem einen negativen Effekt auf Individualisierung. • Ein Wohnsitz in Ostdeutschland hat einen starken positiven Effekt auf die Skepsis gegenüber Kirchen. Individualisierte Beziehung zu Gott • Grundsätzlich wird die Vorstellung einer individualisierten Beziehung zu Gott in den USA stärker befürwortet als in Deutschland. Dass sie unter Protestanten eher verbreitet ist als unter anderen, trifft lediglich für Deutschland zu. In den USA ist es umgekehrt. • Für die unterschiedlichen Regionen lassen sich die erwarteten Effekte nicht feststellen: In den USA gibt es kaum Unterschiede; in Deutschland geben in den historisch katholischen Regionen mehr Menschen an, ihren eigenen Weg zu haben, mit Gott in Verbindung zu treten, als in den historisch protestantischen Regionen. Im ehemaligen Ostdeutschland ist die Vorstellung weniger verbreitet als im ehemaligen Westdeutschland. • Die Idee, dass die Bibel das tatsächliche Wort Gottes ist, wird in den USA wesentlich häufiger vertreten als in Deutschland. In den USA wird sie entsprechend der Erwartung von Protestanten häufiger geteilt als von Katholiken, Konfessionslosen und anderen. In Deutschland ist es andersherum: Hier halten mehr Katholiken die Bibel für das tatsächliche Wort Gottes als Protestanten, beide jedoch deutlich weniger stark als andere und gleichzeitig deutlich stärker als Konfessionslose. • Auch hier lassen sich die erwarteten Effekte hinsichtlich der Regionen nicht feststellen: In den USA gibt es kaum Unterschiede; in Deutschland sind es entgegen der Erwartung die Menschen aus den historisch katholischen Ländern, die der Vorstellung eher zustimmen als andere. Im ehemaligen Ostdeutschland teilen die Menschen die Vorstellung wesentlich seltener als im Westen.
174
3.6
3. Empirische Analyse
Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
Wie unterscheiden sich Protestanten in ihren Einstellungen zur Religion heute von anderen? Diese Frage lässt sich zwar nicht direkt von den beiden Ausgangspunkten der Analyse (neues Berufsbild und Individualisierung) her ableiten, allerdings ist das unterschiedliche Antwortverhalten von Protestanten und anderen für diese Arbeit durchaus von Interesse. Der Vergleich hinsichtlich der Einstellungen zur Religion kann abschließend auch helfen, die bereits aufgeführten Ergebnisse vor dem Hintergrund der drei in Kapitel 2.1.1 genannten theoretischen Modelle zur Erklärung religiöser Veränderungen in der Moderne (Säkularisierungstheorie, Individualisierungsthese und Marktmodell) zu interpretieren. Die Unterschiede in den Einstellungen sollen anhand der Daten des International Social Survey Programme (2012) zu Religion herausgestellt werden. In seinen bereits in den Kapiteln 2.3.1 und 3.5.1 dargestellten Untersuchungen zum Wertewandel stellte Inglehart (1997: 280-285) fest, dass die Fragen zu Religion, die in den World Values Surveys gestellt wurden, starke Korrelationen zu materialistischen beziehungsweise postmaterialistischen Werten aufwiesen. Dies betrifft zum Beispiel die Frage nach der Häufigkeit von Gottesdienstbesuchen oder die Bedeutung von Gott im eigenen Leben, und trifft auch beispielsweise auf Fragen zum Glauben an Gott, die Hölle, den Himmel sowie die Sünde zu und auch auf die Frage, ob Menschen in der Religion Trost und Stärke finden. Die Fragen, ob die Kirche angemessene Antworten auf moralische sowie familiäre Probleme sowie auf die spirituellen Bedürfnisse der Menschen gebe, sind ebenfalls vom Wertewandel betroffen (vgl. Inglehart 1997: 284). Mit der Verschiebung hin zu postmaterialistischen Werten ist somit auch ein Rückgang traditioneller religiöser Werte verbunden, der Ingleharts Theorie zufolge ebenfalls auf das erhöhte Sicherheitsgefühl zurückzuführen ist. Das Bedürfnis nach einer Bestätigung, wie es ein traditionelles religiöses Überzeugungssystem bieten kann, nimmt demnach ab. Damit ist für Inglehart auch die Erwartung einer Säkularisierung in den entwickelten Industrienationen verbunden. Die Anzahl der Menschen mit traditionellen religiösen Überzeugungen nimmt dort demnach ab. Im Fundamentalismus sieht Inglehart ein Rückzugsgefecht, dem tendenziell immer weniger Menschen anhängen. Das spirituelle Bedürfnis an sich hat hingegen nicht abgenommen, und vielmehr fragen Postmaterialisten eher als Materialisten nach dem Sinn des Lebens (vgl. Inglehart 1997: 286). Dieses Ergebnis – dass zwar weniger Menschen traditionellen religiösen Überzeugungen und auch den etablierten religiösen Institutionen anhängen, während das Bedürfnis nach
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
175
Spiritualität an sich zunimmt – könnte im Sinne der Individualisierungstheorie gedeutet werden. Entsprechend bezeichnen Inglehart und Welzel (2010) die Säkularisierungstheorie als „nur halb wahr“, da spirituelle Bedürfnisse ihnen zufolge auch in postindustriellen Gesellschaften nicht verschwinden: The secularization thesis is only half true. In the industrialization phase, the role of religion does become less important, and even in postindustrial societies the ability of established spiritual concerns, broadly defined, are not disappearing – they are becoming more widespread. Thus, while support for the old hierarchical churches is eroding in postindustrial societies, spiritual life is being transformed into forms that are increasingly compatible with individual self-expression. (Inglehart/Welzel 2010: 22) Zunächst soll eine Frage nach dem Gottesverständnis analysiert werden. Glauben die Befragten an Gott, und wenn ja, welche Vorstellung haben sie von ihm? Glauben sie eher an einen persönlichen Gott oder an eine Art höhere Macht? Als Erstes sollen dafür die Unterschiede im Antwortverhalten zwischen Amerikanern und Deutschen herausgestellt werden. Hier zeigt sich deutlich, dass US-Amerikaner bis heute wesentlich stärker an Gott glauben als Deutsche (siehe Abbildung 15). Der mit Abstand größte Anteil der Befragten in den USA gibt an, gar keine Zweifel an der Existenz Gottes zu haben, während in Deutschland von allen vorgeschlagenen Antworten die meisten Menschen sagen, dass sie nicht an Gott glauben (der Abstand zum Anteil der Befragten, der keine Zweifel an der Existenz Gottes hat, ist hier jedoch nicht so groß). Grundsätzlich lässt sich vielleicht sagen, dass in Deutschland die Anteile der Befragten, die sich für die verschiedenen Antwortmöglichkeiten entscheiden, nicht so stark voneinander abweichen, während in den USA tendenziell immer weniger Menschen eine bestimmte Antwortmöglichkeit wählen, je mehr Zweifel an der Existenz Gottes sie zum Ausdruck bringt. Die gleiche Frage soll nun noch einmal nur für die USA betrachtet werden. Das Balkendiagramm (Abbildung 16) zeigt, dass in den USA mit Abstand die meisten Menschen sicher sind, dass Gott wirklich existiert, und daran keine Zweifel haben. Einzige Ausnahme sind hier die Konfessionslosen, von denen jedoch erstaunlicherweise noch immer die meisten sagen, dass sie an eine „höhere Macht“ glauben. Von allen Gruppen sind die
40
Prozent
3. Empirische Analyse 176
Nation
Abbildung 15: Gottesverständnis (USA/Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
Ich weiß, dass Gott wirklich existiert, und ich habe keinen Zweifel daran Ich habe zwar Zweifel, aber ich fühle, dass ich an Gott glaube Ich glaube manchmal an Gott, aber nicht immer Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott, aber ich glaube an eine höhere Macht
Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt, und ich glaube nicht, dass es einen Weg gibt, um das herauszufinden Ich glaube nicht an Gott
0
Deutschland USA 60
20
80
Konfession 60
Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
40
20
Abbildung 16: Gottesverständnis (USA) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
Ich weiß, dass Gott wirklich existiert, und ich habe keinen Zweifel daran Ich habe zwar Zweifel, aber ich fühle, dass ich an Gott glaube Ich glaube manchmal an Gott, aber nicht immer Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott, aber ich glaube an eine höhere Macht Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt, und ich glaube nicht, dass es einen Weg gibt, um das herauszufinden Ich glaube nicht an Gott
0
177 3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
178
3. Empirische Analyse
Protestanten hier am stärksten davon überzeugt, dass es Gott gibt (sogar noch mehr als Katholiken und Angehörige anderer Gruppen, bei denen die Zweifel etwas stärker ausgeprägt zu sein scheinen, beziehungsweise bei denen auch im Vergleich zu den Protestanten relativ viele lediglich an eine höhere Macht, nicht jedoch an einen persönlichen Gott glauben). Den Glauben an eine Höhere Macht teilen Konfessionslose, Katholiken und andere stärker als Protestanten. Konfession
60
Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
50 40 30 20 10 Ich weiß, dass Gott wirklich existiert, und ich habe keinen Zweifel daran
Ich habe zwar Zweifel, aber ich fühle, dass ich an Gott glaube
Ich glaube manchmal an Gott, aber nicht immer
Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott, aber ich glaube an eine höhere Macht Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt, und ich glaube nicht, dass es einen Weg gibt, um das herauszufinden
Ich glaube nicht an Gott
0
Abbildung 17: Gottesverständnis (Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
Die Grafik (Abbildung 17) zeigt die gleiche Frage nun noch einmal für Deutschland. Dabei zeigt sich zunächst nochmals, dass in Deutschland deutlich weniger Menschen gar keine Zweifel daran haben, dass Gott existiert, als in den USA. Vergleicht man Protestanten und Katholiken, so sieht man, dass Protestanten tendenziell etwas skeptischer sind, was ihren
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
179
Glauben an Gott angeht, als Katholiken. Grundsätzlich wählen in beiden Gruppen jedoch im Vergleich am meisten Menschen die beiden Antwortmöglichkeiten, die einen starken Glauben an Gott zum Ausdruck bringen. Wesentlich ausgeprägter als bei Protestanten und Katholiken scheint der Glaube bei den Anhängern anderer Gruppen zu sein. Bei den Konfessionslosen ist er relativ schwach. Dass viele Menschen in Deutschland an der Existenz Gottes zweifeln und, wie Abbildung 15 zeigt, die meisten Menschen nicht an Gott glauben, entspricht den Annahmen der Säkularisierungstheorie, wonach die soziale Bedeutung von Religion zurückgeht. Lassen sich ähnliche Unterschiede auch im Glauben an ein Leben nach dem Tod zeigen? Auch hier sollen grafisch Verschiedenheiten zwischen Protestanten und anderen Gruppen sowie zwischen Amerikanern und Deutschen herausgestellt werden. Zunächst soll hier wieder ein Blick auf die Unterschiede zwischen Amerikanern und Deutschen geworfen werden: Im Diagramm in Abbildung 18 zeigt sich deutlich, dass US-Amerikaner wesentlich stärker an ein Leben nach dem Tod glauben als Deutsche. Die große Mehrheit der Amerikaner antwortet, sie glaube „definitiv“ an ein Leben nach dem Tod, während relativ viele Deutsche nicht daran glauben. Wie oben soll die gleiche Frage nun noch einmal nur für die USA betrachtet werden. Im Diagramm in Abbildung 19 zeigt sich nochmals, dass der Glaube an ein Leben nach dem Tod in den USA sehr verbreitet ist. Protestanten teilen ihn noch stärker als andere, und auch unter den Konfessionslosen glauben erstaunlich viele an ein Leben nach dem Tod (tatsächlich wählt der größte Anteil der Konfessionslosen interessanterweise diese Antwortmöglichkeit). Allerdings geben (wenig überraschend) auch deutlich mehr Konfessionslose als Protestanten, Katholiken oder andere an, „wahrscheinlich nicht“ oder „definitiv nicht“ an ein Leben nach dem Tod zu glauben. Als Nächstes soll diese Frage noch einmal nur für Deutschland betrachtet werden. Im Balkendiagramm in Abbildung 20 zeigt sich, dass Protestanten in Deutschland nicht so stark wie Katholiken an ein Leben nach dem Tod glauben. Die meisten Protestanten glauben tatsächlich nicht an ein Leben nach dem Tod. Bei den Katholiken antworten am meisten mit „Ja, wahrscheinlich“, während bei den anderen die meisten „Ja, definitiv“ und bei den Konfessionslosen mit Abstand am meisten Menschen mit „Nein, definitiv nicht“ antworten. Dass, wie Abbildung 18 zeigt, die meisten Menschen nicht an ein Leben nach dem Tod glauben, entspricht wieder den Annahmen der Säkularisierungstheorie.
180
3. Empirische Analyse
Nation
60
Deutschland USA
Prozent
50 40 30 20 10
Nein, definitiv nicht
Nein, wahrscheinlich nicht
Ja, wahrscheinlich
Ja, definitiv
0
Glauben an ein Leben nach dem Tod
Abbildung 18: Glauben an ein Leben nach dem Tod (USA/Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
181
Konfession Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
60
40
20
0 Ja, definitiv Nein, wahrscheinlich nicht Ja, wahrscheinlich Nein, definitiv nicht
Glauben an ein Leben nach dem Tod
Abbildung 19: Glauben an ein Leben nach dem Tod (USA) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
182
3. Empirische Analyse
Konfession Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
60
40
20
0 Ja, definitiv Nein, wahrscheinlich nicht Ja, wahrscheinlich Nein, definitiv nicht
Glauben an ein Leben nach dem Tod
Abbildung 20: Glauben an ein Leben nach dem Tod (Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
Nation
Prozent
40
Deutschland USA
30
20
10
Kirchgangshäufigkeit
Abbildung 21: Kirchgangshäufigkeit (USA/Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
nie
seltener als einmal im Jahr
einmal im Jahr
mehrmals im Jahr
einmal im Monat
zwei bis drei Mal im Monat
einmal pro Woche
mehrmals pro Woche
0
183
184
3. Empirische Analyse
Um Unterschiede im Säkularisierungsniveau zwischen den USA und Deutschland herauszustellen, ist auch der Blick auf den Gottesdienstbesuch interessant. Abbildung 21 zeigt, wie häufig die Antwortenden in die Kirche gehen. Dabei sieht man deutlich, dass Amerikaner bis heute wesentlich religiöser sind als Deutsche: Sehr viel mehr geben an, einmal pro Woche oder sogar mehrmals pro Woche einen Gottesdienst zu besuchen. Umgekehrt geben in Deutschland viel häufiger als in den USA Menschen an, seltener als einmal im Jahr oder auch nie Gottesdienste zu besuchen. Konfession Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
60
40
20
nie
seltener als einmal im Jahr
einmal im Jahr
mehrmals im Jahr
einmal im Monat
zwei bis drei Mal im Monat
einmal pro Woche
mehrmals pro Woche
0
Kirchgangshäufigkeit
Abbildung 22: Kirchgangshäufigkeit (USA) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
Das Balkendiagramm in Abbildung 22 zeigt die Kirchgangshäufigkeit noch einmal nur für die USA, aufgeschlüsselt nach Protestanten, Katholiken, anderen und Konfessionslosen. Verglichen mit den anderen Gruppen besuchen unter den Protestanten mit Abstand am meisten Menschen
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
185
mehrmals pro Woche einen Gottesdienst. Sowohl unter Protestanten als auch unter Katholiken antwortet die Mehrheit, einmal pro Woche einen Gottesdienst zu besuchen. Unter den anderen sagen etwa gleich viele, einmal pro Woche in der Kirche zu sein, wie angeben, einmal im Jahr oder auch nie einen Gottesdienst zu besuchen. Unter den Konfessionslosen sagen mit großem Abstand am meisten Menschen, nie in den Gottesdienst zu gehen. Konfession
Prozent
80
Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
60
40
20
nie
seltener als einmal im Jahr
einmal im Jahr
mehrmals im Jahr
einmal im Monat
zwei bis drei Mal im Monat
einmal pro Woche
mehrmals pro Woche
0
Kirchgangshäufigkeit
Abbildung 23: Kirchgangshäufigkeit (Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP 2012
Wie schon der grafische Vergleich zwischen den USA und Deutschland in Abbildung 21 erahnen ließ, zeigt sich bei der Häufigkeit von Gottesdienstbesuchen in Deutschland ein ganz anderes Bild als in den USA (siehe Abbildung 23). Vergleichsweise wenige Menschen geben an, häufig Gottesdienste zu besuchen. Unter Protestanten antworten am meisten Men-
186
3. Empirische Analyse
schen, „seltener als einmal im Jahr“ in die Kirche zu gehen. Auch bei den Katholiken sind die meisten lediglich „seltener als einmal im Jahr“ im Gottesdienst, auch wenn die Differenz zu denjenigen, die mehrmals im Jahr Gottesdienste besuchen, nicht so hoch ist wie bei den Protestanten. Unter den anderen und Konfessionslosen geben am meisten Menschen an, nie in die Kirche zu gehen. Insgesamt entsprechen die Ergebnisse für Deutschland auch in diesem Punkt den Annahmen der Säkularisierungstheorie. Nation
60
Deutschland USA
Prozent
50 40 30 20 10 nie
seltener als einmal im Jahr
einmal im Jahr
mehrmals im Jahr
einmal im Monat
zwei bis drei Mal im Monat
einmal pro Woche
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0
Gebetshäufigkeit
Abbildung 24: Gebetshäufigkeit (USA/Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
Auch an der Häufigkeit von Gebeten lassen sich Unterschiede im Säkularisierungsniveau zeigen. Wie das Balkendiagramm in Abbildung 24 zeigt, geben in Deutschland sehr viel mehr Menschen an, „nie“ zu beten, als in den USA. Umgekehrt geben in den USA sehr viel mehr Menschen als in Deutschland an, „jede Woche“ zu beten.
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
Konfession
60
Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
50 40 30 20 10
Gebetshäufigkeit Abbildung 25: Gebetshäufigkeit (USA) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
jede Woche
fast jede Woche
zwei bis drei Mal im Jahr
einmal im Monat
mehrmals im Jahr
einmal oder zwei Mal im Jahr
weniger als einmal im Jahr
nie
0
187
188
3. Empirische Analyse
Abbildung 25 zeigt die Gebetshäufigkeit nochmals nur für die USA, ebenfalls aufgeschlüsselt nach Protestanten, Katholiken, anderen und Konfessionslosen. Daraus geht hervor, dass unter den Protestanten (ebenso wie bei den Katholiken) am meisten Menschen angeben, jede Woche zu beten. Unter den Konfessionslosen sagen mit großem Abstand am meisten Menschen, nie zu beten, während unter allen anderen die meisten antworten, mehrmals im Jahr zu beten. Konfession
100
Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
80 60 40 20
jede Woche
fast jede Woche
zwei bis drei Mal im Jahr
einmal im Monat
mehrmals im Jahr
einmal oder zwei Mal im Jahr
weniger als einmal im Jahr
nie
0
Gebetshäufigkeit Abbildung 26: Gebetshäufigkeit (Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
Auch hier in Abbildung 26 zeigt sich, dass sich das Antwortverhalten von Deutschen in der Frage der Gebetshäufigkeit deutlich von dem von Amerikanern unterscheidet: Unter allen Gruppen (Protestanten, Katholiken, Konfessionslosen und anderen) sagen die meisten, dass sie „nie“ beten. Unter den Protestanten und Katholiken sagen außerdem relativ viele,
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
189
dass sie „mehrmals im Jahr“ beten. Auch dies entspricht den Annahmen der Säkularisierungstheorie, wonach die soziale Bedeutung von Religion in modernen Gesellschaften zurückgeht. Nation
60
Deutschland USA
Prozent
50 40 30 20 10 0 extrem sehr etwas weder eher sehr extrem religiös religiös religiös religiös nicht- nicht- nichtnoch religiös religiös religiös nichtreligiös
Selbstbeschreibung als religiös
Abbildung 27: Selbstbeschreibung als religiös (USA/Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
Während also die Häufigkeit des Kirchgangs oder Gebets bereits auf die höhere Religiosität der Amerikaner hindeutete, soll hier noch einmal die Selbsteinschätzung als religiös verglichen werden. Das Balkendiagramm in Abbildung 27 zeigt dies für die USA und Deutschland. Daraus geht hervor, dass sich die Menschen in den USA auch selbst als religiöser einschätzen als Deutsche. Interessanterweise sind es in beiden Ländern am meisten Menschen, die sich als „etwas religiös“ einstufen, wobei sich in Deutschland fast genauso viele als „extrem nicht-religiös“ bezeichnen würden –
190
3. Empirische Analyse
ganz anders als in den USA, wo die am zweithäufigsten gewählte Antwort „sehr religiös“ ist. Konfession Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
60
40
20
0 extrem sehr etwas weder eher sehr extrem religiös religiös religiös religiös nicht- nicht- nichtnoch religiös religiös religiös nichtreligiös
Selbstbeschreibung als religiös
Abbildung 28: Selbstbeschreibung als religiös (USA) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
Ähnlich wie oben wird auch hier (Abbildung 28) noch einmal das Antwortverhalten nur für die USA dargestellt, aufgegliedert nach Protestanten, Katholiken, Konfessionslosen und anderen. Dabei zeigt sich, dass sich unter Protestanten, Katholiken und anderen die große Mehrheit für „etwas religiös“ hält. Protestanten wählen außerdem deutlich häufiger als andere die Antwort „extrem religiös“ und „sehr religiös“. Unter den Konfessionslosen sagen am meisten, sie seien „extrem nicht-religiös“. Das Balkendiagramm in Abbildung 29 zeigt nun noch einmal die Bezeichnung als religiös nur für Deutschland, aufgegliedert nach denselben vier Gruppen. Ähnlich wie in den USA bezeichnen sich die meisten Men-
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
191
Konfession Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
60
40
20
0 extrem sehr etwas weder eher sehr extrem religiös religiös religiös religiös nicht- nicht- nichtnoch religiös religiös religiös nichtreligiös
Selbstbeschreibung als religiös
Abbildung 29: Selbstbeschreibung als religiös (Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
192
3. Empirische Analyse
schen unter den Protestanten, Katholiken und anderen als „etwas religiös“, während bei den Konfessionslosen die meisten sich für extrem nichtreligiös halten. Anders als in den USA sind Katholiken in Deutschland ihrer Selbstbeschreibung zufolge religiöser als Protestanten – mehr von ihnen halten sich für „extrem religiös“ oder „sehr religiös“, als es bei den Protestanten der Fall ist. Im Vergleich mit der vorherigen Abbildung 28 zeigt sich außerdem, dass deutlich mehr Deutsche als Amerikaner die Antwortmöglichkeiten „weder religiös noch nicht-religiös“ oder „eher nichtreligiös“ wählen. Interessant ist hier, dass trotz des geringen Kirchgangs und der geringen Gebetshäufigkeit in Deutschland viele Menschen sich für „etwas religiös“ halten – die gleiche Antwort, die auch die meisten Amerikaner wählen. Trotz der wesentlichen Unterschiede in Hinblick auf die religiöse Praxis scheinen sich Menschen beider Nationalitäten also als vergleichbar religiös einzuschätzen (wobei sich in den USA auch deutlich mehr Menschen für „sehr religiös“ halten). Bei Studien zur Religiosität werden häufig nicht nur Fragen, die direkt mit dem Glauben zu tun haben, gestellt, sondern auch Haltungen der Befragten gegenüber individual- und sozialethischen Themen wie HomoEhe, Schwangerschaftsabbruch oder auch Sterbehilfe abgefragt. Entsprechende Fragen aus dem International Social Survey Programme (2012) zu Religion sollen daher hier ergänzend ausgewertet werden. Zunächst eine Frage zum Thema gleichgeschlechtliche Partnerschaften. In der Grafik in Abbildung 30 sieht man nun noch einmal in der Gegenüberstellung der Einstellungen von Amerikanern und Deutschen die Unterschiede in dieser Frage. Dabei zeigt sich, dass Deutsche in der Frage nach gleichgeschlechtlichen Partnerschaften wesentlich liberaler eingestellt sind als US-Amerikaner. Im Diagramm in Abbildung 31 zeigt sich, dass Protestanten in den USA in dieser Frage deutlich konservativer eingestellt sind als andere, und zwar sowohl konservativer als Katholiken als auch als Konfessionslose (die hier die liberalste Gruppe darstellen) sowie Anhänger anderer religiöser Gruppen. Wesentlich mehr Protestanten als Mitglieder der anderen Gruppen halten Beziehungen zwischen Partnern gleichen Geschlechts für „immer falsch“, während wesentlich weniger sie für „überhaupt nicht falsch“ halten. Unter den Katholiken halten immer noch etwas mehr solche Beziehungen für „immer falsch“ als für „überhaupt nicht falsch“, während sich unter den Anhängern anderer Gruppen jeweils etwa gleich viele für diese beiden Antwortoptionen entscheiden. Unter den Konfessionslosen sind (wie oben bereits beschrieben) die allermeisten der Auffassung, Beziehungen zwischen Menschen gleichen Geschlechts seien „überhaupt nicht falsch“.
