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English Pages 341 [343] Year 2009
Thomas Adam / Simone Lässig / Gabriele Lingelbach (Hg.) Stifter, Spender und Mäzene
Transatlantische historische studien Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Washington, DC ––––––––––––––––––––––––
Herausgegeben von Hartmut Berghoff, Philipp Gassert, Anke Ortlepp und Corinna R. Unger
Band 38
Thomas Adam / Simone Lässig / Gabriele Lingelbach (Hg.)
Stifter, Spender und Mäzene USA und Deutschland im historischen Vergleich
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009
Umschlagabbildung rechts: Der Abdruck des Porträts von Edmund Siemers erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Edmund Siemers-Stiftung. Umschlagabbildung links: Das Bild von Henry Ford stammt aus den Collections of The Henry Ford Archives.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09384-2 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2009 Franz Steiner Verlag Stuttgart. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS Thomas Adam, Simone Lässig, Gabriele Lingelbach Einleitung ..................................................................................................
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1. Transatlantische Austauschprozesse ..................................................... 15 Kathleen McCarthy Frauen im Spannungsfeld von Religion, Philanthropie und Öffentlichkeit, 1790–1860 .................................................................... 17 Thomas Adam Philanthropie und Wohnungsreform in der transatlantischen Welt, 1840–1914 ................................................................................... 41 2. Politik, Stiftungen und Öffentlichkeit ................................................... 67 Peter Dobkin Hall Philanthropie, Wohlfahrtstaat und die Transformation der öffentlichen Institutionen in den USA, 1945–2000 .............................. 69 Rupert Graf Strachwitz Von Abbe bis Mohn – Stiftungen in Deutschland im 20. Jahrhundert.. 101 3. Stiften und die Konstituierung städtischer Eliten ................................. 133 Francie Ostrower Philanthropische Aktivitäten New Yorker Eliten in den 1980er Jahren 135 Michael Werner Hamburgs Stiftungskultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ... 163 4. Kulturförderung zwischen privaten und staatlichen Interessen ............ 189 Kevin V. Mulcahy „Vorsicht Kulturdarwinismus“. Die Grenzen des amerikanischen Systems der Kulturförderung, 1990–2006 .................. 191 Stephen Pielhoff Mäzenatentum, Stadt und Musikkultur im 19. und 20. Jahrhundert. Studien zur Musikförderung in Dortmund, Münster und Wuppertal .... 219
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Inhaltsverzeichnis
5. Private Entwicklungshilfe ..................................................................... 251 Corinna R. Unger Investieren in die Moderne. Amerikanische Stiftungen in der Dritten Welt seit 1945 ................................................................. 253 Annett Heinl, Gabriele Lingelbach Spendenfinanzierte private Entwicklungshilfe in der Bundesrepublik Deutschland ................................................................ 287 Gregory R. Witkowski „Unser Tisch ist besser gedeckt“. Ostdeutsche Philanthropie und Wohltätigkeit, 1959–1989 .............................................................. 313 Autorinnen und Autoren ........................................................................... 335 Personenregister ........................................................................................ 339
EINLEITUNG Thomas Adam, Simone Lässig, Gabriele Lingelbach Die historische Erforschung des Stiftungswesens hat in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre spürbar an Bedeutung gewonnen. Erstaunlicherweise entwickelte sich dieses neue Feld allerdings weitgehend unabhängig von wissenschaftlichen Anstößen oder theoretischen Einflüssen durch die in Großbritannien oder in den USA seit langem etablierte Philanthropie- und Non-Profit-Sektor-Forschung.1 Die deutschen Historiker bezogen ihre zentralen Impulse vor allem aus der Bürgertumsforschung. Sie erfassten „Stiften“ überwiegend (nur) als ein typisch bürgerliches Phänomen. Ihr Hauptinteresse galt daher der Finanzierung von Kunst und Kultur.2 Wie ein Blick auf die Ergebnisse der amerikanischen Forschung jedoch zeigt, erscheint eine derartige Verengung des Stiftungsbegriffes weder der sozialen Zuschreibung (Bürgertum) noch dem Gegenstand (Mäzenatentum) angemessen zu sein. Dieser Band versucht nun, die verschiedenen Fragestellungen und methodischen Ansätze diesseits und jenseits des Atlantiks zusammenzuführen und so einen ersten Einblick in die aktuellen Forschungstrends in Deutschland und den USA zu vermitteln. Auf diese Weise will er – zumindest ansatzweise – der Philanthropiegeschichte eine über die jeweils nationalen Forschungstraditionen und thematischen Schwerpunktsetzungen hinausweisende Perspektive eröffnen. Zum einen geht es um wechselseitige Transferbeziehungen zwischen den beiden geographischen Räumen, also um die Frage, inwieweit philanthropische Konzepte und Initiativen zwar im nationalen Rahmen entwickelt wurden, sich dann aber auch transnational verbreitet haben. Zum anderen untersucht der Band die Parallelen, aber auch die Unterschiede des privaten gemeinwohlorientierten Engagements in Vergangenheit und Gegenwart in beiden Ländern. Dabei werden auch Fragestellungen aufgenommen, die für die gegenwärtigen Debatten über die gesellschaftlichen Auswirkungen von Stiftungsaktivitäten relevant sind: (1.) Wie staatliche Aktivitäten – etwa über die Steuerpolitik – das Handeln von Stiftungen und spendenbasierten gemeinnüt1 2
Walter W. Powell u. Richard Steinberg (Hg.), The Nonprofit Sector. A Research Handbook, New Haven, London 22006. Thomas W. Gaehtgens u. Martin Schieder (Hg.), Mäzenatisches Handeln. Studien zur Kultur des Bürgersinns in der Gesellschaft, Berlin 1998; Jürgen Kocka u. Manuel Frey (Hg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert, Berlin 1998; Manuel Frey, Macht und Moral des Schenkens. Staat und bürgerliche Mäzene vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 1999.
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zigen Vereinen behindern, fördern oder gar lenken; (2.) welche Legitimation diese Organisationen für ihr gesellschaftspolitisch relevantes Handeln beanspruchen; und (3.) welche öffentlichen Aufgaben eher staatlich oder privat wahrgenommen werden sollten. Neben den positiven Errungenschaften gemeinschaftsorientierten stifterischen Handelns werden auch die Risiken diskutiert. Einen nicht minder wichtigen Untersuchungsgegenstand bilden die Motive für das Stiften und Spenden und damit die Frage, welche Werte und Interessen für gemeinwohlorientiertes Handeln ausschlaggebend waren und inwieweit Stiftungstätigkeit als ein klassen- oder schichtenspezifisches Verhalten interpretiert werden kann. Hilft sie dem „Wohltäter“, soziales und kulturelles Kapital zu akkumulieren? Ist sie also vor allem auf das eigene Umfeld gerichtet und erst sekundär auf die Bedürftigen selber? Oder ist Philanthropie doch eher als eine kulturelle Praxis zu verstehen, die durch Glaubensinhalte oder andere Überzeugungen, durch Mentalitäten oder Gewohnheiten bestimmt wird? Bereits seit einiger Zeit zeichnet sich innerhalb der internationalen Geschichtswissenschaft die Tendenz ab, die Kategorie des Nationalstaates als Erklärungsrahmen für geschichtliche Prozesse zu relativieren, seinen Stellenwert neu zu überdenken und angenommene nationale Besonderheiten und Eigenwege infrage zu stellen. In der Vergangenheit sind Historiker, die sich mit Deutschland beschäftigten, oft von einem „staatszentrierten“ Bürgertum ausgegangen. Sie haben betont, dass sich das Stiften in Deutschland meist in Zusammenarbeit mit dem Staat vollzog.3 Viele amerikanische Historiker favorisierten hingegen ein Tocquevillesches Paradigma, nach dem sich die amerikanische Gesellschaft von den europäischen Gesellschaften durch die weit verbreitete Bildung von Vereinen unterscheide. Diese übernahmen, so die Grundthese, in Amerika jene Aufgaben, die in Europa dem Staat zugeschrieben wurden.4 Inzwischen sind diese Annahmen durch die Forschung relativiert, in einigen Punkten auch korrigiert worden. In neueren Veröffentlichungen, wie sie etwa Daniel T. Rodgers und Axel Schäfer vorgelegt haben, werden weniger die Unterschiede als vielmehr die wechselseitigen Transfers betont.5 Beide Autoren konzentrieren sich dabei auf den Einfluss von sozialreformerischen Konzepten auf Politik und staatliches Handeln. Die Beiträge in dem hier vorliegenden Sammelband beschäftigen sich demgegenüber vorwiegend mit privatem gemeinnützigen Handeln, mit Akteuren unterhalb der Ebene des Nationalstaates und den von diesen 3 4
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Siehe hierzu Frey, Macht und Moral des Schenkens, 12–17. Siehe hierzu Robert A. Gross, Giving in America. From Charity to Philanthropy, in: Lawrence J. Friedman u. Mark D. McGarvie (Hg.), Charity, Philanthropy, and Civility in American History, Cambridge 2003, 29–48, hier 29f. Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge und London 1998; Axel R. Schäfer, American Progressives and German Social Reform, 1875–1920, Stuttgart 2000.
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organisierten interkulturellen Transfers. Damit erweitert dieser Band die Konzepte der transatlantischen und transnationalen Geschichte um eine neue Perspektive – die Ebene nichtstaatlicher Akteure und Organisationen. Von einem transnationalen Vergleich zentraler Phänomene wie der Philanthropie in der deutschen und amerikanischen Geschichte, die bisher überwiegend aus nationalstaatlicher Sicht analysiert wurden, könnten mithin auch Impulse für eine konzeptionelle Auseinandersetzung mit der Tradition der Geschichtsschreibung in beiden Ländern ausgehen. So ermöglichen es beispielsweise Analysen zu interkulturellen Transfers zwischen den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts und den USA oder auch vergleichende Untersuchungen des Bürgertums in ausgewählten Städten der amerikanischen Ostküste (New York, Boston oder Philadelphia) mit Städten wie Hamburg, Leipzig oder Frankfurt am Main, weit verbreitete Vorstellungen von der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts zu modifizieren. Denn die im Mittelpunkt dieses Sammelbandes stehenden bürgerlichen Vereine, die privaten sozialreformerischen Initiativen, die nichtstaatliche Finanzierung von Hochkultur sowie die Motive und Wertesysteme, die zu diesem privaten Engagement für öffentliche Belange beitrugen, waren keineswegs nur auf eine Nation beschränkt, sondern sind vielmehr als Elemente einer transatlantischen bürgerlichen Kultur zu verstehen, die Ländergrenzen überschritten hat.6 So dienten Stiftungen und gemeinnützige Institutionen in Leipzig und Berlin – um nur ein Beispiel zu nennen – vergleichbaren Institutionen in den amerikanischen Großstädten als Quelle der Inspiration. Die Beiträge von Kathleen McCarthy und Thomas Adam in diesem Sammelband verweisen auf diese intensiven Austauschbeziehungen. Sie laufen damit quer zu Alexis de Tocquevilles Annahme von der Einzigartigkeit der amerikanischen Gesellschaft. Während die Mehrzahl der amerikanischen Historiker das amerikanische Vereinswesen als autochthones, in den USA ohne fremden Einfluss entstandenes Phänomen betrachtet, stellt McCarthy heraus, dass die dortigen gemeinwohlorientierten Vereine ihre Vorbilder eindeutig in Europa hatten. Insofern können wir wohl nicht mehr von einem amerikanischen Sonderweg sprechen. Der Beitrag von Thomas Adam wiederum weist auf die umfassenden Transfers im Bereich des sozialen Wohnungsbaus und damit auf den Transfer privater sozialer Fürsorgeinitiativen hin und arbeitet so korrespondierende Intentionen in den Kommunen beider Länder heraus. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes gehen davon aus, dass sich eine vergleichende Untersuchung der privaten Finanzierung öffentlicher Aufgaben im Bereich der Kultur, der Sozialfürsorge, der Bildung und, im 20. Jahrhundert, der Entwicklungshilfe in ganz besonderem Maße anbietet, um 6
Sven Beckert, Die Kultur des Kapitals. Bürgerliche Kultur in New York und Hamburg im 19. Jahrhundert, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 4, Berlin 2000, 143–175; Thomas Adam, Buying Respectability. Philanthropy and Urban Society in Transnational Perspective, 1840s to 1930s, Bloomington, Indianapolis 2009.
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bislang dominierende Stereotype und Annahmen zu hinterfragen. Die in diesem Band versammelten elf Beiträge für die Bereiche (1.) transatlantische Austauschprozesse, (2.) Politik, Stiftungen und Öffentlichkeit, (3.) Stiftungsaktivitäten städtischer Eliten, (4.) Kulturförderung und (5.) private Entwicklungshilfe erhärten die These von den wechselseitigen Transfers zwischen den philanthropischen Traditionen beider Länder. Fazit: Das Beispiel „Philanthropie“ ist besonders gut geeignet, die These von der grundlegenden Differenz zwischen der deutschen und amerikanischen Gesellschaft auf den Prüfstand zu stellen. Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland kann nämlich eine besonders starke Gemeinwohlorientierung nachgewiesen werden. Die Beiträge von Thomas Adam, Rupert Graf Strachwitz, Michael Werner und Stephen Pielhoff belegen die Existenz eines stiftend und spendend aktiven deutschen Bürgertums und mithin einer stark ausgeprägten philanthropischen Tradition. Um nicht missverstanden zu werden: Auf dem Gebiet des privaten Engagements für öffentliche Zwecke gab und gibt es wesentliche Unterschiede zwischen der deutschen und der amerikanischen Philanthropiegeschichte, die auf jeweils spezifische Rahmenbedingungen zurückzuführen sind. So lenkten etwa rechtliche Regelungen das philanthropische Engagement in bestimmte Richtungen. Das zeigt unter anderem der Beitrag von Annett Heinl und Gabriele Lingelbach. Das Sammlungsgesetz aus der Zeit des Nationalsozialismus regulierte in der Bundesrepublik bis in die 1960er Jahre hinein die Spendenleistungen der Bundesdeutschen und richtete diese auf bestimmte Zwecke aus. Das Stiftungsrecht wiederum, dies belegt der Beitrag von Rupert Graf Strachwitz, strukturierte das deutsche Stiftungswesen auf spezifische Art und Weise, so dass es eine deutlich andere Ausprägung erfuhr als das amerikanische. Zudem hatte der in beiden Ländern unterschiedlich ausgeprägte Wirkungsradius des Staates in sozialen und kulturellen Belangen erhebliche Auswirkungen darauf, in welchen Bereichen sich privates Engagement bevorzugt entwickelte. Dies arbeitet Peter Dobkin Hall in seinem Beitrag heraus. Er schärft den Blick dafür, wie sehr sich die Sphäre des amerikanischen Staates und die der amerikanischen Stiftungen in den USA überschneiden. Auch Kevin V. Mulcahy weist auf wichtige internationale Unterschiede hin. Er betont, dass die im Vergleich zu Deutschland geringe staatliche Kulturförderung – und damit die hohe Abhängigkeit von zu erwirtschaftenden Eigeneinnahmen und privaten Spenden bzw. Sponsoring – zur Herausbildung spezifischer Funktionslogiken bei der Leitung und Arbeit kultureller Institutionen in den USA geführt hat. Er sensibilisiert den Leser damit für die Gefahr einer kulturellen Verarmung, die er dort ausmacht, wo etwa Museen, Theater oder Opern in zu große Abhängigkeit von privaten Geldgebern geraten. Darüber hinaus verweist Hall auf die Politisierung des Stiftens und den Zusammenhang zwischen politischen Prozessen und stifterischer Aktivität.
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Er betont, dass Stiften immer auch politische Dimensionen besitzt und dass Stifter mit ihrem Engagement gesellschaftspolitische Ziele verfolgen können, die nicht unbedingt mehrheitsfähig sein müssen. Bereits der Rechtsgelehrte Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) hatte betont, dass mit der Einrichtung einer Stiftung Gefahren verbunden seien: Wenn eine reiche Stiftung zur Verbreitung staatsgefährlicher irreligiöser oder sittenloser Lehren oder Bücher gemacht wird, sollte der Staat dies dulden? In unseren Tagen wird niemand sagen, dass dergleichen unmöglich sei. Es gab reiche Leute unter den SaintSimonisten, und warum sollte nicht einer auf den Gedanken kommen, eine große Stiftung zur Beförderung seiner Lehre zu machen?7
Für Savigny stattete das Rechtsinstrument der Stiftung Einzelpersonen mit der Möglichkeit aus, bestimmte Bereiche der Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Da die gesellschaftliche Kontrolle der Aktivitäten von Stiftern und Stiftungen begrenzt war, bestand letztlich die einzige Qualifizierung des Stifters in seiner Verfügung über finanzielle Mittel. Diese Überlegungen sollten auch in den gegenwärtigen Diskussionen über eine Förderung stifterischen Engagements berücksichtigt werden: Die optimistische Ansicht, dass sich Stiftungsaktivitäten und demokratische Gesellschaft gegenseitig bedingen, bedarf ohne Zweifel einer kritischen Analyse. Denn Stiftungen verfügen keineswegs immer über eine demokratische Legitimation, entfalten jedoch ein erhebliches gesellschaftliches Gestaltungspotential. Wie sehr dabei die Gestaltungsmacht von Stiftungen auch über den nationalen Rahmen hinaus wirksam werden kann, zeigt Corinna Unger in ihrem Aufsatz über die Förderpolitik amerikanischer Stiftungen in der Dritten Welt während des Kalten Krieges. Sie arbeitet heraus, wie stark deren Tätigkeit von außenpolitischen Interessen wie etwa der versuchten Eindämmung des Kommunismus geleitet war. Halls Beitrag verweist nicht nur auf die Frage nach der Legitimation stifterischen Handelns, sondern thematisiert zudem – wie auch Mulcahy in seinem Aufsatz – den in der Forschung umstrittenen Zusammenhang zwischen der stiftenden bzw. spendenden Tätigkeit auf der einen Seite und der Höhe der Einkommenssteuer auf der anderen Seite. Hall sieht in der Ausdehnung der Einkommenssteuerpflichtigkeit und der Absetzbarkeit von Spenden eine wichtige Voraussetzung für das Wachstum des Stiftungssektors. Demgegenüber hält Mulcahy in seinem internationalen Vergleich diesen Aspekt für weniger bedeutend. Die historische Perspektive legt eher den Schluss nahe, dass die staatliche Steuerpolitik keinen zentralen Einfluss auf das Engagement von Stiftern gehabt habe. Sowohl in Deutschland als auch in den USA erreichte das Stiftungswesen seinen ersten Höhepunkt vor der Einführung einer für alle Staats7
Zit. n. Hans Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts, Bd. 1. Geschichte des Stiftungsrechts, Tübingen 1963, 248.
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bürger verbindlichen Einkommenssteuer. Auch nach 1945 erwies sich die Spendengabe während Kollekten, Haus- und Straßensammlungen oder in Form von Überweisungen an wohltätige Organisationen als weitgehend unabhängig von der Höhe der Einkommenssteuer. Der Einfluss gesetzlicher Regelungen mit Bezug auf die Absetzbarkeit von Spenden von der Steuer sowie der Erbschaftssteuer dürfte insofern nicht in jedem Fall eine zentrale Motivation für zivilgesellschaftliches Engagement gewesen sein. Philanthropie wurde und wird offensichtlich nicht nur durch steuerliche Anreize ausgelöst, sondern auch durch das Bestreben des Gebenden, sein soziales, kulturelles und symbolisches Kapital zu mehren. Zu diesem Ergebnis kommt Stephen Pielhoff in seinem Beitrag zum Musikmäzenatentum in deutschen Städten. Auch Michael Werner betont, dass wirtschaftliche Aufsteiger im frühen 20. Jahrhundert soziale oder kulturelle städtische Einrichtungen in erster Linie mit dem Ziel förderten, in die jeweils dominierenden städtischen Eliten aufgenommen zu werden. Über die philanthropische Tätigkeit wurden Netzwerke innerhalb der bürgerlichen Eliten neu geschaffen oder verstärkt, was wiederum die Interaktion zwischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertum förderte. Philanthropie hatte mithin nicht nur für die Empfänger „wohltätiger Gaben“ eine wichtige soziale Funktion, sondern auch für die Gebenden selbst. Diese Schlussfolgerung zieht Francie Ostrower aus ihren Interviews mit Angehörigen der New Yorker Oberschicht. Sie betont, dass Philanthropie der Prestigesteigerung des Gebenden ebenso dienen kann wie der Bewahrung der kulturellen und sozialen Kohärenz der Eliten. Darüber hinaus ist Philanthropie aber auch abhängig von bestehenden Wertesystemen, Mentalitäten und Einstellungen. Und sie ist, wie Ostrower in ihrem Beitrag darlegt, ein gelerntes und sozial konditioniertes Verhalten, das von einer Generation an die nächste weitergegeben werden kann. Die Angehörigen der New Yorker Eliten zeigten sich in den Interviews jedenfalls fest davon überzeugt, dass sie zu philanthropischem Engagement verpflichtet seien, ja, sie sahen es geradezu als selbstverständlich an. Zu dem Ergebnis, dass philanthropisches Engagement Teil eines spezifischen Habitus sein kann, kommen auch Heinl und Lingelbach in ihrem Beitrag. In der Bundesrepublik war die Kollektengabe ebenso wie die Spende bei der Haus- und Straßensammlung Bestandteil von Alltagshandeln. Während diese Gaben in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst inländischen Bedürftigen gegolten hatten, boten seit den späten 1950er Jahren zunächst kirchliche, dann auch weltliche Organisationen die Möglichkeit, diese alltäglichen Gaben auch an Bedürftige im Ausland zu verteilen. Dass diese Form des alltäglichen philanthropischen Engagements nicht nur in demokratisch-pluralistischen Gesellschaften existiert, weist Gregory R. Witkowski in seinem Beitrag über die spendenfinanzierte private Entwicklungshilfe in der DDR nach. Hier waren es die kirchlichen Initiativen Brot für die
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Welt und Not in der Welt sowie staatliche Akteure („Solidaritätskomitee“), die Spenden der Bevölkerung für die Hilfe im Ausland sammelten. Allerdings war der staatliche Zugriff auf die Verteilung der über Spenden gekauften Güter wie auch die Instrumentalisierung der privaten Spendenbereitschaft für die außenpolitischen Ziele der Regierung wesentlich intensiver als in der Bundesrepublik. Der vorliegende Sammelband stellt einen ersten Versuch dar, auf dem Gebiet der Philanthropiegeschichte einen vergleichenden Blick auf das gemeinwohlorientierte Engagement in den USA und in Deutschland zu entwickeln. Allerdings wirft dieser komparative Ansatz einige Probleme auf. Zum einen liegen diese an der sehr unterschiedlichen Verortung der Philanthropieforschung. Diese ist in Nordamerika wesentlich stärker institutionell verankert als in der Bundesrepublik: Akademische Einrichtungen wie das Center for Civil Society Studies der Johns Hopkins University Baltimore, das Center on Philanthropy and Civil Society an der City University of New York oder das Center on Philanthropy der Indiana University8 und die Existenz einer eigenen akademischen Gesellschaft, der 1971 gegründeten Association for Research on Nonprofit Organizations and Voluntary Action (ARNOVA) mit mehr als 1.200 Mitgliedern, zeugen von einer hohen Intensität und einem ausgeprägten wissenschaftlichen Interesse. In der Bundesrepublik hingegen existieren nur wenige spezialisierte Forschungseinrichtungen, etwa in Form des Maecenata Instituts an der Humboldt Universität zu Berlin oder seit kurzem auch des Centrums für soziale Investitionen und Innovationen an der Universität Heidelberg. Wegen dieser Disproportion findet sich in den USA auch eine deutlich größere Anzahl von Forschungsarbeiten und Publikationen zu dieser Thematik als in Deutschland. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die amerikanische Philanthropieforschung im Gegensatz zur deutschen stark von den gegenwartsbezogenen Disziplinen wie der Politikwissenschaft und der Soziologie bestimmt ist. Historiker stellen dort eher eine Minderheit dar. Die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und institutionellen wie auch disziplinären Verortungen der Philanthropieforschung in beiden Ländern erschweren eine vergleichende Herangehensweise. Für den stärkeren Gegenwartsbezug vieler amerikanischer Untersuchungen lassen sich im deutschen Feld nur wenige Äquivalente finden. Hinzu kommen linguistische und terminologische Schwierigkeiten. Das englische Wort philanthropy etwa besitzt ganz andere Konnotationen als das deutsche Wort „Philanthropie“. Letzteres ist vor allem auf altruistisches Handeln festgelegt und stammt aus der aufklärerischen Reformbewegung des Philanthropismus. Der im Deutschen oft für die private Förderung von Kunst und Kultur verwendete Begriff des 8
Siehe auch die Liste von amerikanischen Einrichtungen, die sich auf die Erforschung von Philanthropie konzentrieren, unter http://www.independentsector.org/programs/research/centers.html (Academic Centers Focusing on the Study of Philanthropy).
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„Mäzenatentums“ findet hingegen im Englischen keine direkte Entsprechung. Diese Tatsache aber sollte Historiker nicht dazu verleiten, hierin ein spezifisch deutsches Phänomen zu sehen. Wenn sich etwa der deutsche Begriff „Bürgertum“ nur mit Mühe ins Englische übersetzen lässt, ist das kein Beleg für die Annahme, dass es in den USA kein Bürgertum gegeben habe. Das zeigt Sven Beckerts Arbeit über das New Yorker Bürgertum.9 Derartige Leerstellen deuten vielmehr auf eine Tradition hin, in der bestimmte Fragen nicht gestellt werden oder ein Bewusstsein für spezifische soziale Entwicklungen des 19. Jahrhunderts fehlt. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass Teile der amerikanischen Geschichtswissenschaft den Mythos der amerikanischen Gesellschaft als einer klassenlosen Gesellschaft zuweilen recht unkritisch übernommen und fortgeschrieben haben. Fazit: Die Forschung, die die Geschichte der Philanthropie in einen internationalen Kontext einbettet – sei es mit Hilfe eines Kulturtransferansatzes oder einer vergleichenden Methode – steckt noch in ihren Anfängen. Dieser Sammelband kann daher nicht mehr als einen ersten Einblick in ein viel versprechendes geschichtswissenschaftliches Untersuchungsfeld geben. Die Herausgeber möchten sich an dieser Stelle für die großzügige finanzielle Unterstützung durch das Deutsche Historische Institut Washington, D.C. und die Stiftung Deutsch-Amerikanische Wissenschaftsbeziehungen im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft bedanken. Mit ihrer Hilfe konnten wir im Frühjahr 2006 eine internationale Tagung mit dem Titel Philanthropy in History: German and American Perspectives am DHI in Washington, D.C. durchführen.10 Zudem gilt unser Dank Hartmut Berghoff, dem Direktor des DHI Washington, und seinem Amtsvorgänger Christof Mauch für die Aufnahme dieses Bandes in diese Reihe, Corinna Unger für die sorgfältige editorische Betreuung des Manuskriptes sowie Jelena Steigerwald und Lars Müller (Georg-Eckert-Institut in Braunschweig), die uns in der formalen Bearbeitung der Manuskripte kompetent und zuverlässig unterstützt haben.
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Sven Beckert, The Monied Metropolis. New York City and the Consolidation of the American Bourgeoisie, 1850–1896, Cambridge 2001. 10 Die Beiträge von Thomas Adam, Peter Dobkin Hall, Annett Heinl und Gabriele Lingelbach, Kathleen McCarthy, Kevin V. Mulcahy, Stephen Pielhoff, Rupert Graf Strachwitz, Michael Werner und Gregory R. Witkowski gehen aus den auf dieser Tagung präsentierten Vorträgen hervor. Die Beiträge von Corinna R. Unger und Francie Ostrower wurden zusätzlich aufgenommen.
1. TRANSATLANTISCHE AUSTAUSCHPROZESSE
FRAUEN IM SPANNUNGSFELD VON RELIGION, PHILANTHROPIE UND ÖFFENTLICHKEIT, 1790–1860* Kathleen D. McCarthy EINLEITUNG Von der weiten Verbreitung geselliger Vereinigungen in den USA beeindruckt, schrieb Alexis de Tocqueville in seinem Buch Über die Demokratie in Amerika: Überall, wo man in Frankreich die Regierung und in England einen großen Herrn an der Spitze eines neuen Unternehmens sieht, wird man in den Vereinigten Staaten mit Bestimmtheit eine Vereinigung finden.1
Tocqueville, der in diesem Umstand einen deutlichen Gegensatz zu europäischen Gesellschaften sah, hob in seiner Darstellung vor allem die sich aus dem blühenden Vereinswesen für die amerikanischen Bürger ergebenden Möglichkeiten hervor, politischen Einfluss auszuüben. Sobald sich Bürger zusammenfänden, würde aus ihnen „eine weithin sichtbare Macht, deren Taten als Beispiel dienen und die eine Sprache spricht, die gehört wird“. 2 In den letzten Jahren haben sich Historiker von derartigen Sonderwegstheorien distanziert und neue Konzepte wie das der transatlantischen Geschichte entwickelt. Daniel T. Rodgers hat mit seinem Buch Atlantic Crossings eine einflussreiche Studie vorgelegt, in der er nachweist, dass die amerikanischen sozialreformerischen Bewegungen um 1900 in ein „Netz globaler Interdependenzen“ eingebunden waren. Thomas Adams Forschungen lassen deutlich werden, in welchem Ausmaß die nordamerikanische Philanthropie ihre Ursprünge in den europäischen – und insbesondere deutschen – Gesellschaften hatte. Und William Cohen betont die Bedeutung der europäischen Vorläufer für die Entwicklung der Philanthropie insgesamt. Andere Wissenschaftler haben die Rolle von Frauen für die Entwicklung des Spendenwesens und der Freiwilligenarbeit in verschiedenen Kulturen beleuchtet und dabei globale Themen hervorgehoben.3 * 1 2 3
Übersetzung aus dem Englischen von Björn Wirtjes. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (ausgewählt u. hg. v. J. P. Mayer), Stuttgart 1985, 248. Ebd., 252. Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge 1998; Thomas Adam (Hg.), Philanthropy, Patronage and Civil Society. Experiences
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Kathleen McCarthy
In diesem Aufsatz werde ich mich mit der These auseinandersetzen, die amerikanische Philanthropiegeschichte habe einen Sonderweg beschritten. Dazu werde ich die weibliche Philanthropie im Zeitraum zwischen 1790, als Frauen begannen, wohltätige Vereine zu gründen, und 1850 – ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung des zweiten Bandes von Tocquevilles Studie über die Vereinigten Staaten – in den Blick nehmen. Unter Philanthropie wird im Folgenden die Bereitstellung sowohl von finanziellen Ressourcen als auch von Zeit (ehrenamtliche Arbeit) verstanden. Drei Themen sind hierbei von besonderer Bedeutung: Erstens soll die Rolle der verschiedenen religiösen Traditionen untersucht werden, die die Basis für die öffentlichen philanthropischen Aktivitäten von Frauen in den USA und Westeuropa bildeten. Zweitens werden Kooperationen zwischen von Frauen getragenen Wohltätigkeitsvereinen, Kommunen und dem Staat analysiert, die Hinweise auf die politische Rolle von Frauen vor der Erlangung des Wahlrechts geben. Drittens werden die wirtschaftlichen Aktivitäten der weiblichen Wohltätigkeitsvereine betrachtet. Dabei soll gefragt werden, ob Tocquevilles Einschätzung zutraf und ob das Vereinswesen und die Philanthropie in den USA tatsächlich so einzigartig waren, wie oftmals behauptet wurde. Sollte dies der Fall gewesen from Germany, Great Britain and North America, Indiana 2004; William B. Cohen, Epilogue. The European Comparison, in: Lawrence J. Friedman u. Mark D. McGarvie (Hg.), Charity, Philanthropy and Civility in American History, New York 2003, 385– 411; Kathleen D. McCarthy (Hg.), Women, Philanthropy and Civil Society, Indianapolis 2001. Für eine Geschichte der amerikanischen Philanthropie im 19. Jahrhundert siehe Robert H. Bremner, American Philanthropy, Chicago 1988; ders., The Public Good. Philanthropy and Welfare in the Civil War Era, New York 1980; Barbara L. Bellows, Benevolence Among Slaveholders. Assisting the Poor in Charleston, 1670–1860, Baton Rouge 1993; Kathleen D. McCarthy, American Creed. Philanthropy and the Rise of Civil Society, 1700–1865, Chicago 2003; Kathleen D. McCarthy, Noblesse Oblige. Charity and Cultural Philanthropy in Chicago, 1849–1929, Chicago 1982; Kathleen D. McCarthy, Women’s Culture. Philanthropy and Art, 1830–1930, Chicago 1993; Conrad Edick Wright, The Transformation of Charity in Postrevolutionary New England, Boston 1992; Kathleen D. McCarthy (Hg.), Lady Bountiful Revisited. Women, Philanthropy and Power, New Brunswick 1990; Ronald Story, Harvard and the Boston Upper Class. The Forging of an Aristocracy, 1800–1870, Middletown 1980; Peter D. Hall, The Organization of American Culture, 1700–1900. Private Institutions, Elites, and the Origins of Nationality New York 1982; Howard Miller, The Legal Foundations of American Philanthropy, 1776–1844, Madison 1961; Raymond A. Mohl, Poverty in New York, 1783–1825, New York 1971; Ron Chernow, Titan. The Life of John D. Rockefeller, Sr., New York 1998. Für eine Einführung in die Geschichte der Philanthropie in Großbritannien siehe David Owen, English Philanthropy, 1660–1960, Cambridge 1964; Gareth Stedman Jones, Outcast London. A Study in the Relationship between Classes in Victorian Society, New York 1984. Für einen Überblick über die Geschichte der Philanthropie in Frankreich siehe Catherine Duprat, Usage et pratiques de la philanthropie. Pauvreté, action sociale et lieu social, à Paris, au cours du premier XIXe siècle, Paris 1996; dies., Le temps des philanthropes. La philanthropie parisienne des Lumières à la monarchie de Juillet, Paris 1993.
Frauen im Spannungsfeld von Religion, Philanthropie und Öffentlichkeit
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sein, wäre zu fragen, in welcher Hinsicht sie sich von den westeuropäischen Praktiken unterschieden. Weibliche Philanthropie stellt in diesem Zusammenhang ein Versuchsfeld dar, das es uns ermöglicht, zu erkunden, inwieweit wohltätiges Engagement die politischen und ökonomischen Rollen der Amerikanerinnen und Westeuropäerinnen erweiterte. Darüber hinaus erlaubt es uns auch, die Gültigkeit von Tocquevilles Behauptung eines amerikanischen Sonderwegs zu beurteilen.
RELIGION In den Vereinigten Staaten boten Kirche und Religion Frauen einen geschützten Raum, in dem weibliche Philanthropie gefördert wurde. Üblicherweise wird die Geschichte von Frauen in Amerika vor dem Bürgerkrieg so beschrieben, dass sie einen Weg von der Religion zur Politik und damit in die Öffentlichkeit gegangen seien. Denn unmittelbar nachdem die USA ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, existierten, sieht man einmal von Boykottaktionen und sehr begrenzten Geldsammlungen für Soldaten ab, nur wenige öffentliche Betätigungsfelder für Frauen aus dem Bürgertum. Daher bezogen die öffentlichen Aktivitäten bürgerlicher Frauen ihre Legitimation anfänglich aus der christlichen Nächstenliebe und religiösen Bestimmungen, die die Bedeutung weiblicher Mildtätigkeit betonten. Seit den 1790er Jahren entstanden an der Ostküste eine Vielzahl von Heimen und Wohlfahrtseinrichtungen, die von Frauen geführt wurden. Nach 1850 waren solche Institutionen in jeder größeren Stadt zu finden. Im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts kamen Bibelgesellschaften protestantischer Frauen, Sonntagsschulen sowie Spendensammelvereine für die Missionarsarbeit hinzu. Sie wurden in nationale Netzwerke der Spenden- und Freiwilligentätigkeit eingebunden, die auch als „Imperium der Wohltätigkeit“ (Benevolent Empire) bezeichnet wurden. Als beispielsweise im Jahre 1816 die Amerikanische Bibelgesellschaft gegründet wurde, waren 18 der 50 beteiligten Vereine, die sich von Boston bis nach Beaufort, South Carolina, erstreckten, von Frauen dominiert. Während der folgenden zwei Jahrzehnte entstanden Hunderte von Frauenvereinen, die sich den verschiedensten Aspekten der Wohltätigkeit widmeten.4 Diese Aktivitäten wurden sowohl durch den Evangelikalismus als auch durch die Zweite Große Heilsbewegung (Second Great Awakening) in der Zeit zwischen den 1790er und den 1850er Jahren befördert. Die nationalen evangelikalen Kirchen wiesen den Frauen eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Evangeliums zu, um insbesondere über die Expansion des amerikanischen Territoriums nach Westen neue Anhänger zu gewinnen. Nach 1830 bot der Evangelikalismus zudem einen fruchtbaren Boden für das Auf4
American Bible Society, 1st Annual Report 1817, 25.
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kommen sozialen Engagements und beförderte Kampagnen zur Abschaffung der Sklaverei sowie zur moralischen Reformbewegung. In diesem Kontext kam es zu einer Säkularisierung des weiblichen Engagements, was den Weg zu den Frauenrechtskampagnen gegen Ende der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts eröffnete. Nach 1860 schmiedeten amerikanische Frauen eine Partnerschaft mit der Bundesregierung, indem sie sich als Spendensammlerinnen betätigten und im Bürgerkrieg ehrenamtlich für den Sanitätsdienst der Armee arbeiteten.5 Mehrere Faktoren trugen dazu bei, dass in den USA günstige Voraussetzungen für das Aufkommen der Philanthropie – einschließlich der weiblichen Philanthropie – entstanden. Historiker haben insbesondere zwei Faktoren ausgemacht, die für diesen Prozess von großer Bedeutung waren. Der Erste Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung bot mit seiner Garantie der Religions-, Rede- und Pressefreiheit sowie der Versammlungsfreiheit und der Möglichkeit, die Regierung durch Petitionen dazu aufzufordern, Missstände zu beseitigen, eine rechtliche Basis für die Entwicklung von Wohltätigkeit sowie für das Eintreten der Bürger für soziale Belange. Des Weiteren schuf die Trennung von Kirche und Staat, die, beginnend in Virginia in den 1780er Jahren, den Kirchen die staatliche Unterstützung entzog, für alle Konfessionen im Wettbewerb um neue Anhänger und Gemeindemitglieder die gleichen Ausgangsbedingungen. Dies lieferte den entscheidenden Anstoß für das rasant ansteigende Aufkommen religiös orientierter Wohltätigkeitsorganisationen während einer Zeit, in der die USA infolge der Annexion der westlichen Territorien schnell expandierten. Frauen spielten eine wachsende Rolle in philanthropischen Unternehmen, da die amerikanischen Religionsgemeinschaften im Zuge der Trennung von Kirche und Staat und der Zweiten Großen Heilsbewegung mehr und mehr unter weiblichen Einfluss gerieten. Frauen wurde sowohl in der Wohltätigkeitsarbeit als auch in sozialen Reformprojekten ein großes Gewicht beigemessen. So belaufen sich die Schätzungen des weiblichen Anteils unter den Bekehrten in den nordöstlichen Bundesstaaten allein in den Jahren zwischen 1795 und 1815 auf bis zu siebzig Prozent. Obwohl es in der jungen amerikanischen Nation auch katholische und jüdische Minderheiten gab, etablierte sich der Protestantismus als vorherrschende Religion, die ihrerseits 5
Für einen generellen Überblick dieser Trends vgl. Kathleen D. McCarthy, American Creed; Lori D. Ginzberg, Women and the Work of Benevolence. Morality, politics and Class in the Nineteenth-Century United States, New Haven 1990; Ann Boylan, The Origins of Women’s Activism, New York, Boston, 1797–1840, Chapel Hill 2002; Jean Fagan Yellin u. John C. Van Horne (Hg.), The Abolitionist Sisterhood. Women’s Political Culture in Antebellum America, Ithaca 1994; Ellen Carol DuBois, Feminism and Suffrage. The Emergence of an Independent Women’s Movement in America, 1848– 1869, Ithaca 1978; Lori D. Ginzberg, Women in Antebellum Reform, Wheeling 2000; Kathryn Kish Sklar, Women’s Rights Emerges within the Antislavery Movement, 1830– 1870, New York 2000.
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vor allem durch die Kongregationalisten und Presbyterianer dominiert wurde. Dabei haben sowohl interkonfessionelle Zusammenarbeit als auch die Konkurrenz um Gemeindemitglieder dazu geführt, dass sich philanthropisch unterstützte religiöse Wohltätigkeitsinstitutionen und Bildungseinrichtungen in wachsender Anzahl ausbreiten konnten. So entstand eine nationale Infrastruktur für gesellschaftliche Mobilisierung, deren Träger die Kirchen und Missionsvereine waren.6 Innerhalb dieses Rahmens gab es (in der Forschungsliteratur oftmals übersehene) spezifische regionale Ausprägungen. Während im Norden und den größeren Städten des Südens reine Frauengruppen die Norm waren, organisierten sich in den ländlichen Gebieten der Südstaaten Frauen und Männer in gemischten Vereinen. In Letzteren konnten Frauen in wesentlich geringerem Umfang autonom agieren, denn ihre Aktivitäten fanden stets unter dem wachsamen Blick der Männer statt. Hinzu kommt, dass sich zwar einige Frauen in den Südstaaten in einem der Abstinenzvereine engagierten, doch weibliches Engagement für Ziele der Sozialreform (wie zum Beispiel für die Abschaffung der Sklaverei und für die Gleichberechtigung) im Wesentlichen eine Erscheinung der Nordstaaten blieb. Während also in den Südstaaten nur eine geringe Zahl von Vereinen existierte, die sich der Sozialreform verschrieben hatten und sowohl Frauen als auch Männern offen standen, gab es in den Nordstaaten eine ausgeprägte Frauenbewegung, die – wie im Falle der die Prostitution bekämpfenden American Female Moral Reform Society – in den 1830er und 1840er Jahren Hunderte von lokalen Vereinen umfasste, die von Frauen geleitet wurden. Während sich Protestantinnen neben der Wohltätigkeit auch der Sozialreform verschrieben, konzentrierten sich Katholikinnen und Jüdinnen mehrheitlich auf die Wohltätigkeit. Vor dem Bürgerkrieg wurden nur wenige jüdische Frauenorganisationen ins Leben gerufen, u.a. die 1819 gegründete Female Hebrew Benevolent Society in Philadelphia. In den 1860er Jahren wirkten jüdische, von Frauen dominierte Organisationen bereits in Savannah, New York, Baltimore und Cleveland. Karitative Einrichtungen, die von Nonnen geführt wurden, breiteten sich jedoch noch schneller aus. Französische Ursulinen wirkten bereits in Louisiana, als das Gebiet 1803 an die USA fiel. Der erste US-amerikanische katholische Orden, die Mother Elizabeth Seton’s Sisters of Charity of St. Joseph, wurde 1809 in Maryland gegründet. Dieser Orden kümmerte sich um die Leitung mehrerer Waisenhäuser und Schulen, die von den Gemeindemitgliedern, einschließlich der Frauen, finanziert wurden. Später beteiligten sich weitere Orden an wohltätigen Aktivitäten und ermutigten Frauen zur Mithilfe.7
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Mary Ryan, Cradle of the Middle Class. The Family in Oneida County, New York, 1790–1865, New York 1981, 77. Für eine ausführliche Darstellung der Entwicklungen im amerikanischen Katholizis-
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Obwohl Tocqueville behauptete, dass das amerikanische Vereinswesen einzigartig gewesen sei, muss betont werden, dass katholische und protestantische Frauenvereine nicht nur in den USA tätig waren, sondern auch in einer Reihe von europäischen Ländern, insbesondere in Großbritannien, das sich der größten Dichte von Frauenvereinen außerhalb der USA rühmen konnte. England war der Ursprung vieler Initiativen des evangelikalen Protestantismus in Europa und den USA, insbesondere der Bibelgesellschaften, die einen wichtigen Ausgangspunkt für die Entwicklung der Wohltätigkeitsvereine in den USA bildeten. Die British and Foreign Bible Society (BFBS) wurde 1804 in England ausdrücklich zu dem Zweck gegründet, die organisierten Bemühungen um die Übersetzung und Verteilung der Bibel in andere Sprachen und Länder auszuweiten. Der BFBS war ein nahezu augenblicklicher Erfolg beschieden: Innerhalb eines Jahres hatte sie Filialen in Nürnberg und Berlin gebildet sowie feste Beziehungen zur Cansteinschen Bibelanstalt in Halle etabliert, die seit dem frühen 18. Jahrhundert deutschsprachige Luther-Bibeln druckte. Als 1816 mit der American Bible Society ein amerikanisches Pendant gegründet wurde, hatte die BFBS bereits Filialen in ganz Europa. In Großbritannien, Kanada, den USA und Kontinentaleuropa übernahm eine kleine aber einflussreiche Gruppe von Frauenvereinen die Ideen und Modelle der BFBS. Die Bewegung entwickelte sich – von der Gründung der ersten englischen Frauen-Bibelgesellschaft im Jahre 1811 ausgehend – recht schnell. 1816 hatte die BFBS begonnen, die Aktivitäten der wachsenden Zahl von Frauenvereinen in den USA zu erfassen. 1819 wurde in Stockholm mit finanzieller Hilfe aus England (zweihundert Pfund) ein rasch wachsender Frauenverein gegründet. Auch die Schweiz zählte frühzeitig eine Reihe von FrauenBibelgesellschaften wie die Berner Missionsvereine, die die Bibel an Hausangestellte, weibliche Gefangene, Kinder, Bauern und zahlende Kunden verteilte. Selbst Paris wies zum Ende des Jahrzehnts eine stattliche Anzahl protestantischer Frauenvereine auf.8 Während sich die BFBS in ihren Bemühungen, eine internationale Gemeinschaft von Bibelgesellschaften aufzubauen, fast ausschließlich auf protestantische Spender und Freiwillige stützte, waren Katholiken besonders in Ländern wie Frankreich und Irland aktiv. Diese religiöse Spaltung der Frauenvereine spiegelt die beiden gegensätzlichen Modelle der Mobilisierung von Frauen im Katholizismus und Protestantismus wider. In den katholischen Ländern war das Vorhandensein religiöser Frauenorden entscheidend für die Gestaltung der Rolle von Katholikinnen. So überließen katholische Laienfrauen sehr bald den Nonnen die Leitung der wohltätigen Organisationen,
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mus vgl. Mary J. Oates, The Catholic Philanthropic Tradition in America, Bloomington 1995. British and Foreign Bible Society (BFBS), 21st Annual Report (1825) xxxiii; Rev. Dr. Steinkopf, On the Road to Basle, 10. September 1823, wieder abgedruckt in: BFBS, 20th Annual Report (1824), 59.
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selbst wenn sie es gewesen waren, die die Einrichtungen wie das 1809 gegründete Dubliner House of Refuge aufgebaut hatten. Sie wurden faktisch von den katholischen Schwesternschaften aus der karitativen Führungsposition verdrängt und mit einer untergeordneten Rolle als Spendensammlerinnen betraut. Dies ähnelte der Rolle ihrer Glaubensgenossinnen in den Vereinigten Staaten sehr. Dagegen hatten die protestantischen Laienfrauen in Irland größeren Einfluss auf ihre eigenen Organisationen. Sie riefen eine bedeutende Zahl von evangelikalen, karitativen, erzieherischen und abolitionistischen Initiativen ins Leben, die denen in den USA ähnelten.9 Auch im katholischen Frankreich hatten religiöse Orden wie die Filles de la Charité oder Schwesterngemeinschaften eine lange Tradition der öffentlichen Wohlfahrtsarbeit, die bis zur Gegenreformation zurückreichte. Viele dieser Institutionen wurden in der Französischen Revolution zerstört, aber unter Napoleon wieder aufgebaut. Dies geschah teils aufgrund staatlicher Bedürfnisse, teils aber auch wegen Veränderungen in der Kirche selbst. Sarah Curtis verwies auf die Feminisierung des katholischen Glaubens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der zu einem explosionsartigem Wachstum religiöser Frauenorden und von Gruppen katholischer Laienfrauen wie den Dames de la Charité und der Société de Saint-Vincent-de-Paul führte. Im Jahre 1817 zeichnete sich auch eine zaghafte Wiederbelebung des Protestantismus ab, in deren Folge eine kleine Anzahl von Frauenvereinen entstand, unter denen sich Bibelgesellschaften befanden, die Spenden sammelten, kostenlos Bibeln verteilten oder auch verkauften und sich um Arme kümmerten.10 Die Wiederbelebung religiöser Bewegungen erwies sich auf beiden Seiten des Atlantiks als wichtiger Impuls für Philanthropie und Vereinswesen. Auch in vielen europäischen Regionen verbreiteten sich die religiösen Erweckungsbewegungen, die so charakteristisch für die USA waren, und folglich entstanden Netzwerke wohltätiger Organisationen und Reformbewegungen, ähnlich jenen in den Vereinigten Staaten. In diesem Zusammenhang wuchs die Rolle der Frauen in den Kirchen und Kongregationen, in denen sie oftmals die Mehrheit der Mitglieder darstellten, was auch die Schaffung von Frauenvereinen wie den Dames de la Charité oder der Stockholmer Evangelischen Missionsgesellschaft begünstigte. Ingrid Åberg verweist darauf, dass die „public sphere was accessible to [Swedish] women only in a Christianphilanthropic context in which the Word and faith were regarded as the most effective cure for the evils of the age.“11 9
Zur Lage in Irland vgl. Maria Luddy, Women and Philanthropy in Nineteenth-Century Ireland, Cambridge 1995. 10 Sarah Curtis, Charitable Ladies. Gender, Class and Religion in Nineteenth-Century Paris, in: Past and Present 177 (November 2002), 121–156. 11 Ingrid Åberg, Revivalism, Philanthropy and Emancipation. Women’s Liberation And Organization in the Early Nineteenth-Century, in: Brigitta Jordansson u. Tenne Vammen (Hg.), Charitable Women. Philanthropic Welfare, 1780–1930. A Nordic and Inter-
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In den deutschen Staaten folgte die Herausbildung von Frauenvereinen einem anderen Muster. Christliche weibliche Laienvereine – einschließlich der Bibelgesellschaften – traten hier viel später in Erscheinung als in den englischsprachigen Ländern oder in Frankreich und Schweden. Dies ist umso erstaunlicher, als in den deutschen Staaten eine bedeutende Zahl von Bibelgesellschaften mithilfe von Geldern der BFBS gegründet worden war. So gab es 1824 allein in Preußen 42 Ableger. Doch nur zwei der deutschen Zweige hatten eine rein weibliche Mitgliedschaft: der um 1831 tätige Karlsruher Frauenverein sowie der von einer Adligen geführte Buchwalder Verein.12 Historiker führen den Mangel öffentlicher Rollen für deutsche Frauen auf Luthers Beharren auf der zentralen Stellung von Ehe und häuslichem Leben zuungunsten öffentlicher Aufgaben zurück. Klöster wurden während der Reformation geschlossen, Schwesterngemeinschaften verboten und religiöse Wohltätigkeitseinrichtungen in kommunale Fürsorgesysteme überführt. Individuelle karitative Anstrengungen wurden unter dem Eindruck von Luthers Widerwillen, Mildtätigkeit mit Heil und Erlösung zu verbinden, ebenfalls vernachlässigt. Frauen wurden innerhalb der Kirchen marginalisiert und vom politischen Leben weitgehend ausgeschlossen. Obwohl der Pietismus des 18. Jahrhunderts männliche Philanthropie förderte, wie August Hermann Frankkes oft gerühmtes Waisenhaus in Halle belegt, wurden Protestantinnen an den Rand der öffentlichen Sphäre gedrängt. Ein Ergebnis dessen war, dass „the spontaneous development of religious alternatives so familiar to British and American experience, alternatives which commonly enhanced the possibility of Christian service for women“ in den deutschen Staaten bis zur religiösen Erweckungsbewegung der 1820er Jahre unbekannt war.13 Es waren daher nicht Protestantinnen, sondern Jüdinnen, die in Deutschland eine führende Rolle in der Organisation von Wohlfahrtseinrichtungen einnahmen. Sie folgten damit religiös begründeten Geboten zu spenden und sich ehrenamtlich zu engagieren. Frauenorganisationen spielten in den deutsch-jüdischen Gemeinden bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts nur eine eingeschränkte Rolle, bis – in Reaktion auf die Ideen der Aufklärung – erstmals Vereine zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung entstanden. An der Schwelle zum 19. Jahrhundert waren Jüdinnen mit der Schaffung von Wohltätigkeitsvereinen für Kinder, Kranke und Arme dem Beispiel ihrer Männer gefolgt. Dem religiösen Gebot der Zedakah (Gerechtigkeit) und Gemilut disciplinary Anthology, Odense 1998, 17–46, hier 23, 25; für die deutschen Erwekkungsbewegungen vgl. Hartmut Lehmann, Pietism and Nationalism. The Relationship between Protestant Revivalism and National Renewal in Nineteenth-Century Germany, in: Church History 51.1 (March 1982), 39–53. 12 BFBS, 20th Annual Report (1824), 95; BFBS, 29th Annual Report (1831), xxxiii, xxvii. 13 Catherine M. Prelinger, Charity, Challenge and Change. Religious Dimensions of the Mid-Nineteenth-Century Women’s Movement in Germany, New York 1987, 4.
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Chassadim (Barmherzigkeit) folgend, riefen jüdische Frauen zwischen 1745 und 1870 über 150 Krankenpflegevereine, mildtätige und sonstige Wohltätigkeitsvereine ins Leben.14 Obgleich nur in begrenzter Zahl, traten in Deutschland zwischen 1830 und 1850 doch – neben einer unbedeutenden Zahl von Bibelgesellschaften – zumindest drei Arten von protestantischen Frauenvereinen in Erscheinung: (1.) Lutherische Diakonissen; (2.) protestantische Wohltätigkeitsvereine; sowie (3.) von deutschkatholischen (oder auch evangelischen) Gemeinden geförderte ökumenische Gruppen für Erziehung und Wohltätigkeit. Die Diakonissen-Bewegung wurde von Theodor Fliedner, einem evangelischen Pastor in Kaiserswerth, in Nachahmung französischer und englischer Vorbilder ins Leben gerufen. Während der Napoleonischen Kriege waren französische Schwesternschaften nach Straßburg gelangt und hatten sich auf andere deutschsprachige katholische Gebiete ausgebreitet. Beunruhigt über deren Vordringen teilte Fliedner seine Befürchtungen der englischen Reformerin Elizabeth Fry mit, die ihm daraufhin den Vorschlag machte, einen Orden protestantischer Diakonissen einzuführen, um jene Art von Spitals- und Wohltätigkeitsarbeit zu organisieren, mit der sonst Nonnen betraut waren. Bis 1835 hatten sich bereits über einhundert Frauen Fliedners Initiative angeschlossen.15 Eine prominente Protestantin, Amalie Sieveking, gründete 1832 in Hamburg den Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege, mit dessen Hilfe sie Hausbesuche organisierte, mit Ratschlägen und Almosen aushalf und verarmten Frauen eine Beschäftigung als Haushaltshilfen vermittelte. Dabei setzte sie die Wohltätigkeit auch dazu ein, die Verbreitung konservativer religiöser Konzepte zu fördern und ihre Schützlinge in der häuslichen Sphäre zu halten. Ebenso wie Fliedners Diakonissen erwies sich diese Idee als äußerst zugkräftig und fand bis 1848 mit 45 Filialen in deutschen Städten große Verbreitung.16 Eine dritte, eher weltliche ökumenische Strömung trat in den 1840er Jahren unter Schirmherrschaft der Deutschkatholiken auf den Plan. Als eine liberale, gemischt-religiöse Gruppierung stellte sich diese Gruppe auf eine rational-theistische Grundlage. Sie bestand aus in hohem Maße unabhängigen Gemeinden, von denen jede für sich die Einzelheiten des Glaubens, der Liturgie und die Kriterien für die Mitgliedschaft festlegen durfte. Pastoren und Kuratoren wurden von den Gemeindemitgliedern gewählt, und obwohl sie ursprünglich katholisch ausgerichtet war (ihr Gründer, Pater Johannes Ronge, 14 Maria Benjamin Baader, Rabbinic Study, Self-Improvement, and Philanthropy. Gender and the Refashioning of Jewish Voluntary Associations in Germany, 1750–1870, in: Thomas Adam (Hg.), Philanthropy, Patronage and Civil Society, 163–178, hier 169. Für vergleichbare jüdisch-amerikanische Frauengruppen, die sich viel später entwickelten, siehe McCarthy, American Creed, Kap. 3. 15 Prelinger, Charity, Challenge and Change, 21. 16 Ebd., 43.
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wurde in der Folge exkommuniziert), zogen die Deutschkatholiken gleichermaßen protestantische und jüdische Frauen an, die auch dem 1847 gegründeten Frauenclub beitraten. Von 1841 bis 1852 waren etwa vierzig Prozent aller Neumitglieder Frauen.17 Diese religiöse Strömung war eine radikale Bewegung, die den Frauen in den meisten Gemeinden das Wahlrecht ebenso zugestand wie die Möglichkeit, Kirchenämter zu übernehmen. Der Frauenclub war einer von mehreren Vereinen (wie zum Beispiel der Frauenverein zur Förderung der Armenhilfe, der Gesellschaftsclub und der Angehörige beider Geschlechter einschließende Hamburger Erziehungsverein), die von freievangelikalen Frauen gegründet worden waren. Diese Gruppierungen veranstalteten anfangs Spendensammelaktionen, schufen eine Bibelgesellschaft, eine Schule für verstoßene Kinder, organisierten die Tagesbetreuung von Kindern und Beschäftigungsprogramme für verarmte Frauen. 1848 jedoch wagten sich die freievangelikalen Frauen auf umstritteneres Terrain. Ihre Zusammenarbeit mit dem bekannten Erziehungsreformer Friedrich Froebel bei der Entwicklung von Kindergärten stieß an die Grenzen der Konvention, da sie auf einem Feld, das traditionell von Kirchenmännern und religiösen Konzepten bestimmt wurde, ein auf Frauen zentriertes und weltliches Modell der Vorschulerziehung propagierten. Der Hamburger Erziehungsverein war darüber hinaus bestrebt, eine Ausbildungsstätte für Frauen einzurichten, Filialen in anderen Städten anzusiedeln, um dieses Kolleg zu finanzieren, viel versprechende Schülerinnen ausfindig zu machen und die karitativen Netzwerke von Frauen auf regionaler wie nationaler Ebene zusammenzufassen. Als das Kolleg eröffnet wurde, zählte der Hamburger Club Hunderte von Mitgliedern, und seine Zweigstellen betrieben von Frauen geleitete Schulen in fünf weiteren Städten. All diese Erfolge waren ebenso bemerkenswert wie kurzlebig.18 Das Frauenkolleg näherte sich auch dem Umfeld von Louise Ottos politisch orientiertem und feministischem Journal, der Frauen-Zeitung an, die den Rundbrief des Hamburger Erziehungsvereins publizierte und zur Gründung des Kollegs aufrief. Dies verschaffte der gewagten Unternehmung zwar auf nationaler Ebene Gehör, brachte sie aber auch mit dem sich entwickelnden Radikalismus der 1848er Revolution in Verbindung. Im Februar 1850 folgten die deutschen Landesherren dem Vorbild anderer europäischer Staats17 Ebd., 58. Für eine ausführlichere Darstellung dieser Sekte vgl. Bonnie S. Anderson, Joyous Greetings. The First International Women’s Movement, 1830–1860, Oxford 2000, 148–152. 18 Anderson, Joyous Greetings, 105. Zu Kindergärten vgl. Prelinger, Charity, Challenge and Change, passim; Ann Taylor Allen, ‚Let Us Live with our Children‘. Kindergarten Movements in Germany and the United States, 1840–1914, in: History of Education Quarterly 28.1 (Spring 1988), 23–48; dies., Spiritual Motherhood. German Feminists and the Kindergarten Movement, 1848–1911, in: History of Education Quarterly 22.3 (Autumn 1982), 319–339.
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oberhäupter und gingen offensiv gegen die Aktivitäten radikaler Vereinigungen, darunter auch eine Reihe junger, aufstrebender feministischer Initiativen, vor. Zu diesem Zweck verbot die preußische Regierung Frauen die Teilnahme an politischen Gruppierungen sowie an Versammlungen, auf denen öffentliche Angelegenheiten erörtert wurden. Die Polizei war ermächtigt, Versammlungen aufzulösen, wenn auf diesen in Gegenwart von Frauen politische Themen behandelt wurden. Religiöse Gruppen wie die Freien Evangelikalen Gemeinden wurden wegen ihrer ökumenischen Ausrichtung entweder als illegale politische Vereinigungen verboten oder ihnen wurde als religiösen Sekten die rechtliche Anerkennung versagt.19 Die Polizei brach in die Schule des Frauenvereins in Schweinfurt ein, und die Gruppen in Nürnberg und Breslau wurden unter polizeiliche Überwachung gestellt. Die Kindergärten Froebels wurden 1851 von der preußischen Regierung unter dem Vorwurf des Atheismus geschlossen. Als die männlichen Kirchenmitglieder sich zunehmend kritischer Prüfung ausgesetzt sahen, versuchten sie, die Frauenclubs zu assimilieren und die jüdischen und katholischen Mitglieder zu verdrängen. Des Weiteren wurden Frauenvereine dazu gedrängt, männliche Beratungskomitees zu akzeptieren. Selbst die gemäßigsten feministischen Programme, wie die politischen Organisationsbemühungen der Frauen insgesamt, wurden auf diese Weise unterbunden. Wie dieser kurze Überblick verdeutlicht, waren die Vereine in den USA keineswegs einzigartig. Die amerikanischen Bibel- und Traktatgesellschaften, die Sonntagsschul- und Wohltätigkeitsvereine waren dem europäischen Muster nachgebildet, und Wohltätigkeitsvereine wie auch evangelikale Vereine entwickelten sich oft parallel zu vergleichbaren Initiativen in Großbritannien oder auf dem europäischen Kontinent. So hatte Isabella Marshall Graham, die 1797 die New York’s Society for the Relief of Poor Widows with Small Children gründete, ihre Organisation nach dem Vorbild einer Initiative aufgebaut, an der sie zuvor in Schottland beteiligt gewesen war. Die Quäkerinnen, die in den 1790er Jahren die ersten von Frauen geführten Wohltätigkeitsvereine in Philadelphia etablierten, waren Teil einer ausgeprägten transatlantischen Religionskultur, die England mit den USA und anderen Teilen der Welt verband. Die erste US-amerikanische katholische Schwesternschaft des Landes, die Mother Elizabeth Seton’s Sisters of Charity of St. Joseph, bildete ihren Orden direkt den französischen Sœurs de St.-Vincent-dePaul nach, und das New York Orphan Asylum, eine der ältesten derartigen Einrichtungen in den USA, war von Franckes Waisenhaus in Halle inspiriert. In diesem Transferprozess wird der Nachholbedarf der USA gegenüber Europa deutlich. So erfolgte die Einrichtung des ersten von Frauen geführten House of Refuge in den USA zwanzig Jahre nach der Errichtung des Dubli19 Prelinger, Charity, Challenge and Change, 163. Vgl. auch Nancy R. Reagin, A German Women’s Movement. Class and Gender in Hanover, 1880–1933, Chapel Hill 1995.
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ner Heims. Dies trifft auch auf jüdische Frauenvereine in den USA zu, die sich erst viel später als in den deutschen Staaten herausbildeten. Die Einbeziehung amerikanischer Frauen in die Kindergarten-Bewegung erfolgte ebenfalls viel langsamer, da sie an die Frauenclub-Bewegung der Zeit nach 1869 gebunden war. Auch die Einrichtung von Diakonissen und Frauenkollegs ließ in den USA noch Jahrzehnte auf sich warten.20 In jedem der genannten Fälle war es die Religion, die den Entwicklungsweg und den Charakter der weiblichen Philanthropie vorgab. Während in den USA der evangelikale Protestantismus und das Quäkertum einen fruchtbaren Boden für die frühe und schnelle Entwicklung von weiblichen Wohltätigkeitsvereinen und sozialreformerischen Bewegungen bot und katholische Organisationen offenbar eher Wohltätigkeitsziele denn soziale Reform anstrebten, hinterließ das Luthertum in den deutschen Staaten ein eher schwaches Erbe, was Betätigungsfelder für Frauen betrifft. Die Trennung von Kirche und Staat prägte unterdessen die Situation in den USA, wo die Zahl der Frauenorganisationen schneller wuchs als in allen anderen Ländern (mit der Ausnahme von England). Amerikanische Kirchen erhielten zu jener Zeit, als ihre Gemeinden zunehmend unter weiblichen Einfluss gerieten, keine staatlichen Gelder und waren deshalb in viel stärkerem Maße von den Fähigkeiten ihrer weiblichen Gemeindemitglieder abhängig, Spenden zu sammeln, um die Finanzierung der Religionsgemeinschaft zu gewährleisten, als Kirchen in jenen Ländern, wo die Union von Staat und Kirche nicht aufgehoben worden war. Hinzu kam die nivellierende Erweckungstheologie, die all diejenigen, die „errettet“ waren, dazu ermunterte, sich an der Verbreitung des Evangeliums zu beteiligen, neue Bekehrte zu sammeln und „Sünde“ durch soziale Reformen auszurotten. Gleichzeitig trugen die Garantien des First Amendment dazu bei, dass das Eintreten für soziale Belange zumindest in den Nordstaaten vor staatlichen Repressalien geschützt war. Damit bot sich dort ein vorteilhafteres Klima für eine von Frauen initiierte und getragene Sozialreform. Sowohl in den USA als auch in Westeuropa war Religion während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Basis, in der weibliche Philanthropie ihre Legitimation und ihren Rückhalt fand, und wurde damit zur Trägerin transatlantischer Reformen.
ÖFFENTLICH-PRIVATE PARTNERSCHAFTEN Neben der Theologie, die für das Schicksal der Frauenvereine entscheidend war, beeinflusste der Staat die Arbeit der Gruppen. Die Beziehungen zwi20 Siehe beispielsweise McCarthy, American Creed, Kap. 2 u. 3; Luddy, Women and Philanthropy; Martha Vicinus, Independent Women. Work and Community for Single Women, 1850–1920, Chicago 1985.
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schen Frauenvereinen und kommunalen, regionalen und nationalen Regierungen sind wichtig, weil sie einen Einblick in die politischen Rollen von Frauen erlauben, die sie bereits vor Erlangung des Wahlrechts in den verschiedenen Ländern besaßen. Seth Koven und Sonya Michel haben auf den bisher unterschätzten Einfluss von Frauenorganisationen bei der Herausbildung des Wohlfahrtsstaates insbesondere im Falle schwacher und dezentralisierter Regierungen wie der amerikanischen verwiesen. Öffentlich-private Partnerschaften bildeten darüber hinaus einen der Maßstäbe, die in der amerikanischen Frauengeschichtsschreibung angewandt worden sind, um die weibliche politische Kultur der USA zu vermessen. Über die Gewährung öffentlicher Fördermittel für Frauenvereine zur Bereitstellung sozialer Dienste für Frauen und Kinder erhielten Frauen eine Stimme bei der Zuteilung staatlicher und kommunaler Gelder; damit wurden erstmals die Bedürfnisse von Frauen und Kindern auf die politische Tagesordnung gesetzt.21 Die aktive Beteiligung in Wohltätigkeitsorganisationen vergrößerte auch die bürgerlichen Rechte ihrer Funktionärinnen, indem selbst verheiratete Frauen die Möglichkeit erhielten, Eigentum zu besitzen und zu veräußern, rechtlich verbindliche Verträge zu unterzeichnen und sich mittels staatlich anerkannter Institutionen im Namen ihrer Wohltätigkeitseinrichtungen an juristischen Auseinandersetzungen zu beteiligen – was sie rechtlich gesehen in den USA vor Verabschiedung des Gesetzes zur Regelung des Eigentums verheirateter Frauen nicht konnten. Die Gewährung staatlicher Anerkennung war bereits für sich genommen ein politischer Akt. Dem Ideal des englischen Commonwealth folgend, wurden formelle urkundliche Eintragungen nur spärlich und nur von Fall zu Fall vorgenommen und dann ausschließlich solchen Organisationen zugestanden, die einen Dienst leisteten, den der Staat nicht anbieten konnte, wie z. B. Frauen und Kinder vor öffentlichen Armenhäusern zu bewahren. Hatten sie erst einmal die Anerkennungsurkunde in der Hand, bekamen Fraueninitiativen in New York, Philadelphia, Baltimore, New Orleans und North Carolina einzelstaatliche und kommunale Fördermittel. Auf diese Weise erhielt beispielsweise die Graham’s Widow’s Society kurz nach 1800 den Erlös aus einer staatlichen 15.000-Dollar-Lotterie, und auch das New Yorker Waisenhaus bekam ab 1808 halbwegs regelmäßig staatliche Fördermittel. Mindestens einem Waisenhaus, das von Setons Nonnen geführt wurde, gelang es ebenfalls, öffentliche Zuwendungen zu gewinnen. Öffentliche Mittel flossen jedoch nur sporadisch, insbesondere während der JacksonÄra in den 1820er und 1830er Jahren, als öffentliche Zuwendungen zumeist
21 Seth Koven u. Sonya Michel (Hg.), Mothers of a New World. Maternalist Politics and the Origins of Welfare States, New York 1993; dies., Womanly Duties. Maternalist Politics and the Origins of Welfare States in France, Germany, Great Britain, and the United States, 1880–1920, in: American Historical Review 95.4 (Oct. 1990), 1076–1108.
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in die Kassen der von Männern dominierten Wohltätigkeitseinrichtungen gelangten.22 Doch auch solche öffentlich-privaten Partnerschaften waren nicht auf die USA beschränkt. Sowohl in den USA als auch in Westeuropa stand hinter den staatlichen Zuwendungen an weiblich geführte Wohlfahrtseinrichtungen die Überlegung, dass auf diese Weise die staatlichen Wohlfahrtsausgaben gesenkt werden könnten. Dies ging allerdings zu Lasten der Frauen, die in diesen Organisationen tätig wurden. So waren beispielsweise die Frauen in Stockholm dazu aufgerufen, öffentliche Suppenküchen zu betreiben, Programme zur Armenfürsorge durchzuführen und Geld für örtliche Armenhilfe-Einrichtungen zu sammeln. Einige sträubten sich schließlich gegen die Übernahme dieser städtischen Aufgaben. Wie die schwedische Reformerin Fredrika Bremer in scharfer Form bemerkte, hätten sich die Frauen in ihrer Vereinigung zwar gewünscht, mit ihrer Tätigkeit das System der Armenfürsorge zu unterstützen. Es sei jedoch unvorstellbar, dass es Zweck des Vereins werden könnte, das gesamte System der öffentlichen Armenfürsorge zu ersetzen.23 Ähnlich verhielt es sich in Tocquevilles Frankreich. Trotz der vorherrschenden Ansicht, dass Vereine und wohltätige Organisationen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts illegal gewesen seien, breiteten sich zu jener Zeit Frauengruppen aus und erhielten oft erhebliche finanzielle Unterstützung von Seiten des Staates. Die Müttervereine sind hierfür ein typisches Beispiel. Die erste Société de charité maternelle wurde in den 1780er Jahren von Mme Fougeret, mit königlichem Rückhalt durch Marie Antoinette, gegründet. Der Verein war darauf ausgerichtet, arme Frauen zu ermutigen, ihre Säuglinge zu behalten und zu pflegen, um auf diese Weise die Zahl der ausgesetzten Säuglinge zu reduzieren und die Sterblichkeitsrate zu senken. Man ließ den werdenden Müttern über den Verein Säuglingsausstattung zukommen und gewährte monatliche Beihilfen an diejenigen, die ihre Kleinkinder behielten und aufzogen. Obwohl der Verein stark von katholischen Moralvorstellungen durchdrungen war – man half nur verheirateten Frauen –, wurde die tägliche Arbeit von weiblichen Laien erledigt, die außerhalb der Überwachung durch die Kirche standen.24 Wie die meisten französischen Wohltätigkeitseinrichtungen war Mme Fougerets Verein während der Revolution geschwächt worden, vor allem, 22 Für eine intensivere Diskussion dieser Fragen vgl. Ginzberg, Women and the Work of Benevolence, sowie McCarthy, American Creed, Kap. 2 u. 8. 23 Fredrika Bremer, zit. n. Åberg, Revivalism, Philanthropy and Emancipation, 31. Zu ähnlichen Themen in Deutschland vgl. Rita Huber-Sperl, Organized Women and the Strong State. The Beginnings of Female Associational Activity in Germany, 1810–1840, in: Journal of Women’s History 13.4 (Winter 2002), 81–105, hier 94. 24 Edith Archembault, Marie Gariazzo, Helmut K. Anheier u. Lester M. Salamon, France, in: Lester M. Salamon, Helmut K. Anheier, Regina List, Stefan Toepler, S. Wojciech Sokoloski u.a. (Hg.), Global Civil Society. Dimensions of the Nonprofit Sector, Baltimore 1999, 81–97.
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nachdem ihre erste Präsidentin, die Königin, auf der Guillotine hingerichtet worden war. Unter Napoleons Schirmherrschaft wurde sie jedoch 1801 wieder belebt und wuchs mithilfe von Regierungsgeldern schnell zu einer nationalen Organisation heran. Napoleons erste Subvention im Jahre 1801 umfasste 1.000 Francs pro Monat. Im Jahre 1810 wurden weitere 500.000 Francs für einen Stiftungsfonds zur Verfügung gestellt. Mit Unterstützung durch Spenden auf lokaler Ebene und dank der staatlichen Freigiebigkeit breitete sich die Vereinigung schnell über Paris hinaus aus und verfügte 1805 bereits über Zweigstellen in Le Mans, Avignon, Bordeaux und Lyon.25 Christine Adams zufolge war Napoleons Großzügigkeit von der Einsicht geleitet, dass die französische Regierung weder das Geld noch die Fähigkeit besaß, selbst für die wachsende Zahl der Bedürftigen aufzukommen. Dies führte dazu, dass dieser Verein fast wie eine Regierungsstelle arbeitete, die durch staatliche Zuschüsse unterstützt wurde; dahinter stand das Argument, dass es bedeutend billiger sei, Säuglinge zu Hause zu pflegen als in staatlichen Institutionen. In einigen Fällen nahm die Regierung die Infrastruktur des Vereins auch für die Bereitstellung anderer Dienstleistungen in Anspruch, wie z. B. bei Impfkampagnen gegen die Pocken. Es war also eine klare staatlich-private Partnerschaft: Regierungsbehörden machten deutlich, dass die Vereine ihre Ausgaben sowohl durch private Spenden als auch durch öffentliche Unterstützung bestreiten müssten. Der Pariser Verein konnte sich 1823 beispielsweise durch 40.000 Francs öffentlicher Gelder und 25.000 Francs von privaten Spendern und Beteiligungen finanzieren. Zugleich war der Verein nicht einfach eine Agentur des Staates. Obwohl einige Forscher die These vertreten, dass die öffentliche Finanzierung die Unabhängigkeit des Vereins unterminiert habe, widerstanden etliche Ortsgruppen den Versuchen der Regierung, Aufgaben und Pflichten, die über die jährliche Berichterstattung hinausgingen, auf sie zu übertragen. Einige ergriffen sogar rechtliche Schritte, um den Bestrebungen der Regierung, ihre Autonomie einzuschränken, entgegenzutreten.26 Andere weibliche katholische Laiengruppen widmeten ihre Tätigkeit der aus der raschen Urbanisierung von Paris entspringenden Übervölkerung und kämpften gegen Epidemien, die weit verbreitete Armut, gegen uneheliche Geburten und Kriminalität. Vor diesem Hintergrund gediehen katholische Frauenorganisationen wie die Dames de la Charité prächtig. Die Dames waren eine Laiengesellschaft, die dem religiösen Orden der Filles de la Charité zugeordnet war, der seine Ahnenreihe wiederum bis ins 17. Jahrhundert auf eine religiöse Gemeinschaft zurückführte, die vom Hl. Vinzenz von Paul während der katholischen Gegenreformation gegründet worden war. Die 25 Christine Adams, Maternal Societies in France. Private Charity Before the Welfare State, in: Journal of Women’s History 17.1 (2005), 87–111, hier 91. 26 Ebd., 88, 91, 95; Alisa Klaus, Every Child a Lion. The Origins of Maternal and Infant Health Policy in the United States and France, 1890–1920, Ithaca 1993, 93.
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Dames leisteten, ähnlich wie die Mitglieder von Sievekings Verein in Hamburg, Freiwilligendienste, indem sie Arme zu Hause aufsuchten und moralischen Rat oder praktische Hilfe bereitstellten. Frauengruppen vergaben unter Aufsicht des Klerus Almosen und organisierten Suppenküchen. Andere Gruppen verfolgten weitere Ziele. So wurde beispielsweise 1819 der Œuvre du Bon Pasteur gegründet, um Prostituierte zu rehabilitieren. Die Société de patronage des jeunes filles détenues et libérées (1838 gegründet) arbeitete mit weiblichen Strafgefangenen. Les Jeunes Économes (1823 gegründet) brachten Arbeitermädchen mit wohlhabenden Frauen zusammen, die unter der Schirmherrschaft der Kirche für ihre Erziehung und Ausbildung aufkamen. Die Société Charitable de St.-François-Régis de Paris (1826 ins Leben gerufen) arrangierte Ehen für schwangere Arbeiterinnen, um ihnen so die Voraussetzung zu verschaffen, Beihilfen von den Müttervereinen zu erhalten. In den 1840er Jahren waren in Paris mindestens 17 rein weibliche Wohltätigkeitseinrichtungen, 22 gemischte Organisationen sowie zahlreiche Vereinigungen auf Gemeindeebene tätig. Diese Zahlen belegen, dass sich die französischen Vereine kaum hinter den amerikanischen verstecken mussten. Zudem scheinen diese Gruppen außerordentlich aktiv gewesen zu sein. Der Œuvre des pauvres malades umfasste 1850 annähernd fünfhundert Mitglieder und verzeichnete Besuche bei Tausenden von Familien. Unterdessen absolvierten die Dames de la Charité im Laufe ihrer ersten sieben Jahre sogar schätzungsweise 32.000 Besuche bei 14.000 Personen.27 Obgleich die meisten karitativen Gemeindedienste von Nonnen erbracht wurden, die Suppenküchen, Hospitäler, Kinderkrippen und Schulen betrieben sowie Krankenbesuche organisierten, kooperierten diese doch oft mit von weiblichen Laien organisierten Vereinen. Weil Orden wie die Filles de la Charité sehr kostengünstig arbeiteten (eine Nonne erhielt im Jahr knapp vierhundert Francs nebst Unterkunft, Kleidung und Verpflegung), senkten sie die Kosten für das Erbringen sozialer Dienste in erheblichem Maße. Weibliche Laiengruppierungen trugen auch dazu bei, die Kosten für die Wohlfahrtspflege in jenen Pariser Arrondissements abzufedern, die knapp bei Kasse waren. Sie halfen sowohl durch ihre unbezahlten Dienste als auch über gemeindebasierte Geldsammlungen zugunsten der kommunalen Kassen, so dass sie ihre unbezahlte Sozialarbeit mit Geldbeschaffung für den Staat verbanden. Wenn auch das Ausmaß, in welchem diese konservativ eingestellten Frauen das Leben der Armen wirklich verbessert haben, fraglich ist, lässt sich der Effekt dieser Aktivitäten in Bezug auf ihre eigene Machtposition kaum bezweifeln. Obwohl sie unter der Leitung örtlicher Priester arbeiteten, entschieden französische Frauengruppen selbst über ihr Pläne, ihr Budget und ihre
27 Curtis, Charitable Ladies, 129, 142.
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Mittelbeschaffung. Zusammengenommen stellten sie die wohl wichtigste Säule städtischer Wohlfahrt vor der Dritten Republik dar.28 Auch deutsche Frauenvereine hatten Verbindungen zum Staat, wenngleich in ganz anderer Form. Historiker machen in der Regel das Auftreten der frühesten modernen deutschen Frauenvereine – abgesehen von jüdischen Frauenorganisationen – an den Napoleonischen Kriegen fest, als Männer wie Frauen auf dem Wege königlicher Proklamationen durch den König selbst und durch die Prinzessinnen von Preußen dazu aufgerufen waren, den Soldaten mittels Spendensammlungen und Freiwilligenarbeit zu helfen. Schätzungen gehen von mehr als sechshundert Vereinen aus, die während des Krieges ins Leben gerufen wurden, davon allein vierhundert in Preußen. Ihre Aufgabe war es, Mittel für Hospitäler zu beschaffen und Dienstleistungen für die Soldatenfamilien zu erbringen. Damit wurden adlige Frauen in die Lage versetzt, eine neuartige öffentliche, patriotische Rolle einzunehmen. Einige der Frauengruppen lösten sich nach Kriegsende wieder auf, andere setzten ihre Arbeit fort, indem sie schwangeren Frauen zur Seite standen, Almosen verteilten und verarmten Müttern halfen, Arbeit zu finden oder Märkte für ihre Waren. Die meisten dieser Gruppierungen waren säkular ausgerichtet und von patriotischen Überzeugungen getragen. Sie wurden von adligen Frauen geleitet und waren dazu bestimmt, dem Staat durch Senkung der Wohlfahrtskosten zu dienen. Wie die Frauenvereine in Paris breiteten sie sich rasch aus: Für die Zeit nach 1830 wurden zwischen 250 und dreihundert Organisationen gezählt.29 Der St. Barbara Frauenverein, eine katholische Frauenvereinigung in Koblenz, wurde beispielsweise 1817 auf Geheiß der Stadtoberen von einer Gruppe adliger Frauen gegründet, die zuvor bereits in der Kriegsfürsorge mitgewirkt hatten. Dieser Verein stand Männern und Frauen offen. Das Geschäftskomitee wurde durch einen Geistlichen, den Bürgermeister und einen ortsansässigen Adligen gebildet. In den folgenden dreißig Jahren richtete der Verein ein Cholera-Hospital und ein Waisenhaus ein und organisierte die Ausbildung angehender Hausmädchen. Im Jahre 1850 zählte er nahezu zweihundert Mitglieder. Das ebenfalls 1817 im Großherzogtum Sachsen-Weimar gegründete Patriotische Institut der Frauenvereine, dem die Großherzogin Marie Pawlowna vorstand, leitete die Entstehung eines Netzwerks patriotisch-philanthropischer Institutionen ein, die unter der Schirmherrschaft aristokratischer Frauen standen. Wie im Falle Frankreichs lag das Grundprinzip für ihre Tätigkeit in ihrer Fähigkeit, die Kosten für die erbrachten Dienstleistungen zu senken. Diese durchaus rationale Erwägung führte zu einer Aufweichung der Grenzen zwischen privater Wohltätigkeit und staatlicher Politik. Die patriotischen Frauenvereine wurden nach 1860 unter der Schirmherrschaft der preußischen Königin im Deutschen Roten Kreuz zusammengeführt.30 28 Ebd., 131, 154. 29 Huber-Sperl, Organized Women and the Strong State, 86, 89. 30 Jean H. Quartaert, Staging Philanthropy. Patriotic Women and the National Imagination
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Wie dieser kurze historische Überblick zeigt, waren von Frauen geführte Wohltätigkeitsvereine in Europa hinsichtlich öffentlich-privater Partnerschaften den meisten ihrer amerikanischen Schwesterorganisationen beim Schmieden intensiver und dauerhafter Beziehungen zum Staat weit voraus. Obwohl einige der von Frauen geführten Wohltätigkeitsvereine in den USA ebenfalls staatliche und kommunale Geldmittel erhielten, war diese Unterstützung kaum mit jener in Frankreich zu vergleichen. Obendrein nahm die Mobilisierung der Frauen in Kriegszeiten in den deutschen Staaten die Arbeit des Sanitätsdienstes im Amerikanischen Bürgerkrieg, der die erste formelle Partnerschaft eines amerikanischen Frauenvereins mit der Bundesregierung darstellte, um fünf Jahrzehnte vorweg. Obwohl immer wieder Fragen nach der Balance zwischen organisatorischer Autonomie einerseits und staatlicher Finanzierung andererseits diskutiert worden sind, legen jüngere Untersuchungen der Dokumente weiblicher Wohltätigkeitseinrichtungen in Frankreich nahe, dass viele Gruppen trotz der Aufsicht durch männliche Geistliche und der Rechenschaftspflicht gegenüber dem Staat, die mit der öffentliche Förderungen einherging, über ein beachtliches Maß an Autonomie verfügten. All diesen Vereinen war ein hoher Grad an öffentlicher Anerkennung und Legitimierung gemein, da sie in der Lage waren, die Arbeit der kommunalen und staatlichen Wohlfahrtspflege zu alimentieren. Von daher verblasst die Geschichte der Wohltätigkeitseinrichtungen amerikanischer Frauen im Vergleich zum politischen Eingebundensein ihrer europäischen Schwestergesellschaften. ÖKONOMISCHE FUNKTIONEN Während Religion und Staat wesentlichen Einfluss auf die Ausgestaltung des weiblichen Vereinswesens besaßen, sollte die Bedeutung der ökonomischen Rahmenbedingungen nicht vergessen werden. Vor 1850 basierte das Spendenwesen in den USA ähnlich wie in Westeuropa eher auf breit angelegten Sammelaktionen und gemeinnützigem Unternehmertum denn auf großzügigen Einzelschenkungen. Obwohl das amerikanische Spendenaufkommen während des so genannten Gilded Age am Ende des 19. Jahrhunderts exponentiell wuchs, bildeten vor dem Bürgerkrieg vergleichsweise bescheidene Gaben die Grundlage der wohltätigen und erzieherischen Unternehmungen wie auch der sozialreformerischen Anstrengungen. Innerhalb dieses Milieus brachten religiös inspirierte Frauen und Kinder den Amerikanern über Pfennig-Sparvereine bei, auf regelmäßiger Basis zu spenden, indem sie aus Groschenbeträgen die nötigen Geldmittel zusammensparten, um Seminaristen, Missionare oder die berufliche Laufbahn begabter Anhänger der Erweckungsin Dynastic Germany, 1813–1916, Ann Arbor 2001, 45, 46, 49, 73.
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bewegung, wie Charles Grandison Finney, zu unterstützen. Ähnliches passierte auch in England. Breit angelegte Spenden- und Sammelaktionen halfen bei der Finanzierung größerer institutioneller Vorhaben in den USA, wie z. B. dem Amherst College, das 1821 mithilfe einer 50.000-Dollar-Sammelaktion ins Leben gerufen wurde, oder der University of Virginia, der Thomas Jefferson in Form einer 40.000-Dollar-Kampagne zur Gründung verhalf. Vor 1840 gab es in den USA nur eine Handvoll größerer Schenkungen, die der Erwähnung wert wären. Darunter befanden sich das Legat von John Lowell in Höhe von 250.000 Dollar zugunsten des Lowell Institute; die Stiftung von sechs Millionen Dollar in Form von Legaten für gemeinnützige Zwecke durch Stephen Girard (davon wurden zwei Millionen Dollar für die Gründung des Girard College in Philadelphia verwendet); und James Smithsons Vermächtnis über 500.000 Dollar, das er 1829 an die amerikanische Regierung übergab, die das Geld zur Finanzierung der Smithsonian Institution verwendete.31 Spendensammlungen durch Frauen spielten eine zentrale Rolle für den Unterhalt von Kirchen und Wohltätigkeitsvereinen sowie die Finanzierung von reformorientierten Zeitungen und Publikationen. Viele weibliche Wohltätigkeitseinrichtungen betätigten sich auch als Kapitalanleger, die mitunter ansehnliche Besitztümer anhäuften. Ein Beispiel dafür ist die 45.000-DollarStiftung, die das Boston Female Asylum schließlich über seine Konten bei der Massachusetts Hospital Life Insurance Company in mittelfristige Kredite zugunsten neu gegründeter Textilmühlen in der Region investierte.32 Die Möglichkeit, zu investieren, war jedoch daran gebunden, über institutionellen Besitz rechtmäßig verfügen zu können. Die Berechtigungsvoraussetzungen hierfür schwankten selbst innerhalb der USA erheblich. Bevor das erste amerikanische Gesetz zur Regelung des Besitzes verheirateter Frauen erlassen wurde, konnten verheiratete Frauen Gelder von Organisationen nur dann verwalten, wenn ihre Wohltätigkeitsvereine staatlich anerkannt waren. Die Möglichkeit, diese staatliche Anerkennung zu erlangen, variierte aber wiederum von Bundesstaat zu Bundesstaat. In New York war sie viel einfacher zu erhalten als in Südstaaten wie Virginia. Das führte dazu, dass Frauenvereine der Südstaaten tendenziell – und oftmals mit merklichem Abstand – über weniger Kapital als ihre Schwestervereine im Norden verfügten, was wiederum bedeutete, dass sie auch nur viel weniger investieren konnten. Auch hierbei zeigen sich interessante Parallelen zwischen dem europäischen Modell und jenem der Südstaaten. Viele Vereine, etwa die Filiale der Stockholmer Bibelgesellschaft, benannten Männer als Schatzmeister, um so die rechtlichen Einschränkungen zu umgehen. Irische Frauenvereine folgten diesem Muster, weil auch sie vom Besitz an Eigentum ausgeschlossen waren, 31 McCarthy, American Creed, Kap. 4. 32 Ginzberg, Women and the Work of Benevolence, 63. Vgl. auch Boylan, The Origins of Women’s Activism, Kap. 5.
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so dass Männer Anspruch auf das Kapital eines Vereins anmelden konnten, der von Frauen geführt wurde. Preußische Frauen tendierten ebenfalls eher zu gemischt-geschlechtlichen Vereinen, ein Muster, das im amerikanischen Süden viel verbreiteter war als in den Nordstaaten.33 Während die Rolle von Frauen als philanthropische Investorinnen in den verschiedenen Ländern unterschiedlich war, teilten die meisten Vereine ein gemeinsames Bekenntnis zu gemeinnützigem Unternehmertum. Frauenvereine nahmen sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Westeuropa beim Verkauf von Bibeln oftmals eine führende Stellung ein. In Stockholm entwickelte beispielsweise die Frauen-Bibelgesellschaft ein Kreditprogramm, um die Armen zum Sparen und Planen für die Zukunft anzuhalten, auf dass sie sich eine Bibel kaufen könnten. Einige weibliche Wohltätigkeitsvereine gründeten industrielle Unternehmen wie das House of Industry in New York, das in den Jahren nach 1810, finanziert durch Regierungsverträge, fast sechshundert verarmte Näherinnen beschäftigte, oder die Klöppelei- und Wäschereibetriebe, die von irischen Nonnen für Heimbewohnerinnen eingerichtet worden waren. Manche, wie die British and Irish Ladies’ Society for the Promotion of the Welfare of the Female Peasantry in Ireland (BILS), die 1822 in London gegründet wurde, sammelten Gelder zur Errichtung von weiblichen Gewerbebetrieben. BILS wuchs schnell zu stattlichen Ausmaßen an und zählte 254 Zweigstellen in 29 Bezirken; davon allein in Cork während der ersten zwei Jahre 62. Die Mitglieder verteilten Leinen, Flachs und Spinnräder, brachten ihren Schützlingen bei, wie sie damit verkaufbare Kleidung herstellen konnten, vergaben Darlehen und verkauften die produzierten Waren in ihren eigenen Ladengeschäften. Frauen in den deutschen Staaten boten Armen ebenfalls Arbeit an und verkauften deren Waren weiter, handelten Verträge aus, vermittelten Kredite für die Werkzeugbeschaffung und führten ihre Schützlinge so in die Welt des Handels ein. Dabei entwickelten die Frauen, die diese Organisationen führten, ernst zu nehmende Gewerbebetriebe. Gleichwohl geschah dies noch immer im Zeichen der Wohltätigkeit, da sie ihre Gewinne in den karitativen Bereich zurückfließen ließen.34 Neben dem Verkauf organisationseigener Erzeugnisse und der Durchführung gewerblicher Unternehmungen konzentrierten sich Frauenvereine vor allem auf Spendensammelaktionen im Rahmen von Konzerten und Basaren. Diese Praktiken waren weit verbreitet, und einige, wie die Anti-SklavereiBasare in Boston oder Londons Anti-Maisgesetz-Basar, der 1845 im Zuge einer siebzehntägigen Kampagne 25.000 Pfund erbrachte, waren auch recht lukrativ. Von Frauen organisierte Basare waren in den deutschen Staaten ebenso verbreitet wie Wohltätigkeitskonzerte und Theateraufführungen. Da33 Luddy, Women and Philanthropy in Nineteenth-Century Ireland, 177. 34 Åberg, Revivalism, Philanthropy and Emancipation, 24; Luddy, Women and Philanthropy in Nineteenth-Century Ireland, 183–184; Huber-Sperl, Organized Women and the Strong State, 89.
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bei brachten Frauenvereine durch Spendensammlungen und kommerzielle Unternehmungen durchaus ansehnliche Geldbeträge zusammen. Diese Leistungen waren kennzeichnend für die weibliche Philanthropie im gesamten transatlantischen Raum. Die historischen Zeugnisse belegen zum einen, dass die Grenzlinie zwischen dem Staat einerseits und der ehrenamtlichen Sphäre andererseits niemals so klar verlief, wie Tocqueville uns das glauben machen wollte, und zum anderen, dass Frauen, die sich öffentlich engagierten, ihre Organisationen gleichermaßen zur Erreichung kommerzieller wie zivilgesellschaftlicher Zwecke zu gebrauchen wussten.35 SCHLUSSBEMERKUNGEN Um zu meiner Ausgangsfrage zurückzukehren: Inwieweit kann man von einem Sonderweg für die amerikanische Philanthropie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprechen? Der Stereotyp, nach dem Amerikaner Vereine gründeten, während Franzosen auf den Staat vertrauten, hält einer geschichtswissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. In allen hier betrachteten Ländern entwickelten sich während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Frauenvereine. Und es zeigte sich, dass diese Organisationsform von Europa in die USA transferiert wurde. Während amerikanische Frauenvereine nur in sehr begrenztem Umfang mit dem Staat kooperierten, bemühten sich französische Frauenvereine mit größerem Erfolg um eine solche Zusammenarbeit, und deutsche Frauenvereine nahmen die Zusammenarbeit mit dem Staat in Kriegszeiten um Jahrzehnte vorweg. Amerikanischen Frauenvereinen gelang es dagegen kaum, eine dauerhafte und beständige Zusammenarbeit mit dem Staat anzubahnen, zumal innerhalb der USA große regionale Unterschiede bestanden. Frauenvereinigungen entwickelten in vielen Ländern einen beachtlichen Wirkungsbereich. Zwischen 1790 und 1840 zählte Anne Boylan 18 karitative Einrichtungen von Frauen in New York und 14 in Boston; die American Female Moral Reform Society konnte sich auf etwa 550 Filialen stützen. Die Gesamtzahl der Frauenvereine in Frankreich ist unbekannt, doch konnte gezeigt werden, dass allein Paris eine Reihe protestantischer Bibelvereine (Frauenvereine und gemischte Gruppen) sowie sieben von Frauen geleitete katholische Wohltätigkeitseinrichtungen beherbergte. In den deutschen Städten war die Zahl der Frauenvereine kleiner, doch lässt sich dies auf die geringere Bevölkerungsdichte zurückführen. Hamburg, München und Leipzig (die je nur etwa ein Sechstel der Bevölkerung New Yorks aufwiesen) hatten in 35 F. K. Prochaska, Women and Philanthropy in Nineteenth-Century England, New York 1980, 54; zu den amerikanischen Anti-Sklaverei-Basaren vgl. Lee Chambers-Schiller, ‚A Good Work among the People‘. The Political Culture of the Boston Antislavery Fair, in: Yellin u. Van Horne, The Abolitionist Sisterhood, 249–274.
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den 1840er Jahren jeweils bis zu zehn Frauenvereine. Waren die Zahlen in den meisten europäischen Ländern auch eher bescheiden, so entsprach dies doch dem kleineren geographischen Raum, in dem sie wirkten. Ein Verein wie die BILS, die in England und Irland 250 Tochtergesellschaften hatte, war ihren amerikanischen Pendants durchaus vergleichbar.36 Zwei Faktoren zeichneten amerikanische Frauenvereine jedoch in der Tat aus: die Selbstverständlichkeit, mit der sie als Verfechter für soziale Belange (ungeachtet öffentlicher Geringschätzung) eintraten, und der Grad, zu dem viele weibliche Wohltätigkeitseinrichtungen in der Lage waren, durch staatlich anerkannte und von ihnen selbst gelenkte Institutionen über eigenen Besitz zu verfügen und ihn zu investieren. Gleichwohl ist es wichtig zu unterstreichen, dass es hier deutliche regionale Unterschiede gab. In den Südstaaten, wo staatliche Anerkennung schwieriger zu erlangen war, hatten Frauengruppen weitaus weniger Autonomie als im Norden. Die Frauen arbeiteten hier oft in gemischt-geschlechtlichen Vereinen, während alleiniges weibliches Engagement durch Sitte und Gesetz weitgehend geächtet war. Die philanthropischen Aktivitäten sowohl der amerikanischen als auch der europäischen Frauen hingen in gleichem Maße von religiöser Unterstützung, einem günstigen rechtlichen Rahmen, vom Zugang zu internationalen Vorbildern sowie von der Verbreitung der Ansicht ab, dass weibliche Mildtätigkeit Dienstleistungen des Staates unterstützen könne. Gemeinnütziges Unternehmertum war ebenfalls eines der verbindenden Merkmale. Die meisten weiblichen Wohltätigkeitseinrichtungen und Reformgruppen waren gewinnbringende und gleichzeitig philanthropische Unternehmen. Diejenigen Frauen, die diese Institutionen gemeinsam leiteten, schufen eine „Untergrund-Wirtschaft“ für die Produktion und den Verkauf der von Frauen hergestellten Waren, von denen einige sogar die internationale Ebene erreichten, wie im Falle der transatlantischen Beiträge zu den Anti-Sklaverei-Basaren. Religion besaß eine alles entscheidende Funktion für die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit weiblicher Philanthropie. Quäker, evangelikale Kongregationalisten, Presbyterianer und Methodisten gestanden weiblicher Philanthropie im weitesten Sinn des Begriffs, der Wohltätigkeit wie auch soziales Engagement mit einschließt, den größten Wirkungsbereich zu. Der Katholizismus bot zwar grundsätzlich die Voraussetzungen, um Frauen für wohltätige Dienstleistungen einzuspannen, aber nur wenige Anreize, sich für Refor36 Boylan, The Origins of Women’s Activism, Appendix I, 219–226; Barbara J. Berg, The Remembered Gate. Origins of American Feminism. The Woman and the City, 1800– 1860, New York 1978, 191; Huber-Sperl, Organized Women and the Strong State, 96; Luddy, Women and Philanthropy in Nineteenth-Century Ireland, 183. Ich habe die zahlreichen reformerischen Gruppen, die von Boylan aufgelistet worden sind, ausgelassen, da sie kein vergleichbares Gegenstück im kontinentalen Europa in der Zeit vor 1840 besitzen. Für weibliche Wohltätigkeitsvereine in Hannover vgl. Reagin, A German Women’s Movement, Kap. 2.
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men einzusetzen. Im Gegensatz dazu scheinen einige Zweige des Protestantismus, wie das deutsche Luthertum, ihre weiblichen Anhänger entmutigt zu haben, sich in die öffentliche Sphäre zu begeben. Daher waren es eben säkulare Motive wie die Napoleonischen Kriege, die zur Entstehung der ersten nichtjüdischen deutschen Frauenvereine führten. Die ersten Frauenvereine in Deutschland waren daher eher „Töchter des Staates“ denn der Kirche. Gewiss boten die USA, insbesondere die Nordstaaten, das wohl beste Klima für philanthropische Autonomie, doch jüngere Forschungen deuten darauf hin, dass auch viele französische Frauenvereine in der Lage waren, trotz Überwachung durch Kirche und Staat einen gewissen Grad von Autonomie zu erlangen. Die wohl sichtbarste und einschneidendste Zäsur kam mit dem Verbot vieler Vereine infolge der Revolution von 1848. Kathryn Kish Sklar stellt daher fest: „social and political conditions in the United States before 1860 fostered mass-based and politically autonomous women’s organizations to a degree that was unknown elsewhere.“37 Auch in den USA spielte Religion eine zentrale Rolle. Indem sie Geld sammelten, Bibeln verkauften, religiöse Traktate verteilten und an Sonntagsschulen unterrichteten, spielten weibliche protestantische Laien eine Schlüsselrolle in der Verbreitung des evangelikalen Protestantismus und für dessen Aufstieg zur dominierenden Religionsform in den USA. Der evangelikale Protestantismus war ein Katalysator für das enorme Wachstum der Philanthropie. Durch die flächendeckende Verbreitung von Bibelgesellschaften schufen sie ein nationales Netzwerk, das der Philanthropie personelle Verstärkung zuführte, religiöse Belehrungen lieferte und auf die moralische Besserung des Einzelnen abzielte. Dieses Netzwerk der Wohltätigkeit leistete eine Pionierarbeit bei der Schaffung kommunaler, einzelstaatlicher und nationaler Strukturen, die Parallelen zu den staatlichen Strukturen aufwies und damit ein Organisationsmuster für nach dem Bürgerkrieg entstehende Frauenvereine bereitstellte, etwa für die Women’s Christian Temperance Union, den Parent-Teacher Associations und Frauenclubs. Theda Skocpol hat darauf verwiesen, wie diese dreistufige Organisationsstruktur (lokal, regional, national) den Rahmen für die Entwicklung der ersten sozialen Wohlfahrtsprogramme durch Frauen bot. Frauen war es damit auch möglich, einen Teil der öffentlichen Sphäre für sich zu reklamieren.38 Ein abschließendes Wort zur Frage des amerikanischen Sonderweges: Das philanthropische Engagement amerikanischer Frauen entwickelte sich aus einer transatlantischen Kultur heraus, die die amerikanischen Aktivistinnen in Verbindung mit ihren Gesinnungsgenossinnen in ganz Westeuropa 37 Kathryn Kish Sklar, The Historical Foundations of Women’s Power in the Creation of the American Welfare State, 1830–1930, in: Koven u. Michel (Hg.), Mothers of a New World, 43–93, hier 52. 38 Theda Skocpol, Protecting Soldiers and Mothers. The Political Origins of Social Policy in the United States, Cambridge 1992.
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brachte. Das gleiche gilt für männliche Tätigkeitsfelder. Es fällt daher schwer, dieses Phänomen als ein spezifisch amerikanisches zu betrachten. Die Vorbilder für die ersten Forschungsuniversitäten in den USA, für handwerkliche Berufsschulen sowie für Wissenschafts- und Technikmuseen kamen aus Deutschland; soziale Siedlungsprojekte, die Heilsarmee, der Christliche Verein Junger Menschen, die Vereinigung karitativer Organisationen, die Wohnungsreform, die Ausbildung in Pflegeberufen, Gesundheitskomitees, Kunstmuseen und Sparkassen kamen aus England; katholische Wohlfahrtseinrichtungen aus Frankreich und das Rote Kreuz aus der Schweiz. Anstatt an einem amerikanischen Sonderweg festzuhalten, sollten wir wohl eher das dichte Netz der Korrespondenzen, Veröffentlichungen und des philanthropischen Tourismus studieren, das diese Welt zusammenhielt. Nur dann werden wir in der Lage sein, all die nach wie vor bestehenden Auffassungen über den vermeintlichen amerikanischen Sonderweg – wie auch die Bemerkungen Tocquevilles über das Vereinswesen – zu korrigieren.
PHILANTHROPIE UND WOHNUNGSREFORM IN DER TRANSATLANTISCHEN WELT, 1840–1914 Thomas Adam 1. DAS KONZEPT DES INTERKULTURELLEN TRANSFERS UND DIE WELT DER WOHNUNGSREFORM Daniel T. Rodgers und Axel Schäfer haben bereits vor einigen Jahren auf die Kontakte und transatlantischen Transfers bei der Herausbildung sozialstaatlicher Systeme in der transatlantischen Welt des 19. Jahrhunderts verwiesen. Beide stimmen darin überein, dass staatliche Sozialsysteme in keiner der Nationen des transatlantischen Raumes in einem Vakuum entstanden, sondern ein Resultat transatlantischer Austausch- und Lernprozesse sind.1 Während es Rodgers und Schäfer darum ging, die gegenseitige Beeinflussung und Durchdringung nationaler staatlicher Sozialpolitiken auf beiden Seiten des Atlantiks zu ergründen, soll es in meinem Beitrag um die Erforschung des transnationalen Austausches von privaten philanthropischen Modellen – hier dem Modell der marktorientierten Philanthropie – gehen, der sich seit den 1840er Jahren entwickelt hatte und verschiedene Städte und Kommunen auf beiden Seiten des Atlantiks miteinander verband. Seit den frühen 1840er Jahren entwickelte sich London zu einem Magnet zuerst für deutsche und ab den 1870er Jahren dann auch für amerikanische Sozialreformer, die die englische Metropole aufsuchten, um die dort entwickelten Konzepte zur Wohnreform zu studieren und auf ihre Eignung für deutsche und amerikanische Städte zu untersuchen. Inspiriert von den drei Londoner Konzepten – Wohnstiftung (George Peabody), marktorientierte Philanthropie (Sidney Waterlow) und dem Hausverwaltungssystem der Octavia Hill – entstanden ähnliche soziale Wohnungsunternehmen in verschiedenen Städten des transatlantischen Raumes, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts wiederum zum Gegenstand von Beobachtungen amerikanischer Sozialreformer wie zum Beispiel Elgin R. L. Gould wurden. Um dieses Phänomen der transnationalen und transatlantischen Austauschbeziehungen im Bereich der Wohnungsreform zu analysieren, soll das Konzept des interkul1
Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge, London 1998; Axel R. Schäfer, American Progressives and German Social Reform 1875–1920. Social Ethics, Moral Control, and the Regulatory State in a Transatlantic Context, Stuttgart 2000.
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turellen Transfers herangezogen werden. Dieses anhand des deutsch-französischen Beispiels entwickelte Konzept erlaubt es, Austauschbeziehungen und Vernetzungen zwischen zwei oder mehreren unterhalb der Ebene der Nation angesiedelten Regionen und Orten zu untersuchen.2 Dieses Konzept setzt die Offenheit der betreffenden Kulturen ebenso wie deren Differenzierung voraus. Michel Espagne und Michael Werner verwiesen darauf, dass interkulturelle Transfers zugleich einen Öffnungs- und Abschließungsprozess darstellen, in dem in einem ersten Schritt Elemente einer „anderen“ Kultur aufgenommen werden, was wiederum zu einem Aneignungs- und kulturellen Differenzierungsprozess führt, in dessen Ergebnis lokale und regionale Identitäten stabilisiert und verfestigt werden.3 Für Bernd Kortländer besteht interkultureller Transfer aus einem dreistufigen Prozess von Selektion, Transport und Integration.4 Dem Phänomen des Kulturtransfers skeptisch gegenüber stehende Historiker wie Gabriele Lingelbach verweisen in Einzelfällen nicht zu Unrecht darauf, dass Reformen und Veränderungen in einer Gesellschaft oftmals unter Verweis auf ein besseres oder überlegenes fremdes Modell eingefordert und ausgeführt wurden, ohne direkt von diesem beschriebenen Modell wirklich beeinflusst worden zu sein. Lingelbachs Forschungen zur Etablierung einer modernen Ausbildung von Historikern in den USA lässt deutlich werden, dass Herbert Baxter Adams (Vorsteher des Historischen Seminars an der Johns Hopkins University) die akademische Öffentlichkeit von der Überle2
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Zum Konzept des Kulturtransfers bzw. des interkulturellen Transfers siehe Matthias Middell (Hg.), Kulturtransfer und Vergleich, Leipzig 2000; Gabriele Lingelbach, Erträge und Grenzen zweier Ansätze. Kulturtransfer und Vergleich am Beispiel der französischen und amerikanischen Geschichtswissenschaft während des 19. Jahrhunderts, in: Christoph Conrad u. Sebastian Conrad (Hg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, 333–359; Johannes Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), 649–685. Im Kontext der amerikanischen Geschichtswissenschaft hat dieser Ansatz bisher nur sehr wenig Beachtung gefunden. Siehe z. B. Kirsten Belgum, Reading Alexander von Humboldt. Cosmopolitan Naturalist with an American Spirit, in: Lynne Tatlock u. Matt Erlin (Hg.), German Culture in Nineteenth-Century America. Reception, Adaptation, Transformation, Rochester 2005, 107–127; Thomas Adam, Buying Respectability. Philanthropy and Urban Society in Transnational Perspective, 1840s to 1930s, Bloomington 2009. Michel Espagne u. Michael Werner, Deutsch-Französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand. Eine Problemskizze, in: Michel Espagne u. Michael Werner (Hg.), Transferts, les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècle), Paris 1988, 11–34, hier 14. Bernd Kortländer, Begrenzung – Entgrenzung. Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa, in: Lothar Jordan u. Bernd Kortländer (Hg.), Nationale Grenzen und internationaler Austausch. Studien zum Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa, Tübingen 1995, 1–11.
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genheit des deutschen Universitätsmodells vor allem deshalb zu überzeugen suchte, um seinem Reformprojekt Prestige und Erfolg zu sichern.5 Auch wenn Lingelbach mit ihrem Verweis auf die von persönlichen Interessen geleitete Argumentation der den Transfer propagierenden Akteure sicherlich Recht hat,6 sollte nicht von vornherein die generelle Unmöglichkeit eines Transfers ausgeschlossen werden. Darüber hinaus ist es auch gar nicht so sicher, dass jeder Transfer mit einem öffentlichen Diskurs oder einem öffentlichem Verweis auf ein fremdes Vorbild verbunden war. Im Falle der Boston Free Public Library war nur den engsten Vertrauten von George Ticknor bewusst, dass diese Bibliothek ihr Vorbild in der Königlich Sächsischen Bibliothek in Dresden hatte.7 Ticknor vermied es aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen, öffentlich auf diesen Transfer hinzuweisen. Im Falle des Metropolitan Museum of Arts wurde zwar in der anfänglichen Phase seiner Planung auf die reichen Museen Sachsens verwiesen, als es aber an die Planung und Eröffnung dieses Museums ging, wurden die dieser Institution zugrunde liegenden Konzepte deutscher bürgerlicher Kunstgalerien und Kunstvereine in der Öffentlichkeit mit keinem Wort erwähnt.8 Es sollte daher nicht vergessen werden, dass ein öffentlicher Verweis auf den Transfer eines fremden Konzeptes nicht immer hilfreich gewesen sein mag und das Projekt sogar beschädigt oder sogar verhindert haben könnte, weil die Mehrheit der Gesellschaft nicht die Bewunderung für die andere Kultur teilte. Oftmals kam es zu Transfers, die der Mehrheit der in der empfangenden Gesellschaft Lebenden überhaupt nicht bewusst waren und die von Historikern nur mit Hilfe der Auswertung von privaten Briefen und Tagebüchern der am Transfer beteiligten Personen rekonstruiert werden können. Interkultureller Transfer im Bereich der Sozialreform war fast immer ein Austausch zwischen Individuen und darüber hinaus an soziale Privilegien wie Reisen und Studium gebunden.9 Die im Folgenden als kulturelle Vermittler (agents of transfer) bezeichneten Individuen hatten keinerlei politische oder 5
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Gabriele Lingelbach, Cultural Borrowing or Autonomous Development. American and German Universities in the late Nineteenth Century, in: Thomas Adam u. Ruth Gross (Hg.), Traveling between Worlds. German-American Encounters, College Station 2006, 100–123, hier 113–116. Siehe auch Gabriele Lingelbach, Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2002. Lingelbach, Erträge und Grenzen, 355f. Life, Letters, and Journals of George Ticknor, Bd. 2, London 1876, 299. Zu diesem Transfer im Bereich des Bibliothekswesens siehe Thomas Adam, Cultural Baggage: The Building of the Urban Community in a Transatlantic World, in: Adam u. Gross, Traveling between Worlds, 87–94. Smithsonian Archives of American Art. George Comfort Deposit Reel 4276 T 6814 (Microfilm). Extracts from the Address of Professor Comfort before the Syracuse Chamber of Commerce regarding a Museum of Fine Arts, 15–19. Kortländer, Begrenzung – Entgrenzung, 3–4.