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
193
Nation
60
Deutschland USA
Prozent
50 40 30 20 10 0 Immer falsch Fast immer falsch
Nur Überhaupt manchmal nicht falsch falsch
Sexuelle Beziehungen zwischen zwei Erwachsenen gleichen Geschlechts
Abbildung 30: Einstellungen zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften (USA/Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP 2008
194
3. Empirische Analyse
Konfession Protestanten Katholiken Konfessionslose andere
Prozent
60
40
20
0 Immer falsch Fast immer falsch
Nur Überhaupt manchmal nicht falsch falsch
Sexuelle Beziehungen zwischen zwei Erwachsenen gleichen Geschlechts
Abbildung 31: Einstellungen zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften (USA) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
Konfession
80
Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
60
Prozent
195
40
20
0 Immer falsch Fast immer falsch
Nur Überhaupt manchmal nicht falsch falsch
Sexuelle Beziehungen zwischen zwei Erwachsenen gleichen Geschlechts
Abbildung 32: Einstellungen zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften (Deutschland) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
196
3. Empirische Analyse
Im Diagramm in Abbildung 32 zeigt sich zunächst, dass Deutsche in dieser Frage offenbar wesentlich liberaler eingestellt sind als US-Amerikaner: Mit Abstand am meisten Menschen halten sexuelle Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern für „nie falsch“. Interessant ist, dass zwischen Protestanten und Katholiken kaum Unterschiede bestehen, während Konfessionslose in dieser Frage liberaler eingestellt zu sein scheinen. Mitglieder anderer Gruppen scheinen hingegen in dieser Hinsicht weniger liberal eingestellt als Protestanten, Katholiken und Konfessionslose. Nation 60
Deutschland USA
Prozent
50
40
30
20
10
0 Immer falsch Fast immer falsch
Nur Überhaupt manchmal nicht falsch falsch
Meinung: Abtreibung, wenn das Baby nicht gesund ist
Abbildung 33: Einstellungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (USA/Deutschland I) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
Als Nächstes sollen die Haltungen gegenüber Schwangerschaftsabbrüchen genauer angeschaut werden. Begonnen wird dabei mit der Frage, ob ein Schwangerschaftsabbruch gerechtfertigt ist, wenn das Baby nicht
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
197
gesund ist. Im Balkendiagramm in Abbildung 33 zeigt sich, dass USAmerikaner Schwangerschaftsabbrüchen gegenüber etwas kritischer beziehungsweise konservativer eingestellt sind als Deutsche, sollte das Baby nicht gesund sein. Deutlich mehr Amerikaner halten einen Abbruch in diesem Fall für „immer falsch“ als Deutsche. Auch diese Frage soll als Nächstes noch einmal nur für die USA untersucht werden. Konfession 80
Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
60
40
20
0 Immer falsch Fast immer falsch
Nur Überhaupt manchmal nicht falsch falsch
Meinung: Abtreibung, wenn das Baby nicht gesund ist
Abbildung 34: Einstellungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (USA I) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
Falls das Baby nicht gesund ist, halten in den USA mehr Protestanten als andere (sowohl Katholiken, Konfessionslose und Angehöriger anderer Gruppen) einen Schwangerschaftsabbruch für „immer falsch“ beziehungsweise für „fast immer falsch“ (siehe Abbildung 34). Allerdings gibt es un-
198
3. Empirische Analyse
ter den Protestanten auch relativ viele, die einen Abbruch für „überhaupt nicht falsch“ halten (und zwar mehr als unter den Katholiken). Konfession 80
Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
60
40
20
0 Immer falsch Fast immer falsch
Nur Überhaupt manchmal nicht falsch falsch
Meinung: Abtreibung, wenn das Baby nicht gesund ist
Abbildung 35: Einstellungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (Deutschland I) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
In Deutschland scheinen Protestanten in der Frage von Schwangerschaftsabbrüchen, wenn das Baby nicht gesund ist, etwas liberaler eingestellt zu sein als Katholiken und Angehörige anderer Gruppen, jedoch nicht so liberal wie Konfessionslose (siehe Abbildung 35). Neben dieser Frage wurde auch gefragt, wie die Einstellungen gegenüber einem Schwangerschaftsabbruch sind, wenn die Familie ein geringes Einkommen hat. Auch für diese Frage sollen zunächst die unterschiedlichen Einstellungen von Amerikanern und Deutschen gegenübergestellt werden:
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
199
Nation 60
Deutschland USA
Prozent
50 40 30 20 10 0 Immer falsch Fast immer falsch
Nur Überhaupt manchmal nicht falsch falsch
Meinung: Abtreibung bei geringem Einkommen der Familie
Abbildung 36: Einstellungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (USA/Deutschland II) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
200
3. Empirische Analyse
Das Balkendiagramm in Abbildung 36 zeigt, dass sich kein klares Muster erkennen lässt: Im Fall eines geringen Familieneinkommens halten mehr Amerikaner als Deutsche einen Schwangerschaftsabbruch für „immer falsch“ oder auch für „überhaupt nicht falsch“. Deutsche scheinen hier eine gemäßigtere beziehungsweise abwägendere Haltung einzunehmen als Amerikaner, da sie einen Abbruch in diesem Fall häufiger als „fast immer falsch“ oder „nur manchmal falsch“ einstufen. Gemeinsam ist beiden Ländern, dass der überwiegende Anteil der Bevölkerung einen Abbruch als „immer falsch“ einstuft. Dass dennoch relativ viele Amerikaner ihn als „überhaupt nicht falsch“ bewerten, könnte mit dem unterschiedlichen Sozialsystem zusammenhängen, das im Falle von Mutterschaft weniger Schutz- und finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten bereithält als das deutsche Sozialsystem. Konfession 60
Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
50 40 30 20 10 0 Immer falsch Fast immer falsch
Nur Überhaupt manchmal nicht falsch falsch
Meinung: Abtreibung bei geringem Einkommen der Familie
Abbildung 37: Einstellungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (USA II) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
201
Im Fall, dass eine Familie nur ein geringes Einkommen besitzt, halten in den USA insgesamt deutlich mehr Menschen einen Schwangerschaftsabbruch für „immer falsch“, als es bei einem nicht gesunden Baby der Fall ist (siehe Abbildung 37). Wieder sind es hier die Protestanten, die einen Abbruch noch stärker ablehnen als andere. Bei dieser Frage kann man sehr gut die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft erkennen, die in moralischen Fragen dieser Art stark gespalten ist zwischen konservativen, (stark) religiösen Menschen und eher liberal eingestellten Konfessionslosen (beziehungsweise den „nones“ - die in den USA übliche Bezeichnung). Konfession 60
Protestanten Katholiken andere Konfessionslose
Prozent
50 40 30 20 10 0 Immer falsch Fast immer falsch
Nur Überhaupt manchmal nicht falsch falsch
Meinung: Abtreibung bei geringem Einkommen der Familie
Abbildung 38: Einstellungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (Deutschland II) Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des ISSP (2012)
Auch Deutsche lehnen einen Schwangerschaftsabbruch in dem Fall, dass die Familie ein geringes Einkommen hat, deutlich stärker ab als in dem Fall, in dem das Baby nicht gesund ist (siehe Abbildung 38). Protestanten
202
3. Empirische Analyse
scheinen auch hier etwas liberaler eingestellt zu sein als Katholiken und Angehörige anderer Gruppen, jedoch weniger liberal als Konfessionslose. Zusammenfassung In diesem Unterkapitel werden religiöse Einstellungen von Amerikanern und Deutschen miteinander verglichen. Dabei werden zu den einzelnen Fragen jeweils drei Diagramme erstellt: Eins mit den in beiden Ländern erhobenen Daten, das den Vergleich zwischen den USA und Deutschland zulässt, sowie jeweils eins für die beiden Länder separat, wo nochmals in Protestanten, Katholiken, Konfessionslose und andere untergliedert wird. So lässt sich das unterschiedliche Antwortverhalten der einzelnen Gruppen gut erkennen. Grundsätzlich kann man sagen, dass Menschen in den USA bei Fragen zum Beispiel nach dem Glauben an Gott, an ein Leben nach dem Tod, nach der Häufigkeit ihrer Gottesdienstbesuche und Gebete sowie ihrer Selbsteinschätzung als religiös eine deutlich stärkere Religiosität zeigen als Deutsche. Bei Fragen hinsichtlich Homo-Ehen oder Schwangerschaftsabbrüchen sind sie wesentlich konservativer eingestellt als Deutsche (dies trifft jedoch vor allem auf religiöse Menschen, nicht auf Konfessionslose in den USA zu – zwischen den beiden Gruppen ist eher eine Polarisierung feststellbar). Wichtige Ergebnisse im Einzelnen sind: • Amerikaner glauben wesentlich stärker an Gott als Deutsche. In den USA sind mit Abstand die meisten Menschen sicher, dass Gott wirklich existiert. Von allen Gruppen sind die Protestanten hier am stärksten davon überzeugt, dass es Gott gibt. Vergleicht man innerhalb Deutschlands Protestanten und Katholiken, so sieht man, dass Protestanten etwas skeptischer sind, was ihren Glauben angeht. • Amerikaner glauben deutlich stärker an ein Leben nach dem Tod als Deutsche. Innerhalb der USA teilen Protestanten den Glauben an ein Leben nach dem Tod stärker als andere, und selbst Konfessionslose wählen am häufigsten diese Antwortmöglichkeit. In Deutschland glauben die meisten Protestanten nicht an ein Leben nach dem Tod. • Sehr viel mehr Amerikaner als Deutsche geben an, häufig Gottesdienste zu besuchen. In den USA antwortet die Mehrheit der Protestanten, einmal pro Woche einen Gottesdienst zu besuchen. In Deutschland geben die meisten Protestanten an, seltener als einmal im Jahr in die Kirche zu gehen. • Auch geben sehr viel mehr Amerikaner als Deutsche an, häufig zu beten. Innerhalb der USA beten die meisten Protestanten (ebenso wie Katholiken)
3.6. Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen zur Religion
203
jede Woche. In Deutschland sagen die meisten Protestanten (ebenso wie die meisten Katholiken, Konfessionslosen und anderen), dass sie nie beten. • Amerikaner schätzen sich durchschnittlich als religiöser ein als Deutsche. Interessanterweise sind es in beiden Ländern am meisten Menschen, die sich als „etwas religiös“ einstufen, wobei sich in Deutschland fast genauso viele als „extrem nicht-religiös“ bezeichnen würden – anders als in den USA, wo die am zweithäufigsten gewählte Antwort „sehr religiös“ ist. Innerhalb der USA zeigt sich, dass sich unter Protestanten, Katholiken und anderen die große Mehrheit für „etwas religiös“ hält. In Deutschland bezeichnen sich die meisten Menschen unter den Protestanten, Katholiken und anderen als „etwas religiös“. Anders als in den USA sind Katholiken in Deutschland ihrer Selbstbeschreibung zufolge religiöser als Protestanten. • In der Frage gleichgeschlechtlicher Partnerschaften sind Deutsche wesentlich liberaler eingestellt als Amerikaner. Innerhalb der USA sind Protestanten in dieser Frage deutlich konservativer eingestellt als andere, und zwar sowohl konservativer als Katholiken als auch als Konfessionslose sowie Anhänger anderer religiöser Gruppen. In Deutschland halten mit Abstand am meisten Menschen sexuelle Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern für „nie falsch“. Interessant ist, dass zwischen Protestanten und Katholiken kaum Unterschiede bestehen, während Konfessionslose in dieser Frage liberaler eingestellt zu sein scheinen. • Im Fall, dass das Baby nicht gesund ist, sind Amerikaner Schwangerschaftsabbrüchen gegenüber konservativer eingestellt als Deutsche. Innerhalb der USA halten mehr Protestanten als andere einen Abbruch für „immer falsch“ oder „fast immer falsch“. Allerdings halten auch relativ viele Protestanten einen Abbruch für „überhaupt nicht falsch“ (mehr als unter den Katholiken). Innerhalb Deutschlands scheinen Protestanten in dieser Frage etwas liberaler eingestellt zu sein als Katholiken und Angehörige anderer Gruppen, jedoch nicht so liberal wie Konfessionslose. • Im Fall eines geringen Familieneinkommens halten mehr Amerikaner als Deutsche einen Schwangerschaftsabbruch für „immer falsch“ oder auch für „überhaupt nicht falsch“. Deutsche scheinen hier eine abwägendere Haltung einzunehmen, da sie einen Abbruch in diesem Fall häufiger als „fast immer falsch“ oder „nur manchmal falsch“ einstufen. Gemeinsam ist beiden Ländern, dass der überwiegende Anteil der Bevölkerung einen Abbruch als „immer falsch“ einstuft. Im Fall, dass eine Familie nur ein geringes Einkommen besitzt, halten in den USA insgesamt deutlich mehr Menschen
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3. Empirische Analyse
einen Schwangerschaftsabbruch für „immer falsch“, als es bei einem nicht gesunden Baby der Fall ist. Wieder sind es hier die Protestanten, die einen Abbruch noch stärker ablehnen als andere. Hier kann man sehr gut die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft erkennen, die in moralischen Fragen dieser Art stark gespalten ist zwischen konservativen, (stark) religiösen Menschen und eher liberal eingestellten Konfessionslosen. Auch Deutsche lehnen einen Schwangerschaftsabbruch in dem Fall, dass die Familie ein geringes Einkommen hat, deutlich stärker ab als in dem Fall, in dem das Baby nicht gesund ist. Protestanten scheinen auch hier etwas liberaler eingestellt zu sein als Katholiken und Angehörige anderer Gruppen, jedoch weniger liberal als Konfessionslose. 3.7
Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
In der vorliegenden Arbeit geht es um die Wirkungen des Protestantismus auf heutige Einstellungen gegenüber Arbeit, Hedo-Materialismus, dem Wirtschaftssystem, politischen und kirchlichen Institutionen, Demokratie, Individualisierung, der individualisierten Beziehung zu Gott und dem Bibelverständnis. In einem sich anschließenden Kapitel geht es um weitere Einstellungen zur Religion selbst, zum Beispiel zur Glauben an Gott, zum Leben nach dem Tod, als auch zu Haltungen gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften oder Schwangerschaftsabbrüchen. In diesem Kapitel sollen die Ergebnisse nun miteinander verglichen und interpretiert werden. Die Interpretation erfolgt unter Rückgriff auf die im Anhang befindlichen Interviews mit Mark Valeri, Professor für Religion und Politik an der Washington University in St. Louis, Missouri, sowie mit Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie an der Westfälischen WilhelmsUniversität in Münster. Beiden wurden die Ergebnisse der statistischen Analysen vorab vorgelegt, sodass sie sich in ihren Antworten direkt darauf beziehen konnten. 3.7.1
Neues Berufsbild und Bedeutungsgewinn der Arbeit
Als erstes werden die Ergebnisse zum ersten Ausgangspunkt der Analyse, neues Berufsbild und Bedeutungsgewinn der Arbeit, verglichen und interpretiert. Entsprechend der in der Faktorenanalyse in Tabelle 15 ermittelten Faktoren wird zunächst der Aspekt „Arbeit als Verpflichtung“, dann Hedo-Materialismus und schließlich kapitalistische Einstellungen (in Wirtschafts- und Sozialpolitik) diskutiert. Die Ergebnisse werden erst
3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
205
nochmals knapp wiedergegeben und dann anhand der Interviews interpretiert. 3.7.1.1 Arbeit als Verpflichtung Zunächst soll der erste Themenkomplex, Luthers Berufsbild, beziehungsweise in den Umfragedaten die Vorstellung von „Arbeit als einer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft“, genauer interpretiert werden. Bei diesem Aspekt konnte in der Analyse beider Länder kein Effekt des Protestantismus gefunden werden. Der stärkste Effekt ging hier vom Alter aus: Ältere Menschen stimmten ihr eher zu als jüngere. Zudem wurde die Vorstellung von Amerikanern weniger stark geteilt als von Deutschen. Im Modell für die USA konnte ein Effekt des Protestantismus gefunden werden. Der standardisierte Beta-Koeffizient betrug hier 0,08 (signifikant auf dem 0,01-Niveau). Auch hier war der stärkste Effekt der des Alters. In Deutschland konnte zwar kein Effekt des Protestantismus, jedoch ein relativ starker Effekt der Region der historisch protestantischen Länder (standardisierter Beta-Koeffizient 0,144; signifikant auf dem 0,01-Niveau) festgestellt werden. Der stärkste Effekt ging auch hier vom Alter aus. Zuerst ist festzuhalten, dass alle gefundenen Ergebnisse und Effekte mit Vorsicht interpretiert werden sollten, zum einen aufgrund der langen Zeitspanne, die seit der Reformation vergangen ist, zum anderen, da auch andere (möglicherweise intervenierende) Einflussfaktoren denkbar wären, die hier unter Umständen nicht berücksichtigt werden oder (aufgrund fehlender Daten in der Vergangenheit) nicht klar kontrolliert werden können. Dass nur in den USA ein Effekt des Protestantismus auf die Vorstellung von „Arbeit als einer Verpflichtung“ gefunden werden konnte, könnte mit der Nivellierung konfessioneller Differenzen in Deutschland erklärt werden (vgl. Pollack 2018: 260, Zeile 86), die sich in den vergangenen 30 Jahren nochmals verstärkt hat. So sind in den USA bis heute nahezu geschlossene protestantische Milieus zu finden. In Deutschland hingegen haben sich die Milieus vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mehr und mehr vermischt. In den USA war der Protestantismus bis noch vor kurzer Zeit die Mehrheitskultur: Die gesamte politische Kultur trägt eine äußerst starke protestantische Prägung. Sie umfasst ein hohes Arbeitsethos, ein Gefühl individueller Verantwortung, verbunden mit einer Skepsis gegenüber Hierarchien und Institutionen, die in Deutschland in dieser Form nicht erhalten geblieben sind. Grundsätzlich merkt Pollack (2018: 270, Zeilen 493-498) an, dass Effekte in dieser Größenordnung (Wirkung des Protestantismus auf die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung in den
206
3. Empirische Analyse
USA, Beta-Koeffizient 0,08) zwar hochsignifikant seien, jedoch aufgrund des eher kleinen standardisierten Beta-Koeffizienten nicht zu hoch bewertet werden sollten. Er empfiehlt daher, besonders auf die stärkeren Effekte zu schauen, die gezeigt werden konnten – in diesem Fall also vor allem auf den Effekt des Alters auf die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung, der weiter unten noch einmal aufgegriffen wird. In Bezug auf die Frage, weshalb nur in den USA ein signifikanter Effekt des Protestantismus auf die Vorstellung von Arbeit als Verpflichtung gefunden werden konnte, jedoch nicht in Deutschland, gibt Valeri (2017: 252, Zeile 43) zu bedenken, ob dies auch für England zutreffe30 . In seinen Augen gingen Arbeit beziehungsweise das protestantische Arbeitsethos mit seiner Vorstellung von Arbeit als einer göttlichen Berufung gut zusammen mit der Eroberung von Land, was sowohl auf Amerika in seiner Expansion nach Westen über den amerikanischen Kontinent als auch auf das „British Empire“ zutrifft und somit Parallelen hervorbringen könnte. Hier wurden die Vorstellungen von der „Konstruktion“ einer Nation verbunden mit Projekten wie dem Bau von Eisenbahnen, Kommunikationssystemen, neuen Industrien etc., die Valeri zufolge alle sowohl einen demokratischen als auch einen religiösen Auftrag hatten. Die Vorstellung von einer Verpflichtung zur Arbeit, zum Wandel, zum Aufbau einer Nation war demnach Teil des amerikanischen Bewusstseins bis vor etwa zehn oder fünfzehn Jahren. Dies leitet direkt über zur nächsten Frage, des Effekts des Alters auf die Vorstellung von „Arbeit als Verpflichtung“, der in allen drei Modellen der größte Effekt ist (der standardisierte Beta-Koeffizient beträgt 0,172 im Modell für beide Länder, 0,132 im Modell für die USA, und 0,200 im Modell für Deutschland, alle signifikant auf dem 0,01-Niveau). Dieser Wandel kann gut mit der oben bereits ausführlich dargestellten Theorie des Wertewandels von Ronald Inglehart (1977) erklärt werden. So teilen Ältere eher materialistische Werte wie „harte Arbeit“, während Jüngere eher postmaterialistische Werte wie Selbstverwirklichung und Freizeit schätzen. Diese Generationendifferenz kann als Erklärung dienen für Veränderungen im Sinne dieser Theorie, und zwar in beiden Ländern (vgl. Pollack 2018: 262, Zeilen 189-192). Valeris (2017: 252, Zeilen 60-66) Ausführungen zu dieser Frage passen ebenfalls zur Wertewandeltheorie. Ihm zufolge haben jüngere Menschen in den USA heute viel weniger Vertrauen in die allgemeinen kollektiven moralischen Verpflichtungen, die für die ältere Generation mit dem Kapi30 Dies
kann im Rahmen dieser Arbeit nicht untersucht werden, wäre aber ein interessanter Anhaltspunkt für weitere Analysen.
3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
207
talismus einhergingen. In seiner Generation sei die Vorstellung von harter Arbeit und einer Verpflichtung noch verbunden gewesen mit einem Gefühl der Verantwortung für das nationale Wohlbefinden. Dieses war (historisch) verbunden mit einem religiösen Sinn einer göttlichen Präsenz und Berufung in weltlichen Aktivitäten. Die jüngere Generation (damit meint er Menschen bis zum Alter von etwa 35 Jahren) hingegen sei in einem postindustriellen Zeitalter der Informationstechnologie, Silicon Valley und Konsumkapitalismus aufgewachsen, in der diese Verbindung zum nationalen Wohlbefinden weniger vorhanden sei. Hinzu komme, dass es sich hier um eine Generation handle, die nach dem Kalten Krieg aufgewachsen ist. Dieser habe dazu geführt, dass für Amerikaner der älteren Generation Vorstellungen wie die einer freien Marktwirtschaft, Religion, nationales Wohlbefinden gut miteinander zusammenpassten, und zwar im Gegensatz zum Sowjetischen Block, Eisernem Vorhang, Anti-Kapitalismus, AntiReligion, Anti-Demokratie und im Grunde einer Art Tyrannei. Die jüngere Generation hingegen sei nach dieser Erzählung aufgewachsen, und habe daher weniger das Gefühl, dass Kapitalismus einem hohen moralischen oder nationalen Zweck diene. Stattdessen glaubten sie eher, dass Kapitalismus vor allem ihrem eigenen Wohlbefinden diene. Abgesehen davon, dass es sich bei der jüngeren Genration um eine „post-Cold War generation“ handele, sei es zugleich eine „post-religious generation“ (Valeri 2017: 253, Zeile 89), da die Gruppe der Konfessionslosen (in den USA häufig „nones“ genannt“) diejenige sei, die am schnellsten wächst. Dieser Verlust an religiösem Glauben führe seiner Meinung nach zu einem Verlust eines Gefühls eines moralischen Zwecks für ökonomisches Handeln. Vielmehr werde es lediglich materiell. Interessant in der Analyse beider Länder war auch der Effekt der Nation, der zeigte, dass Amerikaner die Vorstellung von „Arbeit als einer Verpflichtung“ weniger teilen als Deutsche. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte sein, dass Amerikaner Arbeit heute eher als eine Art der Selbstverwirklichung empfinden, weniger als eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft. Valeri (2017: 253, Zeilen 101-105) stimmt dieser Erklärungsmöglichkeit zu, allerdings mit der Einschränkung, dass dies nicht für jenen Teil der Bevölkerung zutreffe, der keine oder kaum Arbeit hat und für den Arbeit vor allem eine Notwendigkeit ist, um über die Runden zu kommen. Dies sei ein Sektor vor allem der amerikanischen, aber auch anderer westlicher Wirtschaft, der beispielsweise Immigranten, besitzlose Menschen in Städten oder auch eine verarmte Landbevölkerung umfassen könne. Diese mögliche Erklärung sollte allerdings vielleicht mit Einschränkungen gesehen werden, da sie inhaltlich den Aussagen Pollacks (2018: 263,
208
3. Empirische Analyse
Zeile 222) widerspricht. Demzufolge geht auch aus der im Vergleich zu Deutschland relativ starken Ablehnung von Hedo-Materialismus, auf die in den kommenden Absätzen noch ausführlicher eingegangen wird, eher ein Verweis auf eine traditionelle Arbeitsethik hervor. Er vermutet, dass Arbeit in den USA eher noch als in Deutschland als eine Verpflichtung wahrgenommen werde, als etwas, wofür man sich selbst kasteit, das mit Entsagung, ja fast mit einem Opfer verbunden ist. In Deutschland beziehungsweise Westeuropa hingegen werde Arbeit eher als eine Art der Selbstverwirklichung empfunden, als etwas, das den eigenen Bedürfnissen und Wünschen entsprechen sollte. Da dies der oben angeführten Erklärung widerspricht, beziehungsweise auch aus Valeris Sicht nur für einen Teil der Bevölkerung zutreffen könnte, sollte die obige mögliche Erklärung wohl eher differenziert gesehen werden. 3.7.1.2 Hedo-Materialismus Als Nächstes sollen die Effekte auf Hedo-Materialismus interpretiert werden. Hierauf gab es leichte negative Effekte des Protestantismus im Modell für beide Länder sowie im Modell für Deutschland (Betakoeffizienten von -0,050 beziehungsweise -0,054, jeweils signifikant auf dem 0,01-Niveau), in den USA hingegen keinen Effekt des Protestantismus. Der stärkste Effekt (Beta-Koeffizient -0,349, signifikant auf dem 0,01-Niveau) ging im Modell beider Länder von der Nation aus. Das heißt, Amerikaner sind weniger an Erfolg, Wohlstand und Hedonismus interessiert als Deutsche. Innerhalb der beiden Länder ging der stärkste Effekt jeweils vom Alter aus (in den USA lag der Beta-Koeffizient bei -0,204, in Deutschland bei -0,210, jeweils signifikant auf dem 0,01-Niveau). Wie im vorigen Punkt zur Arbeitsethik bereits umrissen, sieht Pollack (2018: 263, Zeile 222) in dem starken negativen Effekt der Nation USA auf Hedo-Materialismus einen Hinweis auf eine traditionelle, sehr starke Arbeitsethik. Er unterstreicht, dass die Differenzen im Hinblick auf den Hedonismus wirklich sehr stark seien. Die Situation in den USA erklärt er mit den folgenden Worten: „Arbeit ist da wirklich mit Entsagung verbunden und mit Kampf, Kampf gegen das Material, mit dem Gegenstand, mit der Natur.“ (Pollack 2018: 263, Zeilen 204206) In Deutschland hingegen müsse Arbeit auch erfüllend sein, den eigenen Wünschen entgegenkommen. Arbeit ist demnach eine Form von Selbstverwirklichung und eben nicht etwas, das auf Kosten der Selbstverwirklichung geht. In Westeuropa ist die Zufriedenheit mit der Arbeit zugleich sehr hoch, während Pollack (2018: 263, Zeilen 211-213) sich vorstellen kann, dass das in den USA an-
3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
209
ders ist. „Das weiß ich jetzt nicht, aber ich könnte mir vorstellen, dass Arbeit dort mehr noch als eine Verpflichtung wahrgenommen wird, als etwas, wo man sich selber kasteit, wo man auch Opfer bringt.“ (Pollack 2018: 263, Zeilen 215-217) Dies sei zugleich charakteristisch für den Gedanken, dass man etwas für die Gesellschaft tue. Ebenfalls von großer Bedeutung für die Interpretation der Ergebnisse zum Hedo-Materialismus sei die Differenz zwischen den älteren und jüngeren Generationen. Gerade in den USA gebe es heute eine weitaus stärkere Bejahung des Hedonismus in der jüngeren Generation als bei der älteren. Als Begründung hierfür führt Pollack (2018: 259, Zeile 57), wie bei Arbeit als Verpflichtung, die Wertewandeltheorie an. Im Vergleich seien die Amerikaner individualistischer als Deutsche und weniger auf moderne, postmaterialistische Werte wie Selbstverwirklichung, Hedonismus, Partizipation orientiert als Deutsche. Innerhalb der USA könne man jedoch sehen, wie sich das ändert: Auch wenn sie immer noch bis heute konservativer sein mögen als Deutsche, so setzten sich doch in der jüngeren Generation Wertorientierungen, die in Richtung höhere Partizipationsforderungen, mehr Selbstverwirklichung, mehr Interesse an Lebensgenuss gehen, durch. Insofern gehe die Entwicklung in den USA in die gleiche Richtung wie in Deutschland. „Der säkulare Trend ist im Grunde genommen vergleichbar, aber der Ausgangspunkt in den USA ist ein ganz anderer.“ Tabelle 17 zeige deutlich, wie der Wertewandel in der jüngeren Generation im Vergleich zur älteren Generation in die gleiche Richtung gehe, die in Westeuropa seit Jahrzehnten beobachtet werden könne, nämlich mehr in Richtung HedoMaterialismus oder Hedonismus. Der leichte negative Effekt des Protestantismus auf Hedo-Materialismus sollte Pollack (2018: 265, Zeilen 276-278) zufolge eher nicht interpretiert werden. Dafür sei er nicht stark genug. Dennoch äußert er die Vermutung, dass hier vor allem der Gegensatz zu den Konfessionslosen zu diesem Effekt führen könnte. Bei den Katholiken könnte es seiner Meinung nach ähnlich sein. Er präzisiert: Mir ist das mal aufgefallen, dass in Deutschland, diese typisch protestantischen Einstellungen, Askese und so weiter, verbreiteter sind unter Katholiken als unter Protestanten. Das sind aber relativ minimale Differenzen. Es ist mehr die Differenz zwischen Konfessionsangehörigen und Konfessionslosen als zwischen Katholiken und Protestanten. (Pollack 2018: 265, Zeilen 284-289)
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3. Empirische Analyse
3.7.1.3 Kapitalismus Ganz im Sinne der Weber-These konnten in dieser Arbeit positive Effekte von Protestantismus auf kapitalistische Einstellungen in der Wirtschaftsund Sozialpolitik gefunden werden, und zwar im Modell für beide Länder als auch im Modell für die USA. Im Modell für beide Länder lag der Effekt des Protestantismus auf kapitalistische Haltungen in der Wirtschaftspolitik bei 0,060 (signifikant auf dem 0,01-Niveau). Der größte Effekt ging hier von der Nation USA aus und lag bei einem Beta-Koeffizienten von 0,226 (signifikant auf dem 0,01Niveau). Im Modell für die USA hatte Protestantismus sogar den größten Effekt auf kapitalistische Einstellungen in der Wirtschaftspolitik mit einem Beta-Koeffizienten von 0,117, signifikant auf dem 0,01-Niveau. Innerhalb Deutschlands hatte im Modell zu kapitalistischen Einstellungen in der Wirtschaftspolitik das Geschlecht den größten Effekt: Mit einem Beta-Koeffizienten von 0,155, signifikant auf dem 0,01-Niveau, zeigt sich, dass Männer in Deutschland wesentlich kapitalistischer eingestellt sind als Frauen. Für Protestantismus konnte innerhalb Deutschlands kein Effekt auf kapitalistische Einstellungen gefunden werden, jedoch ein (sogar relativ starker) Effekt der Region der historisch protestantischen Länder mit einem Beta-Koeffizienten von 0,129, signifikant auf dem 0,01-Niveau. Bei der Vorstellung individueller Verantwortung beziehungsweise den kapitalistischen Einstellungen in der Sozialpolitik lag der Effekt des Protestantismus im Modell für beide Länder bei 0,034, signifikant auf dem 0,05Niveau. Der größte Effekt ging auch hier von der Nation USA aus und lag bei einem Beta-Koeffizienten von 0,215, signifikant auf dem 0,01-Niveau. Innerhalb der USA lag der Effekt des Protestantismus bei 0,094, signifikant auf dem 0,01-Niveau. Den größten Effekt auf kapitalistische Einstellungen in der Sozialpolitik hatte hier das Alter mit einem Beta-Koeffizienten von 0,120, signifikant auf dem 0,01-Niveau. In Deutschland konnte kein signifikanter Effekt des Protestantismus auf die Vorstellung individueller Verantwortung gefunden werden, jedoch ein (negativer) Effekt der historisch protestantisch geprägten Region mit einem Beta-Koeffizienten von -0,067, signifikant auf dem 0,01-Niveau. Der größte (hier negative) Effekt ging in Deutschland von Arbeitslosigkeit aus. Arbeitslose sind demnach weniger von der Vorstellung individueller Verantwortung überzeugt als andere (Beta-Koeffizient -0,116, signifikant auf dem 0,01-Niveau). Für die starken Ergebnisse hinsichtlich des Zusammenhangs von Protestantismus und Kapitalismus führt Valeri (2017: 251, Zeilen 8-15) zwei mögliche Gründe auf. Zum einen sagt er, es könne sein, dass der prote-
3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
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stantische Glaube in den USA stärker und expliziter gelebt werde als in Zentraleuropa, und dass man möglicherweise deshalb die Beziehung zwischen Protestantismus und Kapitalismus in Amerika einfacher sehen beziehungsweise feststellen könne. Als zweiten Grund nennt er, dass Amerikaner dem Kapitalismus mehr vertrauen als Europäer. Die starken Ergebnisse seien demnach sowohl auf religiöse Gründe als auch auf mehr Vertrauen seitens der Amerikaner in das System der freien Marktwirtschaft zurückzuführen. Als Grund dafür, warum Amerikaner so viel kapitalistischer sind als Deutsche, führt Valeri (2017: 251, Zeilen 18-19) an, dass die politischen Strukturen in den USA die Schichtenbildung und die ungleiche Verteilung von Wohlstand in den USA nicht so stark ausfallen ließen wie anderswo – zumindest bis vor circa 20 Jahren. Kapitalismus hat demnach geholfen, eine starke Mittelklasse zu bilden. Dies könne teilweise mit dem wirtschaftlichen Raum, natürlichen Ressourcen und auch neuen Industrien zu tun haben, die dem Kapitalismus erlaubten, in verschiedene Bereiche der Gesellschaft einzudringen und Möglichkeiten für Arbeit zu schaffen, vielleicht sogar mehr als in Europa. Jedoch sei die Schichtenbildung mit dem post-industriellen und dem finanziellen Kapitalismus viel schlimmer geworden. Deshalb werde gerade in den vergangenen fünf Jahren viel über Ungleichheit gesprochen, und deshalb versuchten führende Demokraten, zum Beispiel Bernie Sanders und Elisabeth Warren, wieder Schutzmechanismen gegen eine solche Ungleichverteilung einzusetzen. Sie betreffen etwa einen höheren Mindestlohn, eine College-Ausbildung für alle, Gesundheitsfürsorge für alle. Dass diese Themen nun diskutiert werden, sei eine Folge des sinkenden Vertrauens in Kapitalismus seitens der demokratischen Linken. Dennoch, merkt Valeri (2017: 252, Zeilen 39-40) an, sei das Vertrauen in Privatbesitz und Privatwirtschaft noch immer hoch. Was die kapitalistischen Einstellungen in der Sozialpolitik beziehungsweise den Aspekt individueller Verantwortung angeht, oder auch die Frage, warum nur im Modell für beide Länder sowie für die USA entsprechende Effekte gefunden wurden und nicht in Deutschland, verweist Valeri (2017: 254, Zeile 122) auf die protestantische Theologie, die einen Sinn für Verantwortung stärke. Demnach ist man ein Individuum vor Gott und vor seinen eigenen moralischen Verpflichtungen. Zugleich bezieht er sich auf die Abwesenheit eines umfassenden staatlichen Sozialsystems, das zusätzlich einen moralischen Sinn für individuelle Verantwortung fördert. Was die Regierung in den USA tue, sei minimal, erklärt er: Jeder zahlt selbst (und teilweise sehr viel) für seine Universitätsbildung, Gesundheitsfürsor-
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3. Empirische Analyse
ge, Wohnung. Er erklärt: „I think in America the sense is that there is less of a government structure provision which breeds more of a sense of individual responsibility.” (Valeri 2017: 254, Zeilen 129-131) Dass ältere Amerikaner individuelle Verantwortung mehr schätzen als Jüngere, während es in Deutschland umgekehrt ist, war für Valeri (2017: 254, Zeile 135) äußerst interessant. Er erklärte diesen Effekt ebenfalls mit der Mentalität des Kalten Krieges, mit der die ältere Generation der Amerikaner aufwuchs. Demnach gab es nur den amerikanischen welfare capitalism auf der einen Seite und totalitären Kommunismus auf der anderen Seite. Dies erklärt ihm zufolge, dass ältere Amerikaner bis heute individuelle Verantwortung stark schätzen, viel stärker noch als Jüngere, die nicht mehr mit dieser Mentalität aufwuchsen. Hinsichtlich der Frage, ob die Ergebnisse zum Kapitalismus die WeberThese bestätigen, gibt Pollack (2018: 258, Zeile 23) zu bedenken, dass die Ergebnisse des Protestantismus zwar signifikant, aber doch eher schwach seien. Er empfiehlt daher, diese Effekte nicht zu überschätzen, sondern stattdessen vielleicht eher auf die stärkeren oder jeweils stärksten Effekte der Analysen (zum Beispiel nationale Unterschiede oder das Alter) zu schauen und diese dann zu interpretieren. Die Weber-These sieht er hinsichtlich der Ergebnisse insofern auch nur als „schwach bestätigt“ (Pollack 2018: 258, Zeile 16) an. Die Analyse zeige eben vor allem, dass sich die scharfen Differenzen zwischen den Konfessionen insbesondere in Deutschland deutlich abgeschwächt haben. Allerdings lassen sie sich teilweise noch nachweisen, obgleich sie sich in Deutschland sogar stärker in den ehemals dominant protestantischen Regionen zeigen ließen als direkt durch den Protestantismus. Er betont hier deutliche Unterschiede zu den USA, wo sich die Effekte bis heute noch deutlich besser nachweisen ließen, was sich in der Bejahung des Kapitalismus, Wettbewerb, Berufsethik zeigt: „Für die USA kann man diese These noch eher bestätigen als für Deutschland. In Deutschland sieht man, dass die Prägekraft der Konfessionen zurückgegangen ist.“ (Pollack 258, Zeilen 31-34) Als ein starkes Ergebnis der Analyse schätzte er den Effekt der Nation auf kapitalistische Einstellungen ein, wonach Amerikaner wesentlich kapitalistischer sind als Deutsche. Ihm zufolge gibt es in den USA ein starkes Bewusstsein dafür, dass man im Wettbewerb miteinander steht und dass der Einzelne für sich selbst verantwortlich ist. Das hängt demnach damit zusammen, dass man den Hedonismus äußerst kritisch sieht, und dass man Arbeit als eine Verpflichtung und als eine Aufgabe ansieht, und das viel stärker als in Deutschland.