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staatliche Ämter inne, sondern agierten aus innerem Antrieb oder um ihre Statusansprüche zu begründen. Obwohl sie die Führungsrolle in lokalen privaten Initiativen im Bereich der Sozialreform übernahmen, handelten sie nicht allein, sondern in Zusammenarbeit mit Angehörigen der sozialen Oberschicht der betreffenden Kommune. Sie gehörten nicht, wie man erwarten könnte, transnationalen religiösen, politischen oder kulturellen Organisationen an. Die Position eines kulturellen Vermittlers war kein Beruf, sondern eine Berufung, konnte der betreffenden Person jedoch eine allgemein respektierte Karriere sichern. Die hier behandelten kulturellen Vermittler entstammten der sozialen Oberschicht und waren eng mit der für das 19. Jahrhundert so typischen bürgerlichen Kultur, die Grenzen und Kontinente umspannte,10 verbunden. In der Regel fanden wohlhabende Reisende Ideen und Inspiration für soziale Reform auf ihren Reisen, obwohl sie nicht immer gezielt danach suchten. Während Victor Aimé Huber und Henry Ingersoll Bowditch gezielt nach Modellen für die Wohnungsreform suchten und zu diesem Zweck nach London reisten, ergab sich Wilhelm Ruprechts Interesse für die soziale Wohnungsreform aus seiner Unzufriedenheit mit der ihn nicht ausfüllenden Tätigkeit in einem Londoner Verlagshaus, so dass er nach einer sinnvollen Freizeitbeschäftigung suchte, die er dann in der Wohnungsreform und der Beobachtung Londoner philanthropischer Wohnungsunternehmen fand.11 Espagne und Werner betonen, dass die „Übernahme eines fremden Kulturguts“ niemals „ein rein kumulatives, sondern immer auch ein schöpferisches Verfahren“ war.12 Aufgrund der kulturellen Prädispositionen des kulturellen Vermittlers war dessen Wahrnehmung des zu transferierenden Objektes immer durch dessen Sozialisierung gebrochen. Sie führte daher unweigerlich – auch wenn der kulturelle Vermittler davon überzeugt war, dass er die Funktionsweise des betreffenden Objektes genauestens verstand – zu Modifikationen des Objektes, die in der Rezeption begannen, den Transfer bestimmten und die Integration in die empfangende Gesellschaft ermöglichten. Solche Modifikationen waren notwendig, um das betreffende Objekt sozial und kulturell kompatibel zu machen. Die Tätigkeit des kulturellen Vermittlers beschränkte sich daher nicht nur auf eine bewusste Auswahl des Transferobjektes, sondern ließ ihn im Prozess des interkulturellen Transfers auch zu dessen Autor werden. Interkultureller Transfer im 19. Jahrhundert unterschied sich grundsätzlich von anderen Prozessen kultureller Kontakte in der vormodernen Ära – etwa die koloniale Eroberung und die Missionstätigkeit von religiösen Ver10 Sven Beckert, Die Kultur des Kapitals. Bürgerliche Kultur in New York und Hamburg im 19. Jahrhundert, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 4 (hg. v. Warburg Haus), Berlin 2000, 143–175. 11 Wilhelm Ruprecht, Väter und Söhne. Zwei Jahrhunderte Buchhändler in einer deutschen Universitätsstadt, Göttingen 1935, 203–205. 12 Espagne u. Werner, Deutsch-Französischer Kulturtransfer, 21.
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tretern europäischer Kulturen in Amerika, Afrika und Asien. Im Gegensatz zu Missionaren gehörten die kulturellen Vermittler meistens zur empfangenden Kultur. Auch wenn sie ähnliche Ziele wie die Missionare verfolgten, können sie kaum mit diesen verglichen werden. Mission strebte nach der Aufhebung von regionalen und kulturellen Unterschieden, interkultureller Transfer trug dagegen zur kulturellen Ausdifferenzierung bei und beruhte nicht auf dem Konzept von kultureller Überlegenheit bzw. Unterlegenheit.13 Das sollte jedoch nicht bedeuten, dass Gefühle der „kulturellen Unterlegenheit“ der empfangenden Gesellschaft keine Rolle spielten. Ohne ein Gefühl des Defizits, des Verlangens oder der Notwendigkeit, bestimmte Notstände zu lösen, lässt sich die Motivation der kulturellen Vermittler ebenso wenig erklären wie der interkulturelle Transfer selbst. Dem kulturellen Vermittler kam in diesem Prozess eine besondere Rolle zu, da er zwischen zwei oder mehreren Kulturen verkehrte. Auch wenn er umfangreiche Kenntnisse über die andere Kultur besaß, in dieser für längere Zeit gelebt hatte und deren Sprache fließend beherrschte, blieb er doch ein Außenseiter, der nie völlig zu dieser Kultur gehörte. Dies hinderte ihn natürlich nicht daran, sich als Experte für diese Kultur zu betrachten. Im Folgenden geht es darum, den interkulturellen Transfer im Bereich der Wohnungsreform in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Dabei stehen die sozialen Initiativen und Projekte in London, Berlin, Frankfurt am Main, Leipzig, Boston und New York im Mittelpunkt. Aus der Vielzahl der verschiedenen Konzepte zur Verbesserung der Wohnbedingungen von Arbeiterfamilien soll hier das Konzept der marktorientierten Philanthropie herausgegriffen werden. Dieses die Philanthropie im 19. Jahrhundert dominierende Konzept basiert auf der Idee, private Wohltätigkeit mit Marktmechanismen (Gewinnausschüttung von fünf Prozent jährlich unter den Stiftern) zu verbinden. Stiftern, denen daran lag, Wohnungen zu schaffen, die für Arbeiterfamilien erschwinglich waren und modernen hygienischen Standards gerecht wurden, stellten in diesem Falle Kapital zur Verfügung, für das sie Aktien in dem betreffenden Wohnungsunternehmen erhielten. Im Gegensatz zu rein gewinnorientierten Unternehmen war die jährliche Gewinnausschüttung auf eine Dividende von fünf Prozent beschränkt. Der diese Dividende überschreitende Jahresgewinn sollte für die Erweiterung des betreffenden Unternehmens oder dessen Instandhaltung verwendet werden. Auch wenn dies nicht unserem gegenwärtigen Verständnis von Philanthropie entspricht, sollte doch nicht vergessen werden, dass im 19. Jahrhundert Philanthropie nur dann als effektiv betrachtet wurde, wenn beide Seiten – Geber und Empfänger – davon profitierten. Darüber hinaus galt diese Form der Philanthropie auch als vom Stigma des Almosens befreit, denn Letzteres war mit 13 Michel Espagne, Kulturtransfer und Fachgeschichte der Geisteswissenschaften, in: Middell, Kulturtransfer und Vergleich, 42–61.
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der wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit des Empfängers identifiziert worden. Das wichtigste Argument für die Organisatoren der Unternehmen mit beschränkter Gewinnbeteiligung (limited dividend companies) war jedoch, dass diese Gesellschaften zeigen konnten, wie sich mit Marktmechanismen ein soziales Problem lösen ließ. Auf diese Weise konnten Geschäftsmänner, die weniger an Philanthropie und mehr an Gewinn interessiert waren, von einer Mitarbeit in diesen Unternehmen und damit deren weitere Verbreitung überzeugt werden. Im Gegensatz zu den Verfechtern der Wohnstiftungen, die ihre Einrichtungen als Oasen in der kapitalistischen Welt gestalteten und sich deren beschränkter Wirkung durchaus bewusst waren, hatten die Organisatoren der Wohnungsunternehmen mit beschränkter Gewinnbeteilung weit reichende Pläne für die Reform des gesamten Wohnungssektors. 2. VOM LONDONER MODELL DER MARKTORIENTIERTEN PHILANTHROPIE ZU DEN DEUTSCHEN BAUGENOSSENSCHAFTEN Um die Lebens- und Wohnbedingungen der Unterschichtenfamilien in London zu verbessern, gründeten Sozialreformer mehrere soziale Wohnungsunternehmen. Das erste derartige Unternehmen war die im Jahre 1841 gegründete Metropolitan Association for Improving the Dwellings of the Industrious Classes.14 Übersicht über die wichtigsten marktorientierten sozialen Wohnungsunternehmen in London Londoner Wohnungsunternehmen
Gründungsjahr
Metropolitan Association for Improving the Dwellings of the Industrious Classes
1841
Society for Improving the Condition of the Labouring Classes
1844
Central London Dwellings Improvement Company
1861
Improved Industrial Dwellings Company
1863
Artizans and Labourers General Dwellings Company
1867
East End Dwellings Company
1884
Four Per Cent Industrial Dwellings Company
1885
14 Susannah Morris, Private Profit and Public Interest. Model Dwellings Companies and the Housing of the Working Classes in London, 1840–1914, unveröff. Diss. University of Oxford 1998, 24–38; John Nelson Tarn, Five Per Cent Philanthropy. An Account of housing in urban areas between 1840 and 1914, Cambridge 1973, 15ff.
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Diese Wohnungsunternehmen verband die Grundidee, gesunde und erschwingliche Wohnungen für Arbeiterfamilien zu schaffen und gleichzeitig einen beschränkten Gewinn für die gemeinwohlorientierten Investoren zu garantieren. Während die Idee der Gewinnerzielung sicherlich nicht als philanthropisch gelten kann, bestand die Neuheit dieser Unternehmen darin, dass die Gewinnerzielung nur eine nachgeordnete Bedeutung besaß und das Hauptaugenmerk auf der Bereitstellung von preiswerten Wohnungen lag, die die von Sozialreformern entwickelten Standards hinsichtlich der Wohnungshygiene und der Architektur entsprachen. Wohnungen in den von diesen Unternehmen errichteten Siedlungen unterschieden sich deutlich von denen der auf Profitmaximierung ausgerichteten privaten Wohnungsunternehmen, die Wohnungen anboten, die oftmals Schweineställen nicht unähnlich waren.15 Diese in den Augen der Sozialreformer unmenschlichen Wohnbedingungen erschienen Beobachtern wie Southwood Smith und Huber als Brutstätten nicht nur für gefährliche Epidemien, sondern auch für eine soziale Revolution. Viel schlimmer erschien ihnen jedoch die Tatsache, dass sich die Besitzer dieser Wohnungen schamlos bereicherten.16 Der deutsche Sozialreformer Huber kam während seiner häufigen Besuche in London in Kontakt mit verschiedenen Persönlichkeiten, die mit der Wohnungsreform beschäftigt waren, insbesondere mit einigen der Gründern der oben genannten Wohnungsunternehmen. So traf er 1847 Lord Ashley, den späteren Lord Shaftesbury, der die Gründung der Society for Improving the Condition of the Labouring Classes im Jahre 1844 auf den Weg gebracht hatte. Huber hatte Ashley einen Textentwurf zugesandt, in dem er die Integration von Selbsthilfe und philanthropischer Unterstützung in Form der Gründung von sozialen Wohnungsunternehmen befürwortete. Die Mieter in derartigen Wohnungsunternehmen sollten sowohl zur Finanzierung dieser Unternehmen als auch zu deren Verwaltung herangezogen werden. Obwohl Ashley in diesem Punkt Hubers Konzept rundweg ablehnte, arrangierte er für Huber eine Besichtigung der Wohngebäude der Society for Improving the Condition of the Labouring Classes.17 Diese Kontakte hatten, auch wenn dies von dem Huber Biographen Rudolf Elvers vehement bestritten wurde, einen sichtbaren Einfluss auf Hubers Denken und das von ihm entwickelte Konzept der „inneren Kolonisation“.18 Und obwohl Huber sich selbst in seinem Buch Die 15 Victor Aimé Huber, Die Wohnungsnot, in: V. A. Hubers Ausgewählte Schriften über Socialreform und Genossenschaftswesen (in freier Bearbeitung hg. v. Dr. K. Munding), Berlin 1894, 594–595. Siehe auch Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, Leipzig 1845. 16 Morris, Private Profit and Public Interest, 25. 17 Victor Aimé Huber, Die Wohnungsreform, in: V. A. Hubers Ausgewählte Schriften, 1051–1053; Rudolf Elvers, Victor Aimé Huber. Sein Leben und Wirken. Zweiter Theil, Bremen 1874, 210–211; Tarn, Five Per Cent Philanthropy, 16–17. 18 Elvers, Victor Aimé Huber, 302.
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genossenschaftliche Selbsthülfe der arbeitenden Klassen (1865) dazu gezwungen fühlte, die Genossenschaft als „selbständig deutsch und ohne allen fremdem Einfluß“19 entstandene Wirtschaftsform zu charakterisieren, war das vor allem dem sich herausbildenden deutschen Nationalismus geschuldet sowie der Notwendigkeit, seine Landsleute von der Nützlichkeit und Notwendigkeit dieser wirtschaftlichen und sozialen Institution zu überzeugen. Der explizite Verweis auf die englischen Wurzeln der Genossenschaft hätte der sich nur sehr langsam entwickelnden Genossenschaftsbewegung wohl Schaden zugefügt. 20 Der interkulturelle Transfer von Ideen und Konzepten resultiert jedoch fast nie in einer einfachen Übernahme des fremden Konzepts. Ideen und Konzepte erfahren Veränderungen und Modifikationen, um deren Fremdheit zu überwinden und sie für die Integration in die empfangende Gesellschaft vorzubereiten. In Hubers Fall fusionierten zwei unterschiedliche Konzepte: Huber verschmolz das im Bereich des Wohnungsbaus entwickelte Konzept der marktorientierten Philanthropie mit dem Konzept der im Bereich der Konsumption entwickelten Modell der Genossenschaft (Rochdale Pioneers). Für Huber ging es darum, zwei verschiedene Modelle wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Organisation zusammenzubringen und damit auf einen Ausgleich zwischen reformwilligen Eliten und der Arbeiterschaft hinzuarbeiten. Darüber hinaus sah er die Wohnungsreform nur als den Beginn einer allgemeinen Emanzipation der Arbeiterschaft, die über die Bildung von Assoziationen (Genossenschaften) zur moralischen und intellektuellen Transformation der Arbeiter führen würde. Im Jahre 1846 veröffentlichte Huber seinen Aufsatz Über innere Colonisation, in dem er seine Grundgedanken über die genossenschaftliche Selbsthilfe der Arbeiter darlegte. Darin distanzierte er sich von früheren genossenschaftlichen Experimenten wie zum Beispiel den Reform- und Siedlungsprojekten Robert Owens. Während diese Projekte auf die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft gezielt hatten, forderte Huber soziale Reformen, die die kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht in Frage stellen würden, sondern sie stärkten. Huber glaubte an eine klassenüberschreitende Hilfsbereitschaft (Nächstenliebe) und die Möglichkeit der Zusammenarbeit zwischen Adligen, Fabrikbesitzern und Arbeitern. Das Ziel seiner Sozialreform bestand darin, Arbeitern zu mehr Selbstbestimmung zu verhelfen. Ausgehend von einer paternalistischen Grundüberzeugung war sich Huber sicher, dass die Arbeiter der Hilfe und Unterstützung der gebildeten und wohlhabenden Eliten bedurften. 19 Victor Aimé Huber, Die genossenschaftliche Selbsthülfe der arbeitenden Klassen, Elberfeld 1865, 44. 20 Victor Aimé Huber, Ueber die cooperativen Arbeiterassociationen in England. Ein Vortrag veranstaltet vor dem Central-Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen, gehalten am 23. Februar 1852, Berlin 1852; Victor Aimé Huber, Sociale Fragen. V. Die Rochdaler Pioniers. Ein Bild aus dem Genossenschaftswesen, Nordhausen 1867.
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Daher erschien ihm das Modell der Genossenschaft als unzureichendes Instrument für die Emanzipation der Arbeiterschaft. Unter dem Eindruck der gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften in London entwickelte er daher sein Konzept der Wohnungsreform, das die gewinnorientierte Wohnungsgesellschaft (mit der auf fünf Prozent beschränkten Dividende) mit Elementen der Genossenschaft (Mitwirkung der Mieter bei der Verwaltung des Unternehmens sowie Integration von Sozialeinrichtungen wie Leseräume, Kleinkinderbewahranstalt etc.) miteinander verband und damit im Prozess des interkulturellen Transfers zwei grundverschiedene Prinzipien in ein neues Modell integrierte.21 Im Gegensatz zu den Londoner Wohnungsgesellschaften sah Huber auch die Notwendigkeit, die von ihm konzipierten Arbeitersiedlungen wegen des preiswerteren Grundbesitzes und des von ihm wahrgenommenen moralischen Verfalls der Städte außerhalb der Großstädte zu bauen. Er verwies jedoch aus praktischen Gründen auf die Notwendigkeit, diese Siedlungen innerhalb eines Umkreises von zwei bis drei Meilen vom Stadtzentrum zu errichten, da die täglichen Fahrtkosten zur Arbeitsstelle immer noch erschwinglich sein müssten.22 „Es versteht sich dann […] von selbst“, schrieb Huber, dass die Kosten solcher Bauten in der Regel viel zu groß sind, als daß sie von den künftigen Bewohnern (größtentheils ganz Besitzlosen) selbst bestritten werden könnten. Hier also tritt der Besitz, der Besitzende ein, sofern wir eben bei ihm jene rechte Einsicht und Gesinnung voraussetzen können. Er […] tritt ein, nicht etwa um fünfzig oder Hunderttausende als Almosen zu verschenken – sondern nur um sie zu billigen Zinsen anzulegen.23
Als Investoren sah Huber den Staat, die Gemeinden und wohlgesinnte Privatpersonen, die sich mit einem auf fünf Prozent beschränkten Gewinn ihres eingesetzten Kapitals zufrieden geben würden. Die Bewohner dieser Siedlungen sollten außerdem dazu angehalten werden, eine Konsumgenossenschaft zu gründen, um so ihre Lebenshaltungskosten zu senken.24 Hubers Aufsatz fand insbesondere in Berlin große Beachtung, wo der königliche Landbaumeister Carl Wilhelm Hoffmann im Februar 1847 einen Aufruf zur Gründung einer Berliner gemeinnützigen Baugesellschaft veröffentlicht hatte.25 Unter direktem Verweis auf die Londoner Metropolitan As21 Victor Aimé Huber, Über innere Colonisation. Aus d. Janus Heft VII. VIII., besonders abgedruckt zum Besten des Berliner Handwerkervereins, Berlin 1846. Siehe auch Elvers, Victor Aimé Huber, 193–197. 22 Huber, Über innere Colonisation, 21–22. 23 Ebd., 34. 24 Ebd., 35–41. 25 C. W. Hoffmann, Die Aufgabe einer Berliner gemeinnützigen Baugesellschaft, Berlin 1847; Gaebler, Idee und Bedeutung der Berliner gemeinnützigen Baugesellschaft, Berlin 1848. Die Rolle Hubers bei der Gründung dieser Baugesellschaft wird in der Forschungsliteratur unterschiedlich dargestellt. Michael Kanther und Dietmar Petzina behaupten, Hubers Aufsatz Über innere Colonisation habe die Gründung der Berliner
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sociation for Improving the Dwellings of the Industrious Classes schlug Hoffmann in seinem Aufruf vor, eine gemeinnützige Baugesellschaft in Berlin zu gründen, die gesunde und erschwingliche Wohnungen für Arbeiterfamilien schaffen würde. Im Gegensatz zum Londoner Unternehmen zeichnete sich die Berliner Baugesellschaft durch zwei Modifikationen aus: Erstens hatte Huber dafür gesorgt, dass sein Konzept der Beteiligung der Mieter bei der Verwaltung der Gesellschaft (Mietergenossenschaft) sowie die Integration von Sozialeinrichtungen wie einer Volksbibliothek und einer Kleinkinderbewahranstalt in das Konzept aufgenommen wurden. Zweitens bestand Hofmann darauf, dass die Wohngebäude über einen Zeitraum von dreißig Jahren in das Eigentum der in Mietergenossenschaften zusammengeschlossenen Bewohner übergehen sollten, um somit „eigenthumlose Arbeiter in arbeitende Eigenthümer“26 zu verwandeln. Um diesen Zweck zu erreichen, sollten die hergestellten Wohnungen dergestalt vermiethet werden, dass, nach Abzug aller Kosten, das Anlagecapital mit 6 Procent verzinst würde. Hiervon sollten 4 Procent den Actionairen als Dividende gezahlt, 2 Procent dagegen amortisiert, und deren Beträge alljährlich den einzelnen Miethsgenossen pro rata der gezahlten Miete als intellectuelle Eigenthums-Antheile gut geschrieben werden. Miethsgenossen oder deren Erben, welche die 30jährige Periode nicht abwarten wollen oder könnten, sollten eine ihrem Eigenthums-Antheile entsprechende Abfindungssumme baar ausgezahlt erhalten, so dass für sie zugleich ein Sparkassenverhältniss vorhanden war. Durch Ausgabe von Actien à 100 Thaler mit einer Maximaldividende von 4 Procent, sollte das nöthige Baucapital beschafft werden. Diese Actien sollten nur berechtigen, den Nominalbetrag derselben zurückzuerhalten, sobald sie nach einem vorgeschriebenen Modus ausgeloost wurden, aber kein Miteigenthum an dem Gesellschaftsvermögen begründen.27
Es ist eine Ironie des interkulturellen Transfers, dass diese beiden Modifikationen (Mietergenossenschaften und Übertragung des Eigentums an die Mieter), mit denen Hoffmann und Huber das Londoner Modell der limited dividend company besser in den sozioökonomischen Kontext von Berlin integrieren wollten, schon nach kurzer Zeit wieder aufgegeben werden mussten. Damit wurde die Berliner Baugesellschaft ihrem Vorbild ähnlicher, als das von Huber und Hoffmann intendiert gewesen war. Dieses „übersetzte“ KonBaugesellschaft verursacht. Siehe Michael A. Kanther u. Dietmar Petzina, Victor Aimé Huber (1800–1869). Sozialreformer und Wegbereiter der sozialen Wohnungswirtschaft, Berlin 2000, 75. Dagegen erwähnt Edmund Krokisius ihn in seiner Darstellung der Geschichte der Berliner Baugesellschaft nicht einmal. Siehe Edmund Krokisius, Die unter dem Protektorat Seiner Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm II. stehenden Berliner gemeinnützigen Bau-Gesellschaft und Alexandra-Stiftung 1847 bis 1901, Berlin 1901, 10. Carl Wilhelm Hoffmann bemerkt jedoch, dass den an der Gründung der Baugesellschaft Beteiligten Hubers Aufsatz zumindest bekannt war. Siehe C. W. Hoffmann, Die Wohnungen der Arbeiter und Armen I. (Heft) Die Berliner Gemeinnützige Bau-Gesellschaft, Berlin 1852, 20. 26 Krokisius, Die unter dem Protektorat, 13. 27 Ebd.
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zept der marktorientierten Philanthropie erregte die Aufmerksamkeit von Sozialreformern in anderen Großstädten. So schreibt Edmund Krokisius über die Berliner Beispiele: Sie waren Veranlassung zur Gründung von gleichartigen Gesellschaften in mehreren größeren Städten, z. B. Stettin, Hamburg etc. […] Nach vielen Orten, mehrfach auch nach dem Ausland, mussten auf Anfragen Statuten, Pläne etc. versendet werden.28
Als im Jahre 1860 eine Gruppe von Bürgern in Frankfurt am Main zur Gründung einer gemeinnützigen Baugesellschaft aufrief, verwiesen sie nicht nur auf die nun weithin bekannten Londoner Einrichtungen, sondern auch explizit auf die Vorreiterrolle der Berliner gemeinnützigen Baugesellschaft.29 Der weit gereiste Georg Varrentrapp gilt als Wortführer dieser Initiative und mutmaßlicher Autor der im Mai 1860 veröffentlichten Aufforderung zur Gründung einer gemeinnützigen Baugesellschaft in Frankfurt am Main. Wie schon Huber zuvor fungierte Varrentrapp als ein kultureller Vermittler, der seine privilegierte Position dazu genutzt hatte, Frankreich, Belgien und England zu bereisen, um dort soziale Reformprojekte (Institutionen der öffentlichen Gesundheitspflege, Gefängnisreform und Wohnreform) zu studieren. Während sich Huber im Wesentlichen auf die Wohnreform festlegte, interessierte sich Varrentrapp für verschiedene Facetten der Sozialreform.30 In der Aufforderung zur Gründung einer gemeinnützigen Baugesellschaft in Frankfurt am Main erinnerte Varrentrapp seine Mitbürger daran, dass solche gemeinnützigen Baugesellschaften, „wie sie in mannigfacher Form auch anderwärts bestehen“31, eine weitere öffentliche Einrichtung wie die von den Bürgern bereits finanzierte Kleinkinderschule, die Irrenanstalt, die Krippe sowie die Taubstummen- und Blindenanstalt wäre. Im Gegensatz zu all diesen Einrichtungen wurde jedoch nun von den Bürgern nicht erwartet, dass sie ihr Geld der Baugesellschaft schenken sollten (Stiftung), sondern sie geben es vielmehr zu einer Capitalanlage auf Grund und Boden und auf stets leicht vermiethbare Gebäulichkeiten her und sorgen mit allem Fleiß und Eifer dafür, eine regelmäßige gewisse Verzinsung sich zu sichern. Eine Speculation im gewöhnlichen 28 Ebd., 18. 29 Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Aufforderung zur Gründung einer gemeinnützigen Baugesellschaft in Frankfurt am Main [1860]. 30 Dr. E. Marcus u. Dr. Georg Varrentrapp, in: Jahresbericht über die Verwaltung des Medizinalwesens der Stadt Frankfurt / Main 1886, 264ff.; Alexander Spiess, Georg Varrentrapp gestorben den 15. März 1886, in: Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege 18 (1886), XIff.; Georg Varrentrapp, Ueber Pönitentiarsysteme, insbesondere über die vorgeschlagene Einführung des pensylvanischen Systems, Frankfurt / Main, 1841; Georg Varrentrapp, De l’emprisonnement individuel sous le rapport sanitaire et des attaques dirigées contre lui par MM. Charles Lucas et Léon Faucher, Paris 1844; Georg Varrentrapp, Ueber Entwässerung der Städte, über Werth und Unwerth der Wasserclosette, über deren angebliche Folgen. Verlust werthvollen Düngers, Verunreinigung der Flüsse, Benachtheiligung der Gesundheit, Berlin 1868. 31 Aufforderung zur Gründung, 4.
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Thomas Adam Sinne des Wortes wollen sie allerdings auch nicht damit machen, indem sie nicht nur eigenen Vortheil, sondern auch den Anderer dabei im Auge haben, und indem sie aus dem zu erzielenden Erträgniß selbst ein Maximum der ihnen zu Gute kommenden Verzinsung (etwa 4 Procent) festsetzen.32
Für den Kontext des interkulturellen Transfers ist der von Varrentrapp verfasste und der Aufforderung beigefügte Essay Einige Worte über die bestehende Wohnungsnoth der Minderbemittelten und über die zu deren Abhülfe unternommenen Bestrebungen33 von großer Bedeutung. In diesem Text vermittelt Varrentrapp eine Übersicht über die von ihm besuchten und besichtigten gemeinnützigen Wohnungsunternehmen in England, Frankreich und Belgien sowie in Amsterdam, Groningen, Kopenhagen, Basel, Bremen und Berlin. An erster Stelle nennt Varrentrapp, wie nicht anders zu erwarten, England, insbesondere die Society for Improving the Condition of the Labouring Classes und die Metropolitan Association for Improving the Dwellings of the Industrious Classes in London. Varrentrapp hob in seiner Beschreibung als Hauptcharakteristika der beiden Gesellschaften hervor, dass es ihnen darum ging, „der arbeitenden Klasse bessere Wohnungen zu verschaffen, dem dazu verwendeten Capital aber zugleich eine angemessene Verzinsung zu sichern.“34 Varrentrapp gelang es, eine größere Zahl von wohlhabenden Frankfurter Bürgern für sein Projekt zu begeistern und sie davon zu überzeugen, sich finanziell durch den Erwerb von Aktien an der Baugesellschaft zu beteiligen. Im Gegensatz zu Berlin schlug Varrentrapp allerdings eine engere Orientierung am Londoner Konzept der marktorientierten Philanthropie vor. An genossenschaftlichen Modellen der Selbsthilfe oder gar weitreichenden Zielen wie der Emanzipation der Arbeiter oder deren Verwandlung in Wohnungseigentümer völlig desinteressiert, ging es dem national-liberalen Varrentrapp im Gegensatz zu Huber lediglich um die Verbesserung der Lebens- und Wohnungsbedingungen der Arbeiterschaft und nicht um sozial-strukturelle Veränderungen. Das Frankfurter Unternehmen wurde daher wie sein Londoner Vorbild als eine Aktiengesellschaft gegründet, die ihren Aktionären eine vierprozentige (im Gegensatz zu den fünf Prozent im Londoner Fall) Verzinsung des investierten Kapitals versprach und von 1868 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges auch zahlte. Mieter waren wie in London praktisch vom Aktienerwerb ausgeschlossen. Die wohl wichtigste Modifikation bestand darin, dass die Aktien im Nennwert zu fünfhundert Gulden seitens der Anleger unkündbar waren.35 Damit gaben die in die Frankfurter Aktiengesellschaft involvierten Investoren die Kontrolle über ihre erworbenen Aktien an das 32 33 34 35
Ebd. Ebd., 13–30. Ebd., 21. Vergleiche hierzu Susannah Morris’ Analyse des Handels mit Aktien der limited dividend companies in London. Morris, Private Profit and Public Interest, 192–208.
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Wohnungsunternehmen ab. Ihre Investitionen erhielten damit den Charakter von festgelegtem Kapital, über das der Eigentümer nicht verfügen konnte. Dies und die Gewinnbeschränkung auf vier bzw. fünf Prozent in einer Zeit, in der zehn und 15 Prozent Dividende nicht ungewöhnlich waren, betonten zumindest nach außen hin den philanthropischen Charakter der Frankfurter Baugesellschaft.36 Es sollte jedoch hier auch darauf hingewiesen werden, dass diejenigen Londoner Bürger, die ihr Geld in die gemeinnützigen Baugesellschaften ihrer Stadt investierten, nur selten ihre Aktien verkauften, da sie diese Unternehmen als wohltätige Unternehmen wahrnahmen und damit auch ihre Investitionen als Beiträge zu einem „wohltätigen“ Zweck betrachteten.37 Damit erwies sich diese Modifikation als eine Festschreibung einer durchaus akzeptierten Realität. Auch wenn Varrentrapp verglichen mit Huber für sich ein wesentlich größeres Tätigkeitsgebiet in der Gestaltung der modernen Gesellschaft beanspruchte, blieb die Zielbestimmung seiner Reformtätigkeit doch auf den Erhalt einer Klassengesellschaft beschränkt. Hier offenbart sich auch ein grundsätzlicher Widerspruch der marktorientierten Philanthropie, da sie in den Augen ihrer englischen und deutschen Initiatoren, die eine paternalistische und vormoderne Gesellschaftsauffassung vertraten, als ein Instrument zur Linderung der Wohnungsnot der Arbeiterfamilien betrachtet wurde. Gleichzeitig erwies sich diese neue Form der Philanthropie aber auch als Ausdruck der Akzeptanz moderner kapitalistischer Methoden zur Krisenbewältigung: der Markt wurde in einer beschränkten Wirkungsweise zum Instrument einer privaten Sozialpolitik. Von den 1860er bis in die 1890er Jahre hinein wurden in verschiedenen deutschen Städten mehrere gemeinnützige Baugesellschaften, die die Grundprinzipien der Londoner limited dividend companies adaptierten, gegründet. Es war jedoch die Mischung der limited dividend company mit der Genossenschaft, die nach 1900 den sozialen Wohnungsbau in Deutschland bestimmen sollte. Das Signal dafür ging von der Gründung des Hannoveraner Spar- und Bauvereins im Jahre 1885 aus. Dieses Unternehmen verband das Konzept der genossenschaftlichen Selbsthilfe mit dem der marktorientierten Philanthropie, die Wirtschaftsform der Baugesellschaft wiederum mit der Wohnungsverwaltungsgesellschaft und der Sparkasse. Der Spar- und Bauverein Hannover integrierte damit ganz verschiedene Konzepte in einer neuen Unternehmensform, die auch von einer neuen wirtschaftsrechtlichen Regelung – nämlich der der begrenzten Haftbarkeit38 – Gebrauch machte und damit das finanzielle Risiko der Investoren und Mitglieder auf den jeweiligen Geschäftsanteil beschränkte. Insgesamt zeichnete sich der Spar- und Bauverein durch 36 Aufforderung zur Gründung, 8. 37 Morris, Private Profit and Public Interest, 206–207. 38 Reichsgesetzblatt Nr. 11. Gesetz, betreffend die Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften vom 1. Mai 1889.
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drei charakteristische, innovative Merkmale aus: (1.) Im Gegensatz zu älteren Baugenossenschaften blieben die von der Genossenschaft erbauten Wohngebäude für immer Eigentum der Genossenschaft. Die Baugenossenschaft wurde damit eben auch eine Wohnungsverwaltungsgenossenschaft. (2.) Er vereinte Selbsthilfe mit paternalistischer Philanthropie, indem jeder Mieter / Genossenschafter mindestens einen Geschäftsanteil von dreihundert Mark erwerben musste (Ratenzahlung war möglich). Gleichzeitig durften wohlhabende, reformgesinnte Bürger mehrere Geschäftsanteile der Genossenschaft kaufen sowie Konten bei der Sparkasse der Genossenschaft einrichten, deren Kapitaleinlage zur Finanzierung des Wohnungsbaues herangezogen wurde. (3.) Der Spar- und Bauverein wurde als eine Genossenschaft mit beschränkter Haftung errichtet, so dass die Mitglieder und Investoren im Falle eines Konkurses nicht mehr mit ihrem Gesamtvermögen, sondern nur noch bis zur Höhe ihres Geschäftsanteils haftbar waren.39 Damit war diese neue Unternehmensform außerordentlich attraktiv für Arbeiter und Bürger, und die sich bald überall in deutschen Großstädten bildenden Spar- und Bauvereine hatten im Gegensatz zu den gemeinnützigen Baugesellschaften keinen Mangel an Zuspruch, weder unter potentiellen Mitgliedern / Mietern noch unter potentiellen Förderern. Die Garantie einer beständigen vierprozentigen Verzinsung der Kapitalanlage in den Spar- und Bauvereinen sowie die beschränkte Haftpflicht stellten für die Genossenschaften wichtige Wettbewerbsvorteile dar, wenn es darum ging, wohlhabende Bürger als Sparer und Investoren zu gewinnen. Die Investitionen von Nichtmitgliedern in die Baugenossenschaften waren enorm, wie dies das Beispiel des Spar- und Bauvereins Hannover belegt. Im Jahre 1900 standen hier Geschäftsanteile der Genossenschafter in Höhe von 583.510,23 Mark immerhin 659.922,68 Mark Spareinlagen von Nichtmitgliedern gegenüber.40 Der Großteil der Baugenossenschaften ermöglichte es Individuen, mehr als nur einen Geschäftsanteil (über einhundert bis dreihundert Mark) zu erwerben. So geschah es in Einzelfällen, dass wohlhabende Bürger Geschäftsanteile bis zu 40.000 Mark erwarben und so diese Unternehmen mit einer umfangreichen Kapitalbasis versahen.41 Die Hannoveraner Baugenossenschaft zog das Interesse von Wohnungsreformern in ganz Deutschland auf sich und inspirierte Sozialreformer, Spar- und Bauvereine in 39 Wilhelm Ruprecht, Gesunde Wohnungen, in: Göttinger Arbeiterbibliothek, Bd. 1, Nr. 6, 81–96; F. Bork, Der Spar- und Bauverein, E.G.m.beschr. Haftpflicht in Hannover, in: Die Spar- und Bau-Vereine in Hannover, Göttingen und Berlin. Eine Anleitung zur praktischen Betätigung auf dem Gebiete der Wohnungsfrage (Schriften der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen Nr. 3), Berlin 1893, 1–93. 40 A. Grävell, Die Baugenossenschafts-Frage. Ein Bericht über die Ausbreitung der gemeinnützigen Bauthätigkeit durch Baugenossenschaften, Aktienbaugesellschaften, Bauvereine etc. in Deutschland während der letzten 12 Jahre, Berlin 1901, Tabelle II b Nr. 83. 41 Ebd., 117. Siehe auch die Tabelle II b ebd.
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anderen Städten wie Berlin, Göttingen, Leipzig und Dresden zu gründen.42 Die Zahl dieser Baugenossenschaften wuchs von 28 mit 2.000 Genossenschaftern im Jahre 1888 auf 764 mit über 140.000 Genossenschaftern im Jahre 1908. Diese Unternehmen verfügten über Grund- und Hausbesitz im Wert von über zweihundert Millionen Mark.43 Zwar propagierten diese Genossenschaften ausdrücklich das Prinzip der Selbsthilfe, doch trugen sie zumindest vor dem Ersten Weltkrieg nur wenig zur Emanzipation der Arbeiterschaft bei. Die Mehrzahl der Baugenossenschaften wurde von wohlhabenden Bürgern dominiert, die die Positionen in den Aufsichtsräten und geschäftsführenden Vorständen der Genossenschaften einnahmen und den Einfluss der Genossenschafter auf ein Minimum beschränkten. Erst mit der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg gelang es Arbeitern, in einzelnen Baugenossenschaften in führende Positionen aufzusteigen und Entscheidungen über die Baupolitik der betreffenden Genossenschaft zu treffen. Damit hatten die Baugenossenschaften ihren Beitrag zur Emanzipation der Arbeiterschaft geleistet und besitzlose Arbeiter nicht nur in arbeitende Besitzer verwandelt, sondern ihnen auch Zugang zu einer Position verschafft, in der sie über die Gestaltung der städtischen Gesellschaft mit entschieden. In diesem Punkt unterschied sich die deutsche Adaption, Weiterentwicklung und Hybridisierung der marktorientierten Philanthropie grundsätzlich von seinem englischen Vorbild und der im Folgenden zu diskutierenden amerikanischen Adaption der marktorientierten Philanthropie. Obwohl deutsche und amerikanische kulturelle Vermittler nach London reisten und ihre Begeisterung für die limited dividend companies durchaus teilten, kam es im Prozess des interkulturellen Transfers zu Modifizierungen des Modells der marktorientierten Philanthropie, die sich nicht unbedingt aus dem Einfluss der kulturellen Vermittler erklären lassen, sondern vielmehr aus den Bedingungen der aufnehmenden Gesellschaft. Es sollte jedoch auch nicht vergessen werden, dass, wie es das Beispiel der Verfügbarkeit der Aktien zeigte, die Realität sich oftmals stark vom Anspruch unterschied. Die Tatsache, dass die Statuten der Londoner limited dividend companies den freien Handel mit ihren Aktien zuließ, bedeutete eben nicht unbedingt, dass diese Aktien wirklich frei gehandelt wurden, sondern im dauernden Besitz ihrer Erwerber blieben. Auf einer theoretischen Ebene könnte man daher einen wichtigen Unterschied zwischen diesen und vergleichbaren Unternehmen in Frankfurt am Main annehmen, der aber sofort verschwindet, wenn man sich die Praxis genauer anschaut. Ähnlich verhielt es sich, wie im Folgenden diskutiert wird, auch 42 Die Spar- und Bau-Vereine in Hannover, Göttingen und Berlin; Thomas Adam, 125 Jahre Wohnreform in Sachsen. Zur Geschichte der sächsischen Baugenossenschaften (1873–1998), Leipzig 1999. 43 Rudolf Albrecht, Die Aufgabe, Organisation und Tätigkeit der Beamten-Baugenossenschaften, Diss. Universität Tübingen, Stuttgart 1911, 41.
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mit der Gewinnspanne der amerikanischen limited dividend companies, die offiziell mit sieben Prozent über jener der Londoner Unternehmen lag. 3. VON DER FÜNF-PROZENT- ZUR SIEBEN-PROZENT-PHILANTHROPIE Etwa drei Jahrzehnte nachdem Huber auf der Suche nach Ideen zur Lösung der sozialen Frage England bereist hatte, entwickelten amerikanische Sozialreformer ein Interesse an den englischen Konzepten über die Bereitstellung von preiswerten und hygienischen Wohnungen für Unterschichtenfamilien. Im Gegensatz zu Huber, der gegenüber seinen deutschen Mitstreitern das Konzept der marktorientierten Philanthropie zu einem Zeitpunkt anpries, zu dem es noch in seinen Kinderschuhen steckte, hatten amerikanische Sozialreformer in den 1870er Jahren nun den entscheidenden Vorteil, dass sie in London ein über drei Jahrzehnte bewährtes System vorfanden. Obwohl während der 1850er und 1860er Jahre in einzelnen Städten Kontinentaleuropas (Amsterdam, Kopenhagen und Basel) philanthropische Wohnungsunternehmen entstanden waren, galten die Londoner Projekte weithin als die am weitesten entwickelten und daher Modellcharakter tragenden Westeuropas. Sozialreformer wie Gustav de Liagre schauten nach London, um Ideen und Inspiration für ihre reformerischen Bemühungen zu finden.44 Sozialreformer aus Boston und New York begannen sich gegen Ende der 1860er Jahre für die Londoner Wohnungsreform zu interessieren, weil sie Zeugen einer großen Einwanderungswelle waren, die zur Entstehung von Slums führte. Die Sozialreformer sahen darin eine Gefährdung des ihrer Meinung nach zu bewahrenden Charakters amerikanischer Städte. Henry Ingersoll Bowditch, ein Bostoner Arzt, der aus einer der ältesten Familien Massachusetts stammte, war der erste amerikanische Wohnungsreformer, der im Sommer 1870 nach London reiste, um die dortigen philanthropischen Wohnungsunternehmen zu studieren.45 Verglichen mit Huber sah sich Bowditch einer inzwischen viel größeren und vielfältigeren Landschaft philanthropischer Wohnungsunternehmen gegenüber. Shaftesburys Society for Improving the Condition of the Labouring Classes war nunmehr lediglich ein Unter44 Zu Liagre siehe Thomas Adam, Die Anfänge industriellen Bauens in Sachsen, Leipzig 1998, 27–28; Gustav de Liagre, Ein Versuch zur Beschaffung guter Wohnungen für Arme in Leipzig, in: Ernst Hasse, Die Wohnungsverhältnisse der ärmeren Volksklassen in Leipzig, Leipzig 1886, 95–100. 45 Biographical Encyclopedia of Massachusetts of the Nineteenth Century, New York 1879, 303–306; One of a Thousand. A Series of Biographical Sketches of One Thousand Representative Men resident in the Commonwealth of Massachusetts A. D. 1888– 1889 compiled under the editorial supervision of John C. Rand, Boston 1890, 68–69; The Harvard Graduates Magazine I (1892–1893), 38–43.
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nehmen von vielen. Doch nicht nur die Zahl der philanthropischen Wohnungsunternehmen hatte sich vermehrt. Das Konzept der markorientierten Philanthropie hatte Konkurrenz durch neue Modelle wie das Konzept der reinen Philanthropie (Wohnstiftung) erhalten, das auf der Bereitstellung eines Stiftungskapitals durch eine Einzelperson (wie zum Beispiel George Peabody) für die Errichtung eines Wohnungsunternehmens basierte und jede Form von Gewinnrückführung an den Stifter ausschloss. Britische Wohnungsreformer beschäftigten sich nicht nur mit der Finanzierung und Errichtung neuer Wohnkomplexe, sondern auch mit der Verwaltung und Instandhaltung vorhandener Wohnungen und der Sozialdisziplinierung der Mieter. Für Octavia Hill ging es weniger um die Errichtung neuer Wohnungen, sondern darum, den Angehörigen der Unterschichten durch Anweisung und Anleitung bürgerliche Standards (Kleinfamilie, Trennung zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, Einhaltung von Reinlichkeitsnormen) nahe zu bringen.46 Die große Zahl von verschiedenen Wohnungsunternehmen und konkurrierenden Modellen zwang Bowditch dazu, eine Auswahl für seine Analyse und den interkulturellen Transfer zu treffen und diese Auswahl zu begründen. Es fällt auf, dass weder Bowditch noch andere amerikanische Sozialreformer, die nach England reisten, sich für die Idee der Genossenschaft begeistern konnten. Im Gegensatz zu Huber, für den genossenschaftliche Formen der Organisation von herausragender Bedeutung gewesen waren, gerieten Genossenschaften kaum in das Blickfeld amerikanischer Wohnungsreformer. Es waren Wohnungsreformer in Toronto wie George Frank Beer, die sich nach 1900, ähnlich wie Huber ein halbes Jahrhundert zuvor in Berlin, für eine Mischung des Konzepts der marktorientierten Philanthropie mit Formen genossenschaftlichen Mitbesitzes und Mitbestimmung durch die Mieter einsetzten.47 Bowditch beschränkte seine Beobachtungen, die er in einem 62 Seiten langen Brief festhielt, der später im Second Annual Report of the State Board of Health of Massachusetts January 1871 veröffentlicht wurde,48 auf vier verschiedene Lösungsansätze: (1.) die Peabody Stiftung, die dem Prinzip der reinen Philanthropie folgte, (2.) die Improved Industrial Dwelling Company, die das Prinzip der Philanthropie und Fünf Prozent verkörperte, (3.) die Jarrow Building Company, die als eine Baugenossenschaft organisiert war, deren Häuser über einen bestimmten Zeitpunkt in das Eigentum der Bewohner 46 Thomas Adam, Transatlantic Trading. The Transfer of Philanthropic Models between European and North American Cities during the Nineteenth and early Twentieth Centuries, in: Journal of Urban History 28 (2002), 328–351; Enid Gauldie, Cruel Habitations. A History of Working-Class Housing 1780–1918, London 1974, 214. 47 Thomas Adam, Philanthropic Landmarks. The Toronto Trail from a Comparative Perspective, 1870s to the 1930s, in: Urban History Review 30 (2001), 3–21, hier 17f. 48 Henry I. Bowditch, Letter from the Chairman of the State Board of Health, concerning Houses for the People, Convalescent Homes, and the Sewage Questions, in: Second Annual Report of the State Board of Health of Massachusetts January 1871, Boston 1871, 181–243.
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übergehen sollten, und (4.) Octavia Hills Hausverwaltungssystem.49 Während er von vornherein sowohl die Peabody Stiftung als auch die Jarrow Building Company als wenig inspirierend verwarf, konzentrierte er sich auf Sydney Waterlows Improved Industrial Dwelling Company und Hills Verwaltungskonzept. Über die Peabody Stiftung bemerkte Bowditch: The percentage for rents on the original outlays is so small that no capitalist would desire to employ his surplus funds without greater gain. We must look in other directions for plans and successful experiments in which philanthropy and capital joins hands.50
Bowditch ging es ebenso wie Huber um die Verbesserung der Wohnungsbedingungen für Unterschichtenfamilien mittels philanthropischer Wohnungsunternehmen, die ihren Investoren einen angemessenen Gewinn zugestanden. Beide Reformer einte auch die Überzeugung, dass die Verbesserung der Wohnbedingungen nicht ohne eine Verbesserung der sozialmoralischen Situation der Betreffenden erfolgen könne. Der entscheidende Unterschied zwischen Huber und Bowditch lag in dem Weg, auf dem dies erfolgen sollte. Huber setzte auf Erziehung und genossenschaftliche Zusammenarbeit bei der Hebung des sozialmoralischen Standards der Arbeiterfamilien, Bowditch hingegen wählte den sozialdisziplinierenden und interventionistischen Weg Octavia Hills. Hill war davon überzeugt, dass „the poor needed example, tuition, inspiration and guidance in their everyday lives more than they needed charity.“51 Sie bestand darauf, dass friendly visitors (Frauen aus adligen und gutbürgerlichen Häusern) einmal pro Woche die Mieter in den von ihnen betreuten Wohnungen aufsuchten, um nicht nur die Miete zu kassieren, sondern auch Ratschläge und Hinweise zur Verbesserung der häuslichen und familiären Verhältnisse zu geben. Diese Methode des direkten Kontakts zwischen Angehörigen der wohlhabenden Klassen mit Familien der Unterschichten schien Bowditch als sehr geeignet für Boston, wo sich eine etablierte englischstämmige Oberschicht dem Ansturm armer irischer Einwanderer gegenüber sah.52 Bowditch und seine Mitbürger glaubten, dass diese irischen Einwanderer zuerst „zivilisiert“ werden müssten, bevor sie zu Nutznießern der Bostoner philanthropischen Einrichtungen werden könnten.53 Nach seiner Rückkehr aus London überzeugte Bowditch 163 wohlhabende Mitbürger, die Boston Cooperative Building Company (BCBC) zu gründen, die, mit einem Aktienkapital von 200.000 Dollar ausgestattet, den Investoren 49 50 51 52
Ebd., 182. Ebd., 198. Gauldie, Cruel Habitations, 214. Zur irischen Einwanderung nach Boston siehe Thomas O’Connor, The Boston Irish. A Political History, Boston 1995; Stephan Thernstrom, The Other Bostonians. Poverty and Progress in the American Metropolis 1880–1970, Cambridge 1973; Oscar Handlin, Boston’s Immigrants. A Study in Acculturation, Cambridge 1959. Generell zur irischen Migration in die USA siehe William V. Shannon, The American Irish, New York 1963. 53 Third Annual Report of the Boston Co-operative Building Company, Boston 1874, 13.
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einen Gewinn von maximal sieben Prozent versprach. Diese Baugesellschaft führte das Prinzip der marktorientierten Philanthropie und Octavia Hills Verwaltungssystem in die amerikanische Welt der Philanthropie ein.54 Durch zahlreiche Publikationen sorgte Bowditch dafür, dass Hills Ideen ein amerikanisches Publikum fanden und in den folgenden Jahren weitere von Hill inspirierte soziale Wohnprojekte wie u.a. in Philadelphia geschaffen wurden.55 Während auf beiden Seiten des Atlantiks das Konzept der marktorientierten Philanthropie (in Berlin und Frankfurt am Main mit einer Gewinnobergrenze von vier Prozent, in London mit fünf und in Boston mit sieben Prozent) dominierte, unterschieden sich deutsche und amerikanische Sozialreformer hinsichtlich ihrer Ansichten über die Möglichkeiten, bürgerliche sozialmoralische Vorstellungen auf die Unterschichten zu übertragen. Obwohl Huber und Bowditch darin übereinstimmten, dass eine solche Disziplinierung der Unterschichten notwendig sei, bestanden sie auf grundlegend verschiedenen Methoden, um dies zu erreichen. Während Huber an die Veränderbarkeit des Charakters glaubte und seine Energie auf die Emanzipation der Mieter der Berliner Baugesellschaft verwendete,56 waren Bowditch und seine Mitstreiter von Anbeginn wesentlich skeptischer, was die Wandelbarkeit der Verhaltensweisen der potentiellen Mieter anging. Die Organisatoren der BCBC schufen ein Pilotprogramm der Hill’schen Verwaltungspraxis in dem Lincoln Building, einer heruntergekommenen Mietskaserne, die die BCBC aufkaufte. In seinem Third Annual Report warnte der Vorstand: It is, however, […] felt that the experiments in London and Boston must necessarily differ very materially from one another [because of] the difference between the characteristics of the English race, with which Miss Hill had chiefly to deal, and those of the Celtic family with which the committee was to come in contact.57 54 The First Annual Report of the Boston Co-operative Building Co. with the Act of Incorporation and By-Laws, Boston 1872; E. R. L. Gould, The Housing of the Working People (Eighth Special Report of the Commissioner of Labor), Washington, D.C. 1895, 200–207; David M. Culver, Tenement House Reform in Boston, 1846–1898, unveröff. Diss. Boston University 1972, 145–164; Christine Cousineau, Tenement Reform in Boston, 1870–1920. Philanthropy, Regulation, and Government Assisted Housing (Working Paper presented at the Third National Conference on American Planning History Nov. 30-Dec. 2, 1989 in Cincinnati, Ohio), 6–8; Joseph Lee, Constructive and Preventive Philanthropy, New York 1902, 70–71; David P. Handlin, The American Home. Architecture and Society, 1815–1915, Boston, Toronto 1979, 252–263; Lawrence J. Vale, From the Puritans to the Projects. Public Housing and Public Neighbors, Cambridge, Mass., London 2000, 63–64. 55 Bowditch, Letter from the Chairman, 212–217; Seventeenth Annual Report of the Boston Co-operative Building Company, Boston 1888, 18. Zum interkulturellen Transfer von Octavia Hills Konzept in die USA siehe zuletzt Daphne Spain, Octavia Hill’s Philosophy of Housing Reform. From British Roots to American Soil, in: Journal of Planning History 5 (2006), 106–125. 56 Elvers, Victor Aimé Huber, 276. 57 Third Annual Report of the Boston Co-operative Building Company, 13.
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Während Berliner Wohnungsreformer an die Veränderbarkeit der Menschen glaubten, war das Denken zumindest der Bostoner Wohnungsreformer durch rassistische Stereotypen und geringere Hoffnungen auf die moralische Verbesserung des Lebens der irischen Migrantenfamilien gekennzeichnet. Ein weiterer Unterschied lag in der Höhe der versprochenen Dividende, da die Gewinnerwartung in den USA generell höher lag.58 Bowditch rechtfertigte die höhere Dividende von sieben Prozent mit der allgemein höheren Gewinnerwartung in den USA während der 1870er Jahre. Dennoch darf auch hier die versprochene Dividende nicht mit der wirklich gezahlten verwechselt werden. Eine siebenprozentige Dividende wurde nur in den Jahren 1871 bis 1875 gezahlt. Von 1876 bis 1889 wurde entweder überhaupt kein Gewinn ausgezahlt oder eine auf drei Prozent begrenzte Dividende. In den 1890er Jahren erreichte die Dividende dann zwischen fünf und sechs Prozent.59 Damit unterschied sich die Bostoner marktorientierte Philanthropie hinsichtlich ihrer realen Gewinnausschüttung kaum von ihrem Londoner Vorbild. Diese geringere Gewinnverteilung wirkte sich allerdings nicht auf die finanzielle Unterstützung durch die Investoren aus. Im Gegensatz zu einem strikt profitorientierten Unternehmen, in dem eine derartig niedrige Dividende zum Verkauf der Aktien und zum Verlust der Kapitalbasis geführt hätte, hielten die Aktionäre der BCBC an ihren Aktien fest. Und das ist durchaus typisch für alle derartigen philanthropischen Wohnungsunternehmen des 19. Jahrhunderts. Keines dieser Unternehmen ging bankrott, selbst wenn über Jahre hinweg keine Dividende ausgezahlt wurde. Dies belegt, dass das Verhalten der Investoren keineswegs durch Gewinnstreben allein bestimmt war, sondern durch den Wunsch, die Wohnungsnot der Unterschichten zu lindern. Die Investoren dieser Wohnungsunternehmen unterschieden sich daher kaum von den Philanthropen, die ihr Geld für die Errichtung von Stiftungen (also reiner Philanthropie) hergaben. Damit schienen sich die Investoren von der Idee der marktorientierten Philanthropie entweder zu distanzieren oder hatten ihren Glauben an eine marktwirtschaftliche Lösung der sozialen Frage verloren. Mit ihrem viel zu philanthropischen Verhalten höhlten die Investoren die Grundidee der marktorientierten Philanthropie aus und verhinderten, dass diese Unternehmen andere, weniger philanthropisch gesinnte Investoren anzogen. Das Unvermögen dieser Unternehmen, eine siebenprozentige Dividende zu erwirtschaften, mag erklären, warum die BCBC in den USA kaum Nachahmer fand. Für die Protagonisten der marktorientierten Philanthropie war diese Vorbildrolle der bei weitem wichtigste Aspekt der limited dividend companies.60 Daraus er58 The First Annual Report of the Boston Co-operative Building, 10. 59 Robert Treat Paine, The Housing Conditions in Boston, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 20 (July, 1902-December, 1902), Philadelphia 1902, 123–136, hier 125. 60 Marcus T. Reynolds, The Housing of the Poor in American Cities. The Prize Essay of the American Economic Association for 1892, Baltimore 1893, 107.
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klärt sich ebenfalls, dass deutsche und amerikanische Beobachter der Londoner Wohnungsunternehmen, auch wenn sie wenig Beweismaterial dafür präsentierten, in ihren Beschreibungen dieser Unternehmen immer betonten, dass diese die angestrebte Dividende regelmäßig erreichten. Huber verwies darüber hinaus sogar auf die größere Sicherheit des in den Wohnungsbau investierten Kapitals im Vergleich zu Investitionen im Eisenbahnbau oder in Handelskompanien.61 Zur Legitimation der eigenen Projekte gingen die Initiatoren durchaus kreativ mit der Wahrheit um. 4. VON DER BEOBACHTUNG DER MODELLE ZUR BEOBACHTUNG DES TRANSFERS VON MODELLEN: ELGIN R. GOULDS STUDIENREISE NACH EUROPA Nachdem deutsche und amerikanische Wohnungsreformer philanthropische Wohnungsunternehmen in ihren Heimatstädten geschaffen hatten, die an englischen Vorbildern orientiert waren, veränderte sich die Dynamik des interkulturellen Transfers und des damit verbundenen Studiums fremder Kulturen deutlich. Die unter dem Einfluss der Londoner Konzepte (Wohnstiftung, Philanthropie und Fünf Prozent, Octavia Hills Hausverwaltungssystem) entstandenen Unternehmen in Kontinentaleuropa zogen rasch das Interesse amerikanischer Beobachter wie Elgin R. L. Gould auf sich. Im Gegensatz zur ersten Generation der kulturellen Vermittler aus den USA, beschränkte sich die zweite Generation nicht mehr ausschließlich auf London, sondern nahm verschiedene Großstädte Westeuropas, insbesondere Deutschlands, in ihr Blickfeld. Des Weiteren zeichnete sich die zweite Generation durch ein professionalisiertes Herangehen aus. Goulds Reisebericht, den er im Anschluss an seinen Studienaufenthalt in Europa im Jahre 1887 als eine wissenschaftliche Studie über die verschiedenen Ansätze zur Lösung des Wohnungsproblems unter dem Titel The Housing of the Working People im Jahre 1895 veröffentlicht hatte, enthielt auf seinen 443 Seiten umfangreiche Beschreibungen der architektonischen, finanziellen, stadtplanerischen und sozialen Aspekte verschiedener philanthropischer Wohnungsunternehmen in Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Österreich, den Niederlanden, Schweden, Belgien und Dänemark. Das Herzstück seines Buches ist das 149seitige Kapitel zu den mehrstöckigen Wohngebäuden. Hier widmet Gould sechzig Seiten den philanthropischen Wohnungsunternehmen in Großbritannien, 37 Seiten ähnlichen Unternehmen in den USA, dreißig Seiten den deutschen, neun Seiten den französischen, drei Seiten den schwedischen und zwei Seiten den niederländischen Unternehmen. Ein Blick auf diese Seitenzahlen lässt deutlich werden, dass für amerikanische Beobachter Großbritannien 61 V. A. Hubers Ausgewählte Schriften (Anm. d. Hg.), 1181–1182.
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zwar immer noch eine herausragende Rolle spielte, dass nun aber auch Deutschland das Interesse der amerikanischen Wohnungsreformer vermehrt auf sich zog. Während seines Aufenthalts in Deutschland besuchte Gould die in der folgenden Übersicht aufgeführten Städte und deren philanthropische Wohnungsunternehmen, die mit zwei Ausnahmen (Loest’s Hof in Halle und der Johannes-Verein in Dresden) das Resultat des interkulturellen Transfers von England nach Deutschland waren. Stadt
Philanthropisches Wohnungsunternehmen
Frankfurt am Main
Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen
Berlin
Berliner Gemeinnützige Baugesellschaft Verein zur Verbesserung der kleinen Wohnungen Verein zur Erbauung billiger Wohnungen
Leipzig
Emma Hasses Wohnungen auf der Goldnen Höhe Salomon Stiftung
Dresden
Gemeinnütziger Bauverein Johannes Verein
Hannover
Spar- und Bauverein
Halle an der Saale
Loest’s Hof
Gould, der bereits Londoner philanthropische Wohnungsunternehmen studiert hatte, interessierte sich für die deutschen Unternehmen wahrscheinlich vor allem deshalb, weil sie Informationen darüber vermittelten, welche Veränderungen Konzepte des philanthropischen Wohnungsbaus im Prozess des interkulturellen Transfers erfuhren und wie sie in eine fremde Kultur eingebaut werden können. Im Gegensatz zu Bowditch, der nur die Originalkonzepte in London kennen gelernt hatte, war es Gould also möglich, nicht nur die Originale, sondern auch die transferierten Adaptationen in anderen kontinentaleuropäischen Großstädten zu studieren. Dabei konnte er auch davon profitieren, dass diese Adaptationen schon seit mehreren Jahren existierten und damit nicht nur bewiesen hatten, dass ein solcher interkultureller Transfer möglich sei, sondern auch Studienobjekte geworden waren. In vielen Fällen hatten deutsche Sozialreformer frühzeitig damit begonnen, die Wohnungsunternehmen zu beobachten und Informationen über die Berufs- und Sozialverhältnisse der Mieter zu sammeln sowie den Einfluss dieser Unternehmen auf die lokale Stadtplanung, die Höhe der Mietpreise in den betreffenden Städten sowie die Gesundheitsverhältnisse zu analysieren. Dies waren wertvolle Informationen, die Gould für sein Buch auswertete. Goulds Analyse und Bewertung einzelner philanthropischer Wohnungsunternehmen ist vor allem wegen der auftretenden Missverständnisse und der
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vermeintlich unüberwindbaren kulturellen Barrieren von Interesse. Im Falle der Berliner Gemeinnützigen Baugesellschaft, die unter Bezugnahme auf das Konzept der marktorientierten Philanthropie im Jahre 1847 gegründet worden war, fühlte sich Gould dazu gezwungen, dieses Unternehmen als zu philanthropisch zu kritisieren, da es auf einer rein philanthropischen Basis ohne jede Gewinnbeteiligung gegründet worden sei. Aus seiner Beschreibung des Unternehmens wird nicht klar, ob er die Betriebsprinzipien dieses Unternehmens einfach nicht verstand oder ob er sich über die zu niedrige Dividende, die sich auf vier Prozent belief, bezog.62 Die innovative Verbindung des Prinzips der Genossenschaft mit dem der marktorientierten Philanthropie in dem 1885 gegründeten Hannover Spar- und Bauverein überstieg offenbar Goulds Aufnahmebereitschaft oder war jenseits seines Interesses. In seiner relativ kurzen Beschreibung bemerkte er über den Verein, dass die company is a cooperative society with limited liability. Shares have a value of 300 marks ($ 71.40), and are payable in weekly installments of 30 pfennigs (7 cents). The rate of annual dividend paid upon share capital since the society was founded has been 4 per cent […].63
Die mit der Baugenossenschaft verbundene Sparkasse erwähnte Gould zwar, erklärte aber nicht ihre Funktion in der Finanzierung der Bautätigkeit. Hierin wird die Selektivität des interkulturellen Transfers deutlich, die sich entweder aus den Prädispositionen der kulturellen Vermittler ergab oder auch ein Ergebnis der Verstehens- und / oder der Sprachbarrieren der kulturellen Vermittler gewesen sein kann. Diese Missverständnisse sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl deutsche als auch amerikanische Wohnungsreformer das Konzept der marktorientierten Philanthropie dem Konzept der reinen Philanthropie vorzogen. Erstaunlicherweise waren sie sich dieser Gemeinsamkeit kaum bewusst. Amerikanische und deutsche Wohnungsreformer brachten jedoch ihre eigenen spezifischen Weiterentwicklungen dieses Konzeptes hervor. Bowditch und Gould traten für eine Verbindung der marktorientierten Philanthropie mit dem sozialdisziplinierenden Ansatz der Octavia Hill ein, da sie anscheinend wenig Vertrauen in die eigenständige „Besserung“ der Unterschichten hatten und kaum an die Emanzipation dieser sozialen Gruppen glaubten. Im deutschen Fall setzten Sozialreformer auf die Verbindung des Prinzips der Genossenschaft mit dem der marktorientierten Philanthropie, weil sie in der Wohnreform einen wichtigen Baustein in der Emanzipation der Arbeiterklasse sahen und hierbei auf die Zusammenarbeit von Angehörigen der verschiedenen sozialen Klassen bauten. Damit stand dem amerikanischen „gängelnden“ Ansatz ein deutscher Ansatz gegenüber, der auf Selbsthilfe im Verbund mit Fremdhilfe setzte und eine weniger hierarchische Sozialbeziehung implizierte. 62 Gould, The Housing of the Working People, 289. 63 Ebd., 308.
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Völlig einig waren sich amerikanische und deutsche Wohnungsreformer über die Bedeutung der Kernfamilie und damit auch der Wohnungsstruktur. Reformer auf beiden Seiten des Atlantiks beharrten auf dem Konzept einer abgeschlossenen Wohnung, die die Familien voneinander isolieren und über die Familie hinausgehende soziale Beziehungen schwächen sollte. Gould verwies in seiner Darstellung wiederholt auf die verschiedenen Versuche, Wohngebäude zu entwerfen und zu bauen, die aufgrund ihrer architektonischen Struktur (Treppenhaus mit Zugang zu einer beschränkten Zahl von Wohnungen, abgeschlossener Wohnungsflur, abschließbare Wohnungstür und Integration von allen notwendigen Räumen in die abgeschlossene Wohnung) die Kontakte zwischen den einzelnen Mietparteien auf ein absolutes Minimum reduzierten. Damit sollte eine Privatsphäre für die Kernfamilie geschaffen werden, in der die Wohnungsarchitektur die äußere Hülle für die Familie darstellte. Das bürgerliche Familienideal sollte mithin auf die Arbeiterfamilie übertragen werden. Eine offene Familienstruktur, bedingt durch eine offene Wohnungsstruktur (keine abschließbare Wohnungstür, lange Flure, gemeinschaftlich genutzte Bade- und Waschhäuser), galt in den Augen der Sozialreformer im 19. Jahrhundert als eine große gesellschaftliche Gefahr. So heißt es im Third Annual Report of the Boston Co-operative Building Company: We have learned by experience that such tenements as this which has common corridors, common water rooms, and, above all, common privies, are a disgrace to modern civilization, and public nuisances, inasmuch as they encroach upon the family relations, tend to make them impure, and thereby sap the very foundations of the State.64
Es ist allerdings schon fast eine Ironie, dass Gould ausgerechnet in dem philanthropischen Wohnungsunternehmen Herrmann Julius Meyers in Leipzig seine Idealkonstruktion der isolierten Wohnung zu finden meinte. Meyers Verein zur Erbauung billiger Wohnungen, der im Jahre 1900 dem Beispiele der Peabody Stiftung folgend in eine Wohnstiftung (Stiftung zur Erbauung billiger Wohnungen in Leipzig) umgewandelt wurde, war gerade nicht auf die Verteilung eines begrenzten Gewinns auf die Investoren ausgerichtet. Vielmehr schloss der Verein eine solche Möglichkeit kategorisch aus, da Meyer nicht daran glaubte, dass das Wohnungsproblem mit marktwirtschaftlichen Methoden gelöst werden könne.65 Obgleich Gould das Organisationsprinzip dieses Unternehmens rundweg ablehnte, pries er die architektonische Gestaltung dieses Unternehmens. In seinem Buch hieß es über die Wohngebäude der ersten Meyerschen Siedlung in Leipzig-Lindenau, jede Wohnung habe a private hallway adjoining the main corridor and staircase. One door from a tenement opens directly to the corridor and stairway. Corridors are too small to allow promiscuous mingling. The private hallway of each tenement is considered another means of preserving the independence and isolation of the individual family.66 64 Third Annual Report of the Boston Co-operative Building Company, 14f. 65 Adam, Die Anfänge industriellen Bauens, 22–26. 66 Gould, The Housing of the Working People, 293.
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Auch wenn für amerikanische Sozialreformer London immer noch als das Mekka der Wohnungsreform galt, so hatten doch auch deutsche Wohnungsreformer gegen Ende des 19. Jahrhunderts einiges anzubieten, was das Interesse von Amerikanern wie Gould weckte. Für Gould war es insbesondere die Erfahrung des erfolgreichen interkulturellen Transfers sowie architektonische Lösungen, die er seiner amerikanischen Leserschaft vermittelte. Den Sparund Bauverein nahm Gould jedoch kaum wahr, und das Potential dieser Mischung aus Philanthropie und Selbsthilfe unterschätzte bzw. ignorierte er. Nach seiner Rückkehr aus Europa, meinte Gould, dass praktische Schritte nötig seien. Also gründete er zusammen mit Robert Fulton Cutting, dem Präsidenten der Association for Improving the Condition of the Poor in New York, die City & Suburban Homes Company (CSHC). Dieses Unternehmen war als eine limited dividend company organisiert. Wahrscheinlich von der architektonischen Struktur des Meyerschen Vereins zur Erbauung billiger Wohnungen in Leipzig beeinflusst, bestand Gould darauf, Wohngebäude mit vollständig voneinander isolierten Wohnungen zu errichten. Um lange Flure zu vermeiden, wurden die Wohngebäude, wie im Falle der Meyerschen Häuser in Leipzig, in kleinere Einheiten unterteilt und eine größere Zahl von Treppenhäusern eingebaut, um die Zahl derjenigen Mieter, die sich in einem Treppenhaus begegnen konnten, zu reduzieren. „Every apartment is a complete home in itself.“67 Wie schon Bowditch zuvor sah auch Gould in der Einführung von Hills Konzept der Hausverwaltung einen wichtigen Aspekt der Wohnreform. Damen aus besseren Häusern wurden für die CSHC als Mietkassiererinnen gewonnen. Sie versuchten, während ihrer wöchentlichen Besuche auf die Verhaltensweisen der Mieter einzuwirken und es entsprechend bürgerlichen Erwartungen zu modellieren. In einer sicher kritisch zu lesenden, weil wohl eher den Anspruch als die Wirklichkeit abbildenden Selbstbeschreibung der CSHC hieß es, ein derartiger Besuch often becomes cordial and helpful in a social way. […] Advice is often asked regarding the arrangement of furniture, or choice of color in painting the rooms, care of children and on other domestic themes.68
5. INTERKULTURELLER TRANSFER UND PHILANTHROPIE Das Beispiel der philanthropischen Wohnungsunternehmen in England, Deutschland und den USA lässt einige grundlegende Erkenntnisse über die Natur des interkulturellen Transfers im Bereich der Wohnungsreform deut67 City & Suburban Homes Company, Fourth Annual Report of the President, New York 1900, 5. 68 City & Suburban Homes Company, Third Annual Report of the President, New York 1899. Dieser Jahresbericht hat keine Seitenzahlen.
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lich werden. Hier war der interkulturelle Transfer immer mit den Aktivitäten kultureller Vermittler verbunden. Daher ergibt sich die Möglichkeit, die von strukturellen Ansätzen geprägte Geschichtsschreibung der sozialen Frage mit einem Ansatz zu verbinden, in dem Individuen eine wichtige Rolle spielen, die wesentlich an der Etablierung von strukturellen Lösungsansätzen für soziale Probleme des 19. Jahrhunderts beteiligt waren. Die hier vorgestellten kulturellen Vermittler gehörten zur leisure class69 des 19. Jahrhunderts und engagierten sich auf dem Gebiet der Sozialreform, um sich in einer Gesellschaft, in der der Wert eines Individuums an seinem produktiven Beitrag zur Gesellschaft gemessen wurde, zu legitimieren und ihren privilegierten Status zu begründen und zu erhalten. Reisen allein war, wie das schon William Stowe betont hat, kein hinreichendes Mittel, dies zu erreichen.70 Erst die Verbindung von Reisen mit Lernen, die Popularisierung des Gelernten in Reiseberichten und Briefen und schließlich auch die praktische Anwendung der Erkenntnisse durch die Gründung von philanthropischen Wohnungsgesellschaften vermittelte den Angehörigen der leisure class einen Weg, ihre Bedeutung für die Gesellschaft öffentlich zu beweisen. Die Beobachter der unterschiedlichen philanthropischen Ansätze wurden damit aufgrund ihrer privilegierten Position zu Mittlern zwischen verschiedenen Kulturen und Räumen und trugen somit zu deren Angleichung und Ausdifferenzierung durch interkulturellen Transfer bei. In diesem Prozess wurden die Grenzen des Transfers mit Bezug auf die Sprachfähigkeiten und die Aufnahmebereitschaft der kulturellen Vermittler deutlich. Selbst wenn sie die Sprache des anderen Landes perfekt beherrschten, war dies immer noch keine Garantie, dass sie die Objekte ihres Studiums in ihrer Komplexität tatsächlich begriffen. Das amerikanische Desinteresse an den europäischen Genossenschaften scheint auf solche Beschränkungen zu verweisen. Der Blick kultureller Vermittler war daher immer äußerst selektiv, die Selektivität durch äußere Faktoren bestimmt, die sich nicht immer nur aus der Person des Vermittlers erschließen lassen. Sie ergab sich zum einen aus der Sozialisierung der kulturellen Vermittler in ihrem Herkunftsland und zum anderen aus den Erfahrungen, die sie während ihrer Reisen sammelten, sowie der Kreise, in denen sie auf ihren Reisen verkehrten. Insgesamt verweist der anhaltende Transfer von Ideen für die Verbesserung der Wohnsituation von Unterschichtenfamilien zwischen Europa und Nordamerika wohl doch auf eine integrierte transatlantische Welt, in der nationale Unterschiede eine geringere Rolle spielten, als dies von Historikern, die die Bedeutung des Nationalstaats für das 19. Jahrhundert gerne überbetonen, eingeräumt wird.
69 Thorstein Veblen, The theory of the leisure class, New York 1967. 70 William Stowe, European Travel in Nineteenth-Century American Culture, Princeton 1994, 10.
2. POLITIK, STIFTUNGEN UND ÖFFENTLICHKEIT
PHILANTHROPIE, WOHLFAHRTSSTAAT UND DIE TRANSFORMATION DER ÖFFENTLICHEN INSTITUTIONEN IN DEN USA, 1945–2000* Peter Dobkin Hall Den mit der Erforschung der Philanthropie befassten Wissenschaftlern ist es bisher nicht gelungen, sich von Stereotypen und idealisierten Konzepten hinsichtlich der Herausbildung des modernen Staates zu befreien. So betrachten einige Forscher das Verhältnis zwischen staatlichem und privatem Handeln als ein „Null-Summen-Spiel“ und betonen, der Staat habe seine Kompetenzen zunehmend ausgebaut, während der individuelle Handlungsspielraum der Bürger stetig geschrumpft sei. Andere Wissenschaftler behaupten, Philanthropie und private Wohlfahrtsinitiativen verringerten die verfügbaren Ressourcen für Wirtschaftsunternehmen und seien daher schädlich für die ökonomische Entwicklung.1 Beide Sichtweisen werden jedoch durch die Analyse der allgemeinen Entwicklung des Staates widerlegt. Die Ausdehnung staatlicher Aktivitäten in Form von Subventionen und die Schaffung eines gesetzlichen Rahmens für wirtschaftliche Aktivitäten förderte beispielsweise die Entstehung und den Ausbau nationaler Verkehrsnetze, Kommunikationssysteme und Finanzmärkte: So waren es Subventionen der Bundesregierung in Washington und nicht etwa Privatkapital, die die Realisierung eines transkontinentalen Eisenbahnnetzes vor dem Bürgerkrieg ermöglichten. Die Überführung der Telegrafennetze in staatliches Eigentum während des Bürgerkrieges schuf den administrativen Rahmen für die Integration der Kommunikationsinfrastruktur nach dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen. Die staatliche Organisation des Postwesens nach 1848 verminderte wiederum die Kosten für die Übermittlung von Nachrichten beträchtlich und trug dazu bei, die über die scheinbar endlosen Weiten des Landes verteilten Menschen miteinander zu verbinden. Staatliche Subventionen, insbesondere das Morrill-Gesetz von 18622, spielten eine wichtige Rolle für die Finanzierung des amerikanischen Bildungssystems. Dies wiederum war eine Grundvoraussetzung für den tech-
* 1 2
Übersetzung aus dem Englischen von Thomas Adam. Siehe hierzu Walter W. Powell u. Richard Steinberg (Hg.), The Nonprofit Sector. A Research Handbook, New Haven, London 22006. Coy F. Cross u. Justin Smith Morrill, Father of the Land-Grant Colleges, East Lansing 1999.
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nologischen Fortschritt, der seinerseits die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigte. Parallel zur Ausdehnung staatlicher Aktivitäten wuchs seit den 1870er Jahren auch der Bereich des philanthropischen Handelns, und zwar sowohl hinsichtlich seines Umfangs als auch hinsichtlich seines Wirkungsradius’.3 Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der privaten gemeinnützigen Institutionen und Vereine (Bruderschaften, Veteranenzusammenschlüsse, Gewerkschaften, Berufsgenossenschaften, Religionsgemeinschaften) und wohltätigen Organisationen (lokale Wohltätigkeitsinitiativen, Rotes Kreuz, Stiftungen) sowie deren Mitgliederzahl, Vermögen und Bedeutung beständig an. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die symbiotische Beziehung zwischen den beiden oft als Opponenten wahrgenommenen Bereichen „Staat“ und „Philanthropie“ immer deutlicher. Das weitere Wachstum der Wohltätigkeitsorganisationen und Institutionen gegenseitiger Hilfe erfolgte parallel zum Ausbau des Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Mehrzahl dieser Einrichtungen waren Unternehmen, die als gemeinnützige und daher von den Steuern befreite Einrichtungen ins Steuerregister eingetragen wurden. Ihre Zahl stieg rasch von 20.000 im Jahr 1940 auf 300.000 in den sechziger Jahren.4 Gegenwärtig beträgt ihre Zahl etwa 1,5 Millionen. Dieses enorme Wachstum ist kaum erstaunlich, wenn man die von der amerikanischen Bundesregierung gewährten Steuervorteile für derartige Einrichtungen berücksichtigt. So trug zum Beispiel jene gesetzliche Regelung, die den aus dem Krieg zurückkehrenden Soldaten eine Hochschulbildung versprach und finanzierte, entscheidend zur Gründung neuer Hochschulen und Universitäten sowie zur Erweiterung der bestehenden Bildungseinrichtungen bei. Während des Kalten Krieges gewährte die Regierung den Universitäten staatliche Subventionen, die nun auch Stipendien, finanzielle Beihilfen für die Grundausstattung sowie Gelder für militärisch relevante Ausbildung und Forschung einschlossen. Hinzu kamen umfassende Steuervorteile für jene Personen, die philanthropische Einrichtungen unterstützten. Auf diese Art und Weise wandelte sich auch das Gesundheitswesen grundlegend: Vor dem Krieg waren die meisten Krankenhäuser staatlich geleitet und aus Steuermitteln finanziert worden. Nun entwickelte sich das Gesundheitswesen zu einem philanthropisch dominierten Sektor, da bundesstaatliche Beihilfen die Errichtung von Krankenhäusern förderten, die durch Non-Profit-Organisationen getragen und finanziert wurden. Auch das Wachstum öffentlicher 3
4
Robert D. Putnam u. Gerald Gamm, Association Building in America, in: Journal of Interdisciplinary History 29.3 (Winter 1999), 511–557; Theda Skocpol, The Tocqueville Problem. Civic Engagement in American Democracy, in: Social Science History 21.4 (Winter 1996), 106–109. Burton Weisbrod, The Nonprofit Economy, Cambridge 1989.
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und privater Krankenversicherungen kam diesen Einrichtungen zugute. Ironischerweise war der Staat gegen Ende der siebziger Jahre zur größten Einnahmequelle für diese philanthropischen Organisationen geworden. Die staatliche Steuerpolitik hat sich in diesem Zusammenhang zum wichtigsten Einflussfaktor für die Gestaltung des philanthropischen Sektors in den USA entwickelt. Die Einführung einer Einkommenssteuer im Jahr 1942, hohe Steuerquoten für Bürger und Unternehmen sowie die Gewährung der Absetzbarkeit von Stiftungen und Spenden von der Steuer führten dazu, dass ein Großteil der amerikanischen Staatsbürger jenseits der Armutsgrenze begann, regelmäßig Geld für philanthropische Zwecke und Institutionen auszugeben. Obwohl die Mehrzahl derjenigen, die nicht genau aufschlüsselten, welche Institutionen sie unterstützt hatten, angab, dass ihr Spendenverhalten nicht gänzlich durch die Steuergesetzgebung beeinflusst worden sei, scheint das gewaltige Anwachsen der abgesetzten Beträge insbesondere seitens der Besserverdienenden doch darauf hinzuweisen, dass die Steuergesetzgebung eine entscheidende Rolle spielte.
DAS WACHSTUM DES WOHLFAHRTSTAATES UND DIE TRANSFORMATION DER PHILANTHROPIE Erstaunlicherweise waren weder die Durchschnittsbürger noch die politisch Verantwortlichen dazu in der Lage, die vor sich gehenden Verschiebungen innerhalb der ökonomischen, politischen und sozialen Institutionen zu verstehen. Dies kann auf eine Reihe von Ursachen zurückgeführt werden: Erstens erfolgten diese Verschiebungen nicht aufgrund einer klar formulierten und postulierten Ideologie oder Politik, sondern als Ergebnis pragmatischer Entscheidungen auf untergeordneten Ebenen. Umfassender Wandel vollzog sich so in kaum wahrnehmbaren kleineren Schritten. Zweitens besaßen die beteiligten Personen kein konzeptionelles Instrumentarium, um die stattfindenden Veränderungen analysieren zu können. Zwar hatte die Bundesregierung seit den zwanziger Jahren damit begonnen, statistische Daten zu sammeln, doch fehlte den Bundesbeamten und den Sozialwissenschaftlern an den Universitäten immer noch ein theoretisches Verständnis für den sich vollziehenden Wandel. Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Politologie waren noch relativ junge wissenschaftliche Disziplinen, die sich noch nicht ausreichend etabliert hatten. Drittens war der politische Diskurs (und somit auch der konzeptionelle Blickwinkel, aus dem die akkumulierten statistischen Daten betrachtet wurden) in den USA immer noch an den politischen und ökonomischen Theorien des 18. und 19. Jahrhunderts orientiert. Diese Theorien betonten die Unterscheidung zwischen der politischen, der ökonomischen und der sozialen Sphäre sowie zwischen Individuen und den verschiedenen Gruppierungen, die in diesen agieren, und konnten daher keine Modelle zur
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Analyse liefern, wie denn diese drei Sektoren untereinander verbunden seien. Ideologisierte Konzeptionen über das rationale Individuum als Staatsbürger und Konsument bildeten die rechtliche Basis nicht nur für eine demokratische Gesellschaft und Marktwirtschaft, sondern auch für die akademischen Projekte, über die man Individuen und Institutionen zu analysieren versuchte. Viertens war die Bundesregierung selbst in den vierziger Jahren nicht dazu in der Lage, die Auswirkungen staatlicher Entscheidungen zu kontrollieren und nachzuvollziehen. So wurden zum Beispiel die Ausgaben der Bundesregierung erst seit 1912 im Rahmen eines Budgets geplant. Und erst 1939 wurde mit dem Nationaleinkommen ein statistisches System eingeführt, das es der Regierung ermöglichte, den Umfang und das Ausmaß der nationalen ökonomischen Aktivität einzuschätzen. Die Schaffung von Regierungsbehörden, die auf der Basis dieser Informationen handelten, begann erst nach dem Ende des Krieges. Und selbst dann erlaubte es der Entwicklungsstand der vorhandenen Technologie nicht, die nun vorhandenen größeren Datenmengen zusammenzustellen und zu analysieren. Auf keinem anderen Feld staatlichen Handelns waren die ideellen, technologischen und administrativen Defizite so offensichtlich wie auf dem Gebiet der Gestaltung des nach dem Krieg entstehenden Wohlfahrtsstaates. Das unerwartete Ergebnis der amerikanischen Steuerpolitik wurde sehr früh sichtbar. Bereits 1949 begann der amerikanische Kongress damit, öffentliche Anhörungen über die zunehmende Instrumentalisierung von Stiftungen als Holding-Gesellschaften und den Ankauf von profitorientierten Unternehmen durch Non-Profit-Unternehmen zu veranstalten.5 Sicher wurden diese Untersuchungen durch das Klima des Kalten Krieges beeinflusst, doch die Mitglieder des parlamentarischen Untersuchungsausschusses waren sehr besorgt über die steigende Zahl und den wachsenden Einfluss „wohltätiger“ Institutionen, deren wirtschaftliche Aktivitäten das traditionelle Handlungsspektrum wohltätiger oder religiöser Einrichtungen deutlich überschritten. Steuerbegünstigte Unternehmen, die früher als philanthropisch oder wohltätig bezeichnet worden waren, wurden nun in großer Zahl und für neue, ungewohnte Zwecke etabliert, so dass sie ältere Beschreibungen oder Konzeptionen von Philanthropie oder Wohltätigkeit kaum mehr erfüllten. Diese neuen Unternehmen finanzierten sich über staatliche Gelder sowie über Ent5
Hier ging es um die Eigentümerschaft des Kellogg-Unternehmens durch die W.-K.-Kellogg-Stiftung, des Hershey-Unternehmens durch die Milton-Hershey-Stiftung und den fragwürdigen Erwerb des Mueller-Macaroni-Unternehmens sowie einer Reihe weiterer Unternehmen durch die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität von New York. Siehe Hearings before the House Committee on Ways and Means, House of Representatives. Eightieth Congress, First Session, on the Proposed Revisions of the Internal Revenue Code, Washington, D.C. 1948, 3395–3553; Special Committee 1954; The Macaroni Monopoly. The Developing Concept of Unrelated Business Income of Exempt Organizations, in: Harvard Law Review 81.5 (April 1968), 1280–1294.
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gelte für erbrachte Leistungen, lebten also immer weniger von Spenden und Erbschaften. Selbst innerhalb des philanthropischen Sektors entstand kein Konsens über die Begrifflichkeit oder den Charakter dieser neu entstehenden Realität öffentlichen nichtstaatlichen Handelns.6 6
Margaret M. Otto, Report of the Princeton Conference on the History of Philanthropy in the United States, New York 1956; ders., The Foundation Watcher, Lancaster 1973. Die Princeton Conference führte zu umfangreichen Forschungsprojekten und durch die Ford Foundation finanzierte Publikationen, wie z. B. Merle E. Curti, American Philanthropy Abroad, New Brunswick 1963; ders., Philanthropy in the Shaping of Higher Education, New Brunswick 1965; Irvin G. Wyllie, The Search for an American Law of Charity, in: Mississippi Valley Historical Review 46.2 (1959), 203–221. – Dies schloss auch zahlreiche Dissertationen und Arbeiten ihrer Studenten ein. Siehe z. B. Howard S. Miller, Legal Foundations of American Philanthropy, 1776–1844, Madison 1961; ders., A Bounty for Research. The Philanthropic Support of Scientific Investigation in America, 1838–1902, unveröff. Diss. Madison University 1964; John Lankford, Protestant Stewardship and Benevolence, 1900–1941: A Study in Religious Philanthropy, unveröff. Diss. Madison University 1962; James Howell Smith, Honorable Beggars. The Middlemen of American Philanthropy, unveröff. Diss. Madison University 1968; Victor Thiessen, Who Gives a Damn? A Study of Charitable Contributions, unveröff. Diss. Madison University 1968. – Die Ford Foundation und die Sage Foundation finanzierten auch die Arbeit von Winthrop K. Jordan, der fünf einflussreiche Arbeiten über englische Philanthropie vorlegte, David Edward Owen, Daniel M. Fox, Neil Harris und Helen Lefkowitz Horowitz. Siehe Winthrop K. Jordan, Philanthropy in England, 1480–1660, New York 1959; ders., The Forming of the Charitable Institutions of the West of England. A Study of the Changing Patterns of Social Aspirations on Bristol and Somerset, 1480–1660, Philadelphia 1960; ders., The Charities of London, 1480–1660, New York 1960; ders., The Charities of Rural England, 1480–1660, New York 1962; ders., The Social Institutions of Lancashire. A Study of the Changing Patterns of Aspirations in Lancashire, 1480–1660, Manchester 1962; David Edward Owen, English Philanthropy, 1660–1960, Cambridge 1965; ders., The Government of Victorian London, 1855–1889: The Metropolitan Board of Works, the Vestries, and the City Corporation, Cambridge 1982; Daniel M. Fox, Engines of Culture. Philanthropy and Art Museums, Madison 1963; Neil Harris, The Artist in American Society. The Formative Years, New York 1966; ders., Winterthur and America’s Museum Age, Winterthur 1981; ders., Cultural Excursions. Marketing Appetites and Cultural Tastes in Modern America, Chicago 1990; ders., The First Hundred Years. The Denver Art Museum, Denver 1996; Helen Lefkowitz Horowitz, Culture and the City. Cultural Philanthropy in Chicago, from the 1880s to 1917, Lexington 1976; dies., Alma Mater. Design and Experience in the Women’s Colleges from Their Nineteenth Century beginnings to the 1930s, New York 1984; dies., Campus Life. Undergraduate Cultures from the End of the Eighteenth Century to the present, New York 1987. – Die Unterstützung der Princeton Conference führte auch zur Publikation einer Reihe von bahnbrechenden Studien von Wissenschaftlern anderer Institutionen, wie z. B. Scott M. Cutlip, Clifford Griffin und Robert M. Bremner. Siehe Scott M. Cutlip, Fund Raising in the United States. Its Role in America’s Philanthropy, New Brunswick 1965; Clifford S. Griffin, Their Brothers’ Keepers. Moral Stewardship in the United States, 1800–1865, New Brunswick 1960; Robert M. Bremner, American Philanthropy, Chicago 1960; ders., The Public Good. Philanthropy and Welfare in the Civil War Era, New York 1980.
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Als in den 1960er Jahren verschiedene Akademiker wie C. Wright Mills7, G. William Domhoff8, Gabriel Kolko9 und Ferdinand Lundberg10 versuchten, diesen Wandel des philanthropischen Sektors zu analysieren, interpretierten sie ihn als ein Zeichen der wachsenden Dominanz einer nationalen herrschenden Klasse. Allerdings ignorierten sie dabei vollständig die Zersplitterung der gesellschaftlichen Eliten. Ebenso wenig erfassten die hier genannten Autoren die grundlegende Transformation des Staates oder die Verbindungen zwischen den staatlichen und nichtstaatlichen Organisationsstrukturen. Auch Lester Salamons Modell des Non-Profit-Sektors als nichtstaatliche Form von Regierung, als eine besondere amerikanische Version des Wohlfahrtsstaates, in dem öffentliche Zielsetzungen durch nichtstaatliche Institutionen umgesetzt werden, kann die Implikationen des sich herausbildenden Beziehungsgeflechts zwischen privatem und öffentlichem Sektor nicht vollständig erklären.11 Obgleich er den Umfang staatlicher Unterstützung für Non-Profit-Organisationen anerkannte, war er nicht dazu in der Lage, die politischen und administrativen Mechanismen zu identifizieren, die den Fluss dieser staatlichen Gelder ermöglichten. Diese Mechanismen entstanden aus dem Wandel der staatlichen Finanz- und Wirtschaftspolitik nach dem Ersten Weltkrieg. Obwohl die amerikanische Bundesregierung schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts anfing, eine aktivere Rolle im Wirtschaftsleben der USA zu spielen (Regulierung von industriellen Zusammenschlüssen, militärische Aufrüstung, Federal Reserve System etc.), erfolgten größere Eingriffe des Staates in die Volkswirtschaft erst während der 1930er Jahre. Parallel dazu entwickelte der Staat fiskalische Praktiken, die seiner neu gefundenen interventionistischen Rolle entsprachen. Diese Praktiken wurden aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Regel.12 Vor 1945 hat sich die Finanzpolitik der Bundesregierung aufgrund der tief sitzenden Ansicht über die möglichst gering zu haltende Rolle des Staates vor allem auf die Begrenzung und Kontrolle des Umfangs staatlicher Intervention beschränkt. Dies änderte sich grundlegend mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ausbruch des Kalten Krieges. Mit der Übernahme der Führungsposition innerhalb der westlichen Welt und als Manager ihrer größten Volkswirtschaft, die für die Stabilität der westlichen Demokratien 7 8
C. Wright Mills, The Power Elite, New York 1959. G. William Domhoff, Who Rules America? Englewood Cliffs 1967; ders., Higher Circles. The governing Class in America, New York 1970; ders., The Powers That Be. Processes of Ruling Class Domination in America, New York 1979. 9 Gabriel Kolko, Wealth and Power in America. An Analysis of Social Class and Income Distribution, New York 1962. 10 Ferdinand Lundberg, The Rich and the Super-Rich. A Study in the Power of Money Today, New York 1968. 11 Lester Salamon u. Helmut K. Anheier, Defining the Nonprofit Sector. A Cross-National Analysis, Manchester 1997, 1. 12 C. Webber u. A. Wildavsky, A History of Taxation and Expenditure in the Western World, New York 1986, 453.
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von entscheidender Bedeutung war, verschob sich die Rolle des Staates zugunsten strategischer Investitionen und politischer Interventionen, die unter den veränderten Rahmenbedingungen als notwendig angesehen wurden. Es wurde nun weniger danach gefragt, wie hoch die Summe sein sollte, die für bestimmte Projekte aus der Staatskasse fließen sollte, als nach der Begründung für die staatliche Intervention.13 Die sich mehrenden staatlichen Programme für militärische, soziale und wirtschaftliche Zwecke waren Bestandteil der Bestrebungen der Bundesregierung, die Volkswirtschaft zu stabilisieren und das Land auf den Kriegsfall vorzubereiten. Die Einführung der allgemeinen Einkommenssteuer sowie kreditfinanzierte Staatsausgaben versorgten die Bundesregierung mit nahezu unbegrenzten Finanzquellen. Das hatte zur Folge, dass der Zuwachs staatlicher Subventionen in einem bestimmten Bereich nicht mehr durch entsprechende Kürzungen in einem anderen ausgeglichen werden musste. Und obwohl neue Übersichts- und Kontrollmechanismen wie das Council of Economic Advisors und das Office of Management and Budget ins Leben gerufen wurden, nahm der Prozess der Planung staatlicher Ausgaben zunehmend einen dezentralisierten Charakter an. Da die Mehrzahl der bundesstaatlichen Entscheidungen nicht durch die Bundesregierung, sondern durch nachgeordnete Behörden in Zusammenarbeit mit den einzelnen Bundesstaaten, lokalen Selbstverwaltungen und den philanthropischen Institutionen ausgeführt wurden, entwickelte jedes Politikfeld seine eigenen internen und externen Trägergruppen. Dazu gehörten die in diesem Feld tätigen Personen, die für eine Ausweitung ihrer Kompetenzen und Ressourcen eintraten; Abgeordnete in den lokalen, regionalen und nationalen Parlamenten, die von der Erhöhung der in dem betreffenden Feld beschäftigten Personen profitierten; und Interessensorganisationen der Empfänger von staatlicher Unterstützung, die ihre Forderungen gegenüber den Politikern vertraten, deren Wahlkämpfe finanzierten, Wähler mobilisierten und nach politischem Einfluss durch Werbung und über die Medienberichterstattung strebten. Non-Profit-Organisationen waren nicht nur die Empfänger direkter und indirekter Subventionen, sondern spielten auch eine immer größere Rolle in der Formulierung und Vertretung bestimmter politischer Forderungen. Interessengruppen wie die National Audubon Society, der Sierra Club und die American Association of Retired Persons erkannten den Vorteil dieser neuen organisatorischen Strukturen und etablierten sich als Non-Profit-Organisationen, die von der Besteuerung ausgenommen wurden (so genannte 501-(c)Organisationen).14 Obwohl diese Vereine keineswegs immer gemeinnützige Ziele verfolgten, machte der Steuerstatus diese Institutionen für Stiftungen, Unternehmen und Individuen interessant, da sie ihre Spenden an diese Organisationen von der Steuer absetzen konnten. Diese neuen nationalen Massen13 Ebd., 478. 14 Robert D. Putnam, Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York 2000.
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organisationen hatten wenig gemein mit den Vereinen der Vorkriegszeit, die in erster Linie Orte des sozialen Austauschs gewesen waren. Im Gegensatz dazu waren die neuen Institutionen Organisationen, deren Mitglieder sich selten kannten, so dass die Mitgliedschaft eher Ausdruck politischen und finanziellen Handelns als von sozialem Engagement war. In Bezug auf ihre Rolle in der Gesellschaft unterschieden sich die NonProfit-Organisationen der Nachkriegszeit deutlich von den Assoziationen früherer Jahre. Wenn in der Vergangenheit nationale Vereine, Stiftungen sowie politikbeobachtende und -begleitende Beratungsinstitutionen (think tanks) versucht hatten, die Regierungspraxis zu beeinflussen, hatten sie als Außenseiter an die staatlichen Behörden herantreten müssen. In den Nachkriegsjahren entwickelten sich die Non-Profit-Institutionen, da sie Steuervorteile genossen, nun aber mehr und mehr zu Bestandteilen des Organisationsfeldes staatlicher Politik, wenn nicht sogar zu Armen des Staates selbst. Während der fünfziger Jahre wurden die engen Beziehungen zwischen staatlichen und philanthropischen Institutionen auf zwei Ebenen völlig normal und allgegenwärtig: Auf der institutionellen Ebene verließ sich die Regierung bei der Formulierung der Politik auf die Hilfestellung der think tanks; auf der individuellen Ebene entstand ein regulärer personeller Austausch zwischen Universitäten, Stiftungen, Unternehmen sowie staatlichen bzw. politischen Institutionen.15
15 Exemplarisch sei hier auf die Karrieren von John Foster Dulles, John Gardner, Robert McNamara, Dean Rusk und Henry Kissinger verwiesen.
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Tabelle 1: Wohltätige und nichtwohltätige Non-Profit-Organisationen sowie religiöse Kongregationen in den USA, 1936–199616
Jahr
1936 1939 1943 1946 1950 1967 1968 1969 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996
Gesamtzahl der Non-ProfitOrganisationen und Kongregationen
Zahl der Non-ProfitOrganisationen
Zahl der NonProfit-Organisationen jenseits des Wohltätigkeitsbereichs
Zahl der wohltätigen Non-ProfitOrganisationen im Wohltätigkeitsbereich
62.800 65.958
12.500 17.450 27.500 32.000
278.000
138.000
Zahl der Kongregationen 179.742
80.250 93.458
1.005.000
1.123.000
1.182.000
1.209.000
1.285.105 1.318.177
1.481.206
309.000 358.000 416.000 535.000 630.000 673.000 692.000 763.000 790.000 810.000 825.000 846.000 851.000 841.000 845.000 871.000 887.000 897.424 939.105 969.177 992.561 1.024.766 1.055.545 1.085.206 1.118.131 1.138.598 1.164.789 1.188.510
332.000 503.000 514.000 516.000 521.000 526.000 523.000 518.000 509.000 518.000 521.000 409.817 416.354 502.609 502.432 540.766 407.006 554.614 575.162 616.598 604.732 615.245
260.000 276.000 294.000 304.000 320.000 328.000 323.000 336.000 353.000 366.000 487.183 522.751 489.952 490.129 484.000 512.551 530.592 542.969 522.000 560.057 573,265
333.000
336.000
338.000
346.000 349.000 351.000
396.000
16 Angaben aus Historical Statistics of the United States – Millennial Edition (2000), Bd. 2, 827–935.
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Die vorstehende Tabelle zeigt das deutliche Wachstum der wohltätigen und philanthropischen Non-Profit-Organisationen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Jahre 1939 waren gerade einmal 12.500 wohltätige Non-Profit-Organisationen beim Finanzamt eingetragen. Innerhalb der nächsten elf Jahre verdoppelte sich deren Zahl und im Jahre 1969 belief sie sich sogar auf 138.000; Mitte der neunziger Jahre erreichte sie dann mehr als eine halbe Million. Gleichzeitig wuchs die Zahl der philanthropischen Non-ProfitOrganisationen (Bürgervereine, Interessenvertretungsgruppen etc.), die sich nicht auf die Förderung religiöser oder wohltätiger Zwecke oder auf die Unterstützung von Bildungseinrichtungen beschränkten, von 1943 bis 1996 um das Zehnfache. Im Gegensatz dazu blieb das Wachstum der religiösen Gemeinden zurück: es verdoppelte sich lediglich während des genannten Zeitraums.17 Insgesamt wuchs die Zahl der Non-Profit-Organisationen viel schneller als die Bevölkerung. Tabelle 2: Zahl der Angestellten / Beamten im Dienste der Bundesregierung, der Regierungen der Bundesstaaten und im Non-Profit-Sektor im Vergleich, 1951–199918 Angestellte und Beamte (Zahlen in Mio.) Jahr 1951 1956 1961 1966 1971 1977 1981 1982 1983 1987 1992 1994 1999
der Bundesregierung
der Bundesstaatenregierungen
2,5 2,4 2,5 2,9 2,8
4,3 5,2 10,2 8,5 10,2
des Non-ProfitSektors
5,6 3,0
13,4 6,5
2,9
13,2
3,1
13,4
2,8
14,7
7,4 9,1 9,7
Tabelle 2 verdeutlicht den besonderen Charakter des amerikanischen Wohlfahrtsstaates in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Während die Zahl der 17 Dies verhielt sich in etwa proportional zum amerikanischen Bevölkerungswachstum von 1940 bis 1996, d. h. von 132,1 Millionen auf 269,6 Millionen Menschen. 18 Angaben aus Independent Sector, Nonprofit Almanac and Desk Reference (2002); Historical Statistics of the United States – Millennial Edition (2006).
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Bundesbeamten in dem Zeitraum von 1951 bis 1999 nahezu unverändert blieb, wuchs die Zahl der Beamten in den Bundesstaaten kontinuierlich an. Im Falle der im Non-Profit-Sektor Angestellten verfügen wir über keine Statistiken für die Zeit vor 1977. In der kurzen Zeit von 1977 bis 1994 verdoppelte sich jedoch die Zahl dieser Personen. Aus den genannten Zahlen wird ersichtlich, dass die Ausdehnung staatlicher Kompetenzen, das so genannte Big Government, in Wirklichkeit mit einer Verlagerung gesellschaftlicher Verantwortung in die Hände der Einzelstaaten, der Kommunen und des NonProfit-Sektors einherging. Sozialwissenschaftler und Politiker waren allerdings nicht in der Lage, die Bedeutung dieser Entwicklung zu verstehen. Selbst das Finanzministerium betrachtete die Non-Profit-Organisationen als so unbedeutend, dass es sie bis in die sechziger Jahre nicht einmal statistisch erfasste. Erst die von Burton Weisbrod im Jahre 1989 veröffentliche Studie The Nonprofit Economy vermittelte ein Gesamtbild dieses Sektors. EINE ZEIT DER VERWIRRUNG UND DER ANGST, 1959–1969 Die allgemeine Einkommenssteuer, die 1916 eingeführt wurde, war eine wichtige Voraussetzung für das Wachstum der Non-Profit-Organisationen und Stiftungen. Anfangs beliefen sich die Einkünfte der Amerikaner auf ein so niedriges Niveau, dass sie kaum zur Einkommenssteuer veranlagt wurden oder Steuererklärungen abgeben mussten. Dies änderte sich 1935 mit der Einführung einer progressiven Besteuerung von Einkommen und Erbschaften, die zur Höherbesteuerung der Reichen führte. Während des Zweiten Weltkrieges wurden dann alle Einkommen steuerpflichtig. Von nun an wurden die Steuern direkt vom Einkommen abgezogen. Die unmittelbare Auswirkung dieser Praxis war, dass alle Amerikaner ein neues Verhältnis zur Besteuerung entwickelten, was sich auf die Philanthropie, die Vererbungspraxis und andere wirtschaftliche Verhaltensweisen auswirkte.19 Diese Veränderungen brachten den Non-Profit-Organisationen höhere Beiträge ein, die sich in der wachsenden Höhe der individuellen Gaben und der wachsenden Zahl der Stiftungen widerspiegelten. Gleichzeitig bedeuteten sie einen unerwarteten politischen Rückschlag insofern, als die breite Bevölkerung die Steuerfreiheit der Non-Profit-Organisationen und Stiftungen als ungerechte Löcher in der Steuergesetzgebung empfand, die nur den Reichen nutzen würden. Die öffentliche Unzufriedenheit mit dieser Situation erreichte einen Höhepunkt in den sechziger Jahren, als Wright Patman, ein Kongressabgeordneter, und Stanley Surrey, Professor an der Harvard University und Di-
19 Siehe hierzu Alexander Nützenadel u. Christoph Strupp (Hg.), Taxation, State, and Civil Society in Germany and the United States from the 18th to the 20th Century, BadenBaden 2007.
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rektor der Steuerabteilung im Finanzministerium, auf den Missbrauch der Steuerbefreiungen seitens der Stiftungen aufmerksam machten. Nachdem die Rockefeller-Familie intensive Lobbyarbeit betrieben hatte, gab die Finanzkommission des amerikanischen Senates im Juli 1959 die Empfehlung ab, die Möglichkeiten für die steuerliche Absetzbarkeit von Beiträgen für wohltätige Institutionen auszuweiten. Diese Regelung sollte es Individuen, die einen bestimmten Teil ihres Einkommens an Non-Profit-Organisationen gaben, erlauben, die Zahlung von Einkommenssteuern gänzlich zu vermeiden. Eine bedeutende Minderheit in der Kommission, der die Senatoren Russell Long, Albert Gore und Eugene McCarthy angehörten, kritisierten diese Entscheidung öffentlich und beklagten, dass sie die für das Funktionieren des Staates notwendigen Steuereinnahmen zugunsten einer Existenzgarantie für die von Familien und Individuen gegründeten Stiftungen gefährdete. Die drei Senatoren verwiesen darauf, dass 87 Prozent der 13.000 existierenden Stiftungen nach 1940 geschaffen worden seien und dass jährlich etwa 1.200 neue Stiftungen entstünden. Sie warnten vor einer Situation, in der die Kontrolle über die amerikanische Volkswirtschaft sehr bald in den „toten Händen“ solcher Institutionen liegen könnte, und damit die Existenz der freien Marktwirtschaft und der demokratischen Gesellschaft gefährdet wäre.20 Die ursprüngliche Idee, den Umfang der Stiftungs- und Spendenleistungen seitens der Reichen zugunsten von Non-Profit-Organisationen zu erhöhen, mündete damit in eine öffentliche Debatte darüber, ob Philanthropie überhaupt noch angemessen sei in einer Gesellschaft, in der die Regierung die Verantwortung für die Sozialfürsorge übernommen habe. Außerdem wurde diskutiert, an welche Institutionen private Spenden gerichtet werden sollten, falls sie überhaupt noch erwünscht seien. Die im Senat geäußerte Kritik traf auf Widerhall im Repräsentantenhaus, wo Wright Patman in seinen Redebeiträgen die Stiftungen wiederholt angriff. Patmans Wortmeldungen und der veröffentlichte Bericht des Komitees für Kleinunternehmen wurden in den Medien breit diskutiert. Die öffentliche Sorge wurde zusätzlich durch Bestseller wie The Rich and the Super-Rich von Ferdinand Lundbergs verstärkt.21 Angesichts des wachsenden Widerstandes im Kongress und in der Bevölkerung verfasste das Finanzministerium einen Reformvorschlag, der eine Revision der Bestimmungen über die Verwaltung der Stiftungen vorschlug. Des Weiteren wurde über ein Verbot jeglicher unternehmerischer Beziehungen zwischen Stiftern und der von ihnen errichteten Stiftung diskutiert. Außerdem forderte das Ministerium Beschränkungen hinsichtlich der Kontrolle von Unternehmen durch Stiftungen, eine Begrenzung der steuerlichen 20 Limitation on Deduction in Case of Contributions by Individuals for Benefit of Churches, Educational Organizations, and Hospitals. Report together with Minority and Supplemental Views, 87th Congress, 1st Session, 1961, S. Rept. 585, 7–8. 21 Lundberg, The Rich and the Super-Rich, New York 1968.
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Absetzbarkeit von Stiftungen sowie einschneidende Bestimmungen über den Einfluss von Stiftern und ihren Familien in den Aufsichtsräten der von ihnen errichteten Stiftungen.22 Diese Initiativen des Gesetzgebers beförderten die Zersplitterung innerhalb des philanthropischen Sektors. Zuvor hatten mit der staatlichen Intervention im sozialen Bereich, insbesondere nach 1933, nationale Zusammenschlüsse wie die National Conference of Charities and Corrections und die National Civic Federation, die die Stifter, Sozialarbeiter, Politiker und Akademiker untereinander vernetzt hatten, zunehmend an Bedeutung verloren. Hinzu kam die wachsende Säkularisierung und religiöse Diversifizierung, die zur Spaltung des philanthropischen Sektors in religiös definierte Subsektoren (jüdisch, katholisch, evangelikal, protestantisch etc.) geführt hatte. Mit der Einführung der steuerbefreiten Non-Profit-Organisationen war zudem eine Distanzierung der etablierten Kirchen vom philanthropischen Sektor einhergegangen, da die Kirchen vermeiden wollten, zum Objekt staatlicher Regulierung zu werden. Unter diesen Umständen war eine institutionalisierte Zusammenarbeit aller philanthropischer Institutionen und Organisationen unmöglich erschienen. Raymond Lamontagne glaubte daher, dass weder das Foundation Library Center (das das Foundation Directory und die Foundation News herausgab) noch das Council on Foundations, das National Information Bureau oder die New York University Conference on Charitable Foundations von der Notwendigkeit überzeugt werden könnten, eine einheitliche Organisation zu bilden oder auch nur den Bedarf für einen gemeinsamen Interessenvertreter anzuerkennen.23 Während eine Einigung auf institutioneller Ebene aussichtslos erschien, entwickelten einzelne Persönlichkeiten Netzwerke für einen Gedankenaustausch, der letztlich zur Basis für ein neues Verständnis der steuerbefreiten Non-Profit-Organisationen wurde. Eine der wichtigsten Institutionen war die 501-(c)-(3)-Gruppe, ein informelles Netzwerk von Steuerberatern, Stiftungsmitarbeitern und Managern nationaler Wohlfahrtsorganisationen, das sich anfangs nur mit den praktischen Auswirkungen der Steuergesetzgebung und ihrer Bedeutung für Non-Profit-Organisationen beschäftigte. Ab 1965 mischte sich die Gruppe aber zunehmend auch in die grundsätzlichen politischen Debatten um den Stellenwert des Non-Profit-Sektors ein. Weniger von Ideologie als von Pragmatismus angetrieben, tendierten die Mitglieder dieser Gruppe dazu, Probleme und Phänomene in rein ökonomischen und juristischen, nicht in politischen Begriffen und Konzepten zu analysieren. Das Fehlen eines allgemein akzeptierten Verständnisses darüber, was denn Philanthropie nun tatsächlich sei, wurde offensichtlich, als der Kongress 1969 im Zusammenhang mit der Debatte über eine Reform der Steuer22 Report on Private Foundations. Printed for the Use of the House Committee on Ways and Means, February 2, 1965, Washington, D.C. 1965. 23 Zit. n. Raymond Lamontagne und seinem Memorandum von 1964.
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gesetzgebung öffentliche Anhörungen abhielt. Dort versuchten die Manager der großen Stiftungen, die Autonomie ihrer Einrichtungen zu rechtfertigen, indem sie auf die amerikanische philanthropische Tradition, die Gefahr einer staatlichen Kontrolle des Stiftungssektors sowie die angeblich drohende Verringerung individueller Spenden verwiesen. Ihr stures Festhalten an etablierten Normen sowie ihre Unfähigkeit, wirtschaftlich fundierte und überzeugende Argumente zu präsentieren, schränkten ihre Überzeugungskraft allerdings ein. So verabschiedete der amerikanische Kongress schließlich ein Gesetz, das exzessives Unternehmenseigentum durch Stiftungen begrenzte, die Kontrolle der Stifter über ihre Stiftungen regulierte, feste Auszahlungsmechanismen etablierte, die politischen Aktivitäten der Stiftungen einschränkte und die Steuerbefreiung auf diejenigen Non-Profit-Organisationen begrenzte, die ihre Gemeinnützigkeit nachweisen konnten. Außerdem verlangte das Gesetz einen jährlichen Bericht über alle Aktivitäten jener säkularen Non-ProfitOrganisationen, deren Haushalt eine bestimmte Einnahmegrenze überschritt. Es ist ironisch, dass in den späten sechziger Jahren weder die für die Steuergesetzgebung verantwortlichen Regierungsmitarbeiter noch die Vertreter der Stiftungen das Wesen des amerikanischen Wohlfahrtsstaates erkannten, das staatliche und private Institutionen in der Verteilung von sozialen Wohlfahrtsleistungen bislang verbunden hatte. Beide Seiten bestanden darauf, die jeweils andere Seite als autonom zu betrachten. Die Verteidiger der Stiftungen sahen ihre Einrichtungen von staatlicher Intervention bedroht, während ihre Gegner schon allein die Existenz der Stiftungen als eine Gefahr für die wirtschaftliche und politische Demokratie interpretierten. Beide Seiten ignorierten den kausalen Zusammenhang zwischen der Ausdehnung staatlicher Aktivitäten einerseits und der wachsenden Zahl der Non-Profit-Organisationen andererseits. Der Unterschied zwischen den traditionellen spendenbasierten Vereinen und den neuen Non-Profit-Organisationen, die in zunehmendem Maße kommerzielle Unternehmen waren, blieb ihnen verborgen. In diesem Verständnis war es auch unmöglich, das enorme Wachstum des NonProfit-Sektors als eine Folge der Ausdehnung des Staates in der Bereitstellung sozialer Leistungen zu interpretieren. VON DER TRADITIONELLEN PHILANTHROPIE ZUR ETABLIERUNG DES NON-PROFIT-SEKTORS Zwar stellte die neue Steuergesetzgebung einen Schock für die Manager der großen Stiftungen dar, doch gab sie der Erforschung und Konzeptionalisierung der steuerbefreiten wohltätigen Organisationen neue Impulse. Dies traf insbesondere auf die bereits erwähnte 501-(c)-(3)-Gruppe sowie auf John D. Rockefeller III. und seine Berater zu. Noch bevor das Gesetz in Kraft trat, hatte Rockefeller eine Kommission für Stiftungen und Philanthropie einberu-
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fen, die einen Überblick über philanthropische Praktiken erstellen sollte. Die in diesem Zusammenhang gesammelten Meinungen und Ideen der Stiftungsmanager waren jedoch weder neu noch wirklich hilfreich. Eine Umfrage unter Jugendlichen, die auf Rockefellers Initiative zurückging, erwies sich als wesentlich ergiebiger. Rockefeller wollte mit Hilfe der Umfrage die radikalen Positionen der amerikanischen Jugend und insbesondere der Studierenden im Umfeld von 1968 verstehen. Etwa Mitte der siebziger Jahre kam er zu dem Schluss, dass die Graswurzelbewegungen der Jugendlichen mit ihrer Betonung der Freiwilligenarbeit und ihrer Aufnahme traditioneller Formen der Philanthropie eine „zweite amerikanische Revolution“ darstellten, die auf „privaten Initiativen im öffentlichen Interesse“ basierten.24 Mit dieser Verbindung gelang es Rockefeller, eine breitere Konzeption von „Philanthropie“ zu erarbeiten, laut der nicht nur fördernde Stiftungen dem philanthropischen Feld zuzuordnen seien, sondern der gesamte Bereich zwischen staatlichem Sektor einerseits und profitorientiertem Sektor andererseits. Des Weiteren ging die 501-(c)-(3)-Gruppe nun zunehmend davon aus, dass sich jede Interessenvertretung des philanthropischen Sektors der Terminologie der neuen ökonomistischen Fachsprache bedienen müsse. Daher begannen ihre Mitglieder mit einer tief greifenden Analyse der bereits vorhandenen Literatur zur Steuerpolitik und zum wohltätigen Geben. Sie stellten allerdings rasch fest, dass diese Literatur fehlerhaft und häufig doppeldeutig war. Daher beauftragten sie einen Volkswirtschaftler der Harvard University, Martin Feldstein, mit heimlicher Finanzierung durch die Rockefeller-Familie, damit, eine Studie darüber anzufertigen, ob und wie die Steuergesetze philanthropisches Handeln beeinflussten. Nachdem Feldstein zu dem Ergebnis gekommen war, dass dem in der Tat so sei, sorgte Rockefeller dafür, dass die Studie öffentlich gemacht wurde. Hinter den Kulissen organisierte Rockefeller die Berufung einer Commission on Private Philanthropy and Public Needs und sorgte dafür, dass Steuerexperten und Wissenschaftler als Mitglieder berufen wurden. Die Filer-Kommission, benannt nach ihrem Vorsitzenden John Filer, einem Manager der Aetna Insurance Company, versammelte zahlreiche Universitätspräsidenten (William Bowen von der Princeton University, Edwin Ethrington von der Wesleyan University und Elizabeth McCormack vom Hunter College), Vertreter von verschiedenen steuerbefreiten Unternehmen (Bayard Ewing von United Way, Walter McNerney von der American Hospital Association und Alan Pifer von der Carnegie Corporation), führende Unternehmer (Walter Haas von Levi Strauss; Ralph Lazarus von den Federated Department Stores und der Bankier C. Douglas Dillon) sowie politische und religiöse Führungspersonen wie George Romney und Reverend Leon Sulli24 John D. Rockefeller III, The Second American Revolution. Some Personal Observations, New York 1974.