3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
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Ich würde sagen, das ist Ausdruck eines entwickelten Individualismus in den USA, die Bejahung individueller Verantwortung. [. . . ] Ich würde sagen, die Ergebnisse sprechen vor allen Dingen dafür, dass dem Einzelnen viel zugetraut wird, aber auch viel zugemutet wird, und dass man die Verantwortung des Einzelnen enorm hoch schätzt. Das wäre meine Lesart dieser Ergebnisse. (Pollack 2018: 259, Zeilen 45-53) Als Begründung dafür, dass in Deutschland kein Effekt des Protestantismus auf Kapitalismus (in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht) gefunden werden konnte, führt Pollack (2018: 264, Zeilen 261) ebenfalls an, dass die Prägekraft der Konfessionen sich abgeschwächt hat. „Das ist für mich der entscheidende Punkt. Und das war bestimmt zu Max Webers Zeiten deutlich anders.“ (Pollack 2018: 264, Zeilen 261-262) Dies sei auch an anderen Stellen ersichtlich, beispielsweise bei Unterschieden im Wahloder auch im Heiratsverhalten zwischen Protestanten und Katholiken, wo es ebenfalls kaum Differenzen gebe. „Sie haben jetzt die Differenzen mehr zwischen den hochkirchlich Engagierten oder stark kirchlich Verbundenen auf der einen und den nicht so stark kirchlich Verbundenen auf der anderen Seite, aber nicht zwischen Protestantismus und Katholizismus.“ (Pollack 2018: 264, Zeilen 265-269) Dafür, dass Amerikaner individuelle Verantwortung deutlich mehr schätzen als Deutsche, führt Pollack (2018: 265, Zeile 300) auch die unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatssysteme in den beiden Ländern als Begründung an. Er ergänzt, dass auch in Deutschland die Skepsis gegenüber Institutionen sehr hoch sei, allerdings nicht so hoch wie in den USA. In Amerika gehe diese Skepsis jedoch viel stärker damit einher, dass man auch bereit ist, aktiv zu werden und sich um kommunale Belange selbst zu kümmern, also individuell auch Verantwortung zu übernehmen: Man erwartet weniger vom Staat, man mutet dem Einzelnen mehr zu, man ist aber auch bereit, mehr zu tun, wenn man zum Beispiel an soziales Engagement denkt. Freiwilligenarbeit ist ja in den USA höher als in Deutschland, als überhaupt in Westeuropa. Und das würde ich in diesen Zusammenhang mit hineinbringen. Dass man sehen kann, dass dem Einzelnen mehr zugemutet wird, aber dass er sich auch mehr engagiert, bereit ist, sich mehr in die Gemeinschaft einzubringen, aber auch, für sein eigenes Leben einzustehen. Diese Ideologie des American Way of Life, das spiegelt sich hier wieder, in diesen Länderdifferenzen. (Pollack 2018: 265, Zeilen 305-315)
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3.7.2
3. Empirische Analyse
Individualisierung und individualisierte Beziehung zu Gott
In diesem Unterkapitel werden die Ergebnisse vom zweiten Teil der Untersuchung, den Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen ausgehend von der Individualisierung beziehungsweise der individualisierten Beziehung zu Gott, interpretiert und verglichen. Ähnlich wie oben wird dieser Punkt nochmals aufgeteilt: In Kapitel 3.7.2.1 geht es um Individualisierung und Institutionenkritik, während in Kapitel 3.7.2.2 nur die individualisierte Beziehung zu Gott behandelt wird. 3.7.2.1 Individualisierung und Institutionenkritik Zunächst werden die Wirkungen des Protestantismus auf Individualisierung und Institutionenkritik diskutiert. Entsprechend der Ergebnisse der Faktorenanalyse in Tabelle 24 werden erst die Wirkungen auf die Skepsis gegenüber Institutionen, dann auf die Wertschätzung von Demokratie und abschließend auf Individualisierung und Skepsis gegenüber Kirchen dargestellt. 3.7.2.1.1 Skepsis gegenüber politischen Institutionen Bei der Skepsis gegenüber politischen Institutionen konnte in den Modellen für beide Länder sowie für Deutschland ein negativer Effekt des Protestantismus gefunden werden. Im Modell für beide Länder lag er bei einem Beta-Koeffizienten von -0,048 und im Modell für Deutschland bei -0,077, jeweils signifikant auf dem 0,01-Niveau. Protestanten vertrauen demnach politischen Institutionen mehr als andere. Im Modell für die USA war der Effekt des Protestantismus nicht signifikant. Im Modell für beide Länder ging der größte Effekt von der Nation aus (Beta-Koeffizient 0,201, signifikant auf dem 0,01-Niveau). Amerikaner sind demnach bis heute wesentlich skeptischer gegenüber politischen Institutionen als Deutsche. Innerhalb der USA ging der größte Effekt vom Geschlecht aus (BetaKoeffizient 0,084, signifikant auf dem 0,01-Niveau): Männer sind demnach skeptischer gegenüber politischen Institutionen als Frauen. Innerhalb Deutschlands geht der größte Effekt vom Alter aus (Betakoeffizient von 0,086, signifikant auf dem 0,01-Niveau). Ältere vertrauen Institutionen also mehr als Jüngere. Auf die Frage, warum Protestanten politischen Institutionen mehr zu vertrauen scheinen als andere, antwortet Valeri (2017: 255, Zeilen 148-150), dass Protestanten das Gefühl haben, dass sie an diesen Institutionen teil-
3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
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haben, dass sie gehört werden, und das hänge wiederum mit ihrer eigenen religiösen Erfahrung zusammen. In Protestant churches, common people have a great say in how the churches are run, how the pastors are chosen and what the pastors do. At the same time, that conveys a sense that large institutions, including civic institutions, are comprised of a collective voice. So trusting institutions in America is a sense that we know these people, we have elected them, we participate, we have voice. (Valeri 2017: 255, Zeilen 150-156) Dieses Vertrauen werde jedoch in den vergangenen zehn Jahren zunehmend herausgefordert. Gründe dafür seien institutioneller Rassismus und in gewisser Weise Korruption. Das Vertrauen in die nationale Regierung sei daher sehr gering und die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten mache die meisten, besonders junge Menschen, sehr misstrauisch gegenüber der Ansammlung von Macht in den Händen von nur Wenigen. Während Protestantismus also ein Gefühl von Teilhabe, das auf die Regierung übertragen wird, vermittle, habe sich die Regierung in den vergangenen fünf oder zehn Jahren und vor allem mit der Wahl Trumps immer mehr von der „Stimme“ der Menschen entfernt. Wenn die Regierung handle, ohne auf die Bevölkerung zu hören, schwinde das Vertrauen, so Valeri (2017: 255, Zeilen 164-167). Auf Nachfrage, was er genau mit Korruption meine, erklärte Valeri (2017: 255, Zeilen 171-182) den Ablauf von Wahlen in den USA, bei dem Politiker im Wahlkampf und bei ihren Kampagnen meist finanziell stark von bestimmten großen Konzernen unterstützt werden. Dies gebe Anlass zu der Vermutung, dass die Kandidaten später, wenn es um Gesetzgebung gehe, im Sinne dieser Konzerne handeln. Dies sei nicht illegal, also handle es sich streng genommen nicht um (strafbare) Korruption. Dennoch gebe es Debatten darüber, ob es möglich sein sollte, dass Konzerne so viel Geld in politische Kampagnen investieren. Auf die Frage, warum Amerikaner ihren Institutionen stärker misstrauten als Deutsche, antwortete Valeri (2017: 256, Zeilen 185-186) eher allgemein, dass Amerikaner Umfragen zufolge Bildungsinstitutionen, Krankenhäusern und wissenschaftlichen Institutionen trauen. Außerdem vertrauten Protestanten ihren Kirchen, Katholiken hingegen nicht. Dies liege an den Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche.31 Politischen Institutionen hingegen werde immer weniger getraut, und zwar aufgrund 31 Dem widerspricht Pollack (2018: 272, Zeilen 567-568) deutlich, was weiter unten aufgeführt
wird.
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3. Empirische Analyse
der bereits aufgeführten Gründe (die Regierung unter Trump entfernt sich von der Bevölkerung). Für das gegenwärtige Misstrauen führt Valeri also vor allem aktuelle Gründe an, weniger die Geschichte Amerikas als einer Nation, die sich aus einem Misstrauen (gegenüber der Kolonialmacht England) heraus gegründet hat. Ihm zufolge hat die Geschichte Amerikas im Gegenteil eher geholfen, ein Gefühl von Vertrauen aufzubauen, etwa durch gelungene Reformen wie das Civil Rights Movement oder das Frauenwahlrecht. Diese Reformen zeigten, dass die Menschen etwas verändern konnten. Wie oben bereits kurz skizziert, betont Pollack (2018: 265, Zeilen 300-305) hinsichtlich der Skepsis gegenüber Institutionen zunächst, dass diese auch in Deutschland hoch sei, wenn auch in seinen Augen nicht so hoch wie in den USA. Auf die Frage, warum Protestanten Institutionen mehr vertrauen als andere, gibt er zunächst zu bedenken, dass eine kausale Herleitung hier schwierig sei (vgl. Pollack 2018: 266, Zeile 319). Zugleich führt er an, dass sich dies eventuell daraus ableiten lassen könnte, dass Protestantismus aufgrund der Synoden beziehungsweise der synodalen und presbyterialen Ordnungen eine wirkliche Erfahrung mit Demokratie habe. Dadurch gebe es auch quasi eine Einigung in demokratische Verfahren. Ebenso sei es typisch für den Protestantismus, dass jedem Einzelnen mehr religiöses Gewicht zukommt als im Katholizismus. Dahinter stehe die Unmittelbarkeit der Beziehung des Individuums zu Gott. Pollack (2018: 266, Zeile 327) spricht daher von einer „Affinität zwischen Protestantismus und Demokratie“. Dies sollte in seinen Augen jedoch auch nicht überzeichnet werden, waren doch die protestantischen Kirchen im 16. und 17. Jahrhundert auch noch autoritäre Institutionen, die sich erst im 19. Jahrhundert wandelten. Auch sei die Entwicklung in den USA eine ganz andere gewesen, wo sich die protestantischen Gemeinden ja von unten entwickelt haben. Dies sei „natürlich ein Hinweis auf demokratische Prozesse in den Kirchgemeinden. Und insofern würde ich sagen, gibt es da eine Nähe zwischen Protestantismus und Demokratie.“ (Pollack 2018: 266, Zeilen 333-336) In Europa sei diese Nähe jedoch erst später entstanden, im 19. Jahrhundert. Zuvor seien sie noch viel stärker Herrschaftsinstitutionen gewesen aufgrund der Nähe von kirchlichen und politischen Institutionen (Thron und Altar). Für Pollack ist es hier sehr interessant zu sehen, dass Institutionen sich so stark wandeln können. Wenn Sie sich evangelische Kirchen heute anschauen, sind das professionell und organisatorisch hochintegrierte Einhei-
3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
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ten, aber zugleich gibt es sehr viel an Dialog, sehr viel an Offenheit, sehr viel an Flexibilität, und das steht in einem starken Widerspruch zu dem, was die evangelischen Kirchen im 16., 17. Jahrhundert ausmachten. Da waren die Konfessionskirchen im Grunde genommen eigentlich Disziplinaranstalten. Das sind sie natürlich überhaupt nicht mehr. Sie haben sich wirklich in meinen Augen um 180 Grad gedreht, stärker als die katholische Kirche. (Pollack 2018: 266, Zeilen 343-351) Dieser Wandel sei mit der Synodalverfassung im 19. Jahrhundert in Gang gekommen, was wiederum mit der Aufklärung zusammenhängt (vgl. Pollack 2018: 267, Zeile 354). Zuvor, also im 16. und 17. Jahrhundert, habe die Kirche stark in alle gesellschaftlichen Bereiche hineingewirkt, zum Beispiel in das öffentliche, politische oder rechtliche Leben, die Familien, sogar die Gewissen oder auch die Frage, wie man seinen Beruf ausübt. Im 18. Jahrhundert jedoch nehme diese starke Kraft der gesellschaftlichen Durchdringung deutlich ab. Der Einzelne werde nicht mehr gefragt, wie weit er dem Willen Gottes entspreche, sondern umgekehrt werde gefragt, was die Kirche beziehungsweise was Gott tue, damit die individuellen Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden könnten. Hierbei handle es sich um eine Drehung von einer theologischen Orientierung auf eine anthropologische. Dass der Mensch mehr und mehr in den Mittelpunkt komme, habe wiederum Konsequenzen für das Selbstverständnis der Kirchen und für ihren institutionellen Charakter (vgl. Pollack 2018: 267, Zeilen 366-368). Dies zeige sich zum Beispiel daran, dass die soziale Arbeit der Kirchen mit Diakonie und Caritas wesentlich an Bedeutung gewinne, ebenso wie die Übernahme politischer Anliegen und Bildungsaufgaben durch die Kirche. Während die Kirche also noch im 16. und 17. Jahrhundert viel stärker in die ständische Gesellschaft eingebunden war, wird sie später eine viel stärker gesellschaftsoffene, dialogisch orientierte Institution. Dies passe auch zur Nähe von Protestantismus und Demokratie. Auf die Fragen, warum Amerikaner ihren Institutionen stärker misstrauen als Deutsche, und warum sie Kirchen stärker vertrauen, antwortet Pollack mit einem Rückgriff auf die Geschichte: „Die USA sind entstanden aus einem Misstrauen gegenüber Institutionen. Die Losreißung der Kolonien von England ist ein Akt der Selbstermächtigung, und das geht zusammen mit einer Kritik an den Institutionen, am Königtum vor allen Dingen.“ (Pollack 2018: 268, Zeilen 397-401) Die Kirchen seien dabei von vorneherein nicht auf der Seite des Königs, sondern auf der Seite der Ge-
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3. Empirische Analyse
sellschaft gewesen. Während die Kirchen in Europa verbunden gewesen seien mit der politischen Herrschaft, sind sie in den USA immer „Institutionen auf der Seite derjenigen, die sich gegenüber den Institutionen abgrenzen.“ (Pollack 2018: 268, Zeilen 404-406) Dieses Misstrauen gegenüber politischen Institutionen sei bis heute Teil der amerikanischen Ideologie. Man sehe das beispielsweise am Erfolg des Außenseiters Trump gegenüber dem Establishment der politischen Eliten. Die Kirche jedoch werde zu einem großen Teil in den USA nicht als Institution wahrgenommen. Sie wird eher als Gemeinschaft, als Gemeinde, mehr presbyterial verfasst oder kongregational verfasst verstanden. In den in den USA starken presbyterianischen Gemeinden gebe es einen Ältestenrat. Dies sei demokratisch gedacht, so Pollack: Wenn man eine neue Gemeinde gründet, gründet man als erstes eine Kirche, stellt einen Pfarrer. Und das ist der Weg, wie Kirche entsteht, Kirchen entstehen von unten her aus der Gemeinschaft heraus. Währenddessen in Europa Kirchen etwas sind, das wie der Staat die Gemeinden verwaltet. Dann gibt es die Parochien, die einzelnen Gemeinden, und die werden versorgt. Da werden die Pfarrer abgeordnet durch die Kirchenleitung, kommen dann in die Gemeinden. Die Gemeinde hat auch ein gewisses Mitspracherecht, aber das ist eine ganz andere Struktur. Das ist mehr eine hierarchische Struktur, und in den USA haben wir diese Bewegung von unten. Und die ist natürlich auch gestützt durch die Skepsis gegenüber allen hierarchischen Institutionen. Und das zeigt sich hier deutlich in den Daten. (Pollack 2018: 268, Zeilen 414-426) Auf den schwachen positiven Effekt von den historisch protestantischen Ländern auf die Skepsis gegenüber politischen Institutionen angesprochen (Beta-Koeffizient von 0,051, signifikant auf dem 0,05-Niveau), erklärt Pollack (2018: 270, Zeile 475), dass er diesen nicht hoch schätzen würde und an dieser Stelle eher vorsichtig wäre. Er empfahl dies, zumal in der vorliegenden Arbeit dieses Erbe der protestantischen Länder überraschenderweise an vielen anderen Stellen nicht so gut nachgewiesen werden konnte. Sein Rat war daher, sich auf die großen Effekte zu konzentrieren und bei den kleinen Effekten eher zu fragen: Warum sind diese Effekte nicht größer? Dies könne dann wiederum mit der bereits angesprochenen Nivellierung der konfessionellen Differenzen erklärt werden. Nichtdestotrotz könne es sein, dass in den traditionell katholischen Ländern der Autoritätsglaube
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noch stärker entwickelt sei, während die Protestanten sich aus dem protestantischen Erbe heraus als selbständig verstehen, und sich dies in diesen Zahlen ausdrücke. Dennoch riet er hier aus den oben genannten Gründen zur Vorsicht. In diesem Sinne sollte hier noch einmal hervorgehoben werden, dass die Effekte des Protestantismus beziehungsweise der historisch protestantisch geprägten Region, die gerade innerhalb Deutschlands zum Themenkomplex Individualisierung und Institutionenkritik gefunden wurden (siehe Tabelle 27), tatsächlich eher schwach ausgeprägt sind (mit Ausnahme des Effekts des Protestantismus auf die Skepsis gegenüber Kirchen, der in der Tat relativ stark ist). Insofern könnte man tatsächlich gut fragen, wieso diese Effekte nicht größer sind. Die Nivellierung der konfessionellen Differenzen und der Rückgang der Prägekraft der Konfessionen scheinen hierfür schlüssige Argumente zu sein. Dass Protestanten politischen Institutionen mehr vertrauen als andere, könnte auch folgendermaßen interpretiert werden: Protestantismus wirkt sich über das Konzept von Gemeinden (beziehungsweise der amerikanischen congregations) positiv auf die Bildung von Sozialkapital, also auf eine Kultur des Vertrauens und der Netzwerke, aus. Ein ähnlicher Effekt könnte sich hier – übertragen auf Institutionen – zeigen. 3.7.2.1.2 Wertschätzung von Demokratie Was die Wertschätzung von Demokratie anbelangt, so wurde im Modell für beide Länder (Beta-Koeffizient von 0,072, signifikant auf dem 0,01-Niveau) und für die USA (Beta-Koeffizient von 0,089, signifikant auf dem 0,01-Niveau) ein positiver Effekt des Protestantismus gefunden. In Deutschland gab es keinen signifikanten Effekt. Im Modell für beide Länder ging der stärkste Effekt von der Nation aus: Demnach schätzen Amerikaner die Demokratie deutlich weniger als Deutsche (Beta-Koeffizient von -0,387, signifikant auf dem 0,01-Niveau). Innerhalb der USA ging der größte Effekt vom Alter aus: Ältere schätzen die Demokratie mehr als Jüngere (Beta-Koeffizient von 0,274, signifikant auf dem 0,01-Niveau). Innerhalb Deutschlands geht der stärkste Effekt ebenfalls vom Alter aus. Der Betakoeffizient liegt hier bei 0,142, signifikant auf dem 0,01-Niveau. Für diese Effekte spricht zunächst einmal die Nähe von Protestantismus und Demokratie, die oben im Verhältnis zur Skepsis gegenüber Institutionen (Kapitel 3.7.2.1.1) bereits ausführlich dargestellt wurde. Dies passt auch zu Valeris Ausführungen zur Frage nach dem positiven Effekt von Protestantismus auf Demokratie: „I do have a sense that Protestantism or
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3. Empirische Analyse
the way that Americans participate in Protestantism today gives the sense that there is not a distant high hierarchy but a very present, open, participatory system.” (Valeri 2017: 256, Zeilen 202-205) Auf die Frage, warum dieser Effekt nur im Modell für beide Länder und für die USA, nicht jedoch für Deutschland gefunden wurde, antwortet Pollack (2018: 270, Zeilen 504-506) wieder mit Verweis auf die konfessionellen Differenzen, die sich in Deutschland mit der Zeit nivelliert haben, und dem damit verbundenen Rückgang der Prägekraft des Protestantismus. Dass die Demokratie in den USA generell weniger geschätzt wird als in Deutschland, ist für Pollack (2018: 268, Zeile 429) ein Hinweis darauf, dass die Demokratie in den USA als etwas „Wesensfremdes“ wahrgenommen wird: Wenn sie organisiert wird, wenn man wählen soll, wenn man sich an bestimmten Verfahren beteiligen soll, und wenn man da das Establishment in Washington zu wählen hat, da ist man eher skeptisch. Sie wissen ja, dass in den USA die Wahlbeteiligung bei unter 50 Prozent liegt. (Pollack 2018: 268, Zeilen 431435) 3.7.2.1.3 Individualisierung Auf den Faktorwert von Individualisierung gab es einen negativen Effekt des Protestantismus, und zwar im Modell für beide Länder sowie im Modell für die USA. (Im Modell für Deutschland war der Effekt nicht signifikant.) Im Modell für beide Länder lag er in Höhe eines Beta-Koeffizienten von -0,075, in den USA bei -0,138 (jeweils signifikant auf dem 0,01-Niveau). Protestanten sind demnach weniger individualistisch als andere. Im Modell für beide Länder ging der stärkste Effekt von der Nation USA aus: Amerikaner sind demnach deutlich weniger individualistisch als Deutsche (Beta-Koeffizient von -0,408, signifikant auf dem 0,01-Niveau). Innerhalb der USA geht der größte Effekt von Protestantismus selbst aus. Innerhalb Deutschlands geht der größte (negative) Effekt von niedriger Bildung aus: Menschen mit niedriger Bildung sind demnach weniger individualistisch als andere. Auch gibt es einen schwachen negativen Effekt der Region (Beta-Koeffizient von -0,064, signifikant auf dem 0,01-Niveau). Menschen aus den historisch protestantischen Ländern scheinen also weniger individualistisch zu sein als andere. Hierzu ist anzumerken, dass den beiden Interviewpartnern vorab zu Individualisierung und Skepsis gegenüber Kirchen andere Berechnungen
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vorgelegt wurden, die auf der Faktorenanalyse in Tabelle 23 aufbauten. Hier waren Individualisierung und Skepsis gegenüber Kirchen noch nicht voneinander getrennt, was erst im Anschluss an das Gespräch mit Pollack (2018) auf dessen Rat hin erfolgte. Insofern bezieht sich Pollack im Interview teilweise auf Regressionskoeffizienten, die in den neuen Berechnungen so nicht mehr vorkommen. Dieser Hinweis ist insbesondere für die Lektüre des Interviews im Anhang von Bedeutung. Um Verwirrung zu vermeiden, werden die Äußerungen, die sich auf alte Berechnungen beziehen, hier nach Möglichkeit nicht mehr zitiert, beziehungsweise es wird stattdessen auf die neuen Berechnungen Bezug genommen. Die Frage, warum Protestanten entgegen der Erwartung weniger individualistisch sein könnten als andere, beantwortet Valeri (2017: 257, Zeilen 228-231) mit einer eher grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Vermutung eines Zusammenhangs zwischen beidem. Ihm zufolge haben auch Protestanten eine kollektive Mentalität, jedoch eine andere Art kollektiver Mentalität. Bei ihnen ginge es, anders als bei den Katholiken, um kleine Gruppen, nicht um eine sehr große Gruppe. Zwar werde Individualisierung als eine soziale Norm wahrgenommen, jedoch sei doch jeder, der sich zu diesem Wert bekenne, in gewisser Weise in die Gesellschaft eingebunden. Es sei allerdings wahr, dass Amerikaner häufig über Individualisierung sprächen, und dass ihnen dabei häufig die Vorstellung von Individuen vorschwebe, die ihre Entscheidungen für sich selbst und im eigenen Bewusstsein träfen. An dem Ergebnis, dass Protestantismus auf Individualisierung eher einen negativen Effekt hat, zeigte Pollack (2018: 278, Zeilen 800-802) sich interessiert. Er sagt: „Das fand ich ja das interessanteste Ergebnis an Ihren Untersuchungen, dass es eine Spannung gibt zwischen Individualismus, individuellen Werten auf der einen Seite und Vertrauen zur Kirche.“ (Pollack 2018: 261, Zeilen 136-139) Zugleich war er jedoch nicht überrascht, da sich dies mit eigenen Berechnungen von ihm (vgl. Pollack 2018: 271, Zeilen 525-528) deckt. 3.7.2.1.4 Skepsis gegenüber Kirchen Wie oben gezeigt wurde, gibt es einen starken negativen Effekt des Protestantismus auf die Skepsis gegenüber Kirchen. Das zeigt sich in allen drei Modellen (im Modell für beide Länder liegt er bei einem BetaKoeffizienten von -0,228, im Modell für die USA bei -0,267, im Modell für Deutschland bei -0,211, alle signifikant auf dem 0,01-Niveau). Der größte Effekt im Modell beider Länder geht von der Nation aus (-0,327, signifikant
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3. Empirische Analyse
auf dem 0,01-Niveau). Amerikaner vertrauen Kirchen also deutlich stärker als Deutsche. Innerhalb der USA sowie Deutschlands gehen die größten Effekte vom Protestantismus aus. In Deutschland gibt es einen schwachen positiven Effekt der Region (0,084, signifikant auf dem 0,01-Niveau). Menschen aus den historisch protestantischen Ländern sind also Kirchen gegenüber skeptischer als andere.32 Warum dieser Effekt von Protestantismus auf Individualisierung negativ ist, könne mit der Kontrastgruppe zusammenhängen, erklärt Pollack (2019: 261, Zeile 126). So könne es sein, dass sich in den negativen Ergebnissen vor allem eine Abwehr der Protestanten gegen eine Missachtung der Kirche ausdrücke. Dieser Lesart wird hier gefolgt: Protestanten scheinen heute nicht grundsätzlich skeptisch gegenüber Kirchen zu sein, sondern (ihren) Kirchen durchaus zu vertrauen. Die weiteren Berechnungen zum Katholizismus zeigten dabei, dass Katholiken Kirchen in Deutschland mehr vertrauen könnten als Protestanten, während es in den USA umgekehrt ist. Als weitere mögliche Erklärung für den negativen Effekt von Protestantismus auf die Skepsis gegenüber Kirchen in den USA nannte Pollack: Ich habe [. . . ] die Erklärung, dass der Protestantismus in den USA eine sehr stark kirchliche Gestalt hat. Er ist damit verbunden, dass man in die Kirche geht. Auch der Bibelglaube ist stark ausgeprägt. [. . . ] Die Bindung an die Kirche ist stark, die Involvierung des Einzelnen in das kirchliche Leben, das Engagement. (Pollack 2018: 261, Zeilen 131-136) Insofern könne es sein, dass sich (ähnlich wie oben bereits für das Modell beider Länder angedeutet) in der starken Ablehnung einer Skepsis gegenüber Kirchen eigentlich eine Kirchenbindung ausdrücke. Auf die Frage, warum Amerikaner ihren Kirchen mehr vertrauen als Deutsche, antwortet Valeri (2017: 256, Zeilen 208-214), dass dies an der Abwesenheit einer Staatskirche in den USA liegen könne. Dadurch gebe es ein Gefühl dafür, dass man sich freiwillig einer Kirche anschließen könne, ja, dass man eine eigene Kirche gründen könne, wenn einem die gegenwärtige, in der man gerade vielleicht Mitglied ist, nicht gefalle. Der Staat war dabei nicht involviert. All dies, zusammen mit dem, was er „religious creativity in building new denominations” (Valeri 2017: 256, Zeile 211) nennt, habe dazu beigetragen, dass historisch ein Gefühl dafür entstehen konnte, 32 Hierzu
wurde jedoch gezeigt, dass der Effekt des ehemaligen Ostdeutschlands deutlich stärker sein könnte, siehe Kapitel 3.5.2.1.5
3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
223
dass Kirchen vertrauenswürdig sind, „because they are ours, because we made them.“ (Valeri 2017: 256, Zeile 213) Dieses Vertrauen sei jedoch in den vergangenen Jahren etwas zurückgegangen. Dies liege zum einen an den Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche, zum anderen an den sogenannten televangelists, also Evangelikalen, die mit ihren Gottesdiensten über das Fernsehen viele Menschen erreichen. Valeri erklärt: I think more recently in the last 20 years or so the confidence has fallen some, again because of the scandals in the Catholic Church, but also the televangelists, the Prosperity gospel, preachers asking for lots of money. That’s a small segment, but it has created a negative image, and has contributed to the rise of the nones, the rise of disbelief, unbelief in the younger generation. (Valeri 2017: 256, Zeilen 215-221) Pollack (2018: 271, Zeile 531) hat eine ähnliche Antwort dafür, dass Amerikaner ihren Kirchen mehr vertrauen als Deutsche. Für ihn hängt dies, ähnlich wie oben erläutert, mit der Kirchenbindung zusammen. Diese sei in den USA viel höher, ebenso wie auch der Grad der Aktivität. In Amerika würden Kirchen, anders als in Deutschland oder in Westeuropa (teilweise auch in Osteuropa) nicht als Herrschaftsinstitutionen wahrgenommen. In Deutschland hingegen haben sie bis heute mit dem Erbe des Staatskirchentums zu kämpfen. Da sie bis 1918 Staatskirchen waren, wurden sie als politische Institutionen wahrgenommen. Daher gab es schon Ende des 19. Jahrhunderts eine starke Kluft zwischen Arbeiterschicht und Unterschichten in ihrem Verhältnis zur Kirche. Pollack erklärt dies mit folgenden Worten: So eine Art, in der Kirche zu sein, ohne die Kirche. Man trat nicht aus der Kirche aus, obwohl man das ab 1867 durfte. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte man austreten, das hat man nicht gemacht. Man wollte schon noch, dass die Kinder getauft werden, aber man ging nicht mehr hin. Das trifft auf die Unterschichten zu. Und die Oberschichten, die Beamtenschaft, vor allem diejenigen, die in der Nähe zu den staatlichen Institutionen, zu der Verwaltung und zum Königshof und Kaiserhof waren, die waren viel stärker kirchlich gebunden. Und das spiegelt nochmal diese Nähe der Kirche zur politischen Herrschaft wieder. (Pollack 2018: 271, Zeilen 541-551)
224
3. Empirische Analyse
Dass Protestanten ihren Kirchen mehr vertrauen als andere, könnte für Pollack (2018: 271, Zeilen 515-516), wie oben bereits ausgeführt, vor allem ein Effekt der Kirchenmitgliedschaft sein. Auf die Frage, inwiefern, wie Valeri (2017: 256, Zeile 187) andeutete, auch die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche hier eine Rolle spielen könnten, reagiert Pollack (2018: 272, Zeilen 567-568) hingegen eher skeptisch. Er habe einmal untersucht, inwieweit sich die Austrittsrate bei den Katholiken nach Bekanntwerden der Skandale im Jahr 2010 möglicherweise erhöht hat, und eine geringe Erhöhung festgestellt. Grundsätzlich jedoch sei die Kirchenbindung äußerst komplex und von so vielen, meist langfristigen Faktoren abhängig (zum Beispiel Erziehung, Sozialisation etc.), dass es hier schwierig sei, dies an eher kurzfristigen Ereignissen festzumachen. 3.7.2.2 Individualisierte Beziehung zu Gott In diesem Unterkapitel werden die Ergebnisse zum Aspekt der individualisierten Beziehung zu Gott interpretiert und verglichen. Dabei werden sie anhand der beiden in der Analyse verwendeten Fragen in zwei Unterpunkte unterteilt. Im ersten geht es um den eigenen Weg, mit Gott in Verbindung zu treten, im zweiten um das Bibelverständnis. 3.7.2.2.1 Eigener Weg, mit Gott in Verbindung zu treten Die Analyse ergab zunächst, dass die Vorstellung einer individualisierten Beziehung zu Gott in den USA stärker befürwortet wird als in Deutschland. Dass sie unter Protestanten stärker verbreitet ist als unter anderen, trifft nur für Deutschland zu. In den USA ist es umgekehrt. Für die unterschiedlichen Regionen ließen sich die erwarteten Effekte nicht feststellen: In den USA gibt es kaum Unterschiede; in Deutschland geben in den historisch katholischen Regionen mehr Menschen an, ihren eigenen Weg zu haben, mit Gott in Verbindung zu treten, als in den historisch protestantischen Regionen. Im ehemaligen Ostdeutschland ist die Vorstellung weniger verbreitet als im ehemaligen Westen Deutschlands. Auf die Frage, warum er glaube, dass die individualisierte Beziehung zu Gott in den USA eher verbreitet sei als in Deutschland, antwortet Valeri (2017: 257, Zeile 244) zunächst etwas skeptisch. Ihm zufolge hat unter anderem die mystische und die pietistische Bewegung in Deutschland die individuelle Beziehung zu Gott gestärkt. Allerdings glaubt er, dass in den USA mehr darüber gesprochen werde, wegen der freien Marktwirtschaft und der damit verbundenen Kultur individueller Verantwortung. Daher
3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
225
glaube er, dass es in den USA einfach offensichtlicher sei. Eine Aussage, wonach die USA individualistisch sind, Deutschland jedoch eine kollektive Mentalität habe, wollte er aufgrund dieses Unterschieds jedoch nicht treffen. Die Begründung sollte eher dazwischen liegen, so Valeri (2017: 257, Zeilen 254-256). Als Grund dafür, warum die individualisierte Beziehung zu Gott in den USA stärker verbreitet ist als in Deutschland, führt Pollack (2018: 273, Zeile 623) an, es gehöre in den USA dazu, die Kirchenbindung als etwas Hochindividuelles anzusehen. Die meisten Menschen dort ordneten sich der Kirche nicht unter, sondern sagten im Gegenteil, sie hätten etwas davon, in der Kirche zu sein, zum Beispiel würde das Gebet ihnen Hoffnung geben, sie erhielten durch die Mitgliedschaft auch Rat bei der Erziehung ihrer Kinder etc. „Das wird alles hochindividuell interpretiert und das ist natürlich typisch für diese Art der Religiosität, für diese vitale, durchlebte, sehr stark in die Lebensführung eingreifende Religiosität.“ (Pollack 2018: 274, Zeilen 630-633) Ein weiterer Grund könne sein, dass nicht ganz klar ist, was mit der Frage gemessen werde. Ist es grundsätzlich „Ich habe eine Beziehung zu Gott“ oder ist es mehr ein „Meine Beziehung zu Gott ist nicht dadurch geprägt, dass die Kirche mir vorschreibt, wie ich mich zu Gott stelle, sondern dass ich selber darüber entscheide“? Diese beiden Aussagen seien hier vermischt. Aus diesem Grund könnte sich in den hohen Zustimmungswerten in den USA auch einfach eine höhere Kirchenbindung beziehungsweise eine stärkere Religiosität oder auch ein anderes Säkularisierungsniveau zeigen. Die Differenz hier sei wirklich sehr stark, betont Pollack (2018: 274, Zeile 654). „Insofern würde ich sagen, diese beiden Punkte spielen hier gut zusammen, diese höhere Religiosität, und dass man Religiosität als etwas Hochindividuelles versteht.“ (Pollack 2018: 274, Zeilen 659-661) In Deutschland sei das Verhältnis insgesamt zur Religion nicht so leidenschaftlich, nicht so vital wie in den USA. Dafür, dass die individualisierte Beziehung zu Gott in Deutschland von Protestanten stärker geteilt wird als von anderen, während es in den USA andersherum ist, nennt Pollack (2018: 275, Zeilen 671-672) zunächst als Begründung, dass die Protestanten in den USA einfach stark kirchlich seien, in Deutschland hingegen nicht so sehr. Wenn man sage „Ich habe eine Beziehung zu Gott“, gehe dies in Deutschland selbst dort, wo man sich für religiös halte, nicht unbedingt damit zusammen, dass man dann auch die Kirche hoch schätzt. Im Gegenteil sei dies oft sogar spiegelbildlich miteinander verbunden, dass man sage: „Ich kann ja auch ohne die Kirche religiös, christlich sein und ich brauche
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3. Empirische Analyse
die Kirche nicht.“ In den USA sei dies nicht so. Dort gebe es zwar auch diese Skepsis, aber da habe man nicht diese Vorbehalte gegenüber der Kirche. „Es ist eben eine typische Eigenschaft der kirchlichen Bindung in Westeuropa, dass die Kirchen immer auch selbst von den Gläubigen abgewertet werden. Es gehört fast mit zum Habitus.“ (Pollack 2018: 275, Zeilen 680683) Dies sei bei den Katholiken noch stärker als bei den Protestanten, weil man sich auch an der Kirche reibe. In den USA sei man skeptisch gegenüber Staat und Regierung, quasi gegenüber allem, was von oben komme, gegenüber den Hierarchien (vgl. Pollack 2018: 275, Zeilen 684-687). Die Kirchen jedoch seien nicht ein Ausdruck dieser Hierarchie. Dort gebe es zwar überregionale kirchliche Verbände, aber die seien relativ schwach. Das Geld für die Gemeinden komme nicht von dort, sondern von den Mitgliedern. In den USA gehe Religiosität viel stärker auch zusammen mit einer Bejahung der Kirchen als in Westeuropa. Zugleich sei diese Art der Religiosität natürlich hochindividuell. Aber die Kirche ist eben doch nicht so stark etwas, das von außen her oder von oben her in mein Leben eingreift, sondern etwas, das ich selber mache. Und wir machen das. Und wie sie aussieht, das ist letztlich das Ergebnis unserer Gestaltungskraft. Ich glaube, so ein Bild hat man da von Kirche. (Pollack 2018: 275, Zeilen 696-701) Dass die individualisierte Beziehung zu Gott in den historisch protestantischen Teilen Deutschlands weniger stark verbreitet ist als in den historisch katholischen, würde Pollack (2018: 275, Zeile 705) nicht beziehungsweise nur vorsichtig interpretieren. 3.7.2.2.2 Bibelverständnis Die Analyse ergab, dass die Idee, dass die Bibel das tatsächliche Wort Gottes ist, in den USA wesentlich häufiger vertreten wird als in Deutschland. In den USA wird sie auch entsprechend der Erwartung von Protestanten häufiger geteilt als von Katholiken, Konfessionslosen und von anderen. In Deutschland ist es (entgegen der Erwartung) andersherum: Hier halten (wenn auch nur geringfügig) mehr Katholiken die Bibel für das tatsächliche Wort Gottes als Protestanten. Beide Gruppen teilen diese Vorstellung wiederum deutlich stärker als alle andere. Die erwarteten Effekte hinsichtlich der Regionen ließen sich nicht feststellen: In den USA gibt es kaum Unterschiede, in Deutschland sind es
3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
227
entgegen der Erwartung die Menschen aus den historisch katholischen Ländern, die der Vorstellung eher zustimmen als andere. In der ehemaligen DDR teilen die Menschen die Vorstellung wesentlich seltener als im Westen Deutschlands. Dass sich die Idee, dass die Bibel das tatsächliche Wort Gottes ist, in den USA besser halten konnte als in Deutschland, liegt sicherlich auch an der dortigen religiösen Landschaft: Die Idee ist charakteristisch für evangelikale Theologie, der in den USA deutlich mehr Menschen anhängen als in Deutschland. Interessant ist jedoch, dass die Idee auf lange Sicht auch in den USA an Popularität verliert. Dies zeigt Putnam (2012: 112) mit Rückgriff auf Gallup-Daten sowie Daten des General Social Survey. Demnach glaubten in den 1960er Jahren noch mehr als 60 Prozent der USBevölkerung an die Unfehlbarkeit der Bibel, während es 2008 nur noch 30 Prozent waren. Putnam führt diesen Trend unter anderem auf die steigende Bildung in den USA zurück: Jüngere Menschen sind besser ausgebildet, und Menschen mit höherer Bildung lehnen ein wörtliches Verständnis der Bibel tendenziell stärker ab. Hinzu kommt ihm zufolge, dass die steigenden Mitgliederzahlen evangelikaler Gruppen in den 1970er und 1980er Jahren vor allem besser ausgebildete Menschen umfasste und somit bei dieser Entwicklung keine Trendwende bewirkte. Dass die Vorstellung, die Bibel sei das tatsächliche Wort Gottes, in den USA so viel stärker verbreitet ist als in Deutschland, fand Pollack (2018: 276, Zeile 711) interessant. Die Religiosität sei dort einfach unterschiedlich und viel konkretistischer als in Deutschland. Dies zeige sich an vielen Stellen, nicht nur darin, ob man die Bibel wörtlich nehme. Es zeige sich auch zum Beispiel daran, wie man sich Gott vorstellt. Während in den USA sich die überwiegende Mehrheit Gott als eine Person vorstelle, habe in Deutschland die Mehrheit derjenigen, die an Gott glauben, eine Vorstellung von einer höheren Macht, die noch dazu sehr vage sei. Daher spricht Pollack (2018: 276, Zeile 722) hier von einer „Verflüssigung“ religiöser Vorstellungen in Deutschland und in Westeuropa. Weil sie eben nicht mehr so konkret seien, könne man sich auch nicht mehr vorstellen, dass Gott in die Welt eingreife, oder dass er möglicherweise wortwörtlich Einfluss genommen habe auf das, was in der Bibel steht. Dass sich darin das Handeln Gottes ausdrückt, ist unplausibel geworden seit der Aufklärung. Die Aufklärung hat in Europa eine ganz andere Bedeutung als in den USA, und in den USA ist sie längst nicht so religionskritisch und hat auch nicht diese Effekte, diese negativen Effekte auf Kirche, auf Glaube. Was Sie
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3. Empirische Analyse
hier gefunden haben, ist in meinen Augen ein Element einer wirklich anderen Art von Religiosität in den USA im Vergleich zu Westeuropa. In Westeuropa kann man beobachten, wie sich religiöse Vorstellungen immer mehr entkonkretisieren. In den USA ist das nicht der Fall und das geht zusammen in meinen Augen auch damit, dass die Prägekraft dieser Art von Religiosität in den USA weitaus höher ist als in Deutschland. (Pollack 2018: 276, Zeilen 727-738) In eigenen Untersuchungen habe er festgestellt, dass es einen Zusammenhang gebe zwischen der Vorstellung, die man von Gott hat, und den Effekten auf die Lebensführung, die man der Religion zutraue (vgl. Pollack/Rosta 2015: 224). Das Ergebnis der Analyse war: Je vager die Vorstellung von Gott ist, desto geringer die Effekte auf die Lebensführung. Und in den USA bestehe in dieser Hinsicht ein ganz anderes Muster: Wenn Gott eine Person ist, die in die Welt und in das eigene Leben eingreifen kann, die Wunder bewirken kann, die sich im persönlichen Leben, in der Geschichte, der Nation, der Bibel zeigt, dann ist Gott eben auch eine Macht, mit der man rechnen muss, ein Akteur, der einen zur Verantwortung ziehen kann. Und diese Vorstellung sei in Deutschland und auch in Westeuropa „völlig abgeflacht“ (Pollack 2018: 277, Zeile 753). Hier würde er sagen, dass diese Religiosität in den USA „tatsächlich eine Form einer vitalen Religiosität“ (Pollack 2018: 277, Zeile 755) sei. Konkretion der religiösen Vorstellung und Bedeutung für das eigene Leben gingen somit Hand in Hand. Und das haben wir so in Westeuropa eben nicht. Da haben wir sozusagen beides auf der Gegenseite: Die religiösen Vorstellungen werden vage, und die Bibel ist vielleicht noch göttlich inspiriert, aber auf keinen Fall wortwörtlich wahr, und zugleich traut man eigentlich dem Glauben nicht viel zu. Also das ist ein wichtiges Ergebnis. Das zeigt in meinen Augen noch einmal wie bedeutsam auch Religion selbst ist. Sie haben ja bei diesen ganzen Regressionsanalysen auch immer wieder die Frage, wovon hängt es ab, von welcher politischen Kultur, Demokratie? Das Staat-Kirche-Verhältnis spielt eine große Rolle, in Europa diese enge Verbindung zwischen Politik und Religion, in den USA ist das eben etwas anders. Hier haben Sie sozusagen die Eigendynamik des Religiösen, dass Religion selbst auch ein Faktor ist und in dem Maße, wie man eine bestimmte Vorstellung von Gott hat oder auch vom Handeln Gottes, in dem Maße
3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
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hat eben Religion auch eine Wirkung. Das würde ich hier noch ergänzen. (Pollack 2018: 277, Zeilen 757-772) Auf die Frage, warum die Vorstellung von der Bibel als tatsächlichem Wort Gottes in Deutschland in den historisch katholischen Ländern stärker verbreitet ist als in anderen, antwortet Pollack, er würde das darauf zurückführen, dass im Katholizismus insgesamt die Bindung an religiöse Werte, an Kirche, aber auch an die Bibel höher ist als im Protestantismus (vgl. Pollack 2018: 278, Zeilen 790-793). Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden die Ergebnisse der statistischen Untersuchung verglichen und unter Rückgriff auf die Interviews mit Mark Valeri (2017) und Detlef Pollack (2018) interpretiert. Die wichtigsten Ergebnisse daraus sind: Neues Berufsbild und Bedeutungsgewinn der Arbeit • Dass nur in den USA ein Effekt des Protestantismus auf „Arbeit als Verpflichtung“ gefunden wurde (nicht jedoch in Deutschland oder auch im Modell für beide Länder), könnte mit der Nivellierung konfessioneller Differenzen in Deutschland zusammenhängen. Während in den USA bis heute nahezu geschlossene protestantische Milieus vorzufinden sind, haben sich diese in Deutschland mit der Zeit vermischt. • Der starke Effekt des Alters auf „Arbeit als Verpflichtung“ kann mit der Wertewandeltheorie von Inglehart (1977) erklärt werden. Demnach befürworten ältere Menschen eher materialistische Werte wie harte Arbeit, während für Jüngere Werte wie Selbstentfaltung und Freizeit stärker im Vordergrund stehen. • Der negative Effekt des Protestantismus auf Hedo-Materialismus (im Modell für beide Länder sowie im Modell für Deutschland) könnte zu schwach sein, um ihn zu interpretieren. • Der starke negative Effekt der Nation (USA) auf Hedo-Materialismus könnte sich durch die starke (traditionelle) Arbeitsethik in den USA erklären lassen. • Der starke negative Effekt des Alters auf Hedo-Materialismus lässt sich ebenfalls mit der Wertewandeltheorie erklären. So setzen sich in der jüngeren Generation in beiden Ländern vermehrt Werte wie Selbstentfaltung, Interesse an Lebensgenuss, Partizipation durch.