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van zu ihren Mitgliedern. Während die Kommission nach politischem, religiösem, ethnischem und regionalem Proporz besetzt worden war, fehlten unter den Mitgliedern Vertreter der großen Stiftungen. Die Zusammensetzung dieser Gruppe ließ die Tatsache, dass die Bedeutung von Philanthropie neu bestimmt wurde und sowohl Stifter als auch Empfänger von Stiftungsgeldern und Spenden einschloss, deutlich hervortreten.25 Obwohl Rockefeller und seine Berater zwischen den Mitgliedern der Kommission vermittelten und auf einen Ausgleich hinarbeiteten, blieben die fundamentalen Meinungsunterschiede zwischen den verschiedenen Experten unüberbrückbar. Als die Kommission ihren Abschlussbericht im Jahre 1975 unter dem Titel Giving in America: Toward a Stronger Voluntary Sector veröffentlichte, konnten diesem nicht alle Kommissionsmitglieder und Forscher zustimmen. Daher veröffentlichten Letztere einen Anhang zum Kommissionsbericht und brachten ihre Kritik auch im ersten der sechs folgenden Bände von Forschungsbeiträgen zum Ausdruck, die die Kommission im Jahre 1977 veröffentlichte.26 Trotz aller fundamentalen Differenzen war man sich in einem Punkt einig: Darin, dass Philanthropie als Bestandteil eines Sektors der „freiwilligen“ Aktivitäten und der Non-Profit-Organisationen neu definiert werden müsse. Die Mehrzahl der Kommissionsmitglieder sah zudem die Notwendigkeit, den Non-Profit-Sektor intensiver zu beobachten und zu erforschen. Zu diesem Zweck empfahlen sie die Etablierung einer nationalen Kommission durch den amerikanischen Kongress, um über eine staatliche Institution verfügen zu können, deren Zusammensetzung die Interessen der gesamten Bevölkerung widerspiegelte und deren Aufgabe die Sammlung von Informationen sowie die Einflussnahme auf die Politik zugunsten des Non-Profit-Sektors sein sollte. Rockefellers eigene Pläne waren jedoch viel weit reichender: Sie zielten auf die Errichtung einer Interessenvertretung des Non-Profit-Sektors, die Regierungsbehörden, politische Entscheidungsträger und Vertreter des NonProfit-Sektors zusammenbringen und dessen Interessen gegenüber der Regierung vertreten sollte. Allerdings schätzte Rockefeller das politische Klima falsch ein. Vielleicht wäre seine Vision Wirklichkeit geworden, wenn 1976 ein Republikaner in das Weiße Haus eingezogen wäre, aber mit Präsident Jimmy Carter, der gegenüber derartigen, von Betroffenen gebildeten und dominierten Interessenvertretungen überaus skeptisch war, konnte eine solche institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und Non25 Eleanor Brilliant, Private Charity and Public Inquiry. A History of the Filer and Peterson Commissions, Bloomington 2000; Peter Dobkin Hall, Inventing the Nonprofit Sector and Other Essays on Philanthropy, Voluntarism, and Nonprofit Organizations, Baltimore 1992. 26 Private Philanthropy. Vital and Innovative or Passive and Irrelevant. The Donee Group Report and Recommendations, in: Research Papers Sponsored by the Commission on Private Philanthropy and Public Needs, Washington, D.C. 1977.
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Profit-Sektor nicht verwirklicht werden. Obwohl diese Entwicklung Rockefeller tief enttäuschte, gab er nicht auf, sondern arbeitete weiter auf die Etablierung einer privaten, regierungsunabhängigen Interessenvertretung des Non-Profit-Sektors hin. Diese Organisation wurde schließlich im Jahre 1980 unter dem Namen Independent Sector (IS) ins Leben gerufen. Wie von Rockefeller intendiert, vertrat IS ein sehr weit gefasstes und inklusives Verständnis, was unter Non-Profit- oder Voluntary-Sector zu verstehen sei. IS war als Institution gegründet worden, die sich durch Mitgliederbeiträge finanzierte und nur einen kleinen Mitarbeiterstab hatte; sie besaß daher kaum die Möglichkeit, Einfluss auf die Gesetzgebung oder auf die wissenschaftliche Forschung auszuüben. Da Rockefeller schon zwei Jahre vor der Gründung des IS gestorben war, fiel die Führungsrolle in der neuen Organisation an John W. Gardner, der wenig Geduld für basisdemokratische Verfahren hatte. Gardners Schützling Brian O’Connell verwandelte IS bald in eine Organisation mit starker Führung, die von den großen Stiftungen unterstützt wurde, die ihrerseits wiederum die Mehrzahl der Mitglieder stellten. Mit der Präsidentschaft Ronald Reagans sahen sich die Non-Profit-Organisationen mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert. Reagans Versprechen, die Sozialausgaben der Regierung drastisch zu reduzieren, erschien ihnen sowohl als Chance als auch als Bedrohung ihrer Existenz. Während Stiftungen und einzelne Mitglieder der Filer-Kommission (etwa E. B. Knauft) Reagans Programmatik begrüßten, verhielten sich jene, die Leistungen von Non-Profit-Organisationen in Anspruch nahmen, wesentlich zurückhaltender. Die versprochenen Steuererleichterungen würden, so die Befürchtung, zu einer Verminderung der Spenden und Stiftungen führen, da die Steuerzahler nicht mehr so einen großen Teil ihres Einkommens von der Steuer absetzen müssten. Die Kürzung staatlicher Zuschüsse an Non-Profit-Unternehmen würde außerdem deren Leistungsfähigkeit weiter herabsetzen. Insbesondere fürchteten Universitäten und Hochschulen die Auswirkungen der neuen Maßnahmen, da sie etwa ein Drittel ihrer Einnahmen von staatlicher Seite erhielten. Diese Sorgen wurden noch durch eine Studie zweier Mitarbeiter des Urban Institute, Lester Salamon und Alan Abramson, verstärkt, die 1981 im Auftrage der 501-(c)-(3)-Gruppe eine Untersuchung über die Bedeutung staatlicher Finanzierung für die Non-Profit-Organisationen durchführten. Salamon und Abramson kamen zu der für viele überraschenden Erkenntnis, dass der so genannte independent sector fast völlig von staatlichen Zuschüssen abhing.27 Salamon untermauerte in den folgenden Jahren mit Hilfe zahlreicher Studien seine Erkenntnis von der gegenseitigen Abhängigkeit und Durchdringung des Non-Profit-Sektors und des Staates.28 Dennoch weigerten sich die Manager der großen Stiftungen ebenso wie die wachsende Zahl der Non-Pro27 Lester M. Salamon u. A. Abramson, The Federal Government and the Nonprofit Sector. Implications of the Reagan Budget Proposals, Washington, D.C. 1981. 28 Lester M. Salamon, Partners in Public Service. The Scope and Theory of Nonprofit-
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fit-Forscher, die einfache Dichotomie – hier der Staat, dort der philanthropische Sektor – aufzugeben. Auch wenn sie eine ökonomistisch dominierte Terminologie akzeptierten, hielten sie an den herkömmlichen politischen und sozialen Stereotypen hinsichtlich des angeblich „freiwilligen“ und „unabhängigen“ Charakters des Non-Profit-Sektors fest. Innerhalb des Non-Profit-Sektors trafen Warnungen vor einer Kommerzialisierung des Sektors auf taube Ohren. Als Henry Hansmann, ein Doktorand der Rechts- und Volkswirtschaftslehre an der Yale University, 1980 seine Ideen über ein theoretisches Modell für die staatliche Behandlung steuerbefreiter Unternehmen vorlegte, trafen seine Vorschläge zwar auf großes Interesse, aber weitgehend auf Ablehnung. Insbesondere sein Vorschlag, diejenigen Non-Profit-Organisationen, die den größten Teil ihrer Einnahmen über kommerzielle Leistungen erbrachten, anders als tatsächlich wohltätige Einrichtungen zu behandeln, rief viel Widerspruch seitens der Betroffenen hervor.29 Hatte zu Beginn der 1980er Jahre unter den Führungskräften im NonProfit-Sektor ein Gefühl der Krise und eine gewisse Niedergangsstimmung um sich gegriffen, entwickelte sich in den folgenden Jahren wieder mehr Zuversicht. Obwohl es wiederholt zu Auseinandersetzungen mit Vertretern der Neuen Rechten über solche Themen wie unfairen Wettbewerb zwischen NonProfit-Organisationen und privaten Unternehmen30, die angeblich linkslastige Vergabepraxis von Stiftungsgeldern oder die Praktiken der Stiftungen in Bezug auf affirmative action kam, fühlten sich die Manager der Non-Profit-Unternehmen insgesamt im Amerika der Reagan-Administration doch recht wohl – auch, weil diese dem Lobbying und der Arbeit von Interessensverbänden relativ aufgeschlossen gegenüber stand. Nachdem Vertreter der Neuen Rechten und der konservativen Oberschicht der Südstaaten und des Westens der USA die Möglichkeiten des Non-Profit-Sektors für sich entdeckt hatten, erfuhr dieser einen erneuten Wachstumsschub. DIE KONSERVATIVE REVOLUTION UND DIE VERWANDLUNG DES NON-PROFIT-SEKTORS Sowohl die politische Linke als auch die politische Rechte erkannten im NonProfit-Sektor ein Instrument, das es erlaubte, private Anliegen und Werte in öffentliche zu verwandeln, ohne sich auf die etablierten politischen oder Government Relations, in: Walter W. Powell (Hg.), The Nonprofit Sector. A Research Handbook, 99–117. 29 Henry B. Hansmann, The Ownership of Enterprise, Cambridge 1996. 30 Unfair Competition by Nonprofit Organizations with Small Businesses. An Issue for the 1980s, Washington, D.C. 1983; Unfair Competition in the States. A Report for State Business Leaders on How to Combat Competition from Nonprofit Business Ventures, Washington, D.C. 1984.
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staatlichen Mechanismen, die eher auf Konsens und Kompromiss ausgerichtet waren, einlassen zu müssen. Peter Drucker hat die Veränderungen gegen Ende der achtziger Jahre am besten erfasst, als er Non-Profit-Organisationen des so genannten Dritten Sektors als die Geburtshelfer für ein neues Gefühl des Zusammenlebens derjenigen Generation beschrieb, die die traditionelle politische Kultur hinter sich gelassen habe. Ihre Mitglieder hätten sich unabhängig von ihrem Bildungsstand, ihrem Erfolg und ihrem Einkommen nur passiv unterordnen können, und ihre Einflussmöglichkeiten seien auf den Wahlvorgang und das Zahlen von Steuern beschränkt gewesen. Die Gegenkultur des Dritten Sektors bot diesen desillusionierten Individuen eine Arena privaten Handelns, in der sie Einfluss ausüben, Verantwortung delegieren und Entscheidungen in äußerst effektiver Weise treffen konnten. Diesem Richtungswechsel lagen einschneidende Veränderungen im Verständnis der amerikanischen Bürgergesellschaft zugrunde. Das post-liberale Denken brandmarkte den liberalen Gedanken der Gemeinschaftsverpflichtung – basierend auf der Idee des Gemeinwohls –, die das Streben des Einzelnen nach Selbstverwirklichung und Glück durch die Verpflichtungen gegenüber den anderen Mitgliedern in der Gesellschaft beschränkte, als elitär. Nun wurde der Begriff des „Gemeinwohls“ neu definiert, und zwar als die Summe aller privaten individuellen Zielsetzungen und Absichten. Schon in den 1970er Jahren hatten konservative Vordenker wie Ayn Rand und Milton Friedman Konzepte entwickelt, die öffentliche Schulen ebenso ablehnten wie soziale Wohlfahrtsprogramme oder staatliche Eingriffe in das gesellschaftliche Leben und die unternehmerische Verantwortung. Anfangs waren diese Überlegungen von linken Politikern als „Hirngespinste, die als originäre Ideen verkauft werden“, abgeschmettert worden, doch nun wandelten sie sich zu legitimen Alternativen zu den angeblich diskreditierten Ideen und Institutionen des amerikanischen Liberalismus. Eine Reihe von Faktoren beeinflusste diese radikale Wende. Die wohl wichtigste Ursache war das Scheitern der Präsidentschaftskandidatur des Republikaners Barry Goldwater, die auf konservativer Seite zu der Erkenntnis führte, dass Aktivitäten im politischen Feld allein keine Garantie seien, politische Ziele zu erreichen. Dies ist im Powell Memorandum, das 1971 an den Vorsitzenden des Komitees über Bildung und Erziehung der Amerikanischen Industrie- und Handelskammer gerichtet wurde, dokumentiert. Autor des Memorandums war der in der Wirtschaft tätige Rechtsanwalt und spätere Richter des Obersten Gerichtshofes, Lewis Powell.31 Dieses Memorandum begann mit der Feststellung, dass sich das amerikanische Wirtschaftssystem in großer Gefahr befinde, da es nicht nur von den bekannten Feinden – also den Kommunisten, Neuen Linken und anderen Revolutionären –, sondern 31 Zum Powell Memorandum siehe http://reclaimdemocracy.org/corporate_accountability/ powell_memo_lewis.html.
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auch von „respektablen“ Bürgern angegriffen werde: von Hochschulprofessoren, Pastoren, Journalisten, Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern. Da sowohl die Hochschulen als auch die Medien, die gemeinsam die größte Gefahrenquelle für den Fortbestand der freien amerikanischen Wirtschaft darstellten, von den Spenden und Stiftungen von Unternehmen abhingen oder sogar selbst wirtschaftliche Unternehmen seien, forderte Powell die Wirtschaftsführer dazu auf, ihre Apathie endlich zu überwinden und einen Gegenangriff zu starten. Zuerst müssten die industriellen Unternehmer jedoch realisieren, dass es für sie und für die freie Marktwirtschaft ums Überleben gehe. Daher verlangte er von der Industrie- und Handelskammer, eine führende Rolle in der Koordinierung unternehmerischer Aktivitäten zu übernehmen, die dazu dienen sollten, das Denken, Fühlen und Handeln der Bürger zu beeinflussen. Powell war nicht der einzige, der solche Ziele verfolgte. Aus der Sicht Irving Kristols, des Vaters der neokonservativen Bewegung in den USA, existierte eine neue Klasse, die sich durch ihre Feindschaft gegenüber der Wirtschaft insgesamt und den großen Konzernen im Besonderen auszeichne. Ihre Angehörigen könne man, so Kristol, vorwiegend im ständig wachsenden öffentlichen Dienst und in den Medien finden. Diese Klasse habe kein Interesse an privatem Wohlstand, hasse die freie Marktwirtschaft und sei davon überzeugt, dass der ökonomische Wohlstand der Bevölkerung nur durch staatliche Intervention erhöht werde könne. Ihre Vertreter dominierten die Medien und das Bildungssystem. Ihr geringer Einfluss in der amerikanischen Volkswirtschaft sei der Grund ihres Hasses auf die freie Marktwirtschaft, die sie am liebsten mit einer staatlich dominierten Ökonomie ersetzen würden. Da sie eine herausragende Rolle im politischen Leben spielten, hofften sie, über den Staat direkten Einfluss auf die Gestaltung der Gesellschaft nehmen zu können, meinte Kristol.32 Konservative Intellektuelle sahen ein, dass sie sich, wenn sie linke Meinungsführer verdrängen wollten, ebenso wie die politische Linke eine Machtbasis in Form von Stiftungen, think tanks, Interessengruppen und Universitäten schaffen mussten. Das Powell-Memorandum und Kristols Schriften hatten großen Einfluss auf die Gründung der Heritage Foundation, des Manhattan Institute, des Cato Institute, der Vereinigungen Citizens for a Sound Economy sowie Accuracy in Academe und mehreren anderen mächtigen Organisationen, die als Säulen einer neuen konservativen Kultur errichtet wurden.33 Es waren dabei nicht die Ideen und Konzepte allein, die den Erfolg der Konservativen ermöglichten. Die neokonservative Bewegung fand einflussreiche und wohlhabende Förderer in den Vertretern der Rüstungsindustrie und bei 32 Irving Kristol, The Question of Liberty in America, New York 1975. 33 James A. Smith, The Idea Brokers. Think Tanks and the Rise of the New Policy Elite, New York 1991; Andrew Rich, Think Tanks, Public Policy, and the Politics of Expertise, New York 2004.
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den bisher von politischem Einfluss weitgehend ausgeschlossenen orthodoxreligiösen Gruppen aus dem Süden und Westen der USA.34 Diese traditionell politikfernen Gruppen zeichneten sich durch fundamental-konservative Ansichten und ein hohes Wissen um die staatlichen und unternehmerischen Institutionen aus und wurden durch Persönlichkeiten wie den konservativen katholischen Finanzier William E. Simon, den Ökonomen Alan Greenspan und den Firmenanwalt Caspar Weinberger verkörpert. Richard Nixon gelang es, diese Personen für seine Präsidentschaftsbewerbung und die Mitarbeit in seiner Regierung zu gewinnen. Obwohl Simon keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber der ihm viel zu linkslastig erscheinenden Filer-Kommission machte, wurde er in seiner Funktion als Finanzminister zu deren Beschützer und Förderer und diente damit als Verbindungsglied zwischen den progressiven und konservativen Fraktionen des amerikanischen philanthropischen Sektors (Simon wurde später Präsident der John M. Olin Foundation, einer der wichtigsten Finanzquellen für die Neue Rechte). Simon war in vieler Hinsicht der konservative Gegenspieler zum liberalen John D. Rockefeller III. Bei der Etablierung der konservativen Richtung innerhalb der amerikanischen Philanthropie übernahm er eine führende Rolle. Wie Rockefeller stand auch Simon ein Kreis von engen Beratern zur Verfügung, zu dem Irving Kristol und der konservative Philanthrop Leslie Lenkowsky gehörten. Auf Kristols Empfehlung hin finanzierte Simon die Etablierung des Instituts for Educational Affairs (IEA), das anfänglich nur als Initiator und Förderer für konservative studentische Publikationen in den traditionell linksgerichteten Hochschulen aufgetreten war, seit den frühen achtziger Jahren aber auch als eine politische Plattform zur Verbreitung konservativer Ansichten zur Philanthropie wirkte. 1982 versuchten führende linke Mitglieder der Dachorganisation amerikanischer Stiftungen, des Council of Foundations, einen Richtlinienkatalog für Stiftungen zu etablieren, der u.a. Prinzipien zur affirmative action enthielt und daher für konservative Stiftungen völlig unannehmbar war. Wenn Konservative die Annahme dieses Richtlinienkataloges auch nicht verhindern konnten, gelang es ihnen doch, die konservativen Stiftungen davon zu überzeugen, sich aus dem links dominierten Council on Foundations zurückzuziehen. Zwar gelang es ihnen im Anschluss nicht, eine Gegenorganisation zu gründen, doch waren die Stimmen der Manager dieser „abweichenden“ Stiftungen sowie der Akademiker, die ihnen nahe standen, in den Diskussionen darüber, wie Philanthropie und Non-Profit-Organisationen zu definieren und zu interpretieren seien, nun unüberhörbar. Viel wichtiger war aber, dass sie die Idee, dass Philanthropie nicht nur linke, sondern auch rechte politische Ziele fördern könne, verbreiteten. 34 Kirkpatrick Sale, Power Shift. The Rise of the Southern Rim and Its Challenge to the Eastern Establishment, New York 1975; Sidney Blumenthal, The Rise of the CounterEstablishment, New York 1988.
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Die IEA war nur eine von vielen Organisationen, die dazu beitrugen, eine Art konservativer Philanthropie zu etablieren. Mit der Präsidentschaft von Ronald Reagan wurden think tanks wie das American Enterprise Institute, die Heritage Foundation und das Hudson Institute wichtige konservative Gegenspieler zu den traditionell linken think tanks wie dem Brookings Institute, dem Twentieth Century Fund und dem Urban Institute. Wie die linken Liberalen zuvor, begannen nun auch Konservative ihre Beziehungen zu den Universitäten auszubauen, indem sie Forschungsprojekte und -institutionen finanzierten und konservative Akademiker in politische Diskussionsrunden einführten. Diese Bemühungen wurden durch die zunehmende Zahl und das wachsende Kapital der konservativen Stiftungen befördert. DER SIEGESZUG DES NON-PROFIT-SEKTORS UND DIE PRIVATISIERUNG DER ÖFFENTLICHKEIT George Bushs Rede auf dem Parteitag der Republikanischen Partei 1988, in der er die Nominierung für das Amt des Präsidenten annahm und die Begrenzung staatlicher Intervention in öffentlichen Angelegenheiten forderte, markiert den Wendepunkt im Verhältnis zwischen der konservativen politischen Bewegung und dem Non-Profit-Sektor. Der amerikanische Konservatismus nahm von nun an die Möglichkeiten des philanthropischen Sektors sowie sämtliche Formen ehrenamtlicher Arbeit ernst. Zwar vertrauten die konservativen Christen und andere rechte Gruppierungen Bush nicht völlig, doch sie erkannten das Potential des Non-Profit-Sektors für ihre politischen Ziele. In den folgenden Jahren war es vor allem Newt Gingrich, der zahlreiche neue Non-Profit-Organisationen gründete, um die politischen Ziele der Republikaner zu propagieren und Stifter und Spender, die eine konservativ geprägte Neuorientierung der gesellschaftlichen Institutionen anstrebten, für seine Ziele zu gewinnen. Das konservative Engagement im philanthropischen Bereich und dessen Instrumentalisierung zu ihren politischen Zwecken ließ die Trennlinien zwischen politischen und wohltätigen Spenden bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Der bei weitem größte Wachstumsimpuls für den Non-Profit-Sektor ergab sich in den achtziger Jahren aus der Schließung staatlicher Anstalten für geistig Behinderte und der Überführung der Patienten in lokal organisierte Heime. Ursprünglich war dieser Prozess von der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre angestoßen worden. Deren linke Protagonisten, die in dem von der American Civil Liberties Union betriebenen Projekt zur Förderung der Rechte von Behinderten mitgearbeitet hatten, wollten damals alternative soziale Räume für Behinderte schaffen. Nach der Schließung der staatlichen Anstalten arbeiteten rechte und linke Kritiker des medizinischen und rechtlichen Establishments, religiöse Konservative und Liberale verschiedenster
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Strömungen zusammen – also all jene, die durch Non-Profit-Organisationen getragene Heime und Wohngemeinschaften den staatlich finanzierten Anstalten vorzogen. Gegen den Widerstand von psychiatrischen Einrichtungen, Sozialarbeitern, Gewerkschaften und vieler linker Politiker setzte dieses Bündnis aus rechten und linken Advokaten für die Rechte Behinderter ihre Vorstellung einer neuen Form des Umgangs mit geistig behinderten Menschen gegen die staatlichen Institutionen aber auch gegen lokale Bürgerinitiativen durch. Letzten Endes erkannten die politischen Entscheidungsträger das enorme finanzielle Potential dieser Allianz, die in der Lage war, Milliarden aufzubringen, um Räumlichkeiten für Wohngemeinschaften für geistig behinderte Menschen zu erwerben, zu renovieren und zu betreiben (immerhin wurde für das alternative System zur Betreuung geistig Behinderter fast genau so viel ausgegeben wie für das gesamte amerikanische Autobahnsystem). Der neue und ungewöhnliche Charakter dieses privatisierten sozialen Wohlfahrtsstaates wird am besten am Beispiel des New Yorker Covenant House deutlich. Covenant House wurde durch den Franziskaner Bruce Ritter als Auffangheim für von zu Hause fortgelaufene Jugendliche gegründet. In dem Aufsichtsrat für diese Einrichtung fanden sich zahlreiche wohlbekannte New Yorker Katholiken, zu denen auch William E. Simon und Peter Grace zählten. Auch wenn diese Einrichtung eine Vorreiterrolle in der Sammlung von Spenden durch Briefwurfsendungen spielte,35 kam die Mehrheit seiner Einnahmen aus staatlichen Subventionen und Verträgen. Eigentlich stellte sich Covenant House sowohl wegen seines Ziels, obdachlosen Jugendlichen zu helfen, als auch wegen der staatlichen Unterstützung, die es dazu erhielt, bewusst in die Tradition der wohltätigen Gegenkultur der Linken. Zugleich wurzelte die Einrichtung aber auch in der politischen Kultur des Konservatismus, was sich an seiner aggressiven Marketingkampagne und seiner Verbindung zu Politikern des rechten Spektrums zeigte. Gleichzeitig ging Covenant House auf die durch das Zweite Vatikanische Konzil ausgelösten Reformen zurück, in deren Zuge sich die bisher nach außen weitgehend abgeschotteten religiösen Orden zu Orten der Hilfe für Behinderte und Ausgegrenzte verwandelten. Allerdings war diese Tendenz für die Konservativen innerhalb des Katholizismus völlig inakzeptabel. Der Umbau des sozialen Wohlfahrtsstaates in den neunziger Jahren war keine Erfindung von Newt Gingrich, sondern vereinte Ideen und Initiativen, die sich in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten in den Bundesstaaten und Kommunen der USA entwickelt hatten. Diese Veränderungen waren erstens durch das Misstrauen gegenüber großen, insbesondere staatlichen Institutionen und der Politik im Allgemeinen hervorgerufen worden; zweitens durch die zunehmende Hinwendung zum religiösen Sektor in Bezug auf soziale 35 Covenant House verteilte Millionen Exemplare des Buches Sometimes God Has a Kid’s Face.
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Wohlfahrtsleistungen (wie zum Beispiel in solch kirchenähnlichen Organisationen wie Habitat for Humanity); drittens durch die Entstehung von alternativen religiösen Strömungen, für die soziale Wohltätigkeit und die Hilfe für Andere die primäre Form der religiösen Aktivität darstellten; und viertens durch eine Veränderung der Erklärung von Armut, die nun immer weniger als ein soziales Problem angesehen und immer stärker über angebliche charakterliche Defizite der Betroffenen erklärt wurde. Diese Ansichten teilten Gruppen, die über das gesamte politische Spektrum verteilt waren. Sie stellten Mitte der neunziger Jahre fest, dass sie trotz tief sitzender Vorbehalte gegeneinander einen Konsens finden konnten: Alle plädierten für eine Ausweitung der Privilegien religiöser Einrichtungen (Religious Freedom Act von 1994), für die direkte staatliche Finanzierung religiöser Wohlfahrtseinrichtungen (Personal Responsibility and Work Reconciliation Act von 1996), für eine wachsende gesellschaftliche Rolle von Non-Profit-Organisationen sowie für die Übertragung staatlicher Aufgaben an säkulare und religiöse Non-ProfitOrganisationen. Da aber der Gegensatz zwischen sozial und wirtschaftlich orientierten konservativen Kräften innerhalb der republikanischen Mehrheit weiter fortbestand, kam die traditionelle Feindschaft der alten Konservativen gegenüber den Non-Profit-Organisationen wiederholt zum Vorschein, sei es in den Debatten über die Begrenzung der Rolle der Non-Profit-Organisationen oder in Bezug auf den unfairen Wettbewerb zwischen Non-Profit-Organisationen mit profitorientierten Unternehmen. Auch der Vorwurf, basisdemokratische und progressive Gruppierungen innerhalb des philanthropischen Sektors verträten eine antikapitalistische Orientierung, wurde hin und wieder geäußert. Insgesamt aber war es kaum mehr wahrscheinlich, dass die Führungsriege der Republikanischen Partei, die ihren politischen Erfolg zu einem wesentlichen Teil ihrer geschickten Ausnutzung der Non-Profit-Organisationen als Instrumenten der Entwicklung politischer Strategien (American Enterprise Institute, Heritage Foundation), der Propaganda (Christian Coalition) und der Wahlkampffinanzierung (Newt Gingrichs GOPAC) verdankte, den Status des Non-Profit-Sektors nochmals in Frage stellen würde. Das Council on Foundations und der Independent Sector als Vertreter und Interessenvertretung philanthropischer Einrichtungen, die sich traditionell mit der Demokratischen Partei identifiziert hatten, stellten nun fest, dass sie viele Gemeinsamkeiten mit den der Republikanischen Partei nahe stehenden Organisationen hatten. Zudem zwang sie die Konkurrenz mit konservativen Institutionen (Stiftungen, think tanks und wohltätigen Institutionen) oftmals dazu, einen Ausgleich mit den Konservativen zu suchen. Der personelle Wandel im Council on Foundations war diesbezüglich paradigmatisch: Der alte, eher nach links orientierte Mitarbeiterstab, der die Foundation News herausgegeben hatte, wurde nun durch Mitarbeiter ersetzt, die das neue Blatt Foundation News and Commentary herausgaben und mehr auf professionelle
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und unternehmerische Aspekte achteten, als sozialpolitische Grundsatzdiskussionen initiieren zu wollen. Im Vergleich dazu fielen die Veränderungen im Independent Sector mit der Pensionierung von Brian O’Connell eher geringfügig aus, führten aber dazu, dass diese Organisation künftig eine viel bescheidenere Rolle innerhalb der Diskussionen um Sozialpolitik spielte. Auf dem Höhepunkt der Reform des Wohlfahrtsstaates betrachteten sich verschiedene rechte, linke und zentristische Gruppen als Sprachrohr des philanthropischen Sektors. Auf Seiten der Rechten leitete Lamar Alexander die Task Force on Philanthropie and Civic Renewal, die mehrere Arbeitspapiere in Auftrag gab und ihr nahe stehende Politiker und Akademiker zusammenbrachte. Auf Seiten der Linken war es die Nathan Cunnings Foundation, die verschiedene Veröffentlichungen finanzierte und durch ihre Zusammenarbeit mit der Zeitschrift American Prospect ein nationales Sprachrohr für die „linke Philanthropie“ zu schaffen suchte. Hinzu kam das Center for Responsive Philanthropy, das aus einer Minderheitengruppe der Filer-Kommission hervorgegangen war und schonungslose Kritik an den Sozialreformen publizierte. In der Mitte angesiedelt war die Organisation American Assembly, die eng mit dem Independent Sector und dem Center on Philanthropy an der Indiana University zusammenarbeitete und darauf hinwirkte, eine für alle akzeptable Grundlage und Zielbestimmung für den Non-Profit-Sektor zu formulieren, um dessen verschiedenen Fraktionen zu vereinen. Das Treffen der American Assembly 1998 fand im Getty Center in Los Angeles statt, einem der bedeutenden Stätten post-liberaler Philanthropie. Dieses Treffen ermöglichte verschiedenen Wissenschaftlern und Stiftungsmanagern, ihre Ansichten zu präsentieren. Am Ende der Tagung verabschiedeten die Teilnehmer einen Abschlussbericht, der mehr durch die Dinge auffiel, die nicht genannt wurden, als durch die Dinge, die genannt wurden: Er enthielt weder Verweise auf gender noch auf race, also jene Themen, die Mitte des 20. Jahrhunderts das philanthropische Feld stark bestimmt hatten. Zwar wurde nebenbei auf die wachsende Ungleichheit der Vermögens- und Einkommensverhältnisse verwiesen, doch es gab keine Kritik an dieser Entwicklung. Vielmehr betonte der Bericht die Chancen, die aus dieser Ungleichheit für den Non-Profit-Sektor erwuchsen, bedeutete sie doch ein potentielles Ansteigen der Spendenund Stiftungsleistungen, da die überaus Reichen größere Summen zur Verfügung stellen könnten.36 Damit befand sich Philanthropie am Ende des 20. Jahrhunderts wieder genau dort, wo sie am Beginn des Jahrhunderts gestanden hatte.
36 Charles T. Clotfelter u. Thomas Ehrlich, Philanthropy and the Nonprofit Sector in a Changing America, Bloomington 1999.
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NACH DEM ENDE DES WOHLFAHRTSSTAATES Betrachtet man die Entwicklung des amerikanischen Wohlfahrtsstaates in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dann wird deutlich, dass die Rhetorik über dessen angeblich abruptes Ende grundsätzlich fehl geht, da es sich hier eher um langfristige Prozesse handelt, die bereits in den vierziger Jahren angelegt gewesen waren. Unsere Schwierigkeiten, das Ende des Wohlfahrtsstaates zu erklären, hängen vor allem damit zusammen, dass wir nie vermocht haben, genau zu erklären, was für eine Form von Wohlfahrtsstaat denn nun eigentlich zuvor existiert hatte. Die Vorstellung, der Wohlfahrtsstaat sei das Objekt einer intensiven, zentralisierten staatlichen Kontrolle, erweist sich als nicht haltbar, da die Bundesregierung von Anfang an viele Aufgaben an die Regierungen der Bundesstaaten, die Kommunen und den privaten Sektor delegiert hatte. Vor diesem Hintergrund erscheint die gefürchtete Reagan-Revolution, die den Bundesstaaten eine größere Rolle in der Verteilung staatlicher Gelder gab und die Rahmenrichtlinien für Sozialhilfe und Bildungsprogramme etablierte, als weniger einschneidend, da sie bereits vorhandene Entwicklungen lediglich fortschrieb. Die Privatisierung von Sozialleistungen – also das Outsourcing ehemals staatlicher Aufgaben an private Unternehmen – bedeutete damit wenig mehr als die öffentliche Anerkennung von Langzeitentwicklungen. Die wohl bedeutendste qualitative Veränderung zeigt sich hingegen im Bedeutungsverlust jener philanthropischen Akteure, die sich für die Verbesserung breit angelegter zivilgesellschaftlicher Strukturen einsetzten. Wir beobachten eine Hinwendung zu Institutionen und Projekten, die jeweils nur einem bestimmten geographisch oder demographisch definierten Ausschnitt der Bevölkerung zugute kommen. Als in der Mitte der achtziger Jahre die Auswirkungen der Steuerreform von 1969 untersucht wurden, stellte sich heraus, dass diese Reform das Wachstum der Non-Profit-Organisationen zwar nicht verlangsamt hatte, dass sich Letzteres aber ungleichmäßig über das Land verteilte (das größte Wachstum ließ sich im Süden und Westen der USA ausmachen). Zudem wurde deutlich, dass sich philanthropisches Engagement nun viel stärker auf lokale und regionale und nicht mehr so sehr auf nationale Ziele bezog.37 Jüngere Studien verweisen auf einen neuen Trend: Unternehmer der Internet- und Computerindustrie gründen Stiftungen, in denen sie sich ein umfassendes Mitspracherecht über die Stiftungsaktivitäten vorbehalten.38 37 Siehe hierzu Teresa Odendahl (Hg.), America’s Wealthy and the Future of Foundations, New York 1987; dies., Charity Begins at Home. Generosity and Self-Interest among the Philanthropic Elite, New York 1991. 38 S. Bengali, California Leader Discusses Future of Venture Philanthropy, in: San Jose Mercury News, 9. August 1999; M. MacDonald, Are Cybermoguls Stingy?, in: U.S. News and World Report, 19. Juli 1999; P. Van Slambrouck, The Rockefellers of Silicon
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Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Fundamente für den Wohlfahrtsstaat in den USA gelegt wurden, war die amerikanische Gesellschaft noch durch die Existenz einer Vielzahl von Vereinen gekennzeichnet, die durch ehrenamtliches Engagement und die Zahlung von Mitgliedsbeiträgen finanziert wurden. Viele dieser Vereine waren nationale Organisationen mit regionalen und lokalen Untereinheiten. Am Anfang der neunziger Jahre waren die meisten dieser traditionellen Vereine dabei zu verschwinden. Ersetzt wurden sie durch die steuerbefreiten Non-Profit-Organisationen, in denen die Mitgliedschaft meist nur passiv und nominell war und die Mehrheit der Einnahmen nicht mehr von Mitgliedsbeiträgen, sondern vom Staat und von unternehmerischen Aktivitäten der betreffenden Organisationen aufgebracht wurde. Diese Entwicklung hat zuerst Robert Putnam in seinem provokativen Aufsatz aus dem Jahre 1995 Bowling Alone beklagt.39 Obwohl er den Erfolg der NonProfit-Organisationen als ein Symptom und zu einem gewissen Grade auch als Ursache für den Niedergang zivilgesellschaftlichen Engagements ansah, hat er deren Bedeutung wohl vorschnell unterschätzt. Zwar führte die Privatisierung breit angelegter, inkludierender zivilgesellschaftlicher Institutionen zum Ende herkömmlicher Formen öffentlichen Lebens, doch bedeutet dies keineswegs, dass damit das öffentliche Leben an sich aufhört. In Widerspruch zu Putnam entwickelte Peter Drucker ein optimistischeres Bild der gegenwärtigen Gesellschaft, in dem sich Individuen private Nischen schaffen, in denen sie zivilgesellschaftliche Verhaltensweisen ein- und ausüben können, in denen sie etwas bewirken und ihre Energie und Aktivitäten einbringen können. Auch wenn es sich hierbei um ein Konzept handelt, das sich von Alexis de Tocquevilles Idee der Zivilgesellschaft stark unterscheidet, ist es immer noch ein gültiges Modell zivilgesellschaftlichen Handelns. Die von Putnam angebotene Definition eines zivilgesellschaftlichen Raumes, dessen Verschwinden er beklagt, ist in Realität nur eine der vielen Möglichkeiten, öffentliches Leben zu definieren. Die Idee des Gemeinwohls ist ein zeit- und raumgebundenes Konstrukt, das schon in der Zeit der frühen amerikanischen Republik als lediglich einer von vielen Wegen kollektiven Handelns galt. Für Thomas Jefferson war das Gemeinwohl nichts anderes als die Summe des Wohlergehens aller Individuen. Während er die grundsätzlichen Bürgerrechte des Individuums hartnäckig verteidigte, sah er keine Rechtfertigung dafür, diese Rechte auch auf Organisationen auszuweiten. So schrieb er in seinem Brief an den Gouverneur von New Hampshire, Christopher Plumer, bezüglich dessen Bemühungen, das Dartmouth College40 zu reValley, in: U.S. News and World Report, 1999; D. Ignatius, Charity Drought in Riches, in: The Idaho Statesman, 5. Juni 1999. 39 Robert D. Putnam, Bowling Alone. America’s Declining Social Capital, in: Journal of Democracy 6 (1995), 65–78; ders., Bowling Alone, New York 2000. 40 Zur Bedeutung des Falles des Dartmouth College für die Entwicklung der amerikanischen Philanthropie siehe Mark D. McGarvie, The Dartmouth College Case and the
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organisieren, dass die Idee, dass eine Institution, die zum Wohle der Nation errichtet wurde, nicht im Interesse derselben reorganisiert werden könne, da der Institution Rechte verliehen worden seien, die sie vor staatlichem Eingriff schützen sollte. Diese Idee möge unabdingbar sein, um sich vor dem Missbrauch eines Monarchen zu schützen. Aber es sei völlig absurd davon auszugehen, dass dieselben Rechte sie vor dem Eingriff selbst der Nation schützen sollten. Und dennoch, so Jefferson, bedienten sich Rechtsanwälte und Pastoren dieser Argumentation und behaupteten, dass vorhergehende Generationen das Recht hätten, auf Ewigkeit gültige Gesetze zu schaffen, die man nicht ändern dürfte. Demzufolge könne man Gesetze schaffen, die für die Ewigkeit bindend wären, auf dass die Erde nicht von den Lebenden, sondern den Toten regiert werde.41 Jeffersons Sichtweise wurde von vielen Amerikanern außerhalb der Staaten Neuenglands begrüßt, was die geringe Dichte philanthropischer Institutionen in diesen Gebieten vor dem 20. Jahrhundert erklären mag. Im Gegensatz zu Jefferson sah Timothy Dwight im Gemeinwohl mehr als nur die Summe des Wohlergehens aller Individuen und bestand darauf, dass das Gemeinwohl nur unter Leitung aufgeklärter und gebildeter politischer und religiöser Führer erreicht werden könne. Dieses Modell gewann mit der Professionalisierung der Gesellschaft, der Entwicklung von Universitäten als Stätten von Lehre und Forschung und der Bürokratisierung der staatlichen, unternehmerischen und philanthropischen Verwaltung die Oberhand.42 Seine Durchsetzung wurde weniger durch den Willen der Wählerschaft oder der Marktwirtschaft als vielmehr durch die strategische Philanthropie der Eliten Neuenglands bedingt, die rasch das Potential philanthropischer Institutionen für die Ausübung von Macht und Einfluss erkannten.43
Legal Design of Civil Society, in: Lawrence J. Friedman u. Mark D. McGarvie (Hg.), Charity, Philanthropy, and Civility in American History, Cambridge 2003, 91–106. 41 Thomas Jefferson, Letter to Governor Christopher Plumer (1816), in: http://lcweb2.loc. gov/cgi-bin/query/r?ammem/mcc:@field(DOCID%2B@lit(mcc/078)). 42 G. M. Frederickson, The Inner Civil War. Northern Intellectuals and the Triumph of the Union, New York 1965; Robert H. Wiebe, The Search for Order, 1877–1920, New York 1967; Louis Galambos, The Emerging Organizational Synthesis in American History, in: Business History Review 44.3 (1970), 279–290; ders., Technology, Political Economy, and Professionalization. Central Themes of the Organizational Synthesis, in: Business History Review 57.3 (1983), 471–493; Martin J. Sklar, The Corporate Reconstruction of American Capitalism. The Market, the Law, and Politics, New York 1988. 43 Für ein Beispiel, mit welcher Klarheit das Bürgertum Neuenglands das Potential von Philanthropie und Vereinen als ein Gegengewicht zur Demokratie erkannte, siehe William Ellery Channing, Associations, in: Christian Examiner and General Review 7 (1829) (Neue Reihe Bd. 2), 105–140. Für einen Beleg dafür, wie das Bürgertum Kontrolle über öffentliche Einrichtungen ausübte, siehe Edward Everetts Darstellung des Lowell Instituts. Edward Everett, A Memoir of Mr. John Lowell, Jun. Delivered at the Introduction to the Lectures on His Foundation in the Odeon, 31st December, 1839, Boston 1840. Siehe auch Paul J. DiMaggio, Cultural Entrepreneurship in Nineteenth
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Mit der Herausbildung mächtiger Managergruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Vorstellung von öffentlichem Leben bereits eng mit philanthropischen Institutionen und ihren Aktivitäten identifiziert. Die große Ironie hinsichtlich der traditionellen Formen zivilgesellschaftlichen Engagements besteht jedoch darin, dass die Grundvoraussetzung für ihren Erfolg – Aufnahme in die Elite basierend auf Verdienst – auch die Ursache für ihre Zerstörung war, da die zuvor ausgeschlossenen katholischen, jüdischen und außer-europäischen Aufsteiger seit den 1960er Jahren die etablierten Eliten von ihren Führungspositionen zu verdrängen begannen. Diese Entwicklung zwang die alten Eliten dazu, ihre Konzeption des Gemeinwohls zu modifizieren und in eine stärker privatisierte Richtung zu drängen. Bei der Betrachtung dieser Beispiele wird die Gefahr einer ahistorischen Betrachtung und Analyse des zu konstatierenden institutionellen Wandels deutlich. So verwendet die Forschung beispielsweise oft noch ein Konzept, das von einer Dichotomie zwischen privater und öffentlicher Sphäre ausgeht und darauf aufbauend altruistisches und egoistisches Verhalten voneinander unterscheidet. Doch es ist anachronistisch, diese Trennlinie zwischen öffentlich und privat als universell und absolut zu sehen: In historischer Perspektive wird schnell deutlich, dass eine klare Unterscheidung zwischen beiden Sphären erst im Laufe des 17. Jahrhunderts in einigen westlichen Rechtssystemen entstand. Und erst im postrevolutionären Amerika erfuhr es seine Kodifizierung in der Erklärung der Bürgerrechte in den Verfassungen der Bundesstaaten, den ersten zehn Zusätzen zur amerikanischen Verfassung und in der Entscheidung des Obersten Gerichts der USA zum Dartmouth-Fall, die die Garantie der Versammlungsfreiheit in ein konstitutionell garantiertes Recht der Vereinigung ausdehnte. Es war sicher kein Zufall, dass die Grenzziehung zwischen der privaten und öffentlichen Sphäre genau zu jener Zeit erfolgte, in der sich der moderne Nationalstaat und die moderne Ökonomie herausbildeten. Aber selbst diese politischen und rechtlichen Entscheidungen etablierten kein generelles Recht auf philanthropisches Handeln. Die Bundesgerichte zögerten bis 1844, den amerikanischen Staatsbürgern dieses Recht einzuräumen. Die Bundesstaaten verhielten sich noch zurückhaltender. So kam es dazu, dass der Staat New York bis zur Reform seiner Sozialgesetze in den 1890er Jahren regelmäßig Testamentsbestimmungen hinsichtlich der Vererbung von Geld an wohltätige Institutionen für ungültig erklärte, da sie als nicht im öffentlichen Interesse erfolgend betrachtet wurden. Das Landesparlament erließ verschiedene Gesetze, die nicht nur Obergrenzen für die testamentarische Übereignung von Geldern für wohltätige Einrichtungen festsetzten, sondern auch deren Zahl. Noch in den zwanziger Jahren war es in
Century Boston, in: ders. (Hg.), Nonprofit Enterprise in the Arts. Studies in Mission and Constraint, New York, Oxford 1986, 41–61.
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Mississippi gesetzlich verboten, per Testament Geld oder Land religiösen oder wohltätigen Einrichtungen zu hinterlassen.44 Lester Salamon hat uns schon vor langer Zeit auf die Problematik unseres theoretischen Vorverständnisses hingewiesen, das sich eher als eine Hürde als ein Hilfsmittel bei der Analyse des Verhältnisses zwischen NonProfit-Organisationen und dem Staat erweist.45 Viel schwerwiegender noch erscheinen die Probleme, die sich aus stereotypen Annahmen ergaben, für die Betrachtung und Analyse der Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre sowie der Institutionen, deren Existenz von der Verortung dieser Grenzlinie abhängt. Auch wenn zeitgenössische Statuten und Regulierungen die Unterscheidung zwischen philanthropischen und genossenschaftlichen Aktivitäten klar herauszustellen scheinen, sollten wir uns dessen bewusst sein, dass diese Unterscheidung genauso neu ist wie die Trennung in öffentlich und privat. Am Ende des 19. Jahrhunderts gewährte die Steuergesetzgebung von Massachusetts und einer Reihe anderer Staaten allen auf Mitgliedschaft basierenden Organisationen eine Steuerbefreiung, ohne dabei zwischen genossenschaftlichen Zusammenschlüssen, Kreditgenossenschaften oder Versicherungsgesellschaften, Sportverbänden oder wohltätigen, erzieherischen und religiösen Organisationen zu unterscheiden. Im Gegensatz dazu beschränkte etwa Pennsylvania die Steuerbefreiung auf solche Organisationen, die nachweisen konnten, dass sie den größten Teil ihres Kapitals für die entgeltlose Unterstützung von hilfsbedürftigen Personen verwenden würden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg bildete sich im Zusammenhang mit der Generalisierung der Einkommenssteuer ein landesweiter Standard für die Besteuerung derartiger Organisationen heraus. Diese Entwicklung scheint gegenwärtig einen Endpunkt erreicht zu haben, da verschiedene Staaten die Steuerbefreiung von Non-Profit-Organisationen, die ja oft kommerzielle Unternehmen sind, auf den Prüfstand stellen. Langfristige Wandlungsprozesse hinsichtlich der Besteuerung und des gesetzgeberischen Umgangs mit Organisationen und Unternehmen des philanthropischen Sektors lassen sich nur über den Zeitraum von mehreren Jahrzehnten erkennen. Das sollte uns aber nicht dazu veranlassen, ihre Bedeutung zu ignorieren; schließlich spielen sie eine wichtige Rolle in der Bestimmung der Grenze zwischen privat und öffentlich sowie zwischen altruistisch und egoistisch. Eines der wohl wichtigsten Anzeichen für die Verschiebung von der linken bzw. kollektivistischen Vorstellung darüber, was das Gemeinwohl sei, hin zu einem konservativen bzw. individualistischen Konzept wurde mit der Entscheidung des Obersten Gerichts der USA in dem Prozess der Boy Scouts gegen Dale im Jahre 2000 deutlich. In diesem Gerichtsfall ging es um die 44 C. Zollmann, American Law of Charities, Milwaukee 1924, 45–46. 45 Salamon, Partners in Public Service.
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Frage, ob eine steuerbefreite Organisation wie die Pfadfinder dazu berechtigt seien, Homosexuelle von der Mitwirkung bei der Betreuung von Jungen auszuschließen. Der Oberste Gerichtshof entschied, dass die Boy Scouts nicht dazu gezwungen werden könnten, Gesetze zu befolgen, die gegen ihr Wertesystem verstießen. Da Homosexualität nicht mit den Werten und Vorstellungen der Boy Scouts vereinbar sei, könne man sie nicht zwingen, den betreffenden Mann als Betreuer zu akzeptieren. Diese Entscheidung sowie die Bereitschaft der Gerichte, religiösen bzw. glaubensbasierten Organisationen die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, ihres Geschlechts und ihres religiösen Glaubens zu ermöglichen, deutet auf eine neue Verortung der Non-Profit-Organisationen in der amerikanischen Gesellschaft hin. Darauf lässt auch die Zurückhaltung des Finanzamtes in Bezug auf die Begrenzung von Spenden oder den Missbrauch von Non-Profit-Organisationen für politische Zwecke schließen.46 In der Zeit des „mitfühlenden Konservatismus“ werden Philanthropie und Non-Profit-Organisationen wieder einmal für die Erreichung privater Zielsetzungen instrumentalisiert.
46 Siehe z. B. S. Strom, Billionaire Gives a Big Gift but Still Gets to Invest It, in: New York Times, 24. Februar 2006; R. J. Smith, The Delay-Abramoff Money Trail. Nonprofit Group Linked to Lawmaker Was Funded by Clients of Lobbyist, in: Washington Post, 31. Dezember 2005; S. G. Stolberg, Lobbyist’s Downfall Leads to Charity’s Windfall, in: New York Times, 6. Januar 2006.
VON ABBE BIS MOHN – STIFTUNGEN IN DEUTSCHLAND IM 20. JAHRHUNDERT Rupert Graf Strachwitz Am Beginn des 20. Jahrhunderts führten Entwicklungen, die zumindest auf den ersten Blick nur wenig miteinander zu tun hatten, dazu, dass das Stiftungswesen in Deutschland starken Veränderungen unterworfen wurde. Es begann eine Zeit der Umwälzungen und Beeinträchtigungen, die den größten Teil des Jahrhunderts andauern sollte. Dieser Befund steht in einem markanten Gegensatz zur Entwicklung des Stiftungswesens in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo im gleichen Zeitraum eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung beobachtet werden kann. Auf den ersten Blick könnten die Ursachen für diese Unterschiede in der diskontinuierlichen politischen Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert zu sehen sein. Bei näherer Untersuchung ergibt sich aber, dass dies allenfalls zum Teil zutrifft. Ziel dieses Beitrags ist es daher, die Entwicklung des Stiftungswesens in ihrem Verhältnis zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zu analysieren. Dabei wird es vor allem darum gehen, zu überprüfen, ob das Diktum von der korporatistischen Entwicklung der deutschen Gesellschaft1 auch auf das Stiftungswesen zutrifft. Sind auch die Stiftungen2, so ist zu fragen, so eng mit der Staatsmacht verschränkt, dass ihnen ein selbständiges Agieren in der Gesellschaft verwehrt ist? Können Phasen, in denen das Stiftungswesen enger an staatliche Vorgaben gebunden war, von solchen unterschieden werden, in denen sie freier agieren? Die Antworten, die im Folgenden versucht werden, sollen zugleich Auskunft darüber geben, ob und gegebenenfalls wo sich das deutsche vom amerikanischen Stiftungswesen unterscheidet.
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Eckhard Priller, Annette Zimmer, Helmut K. Anheier, Stefan Toepler u. Lester M. Salamon, Germany, in: Lester M. Salamon, Helmut K. Anheier, Regina List, Stefan Toepler u. S. Wojciech Sokolowski, Global Civil Society. Dimensions of the Nonprofit Sector, Baltimore 1999, 99–118, hier 109: „Germany provides a prime example of a corporatist regime“. Siehe auch Gerhard Lehmbruch, Der Beitrag der Korporatismusforschung zur Entwicklung der Steuerungstheorie, in: Politische Vierteljahresschrift 37 (1996), 735– 751. Unter Stiftungen sind hier im Wesentlichen alle Stiftungen zu verstehen, d. h. zum einen sowohl die rechtsfähigen Stiftungen bürgerlichen Rechts gemäß dem am 1. Januar 1900 in Kraft getretenen Bürgerlichen Gesetzbuch als auch die so genannten nicht rechtsfähigen oder treuhänderischen Stiftungen, zum anderen sowohl die reinen Eigentumsträgerstiftungen als auch die operativen, fördernden und mildtätigen Stiftungen.
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DAS STIFTUNGSWESEN VOR 1900 Zunächst sah es vor der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht danach aus, als ob das in Deutschland seit Jahrhunderten blühende Stiftungswesen in eine Krisensituation geraten würde.3 Im Gegenteil: es erhielt, ähnlich wie in den USA, neue Impulse. Die fortschreitende Industrialisierung führte dazu, dass im Bürgertum auch außerhalb traditioneller Bürgerzentren wie Hamburg, Frankfurt am Main oder Leipzig, aber durchaus auch dort, große Vermögen angehäuft wurden. Nicht zuletzt die Emanzipation und der Aufstieg des jüdischen Bürgertums ließen auch in klassischen Residenzstädten wie Berlin bürgerliche Familien in großer Zahl den traditionellen Eliten nicht nur im Hinblick auf die Teilhabe am politischen Leben, sondern auch in Bezug auf ihre Vermögensverhältnisse den Rang streitig machen.4 Aus Motiven ganz unterschiedlicher Art, die von der Optimierung ihrer gesellschaftlichen Anerkennung über religiöse und ethische Beweggründe bis zu rationalen politischen Überlegungen reichten, traten Vertreter dieser neu entstehenden Eliten gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt als Stifter in Erscheinung. So heißt es etwa über den Mäzen James Simon, der vor allem durch seinen Ankauf der berühmten Nofretete-Büste für die Berliner Museen bekannt wurde: James Simon hatte Philanthropie zuerst durch das Beispiel seines Vaters und besonders seines Onkels Louis kennengelernt, der sich für wohltätige Zwecke einsetzte: Louis Simon unterstützte das jüdische Krankenhaus, förderte Diakonissen-Stiftungen wie Armenprogramme des Berliner Magistrats. […] An wie vielen Hilfsvereinen [James] Simon wirklich beteiligt war (schätzungsweise fast 60) […] ist nicht mehr rekonstruierbar. Simon gab kontinuierlich etwa ein Drittel seines Einkommens allein für humanitäre Ziele aus.5
Ganz neu war dies nicht. Schon die Kaufmannsfamilie Fugger in Augsburg hatte im 16. Jahrhundert die Gründung von Stiftungen unter anderem als Mittel zum gesellschaftlichen Aufstieg gesehen und genutzt. Der Weg vom armen Zuwanderer über den Patrizier und Bankier von Kaisern zum Reichs3
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Vgl. Michael Borgolte, Stiftungen und Stiftungswirklichkeit – vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Berlin 2000; Axel Freiherr v. Campenhausen, Geschichte des Stiftungswesens, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Handbuch Stiftungen, Wiesbaden 1998, 23–46; Hans Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts, Bd. 1. Geschichte des Stiftungsrechts, Tübingen 1963; Dieter Pleimes, Weltliches Stiftungsrecht, Geschichte der Rechtsformen, Weimar 1938. Vgl. Cella-Margarethe Girardet, Jüdische Mäzene für die Preußischen Museen zu Berlin. Eine Studie zum Mäzenatentum im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Frankfurt / Main 2000. Siehe auch Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004. Bernd Schultz, Der vergessene Mäzen, in: ders. (Hg.), James Simon. Philanthrop und Kunstmäzen, München 2006, 10–24, hier 12; s. auch 10–24; Olaf Matthes, Die Kunst des sinnvollen Gebens. James Simon als Philanthrop, in: Schulz (Hg.), James Simon, 140–150.
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fürsten war von philanthropischen Aktivitäten begleitet, die von vornherein darauf angelegt waren, in ihrer Wirkung die Lebenszeit der Stifter zu überdauern, freilich solchen, durch die sich namentlich Jakob Fugger als Anhänger der katholischen Lehre dem herrschenden Trend in seiner Stadt Augsburg entgegenstemmte.6 Verstärkt kennen wir seit dem 18. Jahrhundert bürgerliche Stifter, die sich mit ihren Stiftungen, sei es zu Lebzeiten, sei es durch letztwillige Verfügung, ein Denkmal zu setzen verstanden. Die Stiftungen Johann Heinrich Senckenbergs (gegründet 1763)7 oder Johann Friedrich Städels (gegründet durch Testament 1816) in Frankfurt8 sind dafür Beispiele. Wenn Senckenberg allerdings bestimmte: „Meine Stiftung soll allseits separat bleiben und niemals vermengt mit Stadtsachen, damit nicht die Gewalt darüber in fremde Hände falle“9, dann zeigen sich hier Anfänge einer Entfremdung zwischen Bürger und Stadt, die in einem vorsichtigen Misstrauen gegen die städtischen Stiftungsverwalter ihren Ausdruck findet. So wie die Staatsgewalt den Stiftungen zunehmend kritisch gegenüberstand10, so standen auch die Stifter der Staatsgewalt kritischer gegenüber. Dennoch erfuhr die organisierte Philanthropie ohne Zweifel in der zweiten Hälfte des 19. und den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts durch große bürgerliche Stiftungen neue, wichtige Impulse. Auf beiden Seiten des Atlantiks begleiteten Stiftungen in hohem Maße die Herausbildung neuer Eliten.11 Betrachtet man die Stiftungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktionen, d. h. der Frage, ob sie primär als Eigentümer, Betreiber von Einrichtungen oder Projekten, Förderer von Einrichtungen oder Projekten oder mildtätigen Hilfseinrichtungen auftreten, ist in dieser Zeit ein Wandel festzustellen. Traditionell bildete die als Eigentümerin etwa einer Kirche konzipierte Stiftung bei weitem den häufigsten Funktionstypus. Ihre Entstehung beruhte schon seit dem Frühmittelalter überwiegend auf dem Gedanken, dass die Stifter 6
Vgl. Benjamin Scheller, Memoria an der Zeitenwende. Die Stiftungen Jakob Fuggers des Reichen vor und während der Reformation, Berlin 2004. 7 Vgl. Horst Naujoks u. Gert Preiser (Hg.), 225 Jahre Dr. Senckenbergische Stiftung (1763–1988). Frankfurter Beiträge zur Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Bd. 10, Hildesheim 1991. 8 Rupert Graf Strachwitz, Die Stiftung des Barons von Brukenthal, in: Archiv für Familiengeschichtsforschung 9.1 (2005), 52. 9 Ralf Roth, Der Toten Nachruhm. Aspekte des Mäzenatentums in Frankfurt am Main (1750–1914), in: Jürgen Kocka u. Manuel Frey (Hg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert, Berlin 1998, 99–127, hier 110. 10 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (Der Rechtslehre zweiter Teil – Erster Abschnitt: Das Staatsrecht), Königsberg 1797. Siehe hierzu Rupert Graf Strachwitz, Die Stiftung in Kants Metaphysik der Sitten, in: Zeitschrift für Stiftungswesen, Berlin 3 (2007), 99ff. 11 Thomas Adam, Philanthropy and the Shaping of Social Distinctions in Nineteenth Century U.S., Canadian, and German Cities, in: ders. (Hg.), Philanthropy, Patronage, and Civil Society. Experiences from Germany, Great Britain, and North America, Bloomington 2004, 15–33, hier 17.
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zwar ein religiöses Anliegen in der Form eines Kirchenbaus verfolgen wollten und sich darin auch mit dem Bischof einig wussten, aber doch eine gewisse Separierung ihrer Zuwendung von den Teilen des Kirchenvermögens anstrebten, die der freien Verfügung des Bischofs unterlagen. Gerade dieser Stiftungstyp hatte – und hat bis heute – alle politischen Umwälzungen überstanden. Rund 50.000 solcher Stiftungen, deren wesentliche Aufgabe darin besteht, die Eigentümerfunktion eines Kirchengebäudes darzustellen und dieses Gebäude dadurch vor Zweckentfremdung zu schützen, bestehen bis heute.12 Diesen in manchem nah verwandt waren die so genannten Pfründestiftungen. Auch diese wurden kirchlichen Stellen anvertraut, allerdings mit der Maßgabe, dass sie den Unterhalt von Pfarrern und anderem Kirchenpersonal gewährleisten sollten. Die Ausstattung konnte von Häusern, in denen die Pfarrer leben, über Gärten und landwirtschaftliche Flächen, auf denen sie eine Ökonomie betreiben, bis zu sonstigen rentierlichen Vermögenswerten reichen. Beide Typen entwickeln naturgemäß kaum korporative Kreativität und bleiben jedenfalls gesellschaftlich passiv. Einen dritten Typus verkörperte – auch zum Teil schon seit Jahrhunderten – die so genannte Handgeldstiftung, die in der Regel durch die Übertragung eines Barkapitals an eine bereits bestehende Körperschaft entstanden war. Diese Körperschaft – Kirche, Kloster, Stadtgemeinde, Universität oder bereits bestehende Stiftung – hatte dafür zu sorgen, dass dieses Kapital Zinsen erbrachte, welche nach den Vorgaben des Stifters verwendet werden konnten.13 Zwar war der Erhalt solcher, in aller Regel relativ kleiner Stiftungen stark vom Geschick und vom Verantwortungsbewusstsein ihrer Verwalter, ebenso aber auch von einer gewissen politischen und wirtschaftlichen Stabilität abhängig. Die Zwecke, die mit solchen Stiftungen verfolgt werden sollten, reichten von Kerzen- und Messstipendien über Studienstipendien bis zu breit gefächerten Maßnahmen der Armen- und Krankenhilfe.14 Dass auch eine Stiftung dieser Art erhebliches Konfliktpotential zwischen Stifter und Staat bergen konnte, zeigt das Beispiel einer Stiftung, die der Berliner Universität unter der Bedingung zugute kommen sollte, dass Frauen zum Studium zugelassen würden und die deshalb von der Universität abgelehnt
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Vgl. Rupert Graf Strachwitz, Traditionen des deutschen Stiftungswesens – ein Überblick, in: ders. u. Florian Mercker (Hg.), Stiftungen in Theorie, Recht und Praxis. Handbuch für ein modernes Stiftungswesen, Berlin 2005, 33–45, hier 36f. Siehe auch Axel v. Campenhausen, Geschichte des Stiftungswesens, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Handbuch Stiftungen. Ziele, Projekte, Management, rechtliche Gestaltung, Wiesbaden 2003, 19–42. 13 Siehe z. B. Helmut Börner, Die Stiftungen der Stadt Memmingen, in: Maecenata Actuell 16 (1999), 19ff. 14 Frank Rexroth, Stiftungen und die Frühgeschichte von Policey in spätmittelalterlichen Städten, in: Michael Borgolte, Stiftungen und Stiftungswirklichkeiten. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Berlin 2000, 111–133, hier 111ff.
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wurde.15 In der Regel allerdings waren solche Stiftungen auf ihren oft staatlichen Destinatär ausgerichtet und entfalteten nur in Ausnahmefällen eine alternative Tätigkeit. Einen vierten Typus bildete die so genannte Anstaltsträgerstiftung. Häufiger als andere ging diese nicht auf einen einzelnen Stiftungsakt mit einmaliger Vermögensdotation zurück, sondern entstand über einen längeren Zeitraum hinweg durch immer wieder neue Zustiftungen. Auch erwirtschaftete eine Stiftung dieser Art regelmäßig, wenn auch nicht immer ausschließlich, durch ihre Tätigkeit selbst Einnahmen, ohne dass das Kernprinzip jeder Stiftung – die Bindung an den bei der Gründung niedergelegten Stifterwillen – dadurch verletzt worden wäre. Die Stärke dieses Stiftungstyps kann als Beleg dafür dienen, dass die amerikanisch geprägte Definition einer Stiftung als rentierliche Vermögensmasse zumindest für Deutschland zu eng ist. In gewissem Sinn kann auch die Fuggerei, die bedeutendste der Fuggerschen Stiftungen, hierfür als Beispiel dienen. Zwar mussten und müssen die Bewohner nur einen sehr geringen Mietzins entrichten, der die Kosten bei weitem nicht deckt, aber das Prinzip von Leistung und Gegenleistung wird dennoch aufrechterhalten.16 Zu diesem Typ, der in seinen Zielen keineswegs auf traditionelle soziale Tätigkeiten beschränkt war, gehören auch die Senckenbergische Stiftung oder das Städelsche Kunstinstitut, die beide nach dem Willen ihrer Stifter ihre Einrichtungen selbst betreiben, aber auch die bereits 1701 gegründeten Franckeschen Stiftungen in Halle, von einem protestantisch-pietistischen Pfarrer ohne eigenes Vermögen initiiert, durch große, insbesondere aber auch durch kleine Spenden in die Lage versetzt, umfangreiche eigene Bildungseinrichtungen zu unterhalten, und zu einem nicht geringen Teil durch den Druck und erfolgreichen Verkauf von Bibeln finanziert.17 Gerade im 19. Jahrhundert gewann die operative Anstaltsträgerstiftung erheblich an Bedeutung, indem bedeutende soziale Einrichtungen als Stiftungen gegründet wurden. Die durch die frühe Industrialisierung, die Landflucht, das Aufbrechen traditioneller sozialer Gemeinschaften und den rasanten Anstieg der Einwohnerzahlen entstandenen sozialen Nöte, die Verelendung weiter Teile der Bevölkerung, aber auch der medizinische Fortschritt und der Ruf nach neuen Bildungseinrichtungen führten zur Begründung zahlreicher großer, operativ tätiger Stiftungen. In Frankfurt am Main etwa stifteten Louise v. Rothschild und ihre Tochter Hannah Louise zum Andenken an Mayer Carl Rothschild die Stiftung Carolinum, eine Zahnklinik, die auch Forschungszwecken dienen sollte. 18 15 Thomas Adam, Stiften in deutschen Bürgerstädten vor dem Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33.1 (2007), 46–72, hier 51. 16 Vgl. Scheller, Memoria an der Zeitenwende. 17 Vgl. Helmut Obst, A. H. Francke und die Franckeschen Stiftungen in Halle, Göttingen 2002. 18 Roth, Der Toten Nachruhm, 102.
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Die von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel sind bis heute das bekannteste Beispiel einer Anstaltsträgerstiftung aus dem 19. Jahrhundert.19 Sie beschäftigen als eine der größten Einrichtungen der stationären Behindertenhilfe Deutschlands heute über 12.000 Mitarbeiter und sind ungeachtet ihrer unabhängigen Struktur und ihrer konfessionellen Bindung fest in das Gesamtsystem des Wohlfahrtsstaates eingebunden. Andere Beispiele etwa gleicher Entstehungszeit für Sozialeinrichtungen in Stiftungsform sind die Evangelische Stiftung Neuerkerode, gegründet 1870 von dem lutherischen Pastor Gustav Stutzer20, oder die Stiftung Liebenau, gegründet im gleichen Jahr von dem katholischen Kaplan Adolf Aich21. An der Ruhr sind zehn von zwölf heute bestehenden Krankenhausträgerstiftungen Gründungen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts22, davon sieben katholische, vier evangelische und eine überkonfessionelle. In Leipzig entstanden in dieser Zeit zehn Stiftungen für Wohnungsbau und Genesungsheime mit einem Gesamtaufwand von über zwanzig Millionen Mark.23 An diesen Beispielen wird ein Dilemma deutlich. Einerseits gehörte eine aktive Wohlfahrtspolitik zunehmend zum Selbstverständnis des modernen Staates. Letztlich die in der Bismarck-Zeit grundgelegten Systementscheidungen fortentwickelnd, haben seitdem alle deutschen Staatswesen – ob Demokratie oder Diktatur – Legitimität durch Sozialpolitik gesucht.24
Der Staat empfand sich auf diesem Feld als primärer Gestalter und war und ist über die gesetzlichen Sozialversicherungssysteme der primäre Partner in der Finanzierung der Leistungen. Andererseits war dieser Staat in realistischer Beurteilung seiner Möglichkeiten für den Vollzug dieser Wohlfahrtspolitik auf nicht-staatliche Akteure zwingend angewiesen. Umfang und Gewicht dieser Akteure nahmen beständig zu. Die Lösung suchte der Staat in der Begründung von gesetzlich untermauerten Abhängigkeitsverhältnissen, die durch Vokabeln wie Subsidiarität letztlich nur kaschiert wurden.25 19 Martin Gerhart, Friedrich v. Bodelschwingh. Ein Lebensbild aus der deutschen Kirchengeschichte, 2 Bde, Bielefeld-Bethel 1980. 20 Frank Adloff u. Andrea Velez, Operative Stiftungen – eine sozialwissenschaftliche Untersuchung zu ihrer Praxis und ihrem Selbstverständnis, in: Frank Adloff (Hg.), Untersuchungen zum deutschen Stiftungswesen 2000–2002, vier Forschungsberichte, Berlin 2002, 67. 21 Ebd., 63. 22 Klaus Neuhoff, Denkmäler des Gemeinsinns. Zur Geschichte des Stiftungswesens an der Ruhr, in: Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Hg.), Stifter und Staat. Ausgewählte Beiträge zu Geschichte und Gegenwart des Stiftungswesens, Essen 2006, 43–54, hier 51. 23 Adam, Stiften in deutschen Bürgerstädten, 55. 24 Andreas Wirsching, Zwischen Entstaatlichung und Überforderung. Historische Überlegungen zum Staatsverständnis in Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Maecenata Actuell 58 (2006), 3–6, hier 4. 25 Vgl. Rupert Graf Strachwitz, Social Catholic Theory and the Principle of Subsidiarity,
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Das Beispiel, das das Konfliktpotential zwischen privaten Stiftern und dem Staat eindrücklich beleuchtet, ist die Gründungsgeschichte der Universität Frankfurt am Main, die 1912 von 73 Frankfurter Bürgern begründet wurde.26 Unser Universitätswesen leidet mehr und mehr an Verstaatlichung […]. Wenn aber Stiftungsgelder den Vermögensstock der neuen Universität bilden, wird es ganz anders möglich sein, auch anderen Elementen und Kreisen Einfluß auf die Gestaltung des Fakultätsunterrichts etc. zu verschaffen,
schrieb Oberbürgermeister Franz Adickes kurz vor der Jahrhundertwende werbend an einen der Hauptstifter, den Fabrikanten Wilhelm Merton.27 Anlass der Gründung und der besonderen Unterstützung durch die jüdischen Bürger war hier auch die Tatsache, dass Juden an preußischen Universitäten keinen Lehrstuhl erhalten konnten.28 Das Misstrauen der preußischen Verwaltung gegenüber diesem Vorhaben war groß, die Schwierigkeiten erschienen kaum überwindbar. Als letzte Hürde wurde der Initiative mangelnde finanzielle Ausstattung vorgehalten, worauf die Stifter binnen sechs Wochen zusätzliche sechs Millionen Goldmark aufbrachten, um das Werk zu vollenden. Die Staatsverwaltung allerdings ruhte über Jahrzehnte nicht, bis sie ihr Ziel erreicht hatte, den Stiftungscharakter der Universität zu beseitigen. Insgesamt ist festzuhalten, dass Stiftungen in Deutschland bis zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts in sehr unterschiedlichen Konstellationen und mit sehr unterschiedlicher Zielsetzung entstanden sind. Individualstiftungen stehen neben kollektiven Sammlungsinitiativen29, bürgerliche Gründungen neben adeligen, operative Funktionen neben fördernden, soziale neben kulturellen und bildungsfördernden usw. Von einem einheitlichen Stiftungswesen kann in keiner Weise gesprochen werden. Die deutsche Stiftungslandschaft stellte sich zum Ende des 19. Jahrhunderts, was die Zahl der Stiftungen betrifft, im Wesentlichen als aus Kirchenstiftungen, großen Anstaltsträgern und kleinen Förderstiftungen bestehend dar. Der entstehende „Sozial- und Interventionsstaat“30 allerdings gewann in dieser Zeit zunehmend an Einfluss.
in: Journal of Civil Society, i.E. Ralf Roth, Der Toten Nachruhm, 105ff. Ebd., 111. Siehe hierzu Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum, 646. Stephen Pielhoff, Zwischen Bedürftigkeit und Begabung. Ausbildungsförderung als Aufgabe bürgerlicher Privatwohltätigkeit in Hamburg, Dortmund und Münster 1871– 1925, in: Jonas Flöter u. Christian Ritz (Hg.), Bildungsmäzenatentum. Privates Handeln – Bürgersinn – kulturelle Kompetenz seit der Frühen Neuzeit, Köln 2007, 311–345, hier 326. 30 Vgl. Wirsching, Zwischen Entstaatlichung und Überforderung. 26 27 28 29
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EIN NEUER STIFTUNGSTYP Wenn auch all diese Formen bis heute überlebt und zumindest die Letzteren weiterhin gegründet wurden, wurden sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch einen neuen Typus ergänzt: die mit erheblichem Vermögen ausgestattete, sich selbst verwaltende, aber keine Einrichtungen betreibende Förderstiftung, die entweder eine schon in der Satzung bestimmte Einrichtung finanziell unterstützt oder selbst Einrichtungen oder deren Projekte hierfür auswählt. Dass diese sich heute bisweilen als der klassische Stiftungstyp schlechthin präsentiert, ist für Deutschland weder historisch noch empirisch haltbar, sondern spiegelt eine amerikanische Betrachtungsweise wider. Aber es ist nicht zu leugnen, dass diese Stiftungen dem Stiftungswesen insgesamt eine neue Dimension hinzugefügt haben. Dies gilt umso mehr, als sie einerseits als Eigentümerinnen ganzer Unternehmen eine Bedeutung erlangten, die mit der Verwirklichung ihrer Zwecke nichts zu tun hatte, und sich andererseits dieser Typ außerhalb Deutschlands und namentlich in den USA immer mehr durchzusetzen begann. Das herausragende Beispiel für diese Stiftung neuer Art war die 1889 gegründete Carl-Zeiss-Stiftung in Jena, gegründet von Ernst Abbe, dem Partner von Zeiss beim Aufbau eines der größten Unternehmen Deutschlands und zugleich Wissenschaftler, der seiner ständig an finanziellen Nöten leidenden Universität Jena verbunden blieb und diese finanziell unterstützen wollte.31 Für das kleine Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach war der Zuwachs an Finanzkraft keineswegs nur Grund zur Freude. In einer Zeit, in der die Durchsetzung von Staatsautorität gerade auch gegenüber privaten Gemeinwohlinitiativen zu einem Paradigma staatlichen Handelns geworden war, konnte eine unabhängige Fördereinrichtung dieser Größe nicht wünschenswert sein, übrigens auch nach dem Verständnis des Stifters selbst. Bis zu seinem Tod war der nach wie vor aktive Hochschullehrer Abbe sorgsam darauf bedacht, dass seine Kollegen nicht erführen, woher der finanzielle Segen käme. Dennoch sah sich Abbe einem bürokratischen Verzögerungsverfahren und einer Aufsichts- und Kontrollsucht der Behörden ausgesetzt, die ihn an seinem Vorhaben verzweifeln ließen, begleitet übrigens von Vorwürfen, er betreibe mit seinem Stiften den Umsturz der herrschenden Ordnung. Diese Vorwürfe, die in dem ausgeprägten Sozialverständnis Abbes, seinen Versuchen, auch durch intensive Kontakte mit Vordenkern anderer politischer Couleur wie August Bebel Lösungen für die brennenden sozialen Probleme zu entwickeln und der ausdrücklichen zweiten Zielsetzung seiner Stiftung – der Begünstigung der Mitarbeiter der stiftungseigenen Unternehmen – ihren Ur31 Rüdiger Stolz u. Joachim Wittig (Hg.), Carl Zeiss und Ernst Abbe. Leben, Wirken und Bedeutung. Wissenschaftshistorische Abhandlung, Jena 1993. Siehe auch Rupert Graf Strachwitz, Ernst Abbe. 1840–1905, in: Joachim Fest (Hg.), Die großen Stifter, Berlin 1997, 135–160, hier 139ff.
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sprung hatten, trugen weit über den Einzelfall hinaus den Stiftungen insgesamt vorübergehend den Verdacht ein, sie seien Vorkämpfer des Umsturzes – die letzte grundlegende öffentliche Auseinandersetzung über den gesellschaftlichen Stellenwert von Stiftungen bis heute.32 Dass Abbe einige Jahre vor den ersten großen amerikanischen Stiftungsgründern John D. Rockefeller (1910) und Andrew Carnegie (mehrere Stiftungen; Carnegie Corporation of New York 1911) handelte, widerlegt die Vermutung, der neue Stiftungstyp sei aus den USA nach Deutschland gekommen. Vielmehr wird durch die Gründungsdaten die Vermutung gestützt, der Impuls zu Stiftungsgründungen habe ganz generell neben exorbitantem privatem Wohlstand als Voraussetzung für die Einbringung von Vermögen und einer gewissen Offenheit für soziale Mobilität auch aktuelle gesellschaftliche Krisensituationen zur Voraussetzung. Rockefellers und Carnegies Gründungen standen in engem zeitlichen Zusammenhang mit sozialen Verwerfungen in den USA einerseits und anderen Antworten darauf andererseits (z. B. der Gründung der ersten amerikanischen Community Foundation in Cleveland / Ohio 1914)33, während Abbes Stiftungsgründung zeitlich und als bürgerschaftliche Antwort auf diese der Bismarckschen Sozialgesetzgebung (1883–1889) näher war. Auch das milieuübergreifende Anliegen der amerikanischen Initiatoren war den deutschen Gründern fremd, im Gegenteil, die Gründungen repräsentieren ein Stück weit die „kulturelle Versäulung“ der wilhelminischen Gesellschaft.34 NEUE RAHMENBEDINGUNGEN Zwei weitere Entwicklungen, die das Stiftungswesen um die Wende zum 20. Jahrhundert nachhaltig prägten, waren gänzlich anderer Natur, doch wird anhand des zuletzt geschilderten Beispiels bei näherer Betrachtung ein Zusammenhang erkennbar. Zum einen kam die fast ein Jahrhundert währende, maßgeblich von Friedrich Karl v. Savigny geprägte juristische Diskussion35 32 Vgl. Jürgen John, Abbes Sozialpolitik in ihrer Zeit, in: Stolz u. Wittig (Hg.), Carl Zeiss und Ernst Abbe, 458–488, hier 476. 33 Die Gründung der ersten amerikanischen Community Foundation hängt eng mit Überlegungen zusammen, durch auf die ganze lokale Gemeinschaft bezogene Organisationen dem befürchteten oder tatsächlichen Auseinanderfallen dieser Gemeinschaften in ethnisch oder religiös bestimmte Subsysteme entgegenzuwirken. 34 Stephen Pielhoff, Stifter und Anstifter. Vermittler zwischen Zivilgesellschaft, Kommune und Staat im Kaiserreich, in: Geschichte und Gesellschaft 33.1 (2007), 10–45, hier 23 (Anm. 58). 35 Friedrich Karl v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 2, Berlin 1840. Siehe hierzu grundlegend Andreas Richter, Rechtsfähige Stiftung und Charitable Corporation. Überlegungen zur Reform des deutschen Stiftungsrechts auf der Grundlage einer historisch-rechtsvergleichenden Untersuchung der Entstehung des modernen deutschen und amerikanischen Stiftungsmodells, Berlin 2001.
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um die Einbindung der Stiftungen in das Gesetzeswerk des modernen Verfassungsstaates am 1. Januar 1900 mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches zu einem vorläufigen Abschluss. Schon seit 1833 bedurften Stiftungsgründungen, die mit einem Kapital von mehr als 1.000 Talern verbunden waren, in Preußen auf gesetzlicher Grundlage einer landesherrlichen Genehmigung. In den meisten anderen deutschen Staaten hatte sich diese Praxis gewohnheitsrechtlich eingebürgert. Nunmehr war erstmals für das gesamte Reichsgebiet der Grundsatz normiert, dass alle Stiftungen, die als juristische Personen im Rechts- und Geschäftsverkehr auftreten wollten, zu ihrer Entstehung einer staatlichen Genehmigung bedurften und staatlicher Aufsicht unterlagen. Zwar hatten bereits früher, seit der Aufhebung der Stiftungen in den Teilen Deutschlands, in denen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorübergehend französisches Recht zur Anwendung gekommen war, und seit der großen Auseinandersetzung um das Städelsche Erbe nach 1815, Landesbehörden den Anspruch durchzusetzen versucht, die Entstehung und die Tätigkeit von Stiftungen Genehmigungsvorbehalten zu unterwerfen. Dies war jedoch nur teilweise gelungen, nicht nur, weil gerade die kleineren Staaten insbesondere auf die kirchlichen Anstalten so sehr angewiesen waren, dass sie vor allzu einschneidenden Maßnahmen zurückschreckten, sondern auch, weil in den traditionellen Bürgerstädten das Stiften als bürgerschaftliches Handeln stark verankert war. Erst im Zuge der allgemeinen Tendenz, gesellschaftliches Handeln jedweder Art staatlicherseits zu beaufsichtigen, was auch die Wirtschaftsunternehmen und in hohem Maße die korporativen Vereinigungen betraf, konnten die Stiftungen zunehmend in diese Regelungsmechanismen eingefügt werden (man sprach von Stiftungspolizey). Die Erarbeitung und Inkraftsetzung des BGB bildete den Schlusspunkt dieser Entwicklung. Dass man hierbei nur auf die Rechtsfähigkeit rekurrierte und daher den zahlenmäßig sicher größeren Bestand an nicht rechtsfähigen Stiftungen36 außer Acht ließ, hatte neben formalen juristischen Gründen wohl vor allem damit zu tun, dass Letztere nicht ganz zu Unrecht als wirtschaftlich unbedeutend und als im Falle kirchlicher Trägerschaft von den Kirchen selbst, im Falle der von Universitäten und Stadtverwaltungen mittels anderer staatlicher Kontrollmechanismen überwachbar ansah. Private Stiftungstreuhänder waren zu dieser Zeit noch nicht in nennenswertem Umfang in Erscheinung getreten. Allerdings ist auch in der rechtswissenschaftlichen Diskussion immer wieder bemängelt worden, durch die Ausklammerung dieser, dem angelsächsischen Trust vergleichbaren, Stiftungsform aus 36 Schon von jeher konnten Stiftungen einerseits als in sich abgeschlossene Körperschaften errichtet, andererseits einer bereits bestehenden Körperschaft (z. B. einer Stadt oder Universität) als Treuhänderin übereignet werden. Diese wurde dadurch zur rechtlichen Eigentümerin, die jedoch an den Willen des Treugebers (Stifters) gebunden blieb. Diese Treuhandstiftungen werden auch als rechtlich unselbständige, nicht rechtsfähige oder fiduziarische Stiftungen bezeichnet.
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dem Stiftungsrecht gehe dieses „an den eigentlichen Fragen dieses Rechtsgebiets vorbei“37. Den anderen bedeutenden Einschnitt bildete die Einführung von Ertragssteuern für Körperschaften, die zum Ende des 19. Jahrhunderts in den deutschen Ländern nach und nach stattfand (in Preußen 1891). Zum ersten Mal wurden nicht nur natürliche, sondern auch juristische Personen für eine Besteuerung herangezogen, wodurch die Frage aufgeworfen wurde, ob nicht für die Körperschaften, die nach eigener und obrigkeitlicher Einschätzung dem Gemeinwohl dienten und überdies eventuelle Überschüsse nicht an private Eigentümer ausschütteten, Ausnahmen geschaffen werden müssten. Dies erschien schon deshalb sinnvoll, weil gerade die Anstaltsträgerstiftungen solche Überschüsse zur Finanzierung der notwendigen Investitionen verwendeten, für die sie sonst staatliche Zuwendungen benötigten – jedenfalls so lange, als das Konzept des Wohlfahrtsstaates sich noch nicht so weit entwickelt hatte, dass staatliche Instanzen solche Umverteilungsmechanismen als Gestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten in den Blick nahmen. In der Tat wurde den dem Gemeinwohl dienenden Stiftungen die Befreiung von der Besteuerung gewährt – bis heute durch die Fachbegriffe „Steuerbegünstigung“ oder „-vergünstigung“ terminologisch als Gnadenakt der hoheitlichen Gewalt klassifiziert.38 Dadurch war allerdings auch die Frage der Begrenzung gestellt, die, so der Gesetzgeber, dort anzusetzen war, wo eine Stiftung nicht dem allgemeinen Wohl, sondern dem eines begrenzten Personenkreises, etwa einer Familie, diente. Die Abgrenzung von Stiftungszielen ist dabei in einem viel weitergehenden Kontext von Interesse, der insbesondere auch die Fideikommisse39 umfasste. Es stellte sich nämlich damit auch in Deutschland die ein Jahrhundert zuvor in Frankreich abschließend diskutierte staatstheoretische Frage, ob eine Herrschaft der toten Hand, der Toten über die Lebenden zu tolerieren sei.40 Diese wurde zunehmend als allzu 37 Pleimes, Weltliches Stiftungsrecht, 1. 38 Vgl. hierzu ausführlich Christian Flämig, Theorie der Besteuerung von Stiftungen, in: Strachwitz u. Mercker (Hg.), Stiftungen in Theorie, Recht und Praxis, 66–105, hier 66ff. Siehe auch Arno Hillebrecht, Zwei Menschenalter Gemeinnützigkeitsrecht der Stiftungen, Essen 1978. 39 „Ein Familienfideikommiss ist ein durch privates Rechtsgeschäft gebundenes Sondervermögen, das grundsätzlich unveräußerlich und unbelastbar ist (und) von bestimmten Familienmitgliedern nacheinander in einer von vornherein festgelegten Folgeordnung genutzt wird“ (aus einem Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts, 2004). Der Fideikommiss teilt insofern mit der Stiftung, der er als Institut nahe verwandt ist, die Bindung an den Ursprung und sieht sich daher dem gleichen Vorwurf der Herrschaft der toten Hand ausgesetzt, unterscheidet sich aber von der Stiftung hinsichtlich der Eigentümerstellung. Fideikommisse wurden wegen der demokratietheoretisch unerwünschten Herrschaft der toten Hand durch die Reichsverfassung von 1919 für verfassungswidrig erklärt, aber erst 1938 / 39 tatsächlich aufgelöst. 40 Hans Maier, Notwendigkeit und Luxus. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Staat und Stifter, in: Stifterverband (Hg.), Stifter und Staat, 77–94, hier 82.
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starke Behinderung der Eigentumsfreiheit und deshalb, weil Fideikommisse fast ausschließlich in adeligen Familien vorkamen, als Relikt einer vormodernen Epoche kritisiert. In der Diskussion darüber obsiegte zwar die traditionelle deutsche Position, dass gebundene Vermögen auch über Generationen Bestand haben können, allerdings mit der wesentlichen Einschränkung, dass die Erträge solcher Vermögen dem staatlicherseits definierten allgemeinen Wohl zugute kommen müssen. Nur mit Einschränkungen konnten und können solche Vermögen auch bestehen, wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist. Dies traf auf die so genannten Familienstiftungen41 zu, die der Ertragsbesteuerung und 1974 auch einer Erbersatzsteuer unterworfen wurden. Allerdings verdient es erwähnt zu werden, dass Familienstiftungen von jeher in Deutschland eine untergeordnete Bedeutung hatten. So wurden beispielsweise in Dresden zwischen 1870 und 1914 siebzig Prozent der Stiftungen mit sozialen Zielen, 24 Prozent mit Bildungszielen, aber nur zwei Prozent als Familienstiftungen gegründet. 42 Im vorliegenden Zusammenhang ist dabei vor allem der kontinuierliche Versuch der Staatsmacht von Interesse, zwischen Akzeptanz oder sogar Wünschbarkeit intermediärer Organisationen und Ablehnung eines polyarchischen Systems eine schlüssige Politik zu entwickeln. Was die Definitionshoheit des Staates hinsichtlich der gesellschaftlichen Notwendigkeiten und Prozesse betrifft, so gab es offenkundig darüber keine nennenswerte Kontroverse. Sie wurde, wie aus den Zielsetzungen der neu entstehenden Stiftungen ebenso hervorgeht wie aus Quellen zu älteren, nicht nur klaglos hingenommen, sondern sogar positiv beurteilt und aktiv mitgestaltet. Private Förderung und staatliches Handeln verschränkten sich bei eindeutiger Anerkennung staatlicher Dominanz unwidersprochen. Nicht, weil die Staatsorgane etwas versäumt hatten oder weil ihnen eine bestimmte Aufgabe nicht übertragen werden sollte oder gar nicht zugetraut wurde, sondern um diese bei der Erfüllung ihrer stets umfassenderen Aufgaben zu unterstützen, wurden Stiftungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg gegründet, eine Haltung, die erst viele Jahrzehnte später und auch dann nur partiell in Frage gestellt wurde. Allenfalls in Städten mit einer langen Tradition der Eigenständigkeit wie Hamburg oder Frankfurt am Main lebte traditioneller freier Bürgersinn fort und gebar gelegentlich Ausnahmen von dieser Regel, bis die Kommunalordnung von 1935 die gesetzliche Grundlagen autonomen kommu41 Familienstiftungen sind Stiftungen, deren Zweck die Unterstützung von Familienangehörigen ist. Der insoweit beschränkte Kreis der Destinatäre hat zur Folge, dass diese Stiftungen auch dann nicht als gemeinnützig oder mildtätig anerkannt werden können, wenn Zuwendungen nur Familienangehörigen zufließen sollen, die z. B. bedürftig oder in der Ausbildung sind. Prozentual liegt der Anteil solcher Stiftungen in Deutschland heute bei ca. zwei Prozent mit stark abnehmender Tendenz. 42 Simone Lässig, Bürgerlichkeit, Patronage, and Communal Liberalism, in: Adam (Hg.), Philanthropy, Patronage, and Civil Society, 198–218, hier 205.
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nalen Handelns und Gestaltens im Sinne des nationalsozialistischen Führerprinzips beseitigte. Das Erstaunliche an der deutschen Entwicklung ist, von heute aus gesehen, nicht so sehr der Anspruch des Staates auf Mitsprache, Gestaltungsmacht und Aufsicht […], sondern der ihm entgegenkommende, ihm zuarbeitende Gehorsam und Einordnungswille der Stifter. […] Daß die öffentliche Hand in Fragen der Wohlfahrt und des gemeinen Nutzens die besten Lösungen habe, gilt als unstrittige, kaum bezweifelte Geschäftsgrundlage zwischen Staat und Stiftungen.43
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich das Stiftungswesen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert stark entwickelt hat, zugleich aber in wachsendem Maße eine staatliche Einflussnahme auf die Gestaltung der Stiftungsarbeit hinnehmen musste. STIFTUNGEN IN STATISTIK, LITERATUR UND FORSCHUNG VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG Bedauerlicherweise lässt die Forschungslage weder Aussagen zum Gesamtbestand noch zu der Zahl der Neugründungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Deutschland insgesamt zu. Zwar erlauben etwa die Jahresberichte der Verwaltungsbehörden in Hamburg relativ genaue Rückschlüsse44 auf die dortigen Neugründungen in dieser Zeit und einzelne Bundesstaaten, z. B. Bayern (aber gerade nicht der mit Abstand größte Bundesstaat Preußen), gaben auch erstmals Gesamtverzeichnisse heraus; für Dresden allein sind etwa von 1870 bis 1914 788 Neugründungen nachgewiesen.45 Doch genügen diese Erkenntnisse nicht, um daraus auf die Gesamtzahlen für Deutschland zu schließen. Das kurz vor dem Ersten Weltkrieg als private Initiative gegründete Archiv Deutscher Stiftungen, welches „der volkswirtschaftlichen Erforschung der Stiftungen, ihrer Zwecke und ihrer Anlagen“ dienen sollte, hat offenkundig einschlägige Publikationen nie fertig gestellt.46 Insbesondere lässt sich die oft aufgestellte Behauptung, es habe vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland rund 100.000 Stiftungen gegeben47, weder beweisen noch widerlegen. Sie erscheint allerdings, versucht man aus vorhandenem Zahlenmaterial hochzurechnen, übertrieben und lässt sich, sollte sie einen wahren Kern enthalten, nur dadurch erklären, dass möglicherweise die Kirchen- und Kirchenpfrün43 44 45 46
Maier, Notwendigkeit und Luxus, 87. Pielhoff, Zwischen Bedürftigkeit und Begabung, 331. Lässig, Bürgerlichkeit, 204. Siehe Peter Rawert u. Andrea Ajzenstejn, Stiftungsrecht im Nationalsozialismus, in: Axel Freiherr v. Campenhausen, Herbert Kronke u. Olaf Werner (Hg.), Stiftungen in Deutschland und Europa, Düsseldorf 1998, 157–181, hier 165 (Anm. 46). Verwiesen wird hier insbesondere auf Quellen im Bundesarchiv Berlin R 36 / 1103–1108. 47 Siehe z. B. Michael Sonnabend, Sie sollten besitzen, als besäßen sie nicht – 1.000 Jahre Stiftungen in Deutschland, in: Stifterverband (Hg.), Stifter und Staat, 18–29, hier 20.
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destiftungen eingerechnet worden sind. Legt man die publizierten Verzeichnisse aus den Jahren zwischen 1900 und 1914, die für einzelne Städte und Regionen vorliegen, einem namensbezogenen Vergleich mit dem Bestand von 1950 zugrunde, so kann allenfalls von einer Gesamtzahl, ohne Kirchenstiftungen und treuhänderische Stiftungen48, von rund 30.000 (1914) gegenüber ca. 5.000 (1950 – Westdeutschland)49 ausgegangen werden. 50 Präzise feststellen lässt sich lediglich die Zahl der heute noch bestehenden Stiftungen, soweit sie entweder als rechtsfähige Stiftungen in den inzwischen relativ weitgehend publizierten Stiftungsverzeichnissen der Länder aufscheinen, sich selbst zur Eintragung in Datenbanken gemeldet haben oder aus anderen veröffentlichten Quellen übernommen werden konnten. Immerhin lassen die verfügbaren Angaben einen stetigen, allerdings nicht dramatischen Anstieg der Neugründungen erkennen:
48 Die nach Schätzungen ca. 100.000 Kirchen- und Kirchenpfründestiftungen, deren Zahl sich im Laufe des 20. Jahrhunderts vermutlich nur wenig verändert hat, wurden zu Beginn des Jahrhunderts ebenso wenig in Angaben über den Gesamtbestand einbezogen wie an dessen Ende, da sie eher als Sondervermögen der Kirchen ohne Außenwirkung gesehen wurden. Dies beinhaltet allerdings das Problem, dass sie auch bei der empirischen Betrachtung von Stiftermotiven, Gründungsbewegungen usw. (wie ich meine unzulässigerweise) außer Betracht gelassen wurden. Die treuhänderischen Stiftungen sind wegen ihrer Vielzahl, überwiegend geringen Größe und fehlenden Registrierungsverpflichtung bei Behörden der inneren Verwaltung ebenfalls von jeher nur lückenhaft erfasst worden und können daher in Vergleiche nicht einbezogen werden. 49 In der DDR sind zwischen 1950 und 1960 fast alle Stiftungen aufgelöst worden. 50 Die Zahl von 100.000 Stiftungen wird in den USA zu Beginn des 21. Jahrhunderts erreicht. Allerdings sind darin zahlreiche operative Einrichtungen und unselbständige Fonds, die nach deutschem Verständnis als Stiftungen zu klassifizieren wären, nicht enthalten, während andererseits der Einschluss der insgesamt schätzungsweise rund 100.000 Kirchen- und Kirchenpfründestiftungen in Deutschland zu ähnlichen Zahlen führen würde.
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Tabelle 1: Neugründungen 1880–193951 Gründungsdekade
Neue Stiftungen
1880–1889
113
1890–1899
122
1900–1909
157
1910–1919
166
1920–1929
175
1930–1939
177
Mit dieser Entwicklung geht im Zusammenhang mit dem zunehmenden rechts- und geisteswissenschaftlichen Interesse am Stiftungswesen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ein erkennbarer Anstieg der Fachliteratur einher.52 Von Handbüchern für die Allgemeinheit53 über Selbstdarstellungen und Chroniken reicht die Palette bis zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen sowohl historischer als auch juristischer Art. Dabei bilden die Diskussion um die Entwicklung des Stiftungsbegriffs seit der Antike, die Position der Stiftung im modernen Verfassungsstaat und das Verhältnis zwischen Stiftung und Kirche besondere Schwerpunkte. Die allgemeine Säkularisierung gesellschaftlicher Prozesse und die Konzentration gesellschaftlicher Gestaltungsmacht in staatlicher Hand spiegelt sich in der Erörterung des Stiftungswesens durch einen Übergang von der pia causa zur utilis causa oder utilitas publica wider, wobei die Definition des utilis mit den Instrumenten staatlicher Eingriffe, insbesondere der Besteuerung, dem Stifter zunehmend entwunden wird.54 Davon relativ unbeeinflusst bleiben lediglich die recht zahlreichen Untersuchungen zum antiken Stiftungswesen, deren Entstehung eher dem allgemeinen Interesse an den Altertumswissenschaften als dem an den Stiftungen geschuldet ist. 55 51 Die Angaben sind der beim heutigen Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt Universität zu Berlin seit 1989 aufgebauten und kontinuierlich weiterentwickelten Stiftungsdatenbank entnommen. Vgl. Rainer Sprengel u. Thomas Ebermann, Statistiken zum deutschen Stiftungswesen – ein Forschungsbericht, Stuttgart 2007. Die Zahlen geben im Übrigen einen weiteren Anhaltspunkt dafür, dass die genannte Gesamtzahl von 100.000 unplausibel ist. 227 erhaltene Neugründungen aus der Zeit von 1900 bis 1914, einer offenkundig stifterfreundlichen Periode, würden davon 0,027 % ausmachen, d. h. bei konstanter Entwicklung würde die Gründung von 100.000 Stiftungen rund 4.000 Jahre dauern. 52 Evgueni Preine, Stiftungsliteratur 1870–1914, in: Maecenata Actuell 58 (2006), 25–28, hier 25ff. 53 Z. B. Oskar Hoffmann, Das Stiftungsauskunftsbuch, Dresden 1910. Das Werk stellt einen der ersten Wegweiser zu Stiftungen in Deutschland dar. Teil 1 enthält statistische Angaben sowie Ratschläge für Antragsteller; Teil 2 bildet ein ausführliches Verzeichnis bedeutenderer Förderstiftungen. 54 Preine, Stiftungsliteratur, 27. 55 Siehe z. B. Bernhard Laum, Stiftungen in der griechischen und römischen Antike, 2
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DER ERSTE WELTKRIEG UND DANACH Mit dem Ersten Weltkrieg endete eine Blütezeit des deutschen Stiftungswesens, auch wenn die Zahl der Neugründungen nicht sogleich zurückging. Eine Aufschlüsselung der oben für das Jahrzehnt von 1910 bis 1919 angegeben Zahl zeigt, dass der Krieg keinen Einfluss auf die Stiftungsfreudigkeit der Bürger hatte – im Gegenteil, es scheint, als ob die allgemeine Not Stifter über die Maßen beflügelt habe: Tabelle 2: Neugründungen 1910–191956 Gründungsjahr
Neue Stiftungen
1910
14
1911
10
1912
13
1913
20
1914
13
1915
16
1916
12
1917
19
1918
25
1919
24
Legt man die Durchschnittszahl der jährlichen Neugründungen in diesem Jahrzehnt (16,6) zugrunde, so wurde diese im ersten Jahrfünft nur einmal, im zweiten Jahrfünft hingegen dreimal, dabei in den letzten zwei Jahren wesentlich überschritten. Diese Zahlen sagen naturgemäß nichts über die Vermögensausstattung der neugegründeten Stiftungen aus. Was die Ziele der neu gegründeten Stiftung anbelangt, so nehmen zwar im Verlauf des Krieges kriegsbedingte Nöte zu, doch entstand beispielsweise 1917 auch eine Stiftung zur Förderung der Erforschung des antiken Rechts, 1919 eine Stiftung mit dem Hauptzweck, „das schöne Bild und die öffentlichen Anlagen in Lübeck“57 zu fördern. Diese Aussagen könnten zu der Annahme verleiten, das Stiftungswesen habe den Krieg und die Revolution von 1918 ohne besondere Beeinträchtigungen überstanden. Dem ist allerdings nicht so. Grund hierfür ist ein einBde, Leipzig 1914. 56 Siehe Anm. 51. 57 Datenbank deutscher Stiftungen beim Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt Universität zu Berlin, in: www.maecenata.eu (Eintrag Possehl-Stiftung).
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schneidender staatlicher Eingriff in die Autonomie der Stiftungen. „Die Stiftungen in Deutschland haben ihr allzu großes Zutrauen zum Staat nicht selten mit herben Verlusten quittieren müssen“58, mehr noch, auch gegen ihren Willen wurden sie spätestens ab 1914 gezwungen, ihr Vermögen, so es nicht wie etwa das Krankenhausgebäude der Krankenhausträgerstiftung unmittelbar der Verwirklichung des Stiftungszwecks diente, in so genannte mündelsichere Anlagen zu investieren. Als solche waren ausschließlich inländische festverzinsliche Anleihen öffentlicher Emittenten zu verstehen, d. h. Staatsbzw. nach Ausbruch des Krieges Kriegsanleihen. „Aus Stiftungsvermögen wurde auf diese Weise ein (dem Staat) leicht zugänglicher Markt“59. Dieser Zugang wurde vielfach mit erheblichem Druck vorgesetzter Behörden oder sogar zwangsweise eröffnet, insbesondere dort, wo Stiftungsverwalter (etwa bei Universitäten) dienstlichen Weisungen vorgesetzter Staatsbehörden Folge zu leisten hatten. Beispielsweise erhielt die Universität Heidelberg am 26. Februar 1915 eine Aufforderung des Badischen Ministeriums für Kultus und Unterricht, „die verfügbaren Mittel“ der vereinigten Studienstiftungen in fünfprozentige Kriegsanleihen (zweite Kriegsanleihe) zu investieren.60 Am 13. März 1917 las sich dies so: ordnen wir unter Bezugnahme auf die anliegenden Merkblätter, die in geeigneter Weise zu verbreiten sind, an, daß sämtliche Grundstocksmittel […], soweit sie nicht unbedingt anderweitig gebraucht werden, zur Zeichnung auf die 6. deutsche Kriegsanleihe […] verwendet werden […]. Über die gezeichneten Beträge ist Anzeige zu erstatten.61
Ähnliche Vorgänge sind auch für die Universitäten Tübingen, Münster und Rostock nachgewiesen; sie können als typisch für ganz Deutschland angesehen werden. Die Folge dieser Anlagepolitik war, dass die Stiftungen ihr Vermögen in der Hyperinflation 1923 fast vollständig verloren. Zwar gab es in den Folgejahren Regelungen für Entschädigungen, doch wurden diese regelmäßig, wenn auch mit Ausnahmen, zu Ungunsten der Stiftungen ausgelegt. So erhielt beispielsweise die Universität Tübingen auf ihren Antrag auf Gewährung einer sozialen Wohlfahrtsrente für die von ihr verwaltete Neef-MörickeStiftung am 4. Juni 1927 folgenden Bescheid: Nach §§ 25–28 der 3. Verordnung vom 4. Dezember 1926 zur Durchführung des Gesetzes über die Ablösung öffentlicher Anleihen (Reichges.Bl. Teil I S. 494) sind wohlfahrtsrentenberechtigt die Träger inländischer Einrichtungen, deren wesentliche Zweck58 Maier, Notwendigkeit und Luxus, 89. 59 Ebd. 60 Thomas Adam, Stipendien und Stipendienstiftungen an deutschen Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 55.10 (2007), 797–821, hier 809. 61 Universitätsarchiv Heidelberg, RA 5310 (Stiftungen, Normalia), Brief des badischen Ministeriums des Kultus und Unterrichts an die Vereinigte Studienstiftung, betr. Die 6. Deutsche Kriegsanleihe v. 13.03.1917.
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Rupert Graf Strachwitz bestimmung die Förderung unmittelbarer wissenschaftlicher Ausbildungs- oder Forschungstätigkeit ist. […] Damit werden […] die Stipendieneinrichtungen ausgeschlossen, die […] einzelnen Studierenden das Hochschulstudium wirtschaftlich ermöglichen oder erleichtern sollen.62
Ergebnis dieser Maßnahmen war ohne Zweifel ein drastischer Rückgang der Zahl- und Leistungskraft der deutschen Stiftungen. Im Gegensatz zu den USA, wo sich die Entwicklung kontinuierlich fortsetzen konnte, erfuhr das deutsche Stiftungswesen einen Einschnitt, von dem es sich jahrzehntelang nicht erholen konnte. Bereits 1927 wurde etwa für die Universität Tübingen geschätzt, dass das Stiftungsvermögen auf etwa zehn Prozent des Vorkriegswertes zusammengeschmolzen war, die Rendite auf allenfalls fünf Prozent.63 Betroffen waren naturgemäß jene Stiftungen, die über kein Immobilien- oder sonstiges Vermögen verfügten. Hierzu zählten insbesondere die öffentlich verwalteten Stiftungen, denen diese Alternativen zum Teil ausdrücklich untersagt worden waren. Die klassischen Anstaltsträgerstiftungen waren zwar unmittelbar weniger betroffen, da sie nicht nur das Eigentum an den von ihnen genutzten Gebäuden hielten, sondern ihre Mittel regelmäßig aus den von ihnen angebotenen Leistungen generierten. Allerdings hatten diese nicht selten über weiteres Vermögen verfügt, das ihnen eine gewisse Unabhängigkeit gesichert hatte und auf das sie nunmehr nicht mehr zurückgreifen konnten. Der Tenor der Bescheide legt die Vermutung nahe, dass es den staatlichen Stellen jedenfalls nicht sonderlich unangenehm war, einem großen Teil der Stiftungen auf diese Weise ihre Aktionsmöglichkeiten genommen zu haben. Die soziale Frage war nicht mit Stiftungen zu bewältigen. So hatte hier der zentralisierende Staat seinen letzten großen Auftritt: er betrat die Bühne mit solcher Wucht, daß kleinere Akteure für lange Zeit verstummten.64
Diese Akteure fanden schon deshalb oft nicht die Kraft zu nachhaltigem Stiftungshandeln, weil auch private Vermögen durch Krieg und Nachkriegszeit, Inflation und später durch die Weltwirtschaftskrise (1929) erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Institutionalisierte Gemeinschaftsaktionen, von denen eine bezeichnenderweise den Namen „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ erhielt – die andere war der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft – lösten das Mäzenatentum Einzelner oder informeller Gruppen ab.65 62 Universitätsarchiv Tübingen, 128 / 116 (Neef-Möricke-Stiftung), Schreiben des Württembergischen Kultusministeriums v. 04.06.1927, Bescheid auf den Antrag des evangelischen Theologischen Seminars in Tübingen. 63 Adolf Bauser, Die Tübinger Universitätsstipendien unter Inflation und Aufwertung, in: Schwäbischer Merkur, 16. Juli 1927. Für die wertvollen Hinweise auf die Quellen zur Vermögenslage der Heidelberger und Tübinger Studienstiftungen (Anm. 61–63) bin ich Thomas Adam zu großem Dank verpflichtet. 64 Maier, Notwendigkeit und Luxus, 87f. 65 Eckhardt Fuchs u. Dieter Hoffmann, Philanthropy and Science in Wilhelmine Germany,
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Die übrig gebliebenen Stiftungen hatten sich immer stärker in ein staatliches Wohlfahrtssystem einzufügen. Sie waren über die Bewilligungsbescheide von und die Kontrakte mit staatlichen Stellen, die nicht nur die Höhe der Zuwendungen regelten, sondern auch beispielsweise die Reichshaushaltsordnung mit ihren einschneidenden Bestimmungen zur Besoldung der Mitarbeiter und dergleichen bei ihren Partnern zur Anwendung brachten, sowie über staatlich reglementierte Gebührenordnungen für ihre mit den Sozialversicherungsträgern abzurechnenden Leistungen einer massiven staatlichen Gängelung unterworfen. Dies entsprach dem Selbstverständnis der Republik als Wohlfahrtsstaat, das in der Reichsverfassung von 1919 deutlich zum Ausdruck gebracht wurde. Es kennzeichnet die deutsche Tradition des Interventionsstaates, daß er beides zugleich war: fortschrittlich und – zumindest in der Tendenz – bürokratisch und autoritär. Insbesondere die Weimarer Republik kennzeichnete ein Ausmaß an staatlicher Intervention, das weit über das Bekannte hinausging.66
Neue Stiftungen waren zwar am Entstehen nicht gehindert, doch schwand ihre gesellschaftliche Bedeutung offenkundig dahin. Stiftungen, die in Bereichen, die der Staat für sich allein reklamierte, wie Schule und Hochschule, Alternativen anzubieten gesonnen waren, entstanden praktisch nicht mehr. Insofern ist die Zentralisierung der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten keine Erfindung der Nationalsozialisten. Vielmehr ist „damit […] eines der wichtigsten, aber auch ambivalentesten Kontinuitätsmerkmale im deutschen Staatsverständnis des 20. Jahrhunderts benannt“67. Das deutsche republikanische Staatsmodell nähert sich geradezu dem französischen, ebenfalls republikanischen Staatsmodell, das auf so genannte Intermediäre ganz zu verzichten können glaubte, näher an, als der angelsächsischen Vorstellung eines von Defiziten aller Beteiligten geprägten Gemeinwesens, welches durch checks and balances, also dem Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure, am ehesten vor Fehlentwicklungen bewahrt werden könne. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass die Revolution von 1918 nur im öffentlich-rechtlichen Bereich stattfand. Im privatrechtlichen Raum wurde hingegen auf größtmögliche Kontinuität und Rechtssicherheit Wert gelegt, so dass auch die bestehenden Stiftungen so lange von einem Bestandsschutz profitieren konnten, als sie nicht wirtschaftlich in den Untergang getrieben wurden. Zudem übernahm nicht nur der Staat (das Reich ebenso wie die Länder) selbst und übernahmen sogar, wie das Beispiel der Gründung der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt68, die politischen Parteien von den Monarchen
in: Adam (Hg.), Philanthropy, Patronage, and Civil Society, 103–119, hier 113. 66 Vgl. Wirsching, Zwischen Entstaatlichung und Überforderung. 67 Ebd. 68 Vgl. Rupert Graf Strachwitz, Stiftungen nach der Stunde Null, in: Geschichte und Gesellschaft 33.1 (2007), 99–126, hier 109f.