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3. Empirische Analyse
• Durch die im Modell für beide Länder sowie für die USA gefundenen positiven Effekte des Protestantismus auf kapitalistische Einstellungen in Wirtschafts- und Sozialpolitik wird die Weber-These schwach bestätigt. Allerdings ist hier anzumerken, dass die Effekte gering sind und daher nicht überschätzt werden sollten. • Dass Protestantismus und Kapitalismus in den USA so stark zusammenhängen, könnte daran liegen, dass der protestantische Glaube in den USA expliziter und stärker gelebt wird als in Zentraleuropa und daher die Beziehung zwischen beidem leichter feststellbar ist. Es kann auch am stärkeren Vertrauen der Amerikaner in Kapitalismus und die freie Marktwirtschaft liegen. Dieses Vertrauen schwindet jedoch in den vergangenen Jahren mit dem Aufkommen des postindustriellen beziehungsweise Finanzkapitalismus. • Dass Amerikaner viel kapitalistischer sind als Deutsche, hängt damit zusammen, dass die politischen Strukturen in den USA die Schichtenbildung und die ungleiche Verteilung von Wohlstand nicht so stark ausfallen ließen wie anderswo. So konnte sich in den USA unter dem Kapitalismus eine starke Mittelschicht bilden. Jedoch ist die Schichtenbildung mit dem Finanzkapitalismus deutlich stärker geworden, was mit zum oben angeführten Vertrauensverlust führte. Deshalb versuchen führende Demokraten, Schutzmechanismen gegen Ungleichverteilung einzusetzen, etwa einen höheren Mindestlohn. • Der Zusammenhang zwischen Protestantismus und individueller Verantwortung (beziehungsweise dem, was hier „Kapitalistische Einstellungen in der Sozialpolitik“ genannt wird) in den USA kann auf die protestantische Theologie zurückgeführt werden, die einen Sinn für Verantwortung stärkt. Auch die Abwesenheit eines umfassenden staatlichen Sozialsystems könnte sich hier zusätzlich in Richtung einer Stärkung individueller Verantwortung ausgewirkt haben. • Dass ältere Amerikaner individuelle Verantwortung mehr schätzen als Jüngere, könnte mit der Mentalität des Kalten Krieges zusammenhängen, wonach es nur amerikanischen welfare capitalism auf der einen und totalitären Kommunismus auf der anderen Seite gab. • Dass dieser Effekt des Protestantismus auf Kapitalismus (in Wirtschafts- und Sozialpolitik) in Deutschland so nicht nachweisbar ist, könnte an der Nivellierung konfessioneller Differenzen liegen beziehungsweise daran, dass die Prägekraft der Konfessionen zurückge-
3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
231
gangen ist. Über die historisch protestantisch geprägte Region lassen sich jedoch noch Effekte nachweisen. Individualisierung und Institutionenkritik • Der negative Effekt des Protestantismus auf Skepsis gegenüber Institutionen im Modell für beide Länder sowie für Deutschland könnte mit dem Gefühl von Protestanten zusammenhängen, dass sie an diesen Institutionen teilhaben, was wiederum mit ihrer eigenen religiösen Erfahrung zu tun haben könnte. So hat der Protestantismus aufgrund der Synoden beziehungsweise der synodalen und presbyterialen Ordnungen eine wirkliche Erfahrung mit Demokratie. Eine kausale Herleitung ist jedoch hier schwierig. In Europa ist diese Nähe zwischen Protestantismus und Demokratie jedoch erst später entstanden (im 19. Jahrhundert). • Amerikaner könnten Institutionen mehr misstrauen als Deutsche, weil sie historisch aus einem Misstrauen gegenüber Institutionen entstanden sind. Dass sie gleichzeitig Kirchen mehr vertrauen als Deutsche, könnte daran liegen, dass die Kirchen in den USA nicht (wie in Europa) mit der politischen Macht verbunden waren. Kirchen werden daher in den USA nicht als Institutionen wahrgenommen, sondern eher als Gemeinde oder als Gemeinschaft, die von unten her entsteht. • Für die positiven Effekte von Protestantismus auf Demokratie im Modell für beide Länder sowie für die USA spricht ebenfalls die oben bereits angesprochene Nähe zwischen beidem. • Dass sich in Deutschland kein entsprechender Effekt finden lässt, könnte wiederum mit der Nivellierung konfessioneller Differenzen zu tun haben. • Dass Amerikaner die Demokratie weniger schätzen als Deutsche, könnte damit zusammenhängen, dass die Demokratie dort eher als etwas „Wesensfremdes“ wahrgenommen wird, was sich auch in der geringen Wahlbeteiligung ausdrückt. • Dass Protestanten entgegen der Erwartung weniger individualistisch sind als andere, könnte damit zusammenhängen, dass sie ebenfalls eine kollektive Mentalität haben, die insofern anders ist als die der Katholiken, als sie sich auf kleine und nicht auf sehr große Gruppen bezieht. • Der negative Effekt des Protestantismus auf Skepsis gegenüber Kirchen, der sich in allen drei Modellen zeigt, könnte auf eine Abwehr der
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3. Empirische Analyse
Protestanten gegenüber einer Missachtung (ihrer) Kirchen zurückzuführen sein. Man könnte auch sagen, es handelt sich um einen Effekt der Kirchenmitgliedschaft. Protestanten vertrauen Kirchen demnach mehr als andere, gerade weil sie in der Kirche sind. Hinzu kommt, dass Protestantismus in den USA eine stark kirchliche Gestalt hat. Dadurch ist die Bindung an die Kirche stark, ebenso wie die Involvierung des Einzelnen in das kirchliche Leben. • Dass Amerikaner Kirchen deutlich mehr vertrauen als Deutsche, könnte mit der Abwesenheit einer Staatskirche zu tun haben. Dadurch könnte ein Gefühl entstehen, dass man sich freiwillig einer Kirche anschließen kann, ja sogar eine neue Kirche gründen kann, ohne dass der Staat involviert ist. In Deutschland hingegen haben Kirchen bis heute mit dem Erbe des Staatskirchentums zu kämpfen. Individualisierte Beziehung zu Gott • Dass die individualisierte Beziehung zu Gott in den USA stärker verbreitet ist als in Deutschland, könnte daran liegen, dass die Kirchenbindung dort als etwas Hochindividuelles angesehen wird. Zugleich könnte sich in den hohen Zustimmungswerten in den USA auch einfach eine stärkere Religiosität oder auch ein anderes Säkularisierungsniveau zeigen. In Deutschland hingegen ist das Verhältnis zur Religion insgesamt nicht so leidenschaftlich und nicht so vital. • Dass die individualisierte Beziehung zu Gott in Deutschland von Protestanten stärker geteilt wird als von anderen, während es in den USA umgekehrt ist, könnte daran liegen, dass die Protestanten in den USA einfach stark kirchlich sind, in Deutschland hingegen nicht so sehr. Außerdem könnte sich hier noch einmal zeigen, dass die Kirchen in den USA nicht Ausdruck einer Hierarchie sind, weshalb viele Amerikaner ihnen gegenüber nicht skeptisch sind. • Dass die Vorstellung, die Bibel sei das tatsächliche Wort Gottes, in den USA so viel stärker verbreitet ist als in Deutschland, könnte damit zu tun haben, dass die Religion in den USA insgesamt viel konkretistischer ist. Dies zeigt sich nicht nur im Bibelverständnis, sondern auch zum Beispiel darin, wie man sich Gott vorstellt: In den USA glauben viel mehr Menschen an einen persönlichen Gott, während in Deutschland sich viele Menschen Gott als eine höhere Macht vorstellen. Gleichzeitig sind die Effekte auf die Lebensführung umso geringer, je vager die Vorstellung von Gott ist. In den USA gibt es also bis heute
3.7. Vergleich und Interpretation der Ergebnisse
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eine ganz andere, vitalere, konkretistischere Art der Religiosität als in Deutschland beziehungsweise in Westeuropa.
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Fazit
Die Analyse zeigt, dass die Ideen der Reformation in verschiedenen Teilen der Welt zu unterschiedlichen Zeiten eine ähnliche, nachhaltige Wirkung auf Einstellungen und Wertorientierungen entfaltet haben. Die Hauptfragestellung „Wie hat sich der Protestantismus auf Einstellungen und Wertorientierungen ausgewirkt? “ kann nun – mit aller Vorsicht aufgrund der Vielzahl der intervenierenden Faktoren und der langen Zeitspanne – exemplarisch für die USA und Deutschland beantwortet werden. Dafür wurde in der vorliegenden Arbeit mit einem Most-DifferentSystem-Design gearbeitet. Was die Anwendung quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden angeht, erfolgte eine Kombination von Ansätzen in Form eines gleichwertigen Mixed-Method-Designs. Die internationalen Umfragedaten (zum Beispiel World Values Survey, International Social Survey Programme) ließen sich anhand verschiedener statistischer Methoden (beispielsweise Faktoren- und Regressionsanalysen) auswerten. Außerdem wurden Struktur- und historische Daten (zum Beispiel Einwanderungsdaten der USA oder historische religiöse Statistiken) analysiert. In Experteninterviews haben Mark Valeri, Professor für Religion und Politik an der Washington University in St. Louis, Missouri, und Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster, die Ergebnisse interpretiert. Bei der Auswertung der Einwanderungsdaten und der historischen religiösen Statistiken hat sich unter anderem ein relativ starker Einfluss deutschsprachiger Einwanderer auf die religiöse Landschaft in den USA gezeigt, der jedoch nicht ausschließlich protestantische, sondern auch katholische und jüdische Gemeinden betrifft. Gleichzeitig ist die Bedeutung von Deutsch als in Gottesdiensten verwendeter Sprache Anfang des 20. Jahrhunderts merklich zurückgegangen (was auch mit dem Ersten Weltkrieg in Zusammenhang stand, im Zuge dessen der Gebrauch der deutschen Sprache verboten wurde). Diese Erkenntnis brachte die Auswertung der Religious-Bodies-Studien (1910; 1919) hinsichtlich der in Gottesdien© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Schneider, Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen und Wertorientierungen, Politische Kultur in den neuen Demokratien Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30654-0_4
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4. Fazit
sten in den USA genutzten Sprachen. Weitere in protestantischen Gottesdiensten verwendete Sprachen waren Schwedisch, Norwegisch und Niederländisch oder Flämisch. Grundsätzlich wurde festgehalten, dass der Einfluss europäischer Einwanderer auf den amerikanischen Protestantismus im 19. Jahrhundert möglicherweise größer war als im 20. Jahrhundert. Unter Rückgriff auf verschiedene Wertestudien (insbesondere Lipset 1996, McClosky/Zaller 1984, Baker et al. 1981) ließ sich die Entstehung der Wertesysteme in den USA und Deutschland nachzeichnen, wobei wichtige Etappen im Verlauf der Geschichte berücksichtigt sind. In den USA sind dies die Industrialisierung, die sich nach dem Bürgerkrieg beschleunigte, die Große Depression, der Zweite Weltkrieg, die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre sowie der Kalte Krieg. In Deutschland wurden ebenfalls die Industrialisierung, der Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik, das Dritte Reich beziehungsweise der Zweite Weltkrieg sowie die Teilung Deutschlands in Ost und West bis 1989 (und damit ebenfalls der Kalte Krieg) in den Blick genommen. In der anschließenden Gegenüberstellung wurde herausgearbeitet, wie sich die Werte in beiden Ländern im Laufe der Zeit angenähert haben beziehungsweise welche Unterschiede bis heute bestehen. Anhand der genannten Umfragedaten (World Values Survey, International Social Survey Programme) ließen sich analytische Vergleiche von Häufigkeiten, Mittelwertvergleiche, Faktoren- und Regressionsanalysen durchführen. Bei letzteren wurde der Einfluss des Protestantismus auf Einstellungen zu Beruf und Arbeit, Hedo-Materialismus, Kapitalismus, politischen und kirchlichen Institutionen, Demokratie, Individualisierung und zur individualisierten Beziehung zu Gott herausgestellt. Dabei wurden jeweils drei Analysen durchgeführt: Eine mit den Daten beider Länder sowie jeweils eine separate Analyse für die USA und für Deutschland. In den Berechnungen für die einzelnen Länder wurden jeweils auch Regionen verglichen: in den USA die ehemaligen Dreizehn Kolonien mit dem Rest des Landes, in Deutschland historisch protestantisch geprägte Regionen mit historisch katholisch geprägten Regionen. Exkurse zeigten jeweils auch mögliche Effekte des Katholizismus sowie Ostdeutschlands auf. Die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchungen werden in den folgenden Unterkapiteln im Überblick dargestellt. 4.1
Neues Berufsbild und Bedeutungsgewinn der Arbeit • Ein Effekt des Protestantismus auf die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung lässt sich in der Analyse der USA zeigen. In
4.1. Neues Berufsbild und Bedeutungsgewinn der Arbeit
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Deutschland lässt sich ein positiver Effekt der historisch protestantischen Region auf Luthers Berufsbild nachweisen. • Entgegen der ursprünglichen protestantischen Ethik gibt es heute einen Zusammenhang zwischen dem Streben nach Erfolg und Wohlstand sowie Hedonismus. Der Effekt des Protestantismus auf HedoMaterialismus ist leicht negativ (im Modell für beide Länder sowie für Deutschland). • Ein positiver Effekt des Protestantismus auf kapitalistische Einstellungen hinsichtlich der Wirtschaftspolitik lässt sich bis heute nachweisen, und zwar sowohl im Modell für beide Länder als auch im Modell für die USA. In Deutschland gibt es einen positiven Effekt der historisch protestantischen Region auf kapitalistische Einstellungen. • Hinsichtlich der Wertschätzung individueller Verantwortung lässt sich ein positiver Effekt des Protestantismus feststellen, und zwar sowohl im Modell für beide Länder als auch im Modell für die USA. In Deutschland gibt es einen negativen Effekt der historisch protestantisch geprägten Region. Was bedeuten diese Ergebnisse? Die Auswertung der Interviews mit Mark Valeri (2017) und Detlef Pollack (2018) brachte folgende Resultate: • Dass nur in den USA ein Effekt des Protestantismus auf „Arbeit als Verpflichtung“ gefunden wurde (nicht jedoch in Deutschland oder auch im Modell für beide Länder), könnte mit der Nivellierung konfessioneller Differenzen in Deutschland zusammenhängen. Während in den USA bis heute nahezu geschlossene protestantische Milieus vorzufinden sind, haben sich diese in Deutschland mit der Zeit vermischt. • Wie oben beschrieben, hat der Protestantismus auf HedoMaterialismus (im Modell für beide Länder sowie im Modell für Deutschland) einen leichten negativen Effekt. Dieser könnte allerdings zu schwach sein, um ihn zu interpretieren. • Durch die im Modell für beide Länder sowie für die USA gefundenen positiven Effekte des Protestantismus auf kapitalistische Einstellungen in Wirtschafts- und Sozialpolitik wird die These Max Webers (2016) schwach bestätigt. Allerdings ist hier anzumerken, dass
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4. Fazit
die Effekte gering sind und daher nicht überschätzt werden sollten. Dass Protestantismus und Kapitalismus in den USA stark zusammenhängen, könnte außerdem daran liegen, dass der protestantische Glaube in den USA expliziter gelebt wird als in Zentraleuropa und daher die Beziehung zwischen beidem leichter feststellbar ist. Es könnte auch auf das stärkere Vertrauen der Amerikaner in Kapitalismus und die freie Marktwirtschaft zurückgeführt werden. Dieses Vertrauen schwindet jedoch in den vergangenen Jahren mit dem Aufkommen des postindustriellen beziehungsweise Finanzkapitalismus. Dass dieser Effekt des Protestantismus auf Kapitalismus (in Wirtschafts- und Sozialpolitik) in Deutschland so nicht nachweisbar ist, könnte ebenfalls an der Nivellierung konfessioneller Differenzen liegen beziehungsweise daran, dass die Prägekraft der Konfessionen zurückgegangen ist. Über die historisch protestantisch geprägte Region lassen sich jedoch noch Effekte nachweisen. • Der Zusammenhang zwischen Protestantismus und individueller Verantwortung (beziehungsweise dem, was hier „Kapitalistische Einstellungen in der Sozialpolitik“ genannt wird) in den USA kann auf die protestantische Theologie zurückgeführt werden, die einen Sinn für Verantwortung stärkt. Auch die Abwesenheit eines umfassenden staatlichen Sozialsystems könnte sich hier zusätzlich in Richtung einer Stärkung individueller Verantwortung ausgewirkt haben. Was bedeutet dies nun für die Zukunft? Wie könnte die weitere Entwicklung aussehen? Hier können selbstverständlich nur Vermutungen geäußert werden. Diese sind: • Der Effekt des Protestantismus auf die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung und die damit verbundene starke Arbeitsethik könnte in den USA erhalten bleiben. In Deutschland ist die Arbeitsethik ebenfalls stark ausgeprägt. Allerdings ist die Nivellierung konfessioneller Differenzen so weit fortgeschritten, dass sich ein Effekt des Protestantismus heute nicht mehr nachweisen lässt. Dies könnte tendenziell in Zukunft so bleiben. • Der negative Effekt des Protestantismus auf Hedo-Materialismus ist wie oben beschrieben sehr schwach und soll daher hier nicht weiter interpretiert werden. • Die im Modell für beide Länder sowie für die USA gefundenen positiven Effekte des Protestantismus auf kapitalistische Einstellungen in
4.2. Individualisierung und Institutionenkritik
239
Wirtschafts- und Sozialpolitik könnten die These Max Webers (2016) schwach bestätigen. Die Effekte sind allerdings gering. Zugleich ist fraglich, ob dieser Zusammenhang angesichts des Finanzkapitalismus, der in den vergangenen Jahren bei vielen Menschen grundsätzlich zu einem Vertrauensverlust im Hinblick auf den Kapitalismus geführt hat, erhalten bleiben kann. • Dass der Effekt des Protestantismus auf Kapitalismus (in Wirtschaftsund Sozialpolitik) in Deutschland so nicht nachweisbar ist, wurde oben bereits mit der Nivellierung konfessioneller Differenzen und dem Rückgang die Prägekraft der Konfessionen in Verbindung gebracht. Interessanterweise lassen sich jedoch über die historisch protestantisch geprägte Region noch Effekte nachweisen. Vielleicht wirkt sich in Deutschland die historisch protestantisch geprägte Region, aus der eine Person stammt, stärker auf ihre kapitalistischen Einstellungen in der Wirtschaftspolitik aus als ihre Konfessionszugehörigkeit. Hinsichtlich der Frage, inwieweit ebenfalls ein Effekt der ehemaligen DDR zum Tragen kommen könnte, ist auch ein Blick auf den Exkurs in Kapitel 3.5.1.5 interessant. Dort zeigt sich, dass der Effekt der historisch protestantisch geprägten Region tatsächlich größer sein könnte als der des Sozialismus. Dass der Effekt der Region auf kapitalistische Einstellungen in der Wirtschaftspolitik auch in Zukunft erhalten bleibt, ist durchaus denkbar. Dies sollte allerdings durch weitere Untersuchungen untermauert werden. 4.2
Individualisierung und Institutionenkritik • Der vermutete positive Zusammenhang zwischen Protestantismus und Individualisierung konnte anhand der Daten nicht bestätigt werden. Entgegen der Erwartung gibt es hier einen negativen Zusammenhang: Protestanten befürworten Werte wie Unabhängigkeit, Selbstentfaltung und Kreativität weniger als andere. Dies zeigt sich sowohl in der Analyse für beide Länder als auch in der Analyse für die USA. Für Deutschland konnte ein negativer Effekt der historisch protestantischen Region festgestellt werden. • Bei der Skepsis gegenüber politischen Institutionen konnte ein leichter negativer Effekt des Protestantismus festgestellt werden, und zwar im Modell für beide Länder sowie im Modell für Deutschland. Protestanten vertrauen politischen Institutionen demnach stärker als andere.
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4. Fazit
• Bei den Items, die eine Wertschätzung von Demokratie als Regierungsform zum Ausdruck bringen könnten, lässt sich entsprechend der Erwartung ein positiver Effekt des Protestantismus zeigen, und zwar für beide Länder sowie für die USA. • Bei der Skepsis gegenüber Kirchen sind die Effekte des Protestantismus entgegen der Erwartung negativ. Protestanten vertrauen Kirchen also mehr als andere. Dies zeigt sich in allen drei Modellen. In Deutschland konnte ein positiver Effekt der Region gefunden werden. Menschen aus den historisch protestantischen Bundesländern sind also Kirchen gegenüber skeptischer eingestellt als Menschen aus den historisch katholischen Regionen. Was bedeuten diese Ergebnisse? Die Interviews mit Valeri (2017) und Pollack (2018) brachten folgende Erkenntnisse: • Dass Protestanten entgegen der Erwartung weniger individualistisch sind als andere, könnte damit zusammenhängen, dass sie ebenfalls eine kollektive Mentalität haben. Diese ist allerdings insofern anders ist als die der Katholiken, als sie sich auf kleine und nicht auf sehr große Gruppen bezieht. • Der negative Effekt des Protestantismus auf Skepsis gegenüber Institutionen im Modell für beide Länder sowie für Deutschland könnte mit dem Gefühl von Protestanten zusammenhängen, dass sie an diesen Institutionen teilhaben. Dies könnte wiederum mit ihrer eigenen religiösen Erfahrung zu tun haben. So hat der Protestantismus aufgrund der Synoden beziehungsweise der synodalen und presbyterialen Ordnungen eine wirkliche Erfahrung mit Demokratie. Eine kausale Herleitung ist hier jedoch schwierig. In Europa ist diese Nähe zwischen Protestantismus und Demokratie erst später, im 19. Jahrhundert, entstanden. • Für die positiven Effekte von Protestantismus auf Demokratie im Modell für beide Länder sowie für die USA spricht ebenfalls die oben bereits angesprochene Nähe zwischen beidem. Dass sich in Deutschland kein entsprechender Effekt finden lässt, könnte wiederum mit der Nivellierung konfessioneller Differenzen zu tun haben. • Der negative Effekt des Protestantismus auf Skepsis gegenüber Kirchen, der sich in allen drei Modellen zeigt, könnte auf eine Abwehr der Protestanten gegenüber einer Missachtung (ihrer) Kirchen
4.2. Individualisierung und Institutionenkritik
241
zurückzuführen sein. Man könnte auch sagen, es handelt sich um einen Effekt der Kirchenmitgliedschaft. Protestanten vertrauen Kirchen demnach mehr als andere, gerade weil sie in der Kirche sind. Hinzu kommt, dass Protestantismus in den USA eine stark kirchliche Gestalt hat. Dadurch ist die Bindung an die Kirche stark, ebenso wie die Involvierung des Einzelnen in das kirchliche Leben. Was bedeutet dies für die Zukunft? Auch zu diesem Teil der Analyse werden einige Vermutungen dargelegt: • Die Ergebnisse sprechen für eine starke Spannung zwischen Kirchlichkeit einerseits und individualistischen Werten wie Unabhängigkeit und Selbstständigkeit andererseits. Da der Wertewandel zur Stärkung postmaterialistischer Werte wie Unabhängigkeit führt, könnte sich diese Spannung auch auf die Anzahl der Kirchenaustritte in Deutschland beziehungsweise die wachsende Zahl der nones in den USA auswirken. Interessant wäre hier zu untersuchen, mit welchen Mitteln die Kirchen dieser Entwicklung begegnen können. • Die Untersuchung zeigte, dass das Vertrauen von Protestanten in politische Institutionen etwas stärker ausgeprägt ist als bei anderen. Dies wurde auf die Nähe zwischen Protestantismus und Demokratie zurückgeführt, die allerdings in Europa erst im 19. Jahrhundert entstanden ist. Protestanten sind also nicht, wie erst vermutet, grundsätzlich skeptischer gegenüber Institutionen. Vielmehr haben sie zu staatlichen Institutionen Vertrauen aufgebaut. Womöglich geschah dies aufgrund ihrer Erfahrung mit kirchlichen Institutionen, die ihnen Teilhabe ermöglichten. Dieses Vertrauen könnte in Zukunft durchaus erhalten bleiben. • Auch die positiven Effekte des Protestantismus auf die Wertschätzung von Demokratie könnten in Zukunft erhalten bleiben. • Dass Protestanten ihren Kirchen mehr vertrauen als andere, könnte – wie oben dargelegt – als Abwehrreaktion der Protestanten gegenüber einer Missachtung der Kirche verstanden werden. Sie vertrauen Kirchen also, gerade weil sie Kirchenmitglieder sind. Ob dies künftig so bleibt, wird weiter untersucht werden müssen.
242
4.3
4. Fazit
Individualisierte Beziehung zu Gott • Grundsätzlich wird die Vorstellung einer individualisierten Beziehung zu Gott in den USA stärker befürwortet als in Deutschland. Dass sie unter Protestanten eher verbreitet ist als unter anderen, trifft lediglich für Deutschland zu. In den USA ist es umgekehrt. Für die unterschiedlichen Regionen lassen sich die erwarteten Effekte nicht feststellen: In den USA gibt es kaum Unterschiede; in Deutschland geben in den historisch katholischen Regionen mehr Menschen an, ihren eigenen Weg zu haben, mit Gott in Verbindung zu treten, als in den historisch protestantischen Regionen. • Die Vorstellung, dass die Bibel das tatsächliche Wort Gottes ist, wird in den USA wesentlich häufiger vertreten als in Deutschland. In den USA wird sie entsprechend der Erwartung von Protestanten häufiger geteilt als von Katholiken, Konfessionslosen und anderen. In Deutschland ist es umgekehrt: Hier halten mehr Katholiken die Bibel für das tatsächliche Wort Gottes als Protestanten, beide jedoch deutlich weniger stark als andere und gleichzeitig deutlich stärker als Konfessionslose. Auch hier lassen sich die erwarteten Effekte hinsichtlich der Regionen nicht feststellen: In den USA gibt es kaum Unterschiede; in Deutschland sind es entgegen der Erwartung die Menschen aus den historisch katholischen Ländern, die der Vorstellung eher zustimmen als andere.
Was bedeutet dies? Die Auswertung der Interviews mit Valeri (2017) und Pollack (2018) brachte folgende Ergebnisse: • Wie oben dargelegt, ist die individualisierte Beziehung zu Gott in den USA stärker verbreitet als in Deutschland. Dies könnte daran liegen, dass die Kirchenbindung dort als etwas Hochindividuelles angesehen wird. Zugleich könnte sich in den hohen Zustimmungswerten in den USA auch eine stärkere Religiosität oder auch ein anderes Säkularisierungsniveau zeigen. In Deutschland hingegen ist das Verhältnis zur Religion insgesamt nicht so leidenschaftlich und nicht so vital. Wie oben dargelegt, wird die individualisierte Beziehung zu Gott in Deutschland von Protestanten stärker geteilt als von anderen, während es in den USA umgekehrt ist. Dies könnte daran liegen, dass die Protestanten in den USA stark kirchlich sind, in Deutschland hingegen nicht so sehr. Außerdem könnte sich hier nochmals zeigen,
4.4. Einstellungen zur Religion
243
dass die Kirchen in den USA nicht Ausdruck einer Hierarchie sind, weshalb viele Amerikaner ihnen vertrauen. • Wie oben dargelegt, ist die Vorstellung, die Bibel sei das tatsächliche Wort Gottes, in den USA viel stärker verbreitet ist als in Deutschland. Dies könnte damit zu tun haben, dass die Religion in den USA insgesamt viel konkretistischer ist. Dies zeigt sich nicht nur im Bibelverständnis, sondern auch zum Beispiel darin, wie man sich Gott vorstellt: In den USA glauben viel mehr Menschen an einen persönlichen Gott, während in Deutschland viele Menschen sich Gott als eine höhere Macht vorstellen. Gleichzeitig sind die Effekte auf die Lebensführung umso geringer, je vager die Vorstellung von Gott ist. In den USA gibt es also bis heute eine ganz andere, vitalere, konkretistischere Art der Religiosität als in Deutschland beziehungsweise in Westeuropa. Was bedeutet dies für die Zukunft? Auch hier sollen einige Vermutungen geäußert werden: • Das unterschiedliche Säkularisierungsniveau beziehungsweise die stärkere Religiosität in den USA im Vergleich zu Deutschland wird wohl vorerst erhalten bleiben. Allerdings könnte auf lange Sicht auch dort ein sozialer Bedeutungsverlust der Religion spürbar werden, der in der gegenwärtigen Spaltung des Landes wurzelt und immer mehr Menschen zu nones werden lässt. Dies wird weiter unten noch genauer erläutert. • Dass es womöglich auf lange Sicht auch in den USA – ähnlich wie in Deutschland – zu einer Verflüssigung religiöser Vorstellungen kommen könnte, ist derzeit nicht vorstellbar. Es wäre allerdings interessant, dies in Zukunft genauer zu beobachten. 4.4
Einstellungen zur Religion
In dem Unterkapitel 3.6 wurden religiöse Einstellungen von Amerikanern und Deutschen miteinander verglichen. Dabei wurden zu den einzelnen Fragen jeweils drei Diagramme erstellt: Eins mit den in beiden Ländern erhobenen Daten, das den Vergleich zwischen den USA und Deutschland zulässt, sowie jeweils eins für die beiden Länder separat, wo nochmals in Protestanten, Katholiken, Konfessionslose und andere untergliedert wurde. So
244
4. Fazit
ließ sich das unterschiedliche Antwortverhalten der einzelnen Gruppen gut erkennen. Grundsätzlich ließ sich feststellen, dass Menschen in den USA bei Fragen nach dem Glauben an Gott, an ein Leben nach dem Tod, nach der Häufigkeit ihrer Gottesdienstbesuche und Gebete sowie ihrer Selbsteinschätzung als religiös eine deutlich stärkere Religiosität zeigen als Deutsche. Bei Fragen hinsichtlich Homo-Ehen oder Schwangerschaftsabbrüchen sind sie wesentlich konservativer eingestellt als Deutsche. Dies trifft jedoch vor allem auf religiöse Menschen, nicht auf Konfessionslose in den USA zu – zwischen den beiden Gruppen ist eher eine Polarisierung feststellbar. Wichtige Ergebnisse im Einzelnen sind: • Amerikaner glauben wesentlich stärker an Gott als Deutsche. In den USA sind mit Abstand die meisten Menschen sicher, dass Gott wirklich existiert. Von allen Gruppen sind die Protestanten hier am stärksten davon überzeugt, dass es Gott gibt. Vergleicht man innerhalb Deutschlands Protestanten und Katholiken, so sieht man, dass Protestanten etwas skeptischer sind, was ihren Glauben an die Existenz Gottes angeht. • Amerikaner glauben deutlich stärker an ein Leben nach dem Tod als Deutsche. Innerhalb der USA teilen Protestanten den Glauben an ein Leben nach dem Tod stärker als andere, und selbst Konfessionslose wählen am häufigsten diese Antwortmöglichkeit. In Deutschland glauben die meisten Protestanten nicht an ein Leben nach dem Tod. • Sehr viel mehr Amerikaner als Deutsche geben an, häufig Gottesdienste zu besuchen. In den USA antwortet die Mehrheit der Protestanten, einmal pro Woche einen Gottesdienst zu besuchen. In Deutschland geben die meisten Protestanten an, seltener als einmal im Jahr in die Kirche zu gehen. • Auch geben sehr viel mehr Amerikaner als Deutsche an, häufig zu beten. Innerhalb der USA beten die meisten Protestanten (ebenso wie Katholiken) jede Woche. In Deutschland sagen die meisten Protestanten (ebenso wie die meisten Katholiken, Konfessionslosen und anderen), dass sie nie beten. • Amerikaner schätzen sich durchschnittlich als religiöser ein als Deutsche. Interessanterweise sind es in beiden Ländern am meisten Menschen, die sich als „etwas religiös“ einstufen, wobei sich in Deutsch-
4.4. Einstellungen zur Religion
245
land fast genauso viele als „extrem nicht-religiös“ bezeichnen – anders als in den USA, wo die am zweithäufigsten gewählte Antwort „sehr religiös“ ist. Innerhalb der USA zeigt sich, dass sich unter Protestanten, Katholiken und anderen die große Mehrheit für „etwas religiös“ hält. Auch in Deutschland bezeichnen sich die meisten Menschen unter den Protestanten, Katholiken und anderen als „etwas religiös“. Anders als in den USA sind Katholiken in Deutschland ihrer Selbstbeschreibung zufolge religiöser als Protestanten. • In der Frage gleichgeschlechtlicher Partnerschaften sind Deutsche wesentlich liberaler eingestellt als Amerikaner. Innerhalb der USA sind Protestanten in dieser Frage deutlich konservativer eingestellt als andere, und zwar sowohl konservativer als Katholiken als auch als Konfessionslose sowie Anhänger anderer religiöser Gruppen. In Deutschland halten mit Abstand am meisten Menschen sexuelle Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern für „nie falsch“. Interessant ist, dass zwischen Protestanten und Katholiken kaum Unterschiede bestehen, während Konfessionslose in dieser Frage liberaler eingestellt zu sein scheinen. • Amerikaner sind Schwangerschaftsabbrüchen gegenüber konservativer eingestellt als Deutsche, wenn das Baby nicht gesund ist. Innerhalb der USA halten mehr Protestanten als andere einen Abbruch in diesem Fall für „immer falsch“ oder „fast immer falsch“. Allerdings halten auch relativ viele Protestanten einen Abbruch für „überhaupt nicht falsch“ (mehr als unter den Katholiken). Innerhalb Deutschlands scheinen Protestanten in dieser Frage etwas liberaler eingestellt zu sein als Katholiken und Angehörige anderer Gruppen, jedoch nicht so liberal wie Konfessionslose. • Mehr Amerikaner als Deutsche halten einen Schwangerschaftsabbruch für „immer falsch“ oder auch für „überhaupt nicht falsch“, wenn die Familie ein geringes Einkommen hat. Deutsche scheinen hier eine abwägendere Haltung einzunehmen, da sie einen Abbruch in diesem Fall häufiger als „fast immer falsch“ oder „nur manchmal falsch“ bezeichnen. Gemeinsam ist beiden Ländern, dass der überwiegende Anteil der Bevölkerung einen Abbruch als „immer falsch“ einstuft. Im Fall, dass eine Familie nur ein geringes Einkommen besitzt, halten in den USA insgesamt deutlich mehr Menschen einen Schwangerschaftsabbruch für „immer falsch“, als es bei einem nicht gesunden Baby der Fall ist. Wieder sind es hier die Protestanten, die
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4. Fazit
einen Abbruch noch stärker ablehnen als andere. Hier kann man sehr gut die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft erkennen, die in moralischen Fragen dieser Art stark gespalten ist zwischen konservativen, (stark) religiösen Menschen und eher liberal eingestellten Konfessionslosen. Auch Deutsche lehnen einen Schwangerschaftsabbruch in dem Fall, dass die Familie ein geringes Einkommen hat, deutlich stärker ab als in dem Fall, in dem das Baby nicht gesund ist. Protestanten scheinen hier etwas liberaler eingestellt zu sein als Katholiken und Angehörige anderer Gruppen, jedoch weniger liberal als Konfessionslose. Diese Ergebnisse wurden Valeri und Pollack nicht zur Interpretation vorgelegt. Dennoch sollen hier einige Vermutungen zur (zukünftigen) Bedeutung dieser Erkenntnisse formuliert werden: • Die starke Religiosität der Amerikaner, die sich in hohen Kirchgangsund Gebetsraten ebenso zeigt wie im Glauben an die Existenz Gottes und an ein Leben nach dem Tod sowie in der Selbsteinschätzung als religiös, wird vorerst sicherlich erhalten bleiben, langfristig jedoch möglicherweise durch die steigende Zahl der Konfessionslosen auch zurückgehen. In Deutschland ist die Bedeutung von Religion im Vergleich zu den USA schon heute viel geringer und wird womöglich in Zukunft noch weiter sinken. • In den Fragen von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und Schwangerschaftsabbrüchen könnten Deutsche in Zukunft noch liberaler werden. In den USA könnte die Entwicklung angesichts der tiefen Spaltung des Landes auch dahingehend sein, dass weiterhin viele Menschen sehr konservative Ansichten vertreten. 4.5
Zusammenfassung und Ausblick
Insgesamt lässt sich sagen, dass die Analyse vielschichtige Ergebnisse brachte. Eine der wesentlichen Erkenntnisse besteht darin, dass die These von Max Weber zum Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus für die USA bis heute nachgewiesen werden kann. Für Deutschland trifft dies jedoch eher nicht zu. Auch insgesamt haben sich die vermuteten Effekte des Protestantismus eher in den USA zeigen lassen als in Deutschland. Dies hängt wohl vor allem damit zusammen, dass es in den USA bis heute relativ geschlossene protestantische Milieus gibt, während in Deutschland von einer Nivellierung konfessioneller Differenzen und von
4.5. Zusammenfassung und Ausblick
247
einem Rückgang der Prägekraft des Protestantismus gesprochen werden kann. Hinzu kommt, wie oben bereits beschrieben, dass viele Menschen in den USA bis heute sehr konkretistische Glaubensvorstellungen haben, zum Beispiel an einen persönlichen Gott glauben, der aktiv in ihr Leben eingreifen kann. In Deutschland hingegen kommt es zu einer Entkonkretisierung beziehungsweise Verflüssigung dieser Vorstellungen. Viele Menschen stellen sich Gott nur noch als eine höhere Macht vor. Sie trauen Religion damit auch viel weniger zu, einen Effekt auf die Lebensführung zu haben, als Menschen in den USA es tun (vgl. Pollack 2018: 26, Zeilen 12-15). Luthers Berufsbild, beziehungsweise die Vorstellung von Arbeit als einer Verpflichtung, konnte sich in Deutschland möglicherweise etwas besser halten (64,8 Prozent der Befragten stimmen zu) als in den USA (wo nur 54,6 Prozent zustimmen). Bei aktuellen Bevölkerungszahlen von rund 82,52 Millionen Einwohnern in Deutschland im Jahr 2016 (vgl. Statista 2018a) und rund 328,43 Millionen Einwohnern in den USA im Jahr 2018 (vgl. Statista 2018b) ist Luthers Berufsbild also heute noch für etwa 179,32 Millionen Menschen in den USA von Bedeutung, und für 53,74 Millionen Menschen in Deutschland. Die Vorstellung, dass die Bibel das tatsächliche Wort Gottes ist, konnte sich hingegen in den USA deutlich besser halten, wo ihr bis heute 30,1 Prozent der Menschen zustimmen. Das entspricht 98,86 Millionen (im Gegensatz zu Deutschland, wo nur 7,8 Prozent diese Vorstellung teilen, das entspricht 6,44 Millionen). Welche Vorstellungen sich unter welchen Bedingungen besser halten konnten, ist auch nochmals in Tabelle 32 aufgeführt. So wird beispielsweise deutlich, dass sich in den USA unter den Bedingungen einer Trennung von Kirche und Staat, Religionsfreiheit sowie der Abwesenheit monarchischer, aristokratischer und feudaler Strukturen Vorstellungen wie die Unfehlbarkeit der Bibel oder auch die Idee von einem persönlichen Gott besser halten konnten. In Deutschland hingegen haben sich diese Vorstellungen unter den Bedingungen einer Verschränkung von Kirche und Staat, monarchischen, aristokratischen und feudalen Strukturen sowie einer eingeschränkten Religionsfreiheit unter dem landesherrlichen Kirchenregiment transformiert: Die Bibel wird eher als von Gott inspiriertes Wort angesehen, und Gott stellen sich viele Deutsche eher als eine höhere Macht denn als eine Person vor. Was tragen die unterschiedlichen religionssoziologischen Modelle zur Erklärung religiöser Veränderungen in der Moderne bei? Für die bis heute hohe Religiosität der Menschen in den USA könnte das Marktmodell des Religiösen eine Antwort bieten. Interessant ist hier auch der im Kapitel 2.1.3 aufgeführte Befund von Iannaccone (1998: 1472), wonach jedes
248
4. Fazit
Tabelle 32: Religiöse Vorstellungen in den USA und in Deutschland USA
Deutschland
• Trennung von Kirche und Staat • Keine monarchischen, aristokratischen oder feudalen Strukturen • Religionsfreiheit seit der Gründung der USA • Viele kleine, hochreligiöse Gruppen • Gemeinden als zivilgesellschaftliche Vereinigungen • Relativ geschlossene protestantische Milieus • Culture wars • Starker Einfluss der Evangelikalen • Konkretistische Vorstellung von Religion © Vorstellung der Unfehlbarkeit der Bibel kann sich besser halten
• Verschränkung von Kirche und Staat • Monarchische, aristokratische und feudale Strukturen • Landesherrliches Kirchenregiment bis 1919; Cuius regio, eius religio • Großkirchen • Kirchen als staatsnahe Großorganisationen • Verwaschungen, Prägekraft der Konfessionen geht zurück • Weiches Luthertum • Geringer Einfluss der Evangelikalen • Verflüssigung religiöser Vorstellungen
© Vorstellung von Luthers Berufsbild („Arbeit als Verpflichtung“) noch immer vorhanden © Vorstellung von einem persönlichen Gott © Werte und Glaubensüberzeugungen aus der Zeit vor der Industrialisierung blieben erhalten (vgl. Lipset 1996: 247) Quelle: Eigene Gegenüberstellung
© Transformation: Bibel als „von Gott inspiriertes Wort“, nicht als „tatsächliches Wort Gottes“ © Vorstellung von Luthers Berufsbild („Arbeit als Verpflichtung“) kann sich besser halten © Transformation: Vorstellung von Gott als einer höheren Macht © Werte und Glaubensüberzeugungen aus der Zeit vor der Industrialisierung wurden transformiert
4.5. Zusammenfassung und Ausblick
249
Maß an religiöser Beteiligung (sei es Glaube, Kirchgang oder Spenden) positiv mit dem Maß an Konservatismus der entsprechenden (protestantischen) Kirche oder Gruppe korreliert. Anhänger konservativerer Gruppen haben also tendenziell einen stärkeren Glauben (meist verbunden mit der Überzeugung, dass die Bibel unfehlbar ist), gehen häufiger in die Kirche und spenden höhere Beträge an ihre Gemeinde. Dass die religiöse Vitalität in den USA deutlich höher ist als in Deutschland, könnte insofern auch mit dem höheren Anteil an Anhängern konservativer Gruppen zusammenhängen. Darüber hinaus gibt es weitere Erklärungsansätze. Einer ist die im Kapitel 2.1.1 beschriebene „Cultural Transition“ von Bruce (2002: 34). Dabei dient Religion als Ressource, um die eigene Kultur in Diaspora-Situationen zu erhalten. Sie schützt somit die soziale Identität der eigenen Minderheit in einer als bedrohlich empfundenen Mehrheitskultur. Solche Entwicklungen sind vor allem in Einwanderergesellschaften zu beobachten. Einen weiteren Erklärungsansatz bieten die mehrfach, unter anderem in Kapitel 2.1.1 zitierten, Norris und Inglehart (2004: 106), die die hohe Religiosität vieler Menschen in den USA mit der Abwesenheit eines starken Wohlfahrtsstaates erklären, der bis heute eine hohe Ungleichheit in der Bevölkerung bewirkt. Eine prekäre Lebenssituation steht ihnen zufolge bis heute in einem starken Zusammenhang mit hoher Religiosität. Eine weitere Erklärung könnte in der Struktur liegen: In den vielen kleinen hochreligiösen Gruppen, die sich unter dem amerikanischen Staat-Kirche-Verhältnis bilden und halten konnten, könnte möglicherweise mehr Wert auf die Vermittlung religiösen Wissens gelegt worden sein, als es in den großen Landeskirchen in Deutschland der Fall war. Was den gegenwärtigen Stellenwert von Religion anbelangt, ist die Situation in Deutschland anders als in den USA. Die Antworten auf die Fragen nach Gebets- und Kirchgangshäufigkeit weisen klar auf einen Bedeutungsverlust von Religion, also auf Säkularisierung, hin. Gleichzeitig zeigen sich auch in den USA Entwicklungen, die in Richtung einer Säkularisierung deuten. Wie dargelegt, ist die Gruppe der nones diejenige, die aktuell am stärksten wächst. Valeri (2017: 3, Zeile 12) spricht sogar von einer „post-religious generation“. Diese Entwicklung ist möglicherweise im Zusammenhang mit dem Erstarken der Religious Right zu sehen. Sie hat sich vollzogen, obwohl das religiöse „Angebot“ in den USA nach wie vor hoch ist und Gläubige prinzipiell aus unzähligen Gruppen auswählen können (wobei der Pluralismus je nach Region innerhalb der USA unterschiedlich hoch sein kann).
250
4. Fazit
Ist dies nun als Bestätigung der Säkularisierungstheorie zu sehen? Oder eher, wie Inglehart (1997: 286) anzunehmen scheint, als Bestärkung der Individualisierungsthese, da die Suche nach einem Sinn des Lebens auch in der post-industriellen Gesellschaft nicht abgenommen hat? Diese Fragen können in diesem Rahmen nicht abschließend beantwortet werden. Die Ergebnisse der hier vorgestellten Analysen bieten aber möglicherweise Anhaltspunkte für weitere Forschung. Auch der von Valeri (2017: 2, Zeile 7) vorgeschlagene Vergleich mit England könnte neue Analysen anregen. Gleiches gilt für die anfangs angesprochenen weiteren Ideen der Reformation, die einen nachhaltigen Einfluss auf Einstellungen und Wertorientierungen gehabt haben könnten, hier aber nicht untersucht wurden (wie das neue Familienbild oder die Rolle der Bildung). Abschließend stellt sich die Frage, wie die Entwicklung in den USA und Deutschland nun weitergehen könnte beziehungsweise was in der Zukunft zu erwarten ist. Wird sich die in beiden Ländern, wenn auch in unterschiedlicher Stärke und Weise, feststellbare Säkularisierung weiter verstärken? Wird die Zahl der Konfessionslosen beziehungsweise der nones weiter wachsen? Oder wird sich Religiosität eher in andere Lebensbereiche beziehungsweise ins Private verlagern, so wie es die Individualisierungsthese nahelegt? Auch an dieser Stelle können selbstverständlich nur Vermutungen geäußert werden. So wäre es denkbar, dass die Religiosität in Deutschland weiter an sozialer Bedeutung verliert, jedoch nicht vollkommen verschwindet, sondern sich mit der Zeit auf einem geringeren Level als noch heute „einpendelt“. Dieser Prozess könnte sich langsam (über Zeiträume mehrerer Generationen hinweg) vollziehen. In den USA hingegen könnte die gegenwärtig feststellbare tiefe Spaltung des Landes vielleicht sogar noch zunehmen. Dies würde bedeuten, dass es auf der einen Seite mehr nones gibt, auf der anderen Seite eine große (möglicherweise jedoch, wenn die gegenwärtigen Trends sich fortsetzen, leicht abnehmende) Zahl an Hochreligiösen, die sich womöglich angesichts der Spaltung noch stärker zu ihrer Religiosität bekennt. All dies sind, wie bereits erwähnt, nur Vermutungen. Die weitere Entwicklung wird selbstverständlich von neuen Forschungsprojekten begleitet und analysiert werden müssen.
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A
Anhang
A.1
Interview with Mark Valeri, Professor of Religion and Politics at Washington University in St. Louis, Missouri
Some scientists think that Max Weber is outdated and that his thesis of a relation between Protestantism and capitalism has never been true. However, in the survey data I found a relation between Protestantism and capitalist attitudes toward the economy even today. In the model that contains data only for the US, Protestantism even had the strongest effect. Do you think this might underline the Weber thesis, or could there be different reasons for this result? One of the reasons that could be an effect is that Protestant religious beliefs might be held in America more explicitly and strongly than in Central Europe (or in most of Europe) and that you could see the relationship between the two more easily there. Another reason might be the fact that American confidence in capitalism remains I think at a higher level than in Europe. So I think that the correlation is probably true, but it’s probably true both because of religion and of more confidence in free-market systems in America. And what do you think is the reason why Americans are so much more capitalist (or more confident in capitalism) than Germans? I think that American political structures have historically up until the last 20 years made the stratification of wealth less severe. And capitalism seems to have worked in the American situation to produce up until the last 20 years a very large middle class. And so this great sense of stratification was lessened in America and part of this has to do with economic space, new industries, natural resources that allowed capitalism to seep into areas, sectors of the society and offer opportunity, perhaps more than in Europe. So capitalism seems to have worked to produce a large middle class, but again, that’s up until the last 20 years. And I think the
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Schneider, Wirkungen des Protestantismus auf Einstellungen und Wertorientierungen, Politische Kultur in den neuen Demokratien Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30654-0
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A. Anhang
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stratification of wealth has gotten much worse with post-industrial capitalism, with financial capitalism. And that is the reason why there is more talk over the last five years especially on inequalities. Do you know Thomas Piketty’s book? It’s on the growing massive inequalities over the last phase of capitalism. I think that’s beginning to happen in America, and that is why you have Bernie Sanders, Elisabeth Warren, the new voices on the Democratic left trying to reinject hedges or protections against stratification of wealth by a higher minimum wage, universal college education, and universal health care. These issues that are now on the table in America are a result of a falling confidence in capitalism on the part of the Democratic left. However, there is still a high level of confidence in private ownership and in private distribution. Do you have an idea why I could only find a significant effect of Protestantism on “Work as a duty” in the US and not in Germany? This is a question I have for you whether this is true of England as well? My sense is the Anglo-American imperial projects of the early 19th century with the British Empire and the American “Empire” over the North American continent (not empire in a formal sense but in a large) combined work, conquest of land, the religious Protestant sense of labor, of worldly work as a divine calling - those things came together especially in the American expansion over the North American continent. And I think there may be parallels in England with the expansion of the British Empire in the 19th century. So with all of this land, and the sense of building nation, building railroads, canals, communication systems, new industries, everything from farming to oil, the whole burst of oil industries seems to have both a democratic and a religious mandate at the same time. So duty to work, to change, to build nation is I think part of the American consciousness up until the last 10, 15 years. People less than 35 years old might have a different view. What do you think would be the point of view of a younger person? As a college professor I teach younger people and I think they have much less confidence in the overall collective moral obligations that capitalism had seemed to meet to older generations. So in my generation a notion of hard work and duty was connected to a sense of national well-being, which was connected historically to the sense of nation being over this vast experience. It was also connected to a religious sense of divine presence and calling in mundane activities.
A.1. Interview with Mark Valeri
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I think the younger generation has grown up in a post-industrial age of information technology, Silicon Valley, hyper consumer capitalism in which there is less connection to a sense of national wellbeing. And the Cold War is also over. The Cold War was another way for Americans of an older generation to think of free-market, religion, national well-being all going together well as opposed to iron curtain, soviet block, anti-capitalism, anti-religion, and also antidemocracy, sort of tyranny - that was the narrative. This generation has grown up past that narrative, after the fall of the Berlin wall, and that sense of Cold War opposition, struggle is over in a postindustrial age and I think they have less of a sense that capitalism serves a high moral or national purpose. My impression from teaching college-age Americans is that they think that they have the option to participate in the market system, but they don’t think it serves a higher moral purpose. They think it does not serve any good course except for their own well-being. What you just said perfectly goes in line with the theory of value change by Ronald Inglehart, and this is also what I wanted to ask you about next. It says that older people rather support “materialist” values like hard work, and younger people are more in favor or “post-materialist” values such as self-expression and leisure time. Absolutely. And it makes sense, because it is a post-Cold War generation, and a post-religious generation as well. The latest PEW data on religious belief or religious adherence in America says that the group that is rising the most population-wise, especially in the younger generation, would define themselves as not religious. The word that sociologists use is “nones”. That is the largest most quickly growing religious sector in America today especially among young people and I think that loss of religious belief does lead to a loss of sense of moral purpose for economic activity. It just becomes merely material. I also found that Germans embrace the conception of “Work as a duty” more than Americans do. Do you think that work might be considered more as a form of self-fulfillment or self-expression in the US than as a duty? I think work has become a form of self-expression to aspire to, in an aspirational sense. What we are leaving out of this conversation is the large amount of American people who barely have work, who are unemployed, who are not well-off at the moment. For them work just becomes a necessity. This is what Weber said was not part of his analysis. Weber said of course everyone wants to work and make
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A. Anhang
a profit as a necessity. That’s just human, that’s universal. That will always be there. He was talking about work that compels people to work beyond necessity to accumulate wealth beyond necessity and then reinvest it in the business. So what Weber was intrigued by is how do you get from just getting by to accumulating massive amounts of wealth. So what we are leaving out of the conversation is the sector of American economy (or all Western economy, especially the American economy), immigrant economy, urban dispossessed people, rural poor people, for whom work is just work as necessity, to get by, to feed. But outside of that group that sense of work as a form of self-expression rather than a duty I do think is right. The analysis also showed that Protestants appreciate individual responsibility more than others do in social policy. I could show this in the model that contains data of both countries and in the one of the US, but not in the model for Germany. How would you explain this? That’s a great question. So Protestant theology which is higher in America than in Germany would foster a sense of responsibility: One is an individual before God and one is an individual before one’s moral duties. Also, the lack of a pervasive government welfare system in America makes up all the moral sense of responsibility, because all the government does in America is minimal. One pays for one’s own university, one pays a lot for one’s health care, one pays for one’s housing. I think in America the sense is that there is less of a government structure provision which breeds more of a sense of individual responsibility. I also found that older Americans appreciate individual responsibility more than younger ones, whereas in Germany younger people appreciate individual responsibility more than older ones. That is really interesting! So I explain to you what I think about the older Americans, so that would answer that. But I think you would have to tell me what’s going on in Germany, with the younger Germans. I think the older generation of Americans did grow up with a sense of the Cold War mentality, of its capitalism, what we call welfare capitalism: no one starves to death, you can go to the hospital, there is free public school up until the age 18. There was a sense that that was one choice and the other choice was totalitarian communism. There was very little appreciation for a sense of Western or European-style democratic socialism.
A.1. Interview with Mark Valeri
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Let’s talk about the second part of the analysis now: Individualization and institutions. Why do you think Protestants seem to trust political institutions more than others? I think because Protestants have a sense that they participate in those institutions, that they have voice, because of their own religious experience. In Protestant churches, common people have a great say in how the churches are run, how the pastors are chosen and what the pastors do. At the same time, that conveys a sense that large institutions, including civic institutions, are comprised of a collective voice. So trusting institutions in America is a sense that we know these people, we have elected them, we participate, we have voice. That trust is again challenged in the last ten years by the sense of institutional racism and some corruption. The trust is withering away to some extent. So the trust level in the United States national government is very low and the election of Donald Trump makes most people, especially young people, very suspicious of the collection of power in the hands of few. That sort of reinforces what I’m saying. Protestantism gives one a sense of participation and ownership that is conveyed to the government. Then in the last five or ten years, when that government especially with the election of Trump seems to be detached from the people and to do things without attending to the voice of the people, that confidence goes away. So it has to do more with one’s own participation as a measure of trust rather than any specific policies that come out of those institutions. What do you mean by corruption? In the United States, corruption would take the form of large cooperations paying for the political campaigns and advertising for people who run for office, so lots of money going in to make commercials, funding, and travel for those politicians, in return for which those politicians would construct policies that benefited those companies that gave them the most money. Now it is not strictly illegal, so it is not corruption in a legal sense, but there is a debate about whether we should allow massive amounts of money to flow into political campaigns or not. I don’t think you have that in Germany so much. That is a huge problem, it produces a sense of a possibility for corruption for politicians to make decisions on behalf of those who supported their campaigns and election financially. Why do you think do Americans mistrust their institutions much more than Germans do?
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The polls on American trusting institutions says that Americans trust educational institutions, hospitals, and scientific institutions. Protestants trust religious institutions, Catholics don’t because of the church scandal over the sex abuse, but Protestant churches are trusted. However, political institutions are becoming less and less trusted because of the things I just said. So if you ask me why they trust them, I think it probably has to do with what I said before about the sense of participation, the sense of changing. I mean it was a remarkable thing to see the question of race dealt with in the United States in the civil rights movement, the question of women’s suffrage and voting, those things were remarkable reform efforts that succeeded. Now there were lots of reform efforts that did not succeed but those did succeed, so I think the past history evoked a sense of trust as well. I could also find a positive effect of Protestantism on the appreciation of democracy for both countries and for the US. Do you think that might also be related to the Protestant ethic and its skepticism of hierarchies? I do think so, yes. I do have a sense that Protestantism or the way that Americans participate in Protestantism today gives the sense that there is not a distant high hierarchy but a very present, open, participatory system. Why do you think that Americans trust their churches more than Germans do? There is a long answer and a more recent answer. I think the long answer is the lack of a state church, the sense that the churches are voluntary and participatory, the fact that you can start a new church if you don’t like what’s going on, the religious creativity in building new denominations - all this fostered a deep historical sense that religious institutions are trustworthy because they are ours, because we made them. If we didn’t like what was going on we started a different church, and the state was relatively uninvolved. I think more recently in the last 20 years or so the confidence has fallen some, again because of the scandals in the Catholic Church, but also the Televangelists, the Prosperity gospel, preachers asking for lots of money. That’s a small segment, but it has created a negative image, and has contributed to the rise of the nones, the rise of disbelief, unbelief in the younger generation. Americans just grew up with the sense that churches were created by people, maybe by God, too, but by people, and the government didn’t have a hand. And I think that contributed to a sense of trust, of ownership.