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das Recht, ihrerseits zu stiften.69 So regelte etwa der Freistaat Bayern auf der Grundlage mehrerer Rechtsgutachten seine vermögensrechtliche Auseinandersetzung mit dem vormals regierenden bayerischen Königshaus in Gestalt zweier Stiftungen, die 1923 durch Gesetz gegründet wurden.70 Damit wurde ein Grundsatz bekräftigt, der von jeher einen Unterschied zum amerikanischen Stiftungswesen markiert hatte: Stiftungen waren hierzulande nicht primär als bürgerschaftliches Handeln oder Ausdruck privater Philanthropie definiert, sondern stellten eine – in zahlreiche Facetten aufgegliederte – Organisationsoption dar, deren sich jedwede natürliche oder juristische Person einschließlich der öffentlichen Gebietskörperschaften unter bestimmten Voraussetzungen bedienen konnte. Die wissenschaftliche und publizistische Beschäftigung mit dem Stiftungswesen versiegte nach dem Ersten Weltkrieg fast vollständig. Auch empirische Untersuchungen, Verzeichnisse oder Register aus dieser Zeit fehlen. Es scheint, als ob die Stiftung zwar, da rechtlich zulässig, als Institut weiter bestand, aber, da weitgehend marginalisiert, keiner besonderen Beachtung mehr wert war. Selbst der Untergang vieler Stiftungen erfuhr nur wenig und nur punktuelle Aufmerksamkeit. Zahlreiche staatliche Eingriffe wie tatsächlich oder angeblich erforderliche Zusammenlegungen, Auflösungen, Umwidmungen usw. blieben weitgehend unkommentiert. Man hatte, so ist summarisch zu folgern, andere Probleme, deren Lösung man von staatlichen Instanzen, keineswegs aber von Stiftungen erwartete. STIFTUNGEN IM NATIONALSOZIALISMUS Dass der am 30. Januar 1933 begründete totalitäre Staat keine Affinität zum Stiftungswesen hatte, überrascht nicht. Es ist unter diesen Umständen erstaunlich, dass das Stiftungswesen in dieser Zeit nicht gänzlich beseitigt worden ist. Ein Grund dafür mag in der Eitelkeit einiger Führungskräfte des Regimes liegen, die dem uralten Memorialgedanken des Stiftens für ihre eigenen Zwecke etwas abgewinnen konnten. So entstand beispielsweise eine Josef-Goebbels-Stiftung, deren Vermögen mit Hilfe von Enteignungen und anderen Maßnahmen gemehrt wurde. Auch ist zu vermuten, dass einschneidende Maßnahmen auf die Zeit „nach dem Endsieg“ verschoben wurden, was eine Bestätigung der Einschätzung darstellt, dass die Stiftungen als Marginalie angesehen wurden. Dessen ungeachtet erfolgten sehr wohl zahlreiche Regelungen, die das Leben der Stiftungen empfindlich berührten. Zwei besonders bedeutsame hatten jedoch nicht die Stiftungen selbst im Blick. Vielmehr waren diese mit 69 Vgl. Pielhoff, Stifter und Anstifter, 29 (Anm. 80). 70 Siehe Einträge Wittelsbacher Landesstiftung für Kunst und Wissenschaft und Wittelsbacher Ausgleichsfonds, in: Datenbank deutscher Stiftungen. Vgl. Anm. 57.
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betroffen. Zum einen wurde überaus schnell deutlich, dass die neue Staatsmacht mit ihren angekündigten Maßnahmen gegen alles Jüdische auch im Bereich des Stiftungswesens Ernst zu machen gedachte. „Alle Juden müssen restlos aus jeder Form des Rechtslebens hinaus“, hatte schon 1933 Reichsinnenminister Hans Frank verkündet.71 Auf dieser Grundlage wurde alles Jüdische durch den schon im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 in § 87 niedergelegten Grundsatz der Gemeinwohlgefährdung (als Hinderungsgrund für das Entstehen oder Fortbestehen einer Stiftung) hinaus definiert und dadurch die Handhabe geschaffen, das Stiftungswesen zu beseitigen, soweit es in irgendeiner Weise und wenn auch nur durch die Person des Stifters als jüdisch anzusehen war. (Eine rechtsfähige Stiftung war definitionsgemäß eigentümer- und mitgliederlos und war insofern formal mit dem Stifter nicht verflochten.) In diesem Zusammenhang ist es nicht ohne Belang, dass, einer „absolutistisch-obrigkeitsstaatliche[n] Tradition folgend, […] die für das Entstehen der Stiftung konstitutive Genehmigung ein Akt freien behördlichen Ermessens“72 war. Dem Staat blieb damit in jedem einzelnen Falle die Möglichkeit verwaltungspolitischer Einflussnahme auf das Stiftungswesen. In einer Stellungnahme für die Akademie für Deutsches Recht hat dies Nietzsche zu der Feststellung veranlasst, daß der NS-Staat das Konzessionssystem hätte einführen müssen, wenn es vom BGB nicht bereits normiert gewesen wäre.73
Aus dieser formaljuristisch abgesicherten Auffassung erwuchsen im Laufe der Jahre zahlreiche beschränkende und konfiskatorische Einzelmaßnahmen. Für sie wurde der Oberbegriff der „jüdischen und paritätischen Stiftungen“ geprägt. Darunter verstand man alle Stiftungen, die entweder von Juden errichtet waren, von Juden ganz oder teilweise verwaltet wurden oder deren Zielsetzungen sich ganz oder teilweise Juden zuwandten. Wer in diesem Sinn als Jude zu klassifizieren war, regelte § 5 der ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935.74 Beispielsweise schrieb der Oberbürgermeister von München am 12. Dezember 1935, es sei „nicht vertretbar, daß aus städtisch verwalteten Stiftungen Juden berücksichtigt werden“75. Das Sächsische Ministerium für Volksbildung hielt es 1936 für „unumgänglich notwendig“, eine Stiftungssatzung neu zu fassen, weil „die Gefahr besteht, daß arische Studierende oder Privatgelehrte, die aus der Stiftung bedacht werden sollen, die Annahme der Stipendien unter Berufung darauf ablehnen, daß aus der Stiftung auch Juden bedacht werden.“76
71 72 73 74 75 76
Karl Kraus, Dritte Walpurgisnacht (1933), München 1967, 205f. Rawert u. Ajzenstejn, Stiftungsrecht im Nationalsozialismus, 159. Ebd. Ebd., 169. Ebd., 170. Ebd., 172.
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Am 8. Mai 1939 wurde schließlich durch Erlass des Reichsinnenministeriums eine umfassende Regelung getroffen: Einer von Juden errichteten Stiftung war mit wenigen Ausnahmen die Genehmigung zu versagen.77 Von „deutschen Volksgenossen“ errichtete Stiftungen durften Juden nicht begünstigen. Bestehende Stiftungen von Juden für förderungswerte sachliche Zwecke (z. B. Forschung) durften zwar bestehen bleiben, mussten aber alle Hinweise auf den jüdischen Stifter tilgen. Stiftungen zugunsten jüdischer Destinatäre mussten anhand der „Grundsätze der Judenpolitik“ überprüft werden. In Stiftungen zugunsten „deutscher Volksgenossen“ durften Juden nicht an der Verwaltung beteiligt sein. Stiftungen zugunsten jüdischer und anderer Destinatäre sollten nur noch die anderen begünstigen. Stiftungen „deutscher Volksgenossen“ zugunsten von Juden mussten aufgelöst werden. Zahlreiche weitere Einzelregelungen hatten die gleichen Ziele im Auge. Bemerkenswert für den vorliegenden Zusammenhang ist freilich die Tatsache, dass, nachdem einmal die angebliche Gemeinwohlgefährdung im Sinne der NS-Ideologie formaljuristisch verankert worden war, alle Eingriffsmaßnahmen sich auf dem Boden früherer staatlicher Eingriffsrechte bewegen konnten. Insbesondere boten das Bürgerliche Gesetzbuch und eine ständige, unwidersprochen gebliebene Rechtspraxis schon seit mehr als einer Generation alle notwendigen Handhaben für eine aktive Eingriffspolitik des Staates. Kants Forderung von 1785, „der Staat muss die Freiheit haben, sie [die Stiftungen] nach dem Bedürfnisse der Zeit einzurichten“78, war längst Wirklichkeit geworden und wurde in dieser Zeit lediglich uminterpretiert. Die zweite wesentliche Änderung der Rahmenbedingungen für die Stiftungen wurde durch den Erlass der Deutschen Gemeindeordnung (DGO) am 30. Januar 193579 ausgelöst. Durch die hier niedergelegten Neuregelungen wurde die Autonomie der Städte und Gemeinden aufgehoben. Sie unterlagen nunmehr in allen Angelegenheiten, somit auch in ihrer Funktion als Stiftungsverwalter den Weisungen übergeordneter Behörden. Zwar wurde diese traditionell überaus wichtige Funktion nicht beseitigt, doch mischte sich der Reichsinnenminister als oberste Kommunalaufsichtsbehörde (§ 107 DGO) aktiv ein, etwa wenn er 1940 anordnete, die Gemeinden sollten ihr Stiftungswesen unter dem Gesichtspunkt einer Vereinfachung durch Zusammenfassung kleinerer Stiftungen überprüfen. 1943 meldete der Minister an den Leiter der Parteikanzlei, diese Vereinfachung sei „vielfach bereits vollzogen“. Wie viele Stiftungen dadurch beseitigt wurden, ist nicht verlässlich überliefert.80
77 Seinerzeit unveröffentlicht (Bundesarchiv Berlin R 1501 / 27207 [Reichsinnenministerium] Bl. 355 R-361, (Az. VI c 8152 / 39-7105 Allg.)). Siehe hierzu ausführlich Rawert u. Ajzenstein, Stiftungsrecht im Nationalsozialismus. 78 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten. Vgl. Anm. 10. 79 Reichsgesetzblatt 1, 49. 80 Rawert u. Ajzenstejn, Stiftungsrecht im Nationalsozialismus, 163.
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Neben diesen grundlegenden Umgestaltungen der Rechtsordnung haben sich die unmittelbar auf Stiftungen und Vereine zielenden Maßnahmen weniger ausgewirkt. Zwar wird schon 1933 die Abzugsmöglichkeit von Spenden von der Steuerbemessungsgrundlage insgesamt abgeschafft, doch sind Auswirkungen auf die Stiftungsfreudigkeit nicht markant fassbar. Auch ist die für den Wohlfahrtsbereich sehr einschneidende Gleichschaltung der Wohlfahrtsverbände unter Führung der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt für die Stiftungen nicht so folgenreich gewesen, wie befürchtet werden musste. Schwieriger waren die zahlreichen Ge- und Verbote hinsichtlich der Vermögensanlagen, und im Einzelfall konnten die gesetzlich wesentlich erleichterten Enteignungen in Verbindung mit behördlicher Schikane desaströse Folgen für die Stiftungen haben. So wurde beispielsweise das Damenstift Kloster Itzehoe zweimal innerhalb weniger Jahre enteignet und musste den durch eigene Arbeit bewirkten Wertzuwachs des nach der ersten Enteignung erworbenen Ersatzlandes auch noch versteuern.81 Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs erlitten anders als im Ersten zahlreiche Stiftungen, darunter insbesondere die in den Städten gelegenen alten Anstaltsträgerstiftungen, durch die Bombardierungen erhebliche Schäden an ihren Gebäuden. Allein der Schaden am 1576 gegründeten Juliusspital wurde nach Kriegsende auf 5,3 Millionen RM (Brandversicherungssumme) bzw. über 15 Millionen RM (Wiederaufbaukosten) geschätzt.82 Für zahlreiche Stiftungen bedeutete dies das Ende, da sie nicht hoffen konnten, die Schäden in absehbarer Zeit beseitigen zu können. Insgesamt kann es nicht überraschen, dass der Nationalsozialismus den Stiftungen schweren Schaden zugefügt hat, auch wenn er das Institut der Stiftung an sich nicht beseitigt hat. Doch muss nochmals auch die Kontinuität des Blicks der Machthaber auf die Stiftungen hervorgehoben werden, die sie als reguliertes Dekorum der Staatsmacht zu dulden bereit waren.
81 E. Schuster u. R. Gunzert, Die Lage der Stiftungen nach der Währungsreform, in: Albert Franz, Hans Liermann, Hans Helmut zur Nedden u. Götz Freiherr v. Pölnitz (Hg.), Deutsches Stiftungswesen 1948–1966, Tübingen 1968, 31f. 82 Ebd., 32.
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NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG Spätestens am 23. Mai 1945 endete bis auf weiteres jede deutsche staatliche Ordnung in Deutschland. Die Besatzungsmächte übernahmen die unmittelbare Regierungsgewalt. Soweit zunächst auf lokaler, später auf Landesebene wieder deutsche Behörden entstanden, waren sie in jeder Hinsicht von den Entscheidungen ihrer Besatzungsmacht abhängig. Dies hatte auf die Stiftungen insofern erhebliche Auswirkungen, als die Alliierten zu diesem Thema sehr unterschiedliche Vorstellungen hatten.83 Während die Amerikaner grundsätzlich einem starken Stiftungswesen aufgeschlossen gegenüberstanden, taten dies die Briten mit der Einschränkung, dass der staatlich dirigierte Wohlfahrtsstaat dadurch nicht eingeschränkt sein sollte. Frankreich hatte selbst kein Stiftungsrecht und betrachtete Stiftungen mit dem Misstrauen, das es jeder intermediären Organisation entgegenbringen zu müssen glaubte. Die Sowjetunion stand jeder Form von Polyarchie ohnehin ablehnend gegenüber. Dies hatte beispielsweise bei der Bodenreform Auswirkungen auf die Ermessensentscheidungen und gesetzlichen Ausnahmeregelungen in den unterschiedlichen Zonen. Aber auch die Verwaltungspraxis deutscher Behörden wurde dadurch beeinflusst. So nutzten in den ersten Jahren manche Kommunal- und Landesverwaltungen die Gunst der Stunde, um abseits öffentlicher Aufmerksamkeit und unbehelligt von einer durchgreifenden Rechtsaufsicht Verwaltungsmaßnahmen aus der NS-Zeit zu Ende zu führen, indem sie Stiftungen nach Gutdünken zusammenlegten oder wegen tatsächlich oder angeblich nicht mehr vorhandener Lebensfähigkeit aufhoben, in der Praxis also zugunsten ihres eigenen Vermögens enteigneten. Genaue Angaben hierzu fehlen vollständig, doch sind die sehr unterschiedlichen Angaben zur Anzahl kommunal verwalteter unselbständiger Stiftungen in unterschiedlichen Städten dafür ein Indiz: Tabelle 3: Unselbständige Stiftungen in der Verwaltung von Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern Stadt
Einwohner in Tausend
Stiftungen
Bremen
543
8
Frankfurt / Main
643
34
Hannover
516
12
Köln
960
23
München
1.188
108
Stuttgart
581
26
83 Siehe hierzu Strachwitz, Stiftungen nach der Stunde Null, 99ff. Vgl. auch Campenhausen, Geschichte des Stiftungswesens, 42.
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Die Besatzungsbehörden selbst waren in den ersten Jahren in erster Linie am Wiederaufbau zumal der kirchlichen Wohlfahrtsverbände interessiert, deren organisatorisches und ehrenamtliches Potential ihnen für die Bewältigung akuter sozialer Nöte unentbehrlich war.84 Stiftungen waren ihnen wegen ihres tatsächlich oder angeblich elitären Charakters oft auch suspekt, so lange sie von dem Gedanken der Beseitigung deutscher Eliten geprägt waren. Die Stiftungen selbst litten unter der Zerstörung ihrer Gebäude, mehr noch aber unter der oft erneuten Entwertung ihrer liquiden Vermögensanlagen. Nicht nur auf Grund staatlichen Drucks, sondern auch mangels Alternativen auf dem Kapitalmarkt war die Mehrheit der Stiftungen nach wie vor in die so genannten mündelsicheren Anlagen, d. h. Reichspapieren investiert, die im Wesentlichen spätestens im Mai 1945 alle Zinszahlungen einstellten und 1948 durch die Währungsreform wertlos wurden. Eine Erhebung in bayerischen Städten zeigte beispielsweise, dass bis zu 87 Prozent der Vermögensanlagen aus solchen Reichspapieren bestanden.85 Hinzu kamen oft Barguthaben, die keine Anlage mehr gefunden hatten und bei der Währungsreform mit einer Quote von 6,5 Prozent in DM umgewertet wurden.86 Im Ergebnis besaßen nach der Währungsreform die Kapital-Stiftungen in 16 bayerischen Städten nur noch Vermögen im Wert zwischen zwei und 6,7 Prozent ihres früheren Vermögens.87 Von diesen Ausgangsvoraussetzungen her muss es geradezu als Wunder bezeichnet werden, dass es gelang, zunächst in den drei Westzonen dem Stiftungswesen zu einem Neuanfang zu verhelfen. Bezeichnenderweise nahmen die Stiftungen dies erstmals selbst in die Hand. War vor 1945 offenkundig nie der Versuch eines verbandlichen Zusammenschlusses unternommen worden, so trafen sich auf Anregung der Fuggerschen Stiftungen im September 1948 29 Persönlichkeiten in Würzburg. Das Treffen war im Vorfeld als erste Tagung bayerischer Wohltätigkeits- und Kultusstiftungen apostrophiert worden, stellte aber de facto die Geburtsstunde einer Arbeitsgemeinschaft Deutscher Stiftungen dar.88 Dieser Arbeitsgemeinschaft kommt ein nicht geringes Verdienst dabei zu, zunächst in Bayern, Zug um Zug dann auch in den übrigen westlichen Bundesländern neue gesetzliche Rahmenbedingungen für das Entstehen und die Arbeit von Stiftungen zu schaffen. Diese fußten allerdings, soweit es um zivilrechtliche Bestimmungen ging, in ungebrochener Tradition auf dem Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900, und, soweit es um das Steuer84 Gabriele Lingelbach, Die Entwicklung des Spendenmarktes in der Bundesrepublik Deutschland, in: Geschichte und Gesellschaft 33.1 (2007), 127–157, hier 131. 85 Schuster u. Gunzert, Die Lage der Stiftungen nach der Währungsreform, 38. 86 Ebd., 40. 87 Ebd., 46. 88 Strachwitz, Stiftungen nach der Stunde Null, 99. Siehe auch Protokoll der 1. Tagung der Arbeitsgemeinschaft bayerischer Wohltätigkeits- und Kultusstiftungen v. 20.09.1948, in: Campenhausen, Kronke u. Werner, Stiftungen in Deutschland und Europa, 3–60, hier 3ff.
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recht ging, auf der Gemeinnützigkeitsverordnung von 194189, die ihrerseits auf das (erste reichseinheitliche) Körperschaftssteuergesetz von 192090 zurückging. Insofern wurde an der engen überkommenen Verschränkung der Stiftungen mit dem Staat nicht gerüttelt. Auch für das Stiftungswesen gilt: Die Geschichte des deutschen Sozialstaates kennzeichnet […] eine besondere ‚Pfadabhängigkeit‘. Konkret heißt das: einmal getroffene Grundsatz- und Systementscheidungen prägen langfristig die Erwartungen und präjudizieren künftige Lösungsansätze. Reformen […] sind dann eben nur auf dem einmal beschrittenen Pfad möglich, und ihre Instrumente kommen aus dem bereits bekannten System.91
Es verwundert vor diesem Hintergrund kaum, dass der Hauptredner auf der Würzburger Tagung, der damalige Staatsrat a.D. Fritz Schäffer, später Bundesfinanz- (1949–1957) und Bundesjustizminister (1957–1961), als Voraussetzungen für eine Anerkennung als öffentliche, d. h. in den öffentlichen Raum hineinwirkende Stiftung nannte: 1. muss die Stiftung im Interesse des Staates gelegen sein, 2. muss sie öffentliche Aufgaben erfüllen, 3. muss ein obrigkeitliches Verhältnis zwischen der Körperschaft der Stiftung und zwischen den Personen, den Mitgliedern bestehen.92
Lässt der dritte Punkt Unkenntnis über die Natur einer privatrechtlichen Stiftung erkennen und verrät den Standpunkt durch die Terminologie, so machen die ersten Punkte deutlich, dass eine Neupositionierung auf der Seite der Staatsorgane in Richtung auf ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren in keiner Weise erfolgt war. Stiftungen hatten zu tun, was die staatliche Obrigkeit von ihnen verlangte. So war es im 19. Jahrhundert entwickelt worden, so sollte es – ganz selbstverständlich – bleiben. Und so blieb es tatsächlich jahrzehntelang. In welchem Umfang sich ältere Stiftungen nach Gründung der Bundesrepublik und Wiederherstellung mehr oder weniger einheitlicher Rechtsverhältnisse in Westdeutschland in den folgenden Jahren erholen konnten, ist nicht eindeutig zu klären. Auch unmittelbar nach 1945 wurden kontinuierlich, wenn auch nicht in großer Zahl, neue Stiftungen gegründet. Aber erst nach 1970 konnte eine wesentliche Steigerung der Gesamtzahl konstatiert werden. 1998 waren von 7.780 erfassten Stiftungen 5.057 nach 1970, 4.407 nach 1980 gegründet worden.93 Das bedeutet, dass selbst bei allen notwendigen Abstrichen von den angeblichen Bestandszahlen der Zeit vor 1914 tatsächlich sehr wenige alte Stiftungen übrig geblieben waren. Ursache des Untergangs aber war, wie dargestellt wurde, nur in seltenen Ausnahmefällen ein in der Stiftung liegendes Versäumnis, das etwa zum Konkurs führte. 89 90 91 92 93
Reichssteuerblatt Nr. 106 v. 20.12.1941, 937–943. Reichsgesetzblatt 1920, 393. Wirsching, Zwischen Entstaatlichung und Überforderung. Protokoll der 1. Tagung, 5. Vgl. auch Anm 88. Elisabeth Brummer u. Sylvia Ruprecht, Statistiken zum deutschen Stiftungswesen 1998, München 1998, 13.
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STIFTUNGEN IN OSTDEUTSCHLAND Stiftungen in der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR konnten keinen mit Westdeutschland vergleichbaren Aufschwung nehmen. Sofern sie 1945 noch bestanden, waren sie zunächst zwei Eingriffen ausgesetzt. Zum einen wurden auch sie von der einschneidenden Bodenreform erfasst, die Grundbesitz über einhundert Hektar entschädigungslos enteignete, obwohl Stiftungen nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht betroffen waren. Zum anderen wurde ein nicht geringer Teil durch Ausweisung, Flucht, Kriegsgefangenschaft oder Unauffindbarkeit seiner Funktionsträger führungslos und damit zur leichten Beute des Regimes. Zwar galt das Bürgerliche Gesetzbuch bis zum Erlass eines eigenen Zivilgesetzbuchs der DDR fort, doch waren die darin enthaltenen Bestimmungen für Stiftungen bis dahin längst durch Verwaltungsmaßnahmen ausgehöhlt. Nachdem einige Landesregierungen bereits vorher erhebliche Eingriffe vorgenommen hatten, erließ am 5. November 1952 das Ministerium des Innern der DDR eine „Anordnung über die Anmeldung von Stiftungen und stiftungsähnlichen Vermögensmassen“94. Bis zum 15. Januar 1953 hatten „alle natürlichen und juristischen Personen, die Stiftungen, Stiftungsvermögen oder stiftungsähnliche Vermögensmassen verwalten, verwahren oder Kenntnisse oder Aufzeichnungen über den Verbleib solcher Stiftungsgegenstände besitzen“, auf einem eigens erstellten Vordruck unter Beifügung von Unterlagen diese Anmeldung vorzunehmen. Die am 27. Oktober 1953 erlassenen „Richtlinien über die weitere Klärung der Frage der Stiftungen und stiftungsähnlichen Vermögensmassen“ machten deutlich, welche Ziele mit dieser Erfassungsmaßnahme verfolgt wurden.95 Wo immer möglich, sollten die Stiftungen aufgelöst werden. Neugründungen wurden nicht genehmigt. Lediglich die kirchlichen Stiftungen blieben unangetastet, was nicht diesen Stiftungen, sondern einer Scheu vor einer allgemeinen Enteignung der Kirchen geschuldet war. Mit der Einführung des Zivilgesetzbuchs zum 1. Januar 1976 gab es für die Gründung neuer Stiftungen keine Rechtsgrundlage mehr. Einige wenige Ausnahmen, etwa die Neukonstituierung der Wartburg-Stiftung 1987, oder die Gründung der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum durch Rechtsverordnung 1988 verdankten sich besonderen Staatsinteressen.96 Doch 94 Kopie mit Beispiel einer Anmeldung beim Verfasser. Die gesammelten Anmeldungen befinden sich (vollständig?) im Bundesarchiv Berlin (Bestand DO 1 Ministerium des Innern, HA Innere Angelegenheiten, DO 1 / 9256–9280), sind jedoch nicht gesichtet oder ausgewertet. Für diesen Hinweis bin ich Thomas Adam zu herzlichem Dank verpflichtet. 95 Abgedruckt in: Erco von Dietze u. Claudia Hunsdieck-Nieland, Stiftungen in der Mitte Deutschlands, Bonn 1999, 53f. 96 Heide Gölz, Der Staat als Stifter, Bonn 1999, 36f.
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schon um die Jahreswende 1989 / 90 setzten Überlegungen ein, das Stiftungswesen in Ostdeutschland neu zu beleben. Eine Stiftung Umwelt- und Naturschutz in der DDR wurde mangels anderer Möglichkeiten im Februar 1990 als Verein gegründet.97 Noch im September 1990 verabschiedete die Volkskammer ein DDR-Stiftungsgesetz98, das zunächst und zum Teil bis heute in den ostdeutschen Bundesländern fort gilt. Die DDR-Regierung selbst gründete ebenfalls im September 1990 mehrere Stiftungen, zum Teil ausdrücklich in dem Bestreben, Modelle für ein neubelebtes Stiftungswesen vorzugeben. 99 Zur gleichen Zeit legte der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus v. Dohnanyi ein im Auftrag der Körber-Stiftung erstelltes Gutachten vor, in dem er die Privatisierung der so genannten Volkseigenen Betriebe, d. h. der gesamten Industrie in Form von Stiftungen vorschlug.100 Dass er damit an Alfred Webers Vorschläge für eine Vergesellschaftung von Produktivvermögen von 1947 anknüpfte, war ihm dabei nicht bewusst.101 Diese Vorschläge sind nicht weiter verfolgt worden, doch setzten bald Bemühungen ein, neue Stiftungen in den ostdeutschen Ländern zu gründen und alte wieder zu beleben. Während Ersteres lange Zeit, zumindest was private Stifter betraf, nur langsam vorankam und im Wesentlichen staatlichen Stiftern vorbehalten blieb, scheiterte Letzteres oft genug daran, dass vertretungsbefugte Organe nicht mehr vorhanden waren und die Behörden ebenso wie vierzig Jahre zuvor in Westdeutschland von sich aus nicht tätig wurden, weil sie die ihnen vor langem zugeschlagenen Vermögen nicht wieder herausgeben wollten. In einigen, zum Teil spektakulären Fällen, etwa der hochbedeutenden Leipziger Gemäldesammlung Speck v. Sternburg, wurden Stiftungen im Zusammenhang von Restitutionen gegründet.102
97 Akten im Archiv d. Verfassers. 98 Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1990, Teil I Nr. 61, 1483ff. 99 Kulturstiftung Haus Europa, Stiftung Neue Kultur, Stiftung Industrie- und Alltagskultur u.a., Akten im Archiv d. Verfassers. 100 Klaus v. Dohnanyi u.a., Stiftungen und die Privatisierung „volkseigener“ Betriebe. Eine Chance für Deutschland in der bisherigen DDR, Gutachten, Hamburg 1990. 101 Vgl. Strachwitz, Stiftungen nach der Stunde Null. 102 Vgl. Herwig Guratzsch, Maximilian Speck von Sternberg. Ein Europäer der Goethezeit als Kunstsammler, Leipzig 1998.
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DIE WEITERE ENTWICKLUNG IN WESTDEUTSCHLAND Die Tatsache, daß der Staat weiterhin die Definitionsmacht darüber behielt, was als ein öffentliches Bedürfnis anzuerkennen sei, zeugt von der starken Präsenz paternalistischer Traditionen in der frühen Bundesrepublik. Statt den Bürgern die Entscheidung anzuvertrauen, zu wessen Gunsten sie zur sozialen Umverteilung beitragen wollten, behielt sich der Staat diese Kompetenz vor.103
Diese, auf das Spendenwesen und die Wohlfahrtsverbände gemünzte Feststellung trifft auf die Stiftungen gleichermaßen zu. Die Gründungen der fünfziger und sechziger Jahre verstanden sich gewiss nicht als Alternativen zu staatlichem Handeln, sondern als dessen Erfüllungsgehilfen. Selbst die 1964 gegründete Robert-Bosch-Stiftung, die schließlich das Erbe des 1942 verstorbenen Bosch fast zur Gänze aufnahm, folgte nur begrenzt den mutmaßlichen Intentionen des Namensgebers, der bereits 1910 erstmals als Stifter hervorgetreten war. Damals folgte er seinem Vorbild Abbe darin, „Maßstäbe für das Verhältnis von Kapital und Arbeit“ zu setzen.104 Davon war jetzt nicht mehr die Rede. Doch leistete die bewusst mit Blick auf amerikanische Beispiele gegründete Robert-Bosch-Stiftung jahrzehntelang durch ihre Förderpolitik innovative Beiträge zur gesellschaftlichen Entwicklung, z. B. zur Aussöhnung mit den Kriegsgegnern Deutschlands und der Förderung bürgerschaftlichen Engagements. Ähnlich wie in den zwanziger Jahren wurde die Stiftung als Organisationsoption für staatliches Handeln genutzt. So entstand die Volkswagen-Stiftung aus dem Bedürfnis der Bundesregierung, der Forschung mehr Mittel zur Verfügung zu stellen, verbunden mit der Klärung der Eigentumsverhältnisse an dem früheren Kraft-durch-Freude-Betrieb Volkswagen und dem Anliegen Ludwig Erhards, Aktienbesitz in der Bevölkerung breit zu streuen. Die FritzThyssen-Stiftung entstand nach einer deutlich formulierten Anregung Konrad Adenauers.105 In beiden Fällen wurde den deutschen Initiatoren Hilfestellung aus den USA angetragen und von diesen auch angenommen. Amerikanische Stiftungsexperten reisten durch Deutschland, um das amerikanische System der Kapitalförderstiftung auch hier populär zu machen.106 Während dies im Hinblick auf die Arbeitsweise der Stiftungen jedenfalls vorübergehend gelang, konnte sich das amerikanische Prinzip der Private Foundation in Deutschland stets nur rudimentär durchsetzen.107 Die Gründungsvoraus103 Lingelbach, Die Entwicklung des Spendenmarktes, 136. 104 Michael Stürmer, Robert Bosch. 1861–1942, in: Fest (Hg.), Die großen Stifter, 249– 268, hier 254. 105 Thomas Kielinger, Amélie Thyssen. 1877–1965, in: Fest (Hg.), Die großen Stifter, 381– 406, hier 398. 106 Strachwitz, Stiftungen nach der Stunde Null, 116f. 107 Das klassische US-amerikanische Modell der private foundation beruht auf dem gesetzlich verankerten Prinzip, dass Stiftungen von Privatpersonen unter Einbringung eigenen
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setzungen blieben ebenso unterschiedlich wie die staatlichen Regeln und die überkommenen Traditionen. Schon in den 1970er Jahren entstand mit der Bertelsmann-Stiftung erneut eine große operative Stiftung in deutscher Tradition, obwohl sich der Stifter Reinhard Mohn ausdrücklich auf das amerikanische Vorbild berief.108 Und bis heute macht der Staat von seinem traditionellen Recht zu stiften extensiv Gebrauch. Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt, die Stiftung Erinnerung, Verantwortung Zukunft, die Kunststiftung Baden-Württemberg, die Bayerische Landesstiftung, die Opernstiftung Berlin und 2007 die Ruhrkohle-Stiftung sind nur einige wenige Beispiele von vielen aus den letzten zwanzig Jahren. Die seit den fünfziger Jahren gegründeten Stiftungen der politischen Parteien tragen eine weitere, öffentlich stark rezipierte Facette bei. In den sechziger Jahren begann sich allmählich das Verhältnis der Stiftungen zum Staat im Hinblick auf die Regulierung im deutsch-amerikanischen Vergleich zu verändern. Der traditionelle Korporatismus der deutschen Stiftungen begann einem Wunsch nach größerer Unabhängigkeit Platz zu machen, der sich auch in Änderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen niederschlug. Hingegen wurden die amerikanischen Stiftungen seit 1969 relativ einschneidenden Regeln hinsichtlich ihrer Veröffentlichungsund Auszahlungsverpflichtungen sowie ihrer Anlagepolitik unterworfen, die bis heute in Deutschland so nicht denkbar sind.109 Besonders einschneidend ist die Regel, dass Stiftungen in den USA höchstens zwanzig Prozent der Anteile an einem Unternehmen halten dürfen, während deutsche Stiftungen in nicht geringer Zahl in der Tradition Ernst Abbes Mehrheits- oder Alleineigentümer großer Wirtschaftsunternehmen sind. Einer Änderung nach amerikanischem Muster redet niemand das Wort. Andererseits regt sich in Deutschland seit den siebziger Jahren, den „neuen sozialen Bewegungen“ nicht unähnlich, bei Stiftern und Stiftungsverwaltern das Gefühl, die Aufgabe der Stiftungen sei nicht die kritiklose Unterstützung staatlichen Handelns, sondern die Entwicklung eigener Handlungsmodelle. Die Bertelsmann-Stiftung ist dafür das bedeutendste Beispiel. Zu zahlreichen Fragen von politischer Bedeutung hat diese Stiftung in den letzten Jahren mit großem Aufwand Handlungsoptionen entwickelt und energisch den staatlichen Entscheidungsträgern angetragen, in den Jahren 1998 bis 2004 auch zu den RahmenbedinVermögens gegründet und abschließend dotiert werden. Eine maßgebliche Beteiligung an einem einzelnen Unternehmen ist ihnen untersagt, so dass das Vermögen stets in liquiden Vermögensanlagen (Aktien und Rentenpapieren) angelegt ist. Diese Stiftungen betreiben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine eigenen Einrichtungen oder Projekte, sondern fördern die Tätigkeit Dritter durch finanzielle Zuwendungen. 108 Reinhard Mohn, Ziele einer operativen Stiftung, Gütersloh 1997, 30. 109 Stefan Toepler, Myths and Misconceptions? Evaluating the Government. Foundation Relationships in Germany against the American Experience. The Johns Hopkins Institute for Policy Studies, Center for Civil Society Studies, Working Paper Series No. 14, 1997, 12.
Von Abbe bis Mohn – Stiftungen in Deutschland im 20. Jahrhundert
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gungen des Stiftungswesens selbst.110 Mit Projekten dieser Art überschreitet die Stiftung, obwohl sie auf unabhängigen Sachverstand größten Wert legt, mitunter die Grenze dessen, was einer amerikanischen private foundation infolge des dort für Stiftungen geltenden Lobbyverbots gestattet wäre. Parallel dazu hat der Druck der regulierenden staatlichen Autoritäten auf die Stiftungen seit den achtziger Jahren spürbar abgenommen. Waren zuvor formal unzulässige Beeinflussungen von Stiftern hinsichtlich der Gestaltung ihrer Stiftungsziele an der Tagesordnung, so wurden sie nun allmählich zu Ausnahmen und verschwanden schließlich fast vollständig. Auch hatten Stifter mit tatsächlich alternativen Konzepten immer weniger mit Widerständen der örtlichen Behörden zu kämpfen. Das Bundesfinanzministerium hat in jüngster Zeit mehrfach, z. B. anlässlich der Reform des Gemeinnützigkeitsund Spendenrechts (2007)111, den ernsthaften Versuch unternommen, diese Liberaisierung einzudämmen, ist aber damit regelmäßig politisch gescheitert. SCHLUSSBEMERKUNG Um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert hat sich, so lässt sich zusammenfassen, nach einer langen Phase der engen Verschränkung des Stiftungswesens mit der Staatsmacht in Deutschland ein Stiftungswesen herausgebildet, das einerseits, mit bedingt durch Gesetzesreformen (2000 und 2002), so stark wächst wie noch nie, andererseits in einen korporatistischen und einen als liberal bezeichneten Subsektor zerfällt.112 Quer zu Tätigkeitsfeldern, Rechtsformen und anderen Kategorisierungen können Stiftungen anhand ihres Selbstverständnisses in Bezug auf ihre Rolle in der Gesellschaft in diese zwei Subsektoren unterschieden werden. Inwieweit sich diese Subsektoren quantitativ in die Gesamtheit der Stiftungen einordnen, kann nicht präzise
110 Expertenkommission zur Reform des Stiftungs- und Gemeinnützigkeitsrechts, ein gemeinsames Projekt der Bertelsmann Stiftung und des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt Universität zu Berlin. Im Rahmen des Projekts wurden u.a. 18 Colloquien, fünf Foren und ein Seminar durchgeführt. Aus dem Projekt gingen acht Publikationen hervor, darunter ein Abschlußbericht an die Bertelsmann Stiftung; siehe Rupert Graf Strachwitz (Hg.), Reform des Stiftungs- und Gemeinnützigkeitsrechts. Beiträge von Rainer Sprengel, Philipp Schwertmann und Josef Braml. Arbeitshefte des Maecenata Instituts, Heft 13, Berlin 2004. Insgesamt waren an dem Projekt 137 Experten beteiligt. 111 Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerlichen Engagements vom 15. Oktober 2007 (BGBl I, S. 2332) 112 Frank Adloff, Philipp Schwertmann, Rainer Sprengel u. Rupert Graf Strachwitz, Visions and Roles of Foundations in Europe – The German Report (teilw. dt. u. engl.). Arbeitshefte des Maecenata Instituts, Heft 15, Berlin 2004. Siehe darin insbesondere Adloff u. Schwertmann, Leitbilder und Funktionen deutscher Stiftungen, 97ff.
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bestimmt werden.113 Die Untersuchung zeigt, dass vor allem die im sozialen Bereich tätigen Stiftungen (dies sind, wenn auch im Einzelfall nicht notwendigerweise ausschließlich, über fünfzig Prozent) wegen ihrer Abhängigkeit von staatlich reglementierter Finanzierung dem korporatistischen Subsektor zuzuordnen sind, während Stiftungen mit anderen Zielen eher dem liberalen Subsektor angehören. Allerdings heißt dies in Bezug auf Funktionen wie Innovation, sozialer und politischer Wandel, Förderung des Pluralismus oder Gewinnung von symbolischem Kapital noch nicht, dass diese Stiftungen formend und gestaltend tätig werden. Häufiger ist eine begleitende Rolle, die oft genug eher die vorsichtigeren Reformansätze begünstigt. Damit gleichen sie sich den amerikanischen Stiftungen in dieser Beziehung an, ohne jedoch ihre erheblich ausgeprägtere Heterogenität in Bezug auf Größe, Entstehungsgeschichte, Vermögensausstattung usw. aufzugeben; im Gegenteil: eine vereinheitlichende Tendenz ist diesbezüglich nicht erkennbar. Die schon 1997 getroffene Feststellung, dass die Neupositionierung des Staates seit den späten 1980er Jahren zu einer Umkehrung des im 20. Jahrhundert entwickelten Rollenverständnisses der Stiftungen führen könnte114, bleibt daher nach wie vor gültig. Dafür, dass sie es tatsächlich tun, bzw. dass die Stiftungen ein zivilgesellschaftliches Selbstverständnis entwickeln, das sie zu einem eigenen aktiven Beitrag zu dieser Entwicklung führt, gibt es Anzeichen.115 Doch ob diese sich durchsetzen, bleibt abzuwarten.
113 Adloff u. Schwertmann, Leitbilder und Funktionen, 101. 114 Toepler, Myths and Misconceptions?, 12. 115 Adloff u. Schwertmann, Leitbilder und Funktionen, 123ff.
3. STIFTEN UND DIE KONSTITUIERUNG STÄDTISCHER ELITEN
PHILANTHROPISCHE AKTIVITÄTEN NEW YORKER ELITEN IN DEN 1980ER JAHREN* Francie Ostrower Belege für die stifterischen Aktivitäten der Wohlhabenden sind in den USA heute allgegenwärtig. Gebäude, Hilfsprogramme und sogar ganze Einrichtungen tragen den Namen ihrer Stifter. Die Programmhefte vieler Theater zählen oftmals eine lange Reihe der Sponsoren auf. Plaketten und Hinweisschilder tragen den Namen derjenigen, die ein bestimmtes Gemälde für ein Museum gestiftet haben. Krankenhausabteilungen und Stiftungslehrstühle an Universitäten sind nach den Personen benannt, die die größten finanziellen Beiträge zu deren Einrichtung beigetragen haben. So sichtbar die Ergebnisse bürgerlicher Philanthropie sind, so verdeckt sind die Quellen des Stiftens. Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Bedeutung von Philanthropie für die gesellschaftlichen Eliten New Yorks in den 1980er Jahren zu untersuchen. Dabei wird herausgestellt, dass das Stiften eine ausgesprochen wichtige Rolle bei der Etablierung einer städtischen Elitenkultur spielt und sich an die gewandelten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angepasst hat. Dieser Aufsatz basiert auf Interviews mit 99 wohlhabenden Stiftern, die in New York und Umgebung wohnen und / oder arbeiten. Obwohl sich der Aufsatz auf diese Stifter konzentriert, werde ich auch Informationen über die von den Stiftern unterstützten Institutionen etwa hinsichtlich der Aufsichtsräte und der freiwilligen Gaben für bedeutende New Yorker philanthropische Institutionen in die Darstellung einfließen lassen.
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Dieser Aufsatz fasst die wesentlichen Thesen des von der Autorin veröffentlichten Buches Why the Wealthy Give. The Culture of Elite Philanthropy (Princeton 1995) zusammen. Die Herausgeber bedanken sich bei der Princeton University Press für die Genehmigung, diesen Aufsatz, der im Wesentlichen eine Übersetzung von ausgewählten Teilen der Einleitung und des ersten Kapitels aus diesem Buch darstellt, in diesen Sammelband aufnehmen zu dürfen. Die Übersetzung und Zusammenfassung wurde von Thomas Adam besorgt.
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PHILANTHROPIE: EIN SOZIOLOGISCHER DEFINITIONSVORSCHLAG Der Begriff Philanthropie (philanthropy) wird häufig mit jenem der Wohltätigkeit (charity) gleichgesetzt, obwohl sich beide stark voneinander unterscheiden. Wohltätigkeit ist auf die Hilfe für bedürftige Arme gerichtet und beschreibt in den meisten Fällen die Linderung einer schweren, unmittelbaren Notlage. Philanthropie hingegen ist ein wesentlich weiter gefasstes Konzept, das sowohl Wohltätigkeit als auch die Bereitstellung von privaten finanziellen Mitteln für gemeinnützige öffentliche Zwecke einschließt.1 Spenden und Stiftungen für Universitäten, Museen, Hospitäler, Kirchen, Tempel, Moscheen, den Umweltschutz, karitative Einrichtungen, Parks und Forschungseinrichtungen fallen alle unter die Kategorie Philanthropie.2 Philanthropie umfasst, wie es eine meiner Interviewpartnerinnen formuliert hat, „alles, was nötig ist: von dem momentan dringend Notwendigen bis zum Wünschenswerten.“ Dieses Verständnis von Philanthropie teilte die Mehrzahl der von mir interviewten Stifter, insbesondere jene, die einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der Finanzierung wohltätiger Einrichtungen geleistet haben. So betonte einer der Stifter: Auch wenn dies nicht eine unumstrittene Ansicht sein mag, sollte man doch bedenken, dass wir in großem Umfang Steuern zahlen, und ich denke, dass diese Steuergelder einen Großteil der Ausgaben für die staatliche Armenfürsorge decken sollten. Dennoch gebe ich auch für diese Zwecke […]. Aber wir als Stifter können mit unseren freiwilligen Beiträgen einen großen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität aller leisten – etwas, was für den Staat schwer zu bewerkstelligen oder zu rechtfertigen ist.
In einer ähnlichen Bemerkung, die auch den Organisationscharakter der modernen Philanthropie hervorhebt, sagte ein anderer Stifter: Viele Menschen verstehen nicht, was Philanthropie ist. Ich gebe mein Geld nicht dafür, dass Kleidung und Nahrung für Einzelne gekauft werden kann. Für diese Dinge zahle ich Steuern. Ich denke, das ist die Aufgabe des Staates. Aber ich denke auch, dass dies eine ernstzunehmende Verantwortung ist. Man kann Menschen nicht einfach hungern lassen. […] Aber für mich ist das nicht Philanthropie. Philanthropie ist für mich die Unterstützung von Einrichtungen, und nicht eine Entscheidung über Leben oder Tod. Die Unterstützung der Kirche, zu der man gehört, ist für mich Philanthropie.
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Robert L. Payton, Philanthropic Values, in: Richard Magat (Hg.), Philanthropic Giving. Studies in Varieties and Goals, New York 1989, 29–35. Laut Gesetz können Personen, die Beiträge zu privaten Non-Profit-Institutionen leisten, diese von der Steuer absetzen. John G. Simon, The Tax Treatment of Nonprofit Organizations. A Review of Federal and State Tax Policies, in: Walter W. Powell (Hg.), The Nonprofit Sector. A Research Handbook, New Haven 1987, 67–98, hier 69. Siehe auch Lester M. Salamon, America’s Nonprofit Sector. A Primer, New York 1992, 29.
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Insbesondere diejenigen, die der Philanthropie der Eliten kritisch gegenüberstehen, neigen dazu, Philanthropie als Wohltätigkeit misszuverstehen. Eine Folge dieses Missverständnisses ist, dass nichtwohltätige Spenden als Abweichung und Missbrauch der Philanthropie gegeißelt werden. Damit werden die Absichten der Stifter als abweichend von den ursprünglichen und edlen Zielen der Philanthropie entlarvt.3 Selbst wenn man glaubt, dass die Dinge anders sein sollten, müssen wir für unsere Analyse von der Tatsache ausgehen, dass rechtlich und historisch die verschiedensten Stiftungszwecke Philanthropie ausmachen und definieren.4 Viel schwerer wiegt jedoch, dass die Stifter selbst ihre Beiträge zu kulturellen öffentlichen Zwecken als legitime Form wohltätigen Gebens interpretieren. Einige Millionäre, wie zum Beispiel Andrew Carnegie, haben sogar die Idee abgelehnt, die Funktion der Philanthropie bestünde darin, Mittellose zu unterstützen.5 Zwei Dinge müssen hier jedoch klargestellt werden: Erstens ist die finanzielle Unterstützung kultureller oder anderer öffentlicher Zwecke keineswegs nur eine Domäne der wohlhabenden Kreise. Zweitens wird nur ein kleiner Anteil der Spenden und Stiftungen für die Armenhilfe bestimmt.6 Hierin unterscheidet sich das Geben der Reichen kaum vom Geben der Durchschnittsbürger. Die Tatsache, dass das Geben für soziale Zwecke so atypisch ist, sollte uns daran erinnern, dass wir mit der Übertragung von Erkenntnissen und Definitionen, die wir am Beispiel der Wohltätigkeit gewonnen haben, auf das größere und umfassendere Konzept der Philanthropie sehr vorsichtig sein sollten. Es sollte daher die Aufgabe des Forschers sein, die vielfältigen Formen des Gebens seitens der Philanthropen zu erklären und zu verstehen. 3
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Zuletzt siehe Teresa Odendahl, Charity Begins at Home. Generosity and Self-Interest Among the Philanthropic Elite, New York 1990. Am Anfang dieses Interpretationsansatzes stand Ferdinand Lundberg, America’s 60 Families, New York 1937. Für neuere Studien zu den redistributiven Effekten des Non-Profit-Sektors siehe Charles T. Clotfelter (Hg.), Who benefits from the Nonprofit Sector?, Chicago 1992. Für Studien, die Zweifel an der Idee äußern, dass Redistribution ein Hauptzweck des Non-Profit-Sektors ist, siehe Henry J. Aaron, Commentary, in: Clotfelter, Who benefits, 236–243, hier 242f; Ram A. Cnaan, Review of „Who Benefits from the Nonprofit Sector?“ (hg. v. Charles T. Clotfelter), in: Nonprofit and Voluntary Sector Quarterly 22, 184–188; Estelle James, Commentary, in: Clotfelter, Who benefits, 244–255, hier 255; Frank Levy, Commentary, in: Clotfelter, Who benefits, 256–261, hier 261. Siehe Robert H. Bremner, Private Philanthropy and Public Needs. Historical Perspective, in: Research Papers sponsored by The Commission on Private Philanthropy and Public Needs (Washington, D.C., Department of the Treasury) 1, 1977, 89–114; Payton, Philanthropic Values; Simon, The Tax Treatment of Nonprofit Organizations. Bremner, Private Philanthropy and Public Needs, 99. James, Commentary, 255; Christopher Jencks, Who Gives to What?, in: Powell, The Nonprofit Sector, 321–339, hier 322; Susan Ostrander, The Problem of Poverty and Why Philanthropy Neglects It, in: Virginia A. Hodgkinson, Richard W. Lyman u. Associates (Hg.), The Future of the Nonprofit Sector, San Francisco 1989, 219–236, hier 221.
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Ich beschränke mich hier auf die finanziellen Beiträge von Stiftern und lasse die investierte Zeit außer Acht. Für die Mehrzahl der in meiner Studie befragten Stifterinnen und Stifter waren beide Elemente von Philanthropie – das Bereitstellen von Geld und von Zeit – untrennbar miteinander verbunden. So betonte eine meiner Interviewpartnerinnen: „Es ist nicht nur Geld. Philanthropie ist Zeit und intellektuelle Arbeit, und es ist alles miteinander verwoben.“ Ähnlich beschrieb einer der Stifter die Bedeutung von Philanthropie für ihn als „die Erfüllung, die ich daraus beziehe, dass ich in der Lage bin, meine Ideen durch die Verwendung meiner Ressourcen und in Verbindung mit meinen persönlichen Bemühungen zu verwirklichen.“ Freiwillige und unbezahlte Arbeit, insbesondere die Mitwirkung in den Aufsichtsräten öffentlicher Institutionen (boards of trustees), erwies sich in meiner Studie als ein entscheidender Faktor für das philanthropische Engagement New Yorker Stifter. Für die Eliten ist das Stiften ein Bestandteil des breiteren Engagements für philanthropische Einrichtungen wie Museen, Konzerthäuser, Universitäten, Schulen etc. Daher ist es notwendig, den Charakter und die Bedeutung des Engagements der Wohlhabenden für den gemeinnützigen Sektor zu verstehen, um generelle Aussagen über die Gründe darüber treffen zu können, warum Eliten sich in der Philanthropie engagieren. Mein Konzept von Philanthropie lehnt sich an juristische bzw. steuerrechtliche Definitionsversuche an. Einige Forscher verlangen, dass wir Philanthropie eher als eine Reaktion auf bestimmte „soziale Signale“ definieren sollten und nicht in seiner Beziehung zu formellen institutionellen Charakteristiken wie der Steuergesetzgebung.7 Ich bin aber überzeugt, dass rechtliche Definitionen und formelle institutionelle Charakteristiken für das Verständnis philanthropischen Handelns zeitgenössischer Eliten zentral sind. Deshalb müssen wir auch das Selbstverständnis der Stifter und deren Selbstwahrnehmung in Betrachtung ziehen.
DIE BEDEUTUNG VON PHILANTHROPIE FÜR GESELLSCHAFTLICHE ELITEN Da Eliten in der Geschichte der Philanthropie immer eine herausgehobene Rolle gespielt haben, ist es sinnvoll, nach den Gründen für dieses beständig hohe Engagement zu fragen. Die Bereitstellung von materiellen und immateriellen Ressourcen zur Förderung öffentlicher Projekte ist ein spezifisches und bedeutsames Merkmal der amerikanischen Gesellschaft.8 Die anhaltenden 7 8
Paul G. Schervish u. Andrew Herman, The Study on Wealth and Philanthropy Final Report, Social Welfare Research Institute, Boston College 1988, 157. Für einzelne historische Beispiele siehe Bremner, Private Philanthropy and Public Needs; Paul DiMaggio, Cultural Entrepreneurship in Nineteenth-Century Boston. The Creation of an Organizational Base for High Culture in America, in: Media, Culture and
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Bemühungen öffentlicher Einrichtungen, finanzielle Unterstützung von wohlhabenden Stiftern zu erhalten, legen Zeugnis von der fortwährenden Bedeutung der Stifter für diese Institutionen ab. Diese Verbindung wird durch die andauernde Besetzung der Positionen in den Aufsichtsräten der Museen, Universitäten, Schulen etc. mit Angehörigen der sozialen Eliten aufrechterhalten. Mein Aufsatz stellt nicht nur eine Studie über die Funktionsmechanismen philanthropischer Institutionen dar, sondern auch einen Beitrag zur Erforschung der Eliten in den USA. Philanthropie ist ein integrales, definierendes Element der amerikanischen Elitenkultur. Der Aufsatz versteht sich damit als Fallstudie zur Kultur des amerikanischen Bürgertums. Robert Bellah und seine Mitarbeiter kamen bereits zu der Erkenntnis, dass die amerikanische Kultur durch das Bürgertum (middle class) und seine Wertvorstellungen dominiert werde, und dass sich eine wirkliche Oberschicht (upper class) unter diesen Bedingungen nicht entwickeln könne.9 Der USA fehle es an einer aristokratischen Oberschicht ebenso wie an klar erkennbaren Klassenunterschieden, wie sie in Großbritannien existierten. Das Phänomen der Philanthropie zeigt jedoch, dass amerikanische Eliten eine eigene Subkultur entwickelten, indem sie Elemente und Werte der breiten Bevölkerung aufnahmen und in ihrem Sinne umformulierten. Eliten adoptierten jedoch nicht nur dieses philanthropische Handeln, sondern verwandelten es in eine Lebensform, die das gesamte soziale und kulturelle Leben ihrer Klasse bestimmte, der sie eigene Werte und Normen hinzufügten. In diesem Prozess wurde Philanthropie zu einem Zeichen von Status und sozialer Klasse, das dazu beitrug, die Demarkationslinien der Elitenkultur abzustecken. Stifter betrachten Philanthropie als eine Möglichkeit, „Teil der feinen Gesellschaft zu sein“ und Verbindungen innerhalb der feinen Gesellschaft herzustellen. Philanthropie sollte daher auch als ein Handlungsmuster betrachtet werden, das dazu dient, den Zusammenhalt der Eliten zu festigen.10
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Society 4, 33–50; Peter Dobkin Hall, The Organization of American Culture, 1700– 1900. Private Institutions, Elites, and the Origins of American Nationality, New York 1982; Frederic Cople Jaher, The Urban Establishment. Upper Strata in Boston, New York, Charleston, Chicago and Los Angeles, Urbana 1982; Kathleen D. McCarthy, Noblesse Oblige. Charity and Cultural Philanthropy in Chicago, 1849–1929, Chicago 1982; Ronald Story, The Forging of an Aristocracy. Harvard and the Boston Upper Class, 1800–1885, Middletown 1980; Calvin Tomkins, Merchants and Masterpieces. The Story of the Metropolitan Museum of Art, New York 1989. Robert Bellah, Richard Madsen, William Sullivan, Ann Swidler u. Steven Tipton, Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life, New York 1985. Die Identifikation solcher Aktivitäten, Institutionen und Mechanismen war ein wichtiger Bestandteil der Forschungen über Eliten in den USA. Siehe zum Beispiel die Arbeiten über Privatschulen und exklusive Klubs: E. Digby Baltzell, The Protestant Establishment, New York 1964; Peter W. Cookson u. Caroline Hodges Persell, Preparing for Power. America’s Elite Boarding Schools, New York 1985; G. William Domhoff, The
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Die Werte, Interessen, Ähnlichkeiten und Unterschiede, die die verschiedenen Elitengruppen charakterisierten, halfen Ansprüche und Verhalten im philanthropischen Feld zu formen. Philanthropie erwuchs immer aus der Identität des Stifters, die nicht nur durch seine soziale Klassenstellung, sondern auch durch Faktoren wie ethnische Herkunft, Religion und Geschlecht bestimmt war. Meiner Beobachtung nach war es die relative Stärke und Verfügbarkeit von verschiedenen Quellen individueller Identität, die die Variationen im philanthropischen Verhalten unter den Stiftern erklären, die derselben Elitengruppe angehörten. Basierend auf der Verbindung zwischen Stiften und Identität erlaubt uns die Erforschung der Philanthropie, den relativen Einfluss der jeweiligen Quellen der Identität (z. B. der sozialen Stellung) zu untersuchen. Während, aus größerer Entfernung betrachtet, Angehörige der Eliten oftmals als Mitglieder einer homogenen Gruppe erscheinen, treten bei einer näheren Betrachtung deutliche Unterschiede und Hierarchien hervor. Diese Unterschiede haben einen Einfluss auf die Art und Weise, wie sich die betreffenden Stifter in der Arena der Philanthropie verhalten. Variationen im Stiftungsverhalten resultieren aus den Unterschieden in der sozialen Organisation der Elitengruppen, zu denen die Stifter gehören. DIE PHILANTHROPIE DER ELITEN: SPANNUNGEN, KONTINUITÄTEN UND WANDLUNGEN Das gesamte System der Philanthropie der Eliten basiert auf einer Reihe von Organisationen und Institutionen. Der Charakter der Philanthropie resultiert Higher Circles. The Governing Class in America, New York 1970; ders., The Bohemian Grove and Other Retreats, New York 1974; Michael Useem, Corporations and the Corporate Elite, in: Annual Review of Sociology 6 (1980), 41–77. Untersuchungen zu kulturellen Aktivitäten zeigen, dass das Engagement für künstlerische Zwecke eine ähnliche Funktion erfüllt. DiMaggio, Cultural Entrepreneurship in Nineteenth-Century Boston; Paul DiMaggio u. Michael Useem, Cultural Democracy in a period of Cultural Expansion. The Social Composition of Arts Audiences in the United States, in: Social Problems 26 (1978), 179–197; dies., The Arts in Class Reproduction, in: Michael W. Apple (Hg.), Cultural and Economic Reproduction in Education, London 1982, 181–201. Die Forschung hat herausgearbeitet, dass sich die in diesem Bereich etablierten Aktivitäten auch auf andere Felder auswirken können, so dass die Kohärenz der Elite zu einer Vereinheitlichung von Verhaltensweisen in den Sphären der Wirtschaft und der Politik führt. G. William Domhoff, Who Rules America Now? A View from the Eighties, Englewood Cliffs 1983. Für eine weiterführende Diskussion der verschiedenen Aspekte philanthropischer Aktivitäten wie zum Beispiel Benefizveranstaltungen und die Mitgliedschaft in Aufsichtsräten, die die Solidarität innerhalb der Elite fördert, siehe zum Beispiel Arlene K. Daniels, Invisible Careers. Women Civic Leaders from the Volunteer World, Chicago 1988; Odendahl, Charity Begins at Home; Useem, Corporations and the Corporate Elite.
Philanthropische Aktivitäten New Yorker Eliten in den 1980er Jahren
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nicht nur aus den Werten und Prioritäten der Eliten, sondern auch aus den Bedürfnissen und der Entwicklung der philanthropischen Institutionen, die diese Eliten fördern. Die Interessen dieser beiden Partner müssen nicht immer übereinstimmen. Wie Paul DiMaggio und Michael Useem für den Fall der kulturellen Institutionen herausgearbeitet haben, kann das Streben der Eliten nach sozialer Exklusivität mit den Bedürfnissen der Einrichtungen nach möglichst breiter Förderung in Konflikt geraten. So weigerten sich die Mitglieder von Aufsichtsräten, neue, wohlhabende Stifter aufzunehmen, obwohl sie der betreffenden Institution große Summen versprachen; zugrunde lag ihre Wahrnehmung, es handle sich um soziale Außenseiter. Immer wieder haben Eliten versucht, die Leistungen und Angebote der von ihnen geförderten Institutionen für sich zu monopolisieren und gegen Mitglieder der Mittelschicht abzuschotten. Dies hatte natürlich Grenzen, da Institutionen, deren Träger unfähig sind, sich dem Wandel der Zeit anzupassen, letztlich untergehen werden. Diese Spannungen zwischen Stiftern und ihren Institutionen haben zwar immer existiert, doch unter bestimmten Bedingungen kamen sie offensichtlicher zum Vorschein. So ließen Veränderungen innerhalb der Eliten und des Non-Profit-Sektors diese Spannungen während der 1980er Jahre deutlich hervortreten. Dieses Jahrzehnt war durch einen ungeheuren Kapitalzuwachs und einen außergewöhnlichen Anstieg der Zahl neuer Millionäre gekennzeichnet.11 Diese Entwicklungen zeigten sich besonders deutlich in der Finanzmetropole New York. In der Stadt gab es plötzlich eine große Zahl von „Neureichen“, die von den etablierten Eliten als Außenseiter betrachtet wurden. Zur selben Zeit wuchsen die Finanznöte der öffentlichen Einrichtungen New Yorks gewaltig. Selbst viele der ältesten und berühmtesten städtischen Institutionen wie die New York Public Library, die Carnegie Hall oder das Metropolitan Museum of Art hatten sich zu gewaltigen Unternehmen entwickelt, deren Finanzierung die Kräfte einer kleinen Gruppe von Stiftern bei weitem überstieg. Seit der finanziellen Krise der Stadt New York in den 1970er Jahren suchten diese Organisationen nach Wegen, die Gruppe der potenziellen Stifter zu erweitern und neue Finanzquellen zu erschließen. Die Erweiterung der Aufsichtsräte der größten New Yorker philanthropischen Einrichtungen in den 1970er und 1980er Jahren reflektierte diese Entwicklung.12 Sicher war 11
Kevin Philipps, The Politics of Rich and Poor. Wealth and the American Electorate in the Reagan Aftermath, New York 1990. 12 Die New York Public Library erhöhte Mitte der 1970er Jahre die Höchstzahl ihrer Aufsichtsratsmitglieder von 25 auf 35, Mitte der 1980er Jahre noch einmal auf 42. Phyllis Dain, Public Library Governance and a Changing New York City, in: Libraries and Culture 26 (1991), 219–250. Carnegie Hall, das New York City Ballet und die Metropolitan Opera folgten diesem Beispiel. Für den Trend hin zu größeren Aufsichtsräten siehe Rikki Abzug, Comparing Trusteeship across Cities. Some Predictions and Some Surprises, Paper prepared for the Fifth Annual International Conference of the Society for the Advancement of Socio-Economics, New York 1993; Rikki Abzug, Paul J. DiMaggio, Bradford H. Gray, Chul Hee Kang u. Michael Useem, Changes in the Structure and
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die Vergrößerung der Aufsichtsräte ein Zeichen des Bemühens um Diversifizierung, doch ihr wichtigster Zweck bestand wohl darin, eine größere Zahl wohlhabender und freigebiger Stifter zu integrieren. Dieser Trend führte dazu, dass Mechanismen geschaffen wurden, die halfen, neue Stifter in die Arbeit einzubeziehen,13 und dass formalisierte Fundraising-Praktiken etabliert wurden.14 Auch wenn sich Philanthropie dem Wandel der Zeiten anpasste und neue Formen annahm, behielt sie doch ihren exklusiven Charakter, indem diejenigen Personen, die nicht zu den altehrwürdigen Eliten gehörten, ausgeschlossen wurden. Gleichzeitig wurde es einfacher, Statusbarrieren innerhalb der Eliten zu überwinden, insbesondere wenn es um die begehrten Plätze in den Aufsichtsräten ging. Sowohl die Kriterien für den Erwerb einer herausgehobenen Stellung unter den New Yorker Stiftern als auch die Personen, die eine herausgehobene Position erlangten, wandelten sich. Die Folge war, dass das Phänomen elitärer Philanthropie auf diese Weise ebenso bewahrt und gestärkt werden konnten wie die von den Eliten geschätzten öffentlichen Institutionen. Es zeigte sich, dass Eliten und ihre Institutionen sich verändern und anpassen mussten, wenn sie überleben wollten.15 Die Form, in der Philanthropie praktiziert wird, erlaubt es ihr, ihre Rolle als Kennzeichen von sozialer Position selbst unter sich verändernden Umständen zu bewahren. Aus Sicht der Eliten haben sich viele philanthropische Institutionen aus früher exklusiven Zirkeln zu öffentlichen Institutionen mit unternehmerischen Aktivitäten entwickelt. Souvenirläden verleihen ihnen einen kommerziellen Charakter, der dem ursprünglichen Anspruch der Stifter auf Exklusivität widerspricht. Ein gutes Beispiel liefert Patrick Smiths Vergleich der Werbung für die Metropolitan Opera in den frühen 1980er Jahren mit der exklusiven Praxis der Ticketvergabe an Subskribenten in den Composition of Non-Profit Boards of Trustees. Cases from Boston and Cleveland, 1925–1985, Program on Non-Profit Organizations, Yale University, Working Paper 173 (1992). 13 So erhöhte das Metropolitan Museum die Mitgliederzahl seines Aufsichtsrates um eine vergleichsweise geringere Zahl, schuf dafür aber Anfang der 1980er Jahre mit dem Vorsitzendenrat eine neue Instanz, dessen Aufgabe es war, denjenigen Stiftern, die jährlich eine größere Finanzsumme zum Unterhalt des Museums beitrugen, eine größere Nähe zu dem von ihnen geförderten Museum zu vermitteln. Metropolitan Museum of Art, 112th Annual Report of the Trustees, 1981–1982. Dieser neue Vorsitzendenrat war dem Aufsichtsrat direkt nachgeordnet. 14 Die Carnegie Hall bietet hierfür ein gutes Beispiel: Während der Mitte der 1970er Jahre gab die Konzerthalle ihre erste Kampagne für einen Endowment Fund bekannt und verwies dabei darauf, dass sie bisher nicht auf solche Kampagnen habe zurückgreifen müssen, um ihre Finanzierung zu garantieren, dass es aber nun eine Notwendigkeit geworden sei. A National Endowment Fund for Carnegie Hall, Stagebill vom Oktober 1977. 15 Baltzell, The Protestant Establishment; Vilfredo Pareto, Mind and Society, Bd. 3, New York 1935.
Philanthropische Aktivitäten New Yorker Eliten in den 1980er Jahren
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1950er Jahren.16 Die Besucherzahlen einiger Institutionen in den 1990er Jahren stehen ebenfalls im krassen Widerspruch zur früher beanspruchten Exklusivität dieser Einrichtungen. So zählte das Metropolitan Museum für das Jahr 1991 / 92 4,5 Millionen Besucher.17 Beide Beispiele zeigen, wie es gemeinnützigen Institutionen möglich ist, ein hohes Ansehen zu bewahren und gleichzeitig eine Transformation einzuleiten, in der der Anspruch auf Exklusivität entscheidend geschwächt wird. Die Organisation der Philanthropie erlaubte selbst unter diesen sich verändernden Bedingungen die Bewahrung einer relativ homogenen Elitenkultur. Innerhalb der Sphäre der Philanthropie gelang es den Eliten, sich eine Nische zu schaffen, in der sie ein unabhängiges Netz von Beziehungen mit herausragenden Institutionen aufbauen konnten, die von ihren Geldern profitierten. Dies ermöglichte es ihnen, eine besondere Identifikation zwischen Spendern und Empfängern zu schaffen, auch wenn diese Institutionen in der Zwischenzeit gewaltige Veränderungen durchmachten und ihre Exklusivität aus finanziellen Gründen abstreiften. DIE SOZIALE ELITE: EINE DEFINITION Die Elite ist definiert durch ihren Status. Dieser Status ist durch Gruppensolidarität, soziale Exklusivität und eine spezifische kulturelle Identität geprägt.18 Familien innerhalb der Elite interagieren in einer Vielzahl von exklusiven organisatorischen Formen wie Klubs und privaten Elitegymnasien (preparatory schools). Eine Heirat innerhalb dieser sozialen Gruppe sichert das Überleben der Elite. In den USA bestand die Elite zumeist aus europäischen Protestanten angelsächsischer Herkunft, was zur Prägung des Begriffes des Protestant Establishment führte.19 Umgangssprachlich wird diese Gruppe auch manchmal als „blaublütig“ beschrieben. Es ist aber durchaus möglich, wohlhabend zu sein oder der Elite anzugehören, ohne Mitglied der hier untersuchten Gruppe der sozialen Elite zu sein.
16 Patrick Smith schrieb, dass die einst abgeschlossene Institution nun die Verfügbarkeit von Eintrittskarten in Zeitungen, dem Radio und mit Postwurfsendungen öffentlich anpries. Patrick J. Smith, A Year at the Met, New York 1983, 31. 17 Metropolitan Museum of Art, 122nd Annual Report of the Trustees, 1991–1992, 8. Die Besucherzahlen beliefen sich im Jahre 1981 / 82 auf 3,5 Millionen. Siehe 112th Annual Report of the Trustees, 4. 18 Baltzell, The Protestant Establishment; Domhoff, Who Rules America Now?; Michael Useem, The Inner Circle. Large Corporations and the Rise of Business Political Activity in the U.S. and U.K., New York 1984. 19 Baltzell, The Protestant Establishment; Richard L. Zweigenhaft u. G. William Domhoff, Jews in the Protestant Establishment, New York 1982.
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Die soziale Elite existiert innerhalb der Elite als eine Subgruppe. Sie wird als eine dominante Gruppe innerhalb der größeren Elite bezeichnet, da ihr Verhalten, ihr Wertesystem und ihre Kultur von den Mitgliedern der breiteren Elite bewundert wird und als Referenzpunkt gilt.20 Es ist argumentiert worden, diese soziale Elite sei eine „Klasse im Niedergang“ und werde in zunehmendem Maße durch atomisierte und isolierte Manager ersetzt.21 In historischer Perspektive wird jedoch deutlich, dass es Eliten oftmals gelang, eine dominierende Rolle in der Kultur zu übernehmen, nachdem sie ihre beherrschende Stellung auf andern Feldern – etwa der Politik – hatten aufgeben müssen.22 Für den Zweck meiner Untersuchung wird als ein Mitglied der sozialen Elite diejenige Person definiert, die entweder in dem Social Register (eine Art Who is Who der wohlhabenden und exklusiven Gesellschaft) aufgenommen wurde, ein Mitglied eines elitären Klubs oder ein Absolvent eines privaten Elitegymnasiums ist.23 DIE NORMATIVE BASIS FÜR DIE PHILANTHROPIE DER ELITEN Die Männer und Frauen, die ich für mein Forschungsprojekt interviewt habe, leben in einem Milieu, in dem Philanthropie die Regel ist und als eine Verpflichtung gilt, die mit ihrer privilegierten Position untrennbar verbunden ist. Sie wollen spenden und stiften und sie glauben, dass sie ein Recht dazu haben, und dass es ihre Entscheidung sei, wen sie finanziell unterstützen. In einigen Fällen verfügen sie sogar über ein Set von Verhaltensregeln, die über die Art und Weise des Gebens bestimmen. Diese Stifter bestehen darauf, dass es legitim und wünschenswert sei, eine Reihe von Institutionen, deren Aufgabe es ist, für die Öffentlichkeit wirksam zu werden, privat durch Philanthropie zu finan20 Domhoff, Who Rules America Now?, 218. 21 Baltzell, The Protestant Establishment; ders., The Protestant Establishment Revisited. Kap. 3, 5–6 (hg. v. Howard G. Schneiderman), New Brunswick 1991. 22 George Marcus, Elite Communities and Institutional Orders, in: George Marcus (Hg.), Elites. Ethnographic Issues, Albuquerque 1983, 41–57, hier 42f. Siehe auch DiMaggio, Cultural Entrepreneurship in Nineteenth-Century, Boston 1982. 23 Diese Definition basiert auf den Forschungen und konzeptionellen Studien von G. William Domhoff und Digby Baltzell. Domhoff, Who Rules America Now?; E. Digby Baltzell, ‚Who’s who in America‘ and ‚The Social Register‘. Elite and Upper Class Indexes in Metropolitan America, in: Reinhard Bendix u. Seymor M. Lipset (Hg.), Class, Status and Power. Social Stratification in Comparative Perspective, New York 1966, 266–275. Klubs und Schulen sind aufgeführt in Domhoff, Who Rules America Now?, 44–47. Diese Klubs waren zum Beispiel der Colony Club, Knickerbocker Club, Links Club und der River Club. Unter den Schulen befanden sich Emma Willard, Foxcroft, Groton, Lawrenceville und St. Marks.
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zieren und sie so vor staatlichem Einfluss zu bewahren.24 Auch wenn es Unterschiede hinsichtlich der Praxis des Spendens und Stiftens zwischen den Subgruppen der Elite gibt, teilen doch alle eine fundamentale Überzeugung: Die Mehrheit der Stifter stimmte darin überein, dass „für die wohlhabenden Mitglieder unserer Gesellschaft Philanthropie keine Frage der Wahl, sondern eine Verpflichtung“ sei.25 Spezifische Interpretationen der Idee einer „Verpflichtung“ variieren von Fall zu Fall und hängen von der jeweiligen philanthropischen Tradition ab, in der die jeweiligen Personen sozialisiert wurden. Einige Stifter sprachen von der Notwendigkeit, etwas zurückzuzahlen: Sie selbst hätten mit wenig angefangen, mithilfe von Stipendien und anderer Unterstützung den Aufstieg geschafft und so den Beweis erhalten, dass Philanthropie Benachteiligten helfen könne; deshalb meinten sie, es sei mehr als angebracht, nun etwas von dem Erhaltenen zurückzugeben. Einige Stifter gaben Schuld als ein Motiv für Philanthropie an. Einer der Männer erklärte, dass er sich angesichts der vielen materiellen Vorteile, die er genieße, schuldig fühle und daher die Verpflichtung verspüre, einen Teil seines Geldes zur Verfügung zu stellen. Solche Kommentare legen die Vermutung nahe, dass Philanthropie auch zur Legitimierung von Reichtum beitragen kann. Philanthropie gilt aber auch als Möglichkeit, die eigene Zugehörigkeit zur Oberschicht gegenüber der übrigen Gesellschaft zu legitimieren.26 Im Zuge meiner Interviews konnte ich jedoch feststellen, dass die interviewten Stifter viel mehr mit der Wahrnehmung ihrer philanthropischen Aktivitäten durch ihresgleichen beschäftigt waren als mit der Wahrnehmung durch Personen, die nicht zu ihrer sozialen Schicht gehörten. Philanthropie mag auch dazu beitragen, den erworbenen Reichtum gegenüber dem Stifter selbst zu legitimieren und ihm damit helfen, sein schlechtes Gewissen zu bereinigen. Wie Max Weber beobachtete, geht es wohlhabenden Menschen nicht nur darum, sich ihres Reichtums zu erfreuen, sondern auch zu glauben, dass sie es verdient haben: Der Glückliche begnügt sich selten mit der Tatsache des Besitzes seines Glückes. Er hat darüber hinaus das Bedürfnis: auch noch ein Recht darauf zu haben. Er will überzeugt sein, dass er es auch ‚verdiene‘; vor allem: im Vergleich mit andern verdiene. Und er will also auch glauben dürfen: dass dem minder Glücklichen durch den Nichtbesitz des gleichen Glückes ebenfalls nur geschehe, was ihm zukommt. Das Glück will ‚legitim‘ sein.27
Zwar betrachteten die interviewten Stifter Philanthropie als eine Verpflichtung, doch sie sahen darin zugleich auch eine freudebringende Tätigkeit. Ein 24 Siehe hierzu Ostrower, Why the Wealthy Give, 113–131. 25 Von den 73 befragten Stiftern stimmten 82,2 Prozent dieser Feststellung zu. Eine weitere Person war sich nicht sicher. 26 Susan Ostrander, Women of the Upper Class, Philadelphia 1984. 27 Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1972, 242. Zu dem Problem des „verdienten“ Reichtums siehe Ostrower, Why the Wealthy Give, 100–112.
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Stifter bemerkte, dass es, selbst wenn er keine direkte Gegenleistung erhielte, zumindest in seinem Geiste eine Belohnung gebe, indem er sich sagen könne, er sei ein großzügiger Mensch, weil er eine Person oder einen guten Zweck unterstützt habe. „Ich denke, jegliches philanthropische Handeln bringt etwas ein, wenn auch nicht immer direkt.“ Diese Bemerkung legt nahe, dass sich Spenden und Stiften immer aus den generellen Ansichten und Interessenlagen der Stifter herleitet. Aus der inneren Verbindung der Stifter mit ausgewählten Organisationen und Stiftungszwecken erklärt sich denn auch die Befriedigung, die die Stifter aus ihrem finanziellen Engagement beziehen. Diese Verbindung wird auch darin deutlich, dass einige der hier betrachteten Stifter frustriert sind, wenn sie sich durch äußeren Druck, wie zum Beispiel unternehmerische Interessen, zum Stiften für bestimmte Projekte gedrängt fühlen, für die sie kein privates Interesse aufbringen. Das in den Interviews entstandene Bild dessen, was Philanthropie sei, ist durch eine interessante Mischung von Zwang und Freiwilligkeit gekennzeichnet. Für Stifter ist es wichtig, dass sie ein Projekt ihrer freien Wahl unterstützen können. Oftmals ist Stiften und Spenden aber auch das Resultat von Bitten und Wünschen ihrer Freunde und Geschäftspartner und damit weniger durch die Interessen der Stifter bestimmt. Die bereitwillige Anerkennung von Philanthropie als Verpflichtung war eine erstaunliche Erkenntnis, weil die interviewten Stifter gleichzeitig die Meinung vertraten, dass Individuen eine freie Wahl darüber haben sollten, was sie mit ihrem Reichtum anfingen. Diese Freiheit sehen sie als eine unabdingbare Voraussetzung für die Existenz von Philanthropie. Viele der interviewten Stifter waren äußerst kritisch gegenüber jenen Mitgliedern der sozialen Elite, die sich in ihren Augen nicht ausreichend für philanthropische Projekte engagierten und suchten nach einer Erklärung für dieses vermeintliche soziale Fehlverhalten.28 So erklärte eine der interviewten Personen das Fehlen philanthropischen Engagements eines Bekannten damit, dass dieser „ein verzogener Mensch sei, unglücklich, unsicher, und durch seine Vergangenheit beschädigt.“ Erziehung zur Philanthropie ist für wohlhabende New Yorker ein unabdingbarer Bestandteil der Vorbereitung auf das spätere Leben. 28 Von 68 interviewten Stiftern gaben 61,8 Prozent an, dass sie einen oder mehrere reiche Personen kennen würden, die keine großen Beiträge an philanthropische Institutionen gäben. 25 Prozent gaben an, dass sie keine derartige Person kannten. Und 13,2 Prozent waren sich nicht sicher, da sie nicht wussten, was ihre Freunde und Bekannten an finanziellen Beiträgen an philanthropische Institutionen leisteten. Von den Personen, die Leute kennen, die keine Beiträge an philanthropische Einrichtungen leisten, gaben 78 Prozent an, dass sie eine schlechte Meinung von diesen Personen hätten. Es sollte hierbei berücksichtigt werden, dass es hier nicht um das tatsächliche Verhalten der Personen, sondern nur um deren wahrgenommenes Engagement ging. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Einfluss von philanthropischem Verhalten auf die Gesamteinschätzung des Charakters anderer Menschen. Selbst diejenigen Stifter, die davon ausgingen, dass Philanthropie keine Verpflichtung für Reiche sei, teilten diese Ansicht.
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Für viele Stifter beinhaltet Philanthropie auch die Unterstützung von Organisationen und Institutionen in ihrer eigenen Kommune oder Stadt. Einer der interviewten Stifter verwies darauf, dass jede Stadt ihre Institutionen hat, die die Stadt erst zu dem macht, was sie ist […]. Diese Institutionen geben ihr die Farbe und Essenz einer kulturellen Metropole. Es gibt viele solcher Institutionen in New York, und ich denke, dass es ihre Bewohner der Stadt schulden, dabei zu helfen, diese Institutionen zu bewahren.
Daraus folgt, dass Angehörige der sozialen Elite, die nicht ihren Anteil zur Erhaltung dieser Infrastruktur beitragen, riskieren, als Individuen gebrandmarkt zu werden und vorgeworfen zu bekommen, sie würden zwar von bestimmten Institutionen profitieren, sie aber nicht unterstützen. Ein Interviewpartner kritisierte etwa, dass viele seiner Nachbarn aus dem Vorort, in dem er wohnt, für Institutionen in New York geben, ihren eigenen Wohnort aber sträflich vernachlässigen. Er forderte, dass diese Personen ihre Entscheidung überdenken und wesentlich mehr Geld für Projekte in ihrem eigenen Wohnort geben sollten. Ein anderer Stifter betonte, dass Individuen Geld für mehrere Institutionen geben sollten und bezeichnete jene, die das nicht täten, als „Schmarotzer“ (free riders). Wenn also wohlhabende Menschen sich der Beteiligung an Philanthropie versagen, werden sie den Erwartungen ihrer sozialen Gruppe nicht gerecht und vernachlässigen Einrichtungen, deren Unterstützung die anderen Angehörigen der sozialen Elite für wichtig erachten. PHILANTHROPIE, MITARBEIT IN PHILANTHROPISCHEN INSTITUTIONEN UND SOZIALE NETZWERKE Philanthropie ist mehr als die Bereitstellung finanzieller Mittel. Stiften ist nicht ein isoliertes Handeln, sondern Bestandteil eines umfangreicheren Engagements zugunsten bestimmter philanthropischer Einrichtungen. Etwa 75 Prozent aller von mir befragten Stifter waren Mitglieder in den Aufsichtsräten der von ihnen finanzierten Einrichtungen. Über sechzig Prozent der Stifter hatten Mitgliedschaften in mehr als nur einem Aufsichtsrat. 78 Prozent der Stifter finanzierten nicht nur eine, sondern mehrere öffentliche Institutionen. In den einzelnen Interviews bat ich meine Gesprächspartner, die drei größten finanziellen Beiträge, die sie während des letzten Jahres an philanthropische Institutionen gegeben hatten, und die Gründe für diese Stiftungen zu benennen. Großteils war die Gabe an eine Einrichtung gegangen, mit der der Stifter bereits eine andere, von der Gabe unabhängige Beziehung gehabt hatte, beispielsweise eine Mitgliedschaft im Aufsichtsrat oder die vorangegangene Nutzung der Leistungen der betreffenden Institution.29 Das traf für 66 Prozent aller Spenden für kulturelle Einrichtungen und 56,3 Prozent aller 29 Die einzige Ausnahme stellten Stiftungen für jüdische wohltätige Organisationen dar.
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Überweisungen an Bildungs- und Erziehungseinrichtungen zu. In vielen Fällen hatte der Stifter bereits eine direkte und persönliche Beziehung zu der Empfängerinstitution. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: 43,4 Prozent aller größeren Gaben für kulturelle Einrichtungen gingen an Institutionen, in denen der Stifter bereits Mitglied des betreffenden Aufsichtsrates war. Im Falle der Gaben für Kirchen und religiöse Einrichtungen waren die Stifter immer auch Angehörige der betreffenden Gemeinde. In vielen Fällen waren die größeren Gaben der Stifter mit einer Beziehung zu einer anderen Person verbunden, die oftmals ihrerseits in die Arbeit der betreffenden Institution involviert war. Dies traf auf 30,2 Prozent aller Gaben für kulturelle Einrichtungen, 40,9 Prozent aller Gaben für Krankenhäuser und 53,3 Prozent aller Gaben für andere Einrichtungen des Gesundheitswesens zu. So gab zum Beispiel ein Stifter eine größere Summe Geldes an eine Einrichtung, die auf die Behandlung einer bestimmten Krankheit spezialisiert war. Er erklärte, er habe schon immer kleinere Summen an Einrichtungen gegeben, die auf diesem Gebiet tätig seien, und konzentriere seine finanziellen Ressourcen nun auf diese bestimmte Einrichtung, weil einer seiner Freunde sich für diese Einrichtung zu engagieren begonnen hatte. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Mehrheit der großen Gaben an öffentliche Institutionen gingen, mit denen der Stifter bereits vertraut war und / oder, dass die Gabe aus Beziehungen zwischen dem Stifter und anderen Personen resultierte, die mit der betreffenden Einrichtung in einer Beziehung standen. Dies traf auf etwa neunzig Prozent aller Gaben auf den Gebieten der Krankenfürsorge, der Bildung, der Kultur und der religiösen Einrichtungen zu. Die Tatsache, dass Stifter organisatorische Verbindungen so oft erwähnt haben, ist bemerkenswert, da es deutlich macht, dass diese Beziehungen das Geben der Stifter lenkte. Dies war jedoch keineswegs auf die größeren Gaben beschränkt. Kleinere Stiftungen und Spenden folgen einem ähnlichen Muster der Bindung an soziale Verbindungen und der Mitwirkung in den betreffenden Einrichtungen. Insbesondere die Benefizveranstaltungen, an denen Stifter teilnahmen, wiesen immer eine Verbindung des Stifters mit der betreffenden Organisation (37,5 Prozent der Wohltätigkeitsveranstaltungen) und / oder eine Verbindung des Stifters mit anderen Personen (sechzig Prozent der Wohltätigkeitsveranstaltungen) auf. Stifter berichteten wiederholt, sie würden kleinere Gaben30 auf Empfehlung oder Drängen von Freunden machen. Somit ist die philanthropische Welt durch ein System des Austausches gekennzeichnet, in dem Individuen die von ihren Freunden bevorzugten Einrichtungen unterstützen. So beschrieb einer meiner Interviewpartner dieses Vorgehen als ein System, in dem „Du für mich gibst, und ich für Dich.“ Ein anderer Stifter betonte, 30 „Kleine Gaben“ ist natürlich ein relativer Begriff und bezieht sich hier auf Stiftungen und Spenden zwischen 1.000 und 2.500 Dollar.
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dass einen der Vorsitz einer philanthropischen Institution „Geld koste“ und dass dies von Seiten der betreffenden Einrichtung auch erwartet werde. Es kostet Dich auch Geld, andere Freunde und Geschäftspartner um Gaben zu bitten, weil diese sich revanchieren und Dich um Gaben für ihre Lieblingsstiftung bitten werden. Und wenn Du Geld von ihnen bekommst, bleibt Dir nichts anderes übrig als ihre Einrichtung zu unterstützen. Es ist ein Zirkel.
Mit Bezug auf größere Beiträge haben Stifter oftmals von der Bedeutung ihres Engagements für die betreffende Einrichtung gesprochen. Ein Stifter, der es als wichtig ansieht, nicht nur Geld, sondern auch Zeit zu geben, sagte: „Alles, was ich an materiellen Gaben gebe, würde unwiderruflich mit einem persönlichem Engagement von mir oder eines meiner Familienmitglieder verbunden sein.“ Eine andere Stifterin erklärte, dass sie begann, Geld an eine Einrichtung zu geben, nachdem sie eingeladen worden war, deren Aufsichtsrat beizutreten. „Eine solche Mitarbeit betrachte ich als Voraussetzung für die Bereitstellung größerer Summen für die betreffende Institution.“ Eine große Zahl meiner Interviewpartner betonte, dass die Mitarbeit in bestimmten philanthropischen Institutionen, zum Beispiel als Mitglied des Aufsichtsrates, die Verpflichtung mit sich bringe, diese Institution auch finanziell zu fördern. Einer der Stifter erklärte: „Du würdest es nicht wagen, die Mitgliedschaft in einem Aufsichtsrat anzunehmen, ohne darauf vorbereitet zu sein, diese Institution finanziell zu fördern.“ Wie diese Aussagen verdeutlichen, ist die Frage nach den Motiven, warum sich Reiche philanthropisch engagieren, eng mit der Frage danach verbunden, warum sie in den Aufsichtsräten der philanthropischen Einrichtungen sitzen. Diese Form der Mitarbeit macht Stifter mit den von ihnen bevorzugten Einrichtungen vertraut, was wiederum zu einem kontinuierlichen philanthropischen Engagement führt. Ein Stifter, der sich vor allem für Krankenpflege interessierte, sagte dass er das meiste Geld an ein bestimmtes Krankenhaus gebe, weil er dieses wiederholt genutzt habe und die Ärzte dort gut kenne […]. Auf diese Weise fühle er sich mit diesem Krankenhaus verbunden und reagiere auf dessen finanzielle Nöte, wenn er davon erfahre.
Wie dieses Beispiel verdeutlicht, kann die Beziehung zu einer bestimmten Einrichtung durch die Nutzung der Leistungen des betreffenden Instituts durch den Stifter selbst oder eines seiner Familienmitglieder entstehen. Einer der befragten Stifter gab zwei seiner größten Gaben an Schulen, die er selbst besucht hatte, obwohl er über sich selbst sagte, dass Kultur sein eigentliches Interessensgebiet sei. Er erklärte sein Stiftungsverhalten damit, dass er das Gefühl habe, er müsse seinen Erfolg mit denjenigen Institutionen teilen, die ihm zu einem guten Teil zu diesem Erfolg verholfen haben, indem er den Schulen, die er besucht hat, Geld zukommen lässt, so dass sie es anderen ermöglichen könnten, ebenfalls erfolgreich zu sein.
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Von Bedeutung ist zudem die Tatsache, dass sich Eliten für Organisationen engagieren, weil dies für die Definition familiärer Identität ebenso ausschlaggebend ist wie für die sozialen Netzwerke, in denen der Stifter eingebunden ist. Als eine Stifterin über ihre Gaben für die von ihr besuchten Bildungseinrichtungen sprach, erwähnte sie auch, dass sie ihren Mann in der Hochschule kennen gelernt und dort auch den Grundstein für viele ihrer lebenslangen Freundschaften gelegt habe. Die Einschätzung der hohen Qualität der Bildungseinrichtung, des sozialen Lebens und der Familienbeziehungen vermengen sich in der Begründung für ihr kontinuierliches Geben für diese Institution. Selbst in Fällen, in denen die Verbindung zwischen individuellen Stiftern und einer bestimmten Bildungseinrichtung relativ schwach ist, sind es die Familienbeziehungen, die letztlich zu einem intensiven philanthropischen Engagement führen.31 Die Schaffung einer inneren Verbindung zwischen Stifter und philanthropischer Institution ist eine zentrale Strategie beim Fundraising. Ein von mir interviewter Fundraising-Spezialist betonte, man müsse, wenn man jemanden nach Geld frage, an die Sache glauben und fähig sein, der Person zu erklären, warum sie dieser Sache etwas schulde. Der Zweck muss die potentiellen Stifter persönlich ansprechen oder einen Teil seines Lebens reflektieren.
Ein Stifter, der viel Zeit damit verbringt, unter seinen Freunden und Geschäftspartnern Geld für Schulen zu sammeln, betonte die Notwendigkeit, die potentiellen Stifter in die Organisation einzubinden. Ein anderer Stifter meinte, dass seine Fundraising-Bemühungen durch die aktive Einbeziehung der Stifter in das betreffende Projekt beschleunigt würden – frei nach dem Prinzip „wenn Du an etwas einen Anteil hast, wenn Du in etwas eingebunden bist, ist es viel wahrscheinlicher, dass Du es auch finanzierst“. Stiften ist also eng mit sozialen Beziehungen und der Mitarbeit in philanthropischen Institutionen verbunden. Dabei überschneiden sich die persönlichen Beziehungen zwischen einzelnen Angehörigen der Elite mit dem Engagement von Stiftern für spezifische Einrichtungen. Ein sehr typischer Weg für Stifter bei der Auswahl der durch sie zu unterstützenden Institution führt über die Kontakte mit anderen Angehörigen der Elite, die bereits in der betreffenden Institution aktiv sind. So entschied sich ein Stifter, dem Aufsichtsrat einer bestimmten Institution beizutreten, weil er deren Präsidenten gut kannte. Ohne diese persönliche Verbindung wäre der betreffende Stifter nicht aktiv geworden. Dies sollte uns jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass Stifter ausschließlich aufgrund persönlicher Kontakte aktiv werden. Natürlich haben die Stifter andere Motive für ihr Engagement und glauben daran, dass die betreffenden Institutionen ihre Unterstützung verdienen. Dennoch wirken bei der Auswahl der zu unterstützenden Organisationen persönliche Kontakte zusam31 Ostrower, Why the Wealthy Give, 86–99.
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men mit den generellen Interessen der Stifter. Ein typisches Beispiel ist die Geschichte eines Stifters, der, nachdem er sein Unternehmen verkauft und sich zur Ruhe gesetzt hatte, nach einer neuen Beschäftigung suchte. Zu diesem Zeitpunkt fragte ihn ein Kollege seines Sohnes, ob er nicht an der Mitarbeit in dem Aufsichtsrat einer bestimmten philanthropischen Institution interessiert wäre. Er folgte diesem Vorschlag und wurde einer der bedeutendsten Stifter und Fundraiser für diese Einrichtung. Die hier diskutierten Merkmale des Stiftens sind charakteristisch für das System der Eliten-Philanthropie. Die von mir interviewten Stifter waren sich durchaus der Tatsache bewusst, dass es eine Vielzahl von Zwecken und Institutionen gibt, deren Unterstützung sinnvoll sei. Gleichzeitig gaben sie aber auch zu bedenken, dass sie nicht alle diese Zwecke unterstützen könnten. Mitglieder der New Yorker Elite gaben ihre größten Beiträge an Institutionen, mit denen sie oder ein Bekannter bereits Erfahrungen gesammelt hatten. Da diese Einrichtungen ihrer Meinung nach in Geldnot sind, scheinen Stifter nicht daran interessiert zu sein, sich nach anderen Institutionen umzusehen, die vielleicht ebenfalls Hilfe benötigten, mit denen sie aber keinen unmittelbaren persönlichen Kontakt haben. DIE ZEITLICHE DIMENSION DES STIFTENS Die Verbindung zwischen Stiftern und den von ihnen geförderten Institutionen ist meist von langer Dauer. Das durchschnittliche Alter der für diese Studie befragten Stifter betrug 62,7 Jahre, die durchschnittliche Dauer für die Verbindung mit der von ihnen geförderten Institution belief sich auf 18,5 Jahre. Georg Simmels Analyse der aus einem helfenden Handeln sich herausbildenden Verpflichtung bietet sich hier als ein hilfreicher Interpretationsrahmen an. Simmel beobachtete, dass, wo eine Wohltat irgendwelcher Art erwiesen ist – auch die spontanste, singulärste, durch keinerlei Pflichtgebot geforderte –, entsteht eine Verpflichtung zur Fortsetzung des Wohltuns, die tatsächlich nicht nur als Anspruch des Empfangenden, sondern auch in einem Gefühl des Gewährenden lebt.32
In der Tat äußerten mehrere Stifter, es gebe eine Verantwortung auf der Spenderseite, die von ihnen geförderten Organisationen mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu unterstützen. So sagte zum Beispiel eine Frau, dass sie pro Jahr nur eine der von ihr unterstützen Institutionen durch eine andere ersetze, während sie die anderen kontinuierlich unterstütze, da sie davon ausging, dass diese Institutionen ihre Unterstützung erwarteten. Auf die Frage, ob die Stifter sich gezwungen fühlten, spezifische Einrichtungen zu unterstützen, 32 Georg Simmel, Soiologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, 468.
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antwortete eine andere Stifterin, sie fühle einen sanften Druck, ihre Förderung wie zuvor fortzuführen. Eine der interviewten Frauen war durch ihre Eltern dazu erzogen worden, ihr philanthropisches Engagement kontinuierlich aufrecht zu erhalten. Ihr war auch beigebracht worden, dass, falls sie einmal ihre Unterstützung aufkündigen müsse, sie dies nicht von heute auf morgen, sondern nur graduell tun könne und sie der betreffenden Institution einen Grund für ihre Entscheidung nennen sollte. Einige Stifter bemühen sich sogar darum, ihre finanziellen Beiträge auch über ihren Tod hinaus aufrecht zu erhalten. So bezeichnete ein Stifter die Schaffung eines Fonds, der auch nach seinem Tode die von ihm gewählte Einrichtung unterstützen würde, als sein Hauptziel. In einzelnen Fällen setzten hinterbliebene Verwandte die philanthropischen Aktivitäten verstorbener Familienmitglieder fort. So unterstützte ein Witwer die Kirche, zu der seine verstorbene Frau gehört hatte, obwohl er zu einer anderen Religion gehörte. Und ein anderer Stifter sagte, dass, obwohl er kein Interesse an klassischem Ballett habe, er jedes Jahr eine entsprechende künstlerische Organisation unterstütze, die seine Mutter bis zu ihrem Tod gefördert hatte. Der entscheidende Punkt ist hier, dass das Stiften für spezifische Institutionen und Zwecke zu einem Bestandteil der individuellen Identität des Stifters wird und als solcher auch von der sozialen Umgebung des Stifters wahrgenommen wird. Dies wird auch in dem Brauch deutlich, einen Freund dadurch zu ehren, dass man eine Spende an die von diesem bevorzugte Institution leistet. So berichtete eine Frau, dass ihre Freunde aus Anlass ihres Geburtstags anstelle von großen Geschenken jeweils größere Summen an jenes Krankenhaus schickten, für das sie sich selbst stifterisch betätigte. Für die zu ehrende Stifterin war dies ein Weg, ihre Freunde auf die Bedürftigkeit des betreffenden Krankenhauses aufmerksam zu machen. Für sie war es eine Option des philanthropischen Gebens, das zugleich dem Krankenhaus hilft und die Stifterin ehrt. In der Familie eines anderen Stifters hatte sich die Tradition herausgebildet, aus Anlass von Geburtstagen, Todesfällen, Jahrestagen (etc.). Geld für eine bestimmte Gesundheitsorganisation zu stiften. Die betreffende philanthropische Institution war von der Familie begründet worden, deren Mitglieder und Freunde sie über mehr als fünfzig Jahre kontinuierlich unterstützt hatten. Berücksichtigt man den hohen Identifikationsgrad der Stifter mit der von ihnen geförderten Institution, dann wird deutlich, warum die von mir interviewten New Yorker die Aufforderung von Bekannten, für deren Institution stifterisch aktiv zu werden, so ernst nahmen. Die Identifikation, die sich zwischen Stiftern und Empfängern entwickelt, besitzt verschiedene Bedeutungen. Für unsere Diskussion ist vor allem das Prestige wichtig, das sich aus der Beziehung zwischen Stifter und Organisation sowie die Einbettung des Stifters in soziale Netzwerke für den Stifter ableiten lässt.
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PHILANTHROPIE, PRESTIGE UND STATUS IN DER NEW YORKER ELITE Im Verlauf der Interviews kam deutlich zum Vorschein, dass Philanthropie als ein klares Zeichen von Prestige unter den Angehörigen der Elite gilt. Stifter sehen Philanthropie als eine Verpflichtung der Wohlhabenden. Philanthropie selbst ist Zeichen einer privilegierten Position, eines hohen sozialen Status und der Zugehörigkeit zur Oberschicht. So verwies ein Stifter auf die Notwendigkeit, Mitglied in einem Aufsichtsrat einer philanthropischen Institution zu sein. Dafür bezeichnend ist das Beispiel eines Stifters, der, obwohl er keine Ahnung von Krankenhäusern oder Krankenpflege hat, Aufsichtsratsmitglied eines Krankenhauses sei – aus dem einfachen Grund, dass er wohlhabend sei. Ein anderer Stifter bemerkte, dass stifterisches Engagement Bestandteil der Aktivitäten einer „bestimmten“ Klasse sei. Er war sich nicht sicher, ob Stifter aus einem Verantwortungsgefühl heraus handelten oder ob es ihr Weg sei, zu zeigen, dass sie Teil der „besseren Gesellschaft“ seien. Jeder wolle dieser Gesellschaft angehören. In der amerikanischen Kultur und Gesellschaft gelte es als eine Verpflichtung der Reichen, philanthropisch aktiv zu werden. Philanthropische Institutionen sind die Kristallisationspunkte, um die herum sich das Leben der Oberschichten abspielt. Durch ihr Engagement in bestimmten philanthropischen Institutionen kommen Stifter zusammen und unterhalten eine Reihe von Institutionen, die zur sozialen und kulturellen Kohärenz der Oberschicht beitragen. Die Verbindung zwischen Philanthropie und Privileg bedeutet, dass philanthropisches Engagement als Symbol für wirtschaftlichen Erfolg und Reichtum des betreffenden Stifters angesehen wird. Auf die Frage, warum er die Fundraising-Kampagne unter den Absolventen seiner Schule organisiert habe, gab ein Befragter an, er habe u.a. an die öffentliche Wahrnehmung seiner Person gedacht. Jeder wisse, dass derjenige, der eine solche Verpflichtung übernehme, dazu bereit sei, selbst seinen finanziellen Beitrag zu leisten und dass er auch die Zeit habe, dieses Projekt voranzutreiben. Zeit und Geld wiederum seien in der gegenwärtigen Gesellschaft ein Zeichen von Luxus. Auf einem bestimmten sozialen Niveau wird Reichtum über den Akt des Stiftens als individueller Erfolg zur Schau gestellt. Diese Verbindung zwischen Prestige und Philanthropie ist jedoch mehr als nur das Geben von großen Summen. Sie schließt die Identifizierung mit und persönliches Engagement in spezifischen philanthropischen Institutionen und den elitären Netzwerken ein, mit denen diese verbunden sind. Entsprechend gab ein Interviewter zu, dass einige Elemente philanthropischen Engagements durchaus mit Snobismus und Eitelkeit verbunden seien. Als der Stifter gefragt wurde, ob er in einem Aufsichtsrat einer wohlbekannten Kunstorganisation mitarbeiten
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würde, fühlte er sich natürlich geschmeichelt. Und natürlich wollte er als ein Experte in dieser Organisation gelten. Die Verbindung zwischen Status und Philanthropie mag auch damit zusammenhängen, dass Philanthropie eine Austauschbeziehung darstellt, die dem Stifter Anerkennung verspricht.33 Diese Anerkennung kommt aber nicht von den Beziehern der gestifteten Geldsummen, sondern, wie Peter Blau herausgearbeitet hat, von den anderen Angehörigen der Elite, die den Stifter damit für sein gruppenkonformes Verhalten belohnen. Stifter geben sogar offen zu, dass sie das Streben nach Prestige benutzen, um andere Angehörige der New Yorker Elite davon zu überzeugen, Geld für spezifische Projekte zu geben. Das Prestige, das sich aus der Verbindung von Stiftern mit bestimmten philanthropischen Einrichtungen ergibt, insbesondere die Mitgliedschaft in Aufsichtsräten, erscheint als wichtigste Belohnungen für stifterische Aktivitäten.34 Die öffentliche Wahrnehmung der Verbindung eines Stifters mit einer philanthropischen Institution gilt als Symbol der Zugehörigkeit zur New Yorker Oberschicht. Bekannte philanthropische Institutionen werden daher gezielt von neureichen New Yorkern als Objekt ihrer stifterischen Aktivitäten ausgewählt. Die Förderung dieser Institutionen trägt darüber hinaus zur Etablierung sozialer Netzwerke bei. Benefizveranstaltungen erweisen sich als ein idealer Treffpunkt für die Angehörigen der New Yorker Elite und damit für das Knüpfen persönlicher Beziehungen. Für 89 Prozent der interviewten Stifter waren Wohltätigkeitsbälle und -konzerte ein wichtiger Bestandteil der Oberschichtenkultur New Yorks.35 Einer meiner Interviewpartner gab an, dass er diese Ereignisse vor allem deshalb genieße, weil er sich unter seinesgleichen fühle. Für einige Frauen haben diese Bälle und Konzerte darüber hinaus auch die Funktion eines Heiratsmarktes. 33 Siehe z. B. Michael P. Allen, The Founding Fortunes. A New Anatomy of the SuperRich Families in America, New York 1987; Daniels, Invisible Careers; Joseph Galaskiewicz, Social Organisation of an Urban Grants Economy, Orlando 1985; Ferdinand Lundberg, The Rich and the Super-Rich, New York 1968; McCarthy, Noblesse Oblige; Odendahl, Charity Begins at Home; Ostrander, Women of the Upper Class; Aileen Ross, Philanthropic Activity and the Business Career, in: Social Forces 32 (1954), 274–280. . 34 Das Konzept des Tausches lässt sich auf Philanthropie noch in einer anderen Hinsicht anwenden. Das Schenken, das aus dem Geben, Empfangen und Zurückgeben von Geschenken besteht, wird als eine Form des sozialen Austausches analysiert. Da dieser soziale Tausch die Beteiligten in dauerhafte Beziehungen von Reziprozität involviert, produziert er Gefühle von Vertrauen, Dankbarkeit und Verpflichtung. Damit schafft er Solidarität unter den beteiligten Gruppen. Siehe Peter M. Blau, Exchange and Power in Social Life, New Brunswick 1986, 94; Marcel Mauss, The Gift, New York 1967; Barry Schwartz, Social Psychology of the Gift, in: American Journal of Sociology 73 (1967), 1–11. Zwar entsteht diese Verbindung nicht zwischen Stiftern und den Empfängern von Spenden oder Stiftungen, doch entstehen Verbindungen zwischen den Stiftern, die die philanthropischen Einrichtungen ihrer Freunde und Bekannten unterstützen. 35 Die von mir interviewten Stifter besuchten im Durchschnitt zwei Benefizveranstaltungen pro Monat.
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Die Verbindung von Philanthropie und Prestige lässt sich auch in den Aufsichtsräten finden. So berichteten einige Stifter, dass es vor allem die Einbeziehung der Aufsichtsratsmitglieder in das soziale Leben der Elite sei, das die Mitgliedschaft in den Aufsichtsräten so attraktiv mache. So erzählte ein Stifter, dass er darauf angesprochen worden sei, wie viel es denn kosten würde, Mitglied eines bestimmten Aufsichtsrates zu werden. Die betreffende Person, die von außerhalb stammte, wollte diese Position dazu nutzen, in Kontakt mit anderen, sozial gleich gestellten Personen zu kommen, da er vorhatte, mehr Zeit in Manhattan zu verbringen. Dieses Beispiel lässt die in der Wahrnehmung und im Denken der New Yorker Elite akzeptierte Verbindung zwischen der Beteiligung an philanthropischen Institutionen und der Zugehörigkeit zur Elite sehr deutlich werden. In diesem Zusammenhang gilt stifterisches Engagement als ein geeignetes Instrument der sozialen Vernetzung. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass sich die Stiftungsaktivitäten der Angehörigen der New Yorker Elite in derselben Umgebung entfalten, in der sich das übrige soziale Leben der wohlhabenden New Yorker abspielt. Philanthropie vermittelt einen Zugang zu sozial und kulturell definierten und abgegrenzten Räumen, etwa zu exklusiven Benefizkonzerten und Wohltätigkeitsbällen.36 Viele Stifter, die sich auch als Fundraiser betätigten, betonten die Notwendigkeit einer adäquaten Umgebung für Fundraising und Stiftungsaktivitäten. Auch wenn viel Geld in die Vorbereitung und Durchführung von Fundraising-Veranstaltungen fließt, betrachten Fundraising-Experten diese Investition als gut angelegtes Geld. Je besser der Eindruck von der jeweiligen philanthropischen Einrichtung auf die Stifter, desto höher die Chancen, dass sie eine bedeutende Summe gäben.37 Dies ist insbesondere für große Stiftungen und Spenden entscheidend. Nicht alle philanthropischen Einrichtungen besitzen eine gleich große Attraktivität für die potentiellen Stifter. Philanthropisches Handeln wird durch eine Prestige-Hierarchie gekennzeichnet. Das Betätigungsfeld der betreffenden Institution ist von entscheidender Bedeutung für deren Platz in dieser Hierarchie. Umfangreiche Spenden und Stiftungen gingen vor allem an diejenigen philanthropischen Einrichtungen, die auf dem Gebiet der Bildungs- und Kulturförderung tätig waren und zugleich entweder von den Stiftern selbst fre36 Stifter nutzten das Metropolitan Museum of Art zum Beispiel für private Veranstaltungen. Für viele Angehörige der New Yorker Oberschicht war das Museum nicht nur wegen seiner gesammelten und ausgestellten Kunstobjekte wichtig, sondern auch als ein idealer Raum für private Feste und Feiern. John Taylor, Party Place. The High Life at the Gilded Metropolitan Museum, 9. Januar 1989. 37 Die Angemessenheit von prunkhaften Benefizveranstaltungen wurde in der New Yorker Presse von verschiedenen Stiftern öffentlich diskutiert. Während einige den Prunk für unangemessen hielten und ihn als Verschwendung bezeichneten, sahen andere ihn als notwendig an, um Stifter zu gewinnen. Siehe zum Beispiel Kathleen Teltsch, Misgivings on Benefits Split City Social Circle, in: New York Times, 11. Mai 1986. Ron Rosenbaum, Society Dissidents, in: Manhattan, inc., April 1986.
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quentiert wurden oder zumindest über hohes Prestige unter den Mitgliedern der Elite verfügten. So fließt die Mehrzahl der bedeutenden Stiftungen an Bildungs- und Kultureinrichtungen (siehe Tabelle). In diese beiden Tätigkeitsfelder fallen 58,6 Prozent aller hier erfassten größeren Stiftungen (244), während sich der verbleibende Teil auf sechs Gebiete verteilt. Die von den Stiftern bevorzugten Organisationen waren zudem die bei weitem bekanntesten auf dem jeweiligen Gebiet. Tabelle 1: Die Verteilung der Stifter auf die Sektoren, für die sie Geld bereitstellten38
1 1a
Sektor
Anteil unter den Stiftungen der individuellen Stifter in Prozent
Bildung
69,4
Höhere
Bildung39
61,2
1b
Schulbildung40
14,3
2
Kultur
42,9
3
Gesundheit
30,6
3a
Krankenhäuser
22,4
3b
Andere Zwecke
15,5
4
Unterstützung Bedürftiger (Social Services)
29,4
4a
Jüdische Armenunterstützung
20,0
4b
Andere
11,9
5
Religiöse Einrichtungen
15,5
6
Tier- und Umweltschutz
10,7
7
Schutz der Bürgerrechte
10,7
8
Förderung von Jugendlichen
6,0
3940
So ging die Mehrzahl der Stiftungen im Sektor Bildung an herausragende Universitäten und Hochschulen. 42,9 Prozent der Stiftungen für Bildung gingen an Eliteuniversitäten und einzelne exklusive Hochschulen.41 Auch im Sektor Bildung und Kultur finden wir Institutionen, auf die sich die Spenden konzentrierten, und somit Stiftungen, die von vielen verschiedenen Stiftern Unterstützung erhielten. Die Bereiche Bildung und Kultur erhielten jedoch 38 Diese Aufstellung basiert auf einer statistischen Auswertung der drei größten Stiftungen, die durch die interviewten 85 Stifter in einem Zeitraum von zwölf Monaten gemacht wurden. 39 Hier sind auch Stiftungen für Stipendienstiftungen und Forschungsinstitute enthalten. 40 Hier sind auch Stiftungen für außerschulische Bildungseinrichtungen enthalten. 41 Die Ivy League Universitäten sind Brown, Columbia, Cornwell, Dartmouth, Harvard, University of Pennsylvania, Princeton und Yale.
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nicht nur die Mehrzahl der großen publikumswirksamen Spenden, sondern auch den größten Teil (50,6 Prozent) der kleineren Spenden von 1.000 Dollar oder weniger. Diese Analyse der Stiftungen, insbesondere für den Bildungssektor, bestätigt, dass Prestige ein wichtiger Faktor in der Lenkung von Gaben ist. Stifter mit einem Hochschulabschluss einer Eliteuniversität geben sehr häufig für die von ihnen besuchte Alma Mater. Das Prestige einer Einrichtung hat selbst dann noch einen Einfluss auf die Intensität der Stiftungstätigkeit wohlhabender New Yorker, wenn sie bereits mit ihr vertraut sind. Insgesamt wird deutlich, dass Philanthropie ihr Prestige nicht nur aus der Bereitstellung von Geld und der Mitarbeit in Aufsichtsräten gewinnt, sondern dass das bereits etablierte Prestige der geförderten Organisation auf das philanthropische Engagement auch zurückstrahlt und dieses aufwertet. Spezifische philanthropische Institutionen verfügen über einen symbolischen Status, der die Zuwendung von Stiftungen beeinflusst. Die von mir interviewten Stifter waren sich der öffentlich wahrgenommenen Hierarchie unter den philanthropischen Institutionen und der darin enthaltenen Bevorzugung von Bildung und Kultur durchaus bewusst. Wenn Stifter eine Entscheidung darüber treffen sollten, ob sie an einer bestimmten Benefizveranstaltung teilnehmen würden oder nicht, machten sie die Entscheidung nicht nur davon abhängig, ob ihre Freunde anwesend sein würden, sondern auch vom generellen Charakter der Veranstaltung und / oder vom Prestige der Institution, für deren Unterstützung die Veranstaltung organisiert wurde. Einer der Stifter hob hervor, dass die Unterstützung bestimmter Institutionen einen unmittelbaren Einfluss auf den sozialen Status des Stifters habe. Die Mitarbeit in einem Aufsichtsrat einer völlig obskuren Einrichtung bringe dagegen kein soziales Prestige. Eine meiner Interviewpartnerinnen wies darauf hin, dass Krankenhäuser oder Rehabilitationseinrichtungen oftmals Schwierigkeiten hätten, Stifter zu gewinnen, während es im Falle von kulturellen Organisationen Wartelisten für Stifter gebe. Die Förderung von Kultur und Bildung genießt innerhalb der Philanthropie von New Yorks Eliten traditionell einen Vorteil vor der Förderung anderer öffentlicher Zwecke, denn es gibt eine enge historisch begründete Verbindung zwischen New Yorks Eliten und ihren Kultur- und Bildungseinrichtungen.42 Man könnte sogar sagen, dass deren Förderung dazu beiträgt, zu bestimmen, wer zur Elite gehört und wer nicht. Es mag daher nicht verwundern, dass bis zum heutigen Tage die Mehrzahl der Stiftungen von Angehörigen der New Yorker Elite an Institutionen auf diesen beiden Gebieten gehen. Wenn es bisher nur um das Prestige ging, das Stifter aus ihrer Identifizierung mit bestimmten Institutionen bezogen, sollte nicht vergessen werden, 42 DiMaggio, Cultural Entrepreneurship in Nineteenth-Century Boston; Hall, The Organization of American Culture; Jaher, The Urban Establishment; Story, The Forging of an Aristocracy.
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dass diese Institutionen im Gegenzug auch Prestige aus ihrer Verbindung mit einflussreichen und berühmten Stiftern beziehen. Philanthropische Einrichtungen versuchen bewusst, bestimmte Persönlichkeiten für ihre Aufsichtsräte zu gewinnen, die aus den alten New Yorker Familien stammen und wahrscheinlich weitere Stifter für die betreffende Organisation gewinnen werden. In manchen Fällen akzeptieren diese Organisationen die Mitgliedschaft von solchen Persönlichkeiten in ihren Aufsichtsräten, von denen klar ist, dass sie sich nur in sehr begrenztem Rahmen für die Organisation engagieren werden. Eine Stifterin, die sich von ihrer Mitarbeit in einem Aufsichtsrat zurückziehen wollte, wurde etwa darum gebeten, wenigstens offiziell ihre Mitgliedschaft fortzuführen, da die Institution ihren Namen für Werbezwecke benötige.43 PHILANTHROPIE, DER WETTBEWERB UM STATUS UND STATUSGRENZEN Vor dem Hintergrund der Wechselwirkungen zwischen einem Engagement für öffentliche Zwecke, Prestigeerwerb und sozialer Interaktion innerhalb der Elite stellt Philanthropie ein umkämpftes Feld dar, auf dem Auseinandersetzungen um sozialen Status ausgetragen werden. Dies traf insbesondere auf die herausragenden New Yorker Institutionen und die Mitgliedschaft in deren Aufsichtsräten zu. Soziale Aufsteiger, die innerhalb kurzer Zeit große Vermögen akkumuliert hatten, strebten nach sozialer Anerkennung und setzten dazu ihre Mitarbeit in philanthropischen Institutionen ein.44 Dabei trafen sie auf die etablierten Mitglieder der Elite, die die Positionen in den Aufsichtsräten natürlich nicht für die Neureichen räumen wollten. Die zeitliche Koinzidenz des wachsenden Vermögens in den Händen neureicher Millionäre mit den ebenfalls wachsenden Finanznöten der etablierten philanthropischen Institutionen führte in den 1980er Jahren zu Spannungen innerhalb der New Yorker Elite sowie innerhalb der organisierten Philanthropie der Stadt. Die von mir interviewten Stifter stimmten überein, dass sich New Yorks Philanthropie während der vorangegangenen 20 bis 25 Jahre entscheidend verändert habe. Wenn man heute genügend Geld habe, könne man sich in bestimmte Organisationen „einkaufen“. So beklagte ein Stifter, dass sich plötzlich eine Gruppe von Neureichen, die völlig unbekannt seien, in New York etabliere und mit ihrem Geld um sich werfe. Diese Leute fingen an, bedeutende Summen an 43
Einzelne Stifter berichteten, dass sie von der von ihnen geförderten Organisation um die Erlaubnis gebeten wurden, ihre Stiftung und ihren Namen öffentlich zu machen, da dies der betreffenden Organisation helfe, mehr philanthropische Unterstützung einzuwerben. 44 Dies wird auch dadurch bestätigt, dass es keine statistisch erfassbaren Unterschiede hinsichtlich der Präferenzen für ein bestimmtes Gebiet (Kultur, Bildung, Soziales) zwischen alten und neuen Eliten gibt.
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philanthropische Institutionen zu geben, wodurch sie bekannt würden. Vor dem Hindergrund des stifterischen Engagements dieser neuen Stifter erschienen die Beiträge der etablierten Stifter winzig; die alteingesessenen Stifter fühlten sich übergangen und überboten und fürchteten einen Statusverlust. In diesem Klima standen die Positionen in den Aufsichtsräten praktisch zum Verkauf. Eine Stifterin berichtete, dass die soziale Exklusivität der Zusammensetzung von Aufsichtsräten stark zurückgegangen sei. Eine andere Stifterin bestätigte diese Beobachtung und erwähnte, dass philanthropische Einrichtungen nun gegenüber potenziellen Stiftern andeuteten, sie könnten sich durch eine Stiftung einen Sitz in ihrem Aufsichtsrat und damit soziales Prestige erkaufen. Ein Mitglied eines Aufsichtsrates einer berühmten New Yorker gemeinnützigen Einrichtung, der zur etablierten Elite gehört, erzählte mir, wie er dagegen angekämpft habe, dass neureiche New Yorker in den Aufsichtsrat aufgenommen würden, nur weil sie Unmengen an Geld stiften könnten. Er war sich aber auch darüber im Klaren, dass es sehr schwer sei, diese Leute abzulehnen, da sie helfen könnten, die Finanznöte der Institution zu lindern. In diesem Zusammenhang werde es auch immer schwieriger, in anderen, assoziierten Organisationen mitzuarbeiten, weil die Erwartungshaltung bezüglich der Höhe der Stiftung mittlerweile ins Unerschwingliche gewachsen sei. Obwohl er diese Entwicklung als problematisch ansieht, ist er sich doch auch bewusst, dass sie den philanthropischen Institutionen geholfen hat, da sie von den Neureichen größere Finanzspritzen erhalten haben und damit ihre Existenz sichern konnten. Eine größere Gruppe von Stiftern zog eine Verbindung zwischen dem Geben von großen Summen einerseits und dem Zugang zu den Aufsichtsräten andererseits. So sei es üblich geworden, dass man für einen Sitz in bestimmten Aufsichtsräten mindestens 100.000 Dollar stiften müsse. Eine Stifterin berichtete beispielsweise, dass sie nun einmal nicht Tausende von Dollars an eine Institutionen gebe, um unbekannt zu bleiben. Sie erwarte vielmehr, dass die Mitglieder des betreffenden Aufsichtsrates durch ihre Stiftung auf sie aufmerksam werden würden. Sie hoffte, auf diesem Wege eines Tages einen Sitz im Aufsichtsrat angeboten zu bekommen. Wie bereits angedeutet, fühlten sich die etablierten Mitglieder der New Yorker Elite durch die Ankunft von neureichen Stiftern in ihrem Status und Einfluss bedroht. In ihren eigenen Aussagen betrachten sie sich als „Bewahrer“ der New Yorker Stiftungskultur und ihrer Institutionen. Sie verwiesen dabei nicht nur auf das Geld, sondern vor allem auf die Zeit, die sie in die Mitarbeit in diesen Organisationen investiert hatten und auf den Geist, in dem das Stiften erfolgt war. Demgegenüber sahen sie die „neuen Stifter“ als Individuen, die „nur“ Geld geben. Die Unterscheidung zwischen dem konkreten Akt des Geldgebens und philanthropischem Handeln im Allgemeinen ebenso wie die Gleichsetzung von Philanthropie mit einer bestimmten Kultur ermöglichten es, die „wahre“ Philanthropie mit der „alten Elite“ zu identifizieren; hinge-
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gen wird das Handeln der neuen Elite nur als „Geld geben“ bezeichnet. Dabei spielt es keine Rolle, dass die neue Elite wesentlich mehr Geld gibt als die alte. Philanthropie beinhaltet diesem Verständnis zufolge auch eine gewisse ästhetische Wertschätzung, die eben nicht nur den Konsum kultureller Güter wie Musik oder Kunst bezeichnet, sondern auch die korrekte Art und Weise dieses Konsums als ein charakteristisches Merkmal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse.45 Eine von mir befragte Stifterin beklagte, dass die Neureichen nur darum gäben, um soziale Anerkennung zu erlangen, während sie für sich derartige Motive ablehne. Ein anderer Stifter, der zur alten Elite gehörte, bemerkte, dass die Aufsichtsräte nicht mehr diejenigen Stifter als Mitglieder auswählten, die viel für die Organisation getan hätten, sondern nun niedrigere Zugangsschwellen hätten und damit Neureichen die Integration in die Welt der Stifter erleichterten und ihnen hülfen, ihr soziales Ansehen zu verbessern. Solche Einschätzungen reflektieren die Spannungen zwischen der Fähigkeit von Individuen, Prestige durch philanthropisches Verhalten zu gewinnen, und der Fähigkeit von sozialen Gruppen, die Identifizierung mit ausgewählten Institutionen als Quelle eines kollektiven Status für sich zu monopolisieren. Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass der Einsatz von individuellem Vermögen nicht als der einzige Weg zur erstrebten Mitgliedschaft in einem Aufsichtsrat gilt. Die Fähigkeit, Geld von anderen Bekannten und Freunden für eine philanthropische Institution einzuwerben, wird als ebenso viel versprechender Weg zu diesem Ziel angesehen. Darüber hinaus gelten auch persönliches Prestige sowie der gute Name der Familie und der persönliche Bekanntheitsgrad unter den Mitgliedern bestimmter Aufsichtsräte als wichtige Voraussetzung für eine solche Mitgliedschaft. Daher war es für die Stifter aus der alten Elite so erschreckend, dass nun die Fähigkeit, große Summen Geld zu sammeln, zu einem immer wichtigeren Faktor bei der Entscheidung über die Aufnahme in einen Aufsichtsrat wurde. Insgesamt öffneten sich in den 1980er Jahren die Aufsichtsräte der großen New Yorker philanthropischen Institutionen gegenüber aufstrebenden neureichen Persönlichkeiten. Damit verlor die Mitgliedschaft in einem solchen Aufsichtsrat ihre Funktion als Kennzeichen der Zugehörigkeit zur etablierten sozialen Elite der Stadt. Seit den 1980er Jahren gelang es Personen, die über große Vermögen verfügten, sich in diese Aufsichtsräte einzukaufen. Statusgrenzen führten daher zu einer Schwächung der Philanthropie der New Yorker Elite.
45 DiMaggio u. Useem, The Arts in Class Reproduction. Siehe auch Pierre Bourdieu, Distinction. A Social Critique of the Judgement of Taste, Cambridge 1984, 31.
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ZUSAMMENFASSUNG So sichtbar und öffentlich die Ergebnisse philanthropischer Aktivitäten auch sein mögen, sie entwickeln sich und erscheinen innerhalb der relativ abgeschlossenen Grenzen einer elitären Kultur, zu deren Reproduktion sie beitragen. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass sich die Stifter nicht für die Zwecke ihrer Förderung interessieren würden: Sie engagieren sich oftmals enthusiastisch für die Organisationen, die sie unterstützen, und bleiben ihnen und ihren Zwecken über eine lange Zeit hinweg treu. Philanthropie und die Unterstützung von ausgewählten philanthropischen Institutionen haben einen hervorgehobenen Stellenwert innerhalb der kulturellen Praxis der New Yorker Elite, der über den unmittelbaren Genuss der von diesen Institutionen erbrachten Leistungen hinausgeht. Die Teilnahme an einer Benefizveranstaltung zugunsten eines bestimmten Museums ist für den jeweiligen Stifter wichtig, weil dies sein soziales Prestige erhöht oder die Veranstaltung zu Ehren eines Freundes oder Bekannten organisiert wurde, oder weil die Teilnahme ein Resultat eines gewissen Gruppendrucks ist. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob der betreffende Stifter das Museum jemals besucht hat. Damit lässt sich auch die Frage danach beantworten, ob und wie Philanthropie ihren exklusiven Charakter unter sich verändernden sozialen Bedingungen bewahren kann. Benefizveranstaltungen, Mitgliedschaft in Aufsichtsräten, private wohltätige Veranstaltungen für potentielle Großspender (etc.) schaffen mithilfe von Philanthropie eine in sich abgeschlossene Welt. Auf diese Art und Weise ist ein Gefühl eines separaten und exklusiven Verhältnisses zwischen den Stiftern und den Organisationen, die sie schätzen, unabhängig von den Nutznießern dieser Organisationen gewahrt.46 Philanthropie ermöglicht somit die Rekonstruktion einer relativ homogenen Elite. Eine Auswirkung dieser Konstellation ist allerdings das daraus erwachsende Konfliktpotenzial in dem Fall, dass neue Eliten die Dominanz der etablierten Elite über die Mitgliedschaft in Aufsichtsräten herausfordern. Dies stellt nicht nur einen Angriff auf die betreffenden Institutionen dar, sondern auch auf die Funktion von Philanthropie als Kennzeichen von sozialem Status und Klassenzugehörigkeit. Aus einer Innenperspektive wird jedoch deutlich, dass die Welt der Philanthropie keineswegs homogen ist. Der geschlossene Charakter der Elitenphilanthropie bedeutet nicht, dass sich dahinter eine einzige, integrierte und geschlossene Trägerschicht verbirgt. Philanthropie lässt sich mit Pierre Bourdieu als ein hierarchisches Feld von Institutionen und Akteuren verstehen. Innerhalb sozialer Felder finden wir Individuen, die miteinander um die besten Positionen innerhalb dieser Felder konkurrieren. Diese Individuen verfü-
46 DiMaggio u. Useem, The Arts in Class Reproduction.
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gen über verschiedene Kapitalsorten.47 Im Falle von Philanthropie gehören dazu persönliches Prestige, Geld, Zeit und persönliche Beziehungen. Über einen längeren Zeitraum hinweg gesehen, verändert sich nicht nur der Personenkreis, der über diese Ressourcen verfügt, sondern auch ihr relativer Wert. Die Ereignisse der 1970er und 1980er Jahre führten dazu, dass eine Zahl neuer Millionäre, die bisher von der philanthropischen Welt der Elite ausgeschlossen gewesen war, Einzug in dieses exklusive Feld erhielt. Gleichzeitig veränderten sich auch die Umstände, die bislang bestimmte persönliche Eigenschaften als eine Grundvoraussetzung für Prominenz gefördert hatten, da die Statusgrenzen hinsichtlich des philanthropischen Engagements durchlässiger wurden. Obwohl die Zugehörigkeit zur Elite weiterhin als wertvoller Vorteil gilt, müssen sich nun die Mitglieder der alten Elite die Aufsichtsratsposten mit anderen teilen und sogar befürchten, dass sie in der Zukunft in eine Minderheitenposition gelangen könnten. Gleichzeitig aber erschließt genau diese Öffnung des philanthropischen Engagements für andere soziale Gruppen neue Quellen, um gemeinnützige Institutionen zu unterstützen, und führt so zu einer Stärkung der Philanthropie als einem Phänomen innerhalb der gesamten Elite.
47 Pierre Bourdieu, Intellectual Field and Creative Project, in: Social Science Information 8.2 (1969), 89–119; ders., The Production of Belief. Contribution to an Economy of Symbolic Goods, in: Richard Nice, James Curran, Nicholas Garnham, Paddy Scannell, Philip Schlesinger u. Colin Sparks (Hg.), Media, Culture and Society. A Critical Reader, Beverly Hills 1986, 261–293. Für eine Diskussion dieses Aspektes siehe Paul DiMaggio, Review Essay. On Pierre Bourdieu, in: American Journal of Sociology 84 (1979), 1460–1474.
HAMBURGS STIFTUNGSKULTUR IN DER ERSTEN HÄLFTE DES 20. JAHRHUNDERTS Michael Werner Dieser Aufsatz thematisiert am Beispiel der Stadt Hamburg die Kontinuitäten und Diskontinuitäten einer städtischen „Stiftungskultur“ von der Wende des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit des Nationalsozialismus. In Anlehnung an das von Thomas Adam entworfene Konzept einer „stadtbürgerlichen Stiftungskultur“ bezeichnet Stiftungskultur im Kontext dieses Aufsatzes zum einen ein Verhaltensmuster bestimmter sozialer Gruppen.1 Zum anderen markiert sie ein Beziehungsgeflecht, das aus dem Zusammenspiel von Stiftern, Mäzenen und Förderern einerseits, Akteuren und Funktionsträgern aus Politik, Verwaltung, Fürsorge, Kultur, Wissenschaft und Kunst andererseits entsteht. Das Konzept Stiftungskultur ist zwar in der deutschen Forschung noch kaum eingeführt, bietet sich aber als eine analytische Kategorie an, die verschiedene Felder stifterischen Handelns und unterschiedliche Formen philanthropischen Engagements umfasst und zusammenführt. Die in der Forschung zumeist gebräuchlichen Begriffe Stiftungswesen, Mäzenatentum, (Privat-)Wohltätigkeit, private Wissenschaftsförderung und Philanthropie werden damit nicht aufgehoben.2 Keiner dieser Begriffe scheint aber dazu angetan, die vermeintlichen Trennlinien – so zum Beispiel zwischen der Errichtung und der Tätigkeit einer eigenständigen Stiftung und einer kurzfristig erscheinenden Schenkung oder gar Spende, zwischen sozial-karitativen Stiftungen und kulturellem Mäzenatentum oder zwischen individuellen Stiftungsaktivitäten und kollektiven
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Thomas Adam wendet sein Konzept einer „stadtbürgerlichen Stiftungskultur“ für das so genannte lange 19. Jahrhundert an. Auf das Adjektiv stadtbürgerlich wird in diesem Aufsatz jedoch verzichtet, da es m.E. einerseits zur sehr auf ein frühneuzeitliches Verständnis von Bürgertum abhebt, andererseits mit dem fortschreitenden 20. Jahrhundert der Konnex zwischen Bürgertum und Stiftungskultur nicht aufgehoben, aber brüchiger wird. Vgl. Thomas Adam, Stadtbürgerliche Stiftungskultur und die Ausformung sozialer Distinktionen in amerikanischen, deutschen und kanadischen Städten des 19. Jahrhunderts, in: Comparativ 5/6 (2001), 53–80; ders., Stiften in deutschen Bürgerstädten vor dem Ersten Weltkrieg. Das Beispiel Leipzig, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (2007), 46–72. Auf eine ausführliche Diskussion der einzelnen Begriffe wird hier verzichtet. Vgl. dazu Jürgen Kocka u. Manuel Frey, Einleitung und einige Ergebnisse, in: dies. (Hg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert, Berlin 1998, 7–17; Adam, Stiften in deutschen Bürgerstädten, 46–52.
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Formen des philanthropischen Engagements – zu überwinden3 und zugleich die nötige analytische Distanz zum Forschungsgegenstand herzustellen.4 Das Konzept Stiftungskultur soll zudem anzeigen, dass es sich beim Stiften und Fördern zwar um zeit- und ortsübergreifende Phänomene handelt, diese aber immer auch an epochen- und lokalspezifische Bedingungen gebunden sind. Im so genannten langen 19. Jahrhundert war die Stiftungskultur ein zentraler Bestandteil der bürgerlichen Lebenswelt und entfaltete sich wie das Bürgertum im städtischen Raum.5 Sie verband Wirtschafts- und Bildungsbürgertum auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Kontexten miteinander – etwa wenn Unternehmer Museen und Hochschulen finanziell bedachten. Sie war aber auch Teil der gesellschaftlichen Konsolidierung bürgerlicher Milieus – wenn etwa Handwerker für andere Mitglieder des so genannten „alten Mittelstandes“ stifteten. Drittens war sie ein Instrument zur Verfestigung und Verbreiterung bürgerlicher Normen und Werte – z.B. wenn von proletarischen Bewohnern von Wohnstiftungen eine nach bürgerlichen Maßstäben ausgerichtete Lebensführung eingefordert wurde.6 Die Lebenswelt des Bürgertums wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber durch die politischen, sozialen und kulturellen Umbrüche sowie die ökonomischen Krisen immer wieder erschüttert. Zugleich verlor die bürgerliche Kultur an Einfluss, und zwar nicht nur auf andere, sondern auch auf die eigene Sozialformation. Das hatte zwangsläufig Auswirkungen auf die ausgesprochen bürgerliche Stiftungskultur. Das Ende des Kaiserreichs in der Revo3
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Gleichwohl kann und soll auf diese und die von ihnen abgeleiteten Begriffe nicht verzichtet werden. Derart werden „Stifter“ und „Mäzen“ weitestgehend synonym benutzt, vom „Mäzen“ soll aber vor allem im Kontext von Kultur- und Wissenschaftsförderung und in Anlehnung an Kocka und Frey erst „oberhalb einer gewissen Erheblichkeitsschwelle“ der stifterischen Leistung gesprochen werden; vgl. Kocka u. Frey, Einleitung, 12. Von einem „Förderer“ soll vor allem im Sinne eines Mitgliedes einer wissenschaftlichen oder kulturellen Fördergesellschaft die Rede sein. So scheint mir der Begriff „Philanthropie“ (griech.: „Menschenliebe“) trotz seiner Kompatibilität zum im Englischen gebräuchlichen Terminus philanthropy als Oberbegriff nicht angebracht zu sein, da er, wie die anderen Begriffe auch, zu wenig die Komplexität des Forschungsfeldes widerspiegelt. Vgl. u.a. Manuel Frey, Macht und Moral des Schenkens. Staat und bürgerliche Mäzene vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 1999; Simone Lässig, Mäzenatisches Handeln und politische Bürgerlichkeit. Zur politischen und sozialen Dimension der kulturellen Praxis von Juden und anderen Bürgern in den Kommunen des Kaiserreichs, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 13 (2001), 75–112; Adam, Stiften in deutschen Bürgerstädten; Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, 75f. Zur Erforschung des Bürgertums im langen 19. Jahrhundert vgl. u.a. Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde, München 1988; Lothar Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990; Peter Lundgreen (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997), Göttingen 2000; Schulz, Lebenswelt.
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lution, die Hyperinflation der zwanziger Jahre und die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten markieren zweifellos entscheidende Einschnitte in der Geschichte des Bürgertums und der Entwicklung städtischer Stiftungskulturen. So wie die Geschichte des Bürgertums nach 1918 – insbesondere nach 1933 – bislang jedoch nur in Umrissen erforscht ist,7 so gering ist nach wie vor das Wissen über die stiftungskulturellen Entwicklungen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, wenn auch schon einzelne entsprechende Studien vorliegen.8 In diese Forschungslücke stößt der vorliegende Aufsatz vor und nimmt sich dabei zwei spezieller Aspekte an. Im ersten Abschnitt wird die Funktion des Stiftens und Förderns im Kontext des sozialen und ökonomischen Aufstiegs neuer wirtschaftlicher Eliten betrachtet. Der zweite Abschnitt thematisiert die Bedeutung der Stiftungskultur bei der Vernetzung bürgerlicher beziehungsweise städtischer Eliten. Die Stadt Hamburg ist für eine solche Untersuchung prädestiniert, weil sie als „Kaufmannsrepublik“ anders als Residenzstädte kein fürstliches Mäzenatentum kannte und das Hamburger Bürgertum im Kaiserreich an eine jahrhundertealte lokale Tradition des Stiftens anknüpfen konnte. Zudem wurden die eng vernetzten bürgerlichen Eliten der Stadt seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts immer wieder mit wirtschaftlich erfolgreichen Aufsteigern konfrontiert, die sie weitgehend absorbierten. Diese wohlhabende, bürgerliche Oberschicht, aus der sich auch die politische Elite des Stadtstaates rekrutierte, isolierte sich „von der auf bescheidenem Niveau verharrenden Masse der mittleren und unteren Sozialschichten“.9 Dabei umfasste das Hamburger „Großbürgertum“ nicht allein Kaufleute, Reeder, Bankiers und Industrielle. Auch große Teile des akademisch geschulten Bildungsbürgertums lassen sich zu dieser 7
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Zum Bürgertum im 20. Jahrhundert vgl. Hannes Siegrist, Ende der Bürgerlichkeit? Die Kategorien „Bürgertum“ und „Bürgerlichkeit“ in der westdeutschen Gesellschaft und Geschichtswissenschaft der Nachkriegsperiode, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1994), 549–583; Eckart Conze, Eine bürgerliche Republik? Bürgertum und Bürgerlichkeit in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (2004), 527–542; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten, 1914– 1949, München 2003; Schulz, Lebenswelt. Zu nennen sind v.a. Theo Schiller, Stiftungen im gesellschaftlichen Prozeß. Ein politikwissenschaftlicher Beitrag zu Recht, Soziologie und Sozialgeschichte der Stiftungen in Deutschland, Baden-Baden 1969; Frey, Macht und Moral; Christof Biggeleben, Kontinuitäten von Bürgerlichkeit im Berliner Unternehmertum. Der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (1879–1961), in: Volker R. Berghahn, Stefan Unger u. Dieter Ziegler (Hg.), Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert. Kontinuität und Mentalität, Essen 2003, 241–274; Stephen Pielhoff, Bürgerliches Mäzenatentum und kommunale Kulturpolitik in Dortmund und Münster 1870–1930, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 28 (2003), 37–79; Andreas Ludwig, Der Fall Charlottenburg. Soziale Stiftungen im städtischen Kontext (1800–1950), Köln, Weimar, Wien 2005. Andreas Schulz, Weltbürger und Geldaristokraten. Hanseatisches Bürgertum im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 3 (1994), 637–670, hier 652.
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Bürgerelite zählen. Vor allem die für das Handelsgeschäft und die Verwaltung so wichtige Gruppe der Juristen entsprang zumeist eingesessenen Familien. Daneben gehörten Geistliche, Mediziner und Wissenschaftler dieser Bürgerelite an. Der soziale Zusammenhalt zwischen der kleinen bildungsbürgerlichen Schicht und dem Wirtschaftsbürgertum konstituierte sich – sofern er nicht schon familiär begründet war – bei gemeinsamen Aktivitäten in Gesellschaften, Vereinen und Zirkeln und schuf eine „schichtenspezifische Elitenkultur“.10 Trotz solcher und anderer Eigenheiten ist Hamburg aus bürgertumsgeschichtlicher Perspektive kein „Sonderfall“.11 Zudem büßte die Stadt beginnend mit der Reichsgründung 1871 Stück für Stück ihre staatliche Eigenständigkeit ein und wurde schließlich als „Stadtgau“ im Nationalsozialismus mit dem Reich „gleichgeschaltet“.12 Diese Vereinnahmung der Hansestadt durch das Deutsche Reich in seinen verschiedenen Erscheinungsformen hatte auch Auswirkungen auf das lokale Bürgertum, dessen Lebenswelt und Kultur immer stärker von nationalen Entwicklungen geprägt wurde, so dass sich auch Unterschiede zum Bürgertum ausgesprochener Industriestädte und traditioneller Residenzstädte weiter abschliffen.13 Von dieser Entwicklung war zwangsläufig auch die Stiftungskultur Hamburgs betroffen, wie ein direkter Vergleich mit der Stiftungskultur in der Haupt- und Residenzstadt Dresden im Kaiserreich zeigt.14 Somit sind die Entwicklungen in Hamburg insgesamt auch Belege für die stiftungskulturellen Veränderungen im nationalen Kontext. STIFTEN ALS TEIL SOZIALER UND ÖKONOMISCHER AUFSTIEGSPROZESSE Das Wechselspiel von wirtschaftlichem Erfolg, philanthropischem Engagement und sozialem Aufstieg ist eine der signifikantesten stiftungskulturellen 10 Ebd., 664. 11 Ebd., 667. 12 Vgl. Werner Jochmann u. Hans-Dieter Loose (Hg.), Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Bd. 2. Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Hamburg 1986. Vgl. Richard J. Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910, Reinbek b. Hamburg 1996; Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.), Hamburg im „Dritten Reich“, Göttingen 2005. 13 Vgl. Evans, Tod in Hamburg; Dolores L. Augustine, Patricians and Parvenus. Wealth and high society in Wilhelmine Germany, Oxford 1994, 45; Schulz, Weltbürger, 669f. 14 Für diesen Vergleich greift der Verfasser auf die Ergebnisse seines Promotionsprojektes über Hamburgs Stiftungskultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und seine Forschungsarbeiten zum Dresdner Stiftungswesen zurück; vgl. Michael Werner, Stiftungen in Dresden zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg, unveröff. Magisterarbeit HU Berlin 2000; ders.: Die bürgerliche Kultur des Stiftens in der Residenz- und Hauptstadt Dresden, in: Heike Biedermann, Ulrich Bischoff und Mathias Wagner (Hg.), Von Monet bis Mondrian. Meisterwerke der Moderne aus Dresdner Privatsammlungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, München, Berlin 2006, 25–31.
Hamburgs Stiftungskultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
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Erscheinungen.15 Besonders deutlich ist dies in wirtschaftlichen Boomzeiten zu beobachten. So entfaltete sich gerade im deutschen Kaiserreich, das auf einer langfristig positiven wirtschaftlichen Entwicklung aufbauen konnte, eine Blütezeit des deutschen Stiftungswesens, in der wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmer und insbesondere Selfmademen als soziale Wohltäter, Kunst- und Wissenschaftsmäzene eine herausragende Rolle einnahmen.16 Die so genannte „Stiftungswelle“ im Kaiserreich war aber nicht allein Folge der rapiden Zunahme des bürgerlichen Reichtums, sondern – damit eng verbunden – auch Resultat des rasanten Urbanisierungsprozesses und seiner sozialen Folgen. Sowohl für die neuen Reichen als auch für die alten Vermögenseliten stieg der gesellschaftliche Legitimationsdruck gegenüber den nichtbesitzenden sozialen Gruppen. In dieser Situation wurde wohltätiges Handeln zu einem Instrument des Abbaus sozialer Spannungen.17 Gleichwohl war und ist philanthropisches Engagement nicht allein auf den Aufbau eines positiven Verhältnisses zwischen Geber- und Empfängerseite ausgerichtet. Von nicht geringerer Bedeutung ist die Wahrnehmung der stifterischen und mäzenatischen Akte durch die städtischen Eliten bzw. durch die eigene Sozialgruppe.18 Insbesondere der Wunsch aufstrebender Unternehmer, Kaufleute und Bankiers, in die gesellschaftliche Elite einer Stadt integriert zu werden und die zu erlangende soziale Position für ihre Erben abzusichern, sticht dabei hervor.19 Im Falle Hamburgs lässt sich zeigen, dass wirtschaftliche Aufsteiger im Kaiserreich einerseits die traditionellen philanthropischen Muster der etablierten Elite – insbesondere in der sozialen Fürsorge – adaptierten, andererseits in erhöhtem Maße innovative und Aufsehen erregende Projekte und Institutionen im Kunst- und Wissenschaftsbereich förderten. Quantitativ lässt sich dies anhand der Gründung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stif15 Vgl. Thomas Adam, Philanthropy and the Shaping of Social Distinctions in NineteenthCentury U.S., Canadian, and German Cities, in: ders. (Hg.), Philanthropy, Patronage and Civil Society. Experiences from Germany, Great Britain, and North America, Bloomington 2004, 15–33; ders., Stadtbürgerliche Stiftungskultur und die Ausformung sozialer Distinktionen. 16 Vgl. Frey, Macht und Moral, 71–79. 17 Vgl. u.a. ebd., 86–90; Dieter Hein, Das Stiftungswesen als Instrument bürgerlichen Handelns im 19. Jahrhundert, in: Bernhard Kirchgässner u. Hans-Peter Becht (Hg.), Stadt und Mäzenatentum, Sigmaringen 1997, 75–92; Ludwig, Charlottenburg; Stephen Pielhoff, Paternalismus und Stadtarmut. Armutswahrnehmung und Privatwohltätigkeit im Hamburger Bürgertum 1830–1914, Hamburg 1999; Thomas Weichel, Mäzenatentum und soziale Stiftungen in einer Kurstadt, in: Jürgen Kocka u. Manuel Frey, Bürgerkultur und Mäzenatentum, 128–143. 18 Vgl. Frank Adloff u. Steffen Mau, Die gift economy moderner Gesellschaften. Zur Soziologie der Philanthropie, in: Frank Adloff u. Steffen Siegmund, Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt / Main, New York 2005, 211–235, insbes. 220ff. 19 Vgl. Adam, Philanthropy, 27–29.
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tung nachvollziehen. Die Stiftung wurde 1907 nach tatkräftiger Vorarbeit des Leiters der Hamburger Oberschulbehörde, Werner von Melle (1853–1937), von 48 „Donatoren“ ins Leben gerufen. Die mit ungefähr vier Millionen Mark bis dahin größte wissenschaftliche Stiftung in Hamburg bezweckte die allgemeine Förderung der Wissenschaften in der Handelsmetropole. Ihr langfristiges Ziel war, die in der Hansestadt lang gehegte, aber auch viel diskutierte Idee einer Hamburger Universität weiter zu befördern und dereinst der Hochschule finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen.20 Hier ist einzufügen, dass die Errichtung privat finanzierter Universitäten zur selben Zeit in verschiedenen deutschen Großstädten auf der Agenda kommunaler Beamter und Mäzene stand, so etwa in Frankfurt am Main oder Dresden. Allein in Frankfurt am Main konnte das Projekt einer Stiftungsuniversität verwirklicht werden; das Dresdner Vorhaben scheiterte am Einspruch der sächsischen Regierung, die unliebsame Konkurrenz für die alte Landesuniversität Leipzig befürchtete. Unterdessen blieb das Hamburger Universitätsprojekt bis 1919 in der Schwebe.21 Interessanterweise war es gerade Hamburgs Prägung als Handelsstadt, die in großen Teilen des Hamburger Bürgertums Zweifel am Sinn und „praktischen Nutzen“ einer eigenen Universität aufkommen ließen. Angesehene Bürger der Stadt beschworen gar einen größeren Schaden für ihre traditionsverhaftete Lebenswelt.22 Es erstaunt bei näherer Betrachtung daher wenig, dass unter den Donatoren der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung überproportional viele wirtschaftliche Aufsteiger zu finden sind.23 Diese wollten keineswegs an den traditionellen Festen des Hamburger Bürgertums rütteln, demonstrierten mit ihrem Engagement aber gleichwohl Offenheit für fortschrittliche Veränderungen. Außerdem bot der exklusive Charakter der Wissenschaftsförderung ebenso wie der des Kunstmäzenatentums eine besondere Plattform für die Darstellung der eigenen Person und Leistung. Dazu hat sich Alfred Lichtwark (1852–1914), der Direktor der Hamburger Kunsthalle, 1912 in einem 20 Zur Gründung der Universität in Hamburg vgl. Werner von Melle, Dreißig Jahre Hamburger Wissenschaft 1891–1921. Rückblicke und persönliche Erinnerungen von Werner von Melle, 2 Bde, Hamburg 1923–1924; Jürgen Bolland, Die Gründung der „Hamburgischen Universität“, in: Universität Hamburg 1919–1969. Festschrift zum 50. Geburtstag der Universität Hamburg, o.O. o.J. [Hamburg 1970], 19–105; Dörte Fouquet, Die Gründung der Hamburgischen Universität, Potsdam 1999. 21 Zur Frankfurter Universität vgl. u.a. Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik in Frankfurt am Main. Eine historisch-soziologische Rekonstruktion, Frankfurt / Main 1992, 117–129; zum Dresdner Universitätsprojekt vgl. Werner, Stiftungen in Dresden, 53f. 22 Vgl. Johann Wilhelm Mannhardt, Die hamburgische Hochschule und der hamburgische Kaufmann, Hamburg 1913, 7f. 23 Vgl. Friedrich Lübbren, 45 Jahre Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung 1907–1952, unveröff. Manuskript, Hamburg 1952, 3ff; Aufruf. Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung, in: Hamburgischer Correspondent, Nr. 226, 5. Mai 1907.
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programmatischen Aufsatz zum Sammlerwesen geäußert. Dort führt er unter anderem aus: Reichtum ist schon so verbreitet, dass er allein keinen Rang und kein Ansehen verbürgt. Auch in Deutschland besinnt sich der Reichtum darauf, dass er etwas leisten muss, um sich zu rechtfertigen. Am frühesten hat er von allen Möglichkeiten, sich auszudrücken, außer der Wohltätigkeit die Wirkung einer hervorragenden Sammlung erkannt.24
Daran anschließend stellt Lichtwark eine Entwicklungslinie vom Sammler zum Mäzen her, wobei er, wie die Museumsdirektoren im Kaiserreich überhaupt, von der Intention angetrieben wurde, vermögende Bürger zum Stiften anzuregen. Derart geht er am Ende seiner programmatischen Schrift auf das Wirken amerikanischer und auch Berliner „Liebhaber und Patrioten“ ein, die sich zusammengetan hätten, „um, wie früher in Deutschland die Fürsten, das Edelste für ihre Stadt zu erwerben, das ihren Mitteln erreichbar ist.“25 Mit anderen Worten: Die Masse des Reichtums erzwingt von den Vermögenden gesellschaftliche Legitimitationsleistungen und treibt zugleich deren Streben nach sozialer Distinktion an. Beides findet schließlich im Mäzenatentum eine adäquate Ausdrucksform. Neben dem rasanten Wachstum des bürgerlichen Vermögens im Kaiserreich wurde die Exklusivität des Kultur- und des Wissenschaftsmäzenatentums gegenüber sozial-karitativen Stiftungsaktivitäten zugleich durch den kulturellen Aufschwung, den besonders Hamburg seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erlebte, und durch den allerorts anzutreffenden Ausbau der Wissenschaftslandschaft begünstigt und verstärkt.26 Am Beispiel des erfolgreichen Kaufmanns Edmund J. A. Siemers (1840– 1918) kann exemplarisch deutlich gemacht werden, wie hervorragend sich aus stifterischem Engagement gesellschaftliches Prestige und sozialer Mehrwert erzielen ließen. Biographisch ist von Interesse, dass der 1840 geborene Siemers zwar einer eingesessenen und angesehenen Hamburger Bürgerfamilie entstammte, er sein Vermögen aber keinem großen Erbe, sondern eigener Geschäftstüchtigkeit verdankte. Als einer der Ersten hatte Siemers die Möglichkeiten des Petroleumhandels mit den Vereinigten Staaten erkannt und damit den Grundstock für sein Millionenvermögen geschaffen.27 Damit allerdings zählte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht zur absoluten Spitze 24 Alfred Lichtwark, Der Sammler, in: Kunst und Künstler (1912), 229–234, 281–291, hier 284. 25 Ebd., 289f. 26 Zur kulturellen Entwicklung vgl. Gustav Schiefler, Eine Hamburgische Kulturgeschichte 1890–1920. Beobachtungen eines Zeitgenossen, Hamburg 1985; zu den Wissenschaften und Universitäten vgl. u.a. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866– 1918, Bd. 1, München 1993, 568–590; Konrad H. Jarausch, Universität und Hochschule, in: Christa Berg (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4. 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991, 313– 345. 27 Vgl. Adolf Goetz, Die Geschichte des Hauses G.J.H. Siemers & Co. 1811–1911, Berlin 1911; Hamburg Lexikon, Hamburg 2000, 433f.
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der Hamburger Einkommenselite; allein durch seinen Reichtum vermochte er sich von den Hunderten anderer Hamburger Millionäre nicht entscheidend abzuheben.28 Große gesellschaftliche Aufmerksamkeit erregte er aber seit 1898, als er auf Hamburger Staatsgelände in Geesthacht eine Lungenheilstätte errichten ließ. Für den Bau der Genesungsanstalt stiftete er eine Million Mark.29 1907 schenkte er im Zusammenhang mit der Gründung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung seiner Heimatstadt ein Vorlesungsgebäude. Die Kosten für dieses Gebäude von ebenfalls rund einer Million Mark überstiegen bei weitem seinen Beitrag als Donator der Stiftung, für die er 50.000 Mark aufgebracht hatte.30 Das 1911 eröffnete Vorlesungsgebäude war von Anfang an sowohl als Sitz des Kuratoriums der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung als auch als architektonischer Kern einer zukünftigen Hamburgischen Universität gedacht. Bereits zur Eröffnung des Vorlesungsgebäudes wurde auf Beschluss von Hamburger Senat und Bürgerschaft die Straße vor dem Gebäude in Edmund-Siemers-Allee umbenannt. Aber nicht nur Regierung und Parlament trugen zur öffentlichen Würdigung der mäzenatischen Leistung bei, der Mäzen selbst hatte daran Anteil. So wurde die mit großem Aufwand betriebene Eröffnung des Vorlesungsgebäudes zum Teil von Siemers selbst ausgerichtet und er sorgte auch dafür, dass sie in einer Festschrift für die Nachwelt festgehalten wurde. Diese Schrift beförderte seinen Ruf als Wissenschaftsmäzen und feierte ihn als „Carnegie Hamburgs“.31 Bemerkenswerterweise fand fast unmittelbar danach die Jubiläumsfeier zum hundertjährigen Bestehen der Firma G.J.H. Siemers & Co. statt, dem Unternehmen, das Edmund J. A. Siemers zur Blüte gebracht hatte. Die dazu publizierte Festschrift nimmt in deutlicher Weise Bezug auf Siemers gemeinnütziges und wohltätiges Engagement, womit seine Stiftungen insgesamt zu einem Teil der Firmengeschichte wurden.32 Dank seiner großzügigen Schenkung wurde Edmund J. A. Siemers zum ersten Schatzmeister des Stiftungskuratoriums der Stiftung gewählt und gehörte damit einem besonders exklusiven Kreis aus Vertretern von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft an. Er hatte dieses Amt bis zu seinem Tod 1918 inne.33 Obwohl Siemers nicht die größte Summe für die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung beigesteuert hatte – der in London lebende Alfred Beit hatte allein zwei Millionen Mark
28 Vgl. Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in den Hansestädten (Hamburg, Bremen, Lübeck), Berlin 1912, 19. 29 Vgl. Hermann Joachim, Handbuch der Wohltätigkeit in Hamburg, Hamburg 1909, 422ff. 30 Vgl. Lübbren, Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung, 4. 31 Vgl. Das Vorlesungsgebäude in Hamburg, gestiftet von Herrn Edmund J. A. Siemers, dem hamburgischen Staate übergeben am 13. Mai 1911, Hamburg 1911; Melle, Hamburger Wissenschaft, 49. 32 Vgl. Goetz, Die Geschichte des Hauses Siemers. 33 Vgl. Lübbren, Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung, 2f.
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gestiftet –, verband sich somit fortan insbesondere sein Name mit der Stiftung und der zukünftigen Universität. Damit war der Ehrungen aber noch nicht genug. Als Stifter der Lungenheilanstalt und des Vorlesungsgebäudes wurde Edmund J. A. Siemers fortan in vielfältiger Art und Weise als sozialer Wohltäter und vor allem als Kulturmäzen geehrt, was ihn dauerhaft aus der Vermögenselite Hamburgs heraushob.34 Nun fielen ihm nicht nur in rascher Folge die höchsten Ehren der Stadt zu,35 wodurch er in der Hierarchie der städtischen Gesellschaft ganz nach oben rückte. Auch verlieh ihm der Kaiser den Kronenorden 2. Klasse und nach eigenem Bekunden wurde ihm von kaiserlicher Seite der Freiherrentitel angeboten.36 Welcher „soziale Mehrwert“ sich aus den philanthropischen „Investitionen“ von Edmund J. A. Siemers ergab, zeigte sich auch nach seinem Tod. Obwohl die Firma G.J.H. Siemers & Co. nach dem Ersten Weltkrieg nie wieder ihre Vorkriegsstellung erreichen konnte, blieb Kurt Siemers, Sohn und Firmenerbe, eine der angesehensten Persönlichkeiten der Stadt. Bezeichnenderweise folgte er seinem Vater im Amt des Schatzmeisters der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung. Überdies wählte 1935 das Kuratorium Kurt Siemers zum Präsidenten der Stiftung. 1951 schließlich übertrugen die Kuratoren Kurt Hartwig Siemers, einem Enkel von Edmund J. A. Siemers das Präsidentenamt, nach dem dieser ebenfalls schon als Schatzmeister tätig gewesen war.37 Zunehmende Anziehungskraft gewann das kulturelle und wissenschaftliche Mäzenatentum um 1900 für wirtschaftliche Aufsteiger, weil es Gelegenheit bot, gleichzeitig wirtschaftlichen Erfolg, bürgerliche Verantwortung und kulturelle Kompetenz zu demonstrieren. Als Gegenleistung für ihr finanzielles und ideelles Engagement konnten die aufstrebenden Bürger auf verschiedene Formen gesellschaftlicher Anerkennung vertrauen. Dazu zählten öffentliche Akte der Anerkennung durch die städtischen Honoratioren, wie am Beispiel von Edmund J. A. Siemers deutlich gemacht wurde. Zwar bekamen Hamburger Mäzene keine prestigeträchtigen bürgerlichen Titel für ihr Engagement verliehen; Kommerzienräte zum Beispiel ernannte man im Stadtstaat Hamburg nicht. Dennoch wurden Stiftern und Mäzenen schon zu Lebzeiten städtische Ehrungen wie Ehrengedenkmünzen oder Straßenbenen34 Vgl. Schiefler, Hamburgische Kulturgeschichte, 45, 363f. 35 So erhielt er 1911, nachdem im selben Jahr das Vorlesungsgebäude mit großem Aufwand eröffnet worden war, die höchste Auszeichnung des Stadtstaates. Die Hamburger Ehrengedenkmünze hatten Senat und Bürgerschaft zuvor nur einem anderem herausragenden Stifter verliehen; vgl. Hans-Edmund Siemers (Bearbeiter), Das Leben des Edmund Julius Arnold Siemers mit seiner Frau Susanne, seinen Kindern und Enkelkindern. Sein Wirken als Kaufmann und Mäzen in der Freien Hansestadt Hamburg, unveröff. Maschinenschrift o.O. o.J.; D. Schröder, Edmund Siemers, in: Die Brücke. Illustrierte Halbmonatsschrift 1 (1924), 1–14. 36 Vgl. Siemers, Das Leben des Edmund Julius Arnold Siemers. 37 Vgl. Lübbren, Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung, 2f., 25ff.
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nungen zu Teil. Auch Erhebungen in den Adelsstand durch den Kaiser konnten die Folge wirtschaftlichen Erfolges und besonderen gemeinnützigen Engagements sein, obwohl es im Stadtstaat Hamburg eine seit langem gepflegte Tradition der obligatorischen Ablehnung solcher Titel gab. Mit der Ausformung einer neuen großbürgerlichen Identität im Kaiserreich, die sich kaum mehr von der in anderen deutschen Metropolen unterschied, erhielten auch Adelsprädikate eine stärkere Bedeutung.38 Während Teile des Hamburger Großbürgertums – unter ihnen auch Edmund J. A. Siemers – für sich persönlich nach wie vor einen Adelstitel ablehnten, sahen andere darin eine angemessene Ehrung für ihre gesellschaftlichen Leistungen und eine ihrer sozialen Stellung entsprechende Distinktionsform. Als Beispiel dafür kann der innovative Kaufmann Heinrich Ohlendorff (1836–1928) benannt werden.39 Er war als siebtes Kind eines Gärtners und Botanikers zur Welt gekommen. Mit dem Guano-Handel reich geworden, stiftete er 1871 ein Haus für die Verwundetenfürsorge und wurde dafür 1873 nobilitiert und 1889 in den preußischen Freiherrenstand erhoben. Als Heinrich Freiherr von Ohlendorff und zugleich Kaufmann, Großgrundbesitzer und übrigens auch Donator der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung zählte er bis zu seinem Tod zur Crème de la Crème der Hamburger Gesellschaft. Erster Weltkrieg, Revolution, Demokratisierung und Inflation sollten dieser bürgerlich-elitären Lebenswelt und der aus ihr entspringenden Stiftungskultur weitgehend die Grundlagen entziehen. Das im Kaiserreich ausgebildete Wechselspiel von wirtschaftlichem Erfolg, philanthropischem Engagement und sozialem Aufstieg wurde in der Weimarer Republik stark eingeschränkt. Dabei waren nicht allein die materiellen Vermögensverluste durch Krieg und Inflation von Bedeutung. Wie der Soziologe Leopold von Wiese schon 1929 feststellte, hatten in der Weimarer Republik vor allem Demokratisierung und „Versachlichung“ den einzelnen Mäzen in den Hintergrund treten lassen, wobei Wiese die Versachlichung im Sinne einer Entpersonalisierung und Rationalisierung der Beziehungen zwischen Förderer und Geförderten interpretierte.40 Insbesondere die bisherige Reziprozität von philanthropischem Engagement und öffentlicher Anerkennung war unter der zum Teil sehr kritischen Distanz zwischen Arbeitervertretern, die den kommunalen Parlamenten und Behörden angehörten, und dem Mäzenatentum erheblich eingeengt worden. Daher bestimmten Repräsentativität und Staatsnähe das bürgerliche Mäzenatentum in der Weimarer Republik weit weniger als im Kaiserreich.41 Nach wie vor schuf neuer Reichtum jedoch das Bedürfnis, kulturelle Kompetenz zu demonstrieren, wie sie sich im Sammeln und Fördern 38 Vgl. Augustine, Partricians and Parvenus, 191–197. 39 Vgl. Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Bd. 2, Hamburg 2003, 305ff. 40 Vgl. Leopold von Wiese, Die Funktion des Mäzens im gesellschaftlichen Leben, Köln 1929, 14, 18, 28. 41 Vgl. Frey, Macht und Moral des Schenkens, 32–148.
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manifestiert. Dies soll am Beispiel der Brüder Hermann und Philipp Reemtsma illustriert werden. Hermann F. und Philipp F. Reemtsma, die Söhne eines Erfurter Tabakfabrikanten, siedelten zu Beginn der 1920er Jahre nach Hamburg über. Sie errichteten in Hamburg-Bahrenfeld eine neue Fabrik und begannen ein Zigarettenimperium aufzubauen.42 Schon Ende der 1920er Jahre war das Familienunternehmen durch zahlreiche Firmenübernahmen zu einem der größten Zigarettenkonzerne Deutschlands aufgestiegen. Ende der 1920er Jahre lassen sich zugleich die ersten philanthropischen Aktivitäten der Reemtsma-Brüder nachweisen. Hermann Reemtsma (1892–1961) begann in dieser Zeit Kunst zu sammeln und wurde in der Folge zum großen Förderer von Ernst Barlach.43 Philipp Reemtsma (1893–1959), der sich seit Ende der zwanziger Jahre ebenfalls dem Sammeln alter und neuer Kunst zuwandte, trat 1930 erstmals öffentlich als Mäzen in Erscheinung.44 Als größter Einzelzeichner stand er mit 100.000 Mark an erster Stelle einer Unterstützerliste für die Hamburger Kammerspiele.45 Bemerkenswert ist diese Beteiligung nicht allein durch ihren Umfang in Zeiten der weltweiten Wirtschaftskrise. Vielmehr ist es die Stellung der Kammerspiele als modernste Bühne im Hamburger Theaterwesen, die Aufmerksamkeit erregt. Die 1919 gegründete avantgardistische Bühne war mit ihrer Inszenierungspraxis, Uraufführungen von Stücken Ernst Barlachs, Klaus Manns oder Carl Sternheims und Schauspielern wie Gustav Gründgens das innovativste Theater der Stadt und zählte große Teile der kulturellen und intellektuellen Elite Hamburgs zu ihrem Freundeskreis.46 Das Theater besaß somit eine ausgesprochen kulturelle Attraktivität und große gesellschaftliche Bedeutung in der Stadt. Damit hatte Reemtsmas Engagement jenseits seiner privaten Kunstinteressen einen hohen symbolischen
42 Vgl. Jörg Schilling, „In Wirklichkeit aber wissen wir nichts…“. Lebenswege zwischen 1933 und 1945, in: Hermann Hipp, Roland Jaeger u. Johannes Weckerle (Hg.), Haus K. in O. 1930–32. Eine Villa von Martin Elsaesser für Philipp F. Reemtsma, Berlin 2006, 189–220; Erik Lindner, Die Reemtsmas. Geschichte einer deutschen Unternehmerfamilie, Hamburg 2007. 43 Vgl. Dagmar Lott-Reschke, „Zu meiner Legitimation darf ich anfügen, dass ich Kunstfreund bin, auch Sammler.“ Hermann F. Reemtsma und die Kunst, in: Eva Caspers (Hg.), „Kunstwerke, die mich angehen.“ Der Sammler Hermann F. Reemtsma 1892– 1961, Hamburg 1992, 7–18; Ulrich Luckhardt u. Uwe M. Schneede (Hg.), Private Schätze. Über das Sammeln von Kunst in Hamburg bis 1933, Hamburg 2001, 239. 44 Vgl. Silke Reuther, Die Kunstsammlung Philipp F. Reemtsma, Berlin 2006, insbes. 21–30. 45 Vgl. Verhandlungen über die wirtschaftliche Sanierung und Projekte für einen Neubau der Kammerspiele 1926–1930, Staatsarchiv Hamburg, Senatskommission für die Kunstpflege C2. 46 Vgl. Manfred Brauneck, Christine Müller u. Barbara Müller-Wesemann, Theaterstadt Hamburg. Schauspiel, Oper, Tanz. Geschichte und Gegenwart, Reinbek b. Hamburg 1989, 109–113.
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Charakter, der von der bürgerlichen Elite der Stadt wahrgenommen werden musste. Zu diesem Zeitpunkt waren die Reemtsmas zwar angesehene Mitglieder in den bürgerlich-elitären Kreisen Hamburgs, wie die Mitgliedschaft in vornehmen Überseeclubs anzeigt,47 aber erst in den folgenden Jahrzehnten – bis in die bundesrepublikanische Geschichte hinein – sollten sie nicht nur zu einer der reichsten, sondern auch zu einer der gesellschaftlich bedeutendsten Familien Hamburgs aufsteigen. Dieser Aufstieg war untrennbar mit ihrem außerordentlichen stifterischen Engagement verbunden.48 Die Brüder Reemtsma agierten im Grunde genommen keineswegs anders als ihre Vorgänger im Kaiserreich. Sie nutzten ihre wachsenden materiellen Ressourcen nicht allein zu ökonomischen, sondern auch zu kulturellen Investitionen. Die derart vorangetriebene Akkumulation kulturellen und damit auch sozialen Kapitals brachte sie dann an die Spitze der städtischen Gesellschaft. Doch war ihr Mäzenatentum in der Weimarer Republik weniger glanzvoll und weniger durch Eigenwerbung geprägt, als es beispielsweise noch bei Edmund J. A. Siemers zu beobachten war. Auch in der Weimarer Republik war mäzenatisches Engagement ein probates Mittel, um die eigene soziale Anerkennung innerhalb der städtischen Oberschicht zu forcieren, während es aber weitaus weniger auf die allgemeinere Popularisierung der Stifter und ihrer Stiftungen ausgerichtet war. Insofern bestätigt das Beispiel der Brüder Reemtsma den Trend zu noch stärker elitären Strukturen in der privaten Kulturförderung in der Weimarer Republik als im Kaiserreich.49 Ein weiterer Umstand, der die Reemtsmas mit historisch älteren wie auch jüngeren Stiftern und Mäzenen verbindet, ist die Tatsache, dass ihr philanthropisches Engagement neben einer gemeinnützigen auch eine ökonomische Dimension umfasste. Am Wirken von Edmund J. A. Siemers ist das schon deutlich geworden. Freilich ist der ökonomische Ertrag, der sich aus philanthropischen Aktivitäten für Unternehmer ergab und ergibt, schwer zu messen, was übrigens auch für die politische Dimension mäzenatischen Handelns gilt. Dennoch schafft Mäzenatentum im besten Fall einen „guten Namen“, der sich wirtschaftlich nutzen lässt,50 und hilft Beziehungen zu anderen Unternehmern und politischen Entscheidungsträgern aufzubauen. Verstärkt und daher in besonderer Klarheit trat der ökonomische Ertrag philanthropischer Investitionen vor allem im Dritten Reich zu Tage. Stiften und Schenken 47 Vgl. Mitgliederliste des Überseeclubs Hamburg nach dem Stande vom 1. Januar 1931, Archiv des Übersee-Klub Hamburg. 48 Vgl. Lindner, Die Reemtsmas, 489–493. 49 Vgl. Frey, Macht und Moral des Schenkens, 143. 50 Vgl. Katja Köhr, Die Konstituierung des „guten Namens“ als symbolisches Kapital am Beispiel deutscher Privatbanken während des Bankenkonzentrationsprozesses 1880– 1938, unveröff. Staatsexamensarbeit TU Dresden 2005, 58–63; Lässig, Mäzenatisches Handeln, 75–112, insbes. 107f.
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wurde im Nationalsozialismus nicht selten ausschließlich von wirtschaftlichen Interessen geleitet und diente einzig dazu, gute Beziehungen zu den neuen Machthabern zu etablieren, aus denen sich unmittelbare wirtschaftliche Vorteile ergeben sollten. Die umfangreiche Spenden- und Stiftungstätigkeiten der Reemtsmas, die häufig direkt nationalsozialistischen Parteifunktionären zugute kamen, sind weitgehend unter dieser Perspektive zu betrachten; sie waren weniger politisch oder ideologisch als marktrational motiviert. Um die Konsolidierung und den weiteren Ausbau ihres Unternehmens abzusichern, brachten die Reemtsmas Millionen an „nationalen Spenden“ und Unterstützungen lokaler Institutionen auf.51 Dabei wurden nicht nur die persönlichen „Bedürfnisse“ von hohen Amtsträgern wie Hermann Göring oder dem Hamburger Reichsstaathalter und Gauleiter, Karl Kaufmann (1900–1969), bedacht, sondern auch sozial-karitativ tätige Stiftungen und Vereine, Museen, Theater, Künstlervereinigungen und wissenschaftliche Gesellschaften, die gleichwohl im Interesse der Machthaber lagen.52 Auf der Basis der so hergestellten guten Beziehungen zur NS-Spitze, stiegen die Reemtsmas 1940 ins Reedereigeschäft ein. Nach verschiedenen Querelen um die Reprivatisierung der seit 1934 im Staatsbesitz befindlichen und vereinigten Großreederein Norddeutsche Lloyd und Hapag und des Afrikalinien-Verbundes wurde Philipp F. Reemtsma von Hermann Göring mit der Treuhänderschaft über die Großreederein betraut und erlangte in der Folgezeit als Großaktionär einen bestimmenden Einfluss im Schifffahrtsgewerbe. Nach der Trennung und Reprivatisierung von Norddeutsche Lloyd und Hapag hielt Philipp F. Reemtsma allein vierzig Prozent des Aktienkapitals der Hapag im Nennwert von 19 Millionen RM und 28 Prozent der Norddeutschen Lloyd im Nennwert von 12,5 Millionen RM. Hermann F. Reemtsma erwarb zudem Norddeutsche Lloyd-Aktien im Nominalwert von vier Millionen RM. Als „beherrschender Aktionär der beiden Großreederein“ zog Philipp F. Reemtsma 1942 in beide Aufsichtsräte ein.53 Im Falle des Reemtsmakonzerns war das Stiften, Spenden und Fördern zu einem integralen wie notwendigen Bestandteil der Unternehmensexpansion im Nationalsozialismus geworden. Wenn auch in Umfang und Qualität selten, stellt das Verhalten der Reemtsmas im Nationalsozialismus doch keine Einzelerscheinung dar. Einen Beleg dafür bietet unter anderem eine großzügige Spende für Theaterzwecke an 51 Vgl. Lindner, Die Reemtsmas, 100–103, 114–123, 145. 52 Vgl. Schilling, Lebenswege, 205–207; Günther Haase, Die Kunstsammlung des Reichsmarschalls Hermann Göring. Eine Dokumentation, Berlin 2000, 23, 65f., 138, 199; Verteidiger-Unterlagen Dr. Herbert Fischer in Strafsachen Reemtsma, Archiv Hamburger Institut für Sozialforschung, PFR 220,08-1. 53 Vgl. Hartmut Rübner, Konzentration und Krise der deutschen Schiffahrt. Maritime Wirtschaft und Politik im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Bremen 2005, 341ff.
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die staatliche Verwaltung für Kunst- und Kulturangelegenheiten durch den Reeder John T. Essberger (1886–1959).54 Essberger war ein ehemaliger Offizier der Kaiserlichen Marine, der sich 1924 mit einer Tank-Reederei selbständig gemacht hatte. Auch er hatte schnell Erfolg und zählte seit Ende der 1920er Jahre zu den führenden Reedern der Stadt.55 Verheiratet mit einer kunstsinnigen Frau, die aus erster Ehe „halbjüdische“ Kinder mit in die Familie gebracht hatte, stand er in einem sehr ambivalenten Verhältnis zum NSStaat. Elsa und John T. Essberger sammelten im Dritten Reich Kunstwerke – vornehmlich französische Impressionisten56 –, zu deren Pflege sie den Kunsthistoriker Dr. Martin Feddersen beschäftigten. Feddersen seinerseits hatte durch die Ehe mit einer Jüdin seine Anstellung im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg verloren.57 Trotz ideologischer Distanz zur nationalsozialistischen Partei nutzte Essberger seine gesellschaftlichen Kontakte, um wirtschaftliche Vorteile zu erringen.58 In diesem Kontext muss auch seine Spende an die Hamburger Staatsverwaltung zugunsten eines inzwischen verstaatlichten und kulturpolitisch „gleichgeschalteten“ Theaterwesens gesehen werden.59 Der Ertrag solcher kulturellen Investitionen wird auch bei Essberger im Zusammenhang mit der Reprivatisierung der deutschen Großreederein deutlich. Neben den Reemtsmas gehörte Essberger zu den großen Profiteuren dieses Geschäfts. Er erwarb die Aktien der Deutschen Afrika-Linien, die aus der Vereinigung der Afrikareedereien Woermann-Linie und Deutsche Ostafrika-Linie entstanden war, im Wert von fast sieben Millionen RM.60 Diese Transaktion wäre ohne ein gutes Einvernehmen mit den nationalsozialistischen Machthabern nicht denkbar gewesen. Eine mit dem Nationalsozialismus wenig kompatible Lebenssituation stand also privaten Zuwendungen an dessen Institutionen nicht zwangsläufig im Wege, zumal wenn sie sich ökonomisch auszahlten. Schufen die politischen Verhältnisse im Dritten Reich ein spezielles Patronagesystem, ergaben sich daraus auch Anreize für privates 54 Vgl. Zuwendungen Dritter zur Förderung der Theater 1940–1953, Staatsarchiv Hamburg, Kulturbehörde I C 39. 55 Vgl. Svante Domizlaff, John T. Essberger. Eine deutsche Geschichte der Tankschiffahrt, Hamburg 1999. 56 Ihren Ursprung findet diese gemeinsame Sammlung wahrscheinlich in der ersten Ehe Elsa Essbergers. Die Tochter eines Gärtners war die Ehefrau des fast dreißig Jahre älteren Unternehmers Jacob Wolff. Dieser war 1926 in Folge eines Unfalls verstorben. Jacob Wolff war ein typischer Selfmademan des Kaiserreichs, der, aus einer armen jüdischen Familie stammend, ein Zigarettengroßunternehmen (HACIFA) aufgebaut hatte. Wolff war in späteren Jahren mit dem Impressionisten Max Liebermann befreundet und ließ sich u.a. 1919 von ihm porträtieren. Vgl. ebd., 52f. 57 Vgl. ebd., 85. 58 Vgl. Carl Vincent Krogmann, Es ging um Deutschlands Zukunft 1932–1939. Erlebtes täglich diktiert von dem früheren Regierenden Bürgermeister von Hamburg, Landsberg am Lech 1976, 63, 110f.; Domizlaff, Essberger, 79–86. 59 Vgl. Brauneck u.a., Theaterstadt Hamburg, 138f. 60 Vgl. ebd., 342.
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(scheinbar gemeinnütziges) Engagement. Insbesondere für aufstrebende Geschäftsleute wie Essberger und Reemtsma bot sich so mittels Stiftungen und Zuwendungen die Möglichkeit, sich mit den politischen Machthabern zu arrangieren und Geld zu verdienen. Wie weit sie dabei eine direkte Integration in die nationalsozialistische Elite anstrebten, ist häufig schwer zu beurteilen und kann kaum pauschal beantwortet werden. PHILANTHROPISCHE NETZWERKE Suchen wirtschaftliche Aufsteiger mittels stifterischem und mäzenatischem Engagements Anerkennung und Prestige bei sozial höheren Gesellschaftskreisen zu erreichen, so ist dies Teil einer vielfältigen Netzwerkbildung.61 Übergreifend erzeugen oder begünstigen philanthropische Akte die Entstehung von formellen und informellen Netzwerken zwischen Angehörigen ein und derselben Sozialschicht wie auch zwischen verschiedenen Gesellschaftskreisen und Berufsgruppen. Dabei sind diese Netzwerke durchaus in sich strukturiert und in ihrer vertikalen Ausdehnung sozial nach unten begrenzt. Je weniger ökonomisches und kulturelles Kapital, soziales Prestige und / oder politische Macht eine Person auf sich vereinen kann, desto geringer ist ihre Chance, einem solchen Netzwerk anzugehören. Das betrifft die Seite der Geber von Geldern für gemeinnützige und wohltätige Zwecke ebenso wie die Empfänger. So haben historische Studien zum deutschen Stiftungswesen im 19. Jahrhundert – insbesondere zur Wohltätigkeit in Hamburg62 – und soziologische Studien zur modernen amerikanischen Gesellschaft gezeigt, dass stifterisches und mäzenatisches Handeln oft exklusiv und auf solche sozialen Kreise ausgerichtet ist, „die emotional, kulturell und normativ gesehen weniger weit von den Spendern entfernt sind als andere Gruppen.“63 Dabei ist zu beachten, dass die Nehmer-Seite nicht auf die Empfänger sozialer Leistungen reduziert werden darf. Insbesondere die private Förderung der so genannten Hochkultur macht deutlich, dass Stifter hier einen Bereich unterstützen, der ihnen selbst sehr nahe steht.64 Im Kaiserreich waren derartige philanthropische Netzwerke elementare Bestandteile der Vernetzung bürgerlicher Eliten. Philanthropische Netzwerke trugen zur Vergesellschaftung zwischen Wirtschaftsbürgertum und Bildungsbürgertum bei, indem sie Unternehmer mit Juristen, Ärzten, Wissenschaftlern, 61 Vgl. Ludwig, Charlottenburg, 96–102, 155–161, 329–333. 62 Vgl. Pielhoff, Paternalismus und Stadtarmut, 326; Ludwig, Charlottenburg, 321–329; Werner, Stiftungen in Dresden, 71–87. 63 Adloff u. Mau, Vom Geben und Nehmen, 223. 64 Vgl. Margaret Eleanor Menninger, The Serious Matter of True Joy: Music and Cultural Philanthropy in Leipzig, 1781–1933, in: Adam (Hg.), Philanthropy, 120–137; ebenso zum Bildungswesen Werner, Stiftungen in Dresden, 83–88.
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Künstlern, (Kultur-)Beamten und Politikern in Verbindung brachten.65 Knotenpunkte dieser philanthropischen Netzwerke fanden sich in den Stiftungsvorständen und -kuratorien oder in Interessen- und Fördervereinen. Daneben boten Festveranstaltungen oder spezielle Bildungsangebote für Vereinsmitglieder Plattformen zur gegenseitigen Verständigung. Beispielsweise war der Kunstgewerbe-Verein zu Hamburg – 1886 durch den Direktor des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe, Justus Brinckmann (1843–1915), gegründet – ein Unterstützungsverein, der sich sowohl den Interessen des von Brinckmann geleiteten Museums annahm als auch durch verschiedene Veranstaltungen die Bildung seiner bürgerlichen Mitglieder bezweckte.66 Diese Netzwerke dienten neben den eigentlichen philanthropischen Zielen auch dem ideellen Austausch und ermöglichten so die Verstetigung der gemeinsam geteilten bürgerlichen Lebensvorstellungen.67 Während Wirtschaftsbürger in diesen Netzwerken kulturelle Kompetenz erwerben konnten, profitierte das Bildungsbürgertum neben den finanziellen Zuwendungen von der Bestätigung seines hohen sozialen Prestiges und damit der Anerkennung seines kulturellen Führungsanspruches.68 Dabei waren diese Netzwerke nicht statisch. Dort, wo sich neue gesellschaftliche Muster auszuprägen begannen, halfen sie neue, angemessene Ausdrucksformen zu finden. Deutlich lässt sich das an der Ausbildung des großbürgerlichen Habitus im Kaiserreich nachvollziehen.69 Philanthropische Netzwerke waren darüber hinaus selbst Teile größerer gesellschaftlicher Verflechtungen, die sich über familiäre, berufliche und politische Ebenen erstreckten. Wie eingangs schon ausgeführt, schufen im Falle Hamburgs diese größeren Netzwerke nicht nur eine Barriere zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft, sondern grenzten auch die bürgerliche Elite von den weniger besitzenden und mit geringerem sozialen Prestige ausgestatteten bürgerlichen Gruppen ab.70 Deshalb war ein Eindringen in diese elitären Netzwerke so attraktiv für soziale Aufsteiger. Aber auch für die alten Familien waren die Netzwerke wichtig, denn sie erzeugten nicht nur gegenseitige Anerkennung, sondern auch gesellschaftlichen Rückhalt. Die Bedeutung eines derartigen Rückhalts wird nach dem revolutionären Umbruch 1918 / 19 besonders sichtbar. Noch bevor abzusehen war, dass es in Hamburg zu einer ausgewogenen politischen Machtteilung zwischen den bürgerlichen Eliten und den neuen Arbeitervertretern kommen würde, war 65 Vgl. Lässig, Mäzenatisches Handeln, 94–97. 66 Vgl. Christian Farenholtz, Tradition und Aktualität. Die Geschichte der Justus Brinckmann Gesellschaft e.V. Freunde des Museums für Kunst und Gewerbe, Hamburg 2002, insbes. 9–17. 67 Vgl. Schulz, Lebenswelt und Kultur, 75f. 68 Vgl. Lässig, Mäzenatisches Handeln, 96f. 69 Vgl. ebd.; Morten Reitmayer, Bankiers im Kaiserreich. Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz, Göttingen 1999, 67–81, 247–271. 70 Vgl. Schulz, Weltbürger; Evans, Tod in Hamburg.
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das Bürgertum in den Revolutionstagen in seiner scheinbar gesicherten Lebenswelt erschüttert worden. Während das alte politische System binnen Tagen zusammenbrach, sahen sich die etablierten Eliten sowohl im politischen als auch im täglichen Leben verschiedensten Anfeindungen ausgesetzt.71 Aus Angst vor einer drohenden Vereinnahmung durch die Sozialdemokratie änderten daher einige bürgerliche Stiftungsvorstände noch vor den ersten demokratischen Wahlen der Hamburger Bürgerschaft und des Senats ihre Stiftungssatzungen. So kappte die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung ihre bis dahin verfassungsmäßig verankerten Bindungen zum Hamburger Senat und dessen Behörden.72 Auch andere Stiftungen ergänzten ihre Vorstände nun allein durch Kooptation.73 Einem drohenden direkten sozialdemokratischen Zugriff wurde damit ein Riegel vorgeschoben. Bürgerliche Senatoren und Beamte blieben also weiterhin in den Stiftungsvorständen präsent; gerade sie hatten vielfach die Satzungsänderungen veranlasst. Somit blieb auch die Nähe zu politischen Entscheidungsträgern und zur öffentlichen Verwaltung gewahrt. Vor allem aber wurde die Kontinuität in den bürgerlichen philanthropischen Netzwerken aufrechterhalten. Während die Fragmentierung des Bürgertums in der Weimarer Republik voranschritt,74 boten philanthropische Netzwerke also nach wie vor Sphären, in denen sich das Wirtschafts- und Bildungsbürgertum bzw. das „staatsnahe“ Bürgertum einer gemeinsamen Identität versichern und gesellschaftlichen Rückhalt finden konnte. Diese Netzwerke verschoben sich in der Weimarer Republik allerdings immer stärker zugunsten der Kunst- und Wissenschaftsförderung. Erstens war dies das Resultat der Hyperinflation 1922 / 23, die das soziale Stiftungswesen als den mit Abstand größten Stiftungssektor hart getroffen hatte. Zwar wehrten sich viele Vorstände trotz dramatischer Vermögensverluste gegen eine Auflösung ihrer Stiftungen,75 doch die Zahl der milden Stiftungen sank gravierend: Zu Beginn der 1920er Jahre hatten in Hamburg circa 1.000 Stiftungen bestanden, die zum weitaus größten Teil der Wohltätigkeit gedient hatten.76 1934 verzeichnete die Hamburger Fürsorgebehörde nur noch circa fünfhundert milde Stiftungen.77 Zweitens wurde die Vielzahl der im Kaiser71 Vgl. Niall Ferguson, Paper and iron. Hamburg business and German politics in the era of inflation, 1897–1927, Cambridge 1995, 152–164; John F. Jungclaussen, Risse in weißen Fassaden. Der Verfall des hanseatischen Bürgeradels, München 2006, 141–159. 72 Vgl. Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung. Gründung, Staatliche Genehmigung, Satzung, Staatsarchiv Hamburg, Senat Cl. VII Lit. He Nr.1 Vol. 84 Fasc.1. 73 Vgl. Erich von Lehe, Die Geschichte des Hartwig Hesse’s Witwen-Stiftes, Hamburg 1976, 46f. 74 Vgl. Schulz, Lebenswelt und Kultur, 29–37. 75 Vgl. Regelung der Beaufsichtigung der privaten Wohlfahrtsstiftungen. Staatsarchiv Hamburg, Sozialbehörde I EF 11.10, Hauptakte Bd.2. 76 Vgl. Stiftungen, Allgemeines, Staatsarchiv Hamburg, Sozialbehörde II 170.20-1, Bd. 1. 77 Vgl. Verzeichnis der hamburgischen Stiftungen, 1934–1946, Staatsarchiv Hamburg, Sozialbehörde I EF 20.30.
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reich existierenden lokalen sozialen Hilfsvereine in der Weimarer Republik durch wenige nationale Verbände abgelöst. Diese freien Wohlfahrtsverbände, wie das Rote Kreuz oder die Innere Mission, zeichneten sich weniger durch freiwilliges privates Engagement als durch eine professionalisierte Arbeitsweise, Zentralisierung und enge Kooperation mit dem Staat aus.78 Drittens verlagerte sich auch bei den neugegründeten Stiftungen der Schwerpunkt immer stärker in Richtung Kultur und Wissenschaft. Während die Zahl der sozial-karitativen Stiftungen stetig abnahm, blieb die Zahl der Stiftungen für Kultur, Bildung und Wissenschaft konstant.79 Insgesamt war der Bedeutungsverlust der sozial-karitativen Stiftungen in der Weimarer Republik zweifellos die Folge des neuen Wohlfahrtsstaatsmodells, das einen zentralen Platz im politischen Programm der Republik einnahm.80 Zwar war der Weimarer Staat aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklungen nicht in der Lage, die gravierenden sozialen Probleme zu lösen, die sich aus Inflation und Weltwirtschaftskrise ergaben, doch die Sozialstaatskonzeption der Weimarer Republik schuf eine mentale Barriere gegenüber der privaten Wohltätigkeit. Entscheidend war die Etablierung professionellerer, bürokratischer und demokratischer Strukturen in der städtischen Sozialfürsorge. Damit wurde zum einen das Modell bürgerlicher Selbstorganisation im öffentlichen Fürsorgesystem marginalisiert, zum anderen verlor die private Wohltätigkeit damit ihre Bedeutung als soziales Instrument, das Normen setzte und Werte vermitteln wollte. In der Konsequenz zog sich das Bürgertum als Träger und Finanzier privater Wohltätigkeit immer stärker zurück. Der damit einhergehende Bedeutungsverlust philanthropischer Netzwerke wurde durch die Zunahme kollektiver Formen des Mäzenatentums in Kunst und Wissenschaft kompensiert. Es war das besondere Kennzeichen der Weimarer Republik, dass sich unter dem Eindruck knapper öffentlicher Kassen eine Vielzahl von Vereinen zur Förderung wissenschaftlicher und kultureller Institutionen neu bildete.81 Die sektorale Verlagerung der philanthropischen Netzwerke wurde in Hamburg darüber hinaus durch die Gründung der Universität im Jahr 1919 begünstigt. In einem ihrer ersten Akte hatte die „neue“, demokratisch gewählte Hamburger Bürgerschaft am 28. März die Errichtung der Universität beschlossen, nachdem noch zehn Tage zuvor die 78 Vgl. Christoph Sachße u. Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2. Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1929, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1988, 152–172; Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt / Main 1987, 137–149; Rainer Auts, Opferstock und Sammelbüchse. Die Spendenkampagnen der freien Wohlfahrtspflege vom Ersten Weltkrieg bis in die sechziger Jahre, Paderborn 2001, 33–260. 79 Grundlage dieses Befundes sind Auswertungen verschiedener Quellenbestände im Staatsarchiv Hamburg. 80 Vgl. Sachße u. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, 160; Peukert, Weimarer Republik, 132–137. 81 Vgl. Frey, Macht und Moral des Schenkens, 141–148.
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„alte“, bürgerlich beherrschte Bürgerschaft einen Universitätsantrag mit 65 zu 65 Stimmen abgelehnt hatte. Die am 10. Mai 1919 eröffnete Universität basierte dann auf einem Zusammenschluss älterer wissenschaftlicher und klinischer Einrichtungen. Im Gegensatz zu den Hoffnungen der Sozialdemokraten, deren politischer Wille erst die Gründung der Universität möglich gemacht hatte, entwickelte sich die Hamburgische Universität jedoch nicht zu einer Reform- oder Volksuniversität, sondern knüpfte an die elitären Traditionen älterer Universitäten an.82 Intensiv bemühte sich die Universitätsführung um eine steigende Popularität ihrer jungen Institution vor allem unter den etablierten bürgerlichen Eliten. Bemerkenswert ist zum Beispiel die Reaktion der Universität auf die vom Hamburger Wohlfahrtsamt beschlossene Aufhebung von Stiftungen während der Inflation. Der Syndikus der Universität teilte dem Wohlfahrtsamt daraufhin mit: Die Universität muß aus Gründen ihres Ansehens und der Tradition, die sich allmählich entwickeln soll, den allergrößten Wert darauf legen, dass die Stiftungen, die zum Teil alte und bekannte Hamburger Namen aufweisen, in ihrem ursprünglichen Zweck erhalten werden und bei der Universität verbleiben.83
Auch wenn diese Stiftungen kaum noch in der Lage waren, ihre Zweckbestimmung zu erfüllen, sah die Universitätsleitung in ihrem Erhalt einen hohen symbolischen Wert. Für die Universitätsleitung zeugten diese Stiftungen zum einen von der Reputation ihrer Alma Mater, zum anderen waren sie ein Bindeglied zu den außeruniversitären bürgerlichen Eliten. Diese Bindungen galt es zu erhalten und auszubauen, um der Universität eigenständige finanzielle Spielräume zu schaffen und den kulturellen und wissenschaftlichen Anspruch der bürgerlichen Professoren hervorzuheben. Symbolisch wie praktisch bestätigt wurden diese Bindungen unter anderem bei akademischen Feiern. Innerhalb der sich herausbildenden Festtradition der Universität wurden die Gönner und Stifter zu einem integralen Bestandteil des Teilnehmerkreises. Allerdings rangierten sie bei der durchaus symbolträchtigen Sitzverteilung erst nach den Universitätsangehörigen und hinter den staatlichen Repräsentanten.84 Diese Prioritätensetzung macht deutlich, dass diese akademischen Feste in erster Linie der inneren Konsolidierung und Identitätsbildung der Universität dienten. Da die Feste vor und zugleich im Kontakt zu den etablierten bürgerlichen Eliten stattfanden – denn um keine andere 82 Vgl. Melle, Hamburger Wissenschaft, Bd. 2; Barbara Vogel, Anpassung und Widerstand. Das Verhältnis Hamburger Hochschullehrer zum Staat 1919 bis 1945, in: Eckart Krause, Ludwig Huber u. Holger Fischer (Hg.), Hochschulalltag im „Dritten Reich“ Die Hamburger Universität 1933 bis 1945, Berlin, Hamburg 1991, 3–83; Kai Kibbel, Das „Selbstverständnis“ der Ordinarien an der Hamburgischen Universität in der Weimarer Republik, unveröff. Magisterarbeit HU Berlin 2004. 83 Annahme von Schenkungen und Zuwendungen im Allgemeinen, 1919–1943, Staatsarchiv Hamburg, Universität I A.190.1. 84 Vgl. Kibbel, Selbstverständnis, 80–86.
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Gruppe handelte es sich bei den Gönnern und Stiftern –, wurden diese zu Akteuren im Prozess der inneren Selbstfindung der Universität. Philanthropie war also nicht nur eine Kontaktzone zwischen inner- und außeruniversitären bürgerlichen Eliten, sondern zugleich Bestandteil des universitären Erscheinungsbildes. Der Aufbau eines philanthropischen Netzwerkes um die Universitätsbelange herum geschah dabei keineswegs einseitig. Auch aus den Reihen der etablierten Stadtelite kamen Impulse zur Schaffung eines Netzwerkes. So fand sich 1922 eine Gruppe von Politikern, Juristen, Kaufleuten und Beamten mit dem Ziel zusammen, nach Vorbildern in anderen Universitätsstädten eine Fördergesellschaft zu gründen.85 In Paragraph 1 der Satzung der Gesellschaft von Freunden der Hamburgischen Universität wurde die elitäre Zielsetzung des Vereins sehr deutlich formuliert: Der Zweck der Gesellschaft ist ein Zusammenwirken der Universität mit dem hamburgischen Bürgertum, insbesondere auch der hamburgischen Kaufmannschaft, zum Nutzen sowohl der Wissenschaft als auch der praktischen Berufe herbeizuführen.86
Den Mitgliedern der Universitätsgesellschaft – wie sie sich nach einer Neukonstituierung im Jahr 1926 nannte – ging es also keineswegs um eine uneigennützige Förderung der Wissenschaft, sondern um den Aufbau eines Netzwerkes, das Universität und Wirtschaft Nutzen bringen sollte. Selbstverständlich ergänzten sich dabei praktische bzw. ökonomische Nützlichkeitserwägungen mit sozialen Bedürfnissen und Erfordernissen. Daher unterschied sich die Universitätsgesellschaft in ihren Zielen nicht von ähnlichen Vereinen und Förderaktivitäten im Kaiserreich. Auch was die soziale Zusammensetzung der Vereinsmitglieder anbelangt, sind personelle und strukturelle Kontinuitäten zum Kaiserreich zu erkennen. Wie von den Gründern beabsichtigt, umfasste die etwa zweihundert Mitglieder starke Vereinigung die kulturelle, wirtschaftliche und politische Spitze der städtischen Gesellschaft. Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass es eine weitgehende Überschneidung mit dem Gästekreis der Herrenabende von Arndt von Holtzendorff (1859– 1935), dem einflussreichen Direktor der HAPAG, gab.87 Hier lassen sich die ausdrückliche Exklusivität der Universitätsgesellschaft sowie ihre Einbettung in ein weiteres elitäres Netzwerk beobachten. Diese Merkmale trugen zur 85 Gleichwohl ist anzumerken, dass der Universitätssenat schon seit 1919 erste Schritte zur Gründung einer Universitätsgesellschaft unternommen hatte; vgl. Hamburgische Universitätsgesellschaft. Gründung, Organe, Satzungen, Allgemeines, 1919–1960, Staatsarchiv Hamburg, Universität I A.190.9.1. 86 Ebd. 87 Vgl. ebd. Die Hamburg-Amerika Packetfahrt-Actien-Gesellschaft war unter ihrem Direktor Albert Ballin im Kaiserreich zur bedeutendsten Reederei der Welt aufgestiegen. Nach dem Krieg konnte die Gesellschaft wieder an die alten Erfolge anknüpfen und nahm erneut eine beherrschende Rolle unter den Reedereien ein; vgl. Ortwin Pelc, Hamburg. Die Stadt im 20. Jahrhundert, Hamburg 2002, 55.
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Erneuerung der elitären Vereinsstrukturen des Kaiserreichs bei und beförderten zugleich die anhaltende Absonderung des wirtschaftlichen Großbürgertums und der Bildungselite von anderen Sozialgruppen. Wie die Gründung der Universitätsgesellschaft anzeigt, war die Verschiebung der philanthropischen Netzwerke in Richtung Kunst- und Wissenschaftsförderung zugleich Teil eines Trends zur „Erneuerung überlieferter Formen des kollektiven Mäzenatentums im Rahmen der elitären Formen der Hochkultur“ in der Weimarer Republik.88 Für den Fall Hamburg lässt sich dies an einer ganzen Reihe elitärer Förder- und Liebhabervereine ablesen, die mit Beginn der 1920er Jahre gegründet wurden: u.a. die Justus-BrinckmannGesellschaft für das Museum für Kunst und Gewerbe, der Verein Freunde der Hamburger Kunsthalle oder die Hamburgische Vereinigung von Freunden der Kammermusik. Geradezu exemplarisch ist die Justus-Brinckmann-Gesellschaft, die per Satzung auf 250 Mitglieder begrenzt war, aber wohl nie mehr als 150 zählte.89 Der Initiator dieses Fördervereins, der Museumsdirektor Max Sauerlandt (1880–1934), unterstrich die soziale Exklusivität und kulturelle Bedeutung des Vereins durch besondere Vorträge zu Neuerwerbungen und kunstvolle Jahresberichte.90 Im Kontrast dazu hatte der 1923 gegründete Verein Freunde der Kunsthalle einen demokratischen Anspruch: „Kunstfreunde der verschiedenen Berufsstände und verschiedenen Alters“ sollten sich hier versammeln.91 Tatsächlich betrug die Mitgliederzahl des Vereins in der Weimarer Republik durchschnittlich fast 2.300.92 Doch bereits im zweiten Mitgliederverzeichnis von 1924 / 25 rückten die 94 „Stifter“ – Vereinsmitglieder, die einmalig oder dauernd einen besonders hohen Beitrag zahlten und um die besonders geworben wurde – an die Spitze der Liste.93 Es ist davon auszugehen, dass diesem symbolischen Akt auch eine praktische Bedeutung zukam. Diesen Stiftern, die zur Spitze des Hamburger Bürgertums zählten, wurde mit Sicherheit besondere Aufmerksamkeit zuteil, zumal Gustav Pauli (1866–1938), seit 1914 Direktor der Kunsthalle, die treibende Kraft hinter der Gründung der Freunde der Kunsthalle war. Schon als Direktor der Bremer Kunsthalle hatte Pauli einen informellen Kreis von Förderern und Freunden um sich versammelt.94 Er war sichtlich gewillt, die von ihm in Bremen beförderte Stiftungskultur auch in Hamburg fortzusetzen. Dies lässt sich auf personeller Ebene nachvollziehen. Einer von Paulis Bremer Mäzenen war 88 Frey, Macht und Moral des Schenkens, 141. 89 Vgl. David Klemm, Das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg, Bd. 1. Von den Anfängen bis 1945, Hamburg 2004, 262ff. 90 Vgl. ebd. 91 Vgl. Oktavia Christ, Geschichte der Freunde der Kunsthalle e.V., unveröff. Manuskript, zur Verfügung gestellt von Freunde der Kunsthalle e.V., 2. 92 Vgl. ebd., 28. 93 Vgl. ebd., 81–84; Mitgliederverzeichnis 1922–1924, Archiv Verein Freunde der Kunsthalle e.V. 94 Vgl. Frey, Macht und Moral des Schenkens, 141f.
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der vermögende Kaufmann und Sammler Leopold Biermann (1875–1922), zweiter Vorsitzender und Schatzmeister des Bremer Kunstvereins.95 Dessen Stief- und Adoptivsohn, der gebürtige Hamburger Hans Harder BiermannRatjen (1901–1969), hatte sich in seinen Bremer Jugendjahren mit Gustav Pauli angefreundet. 1926 übernahm er eine Notariatsstelle in der Sozietät seines verstorbenen leiblichen Vaters in Hamburg und wurde wenige Jahre später Vorstandsmitglied im Verein Freunde der Kunsthalle; dort betätigte er sich neunzehn Jahre lang, nach dem Zweiten Weltkrieg auch als Vorsitzender.96 Gerade dieses generationsübergreifende Beispiel macht deutlich, dass die Verstetigung elitärer Netzwerkstrukturen im Kulturbereich wesentlich von den Aktivitäten der Museumsdirektoren bestimmt war. Direktoren wie Pauli und Sauerlandt waren keine Neulinge, sondern renommierte Fachleute, deren Erfahrungshorizont im Kaiserreich wurzelte. Zur Verwirklichung ihrer Ziele bedienten sie sich bei der Mitteleinwerbung jener Strukturen und Methoden, die sie und viele andere Museumsdirektoren schon im Kaiserreich erfolgreich angewandt hatten. Dies bedeutete insbesondere die Pflege exklusiver Netzwerke, mit dem Resultat, dass die Museumsdirektoren sowohl zur allgemeinen Popularisierung von Kunsterfahrung als auch zur Verstetigung großbürgerlicher Handlungsräume in der Weimarer Republik beitrugen. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden große Teile der alten ebenso wie der in der Weimarer Republik neu herausgebildeten philanthropischen Netzwerke zerstört oder doch wenigstens ihrer gesellschaftlichen Bedeutung beraubt. Am spürbarsten wirkte sich die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Bürger aus, die sowohl als Stifter, Intellektuelle und Künstler, aber auch als Politiker und Beamte wichtige Träger dieser Netzwerke gewesen waren. Des Weiteren entzog die Entlassung angesehener Kulturträger einzelnen Netzwerken den personellen und intellektuellen Mittelpunkt und damit auch ihre Attraktivität. Hamburg wurde von dieser Entwicklung hart getroffen, da die beiden großen Kunstmuseen der Stadt – die Kunsthalle und das Museum für Kunst und Gewerbe - ihre bewährten Leiter verloren und ihnen keine entsprechenden Fachkollegen folgten.97 Schließlich muss die offizielle Kunstdoktrin bzw. die ideologische Neuausrichtung von Kunst- und Kulturförderung für den Rückzug bürgerlicher Stifter aus den philanthropischen Netzwerken verantwortlich gemacht werden. Sichtbare 95 Vgl. Helmut Stubbe-da Luz, Hans Harder Biermann-Ratjen 1901–1969, in: Rainer Postel u. Helmut Stubbe-da Luz (Hg.), Die Notare, Hamburg 2001, 35–207, insbes. 141– 143. 96 Vgl. ebd., 148–151. 97 Max Sauerlandt wurde im April 1933 entlassen und Gustav Pauli im August 1933 zwangspensioniert. Vgl. Klemm, Das Museum für Kunst und Gewerbe, 246; Ulrich Luckhardt, Das Schicksal der Kunsthalle im „Dritten Reich“, in: Uwe M. Schneede u. Helmut R. Leppin (Hg.), Die Hamburger Kunsthalle. Bauten und Bilder, Leipzig 1997, 101–105.
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Zeichen dieses Aderlasses an Stiftern wie Initiatoren war die drastisch fallende Mitgliederzahl der Freunde der Kunsthalle im Laufe der 1930er Jahre und die formelle Auflösung der Justus-Brinckmann-Gesellschaft 1938, die sämtliche Mitglieder verloren hatte.98 Während damit bürgerliche Kommunikations- und Handlungsräume zerfielen, waren verschiedene nationalsozialistische Institutionen und Funktionäre des neuen Staates darum bemüht, philanthropische Netzwerke für ihre eigenen Zwecke nutzbar zu machen. Ein Beispiel dafür ist die Neugestaltung der Universitätsgesellschaft, die sich seit 1936 Hansischer Hochschulring nannte.99 Unter maßgeblicher Initiative des seit 1933 amtierenden Universitätsrektors Adolf Rein (1885–1979) wurde die Gesellschaft den neuen politischen Bedingungen angepasst, das heißt alle jüdischen Mitglieder entfernt, das „Führerprinzip“ eingeführt und eine neue Vereinsspitze gebildet.100 Neuer Vorsitzender wurde der Überseekaufmann und Staatsrat Emil Helfferich (1878–1972), der 1933 zum Aufsichtsratsvorsitzenden der vereinigten Reederein HAPAG und Lloyd gewählt worden war. Helfferich war ein Bruder des Finanzfachmanns Karl Helfferich (1872–1924), der 1916/17 als Innenminister und Vizekanzlers der Reichsregierung angehört hatte und als DNVPMitglied zu den entschiedensten Gegnern der regierenden Parteien der Weimarer Republik zählte.101 Emil Helfferich seinerseits unterstützte Adolf Hitler frühzeitig.102 Er übernahm es, Verbindungen zwischen Hamburger Kaufmannschaft, Universität und den neuen staatlichen Machthabern herzustellen. Die ideellen und finanziellen Erwartungen der Universität an die Wirksamkeit der Gesellschaft wurden jedoch nicht erfüllt. Ein Grund dafür ist in der geringen Interessenüberschneidung zwischen Universität und Wirtschaft zu finden. Es ist bezeichnend, dass der Schatzmeister der Gesellschaft, Ricardo Sloman, der Direktor der Finanzbank AG, Rektor Adolf Rein 1939 eine stärkere Berücksichtigung privatwirtschaftlicher Interessen anriet.103 Während die Vertreter der nationalsozialistischen Universität und des Staates mittels philanthropischer Netzwerke auf eine politische Bindung der wirtschaftsbürgerlichen Eliten abzielten, enthielten sich breitere Kreise der Kaufmannschaft den entsprechenden Aktivitäten, da sie von einer Zusammenarbeit keinen konkreten 98 Vgl. Christ, Geschichte der Freunde der Kunsthalle, 28; Schreiben von Prof. Dr. Nonne an das Hamburger Amtsgericht vom 13. Juni 1938, Archiv Museum für Kunst und Gewerbe, Justus-Brinkmann-Gesellschaft. Erste Gründung 1922–1941. 99 Vgl. Barbara Vogel, Anpassung und Widerstand. Das Verhältnis Hamburger Hochschullehrer zum Staat 1919–1945, in: Eckardt Krause, Ludwig Huber u. Holger Fischer (Hg.), Hochschulalltag im „Dritten Reich“, Bd. 1, Berlin, Hamburg 1991, 3–83; Universitäts-Gesellschaft, 1935–1945, Staatsarchiv Hamburg, Universität I A.70.10.4. 100 Vgl. Vogel, Anpassung und Widerstand, 58. 101 Vgl. Neue Deutsche Biographie, Bd. 8, Berlin 1969, 470–472. 102 Vgl. Henry Ashby Turner, Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985, 296–298. 103 Vgl. Vogel, Anpassung und Widerstand, 60.
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Mehrwert erwarteten. Dieses Beispiel ist gleichwohl kein Beleg für das weitere Auseinanderdriften von Wirtschafts- und Bildungselite im Dritten Reich. Vielmehr zeigen private Initiativen nach wie vor das Bedürfnis zur Bildung neuer philanthropischer Netzwerke auf diesen Feldern. So beabsichtigten die Unternehmer Reemtsma 1939, eine Stipendienstiftung im Wert von einer bis anderthalb Millionen Mark zu errichten.104 Bereits die Planungen zu dieser Stiftung schufen eine enge Fühlungnahme zwischen den Unternehmern, staatlichen Behörden und Universitätsvertretern. Langfristig war aber vor allem der Verwaltungsrat der Stiftung – dem ständig Vertreter der Universität und der Firma Reemtsma angehören sollten – als Kontaktzone vorgesehen. Jenseits aller wirtschaftlichen Erwägungen, die bei der Stiftungsgründung eine Rolle gespielt hatten, wurde damit eine auf Dauer angelegte Beziehung zwischen den Unternehmern und der städtischen Bildungselite hergestellt. Nicht anders als im Falle der Familie Edmund Siemers’ und der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung wäre daher diese außerordentlich große Stiftung dazu geeignet gewesen, die nachfolgenden Generationen der Stifterfamilie Reemtsma langfristig in das städtische Elitenetzwerk zu integrieren. Obwohl im eben geschilderten Falle tradierte philanthropische Muster fortgeführt wurden, so ist für die NS-Diktatur doch nicht zu übersehen, dass privates Engagement immer weiter in den Hintergrund trat und damit die Netzwerkbildung stark eingeschränkt wurde. In den Vordergrund der allgemeinen Aufmerksamkeit traten die populistischen Gesten der NS-Machthaber. Einerseits verdrängten sie privates Engagement praktisch wie symbolisch, andererseits beabsichtigten sie, neue Netzwerke zu schaffen. Das „Pseudo-Mäzenatentum“ von Adolf Hitler, Hermann Göring oder lokalen Machthabern wie Karl Kaufmann absorbierte dabei bürgerliche und aristokratische Muster gleichermaßen.105 Mit Hilfe verschiedener Finanzquellen – vor allem Staatsmittel, „arisierte“ jüdische Vermögen und mehr oder weniger freiwillige Spenden der Wirtschaft – betrieben die nationalsozialistischen Funktionäre scheinbar gemeinnützige Projekte, die ihre autoritäre Herrschaft legitimieren und damit auch die Gefolgschaft der alten Eliten sichern sollten.106 Zu diesen Maßnahmen zählt eine Schenkung an die (nun in Hansische Universität umbenannte) Hamburger Universität. Anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Hochschule 1944 ordnete Reichsstatthalter Kaufmann per Erlass an, der Universität 500.000 RM als Schenkung zukommen zu lassen. 104 Vgl. Gewährung von Stipendien an Studierende, Heft 20, Reemtsma – Hans Neuerburg Stipendienstiftung, Staatsarchiv Hamburg, Hochschulwesen II Ue 13. 105 Zu Hitlers Kunstpolitik vgl. Frey, Macht und Moral des Schenkens, 152–174; zu Karl Kaufmann vgl. Frank Bajohr, Hamburgs „Führer“. Zur Person und Tätigkeit des Hamburger NSDAP-Gauleiters Karl Kaufmann (1900–1969), in: Landeszentrale für politische Bildung Hamburg (Hg.), Hamburg im Dritten Reich. Sieben Beiträge, Hamburg 1998, 119–176. 106 Vgl. Frey, Macht und Moral des Schenkens, 172.
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Das Geld sollte an die Hansische Hochschulstiftung überwiesen werden, unter deren Dach seit 1938 alle Stiftungen der Hamburger Universität vereint waren.107 Mit diesem Akt setzte sich Kaufmann ostentativ als Förderer der Wissenschaft in Szene, was sowohl sein Ansehen in der Stadt aufbessern als auch seine Beziehungen zur lokalen wirtschaftlichen und kulturellen Elite vertiefen sollte. Dies wird umso deutlicher, wenn man sich Herkunft und Erscheinung Kaufmanns vor Augen führt. Kaufmann war der Sohn eines mittelständischen Wäschereibesitzers aus Krefeld und wenig mit elitären Verhaltensweisen vertraut. Trotz seines politischen Amtes war er daher in den wohlhabenden Kreisen Hamburgs gesellschaftlich kaum anerkannt. Die bürgerliche Hamburger Elite betrachtete ihn aufgrund seiner fehlenden kulturellen Bildung und seines „plebejischen“ Geschmacks als keineswegs gleichwertig.108 Um Anerkennung bemüht, versuchte sich Kaufmann daher als Interessenvertreter der Hamburger Wirtschaft zu profilieren, aber eben auch als Förderer der Wissenschaften. Wie weit es Kaufmann gelang, eigene Netzwerke zur Wirtschafts- und vor allem zur Bildungselite Hamburgs aufzubauen, kann hier nicht abschließend festgestellt werden. Die sich zu einigen Hamburger Wirtschaftsführern entwickelten engen Kontakte sprechen allerdings für eine solche Netzwerkbildung.109 Doch ist dabei davon auszugehen, dass diese Netzwerke anders als zwischen den bürgerlichen Eliten im Kaiserreich oder in der Weimarer Republik weniger von gegenseitiger sozialer Anerkennung und gleichwertiger wechselseitiger Kommunikation geprägt waren. Ihre inneren Strukturen richteten sich nach den politischen Machtbedingungen aus und entwickelten sich entlang wirtschaftlicher und politischer Nutzenerwägungen. Mit den Modellen bürgerlicher Vergesellschaftung, die den philanthropischen Netzwerken vor 1933 noch zugrunde gelegen hatten, verband diese neuen, auf einen „Führer“ konzentrierten Netzwerke nur noch wenig. SCHLUSSBEMERKUNG Ziel dieses Aufsatzes war es, als Fallbeispiel die Entwicklungen der hamburgischen Stiftungskultur von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert bis in den Nationalsozialismus hinein analytisch zu betrachten. Festzuhalten bleibt am Ende, dass Stiften und Schenken sehr flexible Handlungsmuster waren, die sowohl soziale, wirtschaftliche als auch politische Dimensionen aufweisen. Die Gewichtung dieser Dimensionen ist unter anderem abhängig vom Zustand des bestehenden Gesellschaftssystems. Ließ das Kaiserreich philan107 Vgl. Hansische Universitätsstiftung 1937–1944, Staatsarchiv Hamburg, Hochschulwesen II Fa 7. 108 Vgl. Bajohr, Hamburgs Führer, 140f. 109 Vgl. ebd.
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thropischem Engagement noch breitesten Spielraum, schrumpfte dieser in der Weimarer Republik und vor allem im Dritten Reich immer weiter zusammen. Das Stiften und Schenken blieb über die Epochengrenzen hinweg für soziale Aufsteiger interessant, doch Verlagerungen innerhalb der Motivstrukturen, die philanthropisches Engagement auslösen, sind nicht zu übersehen. Je stärker der gesellschaftliche Aktions- und Darstellungsradius potentieller Stifter eingeengt wurde, desto mehr reduzierte sich das Stiften und Schenken auf einseitige Verhaltensmuster, die in erster Linie Effizienzkriterien folgten. Hinsichtlich der philanthropischen Netzwerke ist zu konstatieren, dass diese nicht nur im Kaiserreich Teil der bürgerlich-elitären Lebenswelt waren, sondern gerade in der Weimarer Republik eine wichtige Grundlage für den weiteren Zusammenhalt des Bürgertums boten. Im Dritten Reich wurden diese philanthropischen Netzwerke dann entweder zerstört oder ihrer weiteren Entfaltung enge Grenzen gesetzt. Damit verlor das Bürgertum wichtige Kommunikations- und Handlungsräume, was zweifellos zur Lösung der kulturellen Bindeglieder im Bürgertum beigetragen hat. Gleichwohl war der politische Machtwille der neuen Machthaber in gewissem Sinne für die Aufrechterhaltung philanthropischer Ideen und Netzwerke mitverantwortlich. Da nationalsozialistische Machthaber und Funktionäre einzelne Stifter oder ganze philanthropische Netzwerke für ihre Zwecke zu instrumentalisieren suchten, schufen sie letztlich auch Kontinuität und Anknüpfungspunkte für die Stiftungskultur der Nachkriegszeit.
4. KULTURFÖRDERUNG ZWISCHEN PRIVATEN UND STAATLICHEN INTERESSEN
„VORSICHT KULTURDARWINISMUS“. DIE GRENZEN DES AMERIKANISCHEN SYSTEMS DER KULTURFÖRDERUNG, 1990–2006* Kevin V. Mulcahy Das renommierte Oxford English Dictionary (OED) leitet das englische Wort entrepreneur, das auf Deutsch sowohl „Unternehmer“ als auch „Vermittler“ bedeuten kann, vom französischen entreprendre („unternehmen“) ab. Die erste Definition des Wortes im OED lautet: „a director of a musical institution“; die zweite: „a person who undertakes or controls a business or enterprise and bears the risk of profit or lost“, und schließlich die dritte: „a contractor who acts as an intermediary“. Während im Englischen die Bedeutung des Entrepreneurs im Sinne eines innovativen, risikofreudigen Geschäftsinhabers am geläufigsten ist, scheint doch bemerkenswert, dass die erste der genannten Bedeutungen einen eindeutig kulturellen Bezug hat. Daneben gibt es aber noch die weniger bekannte Bedeutung des Entrepreneurs im Sinne eines Vertragspartners, dessen Aufgabe es ist, verschiedene Interessenten zusammenzubringen. In dieser Bedeutung soll Entrepreneur hier im Folgenden gebraucht werden: Der Entrepreneur als Kulturmanager, der als vertraglicher Vermittler oder Unterhändler fungiert und den Staat, den privaten Sektor und die Öffentlichkeit zusammenbringt, um in bestmöglicher Weise einen allgemeinen kulturellen Nutzen zu realisieren. Diese Bedeutung soll nicht in Widerspruch zu der geläufigeren Konnotation von Entrepreneurship – Unternehmertum im Sinne von Profitmaximierung – stehen. Sie wird hier ins Spiel gebracht, um unser Verständnis von Kulturmanagement so zu erweitern, dass es auch jene leitenden Tätigkeiten einschließt, die über eine reduktionistische Fixierung auf rein finanzielle Resultate hinausgehen. Im amerikanischen System der Kulturförderung musste der Kulturmanager, egal ob er für ein öffentliches Unternehmen oder ein privates Non-ProfitUnternehmen tätig war, schon immer ein Entrepreneur sein, der mit der Finanzierungs-Trias zwischen eigenen erwirtschafteten Einnahmen, philanthropischen Spenden und staatlichen Subventionen den laufenden Betrieb und den Fortbestand seiner Einrichtung aushandelt. Diese Rolle ist aufgrund der in den USA äußerst begrenzten Unterstützung kultureller Einrichtungen durch den Staat in hohem Maße notwendig.1 Dieser Komplex soll im ersten Abschnitt * 1
Übersetzung aus dem Englischen von Björn Wirtjes. Milton C. Cummings, Jr., u. Richard S. Katz (Hg.), The Patron State, New York 1987; Judith Balfe (Hg.), Paying the Piper, Urbana 1993; Kevin V. Mulcahy u. Margaret Jane
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dieses Aufsatzes beschrieben und erörtert werden, der sich mit der nationalen und kommunalen Kultursubventionierung befasst. Im zweiten Abschnitt sollen die Rolle der Philanthropie im amerikanischen System der Kulturförderung sowie die mit der Privatisierung verbundenen Gefahren analysiert werden. Der dritte Abschnitt stellt ein Konzept vor, das die Tätigkeitsbereiche eines Kulturvermittlers (cultural entrepreneur) mit dem breiteren Themenfeld kulturpolitischer Strategien in Verbindung setzt. Im vierten Teil sollen Thesen für eine bessere Vermittlung des Wertes von Kunst und Kultur präsentiert werden. Dabei soll herausgestellt werden, dass das Konzept des kulturellen Unternehmertums nur dann erfolgreich sein kann, wenn man die bislang übliche defensive Haltung aufgibt und selbstbewusster und zielgerichteter als zuvor betont, wie unbestreitbar wichtig und wertvoll Kunst und Kultur für die gesamte Gesellschaft sind. Abschließend möchte ich skizzieren, wie eine am öffentlichen Interesse orientierte Kulturpolitik in Zukunft gestaltet werden könnte. 1. DER AMERIKANISCHE SONDERWEG IN DER KULTURFÖRDERUNG Der Gebrauch des Ausdrucks „Sonderweg“ soll gewiss nicht andeuten, dass die USA im Bereich des Kulturmäzenatentums Bestnoten erzielt hätten. Vielmehr zeigt er an, dass sich die amerikanische Kulturförderung deutlich von der in anderen Ländern unterscheidet. In Analysen der öffentlichen Kulturlandschaft wird immer wieder der angeblich beklagenswerte Zustand der öffentlichen Förderung kultureller Aktivitäten in den USA mit einer idealisierten Version der Zustände im europäischen Kulturbereich kontrastiert. Und tatsächlich ist auf Bundesebene die Kunst- und Kulturförderung im vergangenen Jahrzehnt dramatisch zurückgegangen. Dagegen haben die für die Kultur zuständigen Gremien auf einzelstaatlicher und kommunaler Ebene aber ihre finanzielle Unterstützung aufgestockt und institutionelle sowie politische Widerstandsfähigkeit bewiesen, wenn es darum ging, die nationale kulturelle Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus hat die amerikanische Regierung mithilfe der Steuergesetzgebung in einem in anderen Ländern unbekannten Maße Gestaltungskompetenzen weitgehend an private Einrichtungen delegiert, die eine Vielzahl wohltätiger Ziele verfolgen. Diese gemeinnützigen Institutionen sind in unterschiedlichen Bereichen wie Religion, Gesundheitswesen, Bildung, soziale Fürsorge und Kultur tätig. Solche nicht auf Gewinn ausgerichtete, geWyszomirski, America‘s Commitment to Culture, Boulder 1995; Margaret J. Wyszomirski, Federal Cultural Support. Toward a New Paradigm?, in: Journal of Arts Management, Law and Society 25 (1995a), 69–83; Joni M. Cherbo u. Margaret J. Wyszomirski, The Public Life of the Arts in America, New Jersey 2000; Kevin V. Mulcahy, The State Arts Agency. An Overview of Cultural Federalism in the United States, in: Journal of Arts Management, Law and Society 32 (2002), 67–80.
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meinnützige Einrichtungen nimmt das amerikanische Finanzministerium üblicherweise nach Klausel 501 (c) (3) von der allgemeinen Besteuerung aus. Alles in allem balancieren die private und die öffentliche Kulturförderung mit ihrem hohen Stellenwert der Philanthropie die eher negativen Aspekte der kulturellen Verarmung in den USA aus. Die Rolle der Philanthropie in der Kulturförderung wirft jedoch Fragen über die Macht auf, die Privatpersonen und Stiftungen bei der Festlegung kulturpolitischer Leitlinien zugestanden wird. Die Notwendigkeit, eigene Einnahmen zu erwirtschaften, begünstigt zudem die Produktion kommerzialisierter und marktgerechter Kulturangebote. Diese beiden Entwicklungen stellen für die Aufrechterhaltung einer verantwortungsbewussten und repräsentativen öffentlichen Kultur Schwierigkeiten dar. In diesem Zusammenhang muss in Erinnerung gerufen werden, dass es in den USA kein Kultusministerium gibt, das heißt kein Ministeramt auf Kabinettsebene, das für die kulturpolitischen Richtlinien und die Verwaltung eines breiten Spektrums kultureller Aktivitäten zuständig wäre. Mit Ausnahme einiger begrenzter Programme zu Zeiten des New Deal hat man es in den USA bislang abgelehnt, so etwas wie eine offizielle Kultur zu schaffen, für die die Bundesregierung die Rolle eines Förderers übernommen hätte.2 Dennoch gibt es Regierungsunterstützung für kulturelle Angelegenheiten in Form des 1965 ins Leben gerufenen National Endowment for the Arts (NEA). Der National Foundation on the Arts and Humanities Act von 1965 umreißt die Funktionen, die das NEA zu erfüllen hat: Matching grants to States, to non-profit or public groups, and grants to individuals engaged in the creative and performing arts for the whole range of artistic activity […]. A major objective of this legislation is to stimulate private philanthropy for cultural endeavors and State activities to benefit the arts […]. The term ‚the arts‘ includes, but is not limited to, music (instrumental and vocal), dance, drama, folk art, creative writing, architecture and allied fields, painting, sculpture, photography, graphic and craft arts, industrial design, costume and fashion design, motion pictures, television, radio, tape and sound recording, and the arts related to the presentation, performance, execution, and exhibition of such major art forms.3
Allerdings ist das NEA nur eine unter vielen Regierungsstellen, die für die kulturellen Angelegenheiten des Landes zuständig sind. So bietet zum Beispiel das National Endowment for the Humanities (NEH) Unterstützung für wissenschaftliche Forschungsvorhaben und öffentliche Veranstaltungsreihen in Themenbereichen der Geschichte, Philosophie, Sprache, Linguistik, Literatur, Archäologie, Rechtswissenschaft, Kunstgeschichte und -kritik, Ethik, 2
3
Marlene Park u. Gerald E. Markowitz, New Deal for Public Art, in: Harriet F. Senie u. Sally Webster (Hg.), Critical Issues in Public Art. Content, Context, and Controversy, New York 1992, 128–141, hier 131. Public Law 89–209, Congressional Declaration of Purpose Establishing the National Endowment for the Humanities and the National Endowment for the Arts; National Foundation on the Arts and Humanities Act of 1965, Washington, D.C. 1965, 1.
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der vergleichenden Religionswissenschaft und denjenigen Bereichen der Sozialwissenschaft an, die durch eine geschichtswissenschaftliche oder philosophische Herangehensweise gekennzeichnet sind.4 Unter den weiteren Bundesbehörden und Ministerien, die mit kulturellen Angelegenheiten betraut sind, stechen vor allem das Federal Council on the Arts and Humanities, die National Gallery of Art, die Smithsonian Institution (das neunzehn Museen wie das Hirshhorn Museum, die Sackler Gallery, die Freer Gallery, das Museum of American History und das Air and Space Museum umfasst), die Library of Congress, die Corporation for Public Broadcasting und das Institute of Museum and Library Services hervor. Das Innenministerium wiederum fördert das Kunsthandwerk der Nachfahren von amerikanischen Ureinwohnern und überwacht die Mittelzuteilungen für die Denkmalpflege. Die Bundesregierung unterstützt ihrerseits das Kennedy Center for the Performing Arts sowie verschiedene andere Kulturprojekte in der Hauptstadt Washington. Insgesamt sind die Kulturprogramme der Bundesregierung hochgradig diffus. Sie sind auf eine Vielzahl von Verwaltungsbehörden verteilt und werden durch unterschiedliche Komitees des Kongresses beaufsichtigt sowie durch verschiedene Interessengruppen gefördert. Ferner spiegeln sie die politischen Orientierungen verschiedener Wählergruppen wider. In Tabelle 1 sind die Aufwendungen der verschiedenen, mit kulturellen Angelegenheiten befassten Bundesbehörden mit einem geschätzten Gesamtumfang von zwei Milliarden Dollar für das Finanzjahr 2006 aufgeführt.5 Das Budget des NEA beträgt dabei lediglich 133 Millionen Dollar. Dieser Betrag wird sich nicht wesentlich erhöhen, da er auf einem Kompromiss zwischen Demokraten und Republikanern im Kongress beruht, der verhindern soll, dass Letztere abermals versuchen könnten, das NEA gänzlich abzuschaffen. Während die symbolische Bedeutung des NEA in der Kulturwelt größer ist als ihre tatsächlichen finanziellen Mittel, muss aber betont werden, dass das NEA nicht das gesamte kulturelle Engagement der Bundesregierung repräsentiert. Überdies ist eine typische amerikanische Kulturorganisation normalerweise eine private, nicht auf Gewinn ausgerichtete Einrichtung, die von eigenen Einnahmen, individueller Philanthropie sowie der Unterstützung seitens Stiftungen und der Regierung getragen wird. Sie ist weder eine öffentliche Behörde noch wird sie im großem Umfang von staatlicher Seite gefördert. Die Möglichkeit, Beiträge für die Unterhaltung von Amerikas 8.000 Museen, 2.000 regionalen Organisationen für Denkmalpflege, 351 öffentlichen Fernseh- und 548 öffentlichen Radiostationen, 7.000 Amateurtheatern und 1.800 Symphonie-Orchestern von der Steuer abzusetzen, ist das wohl wichtigste Instrument, um diese Institutionen am Leben zu erhalten. Dieses in organisa4 5
Ebd. Hierbei sollte beachtet werden, dass diese Angaben keineswegs vollzählig sind und es keine gesondert geführte Aufstellung der Kulturausgaben im Bundeshaushalt gibt.