A.1. Interview with Mark Valeri
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I also found that Protestants embrace individualistic values such as independence, self-expression and imagination less than other people. Why do you think is that? I sort of resist that a little bit. I think that Protestants have a collective mentality, it’s just a different kind of collective mentality. There is a collective mentality of small groups rather than large, large groups. They very much conform to local conditions. They very much have a communal consciousness in their churches. Everyone is invested in society even if they talk about being individual but their notion of being an individual is after all a “social norm” and in itself is inculcated and encouraged. So I’m not terribly enthusiastic about embracing the notion of American individualism, it’s true that Americans talk a lot about that and they think about individuals making decisions in the privacy of their own conscious a lot. I haven’t figured that one out. I think it’s ambiguous to me, the whole notion of American individualism and the way religion contributes to it. Why do you think the idea of an individualized relation to God is more common in the US than it is in Germany? That’s a very deep and profound question. Do you really think that’s so, that it’s more common in America? In Germany, there’s a tradition of German mysticism, and German Catholic piety, the whole Pietist movement also fostered the individual relationship with God. I do think it’s written about more in America and talked about more because there is this democratic free-market and individual responsibility culture. In Protestantism, you don’t need the churches so much, you don’t need the priests so much, it’s you and the Bible and Jesus. There is a Protestant heritage to that. I think that is also in the mystical tradition, the Pietist tradition in Germany as well, but I think it’s just more evident in America. So I wouldn’t say America is individualistic, Germany is collective-minded, I don’t think it’s that. It’s somewhere in between. September 15, 2017
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Interview mit Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Manche vertreten die These, dass Max Weber überholt ist und es keinen Zusammenhang zwischen Protestantismus und Kapitalismus gibt. Allerdings konnte ich in der Analyse einen positiven Effekt finden, in den USA war es sogar der größte Effekt. Denken Sie, dass das die Weber-These unterstützt oder könnte es andere Gründe für dieses Ergebnis geben? Wir müssten genauer über die Ergebnisse im Einzelnen sprechen. Das sind ja nicht immer dieselben Effekte. Der Protestantismus hat mal einen stärkeren, mal einen nicht so starken Effekt. Das kommt darauf an, was jeweils die abhängigen Variablen sind. Das würde ich gern differenziert diskutieren. Wenn man über den Zusammenhang von Arbeitsethik, Wirtschaftsordnung und Protestantismus nachdenkt, dann ist auffällig, dass die Effekte des Protestantismus auf die Akzeptanz von Wettbewerb, der kapitalistischen Wirtschaft, von individueller Anstrengung, nicht sehr stark sind. Andere Effekte (nationale Unterschiede, das Alter) sind meist viel stärker. Insofern würde ich sagen, die Weber-These wird schwach bestätigt. Die scharfen Differenzen zwischen den Konfessionen, vor allem in Deutschland, haben sich deutlich abgeschwächt. Das ist auch ein Ergebnis Ihrer Untersuchung. Sie können Effekte noch nachweisen; zum Teil zeigen sie sich ja sogar mehr in den Regionen, also ehemals dominant protestantischen Regionen. Die Effekte sind in meinen Augen nicht stark. Andere Einflussfaktoren sind stärker. Die Max-Weber-These hat keine Widerlegung erfahren, aber man muss sagen, dass sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die konfessionellen Differenzen deutlich abgeschwächt haben. Vor allen Dingen gilt das für Deutschland. Sie sind ja vor allem für die USA ziemlich deutlich, Bejahung des Kapitalismus, Wettbewerb, Berufsethik, dagegen, wenn man sich das hier anschaut, für Deutschland, das ist ja fast nichts. Da gibt es starke Differenzen zwischen Deutschland und den USA. Für die USA kann man diese These noch eher bestätigen als für Deutschland. In Deutschland sieht man, dass die Prägekraft der Konfessionen zurückgegangen ist. Warum, denken Sie, sind Amerikaner so viel kapitalistischer als Deutsche?
A.2. Interview mit Detlef Pollack
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Das war für mich auch eigentlich das stärkste Ergebnis, oder mit eins der stärksten Ergebnisse Ihrer Analyse. Da sieht man die scharfen Differenzen zwischen den USA und Deutschland. Ich würde sagen, in den USA gibt es ein starkes Bewusstsein dafür, dass man im Wettbewerb miteinander steht, dass der Einzelne für sich selbst verantwortlich ist. Das zeigt sich auch hier, in den Ergebnissen. Und das hängt zusammen damit, dass man den Hedonismus äußerst kritisch sieht, dass man Arbeit als eine Verpflichtung, als eine Aufgabe ansieht, und das viel stärker als in Deutschland. Ich würde sagen, das ist Ausdruck eines entwickelten Individualismus in den USA, die Bejahung individueller Verantwortung. Das zeigt sich auch später noch, wenn es um die Institutionen geht, dass die Skepsis gegenüber Institutionen in den USA sehr hoch ist, höher noch als in Deutschland. Ich würde sagen, die Ergebnisse sprechen vor allen Dingen dafür, dass dem Einzelnen viel zugetraut wird, aber auch viel zugemutet wird, und dass man die Verantwortung des Einzelnen enorm hoch schätzt. Das wäre meine Lesart dieser Ergebnisse. Dann ist ganz wichtig die Differenz zwischen den älteren und den jüngeren Generationen. Wir haben jetzt für die USA eben doch eine weitaus stärkere Bejahung des Hedonismus in der jüngeren Generation. Und da würde ich in der Tat auch einen Wertewandel sehen. Wenn man die USA und Deutschland vergleicht, sind die USA, was den Wertewandel oder was die Wertorientierungen angeht, individualistischer als Deutsche, zugleich weniger auf Selbstverwirklichung, Hedonismus, Partizipation, auf diese modernen, postmaterialistischen Werte orientiert als Deutsche. Aber man sieht innerhalb der USA, wie sich das ändert. Also auch wenn sie „konservativer“ sind, sieht man, wie sich die Werteorientierungen in Richtung auf höhere Partizipationsforderungen, mehr Selbstverwirklichung, mehr Interesse an Lebensgenuss ändern. Insofern haben wir in den USA zwar eine konservativere Gesellschaft als in Westdeutschland (oder in Deutschland beziehungsweise in Westeuropa), aber die Entwicklung geht in die gleiche Richtung. Das zeigen viele Untersuchungen, auch von Inglehart, Inglehart und Baker sind da wichtig. Der säkulare Trend ist im Grunde genommen vergleichbar, aber der Ausgangspunkt in den USA ist ein ganz anderer. Die Tabelle mit den Regressionsanalysen zu Arbeitsethik und Wirtschaftsordnung in den USA (Tabelle 18) zeigt das ganz deutlich, wie der Wertewandel in der jüngeren Generation im Vergleich zur älteren Generation in diese Richtung geht, die
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wir auch in Westeuropa seit Jahrzehnten beobachten, mehr in Richtung Hedo-Materialismus oder Hedonismus. Das Alter hat hier mit den stärksten Einfluss, und da haben Sie diese Altersdifferenz. Das ist in Deutschland nicht anders, aber wir haben ein anderes Niveau in der Bejahung von hedonistischen Werten zwischen den USA und Deutschland. Warum, denken Sie, konnte ich nur in den USA einen signifikanten Effekt von Protestantismus auf Arbeit als Verpflichtung finden, aber nicht in Deutschland? In Deutschland hängt das mit der Nivellierung der konfessionellen Differenzen zusammen. Das ist in den USA anders. In den USA haben Sie noch relativ geschlossene protestantische Milieus. Sie haben nochmal unterschieden in Regionen, aber in jedem Fall, der Protestantismus war die Mehrheitskultur in den USA. Im 19. Jahrhundert waren über 70 Prozent Protestanten, in den 1950er/1960er Jahren waren es mehr als 60 Prozent, jetzt etwas weniger als 50 Prozent, und die gesamte Kultur ist in den USA sehr stark protestantisch geprägt. Dieses hohe Arbeitsethos, das Gefühl von individueller Verantwortung, ich gebe der Gesellschaft etwas zurück, bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber den Institutionen, die von oben kommen das halte ich für etwas ganz Typisches für den amerikanischen Protestantismus. Die Betonung der Eigenständigkeit des Individuums, der Verantwortung des Individuums - das hat sich so in Deutschland nicht halten können. Man muss im Gegenteil sogar sagen, dass in Deutschland in manchen Beziehungen die Katholiken sogar individualistischer sind als die Protestanten. Und wenn man Protestanten und Katholiken nochmal gegenliest gegen die Konfessionslosen in Deutschland, die ja nun auch ein Drittel ausmachen, und nehmen wir mal nur die Konfessionslosen im Westen Deutschlands, da sind die Konfessionslosen nochmal weitaus individualistischer als Protestanten. Da sind diese traditionalen Effekte nicht mehr anzutreffen oder kaum noch anzutreffen. Würden Sie empfehlen, dass ich Konfessionslose noch einmal separat betrachte? Also ich finde das wichtig. Sie haben ja immer Protestanten und andere. Diese anderen sind eine sehr diverse Gruppe. In Deutschland haben Sie da natürlich viele Katholiken, aber Sie haben ja auch sehr viele Konfessionslose. Und in den USA gibt es inzwischen auch viele Konfessionslose. Und Sie wissen im Grunde genommen nicht,
A.2. Interview mit Detlef Pollack
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mit wem Sie die Protestanten vergleichen. Und ich könnte mir vorstellen, wenn Sie die Konfessionslosen nochmal genauer anschauen, dass Sie da nochmal interessante Effekte herausstellen können. Die Effekte, die Sie finden, sind ja nicht nur bezogen auf die Gruppe, die Sie untersuchen, sondern auch auf die Gegengruppe, mit der Sie die Gruppe vergleichen jeweils. An einer Stelle hatte ich das notiert, wo Sie das in meinen Augen unbedingt machen sollten. Bei Individualisierung haben Sie ja erstaunlicherweise herausbekommen, dass die Effekte des Protestantismus auf Individualisierung eher negativ sind. Aber womit hängt das zusammen? Das kann mit der Kontrastgruppe zusammenhängen. In den USA blieb dieser negative Effekt erhalten und auch in Deutschland. Er ist auch, was Individualisierung angeht, eher negativ, und zwar in beiden Fällen, in den USA sogar stärker. Für dieses Ergebnis in Tabelle 28 habe ich zwei Erklärungen. Ich habe einmal die Erklärung, dass der Protestantismus in den USA eine sehr stark kirchliche Gestalt hat. Er ist damit verbunden, dass man in die Kirche geht. Auch der Bibelglaube ist stark ausgeprägt. Das haben Sie auch gezeigt. Die Bindung an die Kirche ist stark, die Involvierung des Einzelnen in das kirchliche Leben, das Engagement. Das fand ich ja das interessanteste Ergebnis an Ihren Untersuchungen, dass es eine Spannung gibt zwischen Individualismus, individuellen Werten auf der einen Seite und Vertrauen zur Kirche. Das spiegelt sich hier nochmal. Und man weiß nicht ganz genau, worauf das jeweils zurückzuführen ist. Das könnte so sein, dass in dieser scharfen Ablehnung von Individualisierung in den USA sich eigentlich stärker eine Kirchenbindung ausdrückt. Sie haben diesen Faktor zusammengezogen, beziehungsweise das hat sich in der Faktorenanalyse (Tabelle 24) so ergeben, aber Sie nehmen das als eine Einheit. Und man weiß nicht ganz genau, was sich in diesen Zahlen ausdrückt. Das eine könnte sein, dass sich da eine starke Kirchenbindung ausdrückt, vor allen Dingen in den USA, die eben bei den Protestanten sehr hoch ist. Das andere, was sein könnte, ist, dass gewissermaßen diese Gegengruppe bei den Protestanten – da weiß man nicht ganz genau, was die Gegengruppe ist. Das sind Konfessionslose, das sind Katholiken, das sind auch Andersgläubige, und man wundert sich ein bisschen, dass dieser Zusammenhang bei diesen Koeffizienten negativ ist. Das haben Sie hier auch herausgearbeitet, dass das eigentlich gegen die Erwartung ist. Und da würde ich sagen, würde es sich lohnen, diese Gruppe, diese Kontrastgruppe, den anderen Pol des Duals, sich noch einmal genau-
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er anzuschauen. Das könnte etwas bringen. Ich würde vermuten, dass in den USA Individualismus bei den Protestanten relativ entwickelt ist, im Kontrast zu den Konfessionslosen – wäre meine Vermutung, das kann auch vollkommen falsch sein – und in Deutschland würde ich das nicht so sehen. Da würde ich denken, dass – also ich habe mir andere Sachen angeschaut, Verhältnis zu Werten wie Ordnung, Fleiß, Disziplin. Da sind die Protestanten im Westen Deutschlands konventioneller als die Konfessionslosen. Wenn man das macht, könnte das nochmal interessant sein für Sie. Dieser hohe Korrelationskoeffizient in Tabelle 6 von -0,46633 , den finde ich schwer zu interpretieren. Und das hängt mit der Faktorenanalyse zusammen, die Sie hier haben (Tabelle 24). Das ist ja interessant, dass hier das Misstrauen gegenüber der Kirche so hoch zusammenhängt, also so hoch auf dem gleichen Faktor lädt wie Individualisierung. Und das habe ich auch herausgefunden in meinen Untersuchungen. Es gibt eine ganz starke Spannung zwischen dem Bestehen auf Selbständigkeit, auf Wertschätzung von Phantasie, Unabhängigkeit, Individualwerten auf der einen Seite und Skepsis gegenüber Institutionen auf der anderen Seite, und das betrifft eben vor allen Dingen die Kirche. Die Kirche ist die autoritäre Institution schlechthin. Und wenn Sie diesen Faktor jetzt benutzen in der Rechnung, in der Regressionsanalyse, dann ist nicht klar, in meinen Augen, was Sie messen, wenn Sie da Zusammenhänge oder negative Zusammenhänge feststellen. Es könnte sein, dass sich in diesem hohen Wert eben auch vor allen Dingen eine Abwehr der Protestanten gegenüber einer Missachtung, einer Skepsis gegenüber der Kirche ausdrückt. Insofern wäre es aus theoretischen Gründen gut, auch wenn das hier auf einen Faktor lädt, das noch einmal auseinanderzunehmen. Das würde sich lohnen in meinen Augen. Denn das ist ja ein sehr interessantes Ergebnis, und es ist auch hochsignifikant. Ich hatte versucht, den starken Effekt von Alter auf „Arbeit als Verpflichtung“ mit dem Wertewandel zu erklären. Dem würde ich zustimmen, ja. Das liegt ja nahe, da eine Generationendifferenz als Erklärung heranzuziehen um zu sagen, da verändert sich in den USA und in Deutschland etwas, aber eben auch in den USA. 33 Wirkung
der Nation (USA) auf Individualisierung und Skepsis gegenüber Kirchen in einer alten Berechnung; dieser Regressionskoeffizient kommt in den neuen (hier vorliegenden) Berechnungen nicht mehr vor.
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Wie würden Sie erklären, dass im Modell für beide Länder der Effekt der Nation negativ ist? Demnach würde „Arbeit als Verpflichtung“ in Deutschland stärker vertreten als in den USA. Das sind wirklich interessante Ergebnisse. Wir haben auf der einen Seite, wenn es darum geht, Einkommensunterschiede zu akzeptieren, in den USA eine stärkere Bejahung als in Deutschland, von Wettbewerb auch eine stärkere Bejahung, und zugleich eine stärkere Ablehnung von Hedonismus. Ich finde, das ist ein Hinweis auf diese traditionelle Arbeitsethik, die in den USA sehr stark ausgeprägt ist. Man sieht das auch, an den Autos wird noch richtig gearbeitet, die sitzen da noch mit dem Hammer und beulen die Dellen aus, das wird in Deutschland gar nicht mehr gemacht. Arbeit ist da wirklich mit Entsagung verbunden und mit Kampf, Kampf gegen das Material, mit dem Gegenstand, mit der Natur. In Deutschland, das ist wirklich anders. Wir haben ein ganz anderes Arbeitsethos. Arbeit muss auch erfüllend sein, muss den eigenen Wünschen und Bedürfnissen entgegenkommen, und ist nicht etwas, das gewissermaßen auf Kosten meiner Selbstverwirklichung geht, sondern ist eine Form der Selbstverwirklichung. Und das finde ich, ist typisch auch für die Arbeitshaltung hier in Westeuropa, wo man ja beobachten kann, dass die Zufriedenheit mit der Arbeit sehr hoch ist. Und da könnte ich mir vorstellen, dass das in den USA anders ist. Das weiß ich jetzt nicht, aber ich könnte mir vorstellen, dass Arbeit dort mehr noch als eine Verpflichtung wahrgenommen wird, als etwas, wo man sich selbst kasteit, wo man auch Opfer bringt. Das ist ja auch typisch für diesen Gedanken, dass man etwas tut für die Gesellschaft. Das würde dann dem Ergebnis widersprechen, dass „Arbeit als Verpflichtung“ in Deutschland stärker geschätzt wird als in den USA. Das würde dem widersprechen, ja. Da müsste man nochmal gucken, wenn man nur die USA sich anschaut. Das ist innerhalb der USA dann mehr etwas, was in der älteren Generation anzutreffen ist (Arbeit als Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft), aber im Protestantismus auch noch ein bisschen stärker ausgeprägt ist. Ja, man muss vorsichtig sein, man darf nicht zu sehr in eine Richtung gehen. Aber hier sind die Differenzen, was den Hedonismus angeht, zwischen den USA und Deutschland wirklich sehr, sehr groß. Individualismus ist ja auch etwas Zweischneidiges. Wenn man davon ausgeht, dass der Einzelne verantwortlich ist, ist das auch damit verbunden, dass man Fehler macht. Und wenn man Arbeit sehr
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stark als eine Form der Selbstverwirklichung versteht, das spricht nichts dagegen, dass man dann auch die Anderen mit im Blick hat. Das kann ich jetzt nicht genauer auseinandernehmen, aber ich finde das nicht so einfach. Das wird ja auch oft gesagt in der Literatur, dass Individualismus nicht unbedingt auf Kosten der anderen gehen muss. Vielleicht ist das sogar auch ein typischer Ausweis für das, was wir hier in Westeuropa erleben, dass man schon sehr stark auf die Orientierung an Werten der Selbstverwirklichung interessiert ist, dass man diese Selbstverwirklichungswerte sehr hoch schätzt, aber zugleich auch andere Werte wie Fairness oder Verantwortung, und dass man versucht, das miteinander zu vermitteln. Ich könnte mir gut vorstellen, dass diese Vermittlung von Werten der Selbstverwirklichung und der Gemeinschaft in Ländern wie Schweden und Norwegen noch besser gelingt als in Deutschland, und dass das in den USA weit stärker als Gegensatz empfunden wird. Ich bin jetzt nicht ganz sicher, aber ich kann mir vorstellen, in diese Richtung könnte man denken. Also es ist ja doch interessant, dass viele von den sehr auf ihre beruflichen Ziele orientierten jungen Leuten zugleich auch soziale Arbeit machen, zugleich auch Familie haben wollen. Das ist nicht mit einem reinen Egoismus verbunden, sondern das wird ausbalanciert. Vielleicht ist diese Ausbalancierung hier in Westeuropa und vor allen Dingen in Schweden und Norwegen weiter entwickelt ist als in den USA, wo das stärker als Gegensatz empfunden wird, das wäre denkbar. Warum, denken Sie, konnte ich in Deutschland keinen Effekt von Protestantismus auf kapitalistische Einstellungen finden? Sie sagten ja bereits, dass sich die Prägekraft der Konfessionen in Deutschland abgeschwächt hat. Ja, genau. Das ist für mich der entscheidende Punkt. Und das war bestimmt zu Max Webers Zeiten deutlich anders. Man sieht das auch an anderen Stellen, wenn Sie jetzt untersuchen würden, Protestantismus und Katholizismus in ihren Effekten auf Wahlverhalten, haben Sie auch kaum noch Differenzen. Sie haben jetzt die Differenzen mehr zwischen den hochkirchlich Engagierten oder stark kirchlich Verbundenen auf der einen und den nicht so stark kirchlich Verbundenen auf der anderen Seite, aber nicht zwischen Protestantismus und Katholizismus. Insgesamt zeigt diese Entwicklung in Deutschland, dass die konfessionellen Differenzen sich nivelliert haben. Auch das Heiratsverhalten, das ist ja heutzutage durchaus so,
A.2. Interview mit Detlef Pollack
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dass man über die konfessionellen Grenzen hinweg heiratet. Auch da ist die Prägekraft der Konfessionen zurückgegangen. Wie erklären Sie den negativen Effekt von Protestantismus auf HedoMaterialismus? Der Effekt ist ja nicht stark. Er ist zwar signifikant, und andere Faktoren sind auch berücksichtigt – das würde ich gar nicht interpretieren. Das finde ich nicht stark genug, und hier würde ich auch wieder sagen: Sie müssen wissen, was die Gegengruppe ist. Wenn Sie das nicht wissen, haben Sie ein Problem. Dann können Sie das gar nicht gut interpretieren. Ich würde denken, da ist vor allen Dingen der Gegensatz zu den Konfessionslosen entscheidend. Und ich glaube, dass es bei den Katholiken so ähnlich aussieht, oder sogar noch stärker. Mir ist das mal aufgefallen, dass in Deutschland, diese typisch protestantischen Einstellungen, Askese und so weiter, verbreiteter sind unter Katholiken als unter Protestanten. Das sind aber relativ minimale Differenzen. Es ist mehr die Differenz zwischen Konfessionsangehörigen und Konfessionslosen als zwischen Katholiken und Protestanten. Bei der Frage nach der individuellen Verantwortung konnte ich einen Effekt des Protestantismus zeigen in beiden Ländern und in den USA, aber nicht in Deutschland. Wie würden Sie das erklären? Das ist immer dieselbe Erklärung. In den USA haben Sie es noch, in Deutschland nicht. Da sind diese beiden Tabellen (Tabelle 18 und Tabelle 19) ja sprechend. In den USA können Sie noch Zusammenhänge nachweisen, aber in Deutschland nicht. Grundsätzlich, dass Amerikaner individuelle Verantwortung mehr schätzen als Deutsche, würden Sie sagen, dass dabei die unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatssysteme eine Rolle spielen? Das könnte sein, ja. Da würde ich Ihnen Recht geben. Also wir haben ja auch eine ziemlich starke Institutionenskepsis in Deutschland. In den USA ist sie in meinen Augen deutlich höher als in Deutschland, aber in den USA geht diese Skepsis viel stärker damit einher, dass man auch bereit ist, sich aktiv selber um kommunale Belange zu kümmern. Das ist jedenfalls mein Eindruck. Man erwartet weniger vom Staat, man mutet dem Einzelnen mehr zu, man ist aber auch bereit, mehr zu tun, wenn man zum Beispiel an soziales Engagement denkt. Freiwilligenarbeit ist ja in den USA höher als in Deutschland, als überhaupt in Westeuropa. Und das würde ich in diesen Zusammenhang mit hineinbringen. Dass man sehen kann, dass dem Einzelnen mehr zugemutet wird, aber dass er sich auch
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mehr engagiert, bereit ist, sich mehr in die Gemeinschaft einzubringen, aber auch, für sein eigenes Leben einzustehen. Diese Ideologie des American Way of Life, das spiegelt sich hier wieder, in diesen Länderdifferenzen. Dann würde ich zu den nächsten Tabellen kommen, zu den Institutionen. Warum, denken Sie, dass Protestanten politischen Institutionen mehr vertrauen als andere? Das ist natürlich schwierig, das kausal herzuleiten. Also ich würde sagen, dass der Protestantismus wirklich eine Erfahrung hat mit Demokratie. Aufgrund der Synoden, aufgrund der synodalen und presbyterialen Ordnungen gibt es sozusagen eine Einigung in demokratische Verfahren. Zugleich auch ist es typisch für den Protestantismus, dass dem Einzelnen mehr religiöses Gewicht zukommt als im Katholizismus. Diese Unmittelbarkeit der Beziehung des Einzelnen zu Gott steht dahinter, und ich würde sagen, irgendwo gibt es tatsächlich eine Affinität zwischen Protestantismus und Demokratie. Wir wollen das mal nicht überzeichnen, weil auch natürlich die evangelischen Kirchen traditionell autoritäre Institutionen sind. Wenn man an das 17., 16. Jahrhundert denkt, aber das hat sich ja auch gewandelt und gerade in den USA haben die protestantischen Gemeinden sich zu einem großen Teil von unten her entwickelt, sie haben sich sozusagen selbst lokalisiert. Und das ist natürlich ein Hinweis auf demokratische Prozesse in den Kirchgemeinden. Und insofern würde ich sagen, gibt es da eine Nähe zwischen Protestantismus und Demokratie. Traditionell, auch in Europa, aber in Europa später, im 19. Jahrhundert. Davor waren die Kirchen aufgrund der Nähe zwischen den kirchlichen Institutionen und den politischen Institutionen (Thron und Altar) noch viel stärker Herrschaftsinstitutionen. Also auch die evangelischen Kirchen, die katholischen sowieso, aber auch die evangelischen. Das ist natürlich auch ein interessanter Fall, dass man sehen kann, dass Institutionen in der Lage sind sich zu wandeln. Wenn Sie sich evangelische Kirchen heute anschauen, sind das professionell und organisatorisch hochintegrierte Einheiten, aber zugleich gibt es sehr viel an Dialog, sehr viel an Offenheit, sehr viel an Flexibilität, und das steht in einem starken Widerspruch zu dem, was die evangelischen Kirchen im 16., 17. Jahrhundert ausmachten. Da waren die Konfessionskirchen im Grunde genommen eigentlich Disziplinaranstalten. Das sind sie natürlich überhaupt nicht mehr. Sie haben sich wirklich in meinen Augen um 180 Grad gedreht, stärker als die katholische Kirche.