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torischer Hinsicht pluralistische System – getragen von einer gemischten und weitgehend außerhalb des öffentlichen Sektors liegenden Finanzierung – ist das wesentliche Kennzeichen der Kulturförderung in den USA. Alles in allem wird deutlich, dass die Bundesregierung nur ein „Minderheitsaktionär“ im Kulturbereich ist.6 Tabelle 1: Ausgewählte Objekte der Bundeskulturförderung (in Mio. Dollar)7 Institution
Zugewiesene Gelder
National Endowment for the Arts
133
Smithsonian Institution
624
National Gallery of Art
112
Institute of Museum and Library Services
25
Kennedy Center for the Performing Arts
30
Institute of American Indian and Alaskan Native Culture
6
National Capital Arts and Cultural Affairs Program
7
Kultur insgesamt
937
Ausgewählte Einrichtungen der Bundesförderung für die Geistes- und Sozialwissenschaften (in Mio. Dollar) Institution
Zugewiesene Gelder
National Endowment for the Humanities
143
Library of Congress
559
Historic Preservation Fund Advisory Council on Historic Preservation United States Holocaust Council Woodrow Wilson International Center for Scholars National Archives Geistes- und Sozialwissenschaften insgesamt
34 4 42 8 321 1.160
Gesamtsumme für Kultur sowie Geistes- und Sozialwissenschaften: ca. zwei Milliarden Dollar Weitere Kulturförderung umfasst8: Corporation for Public Broadcasting National Park Service
6
7 8
463 Mio. 1.030 Mio.
Kevin V. Mulcahy, The Structure and Politics of Local Support for the Arts in the United States, in: Mario Beaulac u. François Colbert (Hg.), Décentralisation, régionalisation, et action culturelle municipale, Montréal 1992, 59–78. Executive Budget of the United States, 2006. Es gibt außerdem noch einen Posten für Kunst am Bau bei Bundesgerichten, Postäm-
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Bei der Finanzierung und Verwaltung von Kulturpolitik verlässt man sich in den Vereinigten Staaten mithin auf ein plurales System. Damit stellen die USA ein einzigartiges Modell dar, denn die Verantwortung für die öffentliche Kultur ist auf eine Vielzahl von bundesstaatlichen Instanzen verteilt. Unter Letzteren ist das NEA primus inter pares, aber es besitzt keineswegs höchste Priorität: Vergleicht man die Kulturfinanzierung seitens des NEA mit den Zuschüssen einzelstaatlicher und kommunaler Kulturträger, wird der geringe Anteil des NEA deutlich. Und besonders wichtig ist, dass Branchen wie die Filmproduktion, Plattenstudios, das Fernsehen, Theater und das Verlagswesen durch kommerzielle Unternehmen dominiert sind, während die darstellenden Künste und drei Viertel der Museen (von denen das übrige Viertel in öffentlicher Hand ist) von Non-Profit-Organisationen getragen werden.9 Die gängigste Form staatlicher Kulturförderung besteht in jährlichen Mittelzuwendungen an einen der öffentlichen Kulturträger. Derartige Zuteilungen der Bundesregierung betrugen im Jahre 2006 insgesamt etwa zwei Milliarden Dollar. Darüber hinaus sind, wie Tabelle 2 anhand der Daten von 1992, 1997, 2001 und 2006 zeigt, die Einzelstaaten und die Kommunen die Hauptträger der öffentlichen Finanzierung von Kultureinrichtungen. In dem Maße, wie die bundesstaatliche Finanzierung von einem Höchststand in den frühen 1990er Jahren stetig zurückgegangen ist, wurden die einzelstaatlichen und kommunalen Kulturgremien als öffentliche Förderer zunehmend wichtiger. Tabelle 2: Gesamt-Kulturausgaben nach Regierungsebenen für die Haushaltsjahre 1992, 1997, 2001 und 2006 (in Mio. Dollar) National Endowment for the Arts Einzelstaatliche Kommunale
Kulturagenturen10
Kulturagenturen11
1992
1997
2001
2006
175
99
102
133
213
272
447
349
600
900
1000
1000
1011
Trotz der häufig getroffenen Aussage, dass Kulturförderung eine Verschwendung von Steuergeldern sei, sollte daran erinnert werden, dass die Unterstüttern und anderen öffentlichen Gebäuden wie auch für Wandgemälde an den Autobahnen, bei historischen Schlachtfeldern und den Botanischen Gärten im District of Columbia. 9 Dick Netzer, Arts and Culture, in: Charles T. Clotfelter (Hg.), Who Benefits from the Private Sector?, Chicago, London 1992, 174–175. 10 Diese Zahlen stellen nur die durch die Länderparlamente festgelegten Zuwendungen dar. 11 Diese Zahlen sind Schätzungen, die auf Berichten von den kommunalen Kulturträgern beruhen. Quellen: Executive Budget of the United States; National Assembly of State Arts Agencies; Americans for the Arts.
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zung von Seiten der amerikanischen Regierung deutlich begrenzt ist. Bei den darstellenden Künsten beläuft sich die Regierungsunterstützung auf sechs Prozent ihres Budgets, verglichen mit 36 Prozent, die aus philanthropischem Engagement und 58 Prozent, die aus selbst erwirtschaften Einnahmen kommen. Bei den Museen liegt der Regierungsbeitrag insgesamt bei dreißig Prozent; Philanthropie und eigene Einnahmen machen 23 bzw. 47 Prozent aus. Wenn man den stärker verbreiteten, nicht auf Gewinnerwirtschaftung abzielenden Museumstyp separat betrachtet, liegt die Regierungsunterstützung bei nur 15 Prozent gegenüber einem Philanthropieanteil von 35 Prozent und einem Anteil aus eigenen Einnahmen von 50 Prozent. Während das amerikanische System der Kulturförderung ein Musterbeispiel für die Privatisierung und Dezentralisierung der Kulturförderung allgemein ist, gibt es in anderen Ländern wie zum Beispiel Kanada eine ähnliche Mischung aus Philanthropie und staatlicher Förderung für die Kultur, denn künstlerische Einrichtungen erhalten auch hier Subventionen von Seiten der Zentralregierung, der Provinzregierungen und der Kommunen. Im Durchschnitt beziehen die darstellenden Künste in Kanada 34 Prozent ihrer Einkünfte aus Regierungsmitteln, während der entsprechende Anteil bei den Museen bei 70 Prozent liegt. Philanthropie und Sponsoring machen 15 bzw. 51 Prozent der Einkünfte der Bühnenhäuser und 10 bzw. 20 Prozent des Unterhalts der Museen aus. Diese Verteilung ist seit Beginn der 1990er Jahre, als Philanthropie und Sponsoring den allgemeinen Rückgang in der öffentlichen Kulturfinanzierung ausglichen, relativ stabil geblieben. Angesichts der Kürzungen bei den staatlichen Kulturausgaben (als Teil einer allgemeinen Budgetkürzung) wird auch der kanadische Kultursektor in Zukunft in stärkerem Maße auf Philanthropie und Sponsoring angewiesen sein. Gleichwohl ist die größere Bedeutung staatlicher Förderung herauszustellen. Sie wird wohl kaum jemals auf das niedrige Niveau der USA sinken. Auch wird das Spendenaufkommen vermutlich keine merkliche Steigerung mehr erfahren. Wie in den meisten Ländern wird Kulturförderung in Kanada als eine Angelegenheit des Staates betrachtet und daher aus öffentlichen Mitteln gefördert. 2. STEUERERLEICHTERUNGEN UND PHILANTHROPIE Für ein angemessenes Verständnis des öffentlichen kulturellen Engagements in Amerika ist es unerlässlich, die Rolle des Non-Profit-Sektors zu betrachten. Während kulturelle Aktivitäten in den USA im Vergleich zu anderen Ländern nur in geringem Umfang direkt vom Staat gefördert werden, ist dessen Rolle bei der Gewährung von Steuervergünstigungen für kulturelle Einrichtungen und ihre Förderer nicht zu übersehen. Das kennzeichnende Merk-
198
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mal für die amerikanische Sonderstellung ist die Rolle der philanthropischen Förderung im Kultursektor, wie auch sonst ganz allgemein im Bereich der Organisationen, die unter die Klausel 501 (c) (3) des Steuergesetzes fallen. Sie ermöglicht die Erbringung einer großen Anzahl von Leistungen, die ansonsten in den Aufgabenbereich des Staates fallen würden. Ob ein derart hochgradig privatisiertes Fördersystem das öffentliche Interesse in der Politik im Allgemeinen und in der Kulturpolitik im Besonderen optimal vertritt, ist heftig umstritten. Insbesondere stellt sich die Frage, ob das Streben nach privater Förderung nicht gegebenenfalls den öffentlichen Auftrag einer Einrichtung gefährdet. Gleichwohl ist die finanzielle Bedeutung gemeinnütziger Spenden, insgesamt fast 250 Milliarden Dollar, nicht zu unterschätzen. Tabelle 3 bietet eine Zusammenfassung der jüngsten Daten zur Philanthropie, geordnet nach Herkunft, gespendetem Betrag und jeweiligem prozentualem Anteil an dem Gesamtbetrag gemeinnütziger Spenden. Tabelle 3: Gemeinnützige Spenden nach Herkunft (in Mrd. US-Dollar und Prozent)12 Herkunft Private Spender
Mrd. US-Dollar
Anteil in Prozent
187,92
75,6
Stiftungen
28,80
11,6
Vermächtnisse
19,80
8,0
Unternehmen
12,00
4,8
248,52
100
Gesamt
Dabei sei erwähnt, dass das gesamte Spendenaufkommen während der letzten fünf Jahre um fast ein Viertel zugenommen hat, die Fördergelder für Kunst, Kultur und Geisteswissenschaften aber um 0,2 Prozent zurückgegangen sind. Während dieser Rückgang kaum verhängnisvoll erscheinen dürfte, hat er doch die Skepsis innerhalb des kulturellen Milieus in Bezug auf die Aussicht auf bedeutsame Verbesserungen hinsichtlich der privaten Spenden genährt. Der in den letzten Jahren verzeichnete Zuwachs an Spenden für Organisationen, die mit internationalen und Umweltbelangen befasst sind, kann vielleicht ein Hinweis auf die Prioritäten einer neuen Generation von Wohltätern sein, die mit kulturellen Werten weniger vertraut und daher weniger geneigt sind, diese zu fördern. Tabelle 4 führt zusammenfassend die Kategorien von Empfängern gemeinnütziger Spenden nach erhaltenem Betrag und Prozentanteil an den Spendenbetrag von 248,52 Milliarden Dollar auf.
12 Giving USA Foundation – AAFRC Trust for Philanthropy / Giving USA 2005.
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Vorsicht Kulturdarwinismus
Tabelle 4: Gemeinnützige Spenden nach Kategorien der Empfänger und gespendetem Betrag (in Mrd. US-Dollar und Prozent)13 Empfänger
Mrd. US-Dollar
Prozentanteil
Religiöse Einrichtungen
88,30
35,5
Bildungswesen
33,84
13,6
Stiftungen
24,00
9,7
Gesundheitswesen
21,98
8,8
Sonstige
21,36
8,6
Hilfs- und Pflegedienste
19,17
7,7
Kunst, Kultur, Geistes- und Sozialwissenschaften
13,99
5,6
Öffentliche / Soziale Zwecke
12,96
5,2
Umwelt und Naturschutz
7,61
3,1
Internationale Angelegenheiten
5,34
2,1
248,52
100
Gesamt
Die Vorteile der Philanthropie müssen mit Blick auf die Konzentration von Entscheidungsbefugnissen über öffentliche Belange in den Händen von Privatpersonen und nichtöffentlichen Institutionen bewertet werden. Das ist weder eine Frage nach der Qualität der geförderten Kultur noch des guten Willens der Gönner, sondern vielmehr eine Frage der öffentlichen Verantwortung für die sich daraus ergebende Kulturpolitik. Ein Beispiel für die Probleme, die selbst bei der wohlgemeintesten Philanthropie entstehen können, findet sich in dem Fall einer 38-Millionen-Dollar-Spende von einer Privatperson für die Smithsonian Institution. Die Schenkung war für eine Ruhmeshalle amerikanischer Helden im Museum für amerikanische Geschichte bestimmt, die nach der Geberin benannt werden sollte. Die Namensgebung war weniger ein Problem als das von der Wohltäterin beanspruchte Recht, die Mehrzahl der Kuratoren zu benennen, die für die Auswahl der in der Ruhmeshalle zu ehrenden Personen verantwortlich sein sollten. Unter den ausgewählten „Helden“ befanden sich die Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey und die ebenfalls über das Fernsehen bekannt gewordene Unternehmerin Martha Stewart, aber auch Martin Luther King und der Begründer der Polio-Impfung Jonas Salk. Nachdem diese Namen bekannt geworden waren, kam die berechtigte Frage auf, ob eine solche Installation angesichts ihrer Ausrichtung auf prominente Stars nicht eher in die Disney-Welt passen würde als in die wichtigste öffentliche Kulturinstitution des Landes (ein angemessenerer Schwerpunkt wäre eventuell gewesen, auf die kollektiven Leistungen derer zu setzen, die der Gemeinschaft in weniger beachteten Berufen dienen). Es sei angemerkt, dass die 38-Millionen-Dollar-Spende an das Smithsonian im 13 Ebd.
200
Kevin V. Mulcahy
Februar 2002 wegen der schlechten Presse, die das Konzept einer Ruhmeshalle hervorgerufen hatte, und wegen der weitreichenden Entscheidungsbefugnisse der Geberin zurückgewiesen wurde.14 Geber und die von ihnen bedachten Einrichtungen haben, wenn Philanthropie im Spiel ist, oftmals unterschiedliche Interessen. Erstere streben in der Regel danach, ihr Andenken zu verewigen, während Letztere an Finanzmitteln für die Erhaltung sowie für Neuerwerbungen interessiert sind. Zudem kann der Geber bei der Schenkung einen Zweck des Gedenkens im Auge haben, der den ästhetischen Werten und Zielsetzungen der kulturellen Einrichtung zuwider läuft. Besonders problematisch ist jedoch, dass Spender häufig eine Reihe von Bedingungen stellen. Solche „Fesseln“ können in Widerspruch zur Arbeitsweise der Kultureinrichtung geraten. Kurzum: Philanthropie kann dazu führen, dass einer kulturellen Einrichtung ihre Aufgabe und Rolle in der Gesellschaft diktiert wird. Ob das oben genannte Beispiel zur Generalisierung taugt, mag fraglich sein, wenn man die Stellung des Smithsonian als öffentliches Museum (das zu siebzig Prozent aus Bundesmitteln finanziert wird) bedenkt. Doch das Smithsonian steht vor denselben Problemen wie private Kultureinrichtungen. Diese mussten schon immer eine Balance finden zwischen philanthropischer Förderung (was oftmals mit Auflagen verbunden war) und eigenen erwirtschafteten Einkünften (was häufig auf Unternehmens-Sponsoring und auf die Planung von für das allgemeine Publikum attraktiven Veranstaltungen hinausläuft) auf der einen Seite und der traditionellen Unabhängigkeit von Kuratorien und der Weiterentwicklung wissenschaftlicher Forschung auf der anderen Seite. Die New York Times fragte in einem Leitartikel: What is the curatorial rationale for a permanent exhibit that seems to open the door for commercial corporate influence? […] At best, a celebrity hall of fame will simply echo the devotion to personal achievement that already permeates every aspect of American culture.15
Die Kultursoziologin Vera Zolberg hat unter Berufung auf Untersuchungen zu den neuesten Trends im Bereich der Museumstätigkeit beobachtet, dass in dem Maße, wie die öffentliche Förderung zurückgeht, diese Einrichtungen dazu gezwungen sind, ihren Charakter zu ändern. Sie organisieren „blockbuster shows, enlarge their gift shops, and emphasize activities for fees that they hope may increase their profits“.16 Ein immer größer werdender Bedarf an eigenen Einnahmen lenkt die Kultureinrichtungen unvermeidlich von ihrem primären Zweck ab, der darin besteht, dem öffentlichen Interesse zu dienen. Normalerweise wird dieser Auftrag durch ein Bekenntnis zu künstlerischer Erstklassigkeit und ästheti14 New York Times, 10. Mai 2001; 26. Mai 2001; 31. Mai 2001; 5. August 2002. 15 Ebd., 31. Mai 2001. 16 Vera Zolberg, Privatization. Threat of Promise to the Arts and Humanities?, in: International Journal of Cultural Policy 7 (2000), 9–27, hier 23.
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201
scher Vielfalt realisiert, ohne dass dabei ausschließlich an Rentabilität und Publikumserfolg gedacht wird. In diesem Sinne besteht der Zweck staatlicher Kulturpolitik darin, die Verzerrungen in der Darstellung und die Mängel in den Angeboten, die mit einem ausschließlich vom Markt bestimmten Kulturbetrieb verbunden sind, abzumildern. Um einen Ausgleich für die Umwandlung der Kunst in eine Ware durch die Unterhaltungsindustrie zu schaffen, sollten Kultureinrichtungen Kunst und Kultur der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stellen und so dazu beitragen, dass über kulturelle Wertmaßstäbe auch öffentlich diskutiert wird.17 Im Ergebnis ermöglicht es die öffentliche Förderung anders als die ausschließlich private Kulturausübung, dass auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen diskutiert werden kann und dass auch Minderheiten ein Mitspracherecht haben. 3. DIE GEFAHREN DER PRIVATISIERUNG Es erscheint hier hilfreich, an einige überaus optimistische Annahmen bezüglich der Vorteile eines marktorientierten Zugangs zur Förderung von Kunst und Kultur zu erinnern. Sicherlich gibt es Vorteile, die Kulturunternehmen durch die Übernahme von Modellen aus dem privaten Sektor erzielen können, zum Beispiel hinsichtlich des sparsamen Umgangs mit den vorhandenen Mitteln oder hinsichtlich des Marketings. Hier sollen jedoch einige der negativen Konsequenzen in Bezug auf die unkritische Übernahme der Privatisierungsversprechungen diskutiert werden. Erstens: Die starke Präsenz der Philanthropie im amerikanischen System der Kulturförderung ist nicht unbedingt auf andere Länder übertragbar. Eine kürzlich erstellte Studie über private Spendengewohnheiten in Australien weist auf ein weithin zu beobachtendes Phänomen hin, wonach das Ausmaß der Philanthropie nicht nur auf die Steuergesetzgebung zurückgeführt werden kann. Die Spendenbereitschaft ist auch abhängig von allgemeinen Einstellungen hinsichtlich der Rolle von Philanthropie im Verhältnis zu staatlichen Ausgaben zur Förderung des Gemeinwohls. Zum Beispiel erhielten in Australien, wo eine den USA vergleichbare Steuergesetzgebung gilt, gemeinnützige Organisationen im Jahre 1999 ungefähr 2,8 Milliarden australische Dollar an Spenden. Das entspricht ungefähr 1,4 Milliarden US-Dollar und ist gegenüber dem amerikanischen philanthropischen Spendenaufkommen von 248 Milliarden US-Dollar verschwindend gering. Australien und die USA gleichen sich allerdings darin, dass religiöse Einrichtungen den 17 Der Ausdruck „Vergesellschaftung der Kultur“ geht auf Hannah Arendt zurück. Siehe Hannah Arendt, Kultur und Politik, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen zum politischen Denken I, München 1994, 277–302. Vgl. auch Theodor W. Adorno, Résumé über Kulturindustrie, in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I, Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt / Main 1977, 337–345.
202
Kevin V. Mulcahy
größten Anteil der gemeinnützigen Spenden (43 Prozent) erhalten. Kunstund Kultureinrichtungen landeten in Australien mit 1,4 Prozent der gemeinnützigen Spenden auf dem letzten Platz.18 Hieraus wird ersichtlich, dass eine günstige Steuergesetzgebung, die es in bedeutendem Umfang erlaubt, Spenden von der Steuer abzusetzen, für sich allein genommen noch nicht ein hohes Spendenaufkommen garantiert. Das liegt daran, dass die nationale Steuergesetzgebung weniger Bedeutung hat als historisch gewachsene Muster der Philanthropie sowie traditionelle Einstellungen hinsichtlich der Rolle, die der Staat bei der Kulturförderung spielen sollte. Historisch bedingt sehen Steuerzahler die Kulturförderung oft als eine Aufgabe des Staates und ihre Steuerzahlungen daher als ausreichende Unterstützung kultureller Zwecke an.19 Vergleicht man das Spendenaufkommen in verschiedenen Ländern, die eine den USA vergleichbare Steuergesetzgebung haben, wird zudem deutlich, dass eine günstige Steuergesetzgebung allein nicht unbedingt zur Stärkung der Philanthropie führt. Bezogen auf den Anteil am Bruttosozialprodukt, beträgt das Spendenaufkommen in den USA lediglich etwas mehr als ein Prozent. Spanien folgt mit 0,89 Prozent, Kanada und Großbritannien mit je 0,6 Prozent und Australien mit 0,32 Prozent (siehe Tabelle 5). Die Bürger dieser Länder betrachten ihre Steuerleistungen anscheinend oftmals als ausreichend, um die verschiedenen wohltätigen Einrichtungen zu finanzieren. Sie scheinen der Ansicht zu sein, dass es neben ihren Steuerzahlungen keiner weiteren Spenden für denselben Zweck bedarf (religiöse Einrichtungen stellen hier eine bemerkenswerte Ausnahme dar). Während die am Bruttosozialprodukt gemessen hohen Spendenaufkommen in Kanada und Großbritannien aufgrund der historisch gewachsenen Rolle der Philanthropie in diesen Ländern leicht erklärbar sind, bereiten Spanien und Ungarn Interpretationsprobleme. Das hohe Spendenaufkommen in diesen beiden Ländern ist wohl darauf zurückzuführen, dass sie Steuergesetze haben, die es erlauben, ein Prozent von der Einkommenssteuer abzuziehen und direkt an philanthropische Einrichtungen zu zahlen. Dies sind in der Regel religiöse Einrichtungen.
18 David Fishel, Australian Philanthropy and the Arts. How Does It Compare?, in: International Journal of Arts Management 4.2 (2002), 9–15, hier 11. 19 J. Mark Davidson Schuster, The Arm‘s Length Principle and the Arts. An International Perspective – Past, Present, and Future, in: Milton C. Cummings, Jr., u. J. Mark Davidson Schuster (Hg.), Who’s to Pay for the Arts. The International Search for Models of Support, New York 1989, 43–80.
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Tabelle 5: Philanthropische Spenden, ohne religiöse Einrichtungen (bezogen auf das Bruttosozialprodukt 1995)20 Empfänger
Anteil in Prozent
Empfänger
Anteil in Prozent
USA
1,00
Australien
0,32
Spanien
0,89
Frankreich
0,26
Kanada
0,64
Brasilien
0,16
Großbritannien
0,63
Japan
0,14
Ungarn
0,59
Deutschland
0,12
Niederlande
0,42
Mexiko
0,04
Argentinien
0,36
Zweitens: Wenn die zu erzielenden Einnahmen zum Selbstzweck werden, besteht die Gefahr, dass der Trend zur Kommerzialisierung die ästhetischen Entscheidungen eines gemeinnützigen kulturellen Unternehmens bestimmt. Es bestehen offensichtliche Grenzen für die Betonung der Einkommensmaximierung im gemeinnützigen Kultursektor. In den USA gab es in letzter Zeit eine wachsende Anzahl von populären Massenausstellungen, die häufig auf Impressionismus oder Post-Impressionismus sowie auf Ägyptologie fokussiert waren oder die auf Konzepte wie „Die Schätze der…“ setzten. Derartige Ausstellungen können fraglos erstklassige Kunst darbieten, sind jedoch üblicherweise eingebettet in einen dezidiert auf Unterhaltung setzenden Kontext. In ähnlicher Weise verlassen sich darstellende Künstler in hohem Maße auf eine „Programmgestaltung mit einem kräftigen Zugpferd“ – das heißt klassische Werke, wie sie Abonnenten lieben –, um dem Stammpublikum und den Spendern zu gefallen.21 Zeitgenössische Werke und solche, die den Ruf haben, „schwierig“ zu sein, haben wegen der Befürchtung, man könnte die Stammabonnenten verärgern, potentielle neue Zuschauer abschrecken oder private Spenden und Sponsoren verlieren, geringere Chancen, aufgeführt zu werden. In einer Untersuchung zum Opernrepertoire in den USA der letzten zehn Jahre fand der Kulturökonom Richard Heilbrun Anzeichen für einen markanten Verlust an Vielfalt, der bei den Opernhäusern Kanadas in dieser Form nicht eingetreten war.22 Although several explanations are possible, Heilbrun’s results are consistent with the view that American opera companies have been shifting their programmatic resources toward a more popular, less demanding repertory in response to changing funding pat-
20 Johns Hopkins University Comparative Nonprofit Sector Project, Baltimore 1995. 21 Kevin F. McCarthy u.a., The Performing Arts in a New Era, Santa Monica 2001, 96. 22 James Heilbrun, Empirical Evidence of a Decline in Repertory Diversity Among American Opera Companies 1991 / 92 to 1997 / 98, in: Journal of Cultural Economics 25.1 (2001), 63–72.
204
Kevin V. Mulcahy terns. In Canada, where public support for opera is far more generous, no such shift has occurred.23
Drittens: Sponsoring durch Unternehmen ist Werbung, nicht Philanthropie. Wenn eine Firma eine gemeinnützige Spende bereitstellt, handelt sie dabei als ein sozial verantwortungsvolles Mitglied der Gemeinschaft, indem sie etwas von ihrem Gewinn in Form von Philanthropie an eine Kultureinrichtung abgibt. Unternehmens-Sponsoring stammt dagegen aus Etats, die für die Vermarktung und die Werbung vorgesehen sind, dient also der Unternehmenswerbung.24 Eine philanthropische Spende wird einer Kultureinrichtung als Institution gegeben. Sponsoring ist mit einer spezifischen Inszenierung, einer Programmreihe oder einer Ausstellung verbunden. Im ersten Fall ist die dankbare Entgegennahme durch die kulturelle Einrichtung in einer Reihe mit all den anderen Spendern die Folge. Im zweiten Fall sind Platzierung, Größe und Wiederholung des Firmenlogos auf jedem Schild und in jeder Ankündigung ein zentraler Gesichtspunkt. Sponsoring wird von Kultureinrichtungen eher unter den erzielten Einnahmen verbucht als unter Spenden, weil es sich dabei um ein quid pro quo handelt. Es ist nicht überraschend, dass Firmen gern mit populären Produktionen und Ausstellungen in Verbindung gebracht werden möchten. In dem Maße, wie ihre Budgets es erlauben, setzen Kulturhäuser daher mehr und mehr auf eine Strategie, bekanntermaßen einträgliche Stars und garantierte Publikumsmagnete zu präsentieren.25 Der potentielle Sponsor ist verständlicherweise daran interessiert, ein breites Publikum mit lohnenden Käuferschichten zu erreichen, das sich darüber freut, seine Favoriten zu sehen oder zu hören. Diese Zufriedenstellung des Publikums wird tendenziell wieder zum Nutzen des Sponsors ausschlagen. Auf der Suche nach dem Mega-Erfolg wird das Sichere und Vertraute gesucht, Riskantes oder Innovatives dagegen gemieden. Um nur ein Beispiel für diese Entwicklung zu nennen: In den letzten Jahren haben die öffentlichen Rundfunkstationen in den USA angesichts von Marktstudien, die darauf hindeuteten, dass Nachrichten und Informationen das sind, was sich die Zuhörer wünschen und was daher einträglich für die Stationen ist, immer weniger klassische Musik gespielt.26 Der öffentliche Radiosender KCFR in Denver hat Publikumsbefragungen genutzt, um herauszufinden, wie die Hörer der Morgennachrichten für das nachfolgende Klassikprogramm gewonnen werden könnten. Klassikprogramme sollten, so das Ergebnis, place pieces from the ‚pastoral‘ mode—light, airy, melodic selections—in heavy rotation while shunning the screechy stuff. Playlists are often filled with upbeat symphonic 23 McCarthy, The Performing Arts in a New Era, 96. 24 Marc Dorfman, Patronage Made in the USA, Vortrag gehalten auf dem Symposium The Festival in the 21st Century, New York, New York am 29. Juli 1998, 51. 25 McCarthy, The Performing Arts in a New Era, 95. 26 New York Times, 5. Februar 2002.
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excerpts, while vocals and strings—and sometimes even standard works like Beethoven quartets or Bach sonatas—are made scarce.27
Viertens: Ohne öffentliche Förderung würde der Kulturdarwinismus die Oberhand gewinnen. Kulturelle Einrichtungen werden zunehmend zu Innovationen gedrängt, die die nicht von der Regierung stammenden Einkünfte erhöhen sollen, ohne dabei ästhetische Standards zu verletzen. Tatsächlich sind aber für die meisten kulturellen Einrichtungen ästhetische Einbußen in einer marktgesteuerten Umgebung unvermeidlich. Es werden jedoch nur einige wenige besonders starke Einrichtungen in der Lage sein, die notwendigen Investitionen hinsichtlich der Besetzungen, der Produktionen und der Vermarktung zu tätigen, um im Unterhaltungsgeschäft zu überleben: In order to attract large audiences, organizations must spend heavily on marketing and promotions. But this increased reliance on the market bears a cost; more money spent on marketing, splashy shows and star-studded programs. This strategy in turn requires an even bigger audience to support the resulting cost increases, and so on—creating an upward spiral of audience and budget growth. Like the for-profit firms, in such an environment only the biggest firms can survive.28
Im Lichte dieses Kulturdarwinismus hat die bereits zitierte Studie zu den darstellenden Künsten in den USA festgestellt, dass sich eine bestimmte Art von Einrichtungen wahrscheinlich ohne wesentliche Abstriche hinsichtlich ihrer ursprünglichen Aufgabenstellung an die sich verändernde Umgebung wird anpassen können. Dazu zählen die kleinen Amateurgruppen, die fast ausschließlich mit Freiwilligen auskommen. Diese Amateur-Initiativen haben kein fest angestelltes Personal oder Büros und treten an kostenlos zur Verfügung gestellten Veranstaltungsorten wie Schulen oder Kirchen auf. Darüber hinaus engagieren sich viele darstellende Gruppen aus dem Freiwilligen-Sektor in experimentellen Kunstformen oder solchen, die nicht auf eine Mehrheitskultur zielen und die das Mainstreaming ihres Programms, das notwendig wäre, um das Publikum zu vergrößern und zu diversifizieren, konsequent ablehnen.29 Es sind daher vor allem die mittelgroßen Einrichtungen in den darstellenden Künsten, deren Zukunft am finstersten aussieht. Die bereits erwähnte Studie kommt zu dem Schluss, dass der Rückgang bei der öffentlichen Alimentierung und bei den Spenden an derartige Einrichtungen zu einer eher konventionellen Programmgestaltung und künstlerisch zu möglichst massentauglichen Veranstaltungen führen wird, um das loyal gebliebene Publikum zu binden und neue Besucher anzuziehen. Da den meisten die Ressourcen fehlen, um Blockbuster zu inszenieren, bleibt abzuwarten, wie gut es ihnen
27 U.S. News and World Reports, 6. April 1998. 28 McCarthy, The Performing Arts in a New Era, 95. 29 Ebd., 102.
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gelingt, mit weltbekannten Institutionen in großen Städten mitzuhalten, die zahlreiche Prominente in ihrem Programm vorzeigen können.30 Es gilt zu bedenken, dass die mittelgroßen Häuser grundlegende Bausteine der kulturellen Infrastruktur der USA darstellen. Sie stehen für kulturelle Vielfalt ein, bieten Übungs- und Ausbildungsplätze für künftig führende Künstler und stellen einen Ort für ästhetische Experimente und neue Entwicklungen bereit. Als Stolz einer Gemeinschaft stehen sie in deren Mittelpunkt und können mithin zu Symbolen kultureller Erstklassigkeit werden. Deshalb müssen die mittelgroßen Kultureinrichtungen eine zentrale Rolle im künstlerischen Mosaik eines jeden Landes spielen. Wenn die Möglichkeiten für die weitere Steigerung der Einkünfte begrenzt sind oder sich sogar langfristig als eigentlich kontraproduktiv erweisen, müssen sich die mittelgroßen Kultureinrichtungen für eine stärkere oder zumindest stabil bleibende öffentliche und private Freigebigkeit einsetzen, wenn sie als Bestandteil der Allgemeinheit überleben sollen. Trotz des Pessimismus, den David Fishel in seiner Einschätzung über die Fähigkeit der kleinen und mittleren Kultureinrichtungen zum Ausdruck bringt, sich auf der Grundlage privater Spenden einzurichten, benennt er eine zentrale Binsenweisheit der Philanthropie: People give to causes which touch them directly or indirectly or which relate to their most strongly held values and beliefs. Until arts organizations focus on the emotional and value based appeal of the arts, they cannot maximize philanthropic giving.31
Und der Theaterkritiker Michael Phillips ermahnt uns: „It’s simply money well-spent, this notion of funding our nation’s cultural pursuits, generously. It’s part of any reasonable notion of a good society.“32 Unterm Strich gesehen, sind Investitionen in die Künste wichtig, wenn man sie als zentralen Beitrag für einen intensiven zivilgesellschaftlichen Dialog interpretiert.
4. DER KULTURVERMITTLER ALS ANWALT DER KULTUR Erinnert man sich an die eingangs dargelegte Bedeutung von Entrepreneur im Sinne eines vertraglichen Vermittlers, so gibt es eine klare Rolle, die vom Kulturmanager als Anwalt der Kultur auszufüllen ist. Freilich ist Kulturanwaltschaft nichts Neues. Allerdings gleicht der Ton dieses Eintretens in der Regel eher dem eines Bittstellers und Bettlers als dem eines rühmenden Wohltäters. Deshalb wird hier vorgeschlagen, dass die mit Kulturfinanzierung Befassten emotionale Bindungen zwischen Spendern und Spendenempfängern aufbauen. Es geht darum, die individuellen und gesellschaftlichen 30 Ebd., 105. 31 Fishel, Australian Philanthropy, 14. 32 Los Angeles Times, 15. Juli 2001.
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Auswirkungen von Kunst und Kultur hervorzuheben, indem man die Werte betont, die durch entsprechende Investitionen gestärkt werden. Tatsächlich sollte die Marketingstrategie für verstärktes Spenden eher personen- und wertebezogen sein, nicht so defensiv und um Unterstützung heischend wie bisher. Letzten Endes ist Kultur ein wertvolles „Produkt“ mit wenigen negativen und vielen guten Seiten, zu denen auch der nützliche Aspekt ihrer wirtschaftlichen Folgen, die breite Basis ihrer allgemeinen Anziehungskraft und der in der Förderung von Kreativität und Innovativität liegende Bildungswert gehören. Im Bemühen, eine Typologie von Führungsstilen in der Kulturverwaltung schematisch darzustellen, schlägt Abbildung 1 die Unterscheidung zwischen vier Rollen vor. Die Aufstellung dieses Konzepts beruht in hohem Maße auf Ruth Rentschlers Untersuchung über die Führungsstile von Museumsdirektoren in Australien und Neuseeland.33 Dieses Konzept wurde jedoch um die unternehmerische Mittlerrolle (entrepreneurial intermediacy) erweitert. Die Kategorien „Fähigkeit, Bündnisse zu bilden“ und „Kompetenz zum Einsatz von Rhetorik und Symbolen“ stammen aus der von Jameson Doig und Erwin Hargrove herausgegebenen Sammlung biographischer Studien zu bürokratischen Führungsstilen.34 Schließlich gibt es noch den beiläufigen Bezug auf Max Webers idealtypische Unterscheidung politischer Herrschaft, nach traditionaler, charismatischer und rational-legaler Herrschaft.35 Abbildung 1: Typologie der Verwaltungsführung in kulturellen Institutionen KOMPETENZ ZUM EINSATZ VON RHETORIK UND SYMBOLEN Hoch Fähigkeit, Bündnisse zu bilden
Niedrig
Hoch
Niedrig
ENTREPRENEUR
IMPRESARIO
„Anwaltschaft“
„charismatisch“
MANAGER-TYP
INTENDANT
„rational-legal“
„traditional“
Der Intendant konzentriert sich in der Museumswelt auf die traditionellen Tätigkeitsbereiche, die auf Forschung und Sammlung gerichtet sind; in den
33 Vgl. Ruth Rentscher u. G. M. Guersen, Unlocking Art Museums. Myths and Realities in Annual Report Analysis, in: International Journal of Arts Management 2.1 (2001), 19ff. 34 Jameson Doig u. Erwin Hargrove (Hg.), Leadership and Innovation. A Biographical Perspective on Entrepreneurs in Government, Baltimore, London 1987. 35 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Kapitel III, Tübingen 1922, 122–176.
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darstellenden Künsten legt er den Schwerpunkt auf Bewahrung und Aufführung klassischer Werke des gängigen ästhetischen Kanons. Der Impresario engagiert sich in kreativer Programmgestaltung, um das weitere finanzielle Überleben der Einrichtung oder des Ensembles zu ermöglichen. Ziel ist der kurzfristige Erfolg und die populäre Attraktion, um den drohenden Kollaps des Hauses abzuwenden. Der Manager-Typ sucht nach kreativen Wegen, Gelder einzuwerben, um eine solide finanzielle Basis für seine Einrichtung zu wahren. Für den Weg zum Erfolg liegt seine Betonung mehr auf Buchführung als auf Kreativität und symbolischer Rhetorik. Der Entrepreneur sieht seine Fundraising-Aktivitäten als Voraussetzung, um weitreichende organisatorische Ziele zu verfolgen und so zur Formulierung einer kulturellen Vision für die Gesellschaft beizutragen. Indem er als Vermittler arbeitet, verwendet der unternehmerisch-vermittelnde Führungstyp eine symbolische Rhetorik, um breite Bündnisse zwischen Interessengruppen zu schmieden, die bereit sind, individuelle und gesellschaftliche Werte der Kunst und Kultur zu schützen und zu fördern. Bei der Anwendung symbolischer Rhetorik, um den Wert von Kunst und Kultur zu verdeutlichen, sollte der Entrepreneur in seiner Funktion als Fürsprecher bestrebt sein, drei sich hartnäckig haltende Mythen, die die Unterstützung öffentlicher Kulturpolitik behindern, aus dem Weg zu räumen. Mythos Nr. 1 – „Kulturförderung ist ein Almosen“: Die Vielzahl von Erhebungen zu den ökonomischen Auswirkungen von Kunst und Kultur sollte jeglichen Zweifel über deren Bedeutung für die wirtschaftliche Situation von Kommunen ausräumen.36 Kunst und Kultur sind ökonomisch weitaus wichtiger, als lange Zeit angenommen wurde. Die Studien zeigen, dass in den USA allein die nicht auf Gewinn ausgerichteten Kultureinrichtungen (die ihrerseits nur einen Bruchteil der gesamten Kulturbranche ausmachen) innerhalb ihrer Gemeinden einen Umsatz von 46,8 Milliarden Dollar erzielt und das Einkommen der lokalen Bevölkerung um 25,2 Milliarden Dollar erhöht haben. Die nicht gewinnorientierten Kultureinrichtungen schufen das Äquivalent zu 1,3 Millionen Vollzeit-Stellen und führten zu zwei Milliarden Dollar einzelstaatlicher und kommunaler Steuereinnahmen sowie 3,4 Milliarden Dollar an Einkommenssteuer-Einnahmen auf Seiten des Bundes. Der kulturelle NonProfit-Sektor beschäftigt ungefähr 0,94 Prozent der gesamten Erwerbsbevölkerung in den USA und ist ein größerer Arbeitgeber als das Rechtswesen (0,84 Prozent) oder die Polizei und die Feuerwehr zusammengenommen (0,71 Prozent). Es mag die Tendenz geben, Ergebnisse ökonomischer Impact-Studien überzubewerten, zumal diese Daten oft eher den Anlass zu Eigenlob und Ei36 Kevin V. Mulcahy, The Arts and Their Economic Impact. The Value of Utility, in: Journal of Arts Management, Law and Society 16.3 (1986), 33–48.
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genwerbung bieten als zu behutsamer Analyse. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass trotz der Schwierigkeiten, ökonomische Kausalitäten und die hohe Bedeutung der spezifischen Branche nachzuweisen, kulturelle Aktivitäten zu messbarem wirtschaftlichen Nutzen führen – und das bei ausgesprochen geringen Kosten für den Steuerzahler.37 Mythos Nr. 2 – „Künste sind bloß Zierrat“: Die wahre Bedeutung von Kunst liegt aber weniger in ihren direkten oder indirekten ökonomischen Folgen als vielmehr in ihrem qualitativen Nutzen. Bei Städten fügen die Künste eine Dimension von Attraktivität hinzu, die, obgleich schwer in Zahlen auszudrücken, doch sehr real ist. Kulturelle Angebote haben sich zum Beispiel als hilfreich erwiesen, um das Image einer Stadt zu verändern: Geschäfte im Zentrum werden vom Abwandern abgehalten, die Tourismusbranche wird gestärkt, der Einzelhandel wird gefördert, da Kultur zum Stolz und Gemeinschaftssinn einer Region beiträgt. Kunst und Kultur sind in der Tat in zunehmendem Maße dafür bekannt, als Kriterium angeführt zu werden, wenn es darum geht, die besondere Einzigartigkeit des Großstadtlebens zu charakterisieren. Einige Aspekte davon seien hier hervorgehoben. Erstens: Kulturelle Einrichtungen sind wichtig für das positive Selbstbild einer Stadt und erhöhen die Attraktivität für ihre Bewohner, Besucher und die ansässigen Unternehmen. Städte sind insbesondere für Firmen mit hoch gebildetem und gut bezahltem Personal interessant. Bei sonst gleichen Voraussetzungen hat eine kulturell lebendige Stadt gute Chancen, ihre ökonomische Lage zu verbessern, weil Unternehmen sich von Regionen mit ausgeprägt städtischen Qualitäten angezogen fühlen. Der gegenwärtig prominenteste Fürsprecher für die Einbeziehung von Kultur bei der zukünftigen Gestaltung von Städten ist Richard Florida.38 Er ist bei seinen wirtschaftswissenschaftlichen Kollegen wegen methodologischer Probleme zwar unweigerlich auf Kritik gestoßen, gleichwohl sind seine Forschungsergebnisse im Kulturbereich als ein „Geschenk des Himmels“ begrüßt worden. In jedem Fall gehören die Städte, die an der Spitze des von ihm entworfenen Kreativitäts-Index stehen (San Francisco, Austin, San Diego, Boston und Seattle), auch bei technologischen Innovationen mit zu den führenden Städten in den USA. Vor einigen Jahren hat die Städteforscherin Jane Jacobs beobachtet, dass kreative Menschen nicht lediglich da gehäuft anzutreffen sind, wo es Arbeitsplätze gibt; sie finden sich vielmehr geballt an Stätten der Kreativität bzw. gehen dorthin, wo sie gerne leben.39 Am Ende haben Städte wie Toronto und Dublin, Seattle und Austin für sich erkannt, dass sie ebenso ein günstiges „Ein37 Randy Cohen, William Schaffer u. Benjamin Davidson, The Arts and Economic Prosperity. The Economic Impact of Nonprofit Arts Organizations and their Audiences, in: Journal of Arts Management, Law and Society 33.1 (2003), 17–31. 38 Richard Florida, The Rise of the Creative Class. And How It’s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life, New York 2004, 7. 39 Jane Jacobs, Cities and the Wealth of Nations, New York 1984.
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wohner-Klima“ bzw. „Kreativitäts-Klima“ brauchen wie ein gutes Klima für Unternehmen. Zweitens: Die große Mehrzahl der Bürger gibt die Nähe zu kulturellen Einrichtungen als einen Hauptgrund dafür an, warum sie in der Innenstadt wohnen. Tatsächlich ist Kultur zentraler Bestandteil der öffentlichen Einschätzung von Lebensqualität. In überwältigend hohem Maße haben Menschen kulturelle Einrichtungen als für ihr persönliches Leben wichtig eingestuft und als notwendig dafür, ihre Gemeinden zu attraktiven Plätzen zum Leben und Arbeiten zu machen. Drittens: Branchen wie Verlage, Werbefirmen, Rundfunk- und Modehäuser sind abhängig von der hohen Dichte an Künstlern in städtischen Gebieten. Kultureinrichtungen sind auch deshalb von einzigartiger Wichtigkeit für die Städte, weil sie Menschen mit wertvollen Fähigkeiten beschäftigen, die das Leben in Metropolen zu schätzen wissen. Städte beherbergen die große Mehrheit derjenigen Amerikaner, die sich selbst als Künstler definieren, sowie eine beträchtliche Anzahl von Kulturkonsumenten, die als Publikum für das dienen, was gemalt, geschrieben, skulpturiert, komponiert oder sonstwie künstlerisch produziert wird.40 Viertens: Städte mit einer lebendigen Kulturszene, wozu üblicherweise Freizeiteinrichtungen und eine alternative Musikszene ebenso gehören wie die eher traditionellen „schönen Künste“, gelten als besonders attraktiv für die „schöpferische Klasse“.41 Diese Schicht, die entlang eines breiten Spektrums sowohl Computerprogrammierer als auch Dichter umfasst, gilt als zentrales Element für die lebendigen städtischen Regionen der Zukunft. Verständlicherweise hat diese Zukunftsvision im Kulturmilieu enthusiastische Aufnahme gefunden, da sie als Bestätigung für die Bedeutung von Investitionen dient, die der öffentlichen Kultur und örtlichen Veranstaltungsstätten mit künstlerischer Ausrichtung zugute kommen. Mythos Nr. 3 – „Kunst ist elitär“: Zuletzt sei erwähnt, dass – in einer vielleicht sowohl die Fürsprecher als auch die Skeptiker der Kulturfinanzierung überraschenden Weise – der Grad der Teilnahme an künstlerischen und kulturellen Live-Events, zumindest in den USA, größer ist als an Sportereignissen. Paradoxerweise sind amerikanische Städte oftmals bereit, bedeutende Anreize wie z. B. langfristige Steuerbefreiungen und den Neubau von Stadien mit eigenem Highway-Anschluss anzubieten, um Erstliga-Teams – die als kommerzielle Unternehmen geführt werden – zu überreden, am Ort zu bleiben bzw. dahin umzusiedeln, ohne dass es eine wirkliche Gegenleistung für diese kommunale Investition gäbe. Dagegen gelten Subventionen für nicht gewinnorientierte Kulturorganisationen oft als Verschwendung von Steuergeldern, trotz der vergleichsweise geringeren Summen, die im Spiel sind, und 40 Kevin V. Mulcahy, Culture and the Cities, in: Kevin V. Mulcahy u. C. Richard Swaim (Hg.), Public Policy and the Arts, Boulder 1982, 213–237. 41 Florida, The Creative Class.
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trotz des hohen Grades öffentlicher Teilnahme und ihrer dauerhaften Präsenz in der lokalen Gemeinschaft. Tabelle 6: Besuche bei Live-Veranstaltungen nach Veranstaltungstypen42 Mittlere Besuchsrate pro Jahr Darstellende Künste
4,3
Sport Profi-Sport
3,2
Unterhaltung Rock-Konzerte
1,5
Kino
8,2
Tabelle 6 gibt Daten wieder, die in ausgewählten amerikanischen Städten hinsichtlich der Teilnahme an Veranstaltungen erhoben worden sind. Fast schon kontra-intuitiv liegt die durchschnittliche Besuchsfrequenz bei den Einrichtungen der darstellenden Künste (dazu zählen Orchester, Oper, Tanz und Theater) mit 4,3 Mal im Jahr deutlich höher als die mittlere Teilnahmefrequenz an professionellen Sportereignissen. Nicht überraschend ist, dass die Zahl der Kinobesuche (mit einer durchschnittlichen Besuchsrate von 8,2 pro Jahr) die beiden anderen genannten Veranstaltungstypen in den Schatten stellt. Es sollte auch noch erwähnt werden, dass diese Daten keine Museumsbesuche berücksichtigen, deren geschätzte Besuchsfrequenz bei 3,3 pro Jahr liegen dürfte. Nähme man diese noch hinzu, würde das Kulturpublikum sogar eine noch bessere Position erreichen. De facto würde es die Zahl der Kinobesuche annähernd erreichen und ließe die Besuchshäufigkeit bei professionellen Sportereignissen weit abgeschlagen hinter sich. Natürlich gibt es demographische Unterschiede zwischen den Besuchern der verschiedenartigen Veranstaltungen (siehe Tabelle 7). Vergleicht man die darstellenden Künste mit den Sportereignissen, so findet man zumindest oberflächlich gesehen eine Bestätigung für die weit verbreitete Ansicht, dass die darstellenden Künste ein elitärer Zeitvertreib seien. Wenngleich die gesammelten Daten für das Publikum der darstellenden Künste ein relativ hohes Einkommensniveau ausweisen, sollte man hier aber die Verzerrung dieser Zahlen durch das Opern- und Orchesterpublikum berücksichtigen. Betrachtet man lediglich die Theater- und Tanztheaterbesucher, dann gleicht deren Einkommensniveau in etwa dem der Besucher von Sportveranstaltungen. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die Eintrittskartenpreise für Sportveranstaltungen durchaus vergleichbar mit denen der darstellenden 42 Sarah S. Montgomery u. Michael D. Robinson, Take Me Out To The Opera. Are Sports and Arts Complements?, in: International Journal of Arts Management 8.2 (Winter 2006), 24–37, hier 30.
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Künste sind. Und wenn man die Ermäßigungen für Studenten und Senioren wie auch den größeren Anteil an billigen Plätzen mit berücksichtigt, erscheinen die Veranstaltungen der darstellenden Künste mitunter als geradezu günstig. Tickets für Rockkonzerte, insbesondere bei den großen Tourneen bekannter Gruppen, übertreffen mit ihren Preisen oft die beiden anderen Sparten. Insgesamt gesehen, dürften die darstellenden Künste als die „demokratisch gerechtesten“ unter den Live-Unterhaltungsangeboten angesehen werden. Tabelle 7: Publikumsmerkmale nach Art der Veranstaltung43 Gesamt
Darst. Künste
RockKonzerte
Kino
ProfiSport
50.–100.000
0,36
0,39
0,39
0,38
0,40
100.–150.000
0,13
0,17
0,15
0,14
0,16
über 150.000
0,07
0,10
0,08
0,07
0,08
0,17
0,27
0,17
0,18
0,17
geringer
0,29
0,15
0,23
0,26
0,25
Verheiratet
0,63
0,62
0,60
0,64
0,66
Weiß
0,83
0,85
0,85
0,84
0,86
Schwarz
0,07
0,07
0,06
0,06
0,07
44,92
45,59
37,85
42,68
42,01
0,46
0,43
0,50
0,46
0,53
Einkommen (in Dollar)
Bildung Hochschulabschluss Gymnasium oder
Hautfarbe
Durchschnittsalter Männlich
Das Publikum bei den darstellenden Künsten ist im Durchschnitt älter als das von Sportveranstaltungen. Betrachtet man allerdings das Tanz- und Theaterpublikum wieder gesondert, verschwindet dieser Unterschied. Wie bei den übrigen Indikatoren auch, wird das Durchschnittsalter der Besucher bei den darstellenden Künsten durch das Opern- und Orchesterpublikum verzerrt. Das Tanz- und Theaterpublikum ist den Besuchern von Sportveranstaltungen altersmäßig ähnlich. Auch vom Bildusngsgrad her gibt es im Publikumsquerschnitt Unterschiede. Durch die am besten und die am wenigsten Gebildeten wird die erste Gruppe von der Letzteren abgehoben. Würde man jedoch die Zahlen dadurch nivellieren, dass man die Extreme ausblendet, die durch Sportfans ohne Gymnasialabschluss und durch Opern- und Orchesterbesucher mit einem weit über einen Bachelor hinausreichenden Bildungsgrad repräsentiert werden, wäre das Bildungsniveau in etwa vergleichbar. Wiederum 43 Montgomery u. Robinson, Take Me Out To The Opera, 29.
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gilt, dass das Theater- und Tanzpublikum der Bildung nach dem Durchschnittspublikum gleicht. Interessanterweise kommt beim Publikum der darstellenden Künste die deutliche Präsenz von Menschen mit einem über den Bachelorabschluss hinausgehenden Bildungsqualifikation durch die große Zahl von Lehrern bei diesen Veranstaltungen zustande. Die Schicht der Gebildeten (mit Abitur und Hochschulabschluss) dürfte das Rückgrat des Kulturpublikums ausmachen. Nur wenige Unterschiede gibt es hinsichtlich der Hautfarbe und einige geringe Unterschiede hinsichtlich der Familienverhältnisse. Besucher von Sportveranstaltungen sind tendenziell eher verheiratet als die Besucher der darstellenden Künste. Der größte Unterschied findet sich jedoch beim Geschlecht: die Besucher von Sportveranstaltungen sind eher männlich, und die von darstellenden Künsten eher weiblich. Angesichts der nach wie vor bestehenden Überrepräsentation von Männern in öffentlichen Ämtern könnte diese Geschlechterdifferenz mit verantwortlich sein für die größere Begeisterungsfähigkeit zugunsten öffentlicher Förderung beim kommerziellen Profi-Sport, verglichen mit der oftmals zögerlichen und beschränkten Unterstützung für die nichtgewinnorientierten darstellenden Künste. Es könnte auch noch hinzugefügt werden, dass künstlerische Einrichtungen in ihren Kommunen fester verankert sind, während Sportteams sofort bereit sind, in andere Städte überzusiedeln, egal wie lang sie vor Ort angesiedelt waren, sobald sie durch finanzielle Erwägungen und Vorteile dazu bewogen werden. Entscheidend ist, sich klar zu machen, dass es keine rigide Aufteilung des Publikums nach den verschiedenen Typen von Veranstaltungen gibt (siehe Tabelle 8). Vielmehr bestehen beträchtliche Überschneidungen, und nur wenige Menschen beschränken sich auf eine einzige Art von Veranstaltungen. Das wird anhand der Zahl von 43,2 Prozent deutlich, die sowohl Theater und Opernhäuser frequentieren als auch Pop-Events und Sportveranstaltungen besuchen. Der typische Zuschauer ist ein „Allesfresser“, der an einem breiten Spektrum von Erlebnissen seine Freude hat. Anders ausgedrückt, die weithin vertretene Meinung, dass das Publikum bei den verschiedenen Veranstaltungsorten sehr unterschiedlich sei, ist unzutreffend. Darin könnte ein interessanter Ausgangspunkt für die Bildung von Koalitionen liegen, die sich für die öffentliche Förderung einer Vielzahl von unterschiedlichen Freizeitgestaltungsmöglichkeiten einsetzen. In dieser Weise könnten gegenseitige Ergänzung und Inklusion, nicht Konkurrenz und Exklusion, die Basis für eine Strategie der wechselseitigen Unterstützung bilden, anstatt wie bisher eher nach der Strategie des „Wer gewinnt, bekommt alles“ zu verfahren.
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Tabelle 9: Teilnahmegewohnheiten bei Live-Veranstaltungen (angegeben in Prozent)44 Kunst, Sport und populäre Unterhaltung
43,2
Populäre Unterhaltung und Kunst
17,6
Sport und populäre Unterhaltung
16,9
Populäre Unterhaltung
11,1
Keine
6,7
Sport
2,0
Kunst
1,4
Sport und Kunst
1,2
5. PROLEGOMENA FÜR EINE KULTURPOLITIK DER ZUKUNFT In fast allen Ländern gibt es gegenwärtig eine starke Tendenz zur Privatisierung der Leitungsstrukturen der meist vom Staat betriebenen Institutionen der Hochkultur sowie dazu, staatliche Museen, Theater und Orchester als Non-Profit-Organisationen nach amerikanischem Muster umzugestalten. Der Kultursektor wird zunehmend gedrängt, mehr Gewicht auf die Managementund Marketingaspekte der Betriebsabläufe zu legen, z. B. in Form von Fundraising, Sponsoring, dem Ausbau von Museumsshops und angeschlossenen Restaurants. Die marktorientierte Herangehensweise an die Kulturfinanzierung wird dadurch noch verstärkt, dass die Regierungen von der traditionellen Praxis der Kostendeckung dazu übergehen, öffentlichen Kultureinrichtungen lediglich ein festes Budget zuzuweisen, mit dem sie auskommen müssen, wobei sie etwaige Defizite durch eigene Anstrengungen auszugleichen haben. Es ist jedoch keineswegs immer der Fall, dass Privatisierungen zu den Einsparungen führen, die man sich von ihnen erhofft.45 Dessen ungeachtet scheint es eine unerbittliche Forderung danach zu geben, dass sich die Künste selbst tragen müssten, anstatt sich auf öffentliche Gelder zu verlassen und Kunst um ihrer selbst willen zu betreiben. Dieser Kulturdarwinismus ist in den USA besonders stark ausgeprägt, wo die öffentliche Unterstützung deutlich begrenzt ist und wo von öffentlich geförderter Kunst erwartet wird, einen klaren Nutzen für die Allgemeinheit zu erbringen. Die meisten Kultureinrichtungen außerhalb der USA sind weniger stark durch die Notwendigkeit beeinträchtigt, unterschiedliche Finanzquellen zu erschlie44 Ebd., 30. 45 Zu den Erfahrungen in Österreich vgl. Peter Tschmuck, The Budgetary Effects of ‚Privatizing‘ Major Cultural Institutions in Austria, in: Journal of Arts Management, Law and Society 35.4 (2006), 293–304.
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ßen, etwa über Ticket-Verkäufe oder Privat- und Firmenspenden parallel zu den staatlichen Subventionen. Insgesamt aber werden Kultureinrichtungen in ihrem Bedarf für zusätzliche Gelder mehr und mehr durch den Markt bestimmt. Wenn sich Kultureinrichtungen aktiv auf die Suche nach alternativen Fördermöglichkeiten begeben müssen, blicken sie meist auf das amerikanische Modell der Mischfinanzierung, die größere finanzielle Stabilität zu versprechen scheint. Die drei Elemente einer öffentlichen Kulturpolitik, die sowohl die individuellen ästhetischen Ansprüche zufrieden stellen als auch Werte der Gemeinschaft befördern und öffentliche Unterstützung rechtfertigen, lassen sich in einem Dreieck-Schema darstellen (siehe Abbildung 2).46 Abbildung 2: Modell einer kulturorientierten Politik Kulturelle Demokratie Erbauung
Demokratisierung der Kultur Unterhaltung
Kulturelle Entwicklung Bildung Kulturelle Demokratie (cultural democracy) ermöglicht es den Betrachtern, sich an wichtigen kulturellen Werken zu erbauen, wobei durch geeignete Maßnahmen die Zugangsmöglichkeiten zu den Museen und Häusern der darstellenden Künste eines Ortes verbessert werden und der fortlaufende Betrieb für die ganze Bandbreite der Kunst- und Kultureinrichtungen gesichert wird. Sie bietet auch Chancen, die Maßstäbe setzenden Einrichtungen einer Gemeinde (Museen sowie Theater- und Opernhäuser) zu erhalten und auszubauen. Demokratisierung der Kultur (democratization of culture) erkennt die Fähigkeit der Kunst und Kultur zu unterhalten an, insbesondere durch das, 46 Es sei angemerkt, dass die Seiten des Dreiecks, die hier gleich lang dargestellt sind, für den Typus Kulturpolitik, der als wünschenswert gilt, z. B. wegen einer Bevorzugung der Zugänglichkeit oder der Repräsentativität oder der Bildungsfunktion, anders gezeichnet werden könnten, um das relative Gewicht widerzuspiegeln, das jedem einzelnen Element zugesprochen wird.
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was nicht lediglich der kleinste gemeinsame Nenner des Geschmacks ist. Das Ziel besteht darin, das Spektrum nicht-kommerzieller Kulturformen wie Amateuraktivitäten, lokale Volksfeste, Festspiele und historische Kulturstätten ebenso zu fördern wie Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen, z. B. Zoos, Botanische Gärten, Aquarien, Planetarien und Naturkundemuseen. Kulturelle Entwicklung (cultural development) bietet für möglichst viele Menschen zugängliche Veranstaltungsprogramme an, um Jugendliche, junge Erwachsene und Erwachsene aller Altersstufen in den Techniken und dem Verständnis kultureller Ausdrucksweisen zu bilden. Dies wäre an Elementarund Sekundarschulen sowie an Universitäten durch Kunst- und Musikkurse, interkulturelle Veranstaltungen, durch Ausbildungsgänge für Musiker oder bildende Künstler zu bewerkstelligen wie auch durch Angebote für das lebenslange Lernen. Örtliche Bibliotheken könnten ebenfalls sowohl für kulturelle als auch für jugendorientierte Aktivitäten eine wichtige Rolle spielen. Zugegebenermaßen erfordern die Elemente der hier vorgeschlagenen Richtlinien eine ausführlichere Darlegung. Was in jedem Falle vermieden werden muss, ist die Gleichsetzung von Museen und den nichtkommerziellen darstellenden Künsten auf der einen Seite und kommerzieller Kost aus Hollywood, von Disney und dem Broadway auf der anderen Seite, als wären sie alle Teil ein- und desselben Freizeitsektors. Auch wenn man Überschneidungen zwischen beiden Bereichen zugesteht, ist die kommerzielle Unterhaltungsindustrie in erster Linie an profitablen Massenartikeln interessiert. Sie will über den Appell an die entsprechenden Konsumgewohnheiten ein möglichst breites Spektrum der ökonomisch attraktiven Zielgruppe erreichen. Wie Alan Horn, der Präsident von Warner Brothers, mit erfrischender Direktheit aussprach: Our job is to make money for our shareholders. I like to think we are producing entertainment. These are not teaching tools. We’re providing mass entertainment for mass consumption.47
Im Gegensatz dazu ist der nichtkommerzielle Kulturbereich seinem Wesen nach von einer Aufgabe, einer „Mission“ angetrieben und nicht an Profitmaximierung orientiert. Es soll an dieser Stelle keinesfalls die Unterhaltungsbranche verunglimpft werden, die erhebliche Verantwortung für das ihr anvertraute Wohlergehen der Aktionäre besitzt. Nicht-profitorientierte Kultureinrichtungen zeichnen sich aber durch eine Verpflichtung gegenüber ihrer künstlerischen „Mission“ (obgleich in kostengünstiger Weise) und gegenüber der Öffentlichkeit aus. Museen, die schönen Künste und der öffentliche Rundfunk täten besser daran, sich mit Institutionen wie Universitäten, Bibliotheken, historischen Kulturstätten, Wissenschaftsparks, Zoos, Aquarien und botanischen Gärten abzustimmen und abzusprechen. Ihre Gemeinsamkeiten liegen in ihrem nichtkom47 New York Times, 11. Februar 2002.
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merziellen Charakter und ihrer öffentlichen Aufgabe. Dies erlaubt es ihnen nicht nur, ohne die Notwendigkeit der Kommerzialisierung unterhaltsam zu sein, sondern auch zu bilden und – bei ganz außergewöhnlichen Gelegenheiten – zu erbauen (siehe Tabelle 10a und 10b.) Man könnte das österreichische Ministerium, das sowohl die Bildung als auch die Kunst und die Wissenschaft im Namen trägt, als ein organisatorisches Vorbild verstehen.48 Die in Tabelle 10a aufgezählten Veranstaltungen (diese Aufstellung sollte von links nach rechts gelesen werden) legen eine Tendenz zur Kommerzialisierung innerhalb der Kunst und Kultur offen. Obwohl es bemerkenswerte Beispiele dafür gibt, dass kommerzielle Produktionen an hohen ästhetischen Standards festhalten können, ist dies doch mitunter riskant – meist geht es nicht ohne deutliche Abstriche an den Standards. Die Tabelle 10b (die von oben nach unten gelesen werden sollte) vermittelt die Tendenz, dass Kunst und Kultur Verbindungen zu verwandten nichtkommerziellen Bereichen haben, die die Vergegenwärtigung von Werten als ihre gemeinsame Aufgabe verstehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kunst und Kultur zwar nur eine unter vielen Freizeitbeschäftigungen sind, dass aber Opern und Broadway-Musicals nicht auf ein- und derselben Ebene anzusiedeln sind, ebenso wenig wie historische Kulturstätten und Vergnügungsparks. Tabelle 10a: Kunst und Kultur im Kontext der Unterhaltungsbranche Kommerziell
Quasi-kommerziell
„auf Verlustbasis“
Broadway
Musical und Operette
Oper
Themenpark
Kulturdenkmäler
Denkmalpflege
Rockkonzerte
Volksmusik (Folk Music)
Klassische Musik
Actionfilme
Art House-Filme
Dokumentarfilme
Werbebasierte TVSender / Hit-Radio
Hörergestützte Fernseh-und Radiosender
Bildungssendungen / öffentl. Fernsehen
Tabelle 10b: Kunst und Kultur im nicht-kommerziellen Bereich Akademisch
Ästhetisch
Wissenschaftlich
Universitäten
Gemäldegalerien
Botanische Gärten
Bibliotheken
Tanz / Ballett
Arboreten
Kulturdenkmäler
Opern / Musical und Operette
Zoologische Gärten
Archive
Theater / Medienkunst
Technikmuseen
Öffentl. Rundfunk
Symphonien / Kammermusik
Planetarien
Historische Museen
Skulpturengärten
Parks
48 Ironischerweise wurde das österreichische Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, das hier abschließend zum Modell erhoben werden soll, am 1. März 2007 in seiner bisherigen Gestalt aufgelöst. (Anm. d. Übers.).
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Die Absicht ist hierbei nicht, eine elitäre Geschmackshierarchie vorzuschlagen, sondern die Trennung zwischen kommerziellen und nichtkommerziellen Bereichen zu betonen. Während Ersterer auf Gewinnerwägungen und massentauglicher Anziehungskraft basiert, erkennt Letzterer die Wichtigkeit nichtkommerzieller Orte für das Engagement und die öffentliche Diskussion in einer pluralistischen Gesellschaft an. Solche Sphären, die ihre Legitimation und Bestätigung nicht über das erlangen, was finanziell dabei herausspringt, bieten Gelegenheiten zum Ausdruck ästhetischer und intellektueller Werte, die häufig in entschiedenem Gegensatz zu dem stehen, was kommerziell und marktgerecht ist. In diesem Sinne gibt „Unterhaltung“ uns das, was wir wollen, weil es uns vertraut und bekannt ist. „Kultur“ hingegen versorgt uns mit der Möglichkeit, zu überdenken, was wir vielleicht brauchen, selbst wenn dies schwierig und kontrovers sein könnte. Solche Sphären können auch den Raum zur Artikulation von Werten bieten, die in der MainstreamUnterhaltung unterrepräsentiert sind. Hier kann das Konträre, das Umstrittene zum Ausdruck kommen, das Avantgardistische und Widerspenstige und auch das, was ansonsten wegen der ethnischen Herkunft oder der Schichtzugehörigkeit, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder der geographischen Lage an den Rand gedrängt wird. Es gibt viele gute Gründe, das amerikanische Modell nichtprofitorientierter Kultureinrichtungen, die von Philanthropie und eigenen Einnahmen getragen werden, zu empfehlen. Es soll jedoch auch daran erinnert werden, dass ein weitgehend privatisierter Kulturbereich die Gefahr einer Beschränkung der ästhetischen Vielfalt, des Zugangs der Öffentlichkeit und der kulturellen Repräsentativität in sich birgt. Der kommerzielle Sektor, wie auch immer seine Einstellung zur sozialen Verantwortung sein mag, ist in erster Linie auf Profit ausgerichtet. In einem System mit gemischter Finanzierung kann der öffentliche Kultursektor Tätigkeitsbereiche fördern, die wichtige Bestandteile des individuellen Selbstwerts und der Verortung einer Gemeinschaft sind, selbst wenn diese Dinge am ökonomischen Resultat gemessen nichts „wert“ sein sollten. Die Hauptsache ist, dass der wachsende Einfluss privater Spenden und die gleichzeitig damit einhergehende Kontrolle nicht die Bedeutung von kollektiven Gaben schmälert, die auf das öffentliche Interesse gerichtet sind. Insgesamt betrachtet dürfen Werte (die hier diskutierten kulturellen Werte ebenso wie soziale Werte und Bildungswerte) nicht ausschließlich in den Zuständigkeitsbereich privater Philanthropie fallen, so wohlmeinend Letztere auch sein mag. Über kulturelle Werte wird am besten demokratisch auf dem (zugegebenermaßen holprigen) Wege öffentlicher Diskussionen entschieden. Nur so kann von einer Kulturpolitik mit Recht gesagt werden, sie habe eine wahrhaft öffentliche Kultur hervorgebracht.
MÄZENATENTUM, STADT UND MUSIKKULTUR IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT. STUDIEN ZUR MUSIKFÖRDERUNG IN DORTMUND, MÜNSTER UND WUPPERTAL Stephen Pielhoff Die Institutionalisierung der musikalischen „Hochkultur“ im 19. und 20. Jahrhundert verlief in Deutschlands Städten unterschiedlich und ungleichzeitig. Sie war das Resultat eines komplexen und mancherorts konfliktbeladenen Wechselspiels zwischen kommunalen (und zuweilen auch staatlichen), kommerziellen und mäzenatischen Interessen. Zwei Aspekte waren für diesen Institutionalisierungsprozess zentral: Zum einen die Kanonisierung und Sakralisierung einer „klassischen“ (und entsprechend „ernst“ zu nehmenden) Musik, einschließlich der bis heute mitschwingenden und meist abschätzigen Abgrenzung von populärer Unterhaltungsmusik; zum anderen die Etablierung und Bewahrung eines entsprechenden organisatorischen Systems städtischer Konzerthallen und Opernhäuser, das diese prestigeträchtige Unterscheidung von high and low augenfällig und nachvollziehbar manifestierte.1 Die kulturelle Persistenz dieser Institutionalisierung wird in den letzten Jahren in Deutschland nicht zuletzt durch die jüngsten Initiativen zum Neubau repräsentativer Konzerthäuser in Dortmund, Essen und Hamburg bezeugt.2 Obwohl die (angesichts knapper kommunaler Ressourcen zunehmend bedrohte) Dichte und Qualität der städtischen Orchester- und Opernlandschaft in Deutschland einzigartig ist, ist die Geschichte dieses organisatorischen Feldes mit seinen lokalen Unterschieden bisher nicht ausreichend erforscht worden. Die folgende Untersuchung fragt im ersten Kapitel zunächst nach der Bürgerlichkeit des städtischen Musiklebens im 19. Jahrhundert und insbesondere danach, wie sich die Sakralisierung musikalischer „Hochkultur“ und die damit verbundene Wandlung rezeptionsästhetischer Ideale seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auf die Deutung und Bedeutung mäzenatischer Musikförderung ausgewirkt hat. Wie Musik gehört werden sollte und welche Musik gefördert wurde, solche Fragen des musikalischen Geschmacks waren nicht zuletzt Fragen der so-
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Vgl. Paul J. DiMaggio, Nonprofit Enterprise in the Arts. Studies in Mission and Constraint, New York, Oxford 1986, 41–44, 58. Vgl. Stephen Pielhoff, Musikmäzenatentum und Stadtrepräsentation. Zur Finanzierungsgeschichte von Konzert- und Opernhausbauten vom Kaiserreich bis heute, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2008), 16–30, hier 16–19.
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zialen und kulturellen Distinktion.3 „Ernste“ Musik zu hören, zu spielen und zu fördern war auch ein Aspekt gesellschaftlicher Statusaneignung oder Statusverteidigung, je nachdem, welche Schicht das Ideal des andächtigen Musikliebhabers und -förderers für sich beanspruchte. Der stadtgeschichtliche Hauptteil besteht aus zwei Mikrostudien, die nach den Erfolgen und Grenzen mäzenatischen Engagements im Prozess der Kommunalisierung musikalischer „Hochkultur“ fragen. Das zweite Kapitel untersucht die Phase des take-off im Kaiserreich vergleichend am Beispiel Dortmunds und Münsters. Kapitel drei nimmt am Beispiel Wuppertals die Phase der Erosion kommunaler Ressourcen seit den 1990er Jahren vor dem Hintergrund der Diskussion über „Zivilgesellschaft“ in den Blick. Im Gegensatz zu Dortmund und Münster, wo die kulturellen Infrastrukturen letztlich in der Weimarer Republik weitgehend kommunalisiert waren, wurde dieser Prozess in Wuppertal auf dem Feld der Konzertorganisation erst Mitte der 1990er Jahre nachgeholt. Als Nachzügler steht Wuppertal im diachronen Vergleich mithin exemplarisch für die Ungleichzeitigkeit des kulturellen Kommunalisierungsprozesses in Deutschland.
1. MUSIK ZWISCHEN KUNSTRELIGIOSITÄT UND GESELLIGKEIT: REZEPTIONSÄSTHETIK UND STÄDTISCHER KONTEXT IM 19. JAHRHUNDERT Die romantische Ablehnung der alltäglichen „Welt“, gepaart mit einer quasireligiösen Hinwendung zur Gegenwelt der Kunst, in der Frühromantik von Wilhelm Heinrich Wackenroder noch als Eskapismus kritisiert,4 war ein zentraler Aspekt bürgerlicher Kunstreligiosität im 19. Jahrhundert. Anfang des 20. Jahrhunderts sprach Max Weber als Religionssoziologie wie auch als versierter Musikkenner von der Konstituierung einer eigenständigen ästhetischen „Sphäre“, in der der Kunst die Funktion einer „innerweltlichen Erlösung“ von der Rationalisierung des Alltags zukomme.5 Für die Künstler und ihr Publikum hatte diese Sakralisierung der Kunst seit der Romantik tief greifende rezeptionsästhetische Folgen.6 Zum einen wandelte sich der Werkbe3 4
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Zum Begriff des Geschmacks vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1986, 90. Vgl. Wilhelm Heinrich Wackenroder, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, in: ders., Sämtliche Schriften, Reinbek b. Hamburg 1968, 7–104, hier 88ff. Vgl. dazu Albrecht Beutel, Kunst als Manifestation des Unendlichen. Wackenroders „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ (1796 / 97), in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 97 (2000), 210–237. Vgl. Max Weber, Zwischenbetrachtung. Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung, in: ders., Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus (hg. v. Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Petra Kolonko), Tübingen 1989, 479–522, hier 499f. Zum Folgenden vgl. aus kunstgeschichtlicher Sicht Hans Belting, Das unsichtbare Mei-
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griff: Das „Meisterstück“ als Aushängeschild eines erlernbaren und kontrollierbaren Könnens wurde abgelöst vom „Meisterwerk“ als Symbol einer absoluten künstlerischen Freiheit des Genies. Die neuen öffentlichen Kunstmuseen und Konzerthallen wurden im 19. Jahrhundert zu Orten eines Geniekultes, der die „alten Meister“ und die „klassischen“ Sinfonien Haydns, Mozarts und Beethovens zu sichtbaren oder hörbaren Zeugen einer unnachahmlichen und unwiederholbaren „absoluten Kunst“ idealisierte. Zum anderen wandelten sich die Ansprüche an die zeitgenössischen Künstler und deren Werke, weil die Erweiterung des Publikums und der Neubau öffentlicher Museen, Theatergebäude und Konzerthallen neue physikalisch-technische Bedingungen ästhetischer Wahrnehmung schufen. Parallel zu diesen Entwicklungen veränderten sich die Verhaltensnormen und Ideale ästhetischer Rezeption. Bereits im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entwickelte sich das Ideal einer dyadischen Kunstrezeption, eines stillen inneren Dialogs zwischen Kunstwerk und Kunstrezipient. Äußerliches Äquivalent dieses Rezeptionsideals war die Verhaltensnorm des andächtigen Schweigens angesichts eines Bildes im Museum oder beim Hören eines Konzerts.7 In der Musik korrespondierte dieses Rezeptionsideal religiös anmutender Kunstandacht mit einem exklusiven Musikgeschmack, der musikalisches Vorwissen und intensives Zuhören als Voraussetzungen zum Verständnis komplexer Kompositionen postulierte und Musikhören zur „bloßen“ Unterhaltung und Ablenkung ausschloss. Als kulturelles Kapital war dieser Anspruch, „geniale“ Meisterwerke der Musik „kongenial“ zu verstehen, in höchstem Maße sozial distinktiv. Wie Tia DeNora in ihrer Untersuchung adeligen Musikmäzenatentums im Wien der Jahre um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert nachgewiesen hat,8 war es zunächst die alteingesessene Wiener Hocharistokratie, die dieses elitäre Ideal des ernsthaften Musikliebhabers und -mäzens als Mittel sozialer Statusdokumentation nutzte. Der Ausgangspunkt war eine Krise der Exklusivität adeligen Musikmäzenatentums in den 1790er Jahren, die sich u.a. im Niedergang der privaten Hauskapellen, dem Auftreten bürgerlicher Musikmäzene, in einer wachsenden Zahl öffentlicher Konzerte und nicht vom Hof kontrollierter Aufführungsorte sowie in einer Zunahme frei für den Markt produzierender Komponisten äußerte. So
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sterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998, 17–101; aus musikgeschichtlicher Perspektive vgl. Erich Reimer, Repertoirebildung und Kanonisierung. Zur Vorgeschichte des Klassikbegriffs (1800–1835), in: Archiv für Musikwissenschaft 43 (1986), 241–260. Vgl. Wolfgang Kemp, Die Kunst des Schweigens, in: Thomas Koebner (Hg.), Laokoon und kein Ende. Der Wettstreit der Künste, München 1989, 96–119; Richard Leppert, The Social Discipline of Listening, in: Hans Erich Bödeker u.a., Le concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europe de 1780 à 1914 (France, Allemagne, Angleterre), Paris 2002, 459–485. Vgl. Tia DeNora, Musical Patronage and Social Change in Beethoven’s Vienna, in: American Journal of Sociology 97 (1991), 310–346.
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gewann das Ideal der ernsthaften Musik bzw. des versierten Musikliebhabers eine kurzfristige Kompensationsfunktion als vertikale Abgrenzungsideologie in dem Maße, wie die traditionellen Formen adeligen Musikmäzenatentums in Wien ihre soziale Exklusivität verloren hatten. Andernorts, z. B. in Leipzig, wurde diese Distinktionsstrategie schon bald umgekehrt: Im frühen 19. Jahrhundert wurde das Rezeptionsideal der ernsten, beinahe schon religiös anmutenden, Kunstandacht zunehmend vom gebildeten Bürgertum vereinnahmt und als Kriterium der bürgerlichen Selbstfindung durch Abgrenzung vom adeligen Publikum propagiert.9 Während Letzterem Oberflächlichkeit unterstellt wurde, erklärte sich das Bildungsbürgertum nun selbst zum kongenialen Kunstpublikum und konzipierte den Begriff des „Genies“ hermeneutisch vom Rezipienten her.10 Gerade der festliche Konzert- und Opernbesuch etablierte sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts als ein Ritual, das eine dem Gottesdienst ähnelnde Kunstandacht untrennbar mit gesellschaftlicher Selbstinszenierung beim „Sehen und Gesehen werden“ verband.11 Angesichts dieser demonstrativen Verquickung kulturellen und sozialen Kapitals war es für bürgerliche Mäzene durchaus attraktiv, Theater- und Operninszenierungen wiederholt finanziell zu unterstützen. In Elberfeld zum Beispiel wurden allein im Jahre 1905 rund 20.000 Reichsmark von führenden Repräsentanten des städtischen Wirtschaftsbürgertums für Theater- und Opernausstattungen gezahlt (vgl. Tab. 1).12 Tabelle 1: Theater- und Opernmäzenatentum in Elberfeld 1905 Name
Summe in Reichsmark
Zweck der Schenkung
Franz Wicküler
5.000
Neuausstattung v. Mozarts Figaro
Paul Boeddinghaus
1.000
Neuausstattung v. Theaterinszenierungen
Gustav Baum
3.000
Neuausstattung v. Theaterinszenierungen
Carl August Jung
5.000
Neuausstattung v. Theaterinszenierungen
August von der Heydt
5.000
Neuausstattung v. Mozarts Don Juan
Gustav Hueck
1.000
Dekorationen neuer Theaterinszenierungen
9
Vgl. Gunilla Budde, Stellvertreterkriege. Politik mit Musik des deutschen und englischen Bürgertums im frühen 19. Jahrhundert, in: Journal of Modern European History 5 (2007), 95–117. 10 Noch Hans-Georg Gadamer stand in dieser Tradition, wenn er Kongenialität als hermeneutische Pointe der Geniekunst interpretierte. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage, Tübingen 1993, 12, 112. 11 Zur europäischen Operngeschichte vgl. Anselm Gerhard, Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1992; Philipp Ther, Das Europa der Nationalkulturen. Die Nationalisierung und Europäisierung der Oper im „langen“ 19. Jahrhundert, in: Journal of Modern European History 5 (2007), 39–66. 12 Zusammengestellt aus dem Stadtarchiv Wuppertal [StdAW], F VI 423.
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Ein gesellschaftliches Ereignis anderer Art ermöglichten Benefizkonzerte, die zwar auch von professionellen Orchestern gegeben wurden, in der Regel aber privat zu Gunsten wohltätiger Vereine und Stiftungen organisiert wurden.13 Als werbewirksame Instrumente der Öffentlichkeitsarbeit waren solche Benefizkonzerte durchaus lukrativ: Beispielsweise nahm das Rauhe Haus in Hamburg anlässlich eines Konzerts im November 1835 gut 8.000 Mark Courant für Eintrittskarten und Programmtexte ein, wovon nach Abzug aller Unkosten knapp 3.700 Mark Courant übrig blieben. Eine Summe, die immerhin 57 Prozent der Jahreseinnahme durch Subskriptionen entsprach.14 Als Teil der bürgerlichen Festkultur waren Benefizkonzerte meist eine Domäne bürgerlicher Frauen, die sich hinter den Kulissen als Organisatorinnen wie auch als Dilettantinnen auf der Bühne engagierten. Eine atmosphärisch dichte Beschreibung einer solchen Benefizveranstaltung bietet die Reportage des Hamburgischen Correspondenten anlässlich eines Gesellschaftsabends des Hamburger Hauspflegevereins im Winter des Jahres 1906: Namentlich die Damenwelt hat ihre oft bewährte Bereitwilligkeit, für humanitäre Zwecke zu wirken, wieder glänzend erwiesen. Der Gedanke, in lebenden Bildern und charakteristischen Tänzen ‚Keramische Figuren im Wandel der Zeiten‘ darzustellen, hat fast 100 junge Damen in lebhafte Tätigkeit gesetzt, und die lustige Suppésche Operette ‚Zwölf Mädchen und kein Mann‘ beschäftigte hervorragend begabte Dilettantinnen.15
Musik nicht nur passiv als möglichst kenntnisreicher Musikliebhaber zu genießen, sondern selber aktiv zu musizieren, war ein weiterer Aspekt musikalischer „Hochkultur“.16 Die meisten Bürgerkinder erhielten Musikunterricht und wurden durch tägliches Üben an Frustrationstoleranz und Disziplin gewöhnt. Vor allem Bürgertöchter mussten Singen und ein Instrument erlernen, in der Regel das in der Anschaffung teure und musikalisch vielseitige Klavier, das zudem als prestigeträchtiges Möbel zur bürgerlichen Wohnkultur gehörte. Im repräsentativen Salon war Klaviermusik fester Bestandteil bürgerlicher Geselligkeit.17 Aber auch außer Haus suchte das Bürgertum seit Anfang des 19. Jahrhunderts musikalische Geselligkeit in zahlreichen Chor- und Instrumentalvereinen. Am frühesten entwickelten sich musikalische Dilettantenvereine und Vereinsinitiativen zur Konzertorganisation in den traditionsreichen Handels13 Vgl. Christoph-Hellmut Mahling, Zum Musikbetrieb Berlins und seinen Institutionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Carl Dahlhaus (Hg.), Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert, Regensburg 1980, 27–262, hier 32. 14 Vgl. Stephen Pielhoff, Paternalismus und Stadtarmut. Armutswahrnehmung und Privatwohltätigkeit im Hamburger Bürgertum 1830–1914, Hamburg 1999, 314. 15 Hamburgischer Correspondent, Morgenausgabe, 21. Februar 1906. 16 Vgl. zum Folgenden Gunilla Budde, Musik in Bürgerhäusern, in: Bödeker u.a. (Hg.), Le concert, 427–455, hier 433–451. 17 Ausführlich dazu Andreas Ballstedt u. Tobias Widmeier, Salonmusik. Zur Geschichte und Funktion einer bürgerlichen Musikpraxis, Stuttgart 1989.
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städten. Bereits 1743 war in Leipzig das Große Concert, die spätere Konzertdirektion des Gewandhaus-Orchesters, durch Adelige und Bürgerliche gegründet worden.18 1806 folgten in Frankfurt am Main die Museumsgesellschaft, eine sozial exklusive, auf 150 Mitglieder begrenzte, Vereinigung zur Förderung der Künste, und 1812 in Bremen die Gründung einer Gesellschaft für Privatkonzerte, auch Philharmonische Gesellschaft genannt.19 In Köln wurden 1812 sowohl ein Dilettantenorchester (Musikalische Gesellschaft) als auch ein gemischter Chor (Städtischer Gesangverein) gegründet, die 1827 gemeinsam eine Concert-Gesellschaft ins Leben riefen, um Konzerte professioneller Orchester zu fördern.20 In den Residenzstädten hatten es bürgerliche Dilettantenvereine dagegen schwerer, sich zu etablieren, weil das lokale Musikleben in erster Linie von den privilegierten Hofkapellen und Hofopernensembles geprägt wurde, also sowohl vom Musikmäzenatentum der Fürsten als auch vom Konsumentengeschmack des zahlenden Publikums.21 Diese höfische Musiktheaterkultur entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem konservativen Bollwerk gegen „moderne“ Bestrebungen zur Reform von Repertoire und Inszenierung und blieb bis zum Ersten Weltkrieg einflussreich.22 So gab es um 1910 noch zehn deutsche Städte, deren Theater im Besitz des Landesherrn waren, nämlich Berlin, Braunschweig, Danzig, Darmstadt, Dresden, Hannover, Karlsruhe, Kassel, München und Stuttgart.23 Zur gleichen Zeit wurde die nichthöfische Musiktheaterwelt im späten Kaiserreich durch einen einsetzenden Kommunalisierungsprozess modernisiert. Immerhin waren 32 Städte (mit Einwohnerzahlen über 80.000) um 1910 Eigentümer eines Theatergebäudes. Selbst Städte mit klassischen Pachtbe18 Vgl. Margaret Eleanor Menninger, The Serious Matter of True Joy. Music and Cultural Philanthropy in Leipzig, 1781–1933, in: Thomas Adam (Hg.), Philanthropy, Patronage, and Civil Society. Experiences from Germany, Great Britain, and North America, Bloomington 2004, 120–137, hier 121. 19 Vgl. Gudrun-Christine Schimpf, Geld macht Kultur. Kulturpolitik in Frankfurt am Main zwischen Mäzenatentum und öffentlicher Finanzierung 1866–1933, Frankfurt / Main 2007, 115f.; Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main. Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft 1760–1914, München 1996; Andreas Schulz, Vormundschaft und Protektion. Eliten und Bürger in Bremen 1750–1880, München 2002, 207ff., 381ff. 20 Vgl. Gisela Mettele, „Geeint durch das Band der Harmonie“. Bürgerliches Musikleben in Köln in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Bödeker u.a. (Hg.), Le concert, 177–204. 21 Vgl. Ute Daniel, Vom fürstlichen Gast zum Konsumenten. Das Hoftheaterpublikum in Deutschland vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Bödeker u.a. (Hg.), Le Concert, 347– 382, hier 352–355. Siehe auch Mettele, Bürgerliches Musikleben, 187. 22 Vgl. Ute Daniel, Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995, 360–364. 23 Dazu und zum Folgenden vgl. O. Landsberg, Theaterverhältnisse im Jahre 1911, in: Statistisches Jahrbuch deutscher Städte 19 (1913), 743–762.
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trieben, wie die Provinzialhauptstadt Münster, erhöhten ihre Subventionen und versuchten, die Qualität des Ensembles durch die vertragliche Festlegung von Mindestgagen zu sichern oder das geschäftliche Risiko der Pächter durch die Garantie monatlicher Mindesteinnahmen oder die Zahlung eines festen Direktorengehalts zu verringern. Sieben Stadttheater (in Altona, Krefeld, Duisburg, Elberfeld, Hagen, Hamburg und Königsberg) gehörten gemeinnützigen Theater-Aktiengesellschaften, die ebenfalls städtischerseits subventioniert wurden. Andere Stadttheater kooperierten mit ihrem fürstlichen Mäzen, beispielsweise in Wiesbaden, wo das Theatergebäude und das Mobiliar der Stadt gehörten, während Theaterbetrieb und -fundus von der königlichen Verwaltung finanziert wurden. Andererseits gab es auch Fälle kommunaler Subventionierung in Residenzstädten, zum Beispiel in München, wo die Richard-Wagner-Festspiele im Prinzregententheater von der Stadt unterstützt wurden, oder in Stuttgart und Kassel, wo Theaterneubauten erheblich von städtischen Zuschüssen profitierten. In Leipzig dagegen wurde der Neubau des Konzertsaals für das traditionsreiche Gewandhaus-Orchester Ende der 1870er Jahre in erster Linie privat durch Subskriptionssammlungen und durch den zinsfreien Kredit einer städtisch verwalteten Stiftung finanziert, so dass die Stadt aus eigenen Ressourcen lediglich das Grundstück für das neue Gewandhaus zur Verfügung stellen musste.24 Dagegen wurde das Gewandhaus-Orchester nach der Jahrhundertwende größtenteils städtisch subventioniert. Diese einmalige Konstruktion eines privat getragenen Konzertgebäudes und eines überwiegend kommunal finanzierten Orchesters ermöglichte es der bürgerlichen Gewandhaus-Direktion, trotz der „Kostenexplosion des Kulturbetriebs den gesellschaftlich elitären Charakter der Konzerte zu bewahren“.25 Schon dieser kurze Überblick zeigt, dass es eine variantenreiche Gemengelage privater und öffentlicher Theater- und Musikförderung in Deutschland gab, die mit der großen Vielfalt der Städte korrespondierte. Die folgenden stadtgeschichtlichen Mikrostudien nehmen nicht die viel beachteten internationalen Musikzentren, wie z. B. Wien oder Paris, unter die Lupe, sondern fragen nach der Musikförderung in der seltener untersuchten städtischen „Kulturprovinz“. Mit der Industriestadt Dortmund und der Verwaltungsstadt Münster, die als exponierte Nachbarn in der preußischen Provinz Westfalen um die kulturelle Zentralität in der Region konkurrierten, werden zwei unterschiedliche Städtetypen in der ersten Phase des Kommunalisierungsprozesses 24 Vgl. Margaret Eleanor Menninger, Kulturelle Philanthropy im Leipzig des 19. Jahrhunderts, in: Thomas Adam u. James Retallack (Hg.), Zwischen Markt und Staat. Stifter und Stiftungen im transatlantischen Vergleich, Leipzig 2001, 30–51, hier 42–46; Thomas Adam, Stiften in deutschen Bürgerstädten vor dem Ersten Weltkrieg. Das Beispiel Leipzig, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), 46–72. 25 Michael Schäfer, Bürgertum in der Krise. Städtische Mittelklassen in Edinburgh und Leipzig von 1890 bis 1930, Göttingen 2003, 124.
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zwischen Reichsgründung und Weltkrieg verglichen. Während die Dynamik mäzenatischer Initiativen in der westfälischen Provinzialhauptstadt durch eine Mixtur aus residenzstädtischen Relikten, städtebaulichen Hindernissen, konfessionellen Spannungen, dilatorischer Kommunalpolitik und kulturpolitischer Dominanz der preußischen Provinzialbürokratie gebremst wurde, entwickelte Dortmunds Wirtschaftselite eine hohe mäzenatische Dynamik in enger Kooperation mit der städtischen Verwaltung.
2. THEATER- UND MUSIKMÄZENATENTUM IN DORTMUND UND MÜNSTER, 1871–1914 Als das Dortmunder Stadttheater am 17. September 1904 feierlich eingeweiht wurde, endete zugleich eine gut dreißigjährige Vorgeschichte mäzenatischer Initiativen. 1872 hatten führende Repräsentanten des Dortmunder Wirtschaftsbürgertums zur Gründung einer gemeinnützigen Theater-Aktiengesellschaft aufgerufen und zunächst als Ziel erklärt, ein kommerzielles Theaterunternehmen durch Subventionierung dauerhaft an die Stadt zu binden.26 Nachdem diese Initiative jedoch gescheitert war, konzentrierte sich Dortmunds wirtschaftsbürgerliche Oberschicht seit Mitte der 1880er Jahre darauf, Geld für den Bau eines städtischen Theatergebäudes zu sammeln. Erfolgreiche Unternehmer wie Albert Hoesch, Julius Overbeck und alteingesessene Bankiers wie Gustav und Wilhelm Wiskott forderten als Vertreter einer zugleich lokalpatriotischen und überregional vernetzten Wirtschaftselite, daß Dortmund, welches sich zur größten und bedeutsamsten Stadt der Provinz heraufgearbeitet habe, diese Stellung äußerlich und nicht minder auch in der Förderung der geistigen Bestrebungen wahrnehmen und den Einwohnern sowie den zahlreichen Besuchern ein entsprechendes Theater bieten müsse.27
Der persönliche unternehmerische Erfolg und der industrielle Aufschwung Dortmunds sollten sich in der kulturellen Urbanität der eigenen Stadt widerspiegeln. In diesem Sinn war es durchaus symbolkräftig, dass Overbeck28 sein fünfzigjähriges Geschäftsjubiläum zum Anlass nahm, der Stadt im November 26 Vgl. den Aufruf zur Gründung einer Theater-Aktiengesellschaft für ein dauerndes Dortmunder Theater v. 31.01.1872, in: Stadtarchiv Dortmund [StdADo], Bestand 3 Nr. 341. Siehe außerdem Arthur Mämpel, Das Kulturleben Dortmunds im Jahrzehnt der Gründerzeit unter besonderer Berücksichtigung der Stadt-Theater-Aktiengesellschaft, in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 67 (1971), 107–140. 27 Vgl. das Schreiben des Ausschusses für die Sammlungen zum Theaterbau an den Dortmunder Magistrat v. 01.06.1886, in: StdADo, Bestand 3 Nr. 341. 28 Julius Overbeck, geb. 1823, gest. 1904, 1891 zum Kommerzienrat und 1901 zum Geheimen Kommerzienrat ernannt. Als Sohn des unternehmerisch wohl noch erfolgreicheren Wilhelm Overbeck (Löwenbrauerei, Stearinlichter und Seifenfabrik Overbeck und Sohn) seit 1849 Mitinhaber einer Stearin- und Kerzenfabrik, die 1891 ca. 120 Ar-
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1890 30.000 RM zur Gründung eines Theaterbaufonds zu schenken. Overbeck folgte damit einer familiären Tradition, hatte doch schon sein Vater Wilhelm anlässlich seines fünfzigjährigen Geschäftsjubiläums gestiftet.29 Solche Jubiläums-Stiftungen waren ein typischer Aspekt wirtschaftsbürgerlicher Erinnerungskultur, die soziale Statusdokumentation, Identifikation mit Arbeit und Beruf, Lokalpatriotismus und paternalistisches Selbstverständnis sinnstiftend miteinander verbanden. Darüber hinaus formulierte Overbeck konkrete sitten- und sozialreformerische Motive seiner Stiftung und bedachte deren architektonische Umsetzung im Sinne einer egalitären Rezeptionsästhetik: Ich bin der festen Überzeugung, daß ein gutgeleitetes Theater ein veredelndes Erziehungsmittel für Jung und Alt und für die weitesten Kreise bilden wird, indem es dieselbe wenn auch nur teilweise und zeitweise – unterstützt von der edleren Musika – ablenkt von den heut zu Tage grassierenden und immer noch wachsenden rein materiellen Genüssen, wie sie dem stets willig folgenden großen Publikum von der Unmenge von Volks-Dievertissement und Vereinen, die näher zu bezeichnen wohl überflüssig ist, jetzt geboten werden. Dazu bedarf es jedoch eines, wenn auch nicht brillianten, so doch würdigen, gut ventilierten bequemen Tempels der Kunst, vor allen Dingen also eines akustischen Rundbaues, welcher allen Plätzen sowohl für Auge wie Ohr volles Verstehen führt. Dabei hatte ich die Bedingung für den jeweiligen Direktor im Auge, von Zeit zu Zeit (wenigstens wöchentlich einmal) durch recht billige Volksabende, wie solche in den meisten Stadttheatern bereits existieren, auch die Familien weniger bemittelter Bürger heranzuziehen resp. zum Besuch zu induzieren.30
Im Laufe der 1890er Jahre wurde Overbecks Stiftungskapital gewinnbringend angelegt und zudem jährlich aus Zinsüberschüssen der städtischen Sparkasse (also mit öffentlichen Geldern) aufgestockt, so dass der Overbecksche Theaterbaufonds Ende 1900 gut 113.000 RM aufwies.31 Finanziell noch erfolgreicher war eine im November 1899 vom Stadtrat Eduard Kleine und anderen Bürgern organisierte Sammlung, bei der die Subskribenten den einfachen oder doppelten Betrag ihrer Staatseinkommensteuer für das Jahr 1899 zeichnen sollten: Rund 385.000 RM kamen dabei bis Ende März 1900 zusammen. Somit standen nun 500.000 RM zweckgebunden und befristet zur Verfügung. Diese Summe vor Augen bewilligten die Gremien der Stadt wei-
beiter beschäftigte. Vgl. dazu Paul Hermann Mertes, Wilhelm Overbeck, in: RheinischWestfälische Wirtschaftsbiographien, Bd. 11, Münster 1983, 93–141, hier 107ff, 139f.; StdADo, Bestand 3 Nr. 571. 29 Vgl. dazu Stephen Pielhoff, Zwischen Bedürftigkeit und Begabung. Ausbildungsförderung als Aufgabe bürgerlicher Privatwohltätigkeit in Hamburg, Dortmund und Münster, ca. 1871–1925, in: Jonas Flöter u. Christian Ritzi (Hg.), Bildungsmäzenatentum. Privates Handeln, Bürgersinn und kulturelle Kompetenz seit der Frühen Neuzeit, Köln 2007, 311–343, hier 323ff. 30 Vgl. Julius Overbecks Schreiben an den Dortmunder Magistrat, in: StdADo, Bestand 3 Nr. 1023. 31 Vgl. ebd.
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tere 750.000 RM für den Bau eines neuen Stadttheaters mit 1.200 Plätzen.32 In der Ausschreibung zum beschränkten Architektenwettbewerb wurde ein Orchesterraum für fünfzig Musiker vorgesehen. Overbecks Reformidee einer Theaterarchitektur mit guter Sicht und gleicher Akustik von allen Plätzen wurde zu Gunsten einer plutokratischen Sitzplatzordnung mit erstem und zweitem Parkett, drei Rängen und insgesamt 1.200 Sitzplätzen aufgegeben.33 Offensichtlich wollten Dortmunds Honoratioren bei der Aufteilung des Zuschauerraumes nicht auf die Möglichkeit fein abgestufter sozialer Distinktion verzichten. Die Gesamtkosten des 1904 fertig gestellten Theatergebäudes von ca. 1,25 Millionen RM wurden durch eine Mischfinanzierung zu ca. vierzig Prozent aus privaten und zu sechzig Prozent aus städtischen Ressourcen gedeckt. Hinzu kamen die jährlichen Folgekosten für den laufenden Theater- und Opernbetrieb, der nun zunehmend kommunal – also indirekt auch von theaterfernen Bevölkerungsschichten – subventioniert wurde. Immerhin vervierfachte sich der jährliche Zuschuss aus der Kämmereikasse von gut 62.000 RM im Eröffnungsjahr auf gut 247.000 RM für 1908, um dann bis 1911 auf knapp 180.000 RM im Jahresdurchschnitt zurückzugehen. 1914 erreichten die städtischen Subventionen schließlich einen Spitzenwert von knapp 300.000 RM.34 Trotz dieser finanziellen Belastungen für die Stadt wurde in der Öffentlichkeit in erster Linie auf den mäzenatisch finanzierten Anteil am Theaterbau hingewiesen,35 weil Mäzenatentum allgemein als bester Beweis für die stolze Identifikation des Bürgertums mit seiner Kommune verstanden wurde. Musikalisch wurden die Operaufführungen im neuen Stadttheater vom Philharmonischen Orchester unter der Leitung Georg Hüttners bespielt. Dieses privat geführte Berufsorchester hatte sich seit 1887 in Dortmund etabliert und war seit 1897 / 98 auch kommunal subventioniert worden.36 1892 32 Vgl. den Magistratsantrag v. 17.04.1900 und den Beschluss der Stadtverordnetenversammlung v. 07.05.1900, in: StdADo, Bestand 3 Nr. 340. 33 Im ersten Parkett sollte es ungefähr dreihundert Sitzplätze geben, im zweiten 150. Auf den Rängen sollten insgesamt 750 Sitzplätze entstehen, davon je zweihundert im ersten und zweiten Rang sowie 350 im dritten Rang. Vgl. dazu diverse Entwürfe zur Ausschreibung, in: StdADo, Bestand 3 Nr. 339. 34 Vergleiche die Haushaltspläne der Stadt Dortmund, in: StdADo, Bestand AD 148-21. 35 Im Sinne des Stadt- und Bürgerstolzes prangte das sinngebende Motto auf dem Stirngiebel des neuen Theaters: „Nimmer entbehre die strebende Stadt der veredelnden Künste, opferfreudiger Sinn baute den Musen dies Heim.“ 36 Das Philharmonische Orchester – 1896 so benannt – ging aus dem Orchesterverein hervor, der 1880 als Abspaltung von der so genannten Giesenkirchenschen Kapelle gegründet worden war. 1887 wurde Georg Hüttner (1861–1919) zum musikalischen Leiter gewählt. Die Hüttner’sche Kapelle arbeitete seit der Saison 1894 / 95 auch mit dem Dortmunder Musikverein und etablierte sich spätestens mit der vertraglichen Bindung an die Stadt im Jahre 1897 als wichtigstes Berufsorchester in Dortmund. Vgl. Rudolf Schroeder, Studien zur Geschichte des Musiklebens der Stadt Dortmund vom frühen
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hatte Hüttners Orchester zudem von der Möglichkeit profitiert, wöchentlich im Anfang der 1890er Jahre erbauten Kronenburgsaal zu konzertieren, einem ursprünglich als Bierpalast konzipierten Konzertsaal, den der Brauereinindustrielle Heinrich Wenker als Bauherr und Betreiber zur Verfügung stellte.37 Private Musikförderung und geschäftliches Interesse gingen bei diesem für beide Seiten profitablen Engagement Hand in Hand. Seit der Konzertsaison 1894 / 95 kooperierte die Hüttner’sche Kapelle zudem mit dem schon 1845 gegründeten Dortmunder Musikverein, der sich seit Mitte der 1880er Jahre unter der Leitung von Julius Janssen zum gesellschaftlich „vornehmsten“ Laienchor im Dortmunder Bürgertum entwickelt hatte.38 Chorsängerinnen und -sänger sowie nichtprofessionelle Solistinnen und Solisten stammten aus den einflussreichsten Dortmunder Bürgerfamilien und repräsentierten mithin die gesellschaftliche Respektabilität dilettantischen Musizierens.39 Die herausragenden Dortmunder Ereignisse dieser bürgerlichen Laienchorkultur waren die großen Westfälischen Musikfeste, die zwischen 1890 und 1909 neunmal stattfanden.40 Diese Feste waren regionale Ereignisse, die Chorsänger und -sängerinnen aus zahlreichen Städten zusammenführten und Gemeinschaft stiftende Erlebnisse ermöglichten. Finanziert wurden solche Musikfeste nicht zuletzt durch Mäzene des Dortmunder Wirtschaftsbürgertums, die neben ihren familiären oder freundschaftlichen Beziehungen zu Chormitgliedern von Erwägungen wirtschaftlicher Konkurrenz zum Spenden motiviert wurden. So wurde das Schwedische Musikfest von 1912 beispielsweise durch die konkurrierenden Brauereiindustriellen Josef Cremer (Thier & Co) und Oskar Brand (Kronenburg) unterstützt, was beiden Mäzenen in der Folge schwedische Orden als Zeichen sozialer Anerkennung einbrachte.41 Brauereipatriarchen wie Cremer, Brand und Wenker, Unternehmer wie Overbeck und Hoesch sowie alteingesessene Bankiers wie die Wiskotts ste-
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Mittelalter bis zum Ausgange des 19. Jahrhunderts, Kassel 1934; ders., Dortmunder Musikleben um die Jahrhundertwende, in: Der Märker 13 (1964), 56–60; Bernhard Schaub, Georg Hüttner, in: Biographien bedeutender Dortmunder, Bd. 2, Dortmund 1998, 68f. Vgl. dazu Barbara Gerstein, Heinrich Wenker, in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien 10 (1974), 55–77, hier 71f. Zwischen 1871 und 1913 gründeten sich allein in Dortmund 17 Männergesangsvereine, darunter auch die für Industriestädte typischen Werkschöre. Vgl. dazu Rudolf Schroeder, Industrie und Musik im Raume Dortmund, in: Monica Steegmann, Musik und Industrie. Beiträge zur Entwicklung der Werkschöre und Werksorchester, Regensburg 1978, 261–291. Vgl. die Liste der Dilettanten und das Mitgliederverzeichnis des Chores in der Denkschrift zur Erinnerung an das fünfzigjährige Jubiläum des Dortmunder Musik-Vereins, Dortmund 1895, 20ff. Vgl. die Festschriften zum I.-IX. Westfälischen Musikfest in Dortmund (1890, 1892, 1894, 1896, 1898,1900, 1902, 1905 u. 1909). Vgl. dazu StdADo, Bestand 3 Nr. 580.
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hen mit ihrem Theater- und Musikmäzenatentum exemplarisch für eine relativ große Gruppe wohlhabender und reicher Mäzene aus der Schwer- und der Bierbrauindustrie sowie aus den alten Kaufmannsfamilien. Diese Wirtschaftselite wünschte sich, dass sich Dortmunds industrieller Aufschwung endlich auch im kulturellen Prestige ihrer Stadt widerspiegeln sollte. Deshalb fokussierte sich ihr lokales mäzenatisches Engagement nach der Jahrhundertwende vor allem auf die bessere Versorgung mit „Hochkultur“. Die Dynamik dieses Urbanisierungsprozesses war aber nicht allein auf den Reichtum seiner Wirtschaftselite, sondern auch auf das Fehlen einer mäzenatischen Konkurrenz zurückzuführen. Anders als in Residenz- oder Verwaltungsstädten profitierte Dortmund nicht vom Mäzenatentum eines Fürsten oder der hohen Staatsbeamtenschaft. Dieses Fehlen obrigkeitlichen Mäzenatentums zwang die Bürgerschaft zur Initiative und dynamisierte in der Folge auch die kommunale Kulturpolitik. In Kontrast dazu wurde die Dynamik kultureller Urbanisierung in der westfälischen Provinzialhauptstadt Münster durch residenzstädtische Relikte gebremst. Münsters Theater hatte zwischen Mitte der 1820er und Mitte der 1870er Jahre indirekt vom Mäzenatentum des Fürsten zu Lippe-Detmold profitiert, da die Theaterpächter der Wintersaison zugleich auch Direktoren des Detmolder Hoftheaters waren.42 Mit dem Tod von Friedrich Emil Leopold III. im Dezember 1875 entfiel jedoch der landesherrliche Zuschuss für das Detmolder Hoftheater (ca. 6.000 RM). Außerdem machte ein langwieriger Rechtsstreit zwischen den lippischen Landesständen und dem Detmolder Fürstenhaus über die Frage, ob diese Theatersubventionierung zukünftig aus Landesmitteln oder aus Erträgen des fürstlichen Krongutes zu zahlen sei, weitere landesherrliche Zuschüsse aus Detmold unwahrscheinlich.43 Im Mai 1878 schlug der Magistrat der Stadt Münster daher den Stadtverordneten vor, dem Theaterpächter der Winterbühne die Gebäudemiete zu erlassen:44
42 Dies gilt jedenfalls für August Pichler und Moritz Alexander Krüger, die prägenden und langjährigen Theaterunternehmer dieser Periode. Vgl. dazu Michael Jeismann, „Bürgerliche Kultur“ und Kultur des Bürgertums. Theater und Museen im 19. Jahrhundert, in: Franz-Josef Jakobi (Hg.), Geschichte der Stadt Münster, Bd. 2, Münster 31994, 489– 508, hier 498. 43 Vgl. ein Schreiben des Münsteraner Magistrats an die Stadtverordnetenversammlung v. 16.05.1878, in: Stadtarchiv Münster [StdAM], Stadtverordneten-Registratur Nr. 264. 44 Das Ensemble einer Winterbühnensaison in Münster erforderte für die Oper außer dem Orchester einen Kapellmeister, einen Ersten Tenor, einen lyrischer Tenor, einen Bariton, zwei Bassisten, sieben männliche Choristen, einen Ersten Sopran, einen Koloratur-Sopran, eine Soubrette und vier weibliche Choristen; für das Schauspiel einen Ersten Liebhaber, einen jugendlichen Liebhaber, einen Charakterspieler, zwei Komiker, zwei erste Liebhaberinnen, eine Anstandsdame, eine Soubrette, eine jugendliche Liebhaberin und eine komische Alte. Nach einer Aufstellung für die Wintersaison 1881 / 82, in: StdAM, Stadtverordneten-Registratur Nr. 264.
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Ausgehend von dem Gesichtspunkt, daß die Bühne eine Bildungsanstalt des Volkes sein soll, die Hebung deren Leistungsfähigkeit ein daher auch von der Kommune anzustrebendes Ziel ist, die Erlangung guter Kräfte für das klassische Schauspiel mit Rücksicht auf die übliche geringe Besoldung derselben gegenüber der des Opernpersonals schon durch unbedeutendere pekuniäre Vorteile erleichtert werden kann und gerade das klassische Schauspiel vorgedachtem Ziele näher zu führen geeignet erscheint, ersuchen wir die geehrte Stadtverordnetenversammlung, darin einzuwilligen, daß fernerhin dem Unternehmer der Winterbühne das Stadttheater mietfrei überlassen werde.45
Die Stadtverordnetenversammlung stimmte der Mietbefreiung nach einigem Zögern zu46 und bewilligte diese auch in den Folgejahren, zumal man „eine gute Winterbühne“ nicht nur als Prestigefrage verstand, sondern auch als finanziellen Standortvorteil proklamierte: Eine gute Winterbühne ist für eine Provinzialhauptstadt […] ein Bedürfnis, zumal die dadurch erhöhten Annehmlichkeiten des Aufenthaltes Vermögenden zur erwünschten Ansiedlung hierorts anregen. Die künstlerischen Leistungen […] durch Zuwendungen pekuniärer Vorteile an den Theaterunternehmer zu fördern, heißt der Stadt nützen.47
Die Geschichte der Theater- und Konzertgebäude in Münster entlarvte diese wirtschaftliche Einsicht jedoch als Lippenbekenntnis des Magistrats. Nachdem die Stadt 1891 den Abbruch des alten Komödienhauses beschlossen hatte, weil dieses Theatergebäude von 1775 sowohl aus baupolizeilicher wie aus wirtschaftlicher Sicht unhaltbar schien, eröffnete man Ende 1895 als Übergangslösung das Lortzing-Theater48 im zunächst angemieteten und umgebauten Romberger Hof, einem ehemaligen Stadtpalast aus dem späten 18. Jahrhundert.49 Mit diesem 1906 für 580.000 RM von der Stadt angekauften Theatergebäude, das seit der Spielzeit 1910 / 11 wegen baupolizeilicher Bedenken Jahr für Jahr von der Schließung bedroht war, begann zugleich eine quälende Geschichte dilatorischer Umbaumaßnahmen und gescheiterter Neubaupläne.50 Ausschlaggebend dafür war ein strukturelles Problem städtebau45 Schreiben des Münsteraner Magistrats an die Stadtverordnetenversammlung v. 16.05.1878, in: StdAM, Stadtverordneten-Registratur Nr. 264. 46 Die Stadtverordnetenversammlung lehnte den Vorschlag zunächst in ihrer Sitzung v. 05.06.1878 ab, gab schließlich aber einem weiteren Magistratsantrag v. 20.11.1878 in der Sitzung v. 04.12.1878 statt. Vgl. StdAM, Stadtverordneten-Registratur Nr. 264. 47 Antrag des Magistrats der Stadt Münster v. 12.01.1881, in: StdAM, StadtverordnetenRegistratur Nr. 264. 48 Albert Lortzing (1801–1851), u.a. Komponist der Oper Zar und Zimmermann (1837), war zwischen 1826 und 1833 Ensemblemitglied des Lippischen Hoftheaters in Detmold und insofern auch Teil des Sommertheaters in Münster. Im Münster des Kaiserreichs waren seine Kompositionen überdurchschnittlich beliebt. Vgl. Laurenz Lütteken, Bürgerliche Musikkultur 1803–1918, in: Klaus Hortschansky u. Hans Galen (Hg.), Musik in Münster [Ausstellungskatalog], Münster 1994, 164–211, hier 194f. 49 Vgl. dazu Maria Elisabeth Brockhoff, Musik und musikalisches Leben, in: Franz-Josef Jakobi, Geschichte der Stadt Münster, Bd. 3, Münster 31994, 569–610, hier 599f. 50 Vgl. zusammenfassend ein Schreiben des Münsteraner Oberbürgermeisters Jungeblodt an den Regierungspräsidenten des Regierungsbezirkes Münster v. 10.02.1913, in:
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licher Modernisierung: Aufgrund seines alten gewachsenen Stadtkerns verfügte Münster über keinen ausreichend großen und unbebauten Bauplatz in zentraler Lage und städtischem Besitz. So scheiterten bis 1913 mindestens vier Neubaupläne an zu hohen Grundstückspreisen, Widerständen der Heimatschutzbewegung oder baupolizeilichen Hindernissen. Ein zusätzliches Legitimationsproblem für den Theaterneubau ergab sich aus der mäßigen Auslastung des Lortzing-Theaters: So wurden in den drei Saisons von 1909 / 10 bis 1911 / 12 im Durchschnitt nur 43 Prozent der Plätze verkauft. Besonders begehrt waren die billigen Galerieplätze (65 Prozent Auslastung) und die Parterreplätze in der ersten Reihe, die vor allem unter Münsters Beamtenschaft beliebt waren (52 Prozent). Die teureren Plätze im Parkett (39 Prozent) und in der Mittelloge (27 Prozent) waren dagegen „stets“ unterdurchschnittlich ausgelastet.51 Offensichtlich war ein baufälliges und unmodernes Theater vor allem für Münsters wohlhabendere Bevölkerungsschichten nicht attraktiv genug. Bezeichnenderweise reagierte Münsters Bürgertum auf diese Theatermisere jedoch nicht wie in Dortmund mit mäzenatischen Initiativen. Dass die Theaterfrage in Münster überhaupt virulent blieb, war tatsächlich mehr auf den gesetzlichen Druck neuer Bau- und Feuerschutzrichtlinien denn auf die kulturpolitische Investitionsbereitschaft der Stadt oder auf bürgerliches Mäzenatentum zurückzuführen. Wie schwach oder gestört die Beziehungen zwischen Stadt, Provinzialverwaltung und bürgerlicher Privatinitiative im Bereich der „Hochkultur“ waren, zeigte sich vor allem beim Kampf des Musikvereins für einen größeren Konzertsaal. Der Musikverein in Münster war 1816 unter dem Namen Musikalische Gesellschaft von musikliebenden Dilettanten gegründet worden und sollte die Lücke schließen, die mit dem Verlust der Residenzstadtfunktion und der Hofkapelle entstanden war.52 Im Kaiserreich etablierte sich der Musikverein unter der Leitung des Brahms-Freundes Julius Otto Grimm als führender weltlicher Oratorienchor mit professionellem Orchester.53 Als Grimm 1903 in Münster starb, war die Verehrung für ihn so groß, dass ihm auf Initiative mehrerer Bürger ein Denkmal errichtet wurde.54 Auf der anderen Seite entwickelte sich Münster in der katholischen Kirchenmusik aber unter Domchordirektor Friedrich Schmidt auch zu einer Hochburg des Caecilianismus,
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StdAM, Stadtregistratur Fach 155 Nr. 107. Siehe außerdem den Münsterischen Anzeiger, Nr. 493, 26. Juni 1913. Vgl. dazu ein Schreiben des städtischen Verwaltungs- und Theatersekretärs Meinecke an den Berliner Architekten Walter Hentschel v. 07.08.1909, in: StdAM, Stadtregistratur Fach 155 Nr. 82. Vgl. Susanne Kill, Das Bürgertum in Münster 1770–1870. Bürgerliche Selbstbestimmung im Spannungsfeld von Kirche und Staat, München 2001, 146. Vgl. Lütteken, Bürgerliche Musikkultur, 164–167, 175f., 186–194, 207. Vgl. StdAM, Stadtregistratur Fach 155 Nr. 63.
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der als konservative kirchenmusikalische Reformbewegung in der katholischen Kirche nicht zuletzt gegen die bürgerliche Konzertchormusik des Musikvereins opponierte und wohl als ein musikalischer Reflex auf die im Kulturkampf vertiefte Konfliktlinie zwischen Katholizismus und protestantischer Provinzialverwaltung interpretiert werden kann.55 Berechtigt zum Besuch der Musikvereinskonzerte waren Vereinsmitglieder und deren Familien. In den Spielzeiten 1885 / 86 bis 1889 / 90 ging die Zahl der Konzertberechtigten von 713 auf 556 zurück, was einem Mitgliederrückgang von vierhundert auf 317 entsprach. Daraufhin führte der Musikverein in seiner Satzung übertragbare Mitgliedskarten „gegen mäßige Preiserhöhung“ ein,56 ein Angebot, das in den Jahren zwischen 1897 und 1904 von einem Drittel der Konzertbesucher genutzt wurde.57 Zwischen 1897 / 98 und 1903 / 04 waren zwischen 623 und 701 Personen konzertberechtigt. Der Festsaal des Rathauses, den die Stadt für die Konzerte des Musikvereins zu ermäßigten Mieten zur Verfügung stellte, bot jedoch nur 548 Sitzplätze,58 so dass die Konzertbesucher regelmäßig um die unnummerierten Plätze kämpften: Lange Zeit vor Beginn des Konzertes spielt sich dort [im Rathaussaal; S. P.] regelmäßig ein Wettlauf ab um einen gesicherten Sitzplatz. Für beschäftigte Hausfrauen oder Beamte mit regelmäßigen Dienststunden ist dann gewöhnlich keine Stätte mehr zu finden. Sie müssen sich mit Stehplätzen begnügen und in den Gängen, in der Nähe zugiger Thüren sich schieben und pressen lassen.59
Solche Probleme waren nicht neu für den Musikverein. Bereits im März 1873 hatte sich der Vereinsvorstand an den Magistrat gewandt und um ein Grundstück am Mauritztorplatz für einen neuen Konzertsaal ersucht.60 Um Zustimmung zu gewinnen, projektierte man die Tonhalle des Vereins zugleich als öffentlichen Mehrzweckbau für Militärkonzerte, Bälle, Ausstellungen, Versammlungen und städtische Festlichkeiten.61 Nachdem der Bauplatz dem 55 So Lütteken, Bürgerliche Musikkultur, 165. Vgl. außerdem Brockhoff, Musik, 581, 594f. Zum Kulturkampf in Münster vgl. Horst Gründer, „Krieg bis auf´s Messer“. Kirche, Kirchenvolk und Kulturkampf (1872–1887), in: Jakobi (Hg.), Geschichte, Bd. 2, 131–165. 56 Vgl. den Jahresbericht des Musikvereins zu Münster, in: 19. Jahresbericht des Westfälischen Provinzialvereins für Wissenschaft und Kunst, Münster 1891, 138. 57 Im Durchschnitt der Saisons 1897 / 98–1902 wurden 208 übertragbare Karten (32 %), 213 nicht übertragbare Karten (33 %) und 229 Familienkarten (35 %) gebraucht. 58 Laut Jahresbericht des Musikvereins zu Münster für 1894 / 95, in: 23. Jahresbericht des Westfälischen Provinzialvereins für Wissenschaft und Kunst, Münster 1895, 261. 59 Jahresbericht des Musikvereins zu Münster für 1893 / 94, in: 22. Jahresbericht des Westfälischen Provinzialvereins für Wissenschaft und Kunst, Münster 1894, 291. 60 In der Konzertsaison 1872 / 73 zählte der Musikverein 349 ordentliche Mitglieder und 621 zum Konzertbesuch Berechtigte. Vgl. das Gesuch des Vorstandes des Musikvereins um freie Überlassung des Mauritztorplatzes zum Bau einer Tonhalle v. 08.03.1873, in: StdAM, Stadtregistratur Fach 56 Nr. 25. 61 Vgl. die beiden Schreiben des Musikvereins an den Magistrat v. 29.03.1873 u. 10.05.1873, beide in: StdAM, Stadtregistratur Fach 56 Nr. 25.
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Musikverein nach anfänglichen Widerständen im Magistrat zugesprochen wurde, ruhte das Tonhallenprojekt, bis das nötige Baukapital schließlich im November 1879 durch eine Schenkung Wilhelm Hüffers bereitgestellt wurde.62 Wilhelm Hüffer stammte aus einer alteingesessenen und politisch äußerst einflussreichen Familie des Münsteraner Handelsbürgertums,63 war als Teilhaber eines Pariser Großhandels und als Pächter des französischen Tabakmonopols reich geworden und lebte seit 1872 als Rentier in Rom, wo er Mitglied des Deutschen Künstlervereins wurde und als Mäzen u.a. die Restaurierung des Terminibrunnens Domenico Fontanas finanzierte.64 Er repräsentiert den Typus des weggezogenen Mäzens, der seiner alten Heimatstadt aus der Ferne und im paternalistischen Bewusstsein familiärer Honoratiorentradition verbunden blieb. In Münster profilierte er sich vor allem durch die Stiftung einer „Orthopädischen Krüppelheilanstalt“ (1893), der so genannten Hüffer-Stiftung, die in der Folge von Familienmitgliedern verwaltet und durch mehrere Zustiftungen ausgebaut wurde.65 Parallel zu ihrem sozialen Engagement waren die Hüffers auch im kulturellen Vereinsleben sehr aktiv: Wilhelm selbst war Ehrenmitglied im Westfälischen Kunstverein66 und sein älterer Bruder Eduard, der das väterliche Verlagsbuchhaus leitete, war erster Vorsitzender des Musikvereins. Insofern dürften familiäre Beziehungen ausschlaggebend gewesen sein für Hüffers Angebot, 60.000 RM zum Bau der Tonhalle zur Verfügung zu stellen.67 In der Zwischenzeit war der Magistrat jedoch nicht mehr bereit, dass zuvor schon bewilligte Grundstück am Mauritztorplatz freizugeben. Als Alternative bot die Stadt einen weniger zentralen Bauplatz an, den der Musikverein jedoch nur äußerst widerwillig akzeptierte, weil er „insbesondere 62 Vgl. dazu das Protokoll der Vorstandssitzung der Musikverein v. 10.11.1879, in: StdAM, Musikverein Nr. 3. Siehe außerdem das Schreiben des Musikverein an den Magistrat v. 11.11.1879, in: StdAM, Stadtregistratur Fach 56 Nr. 25. 63 Wilhelm Hüffer (1821–1895) war der Sohn des Verlagsbuchhändlers und Oberbürgermeisters Johann Hermann Hüffer (1784–1855). Zur exponierten politischen Bedeutung des Vaters vgl. Johann Hermann Hüffer, Lebenserinnerungen, Briefe und Akten (hg. v. Wilhelm Steffens), Münster 1952. Susanne Kill spricht aus der Perspektive des Frankfurter Bürgertumsprojekts sogar von einer „nahezu idealtypischen bürgerlichen Karriere“ Johann Hermann Hüffers. Vgl. Kill, Bürgertum, 16. 64 Vgl. Friedrich Noack, Das Deutschtum in Rom seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 1, Aalen 1974, 693; Hermann Hüffer, Lebenserinnerungen (hg. v. Ernst Sieper), Berlin 1912, 49f. 65 Vgl. eine Abschrift der Stiftungsurkunde v. 10.04.1893 u. das Statut v. 18.11.1893, beide in: StdAM, Neues Repertorium Nr. 302. Zur Arbeit der Hüffer-Stiftung vgl. StdAM, Stadtregistratur Fach 203 Nr. 18, 19, 21. 66 Vgl. das Protokoll der Vorstandssitzung des Westfälischen Kunstvereins v. 06.03.1870, in: Westfälisches Archivamt, LWL Bestand 802 Nr. 4. 67 Das Folgende kann genauer rekonstruiert werden aus den Beständen in StdAM, Musikverein 3; Stadtregistratur Fach 56 Nr. 25; Stadtverordnetenregistratur Nr. 296.
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die Teilnahme der Damen an den während der Winterszeit Abends abzuhaltenden, zahlreichen Chorproben in Frage gestellt“ sah.68 In der Folgezeit kam es in der Grundstücksfrage trotz verschiedener Alternativvorschläge zu einer wechselseitigen Blockade konfligierender Interessen in Magistrat, Stadtverordnetenversammlung und Musikverein, so dass Wilhelm Hüffer schließlich Ende Mai 1881 seine Schenkung zurück zog.69 Das Tonhallenprojekt war damit zunächst am stadtplanerischen „Prinzip“ in Münster gescheitert, die „öffentlichen Plätze, namentlich an den Thoren und Hauptstraßen unter allen Umständen zu konservieren.“70 Nachdem sich zwischenzeitliche Pläne zum Umbau älterer Gebäude (Dominikanerkirche, Rat- und Stadtweinhaus) nicht realisieren ließen,71 kam erst seit 1911 wieder Schwung in die Saalbaufrage, die nicht nur aus der Sicht des Magistrats als „Lebensfrage […] für das gesamte bürgerliche Leben der Stadt“ galt.72 Unterstützt wurde diese städtische Initiative durch eine vom Musikverein organisierte Subskriptionssammlung zinsloser Darlehen, die rund 10.000 RM ergab.73 Knapp vier Prozent dieser Summe waren echte Schenkungen, ansonsten galt die Bedingung, das Darlehen spätestens nach zwanzig Jahren zurückzuzahlen.74 Obwohl dadurch nur rund siebzehn Prozent der vom Magistrat veranschlagten Gesamtsumme für Grunderwerb, Bau und Stempelgelder gedeckt wurden, ermahnte der Magistrat die Stadtverordnetenversammlung, das Angebot anzunehmen: Wenn auch nur 6000 M schlechthin geschenkt sind, so bedeutet doch auch die zinslose Darlehnshingabe der 94000 M für 20 Jahre bei Annahme einer 5 %igen Verzinsungsmöglichkeit in Wirklichkeit ebenfalls die Schenkung eines Kapitals […]. Das verdient
68 Schreiben des Musikvereins an den Magistrat v. 04.12.1879, in: StdAM, Stadtregistratur Fach 56 Nr. 25. 69 Vgl. das Protokoll der Vorstandssitzung des Musikvereins v. 03.06.1881, in StdAM, Musikverein 3. Siehe auch das Schreiben des Musikvereins an den Magistrat v. 30.07.1881, in: StdAM, Stadtregistratur Fach 56 Nr. 25. 70 Vgl. das Sitzungsprotokoll der gemischten Kommission zur Bauplatzfrage v. 12.03.1880, in: StdAM, Stadtverordnetenregistratur Nr. 296. 71 Zum Plan, die Dominikanerkirche in Münster als Tonhalle umzubauen, vgl. die Vorstandsprotokolle des Musikvereins v. 15.05.1881, 01.02.1882, 07.06.1882 u. 21.06.1882, alle in: StdAM, Musikverein 3. Zum nicht realisierten Umbau des Stadtweinhauses und des Rathauses 1897 vgl. StdAM, Stadtregistratur Fach 50 Nr. 57. 72 Gewünscht war ein Saalbau für Konzerte und „Festlichkeiten jeglicher Art“ mit ca. achthundert Parkettplätzen und ca. 250 Sitzplätzen auf der Galerie. Das Podium sollte Platz für dreihundert Sängerinnen und Sänger sowie für ein sechzigköpfiges Orchester bieten. Vgl. die Vorlage des Magistrats v. 19.06.1911, in: StdAM, Stadtregistratur Fach 50 Nr. 82. Siehe außerdem die Architekten-Ausschreibung in: StdAM, Stadtregistratur Fach 50 Nr.86. Siehe auch die ausführlichere Berichterstattung im Westfälischen Merkur, Nr. 313, 24. Juni 1911; Nr. 323, 30. Juni 1911; Nr. 71, 08. Februar 1912. 73 Eine Liste einiger Subskribenten findet sich in StdAM, Stadtregistratur Fach 50 Nr.82. 74 Vgl. das Schreiben des Musikvereins an den Magistrat v. 29.10.1912, in: StdAM, Stadtregistratur Fach 50 Nr. 82.
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Stephen Pielhoff umso lebhaftere Anerkennung und umso wärmeren Dank, als wir leider eine derartige private Freigebigkeit für öffentliche städtische Zwecke hier im Gegensatz zu vielen anderen Städten nur zu sehr vermissen müssen.75
Obwohl diese ernüchternde Selbsteinschätzung des kulturellen Mäzenatentums realistisch war, unterschätzte sie doch das private Engagement für soziale und kirchliche Zwecke in Münster.76 Wo die katholische Kirche als starke Institution stadtbürgerlicher Kultur in Münster und als mächtiger Partner der städtischen Armenfürsorge dominierte, waren soziale und kirchliche Stiftungen und Schenkungen sehr bedeutend.77 Die relative Schwäche privater mäzenatischer Initiativen für Theater, Oper und Tonhallenbau sowie das häufig dilatorische Verhalten der Stadt in Fragen kommunaler Kulturpolitik hatten andere Gründe. Sicherlich war Münsters Wirtschaftsbürgertum nicht so stark und bei weitem nicht so reich wie das größerer Industrie- und Handelsstädte. Zudem fehlten unbebaute Flächen oder preiswerte Grundstücke in der alten Innenstadt, ganz zu schweigen von einer geplanten Stadterweiterungspolitik. Entscheidender aber war die Segmentierung der bürgerlichen Elite Münsters durch konfessionelle Konflikte, unterschiedliche Herkunft und konfligierende Loyalitäten. Auf der einen Seite stand die zugewanderte protestantische Beamtenelite der staatlichen Provinzialverwaltung, die ihrerseits eine ambitionierte Politik der Kultur- und Wissenschaftsförderung für „ihre“ Provinzialhauptstadt verfolgte. Auf der anderen Seite stand Münsters alteingesessenes und der katholischen Kirche treues Honoratiorenbürgertum, das in der Zeit des Kulturkampfes erhebliche antipreußische und antiprotestantische Ressentiments entwickelt hatte. Trotz des gemeinsamen Interesses an Musik, Theater und Kunst wurde die mäzenatische Dynamik durch diesen innerstädtischen Elitenkonflikt gehemmt, weil die Kontrolle über kulturpolitische Investitionen und Folgekosten nicht in einer Hand lag. Angesichts der kulturpolitischen Dominanz der Provinzialverwaltung zeigte Münsters Bürgertum zudem nur wenig Neigung, das Prestige des preußischen Staates (bzw. seiner exponiertesten Vertreter vor Ort) als Mäzen auf eigene Kosten zu fördern. Anders als in Dortmund fehlte mithin das Elitenmonopol auf das symbolische Kapital mäzenatischer Kulturförderung. Letztlich kam es in den meisten deutschen Großstädten erst unter den politisch veränderten Bedingungen der Weimarer Republik endgültig zu einer weitgehenden Kommunalisierung des Theater-, Orchester- und Opernbe-
75 Antrag des Magistrats der Stadt Münster an die Stadtverordnetenversammlung v. 29.09.1913, in: StdAM, Stadtregistratur Fach 50 Nr. 82. 76 Vgl. für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Susanne Kills Einschätzung in Kill, Bürgertum, 149. 77 Vgl. dazu Thomas Küster, Alte Armut und neues Bürgertum. Öffentliche und private Fürsorge in Münster von der Ära Fürstenberg bis zum Ersten Weltkrieg (1756–1914), Münster 1995.
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triebs.78 Das folgende Kapitel untersucht eine Ausnahme von diesem urbanisierungshistorischen Trend. Denn in einer der jüngsten Großstädte der „alten“ Bundesrepublik, der 1929 aus der Fusion Elberfelds, Barmens und anderer Gemeinden hervorgegangenen Stadt Wuppertal, wurde die Organisation des öffentlichen Konzertlebens erst Mitte der 1990er Jahre kommunalisiert. Zuvor hatte diese Aufgabe im Wuppertal seit dem 19. Jahrhundert in den Händen privater Konzertgesellschaften gelegen. Diese Kontinuität bürgerlichen Musikmäzenatentums resultierte nicht zuletzt aus der Tatsache, dass die administrative Vereinigung von Barmen und Elberfeld bei der Bevölkerung besonders ausgeprägte und langlebige Stadtteil-Identitäten provozierte. Ein gutes Beispiel für die Persistenz der kulturellen Selbstverortung als Barmer oder Elberfelder Bürger ist, dass der Chor der Wuppertaler Konzertgesellschaft erst fünfzig Jahre nach der Städtefusion aus dem Zusammenschluss des Elberfelder Gesangvereins (gegr. 1811) und des Städtischen Singvereins Barmen (gegr. 1817) hervorging. Eine eigentliche Paradoxie der verspäteten Kommunalisierung des Konzertwesens in Wuppertal war jedoch, dass die mäzenatische Bürgertradition der Konzertgesellschaft in einer Zeit zerschlagen wurde, in der das Lob der „Zivilgesellschaft“ gerade wieder entdeckt wurde. 3. ZIVILGESELLSCHAFT ZWISCHEN VERLUST UND ERFOLG: PRIVATE MUSIKFÖRDERUNG IN WUPPERTAL VON DEN 1980ER JAHREN BIS 200679 In Deutschland ist der Begriff der Zivilgesellschaft seit gut anderthalb Jahrzehnten weitgehend positiv konnotiert. So lobte Jürgen Habermas Anfang der neunziger Jahre, dass die „Zivilgesellschaft“ als Bereich an der äußeren Peripherie des politischen Systems gegenüber dem politischen Kernbereich (aus 78 1918 / 19 konstituierte sich das Städtische Orchester in Münster, das unter der Leitung von Generalmusikdirektor Fritz Volbach in der 1920 erbauten Stadthalle konzertierte. Chorkonzerte des Musikvereins oder große Operinszenierungen konnten zudem in der 1926 gebauten Halle Münsterland aufgeführt werden. Vgl. Brockhoff, Musik, 601; Wolfgang Sandberger, Musikleben vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart 1918– 1993, in: Hortschansky u. Galen (Hg.), Musik, 212, 214, 216f., 220. Auch in Dortmund wurde das seit Ende der 1890er Jahren städtisch subventionierte Orchester Georg Hüttners erst 1919 endgültig als Städtisches Orchester geführt und erhielt in den Jahren politischer Stabilität zwischen 1924 und 1928 jährlich steigende Zuschüsse von rund 105.000 Mark bis rund 328.500 Mark. Vgl. die Haushaltspläne der Stadt Dortmund für diesen Zeitraum. Vgl. außerdem Stephen Pielhoff, Bürgerliches Mäzenatentum und kommunale Kulturpolitik in Dortmund und Münster 1871–1933, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 28 (2003), 37–79, hier 52ff. 79 Für ihre Gesprächsbereitschaft danke ich Wolfgang Fehl, Annegret Piwinger-Rosendahl und Till Söling.
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Verwaltung, Regierung, Gerichtswesen, Parlament etc.) „den Vorzug größerer Sensibilität für die Wahrnehmung und Identifizierung neuer Problemlagen“ besitze.80 Zur gleichen Zeit sprach Ralf Dahrendorf von der „Utopie der Weltbürgergesellschaft“ und pries „Bürgerstolz“ und „Zivilcourage“ als deren wichtigste Tugenden.81 Vor allem die privaten Stiftungen galten in diesem liberalen Plädoyer als Katalysatoren der postulierten „Bürgergesellschaft“, weil sie dem „Bürgersinn“ Form geben, die (lokale) „Vielfalt“ der Anliegen verbürgen und in relativer „Autonomie“ von (staatlichen) Machtzentren agieren könnten. Spätestens seit der Wende zum 21. Jahrhundert wird „Zivilgesellschaft“ zunehmend inflationär und breitenwirksam als politisches Schlagwort gebraucht. Folglich gehören Appelle an Tugenden wie „Gemeinsinn“ und „Solidarität“ in den letzten Jahren zur politischen Rhetorik deutscher Großstadtpolitiker, gewissermaßen als zweckoptimistisches Äquivalent zu den frustrierenden Forderungen nach wirksamen Gemeindefinanzreformen.82 Mit anderen Worten: Den Gemeinsinn und die Autonomie der lokalen Zivilgesellschaft vor Ort zu beschwören, geht vielfach mit dem Eingeständnis der Kommunen einher, finanziell zunehmend hilflos und fremdbestimmt zu sein. Dies gilt angesichts rückläufiger Einwohner- und Beschäftigtenzahlen und einer Strukturkrise des städtischen Haushalts, die die Übernahme neuer freiwilliger Leistungen verbietet, in besonderem Maße für Wuppertal.83 Für die lokale Zivilgesellschaft ist diese Situation finanzieller Restriktion ambivalent. Auf der einen Seite leiden kleine, finanziell meist unterversorgte Privatinitiativen, die selbst als Bittsteller auf dem Markt der Subventionen um Zuschüsse (auch der Kommune) kämpfen. Auf der anderen Seite können finanziell unabhängigere Akteure als starke „Anstifter“ die Kommunalpolitik dynamisieren und die Stadt z. B. durch attraktive Schenkungen bewegen, kommunalpolitische Prioritäten zu setzen.84 Ein gutes Beispiel einer solchen 80 Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt / Main 1998, 430f., 443–460, hier 460. 81 Vgl. Ralf Dahrendorf, Das Zerbrechen der Ligaturen und die Utopie der Weltbürgergesellschaft, in: Ulrich Beck u. Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt / Main 1994, 421–436, hier 426ff. 82 Vgl. etwa Petra Roth, Gemeindefinanzreform gescheitert – was nun?, in: Hermann Hill (Hg.), Kommunale Selbstverwaltung – Zukunfts- oder Auslaufmodell?, Berlin 2005, 71ff. 83 Vgl. die Rede des Wuppertaler Stadtkämmerers Johannes Slawig zur Vorstellung des Haushaltsplanentwurfs 2006 / 07 im Wuppertaler Stadtrat am 12.09.2005, in: www. wuppertal.de/rathaus_behoerden/extern.cfm?link=/rathaus_behoerden/pdf_archiv/20050912_Haus-halt_2006_2007_Script_4_INet1.pdf (Zugriff: 11.12.2006). 84 Zum Begriff des Anstiftens aus gabentheoretischer Sicht vgl. Herfried Münkler, Anstifter, Unruhestifter. Wie Stiftungen Veränderungen bewegen, in: Merkur 61 (2007), 200– 209; Stephen Pielhoff, Stifter und Anstifter. Vermittler zwischen „Zivilgesellschaft“, Kommune und Staat im Kaiserreich, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), 10–45.
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„Anstiftung“ gibt die Dr.-Werner-Jackstädt-Stiftung, die im Herbst 2002 durch den Wuppertaler Unternehmer Werner Jackstädt gegründet wurde und die Kulturförderung in Wuppertal als eine Säule ihres Stiftungsprofils nennt.85 2003 sagte die Stiftung eine Schenkung von fünf Millionen Euro für die sanierungsbedürftigen Gebäude der Oper und des Schauspielhauses zu. Inzwischen saniert die Stadt beide Häuser bis 2010 mit einem Kostenaufwand von rund zwanzig Millionen Euro, sekundiert durch eine professionelle Fundraising-Kampagne,86 die private Kleinspenden für eine neue Bestuhlung des Opernhauses einwirbt. Stiftungen und Schenkungen, die groß genug sind, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und in der Folge sowohl kommunale Leistungen als auch nachahmendes Mäzenatentum im kleinen Stil anzustoßen, werden von der Öffentlichkeit gern als Beweis zivilgesellschaftlicher Leistungsfähigkeit wahrgenommen. Als „Leuchttürme“ geben sie die gewünschte Orientierung und beglaubigen die Chancen „bürgerschaftlichen Engagements“. Im Gegensatz dazu finden die Vielfalt lokaler Zivilgesellschaften und die Probleme ihrer Akteure im Kampf um Anerkennung und finanzielle Unterstützung häufig wenig Beachtung. Diese Ambivalenz zivilgesellschaftlichen Engagements zwischen Gestaltungserfolgen und Anerkennungskonflikten soll im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele der privaten Musikförderung in Wuppertal dargestellt werden. 3.1. Die Verlustgeschichte der Konzertgesellschaft: zur Kommunalisierung der Konzertorganisation, 1986–1996 Die Geschichte der Konzertgesellschaft in Wuppertal reicht bis in das frühe 19. Jahrhundert zurück, als sich Gesangsvereine in Elberfeld (1811) und Barmen (1817) konstituierten.87 Im Kaiserreich kooperierten diese Chöre eng mit den 1861 in beiden Städten des Wuppertals gegründeten Konzertgesellschaften, die Abonnementkonzerte für ihre bürgerlichen Mitglieder organisierten. Indem sie die soziale Exklusivität bürgerlicher Konzertkultur sicherten, erfüllten diese Konzertgesellschaften als Organisationen dieselbe Funktion wie die Musikvereine in Dortmund, Münster und vielen anderen Städten des Kaiserreichs.
85 Vgl. http://www.jackstaedt-stiftung.de (Zugriff: 13.12.2006). 86 Vgl. die Spendenkampagne „Werden Sie Kulturträger!“, die u.a. Anstecknadeln, Urkunden und, je nach Spendenhöhe, mehr oder weniger exponierte Namensnennung als Gegengabe für Spenden verspricht. Vgl. http://www.wuppertaler-buehnen.de/home.php (Zugriff: 09.05.2007). 87 Vgl. dazu Joachim Dorfmüller, Wuppertaler Musikgeschichte von den Anfängen im 8. Jahrhundert bis 1995, Wuppertal 1995, 20.
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Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann Wuppertals Bürgertum bereits Ende Juli 1945, die Konzertgesellschaft in enger Absprache mit den Vertretern der Stadt zu reorganisieren.88 Als erstes Ergebnis erhielt die Konzertgesellschaft das „Recht, in der alten Weise die Chor-, Sinfonie- und Kamerkonzerte [sic!] zu veranstalten und in Verbindung mit der Wuppertaler Konzertdirektion die Meisterkonzerte durchzuführen.“89 Dafür stellte die Stadt die Räume und finanzierte das städtische Orchester. Die Mitglieder der Konzertgesellschaft sollten Freikarten für Vorträge und Sonderkonzerte, vor allem aber das Vorrecht erhalten, ihre Abonnementsplätze vor dem öffentlichen Verkauf zu wählen. Die Fragen der Konzertfinanzierung, der Orchesterbesetzung und des städtischen Einflusses wurden hingegen viel kontroverser diskutiert.90 Auch die Zusammenarbeit zwischen Konzertgesellschaft und der Konzertdirektion Wylach verlief nicht ohne Konflikte über Finanzierungs- und Lizenzfragen.91 Nachdem die Stadt ihren Zuschuss für die Konzertsaison 1948 / 49 auf 15.000 DM festgesetzt hatte, befürchtete der Vorstand eine Unterfinanzierung und diskutierte im März 1949 erstmals die Idee einer privaten Spendensammlung. Die Ablehnung einer solchen Einnahmequelle formulierte zugleich das grundlegende Selbstverständnis und die Anerkennungsbedürfnisse des Vorstands: Die Aufgabe des Vorstandes der Konzertgesellschaft liege in erster Linie auf künstlerischem Gebiet und man müsse den Eindruck haben, dass die ehrenamtliche und umfangreiche Arbeit des Vorstandes der Konzertgesellschaft nicht in der rechten Weise gewürdigt würde. […] Es ist deshalb erforderlich, auf breiter Basis für die Konzertgesellschaft zu werben und über ihren Sinn und Zweck Aufklärung zu geben.92
Vierzig Jahre später – im November 1989 – setzte der Vorstand dagegen weitaus größere Hoffnungen in eine „breite Werbung um Sponsoren“.93 Geblieben war jedoch das traditionelle Selbstverständnis der Vorstandsmitglieder
88 Vgl. die Berichte zweier Besprechungen v. 30.07. 1945 u. 03.08.1945, beide in: StdAW, NDS 274–106. 89 Protokoll der Vorstandssitzung v. 24.10.1945, in: StdAW, NDS 274–106. 90 Vgl. die Aktennotiz zur Sitzung v. 23.02.1946 und die Protokolle der Vorstandssitzungen v. 27.12.1946 u. 13.03.1947, in: StdAW, NDS 274–106. Vgl. außerdem den Vertrag zwischen Stadt und KGW v. 21.05.1947. 91 Vgl. den Bericht zur Sitzung des engeren Vorstandes v. 25.05.1946 und den Vertrag zwischen KGW und Wylach v. 09.01.1948, in: StdAW, NDS 274–106. 92 Bericht zur Vorstandssitzung v. 26.03.1949, in: StdAW, NDS 274–106. 93 Vgl. das Protokoll des Vorstandstreffens v. 14.11.1989, in: StdAW, NDS 274–77. Tatsächlich gehörte die Sponsorenwerbung in den späten Achtzigern zur Routine der Konzertgesellschaft. So waren z. B. die Druck- und Versandkosten der Rundschreiben durch Sponsorengelder finanziert. Vgl. Anlage 5 der Einladung zur Vorstandssitzung v. 18.09.1989, in: StdAW, NDS 274–76. Die Konzertreihe „Lied und Literatur“ startete 1987 als Kooperation zwischen Konzertgesellschaft und der Wuppertaler Wicküler Brauerei. Vgl. Dorfmüller, Wuppertaler Musikgeschichte, 117.
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als Musikliebhaber und -kenner. „Der Vorstand“, so die Kernformel der eigenen Unzufriedenheit, befasse sich eigentlich immer nur mit finanziellen Problemen, gehe somit völlig der Möglichkeit verlustig, eigene Vorstellungen zur Programmgestaltung zu entwickeln bzw. auf von GMD Dr. Gülke entwickelte Konzepte angemessen zu reagieren.94
Peter Gülke war im Dezember 1985 als Nachfolger Hanns-Martin Schneidts zum städtischen Generalmusikdirektor gewählt worden.95 Schneidt war bei der Konzertgesellschaft nicht zuletzt deshalb sehr beliebt gewesen, weil er die Kosten seiner musikalischen Programmgestaltung im Auge hatte und bei finanziellen Problemen Kompromissbereitschaft zeigte. Zudem leitete er den Chor der Konzertgesellschaft persönlich – eine Aufgabe, die sein Nachfolger schon bald nach seiner Berufung delegierte. Gülke engagierte sich vor allem für die Aufführung zeitgenössischer Musik und für Stücke unbekannter Komponisten, was gleichzeitig bedeutete, dass er mit seiner Programmgestaltung weniger Rücksicht auf den konservativen Geschmack des klassischen Konzertpublikums und die Konzertkosten nahm. So entwickelte sich mit der Zeit ein wechselseitiger Anerkennungskonflikt zwischen Generalmusikdirektor, Musikpublikum und Konzertgesellschaft, der Anfang der neunziger Jahre eskalierte.96 Erschwert wurde die Situation, nachdem die Konzertgesellschaft im November 1990 erklärte, Gülkes programmatisches Lieblingskind, die Reihe der Werkstattkonzerte, aus Kostengründen streichen zu müssen.97 Tief gekränkt beklagte der Generalmusikdirektor eine „Geldmentalität“ der westdeutschen Gesellschaft, mangelnden musikalischen Patriotismus des Wuppertaler Bürgertums und fehlendes Engagement der Konzertgesellschaft bei der Einwerbung von Sponsoren.98 Niemand, so Gülkes frustrierte Wahrnehmung, sei in der Stadt bereit, mit ihm „gemeinsam Verantwortung für das Konzertleben“ zu übernehmen.99 Umgekehrt beklagten die Mitglieder und der Vorstand der Konzertgesellschaft die mangelnde Anerkennung ihres finanziellen und ehrenamtlichen Engagements. Entsprechend heftig widersprach der Erste Vorsitzende, Klaus Fleischhauer, Gülkes Einschätzung, die Konzertgesellschaft behandle das städtische Sinfonieorchester wie ein „Mie94 Protokoll des Vorstandstreffens v. 14.11.1989, in: StdAW, NDS 274–77. 95 Prof. Hanns-Martin Schneidt, geb. 1930 in Kitzingen, leitete das Wuppertaler Sinfonieorchester zwischen 1963 und 1985. 1980 wurde er für seine Arbeit mit dem städtischen Von-der-Heydt-Preis ausgezeichnet. Dr. Peter Gülke, geb. 1934 in Weimar, arbeitete von 1986–1996 als Generalmusikdirektor in Wuppertal. 96 Eine Auswahl von Protestbriefen und Abonnementskündigungen findet sich in StdAW, NDS 274–91. 97 Vgl. dazu das Schreiben des Vorstandes der Konzertgesellschaft an Gülke v. 13.11.1990, in: StdAW, NDS 274–77. 98 Vgl. den Bericht über die Mitgliederversammlung der Konzertgesellschaft v. 26.11.1990, in: StdAW, NDS 274–89. 99 Vgl. einen Brief Gülkes an Heinz-Theodor Jüchter v.14.01.1991, in: StdAW, NDS 274– 76.
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tobjekt“, also ohne emotionale Bindung.100 Als „private“ Organisation, so das liberale Kredo der Konzertgesellschaft, handle man vielmehr „flexibler“ und zeige „größere Arbeitsbereitschaft“ als jeder städtische Betrieb.101 Schwerer als diese gestörte Kommunikation wog jedoch die Finanzkrise der Konzertgesellschaft. So wies der Jahresabschluss der Konzertgesellschaft zum Juni 1991 bereits einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag von rund 44.750 DM aus,102 nachdem das Geschäftsjahr 1989 / 90 bereits einen Fehlbetrag von ca. 57.800 DM verzeichnet hatte.103 In der Konzertsaison 1993 / 94 machte die Konzertgesellschaft einen Verlust von rund 115.450 DM104 und der Finanzbericht für 1994 / 95 sprach von einem tatsächlichen Verlust von knapp 206.590 DM.105 Angesichts dieser Entwicklung stand das bürgergesellschaftliche Kredo, dass private Initiativen nicht nur engagierter und flexibler, sondern auch effektiver und sparsamer arbeiteten, auf dem Prüfstand. Hinzu kam, dass die Stadt, vertreten durch ihren Kulturdezernenten Heinz-Theodor Jüchter, seit Anfang der 1990er Jahre überlegte, das Musikleben in Wuppertal zu reorganisieren und die Konzertorganisation des städtischen Sinfonieorchesters zu kommunalisieren. Am 1. Juli 1991 hatte der Rat der Stadt Wuppertal beschlossen, die denkmalgeschützte Stadthalle in Elberfeld zu modernisieren und zu restaurieren.106 Damit fehlte der Konzertgesellschaft für vier Jahre der zentrale Konzertort. In dieser absehbar schwierigen Situation hatte Jüchter zuvor schon die „Absicht der Stadt“ erklärt, „zukünftig ein professionell besetztes Orchesterbüro einzurichten“. Zugleich stellte er das Selbstverständnis der Konzertgesellschaft grundsätzlich in Frage: „Wenn die Konzertgesellschaft auch in Zukunft nur ‚Veranstalterin‘, also Konzertagentur, sein soll, dann stellt sich sehr wohl die Frage, ob ein orchester- oder stadthallennahes Veranstaltungsmanagement nicht effektiver arbeiten könnte.“107 Stattdessen propagierte Jüchter eine vage Zukunft der Konzertgesellschaft als „Bürgergesellschaft für Musik“, die Sponsoren werben und „neues Publikum erschließen“
100 Vgl. den Brief des Ersten Vorsitzenden Klaus Fleischhauer an Gülke v. 27.08.1990, in: StdAW, NDS 274–76. 101 Ebd. 102 Vgl. den Jahresabschluss zum 30.06.1991, in: Privatbesitz Piwinger. 103 Vgl. dazu das Schreiben des Vorstandes der Konzertgesellschaft an Gülke v. 13.11.1990, in: StdAW, NDS 274–77. 104 Vgl. den Bericht des Schatzmeisters der Konzertgesellschaft für die Saison 1993 / 94 v. 17.11.1994, in: StdAW, NDS 274-91. 105 Vgl. den Finanzbericht für 1994 / 95 v. 23.11.1995, in: StdAW, NDS 274–91 106 Vgl. dazu aus architektur- und kunsthistorischer Sicht Anke Wieck, Zur Geschichte der Elberfelder Stadthalle, in: Joachim Frielingsdorf u. Jost Hartwig (Hg.), Die Stadthalle. Ein Wuppertaler Monumentalbauwerk (1895–1995), Wuppertal 1995, 12–73. 107 Vgl. dazu Jüchters Thesenpapier Die Zukunft des Wuppertaler Musiklebens (Dezember 1990), 3f., in: StdAW, NDS 274–76, 6.
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sollte.108 In den Augen der Konzertgesellschaft lag eine doppelte Provokation in diesen Überlegungen Jüchters: Zum einen gehörte es zur Logik der Professionalisierung, das Engagement von Laien als weniger sachgemäß zu qualifizieren; zum anderen versuchte Jüchter, das Schlagwort der „Bürgergesellschaft“ zu besetzen. Beides wurde als Affront wahrgenommen, gehörte es doch zum Anspruch und zum Selbstverständnis der Verantwortlichen in der Konzertgesellschaft, als Musikliebhaber und -kenner erstklassige Konzerte organisieren zu können und zugleich als eigentliche Repräsentanten einer liberalen „Bürgergesellschaft“ engagierter und zugleich sparsamer zu arbeiten als ein städtisches Orchesterbüro.109 In den Folgejahren versteiften sich beide Parteien auf ihre Positionen: Die Stadt kündigte 1993 ihren Vertrag mit der Konzertgesellschaft und favorisierte ein „professionelles Konzertmanagement“ und Stadthallen-Marketing.110 Die Konzertgesellschaft dagegen, geschwächt durch die finanzielle Krise und den gravierenden Besucherschwund in der Zeit des Stadthallenumbaus, scheute sich lange, den Kampf um Anerkennung auch in der Öffentlichkeit aufzunehmen. Erst im Frühling 1995 ging man mit einigen Presseartikeln und einer groß angelegten Unterschriftenaktion in die Offensive, zu spät, um den politischen Entscheidungsprozess entscheidend zu beeinflussen.111 Am 3. Juli 1995 entschied der Wuppertaler Stadtrat, einen Stadtbetrieb Orchester und Konzerte zu gründen und diesem die Organisation der Konzerte des städtischen Sinfonieorchesters Wuppertal ab der Spielzeit 1996 / 97 zu übertragen.112 Die Konzertgesellschaft entschied sich daraufhin, als freier Veranstalter ein ambitioniertes Konzertprogramm auf der Basis eines Kapitals von 180.000 DM zu organisieren.113 Sie musste jedoch bereits im November 1996 aufgrund des „absolut unbefriedigenden Konzertbesuchs“ und eines kalkulierten Defizits von nahezu 250.000 DM erneut um Spenden bitten.114 Die vertraglichen Beziehungen zur Stadt beschränkten sich auf die Veranstaltung zweier Konzerte mit dem Chor der Konzertgesellschaft und auf eine Vergütung der Chordirigentin. Am 14. Dezember 2004 schließlich genehmigte die Mitgliederversammlung die Umwandlung in einen klassischen Förderverein für das
108 Ebd. 109 Vgl. dazu Klaus Fleischhauer, Warum gibt es in Wuppertal eine Konzertgesellschaft? Sinn und Zweck des privaten Engagements im Musikleben einer Stadt, in: Bergischer Almanach 1991, 83f. 110 Vgl. das Schreiben Heinz Theodor Jüchters an Klaus Fleischhauer v. 28.06.1994, in: StdAW, NDS 274–74. 111 Vgl. Westdeutsche Zeitung, Nr. 105, 6. Mai 1995. 112 Vgl. dazu StdAW, NDS 274–75. 113 Vgl. die Rundschreiben an die Mitglieder der Konzertgesellschaft im Oktober und November 1995, in: StdAW, NDS 274-96. 114 Vgl. das Protokoll der Vorstandssitzung v. 15.11.1996, in: StdAW, NDS 274–74.
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Sinfonieorchester Wuppertal.115 Mit dieser institutionellen Anbindung kollektiven Mäzenatentums verlor die Konzertgesellschaft endgültig ihren seit 1861 entwickelten Sonderstatus als ungewöhnlich selbständige Institution der Wuppertaler Musikförderung. Ein Resümee dieser Verlustgeschichte zeigt generell, dass das Gelingen zivilgesellschaftlicher Initiativen nicht zuletzt von der Konfliktbereitschaft und -fähigkeit ihrer Akteure abhängt. Lokale Zivilgesellschaften sind keine egalitären Schonräume sozialer Harmonie, sondern Konflikträume, in denen die zivilgesellschaftlichen Akteure um die normative Anerkennung ihrer Identität werben und um die Verteilung finanzieller Ressourcen kämpfen müssen.116 Solche Distributionskonflikte sind letztlich immer auch Kämpfe um Anerkennung, also Auseinandersetzungen um die angemessene Bewertung der sozialen und kulturellen Beiträge zivilgesellschaftlicher Akteure.117 Wird diese Wertschätzung entzogen oder gar nicht erst gewährt, drohen Anerkennungsdefizite bis hin zum Geltungsverlust. Als die Wuppertaler Konzertgesellschaft 1986 ihr 125-jähriges Jubiläum aufwendig feierte und ihr Selbstbewusstsein als Organisatorin klassischer Konzerte in der Veröffentlichung ihrer Autogrammsammlung weltberühmter Plattenstars widerspiegelte, war sie denkbar schlecht darauf vorbereitet, dass ihr die traditionelle Anerkennung von Seiten der Stadt – genauer gesagt, von Seiten ihrer wichtigsten Ansprechpartner, dem Generalmusikdirektor und dem Kulturdezernenten – schon bald schrittweise aufgekündigt werden sollte.118 Die Identität von Konzertgesellschaft, Honoratiorenbürgertum und Stadt, die vom Kaiserreich bis in die 1960er Jahre Stabilität gesichert hatte, ging nun angesichts der finanziellen Krisen von Stadt und Konzertgesellschaft und des Schwundes des klassischen Konzertpublikums endgültig verloren. In dieser Legitimationskrise scheute sich der Vorstand der Konzertgesellschaft lange Zeit, den Kampf um Anerkennung aufzunehmen. Am Ende stand der Verlust ihrer zentralen Position im Wuppertaler Musikleben. Wo der Kampf um Anerkennung jedoch angenommen wurde, schrieb die lokale Zivilgesellschaft im selben Zeitraum durchaus Erfolgsgeschichten. Die Geschichte des Trägervereins Immanuelskirche ist ein gutes Beispiel dafür. 115 Vgl. die Satzung der Konzertgesellschaft, in: http://www.konzertgesellschaft-wuppertal. de/verein_satzung.html (Zugriff: 15.12.2006). 116 Vgl. Paul Nolte, Zivilgesellschaft und soziale Ungleichheit. Konzeptionelle Überlegungen zur deutschen Gesellschaftsgeschichte, in: Jessen u.a. (Hg.), Zivilgesellschaft, 305– 326; Albert O. Hirschman, Wie viel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft?, in: Leviathan 22 (1994), 293–304. 117 Vgl. Axel Honneth, Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser, in: Nancy Fraser u. Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt / Main 2003, 129–224, hier 177–184, 202. 118 Vgl. Festschrift zum 125-jährigen Jubiläum der Konzertgesellschaft Wuppertal und zum 175-jährigen Jubiläum des Chores der Konzertgesellschaft Wuppertal, Wuppertal 1986, 54–69.
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3.2. Musik braucht einen Raum: der Trägerverein Immanuelskirche, 1981–2006 Die Geschichte der Wuppertaler Immanuelskirche seit 1945 ist kaum von der der Kantorei Barmen-Gemarke zu trennen. Dieser Chor war 1946 durch den neuen Kirchenmusiker der evangelisch-reformierten Gemeinde Gemarke, Helmut Kahlhöfer, gegründet worden119 und hatte sich in den folgenden drei Jahrzehnten überregionales Renommee als Konzertchor und eine Sonderstellung als Publikumsmagnet in Wuppertal erworben. Dennoch lief die in ihre Gemeinde eingebundene Großstadtkantorei Ende der 1970er Jahre Gefahr, ihre Kirche zu verlieren. Spätestens seit 1978 hatte der Kirchenkreis Barmen diskutiert, wie man die sechs – teils reformierten, teils lutherischen – Gemeinden Oberbarmens reorganisieren könnte, um den Rückgang der Gemeindezahlen und des Kirchenbesuchs finanziell aufzufangen.120 Das Opfer dieser geplanten Neuordnung sollte die innenstadtnah gelegene Immanuelskirche der evangelisch-reformierten Gemeinde Gemarke werden. Anfang September 1981 signalisierte der Kreissynodalvorstand des Kirchenkreises Barmen, dass ein Verkauf oder der Abriss der Immanuelskirche drohe, falls die AltGemeinde kein neues, wirtschaftlich vertretbares Nutzungskonzept für die Zukunft der Kirche fände. Das oberste Gremium des Kirchenkreises Barmen hatte in seinen Verhandlungen mit den übrigen Gemeinden keine eigene finanzielle Lösung gefunden und appellierte stattdessen an die zivilgesellschaftliche Initiative derjenigen, „die selber an der Immanuelskirche interessiert sind, die Möglichkeiten dort kennen und vielleicht auch ihre persönlichen Beziehungen dafür einzusetzen bereit sind.“121 Tatsächlich fühlten sich in erster Linie Mitglieder und Anhänger der Kantorei angesprochen, darunter auch Wolfgang Fehl, den Kahlhöfer schon 1978 aus Sorge um die Existenz der Kantorei gebeten hatte, sich als deren Interes119 Helmut Kahlhöfer, geb. 1914 in Barmen, gest. 1988 in Wuppertal, studierte in Köln und Salzburg Musik. Zum 1. Dezember 1945 wurde er Organist und Kantor an der Immanuelskirche. Vgl. Joachim Dorfmüller u. Helmut Kahlhöfer, in: Wuppertaler Biographien 17, Wuppertal 1993, 104–112; Festschrift 50 Jahre Kantorei Barmen-Gemarke 1946– 1996, Wuppertal 1996, 18–21. Die Immanuelskirche im heutigen Stadtteil Oberbarmen wurde zwischen 1867 und 1869 als Kirche der evangelisch-reformierten Gemeinde Gemarke erbaut. Vgl. Michael Metschies, Neue Aufgaben für eine „überflüssige“ Kirche. Das Beispiel der Immanuelskirche in Wuppertal-Oberbarmen, in: Rheinische Heimatpflege. Mitteilungen des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Landschaftsschutz N.F. 21 (1984), 244–250. 120 Vgl. zum Folgenden Metschies, Neue Aufgaben, 246ff.; Hans-Joachim de Bruyn-Ouboter, Das Wuppertaler Kulturzentrum Immanuelskirche – Doch noch eine Erfolgsgeschichte, in: Romerike Berge 57.2 (2007), 41–46. 121 Aus einem Schreiben des Superintendenten Pilder v. 01.09.1981, zit. n. Wolfgang Fehl, Gedanken über die Zukunft der Immanuelskirche Wuppertal-Oberbarmen, Manuskript eines Referats v. 26.11.1981, in: Privatbesitz Fehl.
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senvertreter in das Gemarker Presbyterium wählen zu lassen.122 Am 26. November 1981 präsentierte Fehl bei einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung den gemeinsamen Vorschlag, die Immanuelskirche als kulturelles Zentrum im Wuppertaler Osten für Konzerte, Ausstellungen und andere Veranstaltungen umzubauen. Dieses Konzept stieß in der anschließenden Diskussion auf breite – wenn auch städtischerseits nur auf unverbindliche – Zustimmung. Namentlich Oberkirchenrat Hans-Ulrich Stephan als Vertreter der rheinischen Kirchenleitung in Düsseldorf befürwortete den vorgeschlagenen Kirchenumbau und empfahl, einen Förderkreis aus Privatpersonen und öffentlichen Institutionen zu gründen.123 Zudem hob er ausdrücklich die Idee hervor, eine Ausstellung zum fünfzigjährigen Jubiläum der Barmer Erklärung von 1934 in der Immanuelskirche zu organisieren.124 Stephan war als früherer Superintendent von Barmen in der rheinischen Kirchenleitung für die Entwicklung im Oberbarmer Raum zuständig und wurde in den Folgejahren zu Fehls wichtigstem Ansprechpartner, da der lutherisch dominierte Kreissynodalvorstand des Kirchenkreises Barmen große Bedenken gegen die konzeptionelle Kirchenumwandlung hegte. Zudem gab es Widerstände der benachbarten Oberbarmer Gemeinden, die sich wohl nicht nur aus finanziellen Eigeninteressen, sondern auch aus der in Wuppertal besonders virulenten innerprotestantischen Konkurrenz zwischen Lutheranern und Reformierten speisten. Angesichts dieser Bedenken und Differenzen auf lokaler Ebene konzentrierte sich Fehl in den Jahren 1982 / 83 auf den Kontakt zur Kirchenleitung in Düsseldorf. Deren Aufmerksamkeit für den Umbau der Immanuelskirche wurde vor allem durch die Möglichkeit geweckt, einen freien kirchlichen Raum in der Nähe Barmens für die geplante Ausstellung „Barmen 1934–1984“ zu finden. In der Folge wurden Ausstellungs- und Umbaukonzept für die Immanuelskirche abgestimmt und letztlich durch die Landeskirche und den Kirchenkreis Barmen beschlossen. Zusätzlich entschied die Leitung der Landeskirche Anfang 1983, Mittel in einer Höhe von rund 380.000 DM für die Herrichtung der Immanuelskirche als Raum für die geplante Ausstellung bereitzustellen. Fehl überzeugte zudem die Alt-Gemeinde Gemarke, ihrerseits rund 470.000 DM für den Umbau einzusetzen, anstatt den ansonsten fälligen Abriss mit ähnlich hohen Kosten zu finanzieren. Mit rund 40.000 DM beteiligte sich der Kirchenkreis, das Rheinische Amt für Denkmalpflege bewilligte 60.000 DM. Der darüber hinaus noch fehlende Restbetrag von ca. 240.000 DM musste mäzenatisch finanziert werden, wobei der Trägerverein vor allem durch die Wuppertaler Stadtsparkasse mit 190.000 DM sowie durch Erich Mittelsten Scheid (Vorwerk & Co.) 122 Wolfgang Fehl, geb. 1937 in Wuppertal, ist Mitglied der Kantorei Barmen-Gemarke seit 1957. 123 Vgl. das Protokoll dieser Diskussionsveranstaltung v. 26.11.1981, in: Privatbesitz Fehl. 124 Zur Barmer Erklärung vgl. einführend Klaus Scholder, Die Kirche und das Dritte Reich, Bd. 2. Das Jahr der Ernüchterung 1934. Barmen und Rom, Berlin 1985, 172ff.
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mit ca. 20.000 DM und seine guten Kontakte zur Wuppertaler Wirtschaft unterstützt wurden.125 Auf der Basis dieser Mischfinanzierung konnte der Trägerverein Immanuelskirche am 26. Oktober 1983 gegründet werden und die Immanuelskirche zum 1. Januar 1984 übernehmen. Trotz kunsthistorischer Bedenken im landeskirchlichen Bauausschuss wurde der Umbau für knapp 1,2 Millionen DM in kurzer Zeit bewältigt, so dass die landeskirchliche Ausstellung zur Barmer Erklärung pünktlich zum 30. Mai 1984 eröffnet wurde. Damit konnte man zugleich auch die Immanuelskirche selbst als Präzedenzfall einer erfolgreichen Kirchenumwandlung durch Privatinitiative präsentieren. In den folgenden Jahren konzentrierte sich die Vereinsarbeit in erster Linie auf die Etablierung der Immanuelskirche als Proben- und Konzertsaal für Laien- und Berufsmusiker sowie als Aufnahmeort für den Westdeutschen Rundfunk. Das Rückgrat bildeten die Konzertreihen und die monatlichen Kantate-Gottesdienste der Kantorei Barmen-Gemarke. Zudem wurde die Kirche zunehmend auch als Raum für Kunstausstellungen und andere kulturelle Veranstaltungen (z. B. die Veranstaltungsreihe „Lied und Literatur“ der Konzertgesellschaft, Jazz-Konzerte, Lesungen und Theatervorstellungen) genutzt. Es gelang, die jährlichen Betriebskosten aus den Mieteinnahmen sowie aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden der Freunde und Förderer der Kirche zu decken. Dennoch schien die zunehmende Konsolidierung der Immanuelskirche als kulturelles Zentrum im Wuppertaler Osten seit 1996 in Frage gestellt, nachdem gravierende Schäden der äußeren Bausubstanz festgestellt worden waren. Bis 1999 investierte der Trägerverein mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen rund zwei Millionen DM, musste dann aber zunächst kapitulieren. Die Architekten legten neue Schätzungen vor, nach denen die Sanierungskosten insgesamt mit sechzehn Millionen DM veranschlagt wurden. Angesichts dieser Kostenexplosion stoppte das zuständige Landesministerium seine Zuschüsse. Erst 2001 kam eine Lösung in Sicht, als die neue Wuppertaler Kulturdezernentin Marlis Drevermann dem Trägerverein empfahl, eine (zu achtzig Prozent vom Land geförderte) Machbarkeitsstudie durch ein anderes Architektenteam in Auftrag zu geben. Das neue Sanierungskonzept prognostizierte einen Kostenrahmen von knapp 3,5 Millionen EUR und überzeugte das Land Nordrhein-Westfalen, die Sanierung der Immanuelskirche aus Mitteln der Städtebauförderung erneut zu unterstützen. Einschließlich eines rund zehnprozentigen städtischen Anteils waren damit rund achtzig Prozent gesichert. Zusätzlich förderten die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, die Dr.-Werner-Jackstädt-Stiftung, die Johannes-Rau-Stiftung, die Firma Vorwerk & Co, die Wuppertaler Stadtsparkasse und andere private Geldgeber, so dass die bisherigen Kosten der zweiten Sanierungs125 Zahlenangaben laut einer Auskunft Wolfgang Fehls.
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phase ab 2003 gedeckt werden konnten. 2006 profitierte der Trägerverein zudem in besonderem Maße von der „Regionale 2006“, einem Förderprogramm des Landes Nordrhein-Westfalen, das investive Mittel zur Entwicklung des bergischen Städtedreiecks Wuppertal-Remscheid-Solingen bündelte und die zusätzliche Modernisierung des Innenraums der Immanuelskirche ermöglichte. Die Finanzierungen des Umbaus und der Sanierung der Wuppertaler Immanuelskirche waren nicht zuletzt ein Erfolg Wolfgang Fehls, der seit 1981 mit großem Zeitaufwand als Vermittler des Trägervereins um Gelder und Anerkennung warb und es verstand, lokale Widerstände zu umgehen und alternative Netzwerke zur Rheinischen Landeskirche, zur Wuppertaler Wirtschaft und zu privaten und öffentlichen Stiftungen aufzubauen. Fragt man Fehl nach dem persönlichen Hauptmotiv seines zeitintensiven Engagements, nennt er den Erhalt der Kantorei Barmen-Gemarke, in der er seit 1957 singt, und seine Überzeugung, dass dieser Chor ohne den Raum der Immanuelskirche langfristig nicht überlebt hätte. Aus dieser Perspektive steht die Geschichte des Trägervereins Immanuelskirche und der Kantorei Barmen-Gemarke exemplarisch für die zivilgesellschaftlichen Chancen einer – durchaus konfliktbeladenen – Emanzipation von der Kirche, die als traditioneller Träger anspruchsvoller Kirchenmusik finanziell zunehmend überfordert ist. 4. AUSBLICK Musikalische Aufführungen lassen sich nicht sammeln und ausstellen wie Bilder in einem Museum. Vielleicht ist dies ein Grund, warum Mäzenatentum als Forschungsthema in der Kunstgeschichte bisher größere Beachtung genießt als in der Musikgeschichte. Die immaterielle Signatur der Musik an sich hinterlässt eben kein kulturelles Kapital, das man ansehen, kaufen, verschenken und als Gabe erforschen könnte wie ein wertvolles Kunstwerk. Mit der technischen Reproduzierbarkeit von Musik durch immer neue Tonträger und Abspielgeräte wuchs lediglich die Aufmerksamkeit für die Unterschiede musikalischer Werkinterpetationen, während das Interesse am Vergleich neuer Kompositionen im 20. Jahrhundert stark abnahm.126 Komponisten „neuer Musik“ sind daher gegenwärtig mehr denn je auch auf mäzenatische Förderung angewiesen. Zudem wird auch die Situation für Berufs- und Laienmusiker durch die Restriktionen der kommunalen Haushalte und durch die finanziellen Nöte der Kirchen zunehmend erschwert. Entsprechend nachvollziehbar sind die Appelle, dass die Zivilgesellschaft mehr Verantwortung 126 Vgl. dazu die Unterscheidung zwischen „Interpretationskultur“ und „Kompositionskultur“ bei Hermann Danuser, Historismus in der Postmoderne. Zur gegenwärtigen Lage der Musikästhetik, in: Birgit Recki u. Lambert Wiesing (Hg.), Bild und Reflexion. Paradigma und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, München 1997, 128–142, hier 138f.
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übernehmen müsse für das kommerziell nicht überlebensfähige Musikleben der Städte. Ein wichtiger Aspekt dieser lokalen Zivilgesellschaften ist die institutionelle Anbindung kollektiven Mäzenatentums durch Fördervereine oder Stiftungsgründungen, die von vornherein um weitere Schenkungen und Legate werben. Während Fördervereine im späten 19. Jahrhundert häufig sozial exklusiv konzipiert waren, führte die Demokratisierung zu einer prinzipiellen Öffnung des Fördervereinswesens. Allein in Wuppertal zum Beispiel engagierten sich Anfang des 21. Jahrhunderts mindestens ein halbes Dutzend Fördervereine für Zwecke der Musik.127 Außer von Mitgliedsbeiträgen profitieren diese Vereine häufig von Vermittlerfiguren, die ihre dauerhaften und ausgedehnten Netzwerke persönlichen Kennens und Anerkennens für den Zweck des Fördervereins mobilisieren und Gabentauschbeziehungen pflegen. Im Werben um die Spendengunst ihrer Bürger konkurrieren diese Akteure der lokalen Zivilgesellschaft heutzutage im Grunde mit der ganzen Welt.128 Denn im Zeitalter visueller Massenmedien ist das Leiden unseres Nächsten unabhängig geworden vom lokalen Lebensumfeld potentieller Spender. Dank globaler Berichterstattung und erschütternden TV-Bildern, der „Welt im eigenen Wohnzimmer“, entsteht eine virtuelle Nähe zwischen gebendem Publikum und den Notleidenden, die für die Zeitspanne einer Spendenkampagne im Fokus medialer Aufmerksamkeit stehen und so lange gleichsam das Elend der ganzen Welt verkörpern.129 Der lenkende Einfluss der Massenmedien, insbesondere aber des Fernsehens, auf die Aktivitäten großer Hilfsorganisationen und den Spendenmarkt ist daher sicher kaum zu unterschätzen,130 so wie das vom Fernsehen „konstruierte Bild der Politik“ heutzutage meist aus Themen und Beiträgen entsteht, „die bereits für die Medienöffentlichkeit produziert“ werden.131 Gleichwohl ist die Global Civil Society nicht nur ein virtuelles Medienphänomen oder ein respektables Thema
127 Namentlich sind dies die Konzertgesellschaft und die Freunde der Wuppertaler Bühnen, der Förderkreis der Kantorei Barmen-Gemarke sowie der Freundes- und Förderkreis der Wuppertaler Kurrende, schließlich die Gesellschaft der Freunde und Förderer der Hochschule für Musik in Wuppertal und der Förderkreis der Bergischen Musikschule. 128 Zum Begriff des „Akteurs“ vgl. John W. Meyer u. Ronald L. Jepperson, Die »Akteure« der modernen Gesellschaft. Die kulturelle Konstruktion sozialer Agentenschaft, in: John W. Meyer, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen (hg. v. Georg Krücken), Frankfurt / Main 2005, 47–84. 129 Vgl. dazu Maurice Godelier, Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999, 14. 130 Vgl. Gabriele Lingelbach, Die Entwicklung des Spendenmarktes in der Bundesrepublik Deutschland von der staatlichen Regulierung zur medialen Lenkung, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), 127–157, hier 151–154. 131 Vgl. dazu Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 455–458.
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intellektueller Diskurse,132 sondern auch eine empirische Realität der weltweiten Institutionalisierung US-amerikanisch dominierter Philanthropy.133 Weder diese Global Civil Society noch lokale Zivilgesellschaften sind Binnenräume sozialer Harmonie. Vielmehr bezeugen die angeführten Beispiele des Scheiterns mäzenatischer Projekte, dass zivilgesellschaftliche Akteure um die normative Anerkennung ihrer Identität werben und um die Verteilung finanzieller Ressourcen kämpfen müssen. Mit anderen Worten: Die Zivilgesellschaft liefert nicht nur Erfolgsgeschichten, sondern auch Beispiele für Anerkennungskonflikte und Identitätskrisen. Umso wichtiger ist es für die historische Mäzenatentumsforschung, solche Geschichten mäzenatischen Scheiterns nicht von vornherein zu übersehen. Sie halten den Spiegel vor und zeigen, wie schwierig die Prozesse der Verständigung über Werte der „Hochkultur“ waren und sind.
132 Zur Einführung vgl. Michael Walzer (Hg.), Toward a Global Civil Society, New York 2003; Frank Adloff, Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, Frankfurt / Main 2005; Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: Manfred Hildermeier u.a. (Hg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt / Main, New York 2000, 13–39. 133 Siehe dazu sehr pointiert Ann Vogel, Who’s Making Global Civil Society. Philanthropy and US Empire in World Society, in: British Journal of Sociology 57 (2006), 635–655.
5. PRIVATE ENTWICKLUNGSHILFE
INVESTIEREN IN DIE MODERNE. AMERIKANISCHE STIFTUNGEN IN DER DRITTEN WELT SEIT 1945 Corinna R. Unger1 1. EINLEITUNG Das Engagement US-amerikanischer Stiftungen in der Dritten Welt2 in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt ein einmaliges Beispiel für die Bedingungen und Möglichkeiten philanthropischen Handelns in einer andauernden, umfassenden politischen Ausnahmesituation dar. Zu kaum einem anderen Zeitpunkt war das Engagement der privaten Stiftungen so stark von außenpolitischen Interessen geprägt und bestimmt wie während des Kalten Krieges. Dieser Beitrag geht von der These aus, dass die sozialwissenschaftliche Modernisierungstheorie eine geeignete Legitimationsgrundlage bereithielt, um privaten Akteuren einen staatlich dominierten Aktionsraum zu erschließen, und dass sie damit als zentrales Verbindungselement zwischen Philanthropie und Politik diente. Um diese Annahme zu überprüfen, wird im Folgenden das Engagement jener Stiftungen untersucht, die sich am stärksten in der Dritten Welt betätigten: die Carnegie Corporation, die Rockefeller Foundation und die Ford Foundation. Das Hauptinteresse liegt auf den Motiven der Stiftungen, ihre Mittel in Entwicklungsprojekte zu investieren beziehungsweise entsprechende Projekte zu initiieren. Auf welchen Gebieten wurden sie in der Dritten Welt aktiv, und welche Ziele verbanden sie mit dem Einsatz ihrer Gelder? Wie waren diese Entscheidungen mit der amerikanischen Interessenpolitik im Kontext der Dekolonisation und des Kalten Krieges verbunden? Und wie schlugen sich die Eigeninteressen der Stiftungen auf die Gestaltung der philanthropischen Programme nieder? Die amerikanische Geschichtswissenschaft beschäftigt sich seit einigen Jahrzehnten mit den Aktivitäten der Stiftungen in den Entwicklungsländern. Den Anfang machten revisionistisch orientierte Arbeiten, die den Selbstdar1
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Ich danke Stefanie Middendorf, die einen Entwurf dieses Aufsatzes gelesen hat, für ihre hilfreichen Kommentare. Das German Historical Institute Washington hat mir die Archivrecherchen ermöglicht, die für diesen Beitrag erforderlich waren. Im Sinne der besseren Lesbarkeit werden politisch vielfach konnotierte Begriffe wie „Dritte Welt“, „Entwicklungsländer“, „Modernisierung“ und ähnliche im Folgenden nicht gesondert gekennzeichnet.
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stellungen der Stiftungen entgegenzutreten versuchten, indem sie ihnen den Missbrauch ihrer politischen Gestaltungsmacht sowie zu enge Kooperationsverhältnisse mit der US-Regierung vorwarfen. Daran anschließend betonten zahlreiche Studien der siebziger und achtziger Jahre den elitären Charakter der Stiftungen sowie ihren Einsatz für die Erhaltung des Status quo auf Kosten gesellschaftlicher Reformen.3 Bezüglich der Aktivitäten der Stiftungen in der Dritten Welt wurde wiederholt der Vorwurf erhoben, sie unterstützten die vermeintlich imperiale Politik der US-Regierung.4 Von diesen Positionen hat sich die Forschung seit Beginn der neunziger Jahre weitgehend gelöst, ohne darüber zum früheren, weitgehend unkritischen Lob auf den pluralistischen Einfluss der philanthropischen Institutionen zurückzukehren.5 Die technokratische Zuversicht der Philanthropen in die Wandelbarkeit sozioökonomischer und politischer Bedingungen und ihr elitäres Selbstbewusstsein, für andere Gesellschaften entscheiden zu können, wie sie sich entwickeln und verhalten sollten, werden heute mit Distanz betrachtet. Ähnlich wird das Selbstverständnis der Stiftungen, eine historisch-politische Aufgabe im Sinne einer Demokratisierungsmission erfüllen zu müssen und dazu mit Hilfe wissenschaftlicher Expertise auch in der Lage zu sein, inzwischen durchgängig historisiert.6 Vor diesem Hintergrund scheint es lohnend, die Tätigkeit der Stiftungen in der Dritten Welt einem neuen, quellennahen Blick zu unterziehen; dazu bietet sich ein komparativer, diachroner Ansatz an.
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Siehe u.a. Barry D. Karl u. Stanley N. Katz, Foundations and Ruling Class Elites, in: Daedalus 116.1 (1987), 1–40. So etwa Edward H. Berman, The Foundations’ Role in American Foreign Policy. The Case of Africa, post 1945, in: Robert F. Arnove (Hg.), Philanthropy and Cultural Imperialism. The Foundations at Home and Abroad, Boston 1980, 203–232; ders., The Ideology of Philanthropy. The Influence of the Carnegie, Ford, and Rockefeller Foundations on American Foreign Policy, Albany 1983; Robert F. Arnove, The Ford Foundation and „Competence Building“ Overseas. Assumptions, Approaches, and Outcomes, in: Studies in Comparative International Development 12.3 (1977), 100–126; Robert A. Packenham, Liberal America and the Third World. Political Development Ideas in Foreign Aid and Social Science, Princeton 1973. Eine ähnliche Argumentation bezüglich philanthropischer Aktivitäten in der Kolonialzeit findet sich bei Soma Hewa, Colonialism, Tropical Disease and Imperial Medicine. Rockefeller Philanthropy in Sri Lanka, Lanham 1995. Eine solch positive Einschätzung bieten Robert H. Bremner, American Philanthropy, Chicago 1960; Merle Curti, American Philanthropy Abroad. A History, New Brunswick 1963. Siehe auch Peter D. Bell, The Ford Foundation as a Transnational Actor, in: International Organization 25.3 (1971), 465–478. Siehe etwa Kathleen McCarthy, From Government to Grassroots Reform. The Ford Foundation’s Population Programs in South Asia, 1959–1981, in: Soma Hewa u. Philo Hove (Hg.), Philanthropy and Cultural Context. Western Philanthropy in South, East, and Southeast Asia in the 20th Century, Lanham 1997, 129–156, hier 130, 150f.
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2. HANDLUNGSBEDINGUNGEN DES AMERIKANISCHEN STIFTUNGSWESENS SEIT 1900 Die amerikanischen Stiftungen verdanken ihre prominente Stellung in der amerikanischen Gesellschaft im Wesentlichen zwei Umständen: den ungeheuren Gewinnen, die Industrielle wie John D. Rockefeller, Andrew Carnegie und Henry Ford seit dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erwirtschafteten; und der vergleichsweise schwachen Rolle des Staates, aufgrund derer weite Teile des sozialen und kulturellen Lebens auf das Engagement privater Gruppierungen und Gelder angewiesen waren. Diese „Lücke“ stellte für die Industriemagnaten, denen früh bewusst war, dass sie ihren Reichtum gegenüber der mehrheitlich armen Bevölkerung rechtfertigen mussten, eine willkommene Betätigungsmöglichkeit dar. Sie erlaubte es ihnen, ihre „amerikanischen Tugenden“ – Patriotismus, Initiative, Gemeinschaftsbewusstsein und Gemeinwohlorientierung – öffentlichkeitswirksam hervorzuheben („Do good and talk about it.“). Zudem empfanden viele von ihnen eine genuine, häufig religiös unterlegte Verpflichtung, ihren Erfolg zu teilen und die Probleme, die die Industrialisierung mit sich brachte, zu lindern.7 Die Wahl der Gebiete, auf denen dies geschah, hing von den individuellen Interessen und Problemwahrnehmungen der Philanthropen ab; gemeinsam war den meisten das Ziel, gesellschaftlichen Fortschritt zu ermutigen und die Lebensbedingungen einer möglichst großen Zahl zu verbessern.8 Seit den dreißiger Jahren setzte sich unter Franklin D. Roosevelts New Deal der Glaube an die Planund Steuerbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden durch, und mit ihm der Fokus auf Fortschritt, Rationalität und wissenschaftliche Expertise als Grundlage philanthropischen Handelns.9 Der Zweite Weltkrieg führte zur endgültigen Etablierung der Wissenschaft als gesellschaftliche Leitinstanz, so dass sich die Stiftungen in ihrer Förderungspolitik bestätigt fühlten. Der Kalte Krieg brachte die philanthropischen Einrichtungen in eine ambivalente Situation: Einerseits hielt er neue Betätigungsfelder sowie die Chance bereit, das Ansehen der Stiftungen zu steigern, sofern es ihnen gelang, ihre Relevanz für die „nationale Sicherheit“ zu beweisen und die Grundannahmen des in der Nachkriegszeit dominierenden liberal consensus überzeugend zu vertreten. Dazu gehörte die Anerkennung des Primats der Außenpolitik, die Eindämmung des Kommunismus, der Glaube an das progressive 7
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Vgl. Judith Sealander, Curing Evils at Their Source. The Arrival of Scientific Giving, in: Lawrence J. Friedman u. Mark D. McGarvie (Hg.), Charity, Philanthropy, and Civility in American History, Cambridge 2003, 217–239, hier 218–226. Vgl. McCarthy, From Government to Grassroots Reform, 130. Siehe dazu u.a. Donald Fisher, Fundamental Development of the Social Sciences. Rockefeller Philanthropy and the United States Social Science Research Council, Ann Arbor 1993.
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Potential wirtschaftlichen Wachstums, die Vermeidung innenpolitischer Konflikte und die Stärkung der Exekutive.10 Andererseits beeinträchtigten innenpolitische Entwicklungen die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der Stiftungen. Anfang der fünfziger Jahre setzte sich der inneramerikanische Antikommunismus als Integrationsideologie durch. Er reagierte damit auf jene soziale Verunsicherung, die sich aus dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der neuen internationalen Rolle der USA, dem Aufweichen der tradierten Geschlechterordnung, dem zunehmend problematischen Nord-Süd-Gefälle und der „Rassen“-Trennung ergab. Es entstand ein Klima der Restriktion11, in dem sich die Kontrolle und Selbstkontrolle der Stiftungen verstärkte.12 Allein der Verdacht, nicht antikommunistisch und folglich auch nicht patriotisch genug zu sein, reichte aus, um die öffentliche Glaubwürdigkeit einer Person oder Institution zu zerstören. Um in dieser Situation nicht als „unamerikanisch“ diskreditiert zu werden, überprüfte die Rockefeller Foundation Anfang der fünfziger Jahre alle von ihr geförderten Institutionen auf Affinitäten zu kommunistischen Organisationen. Zwar konnte sie feststellen, dass nur 23 der 28.753 gewährten Beihilfen an „verdächtige“ Personen und zwei an als „kommunistisch“ eingestufte Organisationen gegangen seien, doch ihre Förderungsfreiheit war für mehrere Jahre eingeschränkt, bis sich die red scare beruhigte.13 Doch nicht nur äußere Erwartungen beeinflussten das Verhalten der Stiftungen: Viele ihrer Mitarbeiter und Kuratoriumsmitglieder – überwiegend White Anglo-Saxon Protestants, die sich aus der Ivy-League-Elite rekrutierten und enge Verbindungen zur Regierung sowie zu Großunternehmen besaßen14 – empfanden eine selbstverständliche Verpflichtung, solche Vorhaben zu unterstützen, die versprachen, die amerikanischen Interessen und Werte zu stärken. Folglich spielte die außenpolitische Situation der USA bei der Ent10 Vgl. Godfrey Hodgson, America in Our Time. From World War II to Nixon – What Happened and Why [1976], Princeton 2005, 73f., 89. 11 Vgl. Thomas Mergel, „The Enemy in Our Midst“. Antikommunismus und Amerikanismus in der Ära McCarthy, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51.3 (2003), 237– 257; Hodgson, America, 36–47; Corinna R. Unger, Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1945–1975, Stuttgart 2007, 363ff. 12 Vgl. Francis X. Sutton, The Ford Foundation. The Early Years, in: Daedalus 116.1 (1987), 41–91, hier 83f.; Ben Whitaker, The Foundations. An Anatomy of Philanthropy and Society, London 1974, 106–110; Waldemar A. Nielsen, The Big Foundations, New York, London 1971, 84f.; Robert A. McCaughley, International Studies and Academic Enterprise. A Chapter in the Enclosure of American Learning, New York 1984, 160– 165; Werner Kalb, Stiftungen und Bildungswesen in den USA, Berlin 1968, 188ff. 13 Vgl. Sutton, Ford Foundation, 83f.; Whitaker, Foundations, 106–110; Nielsen, Foundations, 84f.; McCaughley, International Studies, 160–165. 14 Vgl. dazu Whitaker, Foundations, 97ff.; Kalb, Stiftungen, 84f.; Gary R. Hess, Waging the Cold War in the Third World. The Foundations and the Challenges of Development, in: Friedman u. McGarvie (Hg.), Charity, 319–339, hier 323.
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scheidung über Projektbewilligungen eine wichtige Rolle. Die daraus entstehende Interdependenz zwischen Philanthropie und Politik verstetigte sich im Laufe des Kalten Krieges. Dies zeigt sich besonders deutlich auf dem Gebiet der philanthropischen Aktivitäten in der Dritten Welt. 3. AMERIKANISCHE PHILANTHROPIE IN DEN ENTWICKLUNGSLÄNDERN Das Engagement amerikanischer Stiftungen in den Entwicklungsländern hat seine Wurzeln im frühen 20. Jahrhundert, als amerikanische Philanthropen begannen, ihre Mittel einzusetzen, um Armut und Elend auch außerhalb der USA zu verringern.15 Die 1913 gegründete Rockefeller Foundation ist vor allem für ihren Einsatz zur Erforschung und Prävention von Malaria, Gelbfieber und der Hakenwurmkrankheit, zur Etablierung öffentlicher Gesundheitseinrichtungen in Indien16, China, Latein- und Südamerika17 und Afrika18 sowie für die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität in China und Mexiko – der Ursprung der so genannten Grünen Revolution – bekannt.19 15 Eine Übersicht bietet Emily S. Rosenberg, Missions to the World. Philanthropy Abroad, in: Friedman u. McGarvie (Hg.), Charity, 241–257. 16 Vgl. Leonard A. Gordon, Wealth Equals Wisdom? The Rockefeller and Ford Foundations in India, in: The American Academy of Political and Social Science Annals 554 (1997), 104–116, hier 107f. 17 Siehe Marcus Cueto (Hg.), Missionaries of Science. The Rockefeller Foundation and Latin America, Bloomington 1994; William H. Schneider, Rockefeller Philanthropy & Modern Biomedicine. International Initiatives from World War I to the Cold War, Indianapolis 2002. 18 Zwischen 1914 und 1948 investierte die Stiftung insgesamt 1.786.108 Dollar in Afrika, wobei Westafrika die meisten Gelder erhielt, gefolgt von Uganda, Südafrika und Ägypten. Vgl. Rockefeller Foundation, Rockefeller Foundation Work in Africa, Juli 1948, Rockefeller Archive Center (RAC), Rockefeller Foundation (RF), Record Group (RG) 1.2, Series 475, Box 1, Folder 4. Zit. n. Rockefeller Archive Center, 20th Century Africa Survey, in: http://archive.rockefeller.edu/publications/guides/africa.pdf, 2003, 3. 19 Siehe Deborah Fitzgerald, Exporting American Agriculture. The Rockefeller Foundation in Mexico, 1943–1953, in: Cueto (Hg.), Missionaries, 72–96; Annelies Markus De Kennedy, The Office of Special Studies. A Study of the Joint Mexican Secretariat of Agriculture-Rockefeller Foundation Program in Agriculture, 1943–1963, Diss. University of North Carolina, Chapel Hill 1974; Corinne A. Pernet, Die Zivilisierungsmission der Zivilgesellschaft. Die andere Art der US-Intervention in Lateinamerika von 1910 bis 1945, in: Boris Barth u. Jürgen Osterhammel (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, 311–333, hier 320– 325; Landrum R. Bolling u. Craig Smith, Private Foreign Aid. U.S. Philanthropy for Relief and Development, Boulder 1982, 46–60. Zur Geschichte der Rockefeller Foundation siehe u.a. Nielsen, Foundations, 47–69; Roger L. Geiger, American Foundations and Academic Social Science, 1945–1960, in: Minerva 26.3 (1988), 315–341, hier 317– 325.
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Die zwei Jahre ältere Carnegie Corporation machte sich mit ihren Aktivitäten im Bildungswesen in den britischen Besitzungen in Afrika (eine Begrenzung, die auf den aus Schottland stammenden Begründer der Stiftung, Andrew Carnegie, zurückging) einen Namen.20 In den dreißiger Jahren unterstützte sie die so genannten Jeanes-Schulen, die praktische Kenntnisse an Afrikaner zu vermitteln suchten. Das Konzept ging auf frühe Bemühungen innerhalb der USA zurück, die Lage der nach dem Bürgerkrieg befreiten Sklaven in den Südstaaten zu verbessern.21 Angewandt auf die britischen Kolonien in Afrika, zielten die Jeanes-Schulen darauf, die soziale Situation der Afrikaner zu reformieren. Zugleich lag ihnen die Annahme zugrunde, die Konzentration auf Anwendungswissen sei „best suited to native needs“.22 Damit entsprachen die Schulen sowohl philanthropischen Anliegen als auch der Kolonialpolitik des britischen Colonial Office, mit dem die Stiftung kooperierte.23 Von den hier untersuchten Stiftungen war die Ford Foundation die einzige, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg in der Entwicklungshilfe aktiv wurde. Dem frühen Engagement der Stiftungen in Übersee, das an die Tätigkeit christlicher Gruppen im 19. Jahrhundert anknüpfte, lagen häufig religiöse Motive zugrunde, die den philanthropischen Projekten den Charakter einer „Zivilisierungsmission“ verliehen. Diese Motive korrespondierten zum Teil mit Annahmen über biologisch bedingte Differenzen zwischen verschiedenen Ethnien, aus denen ein kultureller Hoheits- und Interventionsanspruch abgeleitet wurde.24 Die philanthropischen Aktivitäten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg standen zwar nicht mehr unter dem Signum einer christlichen Mission, basierten aber in ähnlicher Weise auf der Vorstellung, einen „Auftrag“ gegenüber den „rückständigen“ Regionen und Gesellschaften zu besitzen. Überzeugt von der eigenen Modernität und Fortschrittlichkeit und 20 Zur Geschichte der Carnegie Corporation siehe u.a. Ellen Condliffe Lagemann, The Politics of Knowledge. The Carnegie Corporation, Philanthropy, and Public Policy, Chicago 1989; Nielsen, Foundations, 31–46; Geiger, American Foundations, 317–323. 21 Siehe dazu E. Jefferson Murphy, Creative Philanthropy. Carnegie Corporation and Africa 1953–1973, New York, London 1976, 21ff.; Roy E. Finkenbine, Law, Reconstruction, and African American Education in the Post-Emancipation South, in: Friedman u. McGarvie (Hg.), Charity, 161–178. 22 Harvie Branscomb, Memorandum on the Corporation Program in the British Dominions and Colonies, 18.10.1943, Columbia University Libraries (CUL), Rare Book and Manuscript Library (RBML), Carnegie Corporation of New York Records (CCNY), Series I.D, Box 4, Folder 6. Ich danke der Carnegie Corporation of New York für den mir gewährten Zugang zu ihren Beständen. 23 Kritisch dazu Edward H. Berman, Educational Colonialism in Africa. The Role of the American Foundations, 1910–1945, in: Arnove (Hg.), Philanthropy, 179–201; ders., American Philanthropy and African Education. Toward an Analysis, in: African Studies Review 20.1 (1977), 71–85. Siehe auch Lagemann, Politics, 125, 136f.; Rosenberg, Mission, 246ff. Zur Kooperation der Carnegie Corporation mit dem Colonial Office siehe Murphy, Creative Philanthropy, 24f. 24 Vgl. u.a. Rosenberg, Missions, 246.
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beeindruckt von den Notlagen in vielen Gebieten der Welt, die erst mit der Internationalisierung der amerikanischen Perspektive seit dem Zweiten Weltkrieg in den Blick gerückt waren, begannen die Stiftungen nach 1945, ihre Programme neu – und zwar global – auszurichten. Diese Neuorientierung fand unter dem Eindruck des sich verschärfenden Konflikts zwischen Ost und West statt, der 1947 in den Kalten Krieg umschlug. Nach der Erfahrung des Nationalsozialismus schien es vielen Amerikanern wichtiger denn je, einem neuen Totalitarismus, wie ihn der stalinistische Kommunismus zu verkörpern schien, Einhalt zu gebieten. So formulierte das Gaither-Komitee, das 1949 philanthropische Grundsätze für die Ford Foundation erarbeitete: As the tide of communism mounts in Asia and Europe, the position of the United States is crucial. We are striving at great cost to strengthen the free peoples everywhere. The needs of such people, particularly in underdeveloped areas, are vast and seemingly endless, yet their eventual well-being may prove essential to our security.25
Aus dieser Sicht schien es für die USA unumgänglich, die – inzwischen statistisch erfasste – Armut in den Entwicklungsländern zu lindern, um zu verhindern, dass sie zu einem Risiko für die Freiheit und den Wohlstand der amerikanischen Gesellschaft bzw. des Westens insgesamt würde. Im Laufe der fünfziger Jahre erhielt diese Perspektive durch die Modernisierungstheorie eine wissenschaftliche Fundierung.26 Dem lag die Vermutung zugrunde, dass jede Gesellschaft danach strebe, sich zu „modernisieren“ und in einen freiheitlich-demokratischen, kapitalistisch organisierten Nationalstaat zu verwandeln. Man glaubte, solch eine Entwicklung setze automatisch ein, sobald ein bestimmtes Maß an Wohlstand (gemessen am Bruttosozialprodukt) erreicht sei. Bekannte Vertreter der Theorie wie Max Millikan und Walt W. Rostow argumentierten, dass die „bereits modernen“ Staaten jene Länder, die diese Schwelle noch nicht erreicht hätten – vor allem die mit der Dekolonisation unabhängig werdenden Gesellschaften –, mit wirtschaftlichen und technischen Mitteln unterstützen müssten. Auf diese Weise sollten sie davon abgehalten werden, sich für den Kommunismus als alternatives Modernisierungsmodell zu entscheiden.27 Hinter diesem „liberal develop25 Report of the Study of the Ford Foundation on Policy and Program, Detroit 1949, 26f. Zum Gaither-Report siehe u.a. Sutton, Ford Foundation, 48–51. 26 Siehe dazu Michael E. Latham, Modernization as Ideology. American Social Science and „Nation Building“ in the Kennedy Era, Chapel Hill 2000; Nils Gilman, Mandarins of the Future. Modernization Theory in Cold War America, Baltimore 2003; ders., Modernization Theory, the Highest Stage of American Intellectual History, in: David C. Engerman u.a. (Hg.), Staging Growth. Modernization, Development, and the Global Cold War, Amherst, Boston 2003, 47–80; Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Cambridge 2005, 32–38. Im Folgenden ist vereinfachend von „der Modernisierungstheorie“ die Rede, obwohl es unterschiedliche Richtungen und Schulen gab. 27 Die Interpretation des Kalten Krieges als Wettkampf zwischen zwei Modernisierungs-
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mentalism“28 stand die so genannte Domino-Theorie – die Annahme, dass sich der Kommunismus, wenn er erst einmal in einem Land Fuß gefasst habe, immer weiter ausbreiten und nicht mehr eindämmen lassen würde.29 Charakteristisch für das modernisierungstheoretische Denken über die Welt war ein dichotomes Verständnis von „Moderne“ und „Tradition“, „Rationalität“ und „Chaos“, „Aktivität“ und „Apathie“, „Fortschritt“ und „Rückständigkeit“. Daraus ergab sich die Unterteilung der Welt in verschieden weit „entwickelte“ Lager, wobei die USA und Westeuropa Platz eins, der Ostblock Platz zwei und die blockfreien Regionen Platz drei einnahmen. Auf diese Weise entstand unter dem Dach des Ost-West-Konflikts und der Dekolonisation das politisch-kulturelle Konstrukt der „Dritten Welt“.30 Die vermeintlich ideologiefreie kapitalistische Nationalstaatlichkeit galt als Königsweg, der es zu erlauben schien, Konflikte, Kriege und Unfreiheit zu vermeiden und so das größte Wohl für die größte Zahl zu ermöglichen. Damit wurden die grundsätzlich liberale Modernisierungstheorie sowie die von ihr abgeleitete Entwicklungshilfe zu eng mit den außenpolitischen Interessen der USA verbundenen Elementen des Kalten Krieges. Die meisten der leitenden Mitarbeiter der Stiftungen bejahten die Grundannahmen der Modernisierungstheorie. Viele von ihnen waren selbst Wissenschaftler, die in den dreißiger Jahren in der Roosevelt-Administration gearbeitet hatten und während des Krieges als Experten in der Verwaltung tätig gewesen waren. Nach dem Krieg setzten einige diese Tätigkeit fort; andere kehrten an die Universitäten zurück, blieben aber der politischen Arbeit im weitesten Sinne verbunden. Angesichts der Herausforderungen, die sich den USA nach 1945 stellten, lag es nahe, dass einige für die Stiftungen tätig wurden, um als Wissenschaftsmanager mit ihren Fachkenntnissen und den nahezu unbegrenzten finanziellen Stiftungsmitteln zur Lösung sozialer und politischer Probleme beizutragen. Sie versuchten die Mitglieder der Stiftungskuratorien dafür zu gewinnen, die Weiterentwicklung des Modernisierungskonzepts finanziell (und damit auch mit ihrem Prestige) zu unterstützen und sich an der auf ihm basierenden Entwicklungshilfepolitik der USA zu beteiligen. Dass ihnen dies fast immer gelang, lag wesentlich daran, dass die mokonzepten vertritt vor allem Westad, Global Cold War. 28 Gary R. Hess, The Role of American Philanthropic Foundations in India’s Road to Globalization during the Cold War Era, in: Soma Hewa u. Darwin H. Stapleton (Hg.), Globalization, Philanthropy, and Civil Society. Toward a New Political Culture in the Twenty-First Century, New York 2005, 51–71, hier 52. 29 Siehe dazu Frank Ninkovich, Modernity and Power. A History of the Domino Theory in the Twentieth Century, Chicago 1994. 30 Siehe dazu Carl E. Pletsch, The Three Worlds, or the Division of Social Scientific Labor, circa 1950–1975, in: Comparative Studies in Society and History 23.4 (1981), 565– 590; Westad, Global Cold War; Corinna R. Unger, Modernization à la Mode. West German and American Development Plans for the Third World, in: Bulletin of the German Historical Institute 40 (2007), 143–159, hier 143ff.
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dernisierungstheoretischen Annahmen über den Zusammenhang von Wohlstand, Modernität und globaler Entwicklung erstmals eine universelle Sprache boten, mit der sich die wahrgenommene globale Krise im westlichen Interesse erfassen ließ. Außerdem erkannten die Kuratoriumsmitglieder in der Förderung von Entwicklungsprojekten eine willkommene Gelegenheit, die öffentlichen Erwartungen an die politische Verantwortung der Stiftungen zu befriedigen. Darüber hinaus spielten wirtschaftliche Erwägungen eine wichtige Rolle: Die Stiftungen verdankten ihre Entstehung und großzügige Ausstattung den finanziellen Erfolgen der Industrieunternehmen ihrer Gründer (Ford Motor Company, Standard Oil, U. S. Steel), die auf internationale Rohstoff- und Absatzmärkte angewiesen waren und ihre Einflusssphären zu erweitern suchten.31 Hier überschnitten sich die Stiftungsinteressen mit jenen der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik. Überragt wurden all diese Motive von der Angst vor dem Kommunismus. Angesichts der empfundenen Bedrohung schien es erforderlich, alle gesellschaftlichen Gruppen und Ressourcen zu mobilisieren. Die Stiftungen verfügten über gleich mehrere solcher Ressourcen: finanzieller Reichtum, vielfältige Kontakte, Erfahrung und Expertise sowie institutionelle und politische Unabhängigkeit. Daraus ergab sich ein flexibler bona-fide-Status, den die Stiftungen strategisch – sowohl im amerikanischen als auch in ihrem eigenen institutionellen Interesse – einzusetzen verstanden. The Best Buy: Das Engagement der Carnegie Corporation in Afrika Die Carnegie Corporation hatte bereits 1943 erste Überlegungen zu ihrem Nachkriegsprogramm angestellt. Ziel der Stiftungspolitik müsse es sein, in Übersee Zentren westlich-demokratischer Kultur zu schaffen, die auf die einheimischen Gesellschaften „ausstrahlen“ könnten. Universitäten galten als ideale Institutionen, um der im Entstehen begriffenen „neuen Welt“ die entscheidenden westlichen Ideen zu vermitteln.32 Solch ein Transfer sei nötig, da die Auflösung der früheren Kolonialreiche und die Unabhängigkeit der Kolonien nur noch eine Frage der Zeit sei. Aus dieser Sicht schien die bisherige Verteilung der Mittel des British Dominions and Colonies Fund der Carnegie Corporation überholt: Bis 1945 waren drei Viertel der Mittel, die 31 So begründete die Ford Foundation ihr internationales Engagement unter anderem damit, „[that], as a foundation dependent on income on endowment, […] a substantial part of its income comes from profits earned outside the United States.“ Ford Foundation, Discussion Paper on the Future of the Foundation’s Overseas Development Activities, Entwurf, 10.11.1966, Ford Foundation Archives (FFA), Report 009013. Ich danke den Ford Foundation Archives für den mir gewährten Zugang zu ihren Beständen. 32 Vgl. Harvie Branscomb, Memorandum on the Corporation Program in the British Dominions and Colonies, 18.10.1943, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 6.
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sich insgesamt auf mehr als 13 Millionen Dollar beliefen, an die Dominions (Kanada, Neufundland, Australien, Neuseeland und die maritimen Inseln) und nur ein Viertel an die Kolonien in Afrika (1.900.000 Dollar) und die Westindischen Inseln (400.000 Dollar) gegangen. Um den neuen politischen Bedingungen gerecht zu werden, sollte den Kolonien größere Aufmerksamkeit gewidmet und der Kontakt zu den indigenen Gesellschaften intensiviert werden, um deren Kooperationsbereitschaft mit den USA sicherzustellen, so die Carnegie Corporation 1945.33 Knapp zehn Jahre später war ihr Interesse an vermehrtem Kontakt mit den Kolonien sichtlich von der Rhetorik des Kalten Krieges geprägt: 1954 hieß es in einem internen Memorandum, die künftige Förderungspolitik solle darauf zielen, „den Zusammenhalt und die Vitalität der freien Welt“ zu stärken.34 Dazu könne die Förderung und Verbreitung von Wissen – jedenfalls des richtigen Wissens – beitragen.35 Auf diese Weise machte sich die Carnegie Corporation die Rhetorik des Kalten Krieges zu Eigen und funktionalisierte sie. Eng damit verknüpft war der fortschreitende Zerfall des Britischen Empires und die mit ihm einhergehende Dekolonisation. Aus amerikanischer Sicht stellte das Commonwealth einen Garanten für die politische Stabilität in den zur Unabhängigkeit strebenden Kolonien dar.36 Schließlich bestehe die Gefahr, dass Staaten, die „verfrüht“ – also zu einem Zeitpunkt, zu dem sie aus Sicht der Kolonialstaaten noch nicht „weit genug“ entwickelt waren – unabhängig wurden, dem Kommunismus zum Opfer fielen.37 In dieser Situation musste es aus Sicht der Carnegie Corporation darum gehen, die Grundlagen einer „sound social order“ in den Kolonialgebieten zu errichten, die als Puffer gegen östliche Einflüsse fungieren könne. Zu diesem Zweck komme es
33 Vgl. Carnegie Corporation, British Dominions and Colonies Fund. Agenda BT Meeting, 18.10.1945, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 6. Siehe auch Murphy, Creative Philanthropy, 19ff. 34 The Corporation’s Program in the „Dominions and Colonies“ (A Memorandum for Discussion), 07.04.1954, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 6. 35 Vgl. Carnegie Corporation, Some Notes on Carnegie Corporation Grants in Africa, ungezeichnet, ohne Datum (April 1954), CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 5, Folder 4. 36 Zur Haltung der USA gegenüber der Dekolonisation in Afrika siehe John Kent, The United States and the Decolonization of Black Africa, 1945–63, in: David Ryan u. Victor Puongong (Hg.), The United States and Decolonization. Power and Freedom, New York 2000, 168–187; Gerhard Th. Mollin, Die USA und der Kolonialismus. Amerika als Partner und Nachfolger der belgischen Macht in Afrika 1939–1965, Berlin 1996 (zugl. Habil. Universität Essen 1994), Kapitel 8. 37 C. W. de Kiewiet, Introduction, National Research Council / Social Science Research Council, Joint Conference on Problems of Area Research in Contemporary Africa, Princeton University, October 14–16, 1953, Summary Proceedings, RAC, Social Science Research Council (SSRC), Series I, Subseries I, Box 9, Folder 47. Ich danke dem Rockefeller Archive Center für den mir gewährten Zugang zu seinen Beständen.
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vor allem darauf an, die indigenen Eliten zu fördern.38 Deshalb entschied sich die Stiftung in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, in höhere Bildung und Forschung über die Kolonien zu investieren und die Beziehungen zwischen den Bildungseinrichtungen in den ehemaligen Kolonien und den Gesellschaften, denen sie dienen sollten, zu intensivieren. Bis dahin waren die von den britischen Administratoren etablierten Hochschulen in erster Linie an den Interessen der Kolonialverwaltung ausgerichtet.39 Zwischen 1954 und 1960 stellte die Carnegie Corporation aus ihrem Commonwealth Fund mehr als eineinhalb Millionen Dollar (knapp vierzig Prozent des gesamten Fonds) für die unabhängig werdenden Staaten zur Verfügung, wovon mehr als zwei Drittel an Afrika, der übrige Teil an Asien und die Westindischen Inseln gingen. Mit dem Fortschreiten der Dekolonisation stiegen diese Mittel weiter an: Allein zwischen 1959 und 1963 investierte die Corporation 1,7 Millionen Dollar in afrikanische Bildungseinrichtungen und Bibliotheken, Lehrerausbildung, Bildungsforschung und Stipendien.40 80.000 Dollar gingen an das East African Institute of Social Research am Makerere College in Uganda, 84.000 Dollar an das University College in Rhodesien und Nyasaland, um das Central African Institut of Education zu etablieren, 133.000 Dollar an das University College Ibadan für historische Studien und Forschungsreisen sowie die Ausbildung von Bibliothekaren.41 Dass eine amerikanische Stiftung dazu berufen sei, in einer Umbruchsituation wie der Dekolonisation aktiv zu werden, ergab sich ihren Mitarbeitern zufolge aus der Geschichte der USA und der daraus abgeleiteten Solidarität mit Kolonialgesellschaften. „We are in a position in this country through the nature of our historical experience to have some special insights into the forces at work and the requirements of the developing situation“, hieß es in einem 1954 entstandenen Memorandum der Carnegie Corporation.42 Zwar hielt sie den Commonwealth für hilfreich, um die freiheitlich-demokratischen Strukturen in der Welt zu stärken und revolutionäre (sprich: kommunistische) Bewegungen einzudämmen. Doch gleichzeitig sah sie sich der amerikanischen Tradition verpflichtet, den Kolonialismus als eine Form der Ausbeu38 Carnegie Corporation, Memorandum, BDC – Main Fund Collaboration, 27.11.1957, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 7. 39 Vgl. Carnegie Corporation, Memorandum of Discussion on the Corporation’s Program in the British Colonies, 19.07.1954, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 6. Siehe auch Carnegie Corporation, The Corporation’s Program in the Commonwealth, 16.11.1956, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 7. 40 Vgl. Carnegie Corporation, Overview, British Commonwealth Program 1954–1960, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 7; Carnegie Corporation, First Memorandum on Commonwealth Program for the period ahead, 18.09.1963, ebd. 41 Vgl. Berman, American Philanthropy, 78. 42 Carnegie Corporation, The Corporation’s Program in the „Dominions and Colonies“ (A Memorandum for Discussion), 07.04.1954, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 6.
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tung unterworfener Gesellschaften abzulehnen – auch wenn dies die Position der Kolonien gegenüber dem Commonwealth stärke. Langfristiges Ziel, so die diplomatisch formulierte Kritik am britischen Kolonialismus, müsse es sein, das Zusammenleben der Afrikaner und Europäer in Afrika zu verbessern und beiden Gruppen größtmögliche Freiheit zu bieten.43 Trotz ihrer grundsätzlichen Ablehnung des Kolonialismus wollte es die Corporation jedoch nicht riskieren, die engen Verbindungen zu Großbritannien, die durch die Kriegsallianz gefestigt und mit dem Kalten Krieg verstetigt worden waren, zu gefährden und dadurch möglicherweise dem Kommunismus Vorschub zu leisten. Die aus dieser Situation resultierende, dreifache Anforderung – Kooperation mit Großbritannien, Förderung der Unabhängigkeit der Kolonialgesellschaften, Eindämmung des Kommunismus – bestimmte die Aktivitäten der Carnegie Corporation in Afrika in den kommenden Jahren. Sie spiegelt sich unter anderem im Afro-Anglo-American Program for Teacher Education wider, das alle drei genannten Anliegen vereinte und zu einem zentralen Bestandteil der Carnegie-Tätigkeit in Afrika wurde.44 Bestärkt sah sich die Stiftung in ihrer Arbeit durch die Annahme, dass mit der Dekolonisation eine einmalige Chance bestehe, die Entwicklung der neugegründeten afrikanischen Staaten zu beeinflussen. Schließlich waren diese auf Hilfe von außen angewiesen und nahmen die privaten Angebote aus den USA häufig lieber an als staatliche Hilfsprogramme, die als potentiell „neokolonial“ galten. Den Mitarbeitern der Carnegie Corporation wiederum erschien die Aussicht reizvoll, mit ihren Erfahrungen, Kenntnissen und Geldern eine nachhaltige Wirkung auf das afrikanische Bildungswesen ausüben zu können: „The educational climate – that is, the political commitment to education in Africa and the sense of urgency on the part of individuals and governments alike make it the best buy, dollar for dollar, anywhere.“45 Damit war indirekt eine weitere Herausforderung angesprochen, der die Stiftungen täglich begegneten: Es reichte nicht, über Geld zu verfügen, sondern es mussten auch Gelegenheiten gefunden beziehungsweise geschaffen werden, es sinnvoll auszugeben. Hinzu kam der Reiz, aktiv an der Gestaltung der internationalen Politik mitzuwirken und die politische Agenda gezielt zu beeinflussen.46 Dass die 43 Vgl. Carnegie Corporation, Some Notes on Carnegie Corporation Grants in Africa, ungezeichnet, ohne Datum (April 1954), CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 5, Folder 4. 44 Siehe dazu Berman, American Philanthropy, 76–80; Hess, Waging the Cold War, 327f. 45 Carnegie Corporation, First Memorandum on Commonwealth Program for the period ahead, 18.09.1963, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 7. Hervorhebung CRU. Siehe auch SHS, Memorandum, BDC Program, 02.12.1957, ebd.: „Opportunities in the ‚colonies‘ are dependent to a greater degree than elsewhere on CC [Carnegie Corporation] initiative and cultivation.“ 46 Ellen Condliffe Lagemann erkennt über die Jahrzehnte hinweg einen Wandel im Stiftungsprofil: „from acting as a philanthropic bank – an organization primarily engaged in
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Tätigkeit der Carnegie Corporation auf die Commonwealth-Gebiete begrenzt war, erwies sich nun als Vorteil, denn diese Regionen erhielten mit der Dekolonisation und dem Kalten Krieg ungeahnte strategische und politische Bedeutung. „Nowhere are the problems more interesting or the opportunities for useful relationships with the United States more challenging than in British Africa and the West Indies“, stellte ein Mitarbeiter 1959 fest. Er plädierte dafür, angesichts des wachsenden Interesses der Corporation an internationalen Angelegenheiten und der politischen Rolle der USA in der Welt das Engagement der Stiftung in Afrika auszudehnen.47 Generell war es das Konzept der in ihren finanziellen Möglichkeiten begrenzten Carnegie Corporation, innovative Projekte anzustoßen, ihre Methoden zu testen und, wenn sich das Konzept als erfolgreich erwies, die weitere Finanzierung an andere, wohlhabendere Förderungsinstanzen abzugeben.48 Eines der Carnegie-Projekte war ein 1960 initiiertes Stipendienprogramm für nigerianische Studenten, die für ein Jahr an amerikanische Colleges und Universitäten eingeladen wurden. Koordiniert wurde das Programm vom (amerikanischen) African-American Institute und der Harvard University. Die US-Regierung übernahm die laufenden Kosten in Höhe von 5,7 Millionen Dollar für sieben Jahre, die beteiligten Universitäten die Studiengebühren, die sich auf mehr als eine Million Dollar beliefen. Der Finanzierung der administrativen Kosten mit 100.000 Dollar durch die Carnegie Corporation lag die Überzeugung zugrunde, dass die Verbesserung der Bildung in Afrika ein „nationales Anliegen der USA von höchster Bedeutung“ sei.49 Dahinter stand die Hoffnung, dass die zukünftige afrikanische Elite durch ihre Erfahrung in den Vereinigten Staaten gegenüber nichtdemokratischen Modellen immunisiert werden könne. Doch bei aller Identifikation mit den Zielen der westlichen Allianz bemühte sich die Corporation, nicht als verlängerter Arm staatlicher Politik wahrgenommen zu werden. So galt ihr das Stipendienprogramm auch deshalb als vorbildlich, weil es auf eine Initiative der Universitäten zurückging und unabhängig von der amerikanischen Regierung war.50 Einen weiteren Teil ihrer Gelder stellte die Stiftung für Studien über die Rolle der Universitäten im Entwicklungs- und Modernisierungsprozess in den „unterentwickelten“ Ländern zur Verfügung. Schließlich würden die Universitäten am ehesten jene Kenntnisse und Fähigkeiten bereitstellen können, die
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grant-making – to serving as a philanthropic center for policy analysis – an operating agency.“ Lagemann, Politics, 261. SHS, Memorandum, BDC Program, 11.05.1959, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 7. Vgl. Geiger, American Foundations, 318. Carnegie Corporation, For Agenda, 29.09.1960, CUL, RBML, CCNY, Series III.A, Box 384, Folder 3. Vgl. ebd. sowie Carnegie Corporation, For Agenda, 30.10.1962, CUL, RBML, CCNY, Series III.A, Box 384, Folder 4.
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benötigt wurden, um die sich aus der Unabhängigkeit ergebenden Probleme zu lösen.51 In dieser Überzeugung schlug sich die Prominenz der Kategorie des „Humankapitals“ nieder, die in der Modernisierungstheorie eine wichtige Rolle spielte.52 Folgerichtig finanzierte die Corporation an US-Universitäten soziologische und politologische Studien über den Verlauf und die Bedingungen von Modernisierung in den Entwicklungsländern. Von diesen Geldern profitierte unter anderem das Center for International Studies (CENIS) am Massachusetts Institute of Technology, ein Zentrum der Modernisierungstheorie und eine Schnittstelle zwischen amerikanischer Sozialwissenschaft, State Department und Central Intelligence Agency (CIA). Lucian Pye, damals CENIS-Mitarbeiter, erhielt 1957 25.000 Dollar für eine Studie über den politischen Prozess in Burma, um herauszufinden, welche Strukturen die politische Entwicklung blockfreier Nationen entlang demokratischer oder autoritärer Linien beförderten.53 Solche Studien sollten das amerikanische Wissen über jene Faktoren verbessern, die dazu beitrugen, „unabhängige, stabile und demokratische Nationen“ hervorzubringen und zu stabilisieren.54 1961 gewährte die Carnegie Corporation CENIS weitere 475.000 Dollar für ein Forschungs- und Ausbildungsprogramm auf dem Gebiet der „Politics of Transitional Societies“. Zur Begründung hieß es: Second only to the nuclear arms race as a world problem is the explosive restlessness of the underdeveloped nations. Because the fate of these areas is of great concern to the United States, our country has responded liberally to their requests for help as they strive toward modernization of their political, social, and economic structures.55
Doch die Finanzierung von Modernisierungsprojekten sei unsinnig, wenn man nicht wisse, wie Modernisierung wirklich vonstatten gehe. Deshalb bedürfe es besserer Kenntnisse und einer größeren Zahl von Experten, um den Modernisierungsprozess lenken zu können.56 Die Förderung solcher Studien hatte nicht zuletzt den Effekt, eine ganze Generation von Sozialwissenschaftlern im Sinne der Modernisierungstheorie zu prägen. Die Frage, ob die wissenschaftliche Unabhängigkeit der Forscher durch die enge Orientierung an den nationalen Interessen beeinträchtigt 51 Vgl. Carnegie Corporation, Vermerk, ungezeichnet, 05.01.1961, CCNY, Series III.A, Box 417, Folder 1. 52 Vgl. Hess, Waging the Cold War, 323. 53 Vgl. Carnegie Corporation, Information for Agenda Sheet, ohne Datum (1957), CUL, RBML, CCNY, Series III.A, Box 671, Folder 7. Zur Carnegie-Förderung der Sozialwissenschaften siehe Geiger, American Foundations. 54 Carnegie Corporation, Draft Agenda Sheet, ohne Datum (1963), CUL, RBML, CCNY, Series III.A, Box 441, Folder 6. Hier erhielt die Foreign Policy Studies Division der Brookings Institution 170.000 Dollar für eine komparative Studie über die Bedeutung der Bildung im politischen Entwicklungsprozess Lateinamerikas. 55 Carnegie Corporation, Appropriation, Januar 1961, CUL, RBML, CCNY, Series III.A, Box 671, Folder 8. 56 Vgl. ebd.
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werde, wurde zu dieser Zeit kaum diskutiert. Die internationale Lage schien zu brisant, um die gut funktionierende Arbeitsteilung zwischen Staat, Stiftungen und Forschung zu hinterfragen, und die Aussicht, von den großzügigen finanziellen Zuwendungen der Stiftungen zu profitieren, beförderte den Eifer vieler Wissenschaftler, sich mit politisch relevanten Themen zu befassen und als Experten an der Gestaltung der amerikanischen Politik mitzuwirken. Wise and Prudent Influence: Die Aktivitäten der Ford Foundation in den Entwicklungsländern Dass sich die Ford Foundation innerhalb weniger Jahre von einer seit 1936 in Michigan tätigen in die weltweit größte, international aktive Stiftung verwandeln konnte, ging auf den Tod Henry Fords 1947 zurück. Der Stiftungsgründer hatte der Foundation eine ungeheure Kapitalsumme vermacht und ihren Handlungsspielraum damit schlagartig vervielfacht.57 Das bereits erwähnte Gaither-Komitee empfahl 1949, die Mittel dazu einzusetzen, den Frieden zu sichern und sowohl die westliche als auch die blockfreie Welt vor dem Totalitarismus zu schützen. Dazu sollten vor allem die neuerdings unabhängigen asiatischen Staaten unterstützt werden, die besonders verletzlich schienen, da sie mit schweren sozioökonomischen und politischen Problemen zu kämpfen hatten und geographisch zwischen Ost und West gelegen waren. So beschloss die Ford Foundation, ein Drittel der Stiftungsmittel für die überseeische Entwicklungshilfe aufzuwenden. In den ersten Jahren profitierten der Libanon, Pakistan, Indien und die Philippinen von insgesamt sechseinhalb Millionen Dollar. 1952 / 53 kamen noch einmal fast acht Millionen Dollar für Indien, Pakistan, den Nahen Osten, Burma und Indonesien hinzu, wobei Indien den größten Teil der Mittel erhielt.58 Flankiert wurde dieses Programm von der Förderung der so genannten Area Studies an USUniversitäten, die das Wissen über die außereuropäischen Regionen vertiefen helfen sollten.59 Die politische Krisenwahrnehmung steigerte sich in den frühen fünfziger Jahren kontinuierlich, bis der Kalte Krieg mit dem Korea-Konflikt einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. 1953 stellte die Foundation einen direkten Zu-
57 Zur Geschichte der Ford Foundation siehe Sutton, Ford Foundation; Nielsen, Foundations, 78–97; Kalb, Stiftungen, 67–74; McCaughley, International Studies, 142–147; Geiger, American Foundations, 326–332; Bolling, Private Foreign Aid, 63–76. 58 Vgl. Ford Foundation, Summary of Action Recommended in Near East and Southeast Asia, 01.10.1951, FFA, Report 006324; Ford Foundation, The Problems of Asia and the Near East in Relation to World Peace, 16.04.1953, FFA, Report 003306. 59 Siehe dazu Unger, Ostforschung, 366–369.