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Aber die Hauptveränderung brachte dabei vor allem das 19. Jahrhundert? Ja, da entstand die Synodalverfassung. Das hängt mit der Aufklärung zusammen in dieser Zeit. Die Rolle der Kirchen im 16. und 17. Jahrhundert ist sehr stark dadurch geprägt, dass eigentlich von den Kirchen her in alle gesellschaftlichen Bereiche hineingewirkt wird, also in das öffentliche Leben, das politische Leben, das rechtliche Leben, die Familien, bis in die Gewissen hinein und wie man seinen Beruf ausübt. Und diese starke Kraft der gesellschaftlichen Durchdringung geht im 18. Jahrhundert deutlich zurück. Der Einzelne wird nicht mehr gefragt, wie weit er dem Willen Gottes entspricht, sondern umgedreht. Es wird gefragt, was tut eigentlich die Kirche, was tut Gott, damit die individuellen Bedürfnisse befriedigt werden können? Und das ist sozusagen eine Drehung von einer theologischen Orientierung auf eine anthropologische. Und das hat Konsequenzen für die Kirche, also auch für das Selbstverständnis der Kirchen, für den institutionellen Charakter. Und man sieht das. Das sind sozusagen alles altehrwürdige, die hierarchisch orientiert sind, hierarchisch strukturiert sind und so weiter, aber der Mensch kommt mehr und mehr in den Mittelpunkt. Und das zeigt sich eben im 19. Jahrhundert, wo dann auch zum Beispiel Diakonie und Caritas eine Rolle spielen, die soziale Arbeit der Kirchen. Man kümmert sich um die Bedürftigen, um die Armen. Das hat man immer gemacht, aber im 19. Jahrhundert wird das eine ganz zentrale Aufgabe der Kirche. Vorher war Armenfürsorge immer eine Aufgabe der Kirche, aber das verstärkt sich noch im 19. Jahrhundert. Oder dass man auch politische Anliegen vertritt oder Bildungsaufgaben übernimmt, auch das war auch immer eine Aufgabe der Kirche. Aber die Kirche war gewissermaßen im 17. und 16. Jahrhundert viel stärker eingebunden in eine ständische Gesellschaft, und dann mit dem 18. und 19. Jahrhundert bricht die ständische Gesellschaft zusammen und die Kirche muss darauf reagieren. Und sie reagiert darauf. Sie muss sich neu erfinden, und sie wird eine viel stärker gesellschaftsoffene, dialogisch orientierte Institution mit viel historischer Erblast. Der Punkt war ja dieses Verhältnis zur Demokratie, und man öffnet sich da gewissermaßen gegenüber der Gesellschaft. Schade, dass man das nicht anhand von Umfragedaten vergleichen kann. Nein, das kann man nicht, das wäre wunderbar, aber da haben wir nur die historischen Quellen. Und das sind auch nur die Quellen einer ausgewählten Schicht von fünf Prozent der Bevölkerung. Wer
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392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430 431
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kann schreiben, wer kann lesen, wer schreibt? Das sind natürlich die politischen, die kulturellen Eliten, von denen wir die Zeugnisse haben. Warum misstrauen Amerikaner ihren Institutionen stärker als Deutsche? Das finde ich ziemlich eindeutig. Die USA sind entstanden aus einem Misstrauen gegenüber Institutionen. Die Losreißung der Kolonien von England ist ein Akt der Selbstermächtigung, und das geht zusammen mit einer Kritik an den Institutionen, am Königtum vor allen Dingen. Und die Kirchen sind von vorneherein nicht auf der Seite des Königs, sondern auf der Seite der Gesellschaft. Das ist ganz anders in den USA als in Europa, wo die Kirchen verbunden sind mit der politischen Herrschaft. Dort sind sie immer Institutionen auf der Seite derjenigen, die sich gegenüber den Institutionen abgrenzen. Und das ist bis heute, Stichwort Trump, der Erfolg eines Außenseiters gegenüber dem Establishment der politischen Eliten, das ist bis heute die Ideologie, dass man auf jeden Fall allen Institutionen misstraut. Und die Kirche wird zu einem großen Teilen nicht als Institution wahrgenommen in den USA, sie ist eher mehr gemeinschaftlich, als Gemeinde, mehr presbyterial verfasst oder kongregational verfasst, als Gemeinschaft verstanden. Die presbyterianischen Gemeinden sind auch stark in den USA. Da gibt es auch einen Ältestenrat. Das ist alles demokratisch gedacht. Wenn man eine neue Gemeinde gründet, gründet man als erstes eine Kirche, stellt einen Pfarrer. Und das ist der Weg, wie Kirche entsteht, Kirchen entstehen von unten her aus der Gemeinschaft heraus. Währenddessen in Europa Kirchen etwas sind, das wie der Staat die Gemeinden verwaltet. Dann gibt es die Parochien, die einzelnen Gemeinden, und die werden versorgt. Da werden die Pfarrer abgeordnet durch die Kirchenleitung, kommen dann in die Gemeinden. Die Gemeinde hat auch ein gewisses Mitspracherecht, aber das ist eine ganz andere Struktur. Das ist mehr eine hierarchische Struktur, und in den USA haben wir diese Bewegung von unten. Und die ist natürlich auch gestützt durch die Skepsis gegenüber allen hierarchischen Institutionen. Und das zeigt sich hier deutlich in den Daten. Und, die Skepsis gegenüber den Institutionen ist in den USA stark, und dann haben Sie als Nächstes, dass die Demokratie nicht so wertgeschätzt wird. Das ist, denke ich, ein Hinweis darauf, dass die Demokratie in den USA auch als etwas Wesensfremdes wahrgenommen wird. Wenn sie organisiert wird, wenn man wählen soll,
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wenn man sich an bestimmten Verfahren beteiligen soll, und wenn man da das Establishment in Washington zu wählen hat, da ist man eher skeptisch. Sie wissen ja, dass in den USA die Wahlbeteiligung bei unter 50 Prozent liegt. Würden Sie für beides, also dafür, dass Protestanten Institutionen mehr vertrauen und dass sie die Demokratie mehr schätzen, die gleiche Erklärung geben? Das sind schwierige Ergebnisse. Bei der Wertschätzung der Demokratie, da haben wir wieder die Affinität zwischen Protestantismus und Demokratie. Und wenn Sie jetzt hier oben hinschauen, auf diesen negativen Effekt der Nation (USA) auf Individualisierung und Skepsis gegenüber Kirchen34 - da bin ich nicht ganz sicher, weil dieser Faktor sehr vieles umfasst. Und in meinen Augen drückt sich da möglicherweise eben auch die Kirchennähe der Protestanten aus. Die Skepsis gegenüber den Kirchen ist bei den Konfessionslosen natürlich höher als bei den Protestanten. Ich würde vermuten, dass sich in diesem Korrelationskoeffizienten diese Skepsis gegenüber den Kirchen bei den Konfessionslosen vor allen Dingen widerspiegelt im Gegensatz zu den Protestanten, die vor allen Dingen in den USA kirchennäher sind als in Deutschland. Insofern wäre das sinnvoll, wenn Sie das wollen, wenn Sie die Zeit haben, sich das nochmal genauer anzuschauen. Das ist klar, das lädt in der Faktorenanalyse in Tabelle 24 auf demselben Faktor, aber wenn Sie das als einen Faktor behandeln, dann wissen Sie nicht ganz genau, wie Sie das interpretieren können. Ich würde vermuten, dass sich mehr Kirchennähe ausdrückt in dieser Abwehr von Individualisierung und in dieser Abwehr von Skepsis gegenüber den Kirchen. Das behandeln Sie sozusagen als zusammengehörig, und dann wissen Sie nicht genau, wo Sie das zurechnen sollen. Also ich könnte mir das vorstellen. Es könnte auch sein, dass beides richtig ist, dass die Kritik gegenüber dem Individualismus, wie sie sich hier ausdrückt, auch (vor allen Dingen in den USA) ein Ausdruck dessen ist, dass sich Kirchennähe generell mit individualistischen Werten nicht gut verträgt. Das gilt noch mehr in meinen Augen für den Katholizismus, aber auch schon für den Protestantismus. Das zeigt sich immer wieder ganz stark. Ich finde auch, das sind interessante Ergebnisse, die Sie hier gebracht haben: Wenn Menschen darauf bestehen, dass 34 Regressionskoeffizient
von -0,466 in einer früheren Berechnung, ist in den hier abgebildeten Berechnungen nicht mehr enthalten
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469 470 471 472 473 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506
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sie unabhängig sind, dass sie selbständig sind, dass sie auf ihre Kreativität vertrauen, dann haben sie ein Problem mit Institutionen, und vor allen Dingen mit Kirche. Im Modell von Deutschland hatte ich gesehen, dass es einen positiven Effekt von historisch protestantischen Ländern gibt auf die Skepsis gegenüber politischen Institutionen. Ja. Ich würde das nicht hochschätzen. Erstmal ist der Effekt ja kaum signifikant35 . Ich würde da vorsichtig sein, zumal Sie ja bei vielen anderen Stellen überraschenderweise diese legacy der protestantischen Länder nicht so gut nachweisen können. Ich würde mich lieber auf diese großen Effekte konzentrieren. Das sind dann robuste Ergebnisse. Es mag sein, dass noch ein Stückchen in den traditionell katholischen Ländern der Autoritätsglaube etwas stärker entwickelt ist. Die Protestanten im 17. oder im 16 Jahrhundert - Protestanten ist ja eine Selbstbezeichnung, sie verstehen sich selber als Protestanten, sie protestieren gegenüber den Herrschenden, gegenüber der Kirche - verstehen sich sozusagen als selbständig. Das gehört zur Erbschaft des Protestantismus. Das kann sein, dass sich das darin noch ausdrückt, aber das ist ja auch ein schwacher Effekt. Da würde ich nicht so viel darauf geben. Ich würde da eher sagen, wieso ist der Effekt nicht größer? Und dann würde ich wieder darauf kommen zu sagen, diese konfessionellen Differenzen haben wir hier in Deutschland nicht mehr so stark. Tabelle 29 zeigt das eigentlich ziemlich deutlich, das sind sozusagen so schwache Zusammenhänge, und das kann man ein bisschen interpretieren. Aber eigentlich finde ich das Interessante: Diese Differenz müsste doch viel stärker sein, und ist so relativ schwach. Und das würde ich interpretieren. Also Sie haben immer entweder nicht signifikante Ergebnisse, oder gerade so signifikant, aber dann schwache Ergebnisse. Ich würde da auf die Schwäche dieser konfessionellen Effekte abheben. Und das ist in den USA wirklich anders. Das sind auch keine Rieseneffekte, aber sie sind wirklich deutlich stärker. Bei dem Punkt Wertschätzung der Demokratie konnte ich in beiden Ländern und in den USA einen positiven Effekt des Protestantismus finden, aber nicht in Deutschland. Wie würden Sie das erklären? Ich würde wie gesagt immer in diese Richtung gehen. Die Prägekraft der protestantischen Kirchen ist inzwischen so stark zurückgegangen. Wenn Sie das Ganze vor 30 Jahren gemacht hätten, wer 35 Signifikant
auf dem 0,05-Niveau
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weiß, vielleicht hätten Sie noch etwas herausbekommen. In den letzten 50 Jahren hat sich das nochmal abgeschwächt. Es gibt von Karl Schmitt Untersuchungen aus den 1980er Jahren, wo die Effekte noch da sind. Und dann sieht man das später, dass sich das immer stärker abschwächt. Bei der Frage des Vertrauens gegenüber Kirchen, dass Protestanten ihnen mehr vertrauen, da sollte ich nochmal nach den Konfessionslosen schauen, sagten Sie? Genau. Wahrscheinlich ist das einfach ein Effekt der Kirchenmitgliedschaft, würde ich vermuten. Wobei man sagen muss, nach dem, was ich da bisher so wahrgenommen habe, sind die Konfessionslosen vor allem im Westen Deutschlands viel hedonistischer und viel individualistischer eingestellt als die Konfessionsangehörigen. Das finde ich nochmal interessant. Das brauchen Sie vielleicht hier gar nicht, weil es darum nicht geht, aber im Osten sind die Konfessionslosen ziemlich konventionell. Ruhe und Ordnung und Disziplin werden hochgeschätzt. Und da sind die Protestanten sozusagen avantgardistischer. Im Westen ist es umgedreht. Das sind aber alles ganz schwache Differenzen. Ich kann Ihnen das auch einmal zuschicken, wenn Sie möchten, ich habe das einmal untersucht, anhand der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, nach West und Ost getrennt, oder es war ALLBUS, ich weiß es nicht mehr ganz genau. Ja, gerne. Dass Amerikaner ihren Kirchen mehr vertrauen als Deutsche. . . . . . hängt mit der Kirchenbindung zusammen. Die Kirchenbindung ist viel höher, der Grad der Aktivität ist viel höher in den USA, und die Kirchen sind eben keine Herrschaftsinstitutionen. In Westeuropa, auch zum Teil in Osteuropa, sind die Kirchen eben in ihrem Image dadurch beschädigt, dass sie immer als autoritäre Institutionen wahrgenommen werden. Das hängt mit der Erbschaft des Staatskirchentums zusammen. Die Kirchen waren eben bis 1918 Staatskirchen in Deutschland und sie wurden als politische Institutionen wahrgenommen. Es gab schon im ausgehenden 19. Jahrhundert eine starke Kluft zwischen Arbeiterschaft und Unterschichten in ihrem Verhältnis zur Kirche. So eine Art, in der Kirche zu sein, ohne die Kirche. Man trat nicht aus der Kirche aus, obwohl man das ab 1867 durfte. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte man austreten, das hat man nicht gemacht. Man wollte schon noch, dass die Kinder getauft werden, aber man ging nicht mehr hin. Das trifft auf die Unterschichten zu. Und die Oberschichten, die Beam-
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547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586
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tenschaft, vor allem diejenigen, die in der Nähe zu den staatlichen Institutionen, zu der Verwaltung und zum Königshof und Kaiserhof waren, die waren viel stärker kirchlich gebunden. Und das spiegelt nochmal diese Nähe der Kirche zur politischen Herrschaft wieder. In anderen Ländern hat man das nicht so, aber in Deutschland schon, diese Differenz zwischen Unterschichten und Mittelund Oberschichten. Das hat Hugh McLeod herausgearbeitet. Das ist mit einer der wichtigsten Kirchenhistoriker, der auch einen Vergleich gemacht hat zwischen Großbritannien und Frankreich und Deutschland. Das sind seine Untersuchungsgebiete. Bezüglich der Frage, wieso Protestanten Kirchen mehr vertrauen, hatte ich auch mit Mark Valeri, Professor für Religion und Politik an der Washington University in St. Louis, gesprochen. Er sagte, dass das auch an dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche liegen könnte. Sie haben die Protestanten gegen den ganzen Rest. Die Missbrauchsfälle betreffen die katholische Kirche. Das können Sie prüfen, wenn Sie drei Gruppen bilden und sich das anschauen, wie das aussieht bei den Protestanten, bei den Katholiken und bei den Konfessionslosen mit der Skepsis gegenüber der Kirche. Um solche Aussagen machen zu können, müssten Sie das wahrscheinlich machen. Ich bin sehr skeptisch gegenüber der Hochbewertung des Einflusses der Missbrauchsskandale auf die Kirchenbindung. Ich habe mir das einmal angeschaut, in Bezug auf Vertrauen zu den Kirchen oder Skepsis gegenüber den Kirchen. Da haben wir auch nicht so gute Zeitreihen. Wenn wir das im Zeitverlauf vergleichen wollen, vor und nach den Missbrauchsfällen, dann haben wir auch nicht die richtigen Daten. Ich habe mir das mal in Deutschland angeschaut, in Bezug auf die Kirchenaustrittsraten, und ich habe eine überraschende Entdeckung gemacht. Im Jahr 2010 sind diese Missbrauchsfälle bekannt geworden. Da gab es eine große Diskussion in Deutschland. Und tatsächlich geht die Kirchenaustrittsrate in diesem Jahr nach oben, von 0,5 Prozent auf 0,73 Prozent. Wenn Sie sich das mal anschauen, von 0,5 Prozent, das ist sozusagen fast nichts. Es treten ja immer nur sehr wenige aus, pro Jahr 0,5 Prozent des gesamten Mitgliederbestandes. Das ist in dem Jahr selber kaum zu spüren, aber das addiert sich dann. Über die zehn Jahre sind das schon fünf Prozent, und in diesem Jahr ist es um die Hälfte mehr. Man hat sozusagen einen kleinen Effekt. Aber es ist nicht so, dass die Kirchenbindung so stark beeinflusst wird von diesen Skandalen, weil die Kirchenbindung sehr stark von langfristigen Effekten ausgeht und ge-
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prägt ist – von Sozialisation, Erziehung, Einübung in religiöse Riten, Praktiken, Bekanntschaften, Netzwerken – und nicht so stark von kurzfristigen Ereignissen. Und ich würde das auch vermuten in Bezug auf das Vertrauen. Das schlägt mal kurz aus und dann pendelt es sich wieder ein. In meinen Augen sollte man das nicht überschätzen. In der Öffentlichkeit ist das breit diskutiert, aber Kirchenbindung ist etwas äußerst Komplexes und hängt von so vielen Faktoren ab. Es ist schon empfindlich gegenüber Veränderungen, aber hat auch eine ganz starke Langfristdimension. Insofern können Sie prüfen, vielleicht kriegen Sie etwas heraus. Ich würde vermuten, man sollte den Effekt nicht überschätzen. Ich habe es nur für Deutschland mir einmal angeschaut und die Kirchenbindung der Katholiken ist nach wie vor enorm hoch im Vergleich zu den Protestanten trotz der ganzen Skandale. Und es gibt immer auch Gegeneffekte: Auf einmal hat man einen Papst, den man liebt, und der durch die Welt reist. Und dann hat man eine Beziehung zur Kirchgemeinde, und hat die Firmung als ein schönes Ereignis in Erinnerung. Das ist sehr komplex, da gibt es viele Dimensionen, die das Verhältnis zur Kirche bestimmen, weil die Kirche selber auch eine sehr komplexe Institution ist. Es ist nicht so, dass man sagt, die Kirche hat diese Aufgabe, und wenn sie die nicht erfüllt, will ich damit nichts zu tun haben. Sie ist für die Schwachen da, macht aber auch Bildungsangebote, ist ein Stück Gemeinschaft, die Riten binden an die Kirche, dann gibt es einzelne Menschen, Priester, Pfarrer oder auch Bischöfe oder auch Vorbilder. Das ist so komplex, wenn dann ein Faktor in eine bestimmte Richtung ausschlägt, wird der dann auch wieder ein bisschen aufgefangen von den anderen. Insofern, das können Sie prüfen, aber ich würde vermuten, dass die Skandale überschätzt sind, und dass die Missbrauchsfälle auch zum Teil relativiert werden durch die vielen anderen Faktoren der Kirchenbindung. Ich hatte noch einen Effekt gefunden von den ehemaligen Dreizehn Kolonien auf Individualisierung und Skepsis gegenüber Kirchen – das ist aber auch nur ein kleiner Effekt. Ich würde da vorsichtig sein, aber das müssen Sie sehen. Warum denken Sie denn, dass sich die Idee der individualisierten Beziehung zu Gott in den USA besser halten konnte als in Deutschland? Es gehört ja in den USA dazu, die Kirchenbindung als etwas Hochindividuelles zu verstehen. Es ist nicht so, dass man da in den USA, wenn man eine hohe Kirchenbindung hat, sagt: „Ich ordne mich der Kirche unter.“ Ganz im Gegenteil, man sagt: „Ich habe et-
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was davon, dass ich in dieser Kirche bin. Das Gebet gibt mir Hoffnung. Ohne das Gebet könnte ich gar nicht leben und ich wüsste gar nicht, wie ich meine Kinder erziehen sollte, und auch die Nation ist abhängig von der Beziehung zu Gott.“ Das wird alles hochindividuell interpretiert und das ist natürlich typisch für diese Art der Religiosität, für diese vitale, durchlebte, sehr stark in die Lebensführung eingreifende Religiosität. Das ist der erste Punkt. Das zweite ist, diese Aussage: „Ich habe meinen eigenen Weg, mit Gott in Verbindung zu treten, ohne Kirchen oder Gottesdienste“ – was wird da gemessen? Das ist eine wunderbare Frage, aber im Grunde genommen sind das zwei Aussagen. Das eine ist „Ich habe meinen Weg zu Gott“, also „Ich habe eine Beziehung zu Gott“, das ist die eine Aussage. Die andere Aussage ist „Ich habe meinen eigenen Weg zu Gott“, und das ist hier sozusagen ineinandergemischt, und noch sogar mit der dritten Aussage „ohne die Kirche“ verbunden. Also man könnte sagen, „ohne die Kirche“ und „mein eigener Weg“, das sind die Pole, die laden auf einem Strahl und sind Pole auf einer Dimension. Aber eine andere Frage ist, ob ich eine Beziehung zu Gott habe oder nicht und das ist hier zusammengenommen. Jetzt ist die Frage, will man sagen, „Ich habe eine enge Beziehung zu Gott“ oder „Meine Beziehung zu Gott ist nicht dadurch geprägt, dass die Kirche mir vorschreibt, wie ich mich zu Gott stelle, sondern dass ich selber darüber entscheide“. Das sind zwei Aussagen in meinen Augen. Und ich glaube, dass in diesen starken Bejahungen in den USA vor allen Dingen dieser erste Aspekt eine große Rolle spielt: „Ich habe eine enge Beziehung zu Gott“, und das ist eben wirklich ein Unterschied im Säkularisierungsniveau zwischen den USA und Deutschland, wirklich eine starke Differenz, eine enorme Differenz. Und das ist dann eben noch, wie ich schon vorhin sagte, aufgeladen mit dieser Ideologie des Individualismus. Natürlich kann man sich nicht einfach irgendeiner Institution unterordnen, sondern das ist gewollt, das entspricht meinen Bedürfnissen, das habe ich selbst gewählt. Insofern würde ich sagen, diese beiden Punkte spielen hier gut zusammen, diese höhere Religiosität, und dass man Religiosität als etwas Hochindividuelles versteht. Und in Deutschland ist das Verhältnis insgesamt zur Religion nicht so leidenschaftlich, nicht so vital wie in den USA. Dann hatte ich gefunden, dass die individualisierte Beziehung zu Gott in Deutschland von Protestanten stärker geteilt wird als von anderen und in den USA ist es andersherum.
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Sie haben erstmal die Differenz zwischen den Ländern insgesamt und hier haben Sie den Mittelwert. Das erste ist diese Differenz zwischen den USA und Deutschland und dann innerhalb der einzelnen Nationen nochmal die Differenz zwischen den Protestanten und Nichtprotestanten. Ich würde sagen, in den USA sind die Protestanten sehr stark kirchlich, in Deutschland nicht so sehr. In Deutschland geht selbst dort, wo man sich für religiös hält, wenn man sagt „Ich habe eine Beziehung zu Gott“, geht das nicht unbedingt damit zusammen, dass man dann auch die Kirche hoch schätzt. Ganz im Gegenteil, das ist ja oft sogar spiegelbildlich miteinander verbunden, dass man sagt, ja, ich kann ja auch ohne die Kirche religiös, christlich sein und ich brauche die Kirche nicht. In den USA ist das, glaube ich, nicht so. Da gibt es auch diese Skepsis, klar, aber da hat man nicht diese Vorbehalte gegenüber der Kirche. Es ist eben eine typische Eigenschaft der kirchlichen Bindung in Westeuropa, dass die Kirchen immer auch selbst von den Gläubigen abgewertet werden. Es gehört fast mit zum Habitus. Bei den Katholiken noch stärker als bei den Protestanten, weil man sich auch an der Kirche reibt. In den USA ist man skeptisch gegenüber dem Staat und gegenüber der Regierung, gegenüber all dem, was sozusagen von oben kommt, gegenüber den Hierarchien. Aber die Kirche ist nicht ein Ausdruck der Hierarchie. Wenn man sich das anschaut in der Organisationsstruktur – es gibt natürlich überregionale Verbände, aber die sind relativ schwach. Das Geld kommt von unten, kommt nicht von dort. Und die haben sich zusammengeschlossen, aber Kirche, das ist eigentlich die Gemeinde. Insofern würde ich sagen geht in den USA Religiosität viel stärker zusammen mit einer gewissen Bejahung auch von Kirchen als in Westeuropa. Das wäre meine erste Erklärung für diese komische Differenz. Und das ist natürlich so, dass diese Art von Religiosität zugleich hochindividuell ist in den USA. Aber die Kirche ist eben doch nicht so stark etwas, das von außen her oder von oben her in mein Leben eingreift, sondern etwas, das ich selber mache. Und wir machen das. Und wie sie aussieht, das ist letztlich das Ergebnis unserer Gestaltungskraft. Ich glaube, so ein Bild hat man da von Kirche. Die Idee der individualisierten Beziehung zu Gott ist in den historisch protestantischen Teilen Deutschlands weniger stark verbreitet als in den historisch katholischen Teilen. Wie würden Sie das erklären? Ich wäre da vorsichtig, ich kann das nicht interpretieren. Ich könnte jetzt spekulieren, und sagen, dass Kirche früher stärker eine herr-
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707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731 732 733 734 735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745 746
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scherliche Institution war und heute nicht mehr und dass sich das widerspiegelt in den Effekten, aber ich würde das lieber nicht machen. Da fällt mir jetzt nicht viel ein. Die Idee, dass die Bibel das tatsächliche Wort Gottes ist? Das finde ich interessant, und das ist ja in den USA stärker, weitaus stärker als in Deutschland. Das ist wirklich ein Unterschied in der Art der Religiosität. Die Religiosität in den USA ist viel konkretistischer als in Deutschland. Das zeigt sich an ganz vielen Stellen. Sie haben hier das Verhältnis zur Bibel, ob man die wörtlich nimmt oder nicht, aber das kann man an ganz vielen Stellen zeigen. Immer ein Punkt, der mich in meinen Arbeiten beschäftigt hat: wie man sich Gott vorstellt. In Deutschland stellt sich die Mehrheit derjenigen, die überhaupt noch an Gott glauben, Gott als eine höhere Macht vor, sehr vage, nicht mehr als eine Person. Das ist in den USA ganz anders. Da ist es die überwiegende Mehrheit, die sich Gott als Person vorstellt, und nicht als eine höhere Macht. Insgesamt würde ich sagen, haben wir es in Westeuropa, Deutschland natürlich auch, mit einer Verflüssigung von religiösen Vorstellungen zu tun. Die sind nicht mehr so konkret, da kann man sich nicht mehr vorstellen, dass Gott in die Welt eingreift, dass er möglicherweise sogar wortwörtlich Einfluss genommen hat auf das, was in der Bibel steht. Dass sich darin das Handeln Gottes ausdrückt, ist unplausibel geworden seit der Aufklärung. Die Aufklärung hat in Europa eine ganz andere Bedeutung als in den USA, und in den USA ist sie längst nicht so religionskritisch und hat auch nicht diese Effekte, diese negativen Effekte auf Kirche, auf Glaube. Was Sie hier gefunden haben, ist in meinen Augen ein Element einer wirklich anderen Art von Religiosität in den USA im Vergleich zu Westeuropa. In Westeuropa kann man beobachten, wie sich religiöse Vorstellungen immer mehr entkonkretisieren. In den USA ist das nicht der Fall und das geht zusammen in meinen Augen auch damit, dass die Prägekraft dieser Art von Religiosität in den USA weitaus höher ist als in Deutschland. In dem Buch, das ich mit Gergeley Rosta gemacht habe, „Religion in der Moderne“, da haben wir in der englischen Fassung, die jetzt gerade erschienen ist, eine Korrelationsanalyse mit hineingebracht, wo wir den Zusammenhang zwischen den Vorstellungen von Gott und den Effekten, die man Religion auf die Lebensführung zutraut, versucht haben zu messen. Und das Ergebnis ist ziemlich eindeutig: Je vager die Vorstellung von Gott ist, desto geringer die Effekte auf die Lebensführung. Und in den USA haben wir da sozusagen ein ganz
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anderes Muster. Das Muster ist: Gott ist eine Person, Gott greift ein in die Welt, Gott kann Wunder bewirken, Gott zeigt sich in meinem persönlichen Leben, aber auch im Leben der Geschichte, im Leben der Nation, und er zeigt sich auch in der Bibel. Und diese Vorstellung, dass Gott eine Macht ist, mit der man rechnen muss, ein Akteur, der mir auch begegnen kann und der mich zur Verantwortung ziehen kann, diese Vorstellung ist völlig abgeflacht in Deutschland oder auch in Westeuropa insgesamt. Und da würde ich sagen, dass diese Religiosität in den USA tatsächlich eine Form einer vitalen Religiosität ist. Wo also Konkretion der religiösen Vorstellung und Bedeutung für das eigene Leben Hand in Hand gehen. Und das haben wir so in Westeuropa eben nicht. Da haben wir sozusagen beides auf der Gegenseite: Die religiösen Vorstellungen werden vage, und die Bibel ist vielleicht noch göttlich inspiriert, aber auf keinen Fall wortwörtlich wahr, und zugleich traut man eigentlich dem Glauben nicht viel zu. Also das ist ein wichtiges Ergebnis. Das zeigt in meinen Augen noch einmal wie bedeutsam auch Religion selbst ist. Sie haben ja bei diesen ganzen Regressionsanalysen auch immer wieder die Frage, wovon hängt es ab, von welcher politischen Kultur, Demokratie? Das Staat-Kirche-Verhältnis spielt eine große Rolle, in Europa diese enge Verbindung zwischen Politik und Religion, in den USA ist das eben etwas anders. Hier haben Sie sozusagen die Eigendynamik des Religiösen, dass Religion selbst auch ein Faktor ist und in dem Maße, wie man eine bestimmte Vorstellung von Gott hat oder auch vom Handeln Gottes, in dem Maße hat eben Religion auch eine Wirkung. Das würde ich hier noch ergänzen. Als Argument ist es auch in der deutschen Fassung, in der englischen Fassung ist es in der Zusammenfassung von Westeuropa. Und dass Protestanten in beiden Ländern die Auffassung von der Bibel als tatsächlichem Wort Gottes stärker teilen als andere? Das ist klar, das ist sozusagen wirklich protestantisches Urgestein. Die Reformation hat ja vor allen Dingen dieses zum Ziel, die Autorität des Papstes in Frage zu stellen. Und dann ist die Frage, was ist sozusagen die neue Autorität, und das ist die Bibel. Genau wie bei der individualisierten Beziehung zu Gott hatte ich hier wieder einen umgekehrten Zusammenhang gefunden, dass es in den historisch katholischen Ländern stärker verbreitet ist als in den historisch protestantischen. Wie würden Sie das erklären? Das ist schwer zu sagen. Ich habe da auch immer wieder gestaunt. Die Protestanten bilden sich auch immer sehr viel ein auf ihre Bi-
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A. Anhang
belkenntnis und auf ihre Nähe zu ihr, aber wenn man dann so ganz persönlich mit Protestanten und Katholiken zu tun hat, ist oft die Bibelorientierung bei den Katholiken noch stärker ausgeprägt als bei den Protestanten. Aber das würde ich darauf zurückzuführen versuchen, dass im Katholizismus insgesamt die Bindung an religiöse Werte, an Kirche, aber auch an die Bibel höher ist als bei den Protestanten. Welches Ergebnis hat Sie am meisten überrascht? Ein Ergebnis, das mich wirklich überrascht hat, ist, dass das Arbeitsethos in den USA so eine antihedonistische Tendenz hat. Das hat mich in dieser Klarheit schon überrascht. Und dass in Deutschland Selbstverwirklichung und Arbeitsethos viel stärker auch zusammengehen, dass man da gewissermaßen doch auch in der Arbeit selber sich viel stärker verwirklicht. Das Interessanteste, wenn auch nicht überraschend, war für mich, dass das Misstrauen gegenüber Kirchen so stark zusammengeht mit individualistischen Werten. Mir ist nur aufgefallen, dass man an bestimmten Stellen dieses Protestanten gegen den Rest auflösen müsste, nicht immer, aber vielleicht an bestimmten Stellen. Ist das dem Unterschied Protestanten gegen Katholiken geschuldet, oder Konfessionsangehörige gegen Konfessionslose? Das kann man manchmal nicht wissen. 24. Januar 2018
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