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sammenhang zwischen ihrem Engagement in Asien und dem Nahen Osten und der Erhaltung des Weltfriedens her: Democracy is on trial in an area where up to now economic well-being exists only potentially and the revolutionary temper still rules politically. […] If democracy should fail, […] communism will be immeasurably and perhaps decisively strengthened and a third world war made virtually inescapable.60
Vor diesem Hintergrund stellte das Overseas Development Program der Stiftung den Versuch dar, „die Grundlagen des Friedens und der internationalen Verständigung zu stärken“. Dazu wollte die Ford Foundation die Gesellschaften in den Entwicklungsländern in ihrem Bemühen um „Wachstum und Fortschritt“ unterstützen.61 Dass es keine einheitliche, für alle Entwicklungsländer passende demokratische Lösung ihrer Probleme gebe, war den Beteiligten zumindest theoretisch klar: „The successful outcome of the changes going on in the area must depend upon the capacity of the peoples to evolve […] their own answers to the alternative of communism.“62 Dazu gehörte auch, den in den unabhängigen oder nach Unabhängigkeit strebenden Staaten ausgeprägten Nationalismus zu fördern, der häufig auf tradierten religiösen Elementen basierte und damit als natürliche Barriere gegen den Kommunismus galt. Aus diesem Grund unterstützte die Ford Foundation Einrichtungen wie das International Institute of Advanced Buddhistic Studies in Burma.63 Allerdings befürchteten Beobachter wie Don K. Price, ein Mitarbeiter der Ford Foundation und späterer Dekan der Harvard University, dass die religiösen Traditionen die Modernisierungsbemühungen der asiatischen Nationen beeinträchtigen könnten. Währenddessen führe der neue Nationalstolz oftmals dazu, dass sich die Entwicklungsländer weigerten, die Hilfe westlicher Regierungen anzunehmen, weil sie damit ihre Hilfsbedürftigkeit eingestünden.64 In dieser Situation schien die Ford Foundation eine einmalige Gelegenheit zu besitzen, den „wise and prudent influence“ der Vereinigten Staaten zu verbreiten und das internationale Vertrauen in die USA zu stärken, da sie als private Institution nicht mit jenem Misstrauen der ehemaligen Kolonien konfrontiert wurde, das Regierungsstellen entgegenschlug.65 Um diesen 60 Ford Foundation, The Problems of Asia and the Near East in Relation to World Peace, 16.04.1953, FFA, Report 003306. 61 Ford Foundation, The Ford Foundation Overseas Program 1953, ohne Datum, FFA, Report 012166. Ähnlich Chester C. Davis, Area I Program Review, Analysis and Projection, 08.04.1953, FFA, Report 010588. 62 Ford Foundation, The Problems of Asia and the Near East in Relation to World Peace, 16.04.1953, FFA, Report 003306. 63 Vgl. Arnold, Report No. 14: The Ford Foundation in Burma, 03.01.1955, FFA, Report 013075. 64 Vgl. Don K. Price an Rowan Gaither, Notes on a Trip Across Asia. Confidential, 19.01.1955, FFA, Report 009421. 65 Ford Foundation, The Problems of Asia and the Near East in Relation to World Peace, 16.04.1953, FFA, Report 003306.
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Vorteil wussten auch einige amerikanische Politiker und unterstützten deshalb das Engagement der Stiftungen in den Entwicklungsländern. John Foster Dulles, amerikanischer Außenminister und ehemaliger Kuratoriumsvorsitzender der Rockefeller Foundation, ermutigte die Ford Foundation 1955, in Indien aktiv zu werden, nachdem der US-Kongress nur einen Teil der beantragten Gelder bewilligt hatte, so dass die Regierung ihr Indien-Programm nicht vollständig realisieren konnte.66 Hier kam die wohlhabende, initiativfreudige Ford Foundation wie gerufen. Indien stand im Zentrum der amerikanischen Aufmerksamkeit, weil es zwischen den beiden Blöcken stand, an das kommunistische China grenzte und als das „weltgrößte demokratische Experiment“ galt. Wenn dieses Experiment scheitere und Indien an den Kommunismus falle, „[then] the whole of Asia will be split in two and perhaps lost irrevocably to the free world. Such an outcome would be a disaster of catastrophic proportions.“67 Deshalb empfahlen die Mitarbeiter der Ford Foundation, deren Engagement auf Südasien zu konzentrieren und Lateinamerika und Afrika vorläufig nur in begrenztem Maße zu unterstützen. Dabei setzte die Stiftung sowohl auf Projekte, die zur strukturellen Verbesserung der sozioökonomischen Lage beitragen sollten, als auch auf kurzfristige, symbolische Erfolge. Schließlich müssten die betroffenen Gesellschaften erkennen, wie ernst die USA ihre Probleme nähmen, und wenn sich eine amerikanische Stiftung für die Steigerung der agrarischen Produktion und des dörflichen Lebensstandards in Indien einsetze, werde die indische Sympathie für die USA erhöht, glaubte die Foundation.68 Ihre Arbeit in Indien gründete auf der Überzeugung, dass die Entwicklung des Landes in erster Linie von der effizienteren Nutzung der indischen Arbeitskraft abhänge.69 Daher sei ein Entwicklungsprogramm erforderlich, das auf die Ausbildung der betroffenen Dorfbevölkerungen setze und ihnen 66 Vgl. Waldemar Nielsen, Interview with Mr. John Foster Dulles, 18.04.1955, FFA, Report 005611. J. F. Dulles’ Bruder, Allen W. Dulles, der Direktor der CIA, meinte, die Ford Foundation solle gezielt in jenen Regionen aktiv werden, in denen die technische Hilfe der amerikanischen Regierung aufgrund des Misstrauens der dortigen Regierungen gegenüber den USA ineffektiv sei. Vgl. Waldemar Nielsen, Interview with Mr. Allen W. Dulles, ebd. 67 Ford Foundation, The Problems of Asia and the Near East in Relation to World Peace, 16.04.1953, FFA, Report 003306. So auch The Economist 1955: „The Indian Economy today is the subject of what is, without doubt, the world’s most fateful experiment. […] the outcome is nothing less than the demonstration that underdeveloped economies can – or cannot – achieve progress by Western and liberal means.“ The Economist, India – Progress and Plan, Ausschnitt, 22.01.1955, FFA, Report 012621. Vgl. auch George Rosen, Western Economists and Eastern Societies. Agents of Change in South Asia, 1950– 1970, Baltimore, London 1985, 9–12. 68 Vgl. Ford Foundation, The Problems of Asia and the Near East in Relation to World Peace, 16.04.1953, FFA, Report 003306. 69 Diese Einschätzung teilten die Ökonomen am CENIS, das eng mit der Ford Foundation kooperierte. Siehe dazu Rosen, Western Economists, 27–38, Kapitel 5.
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helfe, Armut, Krankheit und Analphabetismus aus eigener Kraft zu bewältigen.70 Hier lagen die Wurzeln des so genannten community development, das rasch zu einem Kernbestandteil westlicher Entwicklungshilfepolitik wurde. Grundlage war die in der indischen Regierung verankerte Annahme, dass die betroffenen Menschen aktiv in die Entwicklungsprojekte eingebunden werden müssten, um Erfolge zu erzielen, und dass dazu die lokalen Gemeinschaften gestärkt werden müssten.71 In der amerikanischen Förderung des Konzepts war auch die Hoffnung enthalten, die „rückständigen“ Gesellschaften mit demokratischen Entscheidungs- und Handlungsweisen vertraut machen zu können – auch dies ein Mittel, um sie gegen „totalitäre“ Einflüsse zu festigen und vor der kommunistischen Unfreiheit zu bewahren.72 Vor diesem Hintergrund beteiligte sich die Ford Foundation seit den frühen fünfziger Jahren an einem Großprogramm, das die indische Regierung im Rahmen ihres Zweiten Fünfjahresplanes (1956–1961) organisierte. Es setzte sich aus sechs Teilprojekten zusammen: Die Organisation von Trainingszentren für vier- bis fünftausend so genannte village-level workers, die den Dorfbewohnern zeigen sollten, wie sie ihre Anbaumethoden und ihre Lebensbedingungen verbessern könnten; Schulungen in Hygiene und öffentlicher Gesundheit; die Ausbildung indischer Landwirtschaftsstudenten in der Erweiterung von Anbauflächen; Pilotprogramme zur Erweiterung der Anbauflächen in je einhundert Dörfern in den 15 größten indischen Bundesstaaten; die Einrichtung eines nationalen Evaluationsdienstes, um die Fortschritte und Probleme der Reformen zu analysieren; und die Etablierung von Zentren, die Seminare abhalten, Spezialisten für das community development ausbilden und die Ideen der Reformprogramme vermitteln sollten. Auf diese Weise sollte Indien auf dem Gebiet der Nahrungsmittelversorgung unabhängig gemacht und das Land dadurch im Sinne des Westens politisch stabilisiert werden. Allein zwischen 1951 und 1963 investierte die Ford Foundation dazu mehr als 55 Millionen Dollar in indische Aus- und Weiterbildungsprojekte, wovon fast 22 Millionen für die ländliche Entwicklungsförderung aufgewendet wurden.73 70 Vgl. Ford Foundation, Summary Report on Visit to Near East, South Asia, and Far East, 01.10.1951, ungezeichnet, FFA, Report 006323. 71 „Isolierte Modell-, Pilot- oder Anschauungsprojekte“, die kein Multiplikatorenpotential besäßen und bei denen nicht sichergestellt sei, dass sie direkt zum Wachstum eines Landes beitrügen, sollten ausdrücklich nicht gefördert werden. Ford Foundation, The Problems of Asia and the Near East in Relation to World Peace, 16.04.1953, FFA, Report 003306. 72 Allerdings äußerte Waldemar Nielsen intern Zweifel, ob es wirklich das Ziel der Ford Foundation sein könne oder solle, Demokratie nach westlichem Vorbild zu verbreiten. Er plädierte für eine realistische Einschätzung dessen, was die Foundation leisten könne und schlug vor, enger definierte Ziele zu formulieren. Vgl. WAN, Comments on Don Price’s Statement of Issues Dated 4 / 4 / 55, 05.04.1955, FFA, Report 012621. 73 Vgl. Ford Foundation, The Ford Foundation and Foundation-Supported Activities in
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Auf das Community-Development-Programm der Stiftung folgte in den späten fünfziger Jahren das so genannte Intensive Agricultural District Program (IADP): Es sollte Methoden zur Steigerung der Nahrungsproduktion entwickeln und testen, die Ressourcenbasis der Dörfer verbessern, die landwirtschaftlichen Grundlagen für rascheren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt legen und das Einkommen der Bauern erhöhen.74 Realisiert werden sollten diese ehrgeizigen Ziele mittels eines integrativen Ansatzes, der sowohl die Bauern und die landwirtschaftlichen Praktiken als auch die Rolle der Regierung bei der Verteilung von Produktionsmitteln und Erträgen umfasste, neue Technologien einführte und das nötige Wissen vermittelte. Zwischen 1960 und 1972 flossen mehr als 14 Millionen Dollar in das Projekt.75 Hintergrund von IADP war die zunehmende Angst vor einer „Bevölkerungsexplosion“ gepaart mit wachsenden Ernährungsproblemen in Indien. Die Dürre von 1957 / 58 hatte die politische Lage Indiens destabilisiert, und die USA fürchteten, dass die kommunistischen Einflüsse zu stark würden.76 Eine Anfang 1959 von der Ford Foundation finanzierte Studie über India’s Food Crisis and Steps to Solve It entwarf die Grundzüge des Projekts, und die indische Regierung, die um die Hilfe der Stiftung gebeten hatte, machte sich das Konzept zu Eigen. Sie entwickelte daraus ein Zehn-Punkte-Pilotprogramm, das in den Dritten Fünfjahresplan integriert wurde. Douglas Ensminger, seit 1952 Repräsentant der Ford Foundation in Indien und ein Vertrauter Nehrus, überzeugte das Kuratorium der Stiftung, sich finanziell zu beteiligen.77 1960 bewilligten dessen Mitglieder mehr als zehn Millionen Dollar, um Experten, Geräte, Kunstdünger und einheimische Fachkräfte zu bezahlen.78 Auch die Rockefeller Foundation, andere westliche Regierungen sowie internationale Organisationen engagierten sich. Sie teilten die Hoffnung, das Ernährungsproblem Asiens mit moderner Technologie lösen zu können.79 Schließlich besaß Indien Vorbildcharakter für die anderen EntwicklungslänIndia. Summary of Grants from 1951 to July 15, 1963, FFA, Report 003262. 74 Vgl. Ford Foundation, Docket Excerpt, Board of Trustees Meeting, 3 / 17-18 / 60, Overseas Development, Food Production in India, FFA, Report 009453 (Attachment I). Zu IADP siehe auch Rosen, Western Economists, 76–83; Unger, Modernization, 150–153. 75 Vgl. Ford Foundation, Appropriation Request, 01.09.1972, FFA, Reel 3372, Grant 60– 83, Section 1. 76 Vgl. Rosen, Western Economists, 74; David C. Engerman, West Meets East. The Center for International Studies and Indian Economic Development, in: ders. u.a. (Hg.), Staging Growth, 199–223, hier 212. 77 Vgl. Douglas Ensminger, Draft Docket Item, Dezember 1959, FFA, Reel 3372, Grant 60–83, Section 4. Siehe auch Rosen, Western Economists, 75f. 78 Vgl. George F. Gant an David E. Bell, The Foundation and IADP, 29.08.1966, FFA, Report 009453. 79 Vgl. Ford Foundation, Overseas Development Program. Evaluation (1951–1961) and Statement of Current Objectives and Policies, Dezember 1961, FFA, Report 008897. Vgl. auch Hess, Role, 58.
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der; wenn das indische Modernisierungsexperiment gelänge, würden sie einsehen, dass das westliche dem östlichen Entwicklungsmodell überlegen sei, hoffte die Stiftung.80 Da die Agrarproblematik eng mit dem sich beschleunigenden Bevölkerungswachstum verbunden war, beteiligte sich die Ford Foundation seit Mitte der fünfziger Jahre auch an dem von der Rockefeller Foundation organisierten Population Council81 – und zwar gleich in solchem Maße, dass sie zur größten Kraft auf dem Gebiet wurde. In Kooperation mit der indischen Regierung förderte sie reproduktionsmedizinische Forschung, unterstützte Programme zur Familienplanung und beteiligte sich an der Ausbildung von indischen Wissenschaftlern und Beratern. Institutionelle Grundlage dieser Arbeit waren neugegründete Zentren, die Lehrgänge über Gynäkologie, Sexualkunde, Verhütung und Kinderpflege sowie über Ernährung, Hauswirtschaft, Hygiene, Brunnenbau usw. abhielten. Parallel dazu wurden statistische Daten ausgewertet und neue Methoden und Praktiken erprobt.82 Dieser strukturelle Ansatz wurde jedoch bald durch ein stärker auf Geschwindigkeit und Sichtbarkeit ausgelegtes Konzept ersetzt, in dessen Rahmen auch IADP einzuordnen ist. Denn der Zweite Fünfjahrsplan der indischen Regierung setzte auf rasche Industrialisierung nach sowjetischem Vorbild, und zur selben Zeit intensivierte die Sowjetunion ihr Engagement in der Dritten Welt: Sobald eine ehemalige Kolonie unabhängig wurde, trat der Ostblock als großzügiger, pragmatischer Spender auf den Plan. Zusammen mit der sowjetischen Propaganda brachten seine Hilfsmaßnahmen (die mit der Berlin-Krise und der kubanischen Revolution zusammenfielen) den Westen in der Dritten Welt in die Defensive. Unter diesen Umständen schienen zeitintensive Strukturreformen zur Behebung der Armut nicht geeignet, um den Wettbewerb mit der UdSSR zu gewinnen. Vielmehr mussten rasche, sichtbare Erfolge her, und zu diesem Zweck begann die Stiftung, in die Entwicklung neuer, resistenter und ergiebigerer Getreidesorten – so genannte High Yield Varieties (HYVs) – und den Einsatz von Kunstdünger zu investieren.83 80 Vgl. Ford Foundation, A Program of Foundation Assistance in Meeting Emergency Needs of India’s Second Five-Year Plan, 03.02.1956, FFA, Report 003459. 81 Siehe dazu Bolling, Private Foreign Aid, 60f.; Rosen, Western Economists, 229; Hess, Waging the Cold War, 331f.; Frank W. Notestein, The Population Council and the Demographic Crisis of the Less Developed World, in: Demography 5.2 (1968), 553–560. Die Gründungsdokumente des Council finden sich in John D. Rockefeller, On the Origins of the Population Council, in: Population and Development Review 3.4 (1977), 493–502. 82 Vgl. Radhika Ramasubban u. Bhanwar Singh Rishyasringa, Sexuality and Reproductive Health and Rights. Fifty Years of the Ford Foundation in India, New Delhi 2002, FFA, Report 016626; McCarthy, Government, 132ff.; Oscar Harkavy, Lyle Saunders u. Anna L. Southam, An Overview of the Ford Foundation’s Strategy for Population Work, in: Demography 5.2 (1968), 541–552. 83 Die amerikanische Chemieindustrie hatte großes Interesse am Verkauf von Kunstdün-
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Die Bedenken, die einige Mitarbeiter der Stiftung gegenüber der neuen Förderungsstrategie äußerten, gerieten angesichts der Brisanz der internationalen politischen Lage, des modernisierungstheoretischen Enthusiasmus und Douglas Ensmingers erfolgreicher Lobbypolitik in den Hintergrund.84 Zur selben Zeit begann die Ford Foundation, sich stärker als zuvor in Afrika, vor allem südlich der Sahara, zu engagieren. Eine von ihr entsandte Erkundungsmission diagnostizierte Anfang 1957 ein großes Betätigungsfeld für die Stiftung, da die strategische und politische Bedeutung des afrikanischen Kontinents mit der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien exponentiell stieg und sich nun die – schon früher von der Carnegie Corporation erkannte – Gelegenheit zu bieten schien, Einfluss auf die Neuorientierung der afrikanischen Gesellschaften zu nehmen.85 Unter anderem wurde die Ford Foundation in der ehemaligen belgischen Kolonie Kongo aktiv: 1959 brachen im Kongo Unruhen aus, in deren Folge ein amerikanisch-sowjetischer Wettstreit um das uranreiche Land entbrannte. Mit Unterstützung der CIA wurde der sozialistisch orientierte Unabhängigkeitsführer Patrice Lumumba ermordet, nachdem die Republik Kongo im Juli 1960 unabhängig geworden war.86 Noch im gleichen Jahr gründete die Ford Foundation das National Institute of Political Studies und die National School of Law and Administration, um eine administrative Elite hervorzubringen, die den Kongo auf westliche Bahnen führen sollte.87 Auch andere afrikanische Staaten erhielten Gelder, um nationale Eliten zu schulen: Zwischen 1958 und 1970 gingen die höchsten Summen an Nigeria, gefolgt von der Republik Kongo, Ghana, Kenia und Tansania; Westafrika erhielt während dieser Zeit 52.239 Dollar, Ost-
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ger an Indien und bemühte sich, die Gestaltung der amerikanischen Indien-Politik zu beeinflussen. Vgl. W. D. Posgate, Fertilizers for India’s Green Revolution. The Shaping of Government Policy, in: Asian Survey 14.8 (1974), 733–750. So unter anderem der damalige Präsident der Foundation, Henry Heald, der kritisierte, dass IADP mehr auf Größe und Sichtbarkeit als auf Innovation setze, und F. Hill, der meinte, die Stiftung solle sich auf die Förderung von Forschung und Technologie konzentrieren, anstatt sich mit der Erweiterung von Anbauflächen zu befassen. Vgl. George F. Gant an David E. Bell, The Foundation and IADP, 29.08.1966, FFA, Report 009453. Vgl. auch Rosen, Western Economists, 78. Siehe den Bericht der Mission: William O. Brown, Melvin J. Fox u. John B. Howard, Report of Ford Foundation Mission to Africa. Confidential, 16.01.1957, FFA, Report 000579. Vgl. auch folgende Aussage eines Mitarbeiters der Stiftung: „[P]rivate foundations are especially well adapted assisting newly emerging countries in developing educational and training institutions suited to their needs. […] Ideas and relatively small sums are the essentials at this stage.“ F. F. Hill, OD [Overseas Development] Policies and Organization – Discussion Memorandum. Confidential, 19.02.1958, FFA, Report 010460. Vgl. Dietmar Rothermund, Delhi, 15. August 1947. Das Ende kolonialer Herrschaft, München 21999, 149–154; Mollin, Die USA und der Kolonialismus. Vgl. Hess, Waging the Cold War, 328.
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und das südliche Afrika 21.675 Dollar.88 Seit Mitte der sechziger Jahre erhielt die afrikanische Landwirtschaft zunehmende Aufmerksamkeit, und mit der Etablierung des International Institute of Tropical Agriculture in Zusammenarbeit mit der Rockefeller Foundation (1967) wurde dieses Gebiet zum größten Einzelposten der Ford-Förderung in Westafrika.89 Politische Entwicklungen waren auch ausschlaggebend für die Entscheidung der Ford Foundation, verstärkt in Lateinamerika tätig zu werden, denn die Revolution auf Kuba 1959 schien zu zeigen, dass sich der Kommunismus weiter ausdehnte, wenn man ihm nicht Einhalt gebot. Deshalb versuchte die Stiftung, die Lebens- und Wirtschaftsbedingungen in den lateinamerikanischen Staaten zu verbessern und Sympathien für die USA zu generieren. Dazu förderte sie Ausbildungs- und Universitätsprojekte, unterstützte das Handwerk und kleine Betriebe, organisierte Gesundheitsprojekte und setzte sich für die Rationalisierung der Landwirtschaft ein.90 Mitte der sechziger Jahre hatten sich die Ausgaben der Ford Foundation in der Dritten Welt seit den frühen fünfziger Jahren auf eine Milliarde Dollar summiert.91 Levelling Up: Die Entwicklungshilfe der Rockefeller Foundation in der Dritten Welt Die Rockefeller Foundation hatte bereits während des Zweiten Weltkriegs begonnen, Leitlinien für ihre Förderungspolitik der Nachkriegszeit zu entwerfen – weiterhin unter der Vorgabe ihres Gründers, „das Wohl der Menschheit in aller Welt“ zu fördern. Da sie sich über Jahrzehnte mit Gesundheitsund Ernährungsproblemen in Asien und Lateinamerika beschäftigt hatte, lag „Food as a Field of Interest“ nahe, und die Kriegserfahrung beförderte diese Einschätzung. Konflikte um den Zugang zu Anbauflächen und Rohstoffen, die kriegsbedingte Vernichtung von Nutzgebieten, Produktionseinrichtungen und Lebensmittelbeständen und nicht zuletzt die systematische, von den Nationalsozialisten praktizierte Aushungerung von Bevölkerungen hatten gezeigt, welch zentrale Rolle Nahrungssicherheit für den Erhalt des Friedens spielte.92 In diesem Zusammenhang erhielt anfangs Mitteleuropa die größte 88 Vgl. Ford Foundation, The Ford Foundation and Sub-Sahara Africa. Information Paper, For Internal Use Only, Dezember 1970, FFA, Report 002774. Siehe auch Melvin J. Fox an Cleon O. Swayzee, Report on Africa, 04.04.1961, FFA, Report 002067. 89 Vgl. Ford Foundation, The Ford Foundation and Sub-Sahara Africa. Information Paper, For Internal Use Only, Dezember 1970, FFA, Report 002774. Siehe auch Bolling, Private Foreign Aid, 59. 90 Vgl. Bell, The Ford Foundation, 469f. 91 Vgl. Kathleen McCarthy, U.S. Foundations and International Concerns, in: dies. (Hg.), Philanthropy and Culture. The International Foundation Perspective, Philadelphia 1984, 3–24, hier 6. 92 Vgl. Dean Mann, Food as a Field of Interest, 04.11.1943, RAC, RF, RG 3.2, Series 900,
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Aufmerksamkeit, doch nachdem dessen Rekonstruktion mit Hilfe des European Recovery Program – das zum Vorbild für den wirtschaftlichen Aufbau der Dritten Welt wurde – unerwartet rasch vonstatten ging, verschob sich das Augenmerk bald auf die außereuropäischen Regionen. Eng mit der Ernährungsfrage verbunden, kristallisierte sich in den späten vierziger Jahren die Bevölkerungsproblematik als zweite große Herausforderung heraus. Sie zog ebenfalls das Interesse der Rockefeller Foundation auf sich. Deren Vorkriegsengagement auf dem Gebiet der medizinischen Forschung und der Organisation von Hygieneprojekten führte unumgänglich zu der Frage, wie mit den Konsequenzen dieser Maßnahmen – gesteigerte Lebenserwartung und wachsende Bevölkerungsdichte bei gleich bleibender oder gar sinkender Wirtschaftskraft – umzugehen sei. Dass diese Problematik globale Relevanz besaß (einige sahen in ihr sogar ein ähnlich großes Gefahrenpotential wie in der atomaren Rüstung)93 und deshalb auch auf internationaler Ebene bewältigt werden musste, realisierten amerikanische Wissenschaftler und Politiker schon bald. Unter dem neomalthusisch geprägten Konzept der human ecology plädierten einige von ihnen deshalb seit Ende der vierziger Jahre für eine enge Kooperation zwischen Medizin, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Technologie und Politik.94 Die US-Regierung und die Stiftungen hatten sich lange gescheut, auf dem Gebiet der Bevölkerungsentwicklung und Geburtenkontrolle aktiv zu werden, weil sie moralische Vorbehalte hatten oder um ihre Reputation fürchteten.95 Dass sich dies änderte, war John D. Rockefeller III. zu verdanken, der persönlich das bereits erwähnte Population Council etablierte, das zum Zentrum der demographischen Forschung in den USA wurde.96 Ergänzend finanzierte die Rockefeller Foundation Forschungsprojekte an amerikanischen Universitäten. Dazu gehörte ein umfangreiches Programm, das die Harvard University gemeinsam mit der indischen Regierung und einer indischen Hochschule durchführte, um Methoden, Erfolge und Probleme der Verhütung, Familienplanung und Box 39, Folder 207. 93 Vgl. John D. Rockefeller 3rd, People, Food, and the Well-Being of Mankind. The McDougall Memorial Lecture, 11th annual meeting of the UN Food and Agricultural Organization in Rome, 06.11.1961, RAC, RF, RG 6.7, Series I, Box 6, Folder 40. 94 Vgl. u.a. Special Report to the Board of Scientific Directors of the International Health Division of the Rockefeller Foundation: Human Ecology (Population), 04.11.1949, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 29, Folder 156 (900 Pro Pop 1). Zur Bedeutung der Dritte-Welt-Demographie im Kalten Krieg und dem Anteil der Stiftungen an ihrer Entwicklung siehe John Sharpless, Population Science, Private Foundations, and Development Aid. The Transformation of Demographic Knowledge in the United States, 1945– 1965, in: Frederick Cooper u. Randall Packard (Hg.), International Development and the Social Sciences. Essays on the History and Politics of Knowledge, Berkeley 1997, 176–200. 95 Vgl. McCarthy, Government, 132. 96 Vgl. Hess, Role, 60.
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der davon erhofften Verbesserung des Lebensstandards zu analysieren und Alternativen zu bestehenden Konzepten zu entwickeln.97 Stellten die Ernährungsfrage und der Bevölkerungszuwachs schon an sich eminente Herausforderungen an eine zu formulierende „Weltaußenpolitik“ dar, erhielten sie mit dem sich verschärfenden Ost-West-Konflikt eine ganz neue, als dramatisch empfundene Relevanz: Americans have long believed that they know how to make the world healthy, prosperous, and free. […] we are now committed to putting into effect such a program of development throughout the world and that on our success depends our ability to win the cold war or the peace after a hot war and therefore our ability to preserve even in our own country the institutions we believe in.
So Charles B. Fahs, Leiter der Division of Humanities der Rockefeller Foundation 1950.98 Lasse sich die Bevölkerungs- und Ernährungsfrage nicht konstruktiv lösen, werde sich der Totalitarismus durchsetzen, so seine Annahme. Fahs meinte zu erkennen, dass die westlichen Modernisierungskonzepte den asiatischen Gesellschaften eher bedrohlich denn hilfreich erschienen. Deshalb seien ganzheitliche Ansätze erforderlich, die – wie der Kommunismus – die umfassende Lösung aller identifizierten Probleme versprächen. Dass ein solches Universalprogramm nicht Aufgabe einer privaten Stiftung war, sondern in die Verantwortlichkeit der Regierung oder internationaler Organisationen fiel, stand außer Frage. Doch da die US-Regierung die Brisanz der Situation offenbar nicht erkenne und meine, alle Probleme mit „dollars and technology“ beheben zu können, müsse die Rockefeller Foundation einspringen. Sie solle wissenschaftliche Studien und Pilotprojekte initiieren und finanzieren, qualifizierte Entwicklungshelfer ausbilden und bessere Kenntnisse über die bestehenden Probleme erarbeiten, die sie der Regierung zur Verfügung stellen könnte, empfahl Fahs.99 Das hier erkennbare Selbstverständnis, als Vordenker einer modernisierungstheoretisch orientierten Außenpolitik zu agieren und die methodischen und analytischen Instrumente für ihren Erfolg bereitzustellen, bestimmte die Arbeit der Rockefeller Foundation in den folgenden Jahren. Unter dem Eindruck des Korea-Krieges, der fortschreitenden atomaren Rüstung und der einsetzenden Dekolonisation definierte ihr Kuratorium 1953 drei Gebiete, denen sich die Stiftung hauptsächlich widmen sollte: Das erste war „Man in 97 Siehe die Unterlagen in RAC, RF, RG 1.2, Series 200, Box 45, Folders 369–372. Siehe dazu John H. Perkins, Geopolitics and the Green Revolution. Wheat, Genes, and the Cold War, New York 1997, Kapitel 6; Matthew Connelly, Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population, Cambridge, Mass., London 2008, Kapitel 5. 98 Charles B. Fahs, Development Programs and the RF, 26.09.1950, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 69, Folder 349 (900 Pro Unar 3). 99 Vgl. ebd. Ähnlich John Marshall, Development Programs and the RF, Statement on RF Orientation, 25.09.1950, ebd. (900 Pro Unar 3a).
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His Human Environment“, womit die Gefahr atomarer Zerstörung und die Notwendigkeit zu internationaler Verständigung gemeint war. „Man’s Moral and Aesthetic Values“, das zweite Gebiet, enthielt das Plädoyer, die amerikanischen Werte und Errungenschaften stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, um sie im Wettbewerb mit der Sowjetunion effektiver einsetzen zu können. Der dritte Komplex, „Man – His Biological Nature, His Health, and His Food“, stand im Mittelpunkt der Rockefeller-Arbeit. Er hing eng mit dem Zugang der USA zu Rohstoffen in Übersee und der Wahrung des amerikanischen Lebensstandards zusammen. Damit wiederum schien die Notwendigkeit verknüpft, die agrarische Produktivität der armen Länder zu erhöhen, um potentielle, von unzureichender Versorgung, ungleicher Besitzverteilung und kommunistischer Propaganda beförderte Revolten zu verhindern. Nicht sozialistische Gleichmacherei („levelling down“), sondern „levelling up, based upon a hope of improvement plus actual performance sufficient to sustain hope“ schien das Gebot der Stunde zu sein, wie Dean Rusk, der damalige Präsident der Stiftung und spätere US-Außenminister, 1953 formulierte.100 Für wie bedeutsam die Stiftung diese Herausforderung hielt, zeigt sich daran, dass sie 1955 45 Millionen Dollar für zehn Jahre zu ihrer Bewältigung bereitstellte.101 Ein großer Teil des Geldes ging im Rahmen des University Development Program an ausgesuchte Universitäten in strategisch bedeutenden Regionen: Lateinamerika, Afrika, der Ferne Osten und die arabisch-islamische Region, später auch die Philippinen; Letztere galten wegen ihrer internationalen Erfahrungen, ihrer westlichen Orientierung und den Sympathien, die sie in den lateinamerikanischen Ländern besaßen, als Vorbild für Südostasien.102 Von der Förderung der Universitäten versprach sich die Rockefeller Foundation, eine leistungsfähige Elite hervorzubringen, deren Führungstätigkeit „Vorteile für das gesamte Erziehungssystem und den wirtschaftlichen und sozialen 100 Zit. n. Dean Rusk, Notes on Rockefeller Foundation Program. Prepared for discussion at meeting of Board of Trustees, Dec. 1–2, 1953, 01.12.1953, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 29, Folder 159 (900 Pro 46). 101 Vgl. Dean Rusk, Background for Proposal of Increased Program in Non-Western Underdeveloped Areas, Memorandum to the Trustees, 29.11.1955, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 69, Folder 349 (900 Pro Unar 6). 102 Vgl. Rockefeller Foundation, Strengthening Emerging Centers of Learning, Excerpt from 12 / 63 report to Trustees, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 69, Folder 349 (900 Pro Unar 9a). Zur Rockefeller-Förderung von Universitäten in den Entwicklungsländern siehe James S. Coleman u. David Court, University Development in the Third World. The Rockefeller Experience, Oxford 1993. Auch die Ford Foundation hielt die Philippinen für entscheidend, um Asien für den Westen zu gewinnen: „[T]he Philippines […] is a country of potential ‚feeder‘ significance in relation to the other countries of Asia and a potential source of Asian leadership for the spread of Western democratic influences.“ Ford Foundation, The Problems of Asia and the Near East in Relation to World Peace, 16.04.1953, FFA, Report 003306.
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Fortschritt in dem Land oder der Region“ bieten werde.103 Dass dieser Fortschritt entlang westlicher Werte und Normen vor sich gehen sollte, stand außer Frage – ebenso wie die Annahme, dass die Entwicklungsländer nichts dringender bräuchten als eine große Zahl an Führungspersonen.104 Unter anderem profitierte die University of East Africa von dieser Konzentration auf Eliten als Katalysatoren und Träger der Modernisierung. Sie setzte sich aus den nationalen Hochschulen Ugandas, Tansanias und Kenias zusammen. Mit ihrer Förderung, an der sich auch die Ford Foundation und die Carnegie Corporation beteiligten, verband sich das Ziel, die Kooperation der ostafrikanischen Staaten zu intensivieren und die politische Lage über die Umbrüche der Dekolonisation hinweg zu stabilisieren.105 Besondere Aufmerksamkeit widmete die Rockefeller Foundation den Geisteswissenschaften, um mit ihrer Hilfe die Identitätsbildung der neuen Nationen im westlichen Sinne zu fördern.106 Daneben beteiligte sie sich seit den frühen sechziger Jahren an agrarischen Reformprojekten in den Entwicklungsländern. Sie unterstützte ausgewählte Pilotprojekte sowie Forschungszentren und Hochschulen, deren Curricula an jene amerikanischer Landwirtschaftshochschulen angepasst wurden.107 In ihrem Bemühen um die Verbesserung der Ernährungslage in den Entwicklungsländern griff die Rockefeller Foundation auf ihre Erfahrungen mit der Grünen Revolution in Mexiko zurück. Die Arbeitshypothese ihres Agrarprogramms lautete, dass Hunger nur im Kontext von „wirtschaftlicher Schwäche, chronischer Krankheit, Bildungsdefiziten und häufig ungenügenden Klima- und Bodenbedingungen“ zu verstehen sei. Deshalb müssten alle Hilfsprogramme darauf abzielen, das Verhalten der Bewohner der betroffenen Gebiete zu ändern – mit John D. Rockefeller III gesprochen: „[W]e must not only lead the world to food, but we must somehow make it eat“.108 Denn 103 J. George Harrar, Proposed University Development Program, with Summary of Aids to Selected Institutions Abroad, 13.11.1961, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 69, Folder 349 (900 Pro Unar 9). 104 Vgl. Rockefeller Foundation, Proposals for the Future Program of the Rockefeller Foundation, 01.12.1963, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 29, Folder 159 (900 Pro 47a). 105 Vgl. J. George Harrar, Proposed University Development Program, with Summary of Aids to Selected Institutions Abroad, 13.11.1961, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 69, Folder 349 (900 Pro Unar 9). 106 Vgl. Hess, Waging the Cold War, 330f. 107 Vgl. Rockefeller Foundation, The Relationship of Conquest of Hunger to University Development in India, Entwurf, 11.12.1967, RAC, RF, RG 6.7, Series I, Box 6, Folder 36. Anders als die Ford Foundation verzichtete die Rockefeller Foundation bewusst darauf, Kosten für Gebäude und dergleichen zu übernehmen, um sich stattdessen auf Forschung und Ausbildung zu konzentrieren. Vgl. Arthur A. Goldsmith, The Rockefeller Foundation Indian Agricultural Program. Why It Worked, in: Hewa u. Hove (Hg.), Philanthropy, 85–114, hier 93. 108 John D. Rockefeller 3rd, People, Food, and the Well-Being of Mankind. The McDougall
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für die meisten Gemeinschaften in den „unterentwickelten“ Regionen sei nun einmal charakteristisch, dass ihre soziale Organisation „primitiv und gelähmt“ und sie selbst „unproduktiv und unfortschrittlich“ seien, so die Rhetorik der Modernisierungstheorie.109 Daraus folgte, dass die Züchtung neuer Getreidesorten und der Einsatz von Kunstdünger allein nicht ausreichten, sondern diese Maßnahmen mit einer grundlegenden Modernisierung der agrarischen Gesellschaften verbunden werden müssten. Mit diesem „holistischen“ Ansatz unterschied sich die Rockefeller-Stiftung von der Ford Foundation, die zur selben Zeit ihre ganzheitliche Methodik zugunsten der Konzentration auf neue Technologien und rasche Erfolge aufgab.110 Auf supranationaler Ebene bemühte sich die Rockefeller Foundation, ein wissenschaftliches Netzwerk zu etablieren, um Ernährungsforschung, medizinische, agrar- und wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung und Schulung sowie den Aufbau von kombinierten Forschungs- und Bildungseinrichtungen in den Entwicklungsländern besser zu koordinieren. Auf den Philippinen etablierte sie in Zusammenarbeit mit der dortigen Regierung und der nationalen Universität das International Rice Research Institute (IRRI), an dem unter anderem der berühmte „Wunderreis“ – IR 8, eine besonders ertragreiche und resistente Reissorte – gezüchtet wurde.111 Das IRRI vereinte zwei der 1963 formulierten Stiftungsinteressen auf vorbildliche Weise: „The Conquest of Hunger and its Attendant Ills“ und „The Strengthening of Emerging Centers of Learning in the Developing World“. Indem sie die Hochschulen der Entwicklungsländer unterstützte, wollte die Rockefeller Foundation dazu beitragen, jenes Wissen, das benötigt wurde, um die Ernährungsprobleme der Entwicklungsländer zu bewältigen, in den betroffenen Regionen selbst hervorzubringen. Dabei kam der Stiftung ihr privater, unabhängiger Status zugute: „often our most useful function is to do things that others ought to do but which we
Memorial Lecture, 11th annual meeting of the UN Food and Agricultural Organization in Rome, 06.11.1961, RAC, RF, RG 6.7, Series I, Box 6, Folder 40. 109 Toward the Conquest of Hunger. Excerpt from 12 / 63 report to Trustees, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 39, Folder 207 (900 Pro Food 1a). 110 Landwirtschaftliche Experten bescheinigten den von der Rockefeller Foundation in Indien durchgeführten Landwirtschaftsprojekten im Nachhinein ein insgesamt positives Ergebnis. Vgl. Uma Lele u. Arthur A. Goldsmith, The Development of National Agricultural Research Capacity. India’s Experience with the Rockefeller Foundation and Its Significance for Africa, in: Economic Development and Cultural Change 37.2 (1989), 305–343; Goldsmith, Rockefeller Foundation. 111 Vgl. Toward the Conquest of Hunger. Excerpt from 12 / 63 report to Trustees, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 39, Folder 207 (900 Pro Food 1a). Siehe dazu unter anderem Mary Ann Quinn, RF Grants in the Philippines, 1958–1990, in: Rockefeller Archive Center Newsletter, Spring 2006, 10–12, hier 10f. Zum Reisforschungsinstitut siehe auch Bolling, Private Foreign Aid, 58.
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because of freedom of action […] can do more quickly and simply.”112 Dahinter stand auch das Unbehagen der Foundation gegenüber einer zu engen Zusammenarbeit mit der US-Regierung. Zwar versicherte sie immer wieder, dass ihr nichts ferner sei, als gegen die amerikanischen Interessen zu handeln – mehr noch: Die Stiftung und ihre Mitarbeiter erkannten „bereitwillig eine Verpflichtung gegenüber den amerikanischen nationalen Interessen“ an. Doch wenn die Stiftung zu eng mit Regierungsstellen kooperiere oder ihre Förderungspolitik zu sehr an staatlichen Interessen orientiere, laufe sie Gefahr, ihren größten strategischen Vorteil, ihre Unparteilichkeit und Unabhängigkeit, einzubüßen.113 Insofern entsprach ihre Selbst- und Außendarstellung als Initiatorin wissenschaftlicher Studien und Vermittlerin des erarbeiteten Wissens ihrem Bemühen, gegenüber den Entwicklungsländern neutral zu erscheinen und gleichzeitig zumindest indirekten Einfluss auf die Definition politischer Probleme und ihrer Lösungsmethoden in der Dritten Welt zu nehmen. 4. LOCALIZING AID: DIE NEUORIENTIERUNG DER PHILANTHROPISCHEN ENTWICKLUNGSHILFE Gegen Ende der sechziger Jahre gerieten die philanthropischen Konzepte der Stiftungen gegenüber der Dritten Welt ins Wanken, und die so enthusiastisch begonnene „Entwicklungsdekade“ endete in allgemeiner Verunsicherung. Zwar erzielte die Grüne Revolution eindrucksvolle Erfolge auf dem Gebiet des Weizenanbaus, aber insgesamt blieben die Ergebnisse der Bevölkerungsund Landwirtschaftsprojekte hinter den Erwartungen zurück. Die Konzentration auf Kunstdünger und Maschinen, neu gezüchtete Getreidesorten und Monokulturen führte zu schweren ökologischen Schäden, während zunehmende Differenzen in der Einkommensverteilung und die Kommerzialisierung der Landwirtschaft soziale, teils gewalttätige Konflikte mit sich brachten.114 IADP kam in die Kritik, Umweltfaktoren und traditionelles Wissen gegenüber der Konzentration auf technologische Innovationen vernachlässigt 112 LeRoy R. Allen u. E. Gideon, 12.02.1966, RAC, RF, RG 6.7, Subgroup II, Series I, Box 138, Folder 992. 113 John Marshall, Relations of the Foundation with Governmental and Intergovernmental Agencies. Confidential, 03.11.1950, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 29, Folder 159 (900 Pro 51). Vgl. auch Dean Rusk, Statement before the Senate Foreign Relations Committee – Subcommittee on Technical Assistance Programs, 02.03.1955, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 69, Folder 349 (900 Pro Unar 5). 114 Vgl. Karanjot Kaur Brar, Green Revolution. Ecological Implications, New Delhi 1999; Vandana Shiva, The Violence of the Green Revolution. Third World Agriculture, Ecology and Politics, Penang 1991; Pierre Spitz, The Green Revolution Re-Examined in India, in: Bernhard Glaser (Hg.), The Green Revolution Re-Visited. Critique and Alternatives, London 1987, 56–75; A. K. Chakravarti, Green Revolution in India, in: Annals of the Association of American Geographers 63.3 (1973), 319–330.
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zu haben.115 Sozialen und kulturellen Besonderheiten sei nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt worden, und die Diskrepanz zwischen moderner Technologie und traditionellen Praktiken habe sich nicht überbrücken lassen. Daraus folgerten die Mitarbeiter der Ford Foundation in Indien 1969, dass in der zukünftigen Entwicklungsplanung „größerer Realismus“ erforderlich sei. Die Stiftung müsse sich darauf konzentrieren, Wissen zu sammeln und der indischen Regierung zur Verfügung zu stellen, und sie müsse ihr Betätigungsfeld einschränken, um den wirklich entscheidenden Problemen gerecht werden zu können.116 Der für die Ford Foundation charakteristische Pragmatismus und die schnelle Begeisterung für komplexe, technologisch anspruchsvolle Modernisierungsprojekte waren damit angestoßen. Zur selben Zeit gingen die Einnahmen der hinter den Stiftungen stehenden Wirtschaftsunternehmen zurück, und der US-Kongress erwog, die Steuerfreiheit der Stiftungen zu begrenzen. Hinzu kam scharfe Kritik an der vermeintlichen Nähe der Stiftungsaktivitäten zur „imperialistischen“ Außenpolitik der USA und der elitären Repräsentanz des Establishments, die durch den Vietnam-Krieg an Brisanz gewann. Mit der Erosion des liberal consensus gerieten viele Stiftungen in die Kritik linker Kreise, die ihnen – und damit auch den beteiligten Wissenschaftlern – den Missbrauch ihrer politischen Gestaltungsmacht im Interesse der Regierung vorwarfen.117 Nicht die Verbesserung der Lebensumstände in den Entwicklungsländern, sondern die Erweiterung der kapitalistischen Einflusssphäre leite die Arbeit der Stiftungen in Übersee, so der Vorwurf.118 Zwar wiesen die Stiftungen diese Vorwürfe zurück, doch intern reagierten sie darauf, indem sie einerseits ihre Kuratorien diversifizierten und verjüngten, andererseits ihre Förderungskonzepte stärker auf die Bedürfnisse der Entwicklungsländer ausrichteten.119 In einem internen Memorandum der 115 Vgl. Ford Foundation, A Study of the Intensive Agricultural Districts Programme and Agricultural Development in India, September 1967, FFA, Report 003545. Ähnlich die Kritik in IADP Consultant Staff, Ford Foundation Self Study of the IADP Programme, Entwurf, 1967, FFA, AG 67–48. 116 Ford Foundation, A Background Paper on Changing Problems of Development. A paper prepared by the staff of the Ford Foundation India Field Office for presentation at the Ford Foundation International Division Conference at Mexico City, December 3–5, 1969, FFA, Report 002695. 117 Zur Diskussion innerhalb der amerikanischen Geistes- und Sozialwissenschaften über die Kooperation mit dem Staat siehe Unger, Ostforschung, 410–419. 118 Vgl. Berman, The Foundations’ Role in American Foreign Policy; ders., The Ideology of Philanthropy; Robert F. Arnove, The Ford Foundation and “Competence Building” Overseas; Packenham, Liberal America. 119 Bezeichnend ist die Konferenz der International Division der Ford Foundation im Dezember 1969, bei der vor dem Hintergrund des „wachsenden Nationalismus, zunehmender Sorge um wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten, revolutionäre Einstellungen bei jungen Leuten und die weltweite Kritik am politischen Establishment“ eine „offene und lebhafte Diskussion“ über die Stiftungspolitik geführt werden sollte. Ford
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Carnegie Corporation vom Oktober 1968 hieß es beispielsweise, die Stiftung solle zwar weiterhin das Afro-Anglo-American Program for Teacher Education fördern, dessen Schwerpunkt jedoch „to Africa and [the] Africans“ verlagern.120 Drei Jahre später stellte die Stiftung fest, dass ihr Konzept, Universitäten als Zentren moderner Eliten zu fördern, gescheitert sei. Gegenüber der Konzentration auf den industriellen Sektor sei die Bedeutung der ländlichen Gebiete für die Wirtschaftskraft vernachlässigt worden. Deshalb müssten der Schwerpunkt der Bildungsarbeit auf die Primärbildung breiter Bevölkerungsteile gelegt, die Kenntnisse stärker anwendungsorientiert vermittelt und die Erziehungsinhalte „afrikanisiert“ werden, um den lokalen Bedürfnissen zu entsprechen.121 Damit ging das Eingeständnis einher, dass es nicht gelungen sei, in den afrikanischen Staaten sozioökonomische und politische Stabilität herzustellen. In Zukunft komme es in erster Linie darauf an, der politischen Instabilität Afrikas zum Trotz die Bildungschancen möglichst großer Bevölkerungsgruppen zu verbessern.122 Das frühere Motiv der Corporation, das Commonwealth zu stärken und die Zusammenarbeit mit Großbritannien und den afrikanischen Staaten zu intensivieren, war längst hinfällig geworden. Weit wichtiger schien nun die direkte Kooperation mit Afrika, die Verbesserung der innerafrikanischen Beziehungen, die Förderung von Kontakten zwischen African-Americans und Afrikanern und – aus der Rückschau ein ähnlich heroisches Ziel wie die Modernisierung – die Verringerung der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich.123
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Foundation, International Division Conference, Mexico City, December 3–5, 1969. For internal use only, ohne Datum (Dezember 1969), FFA, Report 002695. SHS, Memorandum to AP, Program Planning – Commonwealth, 15.10.1968, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 7. Vgl. SHS, Memorandum an DZR, Commonwealth Program, 19.02.1971, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 8. Die Rockefeller Foundation kam 1970 zu einer ähnlichen Einschätzung: „Today a different approach is needed. Indigenous problemsolving centers must be created in the local universities where existing knowledge can be adapted and new knowledge created while at the same time efforts are made to solve local problems and to educate future scientists and leaders.“ Rockefeller Foundation, University Development, Directors’ Statement on Program, April 1970, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 69, Folder 349 (900 Pro Unar 11b). Vgl. Carnegie Corporation, Commonwealth Program, Review and Formulation, 07.06.1973, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 8. Zur gegenwärtigen Lage der afrikanischen Universitäten siehe Lydia Polgreen, Africa’s Storied Colleges, Jammed and Crumbling, in: The New York Times, 20. Mai 2007, 1, 4: „Far from being a tool of social mobility, the repository of a nation’s hopes for the future, Africa’s universities have instead become warehouses for a generation of young people for whom society has little use and who can expect to be just as poor as their uneducated parents.“ Ebd., 1. Carnegie Corporation, Trustee Review Committee to Discuss the Future of the Corporation’s Commonwealth Program, First Meeting, 13.11.1974, CUL, RBML, CCNY, Series I.D, Box 4, Folder 8.
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Währenddessen war Mitte der siebziger Jahre angesichts des ungebremsten Bevölkerungswachstums, der sich verlangsamenden Produktionssteigerung und der Energiekrisen immer öfter von wachsender Unsicherheit bezüglich einer ausreichenden Welternährung die Rede.124 Der frühere Optimismus, dass die Lösung der Ernährungsfrage wenig mehr als eine Frage der Zeit, des guten Willens und der richtigen Technologie sei, fiel in sich zusammen. Dazu trug neben politischen Krisen und Bürgerkriegen in der Dritten Welt auch die generelle Kritik an den Konzepten „Entwicklung“ und „Modernisierung“ bei: Die Fixierung auf das Bruttosozialprodukt als Indikator von Wandel müsse aufgegeben, andere Faktoren – soziale, politische, institutionelle, philosophische sowie Umweltfaktoren – müssten in die Analyse integriert werden, hieß es jetzt.125 Seit den siebziger Jahren erhielt deshalb zum einen der Technologie- und Wissenstransfer von der Ersten in die Dritte Welt größere Aufmerksamkeit. Zum anderen setzte sich ein neues, „organisches“ Verständnis von globaler Entwicklung durch. Vertreter dieser Perspektive bemühten sich um Unabhängigkeit von nationalen Regierungen, um sich von politischen und geostrategischen Interessen Dritter freizuhalten. Ohnehin schien es angesichts stetig wachsender Bevölkerungszahlen und sich zunehmend globalisierender Beziehungen kaum mehr angemessen, streng nationale Entwicklungspolitiken zu formulieren. Folgerichtig nahmen die Aktivitäten internationaler Akteure – Weltbank, IWF, UNO – auf dem Gebiet der Bevölkerungs- und Ernährungspolitik zu. Dieses Engagement drohte die Stiftungen in den Schatten zu stellen, weshalb diese ihr Bemühen intensivierten, Nischen zu finden, in denen sie tätig werden konnten.126 Sie fanden sie auf der lokalen Ebene und in der Förderung von Nicht-Regierungs- und grassroots-Organisationen. Deren Mitarbeiter kamen aus den betroffenen Gesellschaften, kannten die lokalen Probleme und Bedürfnisse und nahmen damit eine Schlüsselrolle für eine kohärente, auf die menschlichen Grundbedürfnisse konzentrierte und die Geschlechterdifferenzen integrierende Entwicklungshilfe ein. Im Zusammenhang mit dieser Verlagerung der Aufmerksamkeit vom Staat zum Individuum fand ein Paradigmenwechsel statt, „von einer vollständigen Identifikation mit dem […] Regierungsapparat hin zur Gestaltung einer differenzierten Partnerschaft […] mit verschiedenen Gruppen der Zivilgesellschaft.“127 Zwar ließ sich nicht 124 Vgl. The Rockefeller Foundation Conquest of Hunger Program, Dezember 1974, RAC, RF, RG 3.2, Series 900, Box 39, Folder 207 (900 Pro Food 3). 125 Vgl. Ford Foundation, A Background Paper on Changing Problems of Development. A paper prepared by the staff of the Ford Foundation India Field Office for presentation at the Ford Foundation International Division Conference at Mexico City, December 3–5, 1969, FFA, Report 002695. 126 Siehe dazu Alice O’Connor, The Ford Foundation and Philanthropic Activism in the 1960s, in: Ellen Condliffe Lagemann (Hg.), Philanthropic Foundations. New Scholarship, New Possibilities, Bloomington 1999, 169–194, hier 170. 127 Ramasubban u. Rishyasringa, Sexuality, 8. Vgl. auch McCarthy, Government, 130, 140;
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verhindern, dass sich in den späten siebziger und achtziger Jahren in vielen Entwicklungsländern autoritäre, häufig sozialistische Systeme etablierten.128 Doch indem die Stiftungen ihren Anspruch aufgaben, nationale Entwicklungen in der Dritten Welt zu lenken und sich stattdessen darauf konzentrierten, die akute Not der Bevölkerungen zu lindern und sie in die Lage zu versetzen, sich selbst zu helfen, befreiten sie sich von jenem ideologischen Korsett, das ihre Arbeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestimmt hatte und eroberten sich auf diese Weise ihre Handlungsfreiheit zurück. 5. BILANZ Amerikanische Philanthropie in der Dritten Welt zwischen 1945 und 1970 bedeutete vor allem, die internationalen, geostrategischen und modernisierungspolitischen Anliegen der USA zu stützen. Die Entwicklungshilfe der Stiftungen war nie nur Selbstzweck, sondern stets von übergeordneten politischen Anliegen mitbestimmt, die sich aus der Dekolonisation und dem Kalten Krieg ergaben. Zwar waren immer ein genuin philanthropisches Element und die ernst gemeinte Sorge um das Schicksal der Entwicklungsländer enthalten, doch sie erschienen stets im Licht außen- und sicherheitspolitischer Problemwahrnehmungen. Zugrunde lag die von allen drei untersuchten Stiftungen geteilte Überzeugung, dass sie den strategischen Vorteil, der sich aus ihrer unabhängigen Position ergab, im amerikanischen und westlichen Sinne nutzen und mit ihren Mitteln zur Modernisierung der Entwicklungsländer beitragen müssten. Es wäre deshalb unzutreffend, die Stiftungen als willenlose Marionetten der amerikanischen Politik zu betrachten. Vielmehr wurden sie selbst im nationalen Interesse initiativ, weil sie von der Richtigkeit der Modernisierungspolitik überzeugt waren und in ihr ein einmaliges Betätigungsfeld erkannten. Im Vergleich zu den geostrategischen Erwägungen waren die wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen, die hinter den Stiftungen standen, für die Entscheidungen über die Finanzierung von Projekten eher zweitrangig. Die Stiftungen beziehungsweise deren Mitarbeiter berücksichtigten sie insofern, als sie mit ihren Projekten versuchten, die Sympathien der Dritten Welt für die USA zu erhöhen und eine „fortschrittliche Wirtschaftsgesinnung“ zu fördern, die sich positiv auf das Investitions- und Handelsklima auswirken würde. Doch mindestens ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, war ihnen die Vermittlung „moderner“ Werte, Normen und Methoden in der Dritten Welt. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass sie einen Großteil ihrer Mittel für Bildungszwecke ausgaben und sich auf die Eliten als Multiplikatoren westlichen Wissens und Handelns konzentrierten. Gordon, Wealth, 160. 128 Siehe dazu Westad, Global Cold War.
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Jenseits der modernisierungstheoretischen Ziele variierten die Motive, das Selbstverständnis und die Methodik der einzelnen Stiftungen. Generell arbeitete die Rockefeller Foundation eher disziplinen-, die Ford Foundation eher problemorientiert.129 Die Carnegie Corporation konzentrierte sich auf Bildung, die Rockefeller Foundation hatte einen deutlichen Hang zur Wissenschaftsförderung, und die Ford Foundation bewegte sich auf allen Gebieten zugleich. Dies hing mit ihrem politischen Bewusstsein zusammen, das von den drei Stiftungen das ausgeprägteste war. Zwar fühlten sich alle Stiftungen den amerikanischen nationalen Interessen und dem antitotalitären Impetus der westlichen Allianz verpflichtet. Doch weder die Rockefeller Foundation noch die Carnegie Corporation identifizierten sich so explizit mit den Zielen der US-Regierung wie die realpolitisch orientierte Ford Foundation, die – wie der Fall Indien zeigt – auch bereit war, erfolgreiche Programme aufzugeben oder umzuwandeln, um der amerikanischen Politik Nachdruck zu verleihen. Diese Bereitschaft lässt sich zum einen als Ausdruck des Patriotismus und der Modernisierungsgläubigkeit der Mitarbeiter und Kuratoriumsmitglieder der Ford Foundation verstehen, zum anderen als das Bemühen der Stiftung, ihre fehlende Tradition durch öffentliche Sichtbarkeit zu kompensieren. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass in Bezug auf die Ansätze und Methoden der internationalen Philanthropie die Kategorie „Erfahrung“ eine wichtige Rolle spielte. Die Carnegie Corporation, die viel Erfahrung auf internationaler Ebene hatte, war wegen ihrer begrenzten finanziellen Möglichkeiten ohnehin auf eine selektive Förderungspraxis angewiesen, und auch die Rockefeller Foundation ging sichtlich bedachtsamer vor als die Ford Foundation, die eine gewisse Ungeduld an den Tag legte, was langfristige Projekte und die Evaluation ihrer Programme betraf. Fragt man abschließend nach den Erfolgen und Misserfolgen der Stiftungen in der Dritten Welt, lässt sich einerseits feststellen, dass ihre philanthropischen Hilfskonzepte nicht aufgingen, weil sie Argument und Instrument der amerikanischen Dritte-Welt-Politik zugleich waren und ihr modernisierungstheoretischer Universalismus überdeterminiert war. Gegen die Problematik des Zugangs zum Welthandel, die wachsende Verschuldung, die politische Korruption sowie die Instabilität vieler Regime in der Dritten Welt kamen selbst die elaboriertesten Entwicklungskonzepte nicht an; und von privaten Stiftungen zu erwarten, dass sie diese Probleme lösen könnten, während internationale Organisationen an ihnen scheiterten, wäre sicher auch ein zu hoher Anspruch. Andererseits ist unverkennbar, dass die Aktivitäten der Stiftungen dazu beitrugen, die Lebensbedingungen einer großen Zahl von Menschen spürbar zu verbessern und die nationale Situation in den Entwicklungsländern vor allem auf dem Gebiet der Bildung, der öffentlichen Gesundheit und der Landwirtschaft nachhaltig zu befördern. Dass viele Entwicklungs129 Vgl. Whitaker, Foundations, 180.
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länder selbst immer wieder um die Hilfe der Stiftungen baten, zeugt von der Anerkennung, die ihre Mitarbeiter und Projekte genossen. Zwar machte der finanzielle Anteil ihres Engagements in der Dritten Welt nur einen Bruchteil der offiziellen amerikanischen und internationalen Entwicklungshilfemittel aus: 1960, auf dem Höhepunkt des Stiftungsengagements, gab die Ford Foundation jährlich etwa fünfzig Millionen Dollar für Programme in Übersee aus, die Rockefeller Foundation zehn Millionen und die Carnegie Corporation eine Million Dollar, während sich die Mittel der US-Regierung auf jährlich zweieinhalb Milliarden Dollar beliefen.130 Dennoch nahmen die Stiftungen eine (von der US-Regierung ermutigte) katalysatorische Rolle in der Entwicklungshilfe ein, indem sie mit ihren Geldern die Konzeption neuer Ansätze ermöglichten – und tun dies vielfach auch heute noch.131 Dass der Kalte Krieg diese philanthropische Kreativität beförderte, scheint offenkundig; inwiefern dieses Erbe in der gegenwärtigen westlichen Entwicklungshilfepolitik fortlebt, verdient genauer untersucht zu werden.
130 Vgl. Hess, Waging the Cold War, 324. 131 Vgl. Andrew C. Revkin, Aid to Help Asia and Africa With Effects of Warming, in: The New York Times, 9. August 2007, 8; Stephanie Strom, Charities Try to Keep Up With the Gateses, in: The New York Times, 14. Januar 2007, 18. Hier ist auch die Herausforderung angesprochen, die sich den Stiftungen mit der Etablierung, neuer, ungleich vermögenderer Stiftungen – etwa der Bill and Melinda Gates Foundation – stellt.
SPENDENFINANZIERTE PRIVATE ENTWICKLUNGSHILFE IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Annett Heinl und Gabriele Lingelbach EINLEITUNG Wie mehrere der in diesem Sammelband präsentierten Beiträge belegen, hatte sich in Deutschland im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eine intensive philanthropische Kultur ausgeprägt, mit deren Hilfe eine breite Palette von sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Einrichtungen unterstützt wurde. Der überwiegende Teil des wohltätigen Engagements deutscher Stifter und Spender widmete sich in diesem Zeitraum inländischen Zwecken. Gefördert wurden Einrichtungen der Kranken- und Armenpflege, Waisenhäuser sowie kulturelle oder wissenschaftliche Einrichtungen innerhalb der deutschen Grenzen, während Bedürftige im Ausland kaum zu Adressaten deutscher „Wohltaten“ avancierten.1 Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts änderte sich dies: Seit dieser Zeit ging zumindest in der Bundesrepublik ein immer größer werdender Teil der philanthropischen Gaben ins Ausland, inländische Ziele von Philanthropie verloren dagegen, zumindest relativ gesehen, an Bedeutung. Dies war besonders im Spendenwesen der Fall, das zugleich gegenüber dem Stiftungswesen einen Bedeutungszuwachs erfuhr.2 Vor 1
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Allerdings gab es auch Ausnahmen: Bereits im Kaiserreich existierten Organisationen, die sich der Hilfe für Bedürftige im Ausland widmeten, etwa der 1901 gegründete Hilfsverein der Deutschen Juden, der sich für Juden außerhalb Deutschlands engagierte. Siehe dazu Olaf Matthes, James Simon. Mäzen im wilhelminischen Zeitalter, Berlin 2000, 118–133. Vereinzelt gab es auch bereits Spendensammelaktionen für Katastrophenopfer im Ausland; siehe etwa Michael Dorrmann, Eduard Arnhold (1849–1925). Eine biographische Studie zu Unternehmer- und Mäzenatentum im Deutschen Kaiserreich, Berlin 2002, 113–114; Christiane Eifert, Das Erdbeben von Lissabon 1755. Zur Historizität einer Naturkatastrophe, in: Historische Zeitschrift 274 (2002), 633–664, 655–656. Zur Entwicklung des bundesrepublikanischen Stiftungswesens siehe Rupert Graf Strachwitz, Stiftungen nach der Stunde Null. Die Entwicklung des Stiftungswesens in Westdeutschland nach 1945, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), 99–126. Die Genese des bundesrepublikanischen Spendenmarkts behandelt Gabriele Lingelbach, Die Entwicklung des Spendenmarktes in der Bundesrepublik Deutschland von der staatlichen Regulierung zur medialen Lenkung, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), 127–157.
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dem Hintergrund einer sich intensivierenden Medienberichterstattung über außereuropäische Länder erhielt die Masse der Bundesbürger erstmals auch genauere Informationen über die verschiedenen Krisenherde, über Hungerund Naturkatastrophen und damit über Bedürftigkeit jenseits der eigenen nationalen Grenzen, der sie durch Spendenleistungen zu begegnen suchte. Nachdem die Westdeutschen nach 1945 zunächst Empfänger von Spenden aus dem Ausland, insbesondere den USA, gewesen waren und transnationale Solidarität dazu beigetragen hatte, ihr eigenes Überleben im zerstörten Nachkriegsdeutschland zu sichern, kehrten sie nun den Spendenstrom um: Aus den Empfängern von Spenden aus dem Ausland wurden Geber von Spenden für das Ausland. Dieser Beitrag zeichnet die Genese der bundesrepublikanischen spendenfinanzierten und damit privaten Hilfe für ausländische Zwecke nach, wobei der Schwerpunkt der Untersuchung auf den Anfängen der organisierten privaten Entwicklungshilfe seit den späten fünfziger Jahren liegt und bis in die siebziger Jahre hinein reicht. Da zunächst in erster Linie kirchliche Initiativen Spenden für die Länder der Dritten Welt3 einwarben, stehen Kollektensammlungen und Projektförderungen durch die kirchlichen Organisationen im Zentrum dieses Aufsatzes. Gefragt wird erstens nach den Anfängen kirchlicher Initiativen bis zur Entstehung der beiden großen Hilfswerke Misereor und Brot für die Welt sowie nach den Motiven für die Gründung dieser letztgenannten Organisationen. Zweitens werden die parallelen Entwicklungen auf staatlicher Seite beschrieben und das Zustandekommen einer Zusammenarbeit der Kirchen mit der Bundesregierung auf dem Feld der Entwicklungshilfe analysiert. Im Anschluss werden drei Prozesse dargestellt, um die Arbeitsweise der Organisationen Brot für die Welt und Misereor und ihre Erfolge in der Spendenakquise genauer zu beleuchten. Hierbei geht es vor allem um die Art und Weise der Projektarbeit und deren Veränderung im Zeitverlauf, um Konkurrenz und Zusammenarbeit der Organisationen untereinander und um die Entwicklung der Spendeneinnahmen. Es soll dabei aufgezeigt werden, wie sich die private, in diesem Fall vor allem die kirchliche Entwicklungshilfe in der Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre sowohl auf dem Spendenmarkt als auch im Verhältnis zur staatlichen Entwicklungshilfe positionierte.
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Der Begriff „Dritte Welt“ ist viel diskutiert und häufig missverstanden worden. Der in den fünfziger Jahren entstandene Terminus hatte ursprünglich eine politische Konnotation während der Zeit des Kalten Krieges. Unter ihm wurden nur jene Staaten subsumiert, die eine geringe Produktivkraftentwicklung aufwiesen und gewillt waren, einen neutralen Weg zwischen den beiden Blöcken während des Kalten Krieges zu gehen. In den sechziger Jahren bezeichnete dieser Begriff dann alle Entwicklungsländer in Übersee und wird in diesem Verständnis im vorliegenden Beitrag verwendet. Dieter Nohlen (Hg.), Art. Dritte Welt, Lexikon Dritte Welt, Reinbek b. Hamburg 2002, 194f.
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ANFÄNGE KIRCHLICHER ENTWICKLUNGSHILFE BIS ZUR GRÜNDUNG VON MISEREOR UND BROT FÜR DIE WELT In der Bundesrepublik sind erste intensive Bemühungen auf dem Gebiet der privaten Entwicklungshilfe in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zu verzeichnen. Die Aktionen hatten ihren Ausgangspunkt mehrheitlich im kirchlichen Bereich.4 Dieses große Gewicht kirchlicher Initiativen für die spendenfinanzierte Entwicklungshilfearbeit resultierte zumindest teilweise aus der intensiven staatlichen Kontrolle des Sammlungs- und Spendenwesens: Da sämtliche Spendensammlungsaktivitäten in der Öffentlichkeit einer behördlichen Erlaubnis bedurften und kommunale bzw. staatliche Stellen bis in die sechziger Jahre hinein ihre Genehmigungspraxis eher restriktiv handhabten, fanden viele Spendensammelaktionen in Kirchengebäuden statt. Denn kirchliche Institutionen waren von der behördlichen Kontrolle ausgenommen. Im öffentlichen Raum erhielten vor allem die großen Wohlfahrtsverbände wie die Diakonie, die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt oder das Deutsche Rote Kreuz staatlicherseits die Möglichkeit, in größerem Rahmen Spenden zu sammeln. Da sich diese Verbände aber traditionell fast ausschließlich der Bekämpfung inländischer Bedürftigkeit widmeten, wurde in der Öffentlichkeit in erster Linie für inländische Spendenzwecke gesammelt.5 Dagegen stellten kirchliche Einrichtungen Orte dar, in denen frei von staatlicher Regulierung neue Initiativen mit innovativen Zielrichtungen im Spendenwesen Fuß fassen konnten. So auch auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe. Immer häufiger wurde bei Kollekten von den Gläubigen nicht mehr nur für Missionsziele Geld gesammelt, wenn die Sammlungen für ausländische Zwecke bestimmt waren. Vielmehr ging es verstärkt um humanitäre Zielsetzungen wie die Bekämpfung und Vermeidung von Hungersnöten, die nun getrennt von den missionarischen Aufgaben der Kirchen im Mittelpunkt der Hilfsaktionen standen. So erzielte die Abschlusskollekte des evangelischen Kirchentages im Jahr 1956 84.000 DM, die für die „Hungernden der Erde“ bestimmt waren.6 Ein Jahr später rief Lothar Kreyssig, Präses der Evangelischen Kirche der 4
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Zur kirchlichen Entwicklungshilfe siehe einführend Ulrich Willems, Entwicklung, Interesse und Moral. Die Entwicklungspolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland, Opladen 1998; Bastian Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959–1974, München 2006; Peter Langhorst, Kirche und Entwicklungsproblematik. Von der Hilfe zur Zusammenarbeit, Paderborn 1996. Zur Genese der Wohlfahrtsverbände in der Bundesrepublik und zur staatlichen und privaten Förderung derselben siehe Peter Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit. Reorganisation und Finanzierung der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege 1945 bis 1961, Weinheim 2005. Siehe Uwe Kaminsky, „…eine wesentliche Hilfe gegen Hunger und Not in den unterentwickelten Ländern“. Die Aktion „Brot für die Welt“ am Beispiel der Kaiserswerther
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Union (EKU), die überkonfessionelle Aktionsgemeinschaft für die Hungernden ins Leben, die ebenfalls Spenden sammelte. Auch im Bereich der katholischen Kirche avancierten die Nöte der Dritten Welt zu einem zentralen Thema, etwa auf den Katholikentagen. Laiengruppen begannen sich zu engagieren und entwickelten erste Initiativen. Beispielsweise führte die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung 1957 in Paderborn eine so genannte Täglichdrei-Minuten-Aktion durch, bei der der Gegenwert eines täglichen Drei-Minuten-Lohns für die Entwicklungshilfe gespendet wurde. Der Bund der katholischen Jugend (BDKJ) initiierte seinerseits 1958 die Aktion „Wir fasten für die hungernden Völker der Welt“ und übergab der indischen Bischofskonferenz den dabei zustande gekommenen Spendenerlös. Pax Christi, die katholische Friedensbewegung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich gegründet worden war und auf eine Versöhnung mit Deutschland zielte, engagierte sich ebenfalls bei der Aktion 1958 und schloss sich dem Aufruf des BDKJ unter dem Motto „Eine Mahlzeit für die Hungernden“ an. Im April 1958 rief der Vizepräsident von Pax Christi, Alfons Erb, dazu auf, die verschiedenen Einzelaktionen, die innerhalb der katholischen Kirche entstanden waren, zusammenzuführen. Da sich seine Organisation bereits für die Dritte Welt engagiert hatte, sieht ihn Sylvie Toscer, die die Entstehungsgeschichte von Misereor analysiert hat, als Ideengeber für das im August 1958 ins Leben gerufene katholische Hilfswerk.7 Vermutlich war es tatsächlich Erb, der auf einer Arbeitstagung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken im April 1958 den Vorschlag einbrachte, die Versammlung der deutschen Bischöfe solle während der Fastenzeit 1959 zu einem Fastenopfer zugunsten der Dritten Welt aufrufen.8 Nachzuweisen ist, dass Joseph Kardinal Frings auf der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda im August 1958 die entscheidende Rede für einen Gründungsaufruf des Hilfswerks Misereor9 hielt und mit der Bestätigung der Bischofskonferenz diese katholische Gesamtaktion gegen den Hunger in der Welt ins Leben rief. Bei dem neu geschaffenen Hilfswerk Misereor handelte (und handelt) es sich um ein bischöfliches Werk, so dass die Entscheidungsbefugnis in den
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Schule „Talitha Kumi“ in Palästina, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 55 (2006), 178–198, hier 181. Sylvie Toscer, Das bischöfliche Werk Misereor und die Rolle von Kardinal Frings auf dem Konzil, in: Hubert Wolf u. Claus Arnold (Hg.), Die deutschsprachigen Länder und das zweite Vatikanum, Paderborn 2000, 53–60, hier 54. Im Sitzungsprotokoll finden sich dazu allerdings keine Ausführungen. Siehe Norbert Trippen, Joseph Kardinal Frings (1887–1978), Bd. 2. Sein Wirken für die Weltkirche und seine letzten Bischofsjahre, Paderborn 2005, 110f. Den Namen erhielt die Aktion aus dem Markus-Evangelium (8,2) „Misereor super turbam“, was soviel bedeutet wie „Ich erbarme mich des Volkes“. Die Idee für das Hilfswerk kam laut Frings von seinem Generalvikar Joseph Teusch. Dieser entwickelte dafür das Konzept eines katholischen Werks der Barmherzigkeit, das vor allem bei akuter Not helfend eingreifen sollte.
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Händen der Bischöflichen Kommission lag, deren Vorsitz Kardinal Frings 1958 übernahm. Die Kommission entschied in ihren Sitzungen über die eingehenden Projektanträge und somit über die Verteilung der gesammelten Kollektengelder und beschloss die thematische Ausrichtung der jährlichen Fastenaktionen. Als Rechtsträger, der in der Hauptsache für die finanziellen Belange der Hilfsaktion zuständig war, entstand der Verein Bischöfliches Hilfswerk e.V. Für die Leitung von Misereor wurde in Aachen eine Geschäftsstelle eingerichtet. Sie stand bereits kurz nach der ersten Fastenaktion unter dem Vorsitz des ehemaligen Generalsekretärs des Päpstlichen Werks der Glaubensverbreitung, Gottfried Dossing. Diesem gelang es auch, das ursprünglich angedachte Konzept einer Organisation, die vor allem Hilfe in akuter Not leisten sollte, umzuwandeln: Misereor musste seiner Ansicht nach in erster Linie strukturelle, langfristig angelegte Hilfe gegen den Hunger und den „Aussatz“ (gemeint war vor allem die Bekämpfung von Lepra) in der Welt und weniger Hilfe in akuter Not leisten.10 Des Weiteren erreichte Dossing, dass Misereor zu einer dauerhaften Einrichtung wurde: Ursprünglich als einmalige Aktion geplant, beschloss die Fuldaer Bischofskonferenz im Oktober 1959, das katholische Hilfswerk mindestens bis 1961 bestehen zu lassen, um die eher langfristig angelegten strukturellen Maßnahmen durchführen zu können. Nachdem die Papstenzyklika Populorum Progressio 1967 die Bedeutung der Hilfe für die ärmsten Länder der Welt hervorgehoben hatte, beschloss die Bischofskonferenz, Misereor endgültig zu verstetigen. Die fortwährende Verlängerung der Hilfsaktion und schließlich deren unbefristete Fortführung waren nicht nur der Orientierung auf langfristige Hilfe in der Dritten Welt geschuldet, sondern resultierten auch aus der Tatsache, dass bereits die erste Fastenaktion 1959 Spendeneinnahmen von über 35 Millionen DM erbracht hatte. Mit diesen unerwartet hohen Einnahmen setzten die katholischen Gemeinden auf dem Gebiet der privaten Entwicklungshilfe bereits am Ende der fünfziger Jahre ein deutliches Zeichen, was eine jährliche Fortführung von Misereor rechtfertigte. Der Erfolg der ersten Fastenaktionen kam zwar für die Initiatoren überraschend, im Nachhinein betrachtet ist er aber durchaus erklärbar. Die Westdeutschen hatten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges am eigenen Leib erfahren können, welche positiven Effekte internationale Solidarität haben kann.11 Viele Menschen hatten in den 10 Die Spannungen zwischen Teusch und Dossing waren anfangs deutlich zu spüren, da Teusch unbedingt das von ihm konzipierte Werk mit der ursprünglichen Aufgabe der akuten Nothilfe besetzt sehen wollte. Siehe dazu Trippen, Joseph Kardinal Frings, 134; bzw. Misereor-Archiv, MHG 64, Aktennotiz v. 04.12.1959. Während Teusch in den ersten Jahren nach der Gründung von Misereor mehrmals versuchte, sein von ihm entwickeltes Konzept durchzusetzen, war seit 1965 eine wachsende Zustimmung der tatsächlichen Misereor-Aktivitäten bei ihm zu erkennen; siehe Misereor-Archiv, MHG 65, Aktennotiz v. 21.05.1965. 11 Siehe dazu beispielsweise Karl-Ludwig Sommer, Humanitäre Auslandshilfe als Brücke
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Jahren nach dem Krieg spendenfinanzierte Hilfe aus dem Ausland erhalten, wobei die Care-Pakete das augenfälligste und in der deutschen Erinnerungskultur präsenteste Zeichen dieser Hilfe gewesen waren. Mit der Überwindung der unmittelbaren Nachkriegsnot und dem wirtschaftlichen Wiedererstarken der Bundesrepublik fühlten viele Bundesdeutsche die Verpflichtung, ihre Dankbarkeit für die erhaltene Hilfe zurückzuerstatten.12 Gemäß der inhärenten Reziprozität jeder Gabehandlung wollten viele von ihnen nun jene „Dankesschuld“ zurückzahlen, die sie mit der früheren Entgegennahme der Hilfeleistungen eingegangen waren.13 Misereor bot ihnen seit 1959 die Möglichkeit, dieser inneren Verpflichtung nachzukommen.14 Der Erfolg der ersten Sammlungen von Misereor, aber auch von Brot für die Welt (s.u.), erklärt sich zudem über die zentrale Rolle, die die beiden Kirchen in den späten fünfziger Jahren in der bundesrepublikanischen Gesellschaft innehatten.15 Die noch recht intensive Kirchlichkeit in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren und damit die relativ hohe Frequenz des Gottesdienstbesuchs und das intensive Gemeindeleben fanden einen Niederschlag in den hohen Kollektenergebnissen für die kirchliche Entwicklungshilfe. Da zudem in dieser Zeit die Pflicht- und Akzeptanzwerte in der bundeszu atlantischer Partnerschaft. CARE, CRALOG und die Entwicklung der deutsch-amerikanischen Beziehungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs, Bremen 1999. 12 Schuldgefühle ob der von Deutschen begangenen Verbrechen während des Nationalsozialismus scheinen hingegen bei der Entscheidung, eine Spende zu leisten, keine Rolle gespielt zu haben. Zumindest finden sich keine Quellenbelege für die Annahme, die Bundesdeutschen hätten mit ihrer Gabe das Ziel verfolgt, „Wiedergutmachung“ zu leisten. 13 Zur Reziprozität der Gabe siehe Marcel Mauss, Essai sur la nature et la fonction du sacrifice [1898, 1925], dt.: Die Gabe, Frankfurt / Main 1968. Eine aktuelle Diskussion über die Theorie der Gabe laut Mauss findet sich in dem Sammelband von Frank Adloff u. Steffen Mau (Hg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt / Main 2005. 14 Auch in Selbstdarstellungen und Werbematerialien der sammelnden Organisationen findet sich der Hinweis auf die aus Dankbarkeit für erfahrene Hilfe entstehende Verpflichtung zur Gegengabe, etwa wenn Christian Berg in einer der ersten Broschüren von Brot für die Welt schrieb: „‚Brot für die Welt‘ wurde ganz primär geplant als eine Antwort dankbarer Freude darüber, daß es uns in Deutschland vergönnt sein möge, ein wenig von dem abstatten zu dürfen, was uns an bedingungsloser Hilfe und über ein Jahrzehnt währender Barmherzigkeit in unseren Nöten von der Weltchristenheit widerfahren war.“ Broschüre Brot für die Welt, wahrsch. 1961, in: Archiv des Diakonischen Werkes, BfdW-S2, 2. 15 Zur Rolle der Kirchen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft siehe u.a. Karl Gabriel, Zwischen Tradition und Modernisierung. Katholizismus und katholisches Milieu in den 50er Jahren der Bundesrepublik, in: Anselm Doering-Manteuffel u. Kurt Nowak (Hg.), Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden, Stuttgart 1996, 248–262; Clemens Vollnhals, Die Evangelische Kirche zwischen Traditionswahrung und Neuorientierung, in: Martin Broszat u.a. (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1989, 113–168.
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republikanischen Bevölkerung weiterhin relativ stark verankert waren, konnten die oft mit stark imperativischem Duktus seitens der Kirchen vorgetragenen Spendenaufforderungen auf fruchtbaren Boden fallen.16 Gemäß der zentralen Funktion, die die Kirchen während des hier behandelten Zeitraumes für sich beanspruchten, entstand nicht nur auf katholischer, sondern auch auf evangelischer Seite eine Initiative, die den Bedürftigen in der Dritten Welt zugute kommen sollte. Als Initiator einer deutschen gesamtevangelischen Aktion für die Hilfe an Dritt-Welt-Länder war Christian Berg, Leiter der Ökumenischen Abteilung des Diakonischen Werks, maßgeblich für die Gründung von Brot für die Welt verantwortlich. Mit dem Aufruf des Rates der EKD und der Freikirchen im Juli 1959 schuf die evangelische Kirche das Pendant zum katholischen Werk Misereor.17 Die Aktion Brot für die Welt war von Anfang an als eine gesamtdeutsche Initiative auch in der DDR präsent, während das angespannte Verhältnis zwischen der ostdeutschen Regierung und der katholischen Kirche die Etablierung von Misereor in der DDR verhinderte.18 Erst 1968 wurde dort das Bischöfliche Werk Not in der Welt durch die damalige Berliner Ordinarienkonferenz nach dem Vorbild von Misereor ins Leben gerufen. Die erste Kollekte für Brot für die Welt, die 1959 zur Adventszeit durchgeführt wurde, blieb hinter den Einnahmen ihres katholischen Pendants zurück, erbrachte aber immerhin noch über 19 Millionen DM. Am 12. Februar 1960 trat daraufhin ein eigens eingerichteter Verteilungsausschuss zusam16 Siehe dazu Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt / Main 1984. Hinzu kam, dass die Kollekten in der Bundesrepublik insofern eine spezifische Funktion einnahmen, als die Finanzierung kirchlicher Arbeit im Vergleich zu anderen Ländern anders bewerkstelligt wurde. Im Unterschied etwa zu den USA, wo die freiwilligen Spendenleistungen der Gemeindemitglieder in erster Linie der Arbeit eben dieser Gemeinde zukamen, wurde die Gemeindearbeit in der Bundesrepublik über die Kirchensteuer finanziert, die mit wenigen Ausnahmen, etwa im Bereich der Freikirchen, zusammen mit der staatlichen Steuer eingezogen wurde und somit nicht einer bewussten Entscheidung über das „Ob“ und die Höhe der Gabe unterlag. Die Kollekten konnten folglich für Aufgaben jenseits der Finanzierung der gemeindlichen Infrastruktur oder anderer gemeindebezogener Aufgaben verwendet werden und waren zudem eine der wenigen Möglichkeiten, in denen die Gläubigen in einem bewussten und freiwilligen Akt ihrer Kirche Gelder zukommen lassen konnten. Auch dies mag die hohen Spendengaben für die kirchliche Entwicklungshilfe erklären. Siehe zum internationalen Vergleich Helmut K. Anheier, Lester M. Salamon u. Edith Archambault, Ehrenamtlichkeit und Spendenverhalten in Deutschland, Frankreich und den USA, in: Helmut K. Anheier u. Eckhard Priller (Hg.), Der Dritte Sektor in Deutschland. Organisationen zwischen Staat und Markt im gesellschaftlichen Wandel, Berlin 1997, 197–209. 17 Während bei Misereor ein eigens geschaffener Verein als Rechtsträger fungierte, wurde Brot für die Welt an die Abteilung für ökumenische Diakonie der Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werkes der EKD angegliedert. 18 Siehe weiterführend dazu den Aufsatz von Gregory R. Witkowski in diesem Sammelband.
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men, der zunächst die Grundsätze der Mittelvergabe festsetzte und die Kategorien für zu fördernde Projekte bestimmte. Die Verteilung der Spendengelder beschränkte sich gemäß der Beschlüsse dieses Verteilungsausschusses in den folgenden Jahren auf Projekte der Kategorien Katastrophenhilfe, konstruktive Diakonie (darunter waren Projekte zu verstehen, die Hilfe zur Selbsthilfe19 leisteten) und Gesundheitshilfe.20 Die Verwendung von Geldern für Missionsaufgaben schloss der Verteilungsausschuss kategorisch aus, da dieser Bereich durch die Missionsgesellschaften abgedeckt werde. Darüber hinaus wollten die Initiatoren um Christian Berg und Pfarrer von Hase mit der Hilfsaktion Brot für die Welt ein Werk des diakonischen Handelns explizit für die in Not lebenden „fernen Nächsten“ schaffen, um zu vermeiden, dass durch Missionsversuche eine Abwehrreaktion gegenüber neokolonialistischen Tendenzen in den Entwicklungsländern hervorgerufen werde: Es mag sein, dass mit dem Selbständigwerden der jungen Nationen auch ihre Einschätzung des Christentums und der Mission eine andere wird, wenn die Missionare nicht mehr die Staatskirche der Kolonialmacht repräsentieren, sondern Helfer einer wenig geachteten Minderheit werden. Sowohl bei den Gebern wie auch bei den Empfängern ergeben sich also aus der geschichtlichen Situation ihres Christenseins erhebliche Gründe, die es notwendig erscheinen lassen, die Hilfe für die Selbsterhaltung der Kirche bzw. ihrer Missionsaufgaben und die Hilfe am notleidenden Menschen äußerlich getrennt zu halten.21
Pfarrer von Hase führte dazu weiterhin aus, dass die Kirchen in den neuen Nationen unter dem Verdacht stünden, aufgrund ihrer kolonialen Vergangenheit zuerst an ihre eigene Macht und Selbsterhaltung zu denken. Deshalb lehnte er eine Zusammenlegung von missionsbezogener Arbeit und diakonischem Handeln ab, um das Ansehen der geplanten Hilfsaktion nicht zu gefährden. Innerhalb der evangelischen Kirche wurde bei der Planung der Aktion Brot für die Welt intensiv über die strikte Trennung von Mission und Diakonie diskutiert. So sprach sich Missionsratsmitglied Heinrich Meyer gegen eine Trennung der Mission von den sozialen Aktivitäten aus, da dadurch das spezifisch Kirchliche, nämlich die Verheißung des Evangeliums, zu sehr in den Hintergrund gedrängt werde.22 Christian Berg vermutete hinter diesem Vorwurf eher die Befürchtung, dass die Spender statt für Missionsaufgaben 19 Projekte der Hilfe zur Selbsthilfe sind Maßnahmen, die die Empfänger von Hilfe dazu befähigen sollen, sich selbst zu helfen bzw. Hilfe zu organisieren. 20 Pressemitteilung über die erste Sitzung des Verteilungsausschusses v. 12.02.1960, in: Archiv des Diakonischen Werkes, HGSt Nr. 3201. 21 Auszug aus der Abhandlung über eine Zusammenlegung von Brot für die Welt und die Zwischenkirchliche Hilfe von Pfarrer von Hase, Mitglied der theologischen Abteilung der Inneren Mission und Hilfswerk der EKD, Stuttgart, wahrsch. 1959, in: Archiv des Diakonischen Werkes, HGSt Nr. 3191. 22 Siehe Ulrich Willems, Entwicklung, Interesse und Moral, 229f.
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nun Gelder für Brot für die Welt geben könnten. Letzten Endes konnten sich die Stimmen durchsetzen, die in der Aktion Brot für die Welt ein von Missionsaufgaben freies Werk sehen wollten. Fragt man nach den Motiven, die hinter den Gründungen der beiden Hilfswerke Misereor und Brot für die Welt standen, so ist zunächst auf deren Vielfältigkeit hinzuweisen. Zu unterscheiden sind zum einen jene Motive, die die Verantwortlichen der Aktionen gegenüber den Gemeinden und potentiellen Spendern angaben, warum eine Unterstützung von Menschen in den DrittWelt-Ländern nötig sei, und die in erster Linie wertbezogen waren. Darüber hinaus sind aber auch Motive auszumachen, die sich auf die Stellung der Kirchen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft bezogen. Sowohl die Gründungsrede von Kardinal Frings auf der Deutschen Bischofskonferenz im August 1958 als auch der Aufruf der EKD an die evangelische Christenheit zur Hilfsaktion Brot für die Welt im Juli 1959 begründeten die Notwendigkeit des kirchlichen Engagements und der individuellen Spende mit den christlichen Motiven der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit.23 Als Folge der größeren Präsenz der Dritten Welt in der bundesrepublikanischen Medienberichterstattung rücke die Tatsache des Mangels an Nahrungsmitteln in den Entwicklungsländern verstärkt ins Bewusstsein der Deutschen. Nun, da man von dieser Tatsache wisse, sei es eine christliche Pflicht, den Hunger leidenden Menschen, den „fernen Nächsten“24 zu helfen. Auch in späteren Texten, mit denen Misereor um Spenden für die eigene Entwicklungshilfearbeit warb, stellte die christliche Pflicht zur Hilfe immer wieder ein zentrales Moment dar, so etwa 1969: Jesus wird den Menschen beim Endgericht nach lauter rein weltlichen Dingen fragen. Er wird ihn danach fragen, wie es um sein Verhältnis zu den Geringsten seiner Brüder stand. Wie er die Brüderlichkeit mitten in der Wirklichkeit des Lebens geübt hat. […] Unser Versäumnis gegenüber den Entwicklungsländern ist ein Versäumnis gegenüber Christus selbst.25
Kardinal Frings erhoffte sich mit der Aktion darüber hinaus eine neue „religiöse Bewegung“ bei den Spendern, da die Hilfsaktion zum Mitempfinden anrege und einen Beitrag für den Kampf gegen die Ungerechtigkeit in der Welt leiste.26 23 Zu Frings Gründungsrede siehe http://www.misereor.de/fileadmin/user_upload/pflege_ allgemein/pflege_ueber_uns/Fringsrede1958allgemein.pdf, 4. Vgl. auch den Aufruf an die evangelische Christenheit in Deutschland von Bischof Dr. Wunderlich u. Bischof Dr. Dibelius, in: http://www.doku-ekd.de/pdf/0037/0037610.pdf, 2f. 24 Schreiben des Vorsitzenden des Rates der EKD, Bischof D. Dr. Dibelius, an Bundespräsident Prof. Dr. Theodor Heuss über Sinn und Zweck der Aktion Brot für die Welt, in: http://www.doku-ekd.de/pdf/0037/0037610.pdf, 1. 25 Misereor-Pressestelle: Werkmappe zur Fastenzeit 1969, in: Misereor-Archiv, Box Drucksachen 1966–69, Mappe 1969. 26 Siehe Gründungsrede Frings 1958, in: http://www.misereor.de/fileadmin/user_upload/ pflege_allgemein/pflege_ueber_uns/Fringsrede1958allgemein.pdf, 5.
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Neben den christlichen Motiven, die in den Gründungsaufrufen genannt wurden, erwähnten diese aber auch historische Gründe, die die Bundesdeutschen zur Gabe verpflichteten. Sowohl die Initiatoren von Brot für die Welt als auch von Misereor betonten die Schuld, die die „weißen Völker“27 im Zuge der Kolonialgeschichte auf sich geladen hätten. So führte Misereor die Verantwortung, die aus der kolonialen Vergangenheit Europas erwachse, als Grund dafür an, warum die Bundesdeutschen spenden sollten: „Jahrzehntelang hat Europa seinen Reichtum aus den Rohstoffen der Kolonialländer bezogen. Nun ist die Stunde gekommen, um einen Ausgleich zu schaffen.“28 Somit wurde im Rahmen der beiden kirchlichen Initiativen schon früh auf die aus der eigenen Kolonialgeschichte erwachsende Verantwortung hingewiesen – ein Argument, das später in der öffentlichen Diskussion wiederholt aufgegriffen werden sollte. Des Weiteren wies der Aufruf von Misereor darauf hin, dass sich den Bundesdeutschen nun die Möglichkeit böte, ihre Dankbarkeit für die erhaltene Hilfe nach dem Zweiten Weltkrieg auszudrücken und diese Hilfe in Form der Spende für Not leidende Menschen zurückzugeben. Die christlichen Aktionen sahen sich anscheinend als Vorbilder, die der Verpflichtung der deutschen Gesellschaft, die aus der Vergangenheit resultiere, als Erste nachkommen wollten.29 Jenseits der in den Gründungsaufrufen und Werbematerialien der Aktionen verbalisierten Argumente, die das Engagement für die Entwicklungsländer begründeten, lassen sich aber auch innerkirchliche Motive für die Gründung der beiden Dritte-Welt-Initiativen ausmachen. So verbanden die Verantwortlichen auf kirchlicher Seite mit Misereor und insbesondere mit der Aktion Brot für die Welt auch die Hoffnung, ihre Gemeinden könnten durch die Mitarbeit an den Sammlungs- und Spendenaktionen gestärkt werden.30 Auf evangelischer Seite sollten Aktivitäten auf Gemeindeebene wie DiaAbende, die sich mit entwicklungspolitischen Themen beschäftigten, spezielle Kollekten sowie Diskussionsrunden den Gemeinden Vitalität und Ausstrahlungskraft verleihen und ihren Zusammenhalt intensivieren. Des Wei27 Aufruf an die evangelische Christenheit in Deutschland von Bischof Dr. Wunderlich u. Bischof Dr. Dibelius, in: http://www.doku-ekd.de/pdf/0037/0037610.pdf, 2f. 28 Gemeinsamer Aufruf zur Fastenaktion 1960, in: Misereor-Archiv, Box Drucksachen 1959–1965, Mappe 1960. Allerdings ist fraglich, ob die Spender diese Begründung zu diesem Zeitpunkt akzeptierten. Es finden sich in den Quellen so gut wie keine Belege dafür, dass Bundesdeutsche in der Kolonialgeschichte einen Grund gesehen hätten, bei der Kollekte etwas zu geben. 29 Allerdings nicht aus der gesamten deutschen Vergangenheit: Die von Deutschen während des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen wurden nicht angeführt, wenn es darum ging, die zeitgenössische Verpflichtung zur internationalen Wohltätigkeit zu begründen. 30 Siehe dazu u.a. Gabriele Lingelbach, Philanthropie und Gemeinde. Das bundesrepublikanische kirchliche Sammlungs- und Kollektenwesen in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Traverse 13 (2006), 101–115.
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teren wies Christian Berg in einer Arbeitssitzung im September 1959 auf die internationalen ökumenischen Aspekte hin: Unter oekumenischem Gesichtspunkt sollen die jungen Kirchen [in den Ländern der Dritten Welt] unter Rücksichtsnahme auf ihre nationalen Empfindungen gestärkt werden und soll die oekumenische Verbundenheit der Weltchristenheit gefestigt werden.31
Für die katholische Seite wiederum lässt sich herausstellen, dass Kardinal Frings das Bischöfliche Werk Misereor auch dazu nutzen wollte, um sich den päpstlichen Zentralisierungsansprüchen zu entziehen und die Verantwortung und Autonomie der deutschen Bischöfe gegenüber Rom zu stärken.32 Fest steht, dass er dem bischöflichen Hilfswerk eine Vorreiterrolle in der katholischen Entwicklungsarbeit zusprach und die Papstenzyklika Populorum Progressio aus dem Jahr 1967 als Bestätigung für das Wirken und Handeln Misereors ansah. Auch die interkonfessionelle Konkurrenz kann angeführt werden, wenn man danach fragt, warum beide Kirchen zum selben Zeitpunkt begannen, sich für die Entwicklungshilfe zu engagieren: Nachdem der erste Spendenaufruf der katholischen Aktion unerwartet hohe Erlöse erzielt und große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren hatte, wollte die evangelische Seite nicht abseits stehen – Brot für die Welt wurde auch ins Leben gerufen, um ein evangelisches Pendant zur erfolgreichen Aktion von Misereor zu institutionalisieren. Im weiteren Verlauf ging es auf katholischer Seite zudem darum, ein Feld gesellschaftlichen Engagements weiterhin zu besetzen, um nicht nur evangelischen, sondern auch weltlichen Initiativen Paroli bieten zu können. So meinte Gottfried Dossing, Leiter der Misereor-Geschäftsstelle, bei den Beratungen über eine eventuelle Weiterführung der katholischen Aktion: Sowohl von evangelischer wie von sozialistischer Seite werden im Augenblick in großem Rahmen ähnliche Aktionen vorbereitet. Es dürfte günstig erscheinen, das Werk deshalb so lange fortzusetzen, bis sich Arbeitsweise und Erfahrung dieser beiden Gruppen überblicken lassen. Es sollte jedenfalls vermieden werden, dass die Aktion ‚Misereor‘ den Boden für die Hilfe an notleidende Völker vorbereitet hat, während andere Gruppen sozusagen die Früchte ernten.33 31 Siehe „Vier Aspekte der bevorstehenden Aktion Brot für die Welt“ von Christian Berg, Kurzprotokoll über die Arbeitssitzung Brot für die Welt v. 23.09.1959, in: Archiv des Diakonischen Werkes, HGSt Nr. 3191. 32 So zumindest die Argumentation bei Sylvie Toscer. Siehe Toscer, Das bischöfliche Werk Misereor, 56. 33 Ausarbeitung für die Mitglieder der Bischöflichen Kommission von Msgr. Dossing v. 24.08.1959, in: Misereor-Archiv, MBK 5. Siehe auch Aktennotiz von Dossing v. 01.06.1959, in: Misereor-Archiv, Kontakte Gremien-Mitglieder, Bd. 1, 11 / 1958– 11 / 1963 oder Gründe für Zusammenarbeit mit FAO von Dossing v. 09.10.1959, in: Misereor-Archiv, MHG 64. Bei den angesprochenen „sozialistischen Aktionen“ sind vermutlich Aktivitäten der SPD gemeint. Bereits auf dem Parteitag 1958 in Stuttgart verstärkte sich die Debatte um die Entwicklungspolitik, insbesondere in Anlehnung an die Algerienfrage und an die allgemeine Debatte der Sozialistischen Internationale, de-
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Während Dossing hier auf konkurrierende private Hilfsorganisationen anspielte, blieb die Bundesregierung im Bereich der Entwicklungshilfe ebenfalls nicht untätig. Der Aufschwung der spendenfinanzierten privaten Entwicklungshilfe fand eine Parallele in der wachsenden Bedeutung, die staatliche Stellen der Hilfe für die Länder der Dritten Welt zukommen ließen. STAATLICHE INITIATIVEN IM BEREICH DER ENTWICKLUNGSHILFE Nach der Gründung der Bundesrepublik spielten die Beziehungen zu den Entwicklungsländern zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Dies lag vor allem daran, dass Deutschland seit dem Ende des Ersten Weltkriegs nicht mehr zu den Kolonialmächten zählte und somit auch nicht wie England oder Frankreich in die tief greifenden Dekolonialisierungsprozesse seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges involviert war. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren und der intensiv betriebenen Westintegration unter Konrad Adenauer änderten sich die Vorzeichen für die Beziehungen zur Dritten Welt. Bereits kurz nach ihrer Entstehung trat die Bundesrepublik sowohl dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT), dem Internationalen Währungsfond (IWF) als auch der Weltbank bei. Die westlichen Bündnispartner nahmen die Bonner Republik von nun an in die Pflicht, einen Anteil an den gemeinsamen Aufgaben zu übernehmen. Dazu zählte auch der Bereich der Entwicklungshilfe.34 Daher beteiligte sich die Bundesrepublik 1952 am Erweiterten Beistandsprogramm der Vereinten Nationen für wirtschaftliche Entwicklung unterentwickelter Länder und Regionen. Darüber hinaus wurden die Länder der Dritten Welt im Zuge ihrer neu erkämpften Souveränität auch zu gefragten Handelspartnern und boten der bundesrepublikanischen Wirtschaft Chancen zur Steigerungen ihres Exports.35 Somit waren die Anfänge westdeutscher staatlicher Entwicklungspolitik auch dadurch gekennzeichnet, dass die mit ihr verbundene Förderung des Außenhandels und die ren Mitglieder sich gegen Kolonialismus und Unterdrückung und für die Befreiungsbewegungen in den Gebieten der Dritten Welt einsetzten. Siehe auch Kurt Thomas Schmitz, Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik. Überblick über die Vorstellungen und Aktivitäten der SPD in den Jahren 1956–1966, in: Archiv für Sozialgeschichte 13 (1973), 191–206, hier 197f. Im darauf folgenden Jahr wurde im Godesberger Programm explizit festgelegt, dass die Entwicklungsländer einen Anspruch auf großzügige Unterstützung hätten. 34 Zur staatlichen Entwicklungshilfe siehe einführend Franz Nuscheler, Entwicklungspolitik. Lern- und Arbeitsbuch, Bonn 62005; Hein, Die Westdeutschen; Volker Alberts u.a., Die Bundesrepublik Deutschland und die Entwicklungspolitik der Europäischen Gemeinschaft 1957–1983, Münster 1986. 35 Hein, Die Westdeutschen, 25ff.
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aus den Bündnisverpflichtungen resultierenden finanziellen Beihilfen parallel verliefen.36 Die hier angedeutete Interessenpolitik zeigte sich vor allem in den Auswirkungen der Hallstein-Doktrin aus dem Jahr 1955, da die Systemkonkurrenz mit der DDR auch im Rahmen der außenpolitischen Beziehungen zu den Ländern der Dritten Welt ausgetragen wurde. De facto bedeutete dies eine Reduzierung der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen auf diejenigen Entwicklungsländer, die den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik anerkannten. Diese wurden wiederum mit intensiviertem wirtschaftlichen Austausch „belohnt“, wobei die Bundesregierung darauf zielte, Strukturschwächen in den Partnerländern zu bekämpfen. Sie nutzte die Entwicklungspolitik als „diplomatischen Hebel“37, um die diplomatische Anerkennung der DDR durch die wachsende Zahl von unabhängigen Entwicklungsländern möglichst zu verhindern. Allerdings zeigte das Fehlen von Strukturen und Konzepten, dass die Entwicklungshilfe in den fünfziger Jahren zunächst kein zentrales Anliegen der bundesrepublikanischen Politik war. Zwar hatte der Bundestag 1957 fünfzig Millionen DM für technische Hilfe bewilligt, aufgrund mangelnder Konzepte konnten 1958 aber erst sechs Millionen als ausgegeben verbucht werden. Längere Plenardebatten oder intensive öffentliche Diskussionen über die Entwicklungshilfe fanden in diesem Jahrzehnt nicht statt.38 Am 19. Dezember 1960 rief die UN-Vollversammlung die sechziger Jahre zur „Entwicklungsdekade“ aus. Zudem hatten, wie bereits erwähnt, die beiden großen deutschen Kirchen mit den Aktionen Misereor und Brot für die Welt schon ein Jahr zuvor ein umfangreiches öffentliches Engagement im Bereich der Entwicklungshilfe initiiert. Diese beiden Ereignisse erhöhten den Druck auf die Bonner Regierung, ebenfalls tätig zu werden. Parallel zur Gründung der amerikanischen Agency for International Development (AID) 1961 erfolgte daher die Einrichtung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bonn. Walter Scheel leitete das Ministerium, das zunächst mit 34 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen die Arbeit 36 Die Begriffe „Entwicklungshilfe“ und „Entwicklungspolitik“ werden häufig identisch verwendet. Doch im Gegensatz zur Entwicklungshilfe, also den entwicklungsbezogenen Leistungen der Industrieländer für Entwicklungsländer, ist die Entwicklungspolitik umfangreicher: Entwicklungspolitik umfasst alle Mittel, Maßnahmen und Strategien der Entwicklungs- bzw. Industrieländer, die auf eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung zielen. Siehe Nohlen, Artikel Entwicklungshilfe, Dritte Welt, 231. 37 Nuscheler, Entwicklungspolitik, 78. In den USA sind ähnliche interessenpolitische Gründe für den Beginn staatlicher Entwicklungspolitik von Bedeutung. Die Hilfe für die Dritt-Welt-Länder war somit auch ein Bestandteil der Systemkonfrontation während des Kalten Krieges. Dafür spricht auch, dass sie bis zum Anfang der sechziger Jahre als Teil der Sicherheitspolitik in den Haushaltstitel der „wechselseitigen Sicherheit“ (mutual security) eingegliedert war. Siehe dazu auch den Beitrag von Corinna Unger in diesem Band. 38 Hein, Die Westdeutschen, 36.
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aufnahm. Die ersten Jahre waren durch Kompetenzgerangel und eine weiterhin fehlender Struktur in der Entwicklungsarbeit charakterisiert. Um dem Vorwurf seitens der DDR-Regierung zuvorzukommen, die Bundesregierung nutze ihre Entwicklungshilfepolitik als Deckmantel für neokoloniale Interessen, blieb die Entwicklungshilfe der Bonner Republik projektgebunden und unterstützte größtenteils nur Nehmerländer, die diese Hilfe selbst erbeten hatten.39 Die zu befürchtenden Vorwürfe seitens der DDR-Regierung veranlassten die Bundesregierung überdies, nach alternativen Wegen zu suchen, um der Entwicklungshilfe staatliche Gelder zukommen zu lassen. Eine Möglichkeit sah die CDU-geführte Regierung in der Unterstützung kirchlicher Hilfsorganisationen. Dabei fiel ihr Blick auch auf Brot für die Welt und Misereor, die als die beiden größten und erfolgreichsten Entwicklungshilfeaktionen in Deutschland galten. Die Spendeneinnahmen in den ersten Sammlungen zeugten von einem großen Vertrauen der Bevölkerung in die beiden Aktionen. Die Bundesregierung sah in der Zusammenarbeit mit diesen Organisationen daher einen Weg, das Ansehen der Entwicklungshilfe in der Bevölkerung auch im Bereich der staatlichen Aktivitäten aufzuwerten. Zudem hoffte man, den eigenen Handlungsspielraum durch die bereitzustellenden Gelder erweitern zu können. Die Zusammenarbeit mit den Kirchen bot die Möglichkeit zu indirekten politischen Beziehungen bzw. zur Unterstützung von Ländern der Dritten Welt, in denen aus politischen Gründen eine unmittelbare Hilfe von Staat zu Staat nicht in Frage kam. Nicht zu unterschätzen war darüber hinaus die Tatsache, dass die Kirchen aufgrund ihrer jahrelangen Missionstätigkeit in den so genannten Entwicklungsländern auf bereits vorhandene Infrastrukturen zurückgreifen konnten. Der Staat verfügte seinerseits nicht über solche Voraussetzungen und sah daher in der kirchlichen Entwicklungsarbeit eine Gelegenheit, zusätzliche Ressourcen bzw. Personal zu aktivieren. Somit boten sich die kirchlichen Initiativen als Empfänger staatlicher Beihilfen an. STAATLICHE GELDER FÜR KIRCHLICHE ENTWICKLUNGSHILFE? Als allerdings von der Bundesregierung das Angebot kam, staatliche Gelder für die kirchliche Entwicklungsarbeit bereitzustellen, rief dies bei den beiden großen Kirchen unterschiedliche Reaktionen hervor. Während die katholische Kirche das Angebot von Anfang an nicht nur begrüßte, sondern die 39 Erst unter Erhard Eppler, der 1968 die Leitung des Ministeriums übernahm, gelang eine gewisse Zentralisierung der Zuständigkeiten. Mit der Aufhebung der Hallstein-Doktrin veränderten sich darüber hinaus die interessenpolitischen Voraussetzungen für die bundesrepublikanische Entwicklungshilfe.
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Bundesregierung ermahnte, die Entwicklungsarbeit der Kirchen zu unterstützen,40 kam es auf evangelischer Seite zu heftigen Auseinandersetzungen über die Frage, ob man staatliche Gelder für die eigene Arbeit entgegennehmen solle. Pfarrer Hans-Christoph von Hase nannte verschiedene Gründe, die gegen eine Annahme von staatlichen Geldern sprächen. Auf kirchlicher Ebene befürchtete er eine Gefährdung der Zusammenarbeit der EKD zwischen Ost und West und des gesamtdeutschen Projekts Brot für die Welt. Zudem wollte er an dem Grundsatz festhalten, Brot für die Welt von politischen und wirtschaftlichen Interessen freizuhalten.41 Auf der politischen Ebene sah er eine Gefahr für die Anerkennung der jungen Kirchen durch die Regierungen in den Entwicklungsländern, wenn sie sich mit den „weißen kapitalistischen“ Ländern einließen. Praktisch gesehen, so Hase, seien die jungen Kirchen darüber hinaus noch gar nicht in der Lage, Mittel in solch beachtlichem Umfang sinnvoll zu verwenden. Des Weiteren fürchtete man bei Brot für die Welt, die Bundesregierung könne mithilfe der Finanztransfers versuchen, die Kirchen für ihre entwicklungspolitischen Strategien zu instrumentalisieren.42 Diese Debatten wurden in einer breiten Öffentlichkeit ausgetragen. Letztlich folgten die Mitarbeiter der evangelischen Hilfsaktion den Ansichten von Hans-Christoph von Hase und kamen zu der Überzeugung, dass man besser auf die Annahme staatlicher Gelder verzichten solle. Damit setzte sich die Hilfsorganisation auch gegen jene Stimmen innerhalb der EKD durch, die sich für eine Annahme ausgesprochen hatten. Um die staatlichen Gelder nicht zurückweisen zu müssen, schuf die EKD allerdings 1962 eine neue Organisation, die Evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe e.V., die im Gegensatz zu Brot für die Welt mit staatlichen Geldern arbeitete. Auf katholischer Seite entstand ein Pendant: die Zentralstelle für Entwicklungshilfe. Mit dieser Einigung erhielten weder Misereor noch Brot für die Welt staatliche Gelder. Die Evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe und Brot für die Welt arbeiteten getrennt voneinander, auf der katholischen Seite übernahm hingegen die Geschäftsstelle von Misereor auf der Basis eines Kooperationsvertrages insbesondere die Bearbeitung von Anträgen der katholischen Zentralstelle bzw. deren Projektabwicklung. Beide Zentralstellen einigten sich mit der Bundesregierung auf folgende Bedingungen für die Annahme staatlicher Gelder: Erstens trafen die Zentralstellen selbst die Entscheidung, welche Projekte zu fördern seien. Zweitens durfte die Bundesregierung keinerlei politische Auflagen mit der Vergabe von Geldern verbinden. Drittens – und hier wurden die Zentralstellen durch die 40 Siehe Protokoll der Bischöflichen Kommission v. 13.–14.06.1960, in: Misereor-Archiv, MBK 10. 41 Brot für die Welt oder die Verteilung staatlicher Entwicklungshilfe durch die Kirchen von Hans-Christoph Hase 1961, in: Archiv des Diakonischen Werkes, HGSt Nr. 3192. 42 Siehe dazu Willems, Entwicklung, Interesse und Moral, 245f.
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Bundesregierung in die Pflicht genommen – war es nicht gestattet, Projekte zu fördern, die missionarische Intentionen verfolgten.43 Diese Bedingungen sollten eine weitgehende Unabhängigkeit von politischer Instrumentalisierung der kirchlichen Entwicklungshilfe gewährleisten. DIE ARBEITSWEISE VON BROT FÜR DIE WELT UND MISEREOR Im Verlauf der sechziger Jahre führten verschiedene politische und gesellschaftliche Prozesse zu Veränderungen bzw. Neupositionierungen der untersuchten Organisationen Brot für die Welt und Misereor. Das betrifft zum einen die eigentliche Projektarbeit, die durch die Spendeneinnahmen finanziert wurde. Zum zweiten führte die Entwicklung des Spendenmarktes von einer anfänglichen Konkurrenz der Hilfsaktionen zu einer immer intensiver werdenden Zusammenarbeit. Drittens zeitigte das Entstehen weiterer, zumeist weltlicher Hilfsorganisationen Konsequenzen für die Finanzierungsbasis und die Arbeit der kirchlichen Initiativen. Hinsichtlich der Projektarbeit kann herausgestellt werden, dass sich die Geldvergabe bei Brot für die Welt während der ersten Jahre nach der Gründung innerhalb der bereits genannten drei Tätigkeitsfelder Katastrophenhilfe, Hilfe zur Selbsthilfe und Gesundheitshilfe vollzog. 1964 wurde das Aktionsspektrum ausgeweitet, da nun auch Projekte gefördert wurden, die Informationsarbeit im Bereich der Entwicklungshilfe leisteten und einen Beitrag zur Aufklärung der Öffentlichkeit über die Lage in der Dritten Welt boten. Die Aktion Misereor ihrerseits unterstützte vor allem Projekte der strukturellen Hilfe, die der langfristigen und nachhaltigen Bekämpfung des Hungers dienen sollten. Weiterhin schlossen beide Hilfsaktionen in ihren Leitlinien die Vergabe der Gelder zu Missionszwecken kategorisch aus. Die anhand der archivarischen Überlieferung erfolgte Überprüfung der Projektvergabe bei Brot für die Welt in dem untersuchten Zeitraum hat grundsätzlich bestätigt, dass Anträge, die um die Förderung missionarischer Aufgaben baten, konsequent von der Geldvergabe ausgeschlossen wurden. Ähnliches gilt auch für das bischöfliche Hilfswerk Misereor: Die katholische Hilfsorganisation klam-
43 Die enge Zusammenarbeit zwischen Misereor und der katholischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe führte dazu, dass Misereor bei Projekten der Zentralstelle aushalf, wenn sich dort etwa eine Finanzierung verzögerte. Auch kam es vor, dass Projekte von beiden katholischen Hilfsorganisationen zugleich gefördert wurden. Auf evangelischer Seite blieb es dagegen bei einer sachlichen Trennung. Im evangelischen Bereich übernahm die EKD erst 1967 die Finanzierung der Verwaltungsstrukturen der Evangelischen Zentralstelle, da nun der Protest gegen die Annahme staatlicher Mittel zu verstummen begann.
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merte finanzielle Leistungen für Missionsaufgaben aus ihren Spendenverteilungen ebenfalls aus.44 Sowohl Misereor als auch Brot für die Welt waren aber vom Umfang ihrer ersten, sehr hohen Kollekteneinnahmen überrascht worden und standen daher vor dem Problem, die Gelder möglichst zügig und sachgerecht an die Empfänger zu verteilen. Aufgrund ihrer langjährig bestehenden Missionstätigkeit in den Dritt-Welt-Ländern verfügten die beiden großen Kirchen Deutschlands bereits über eine gewisse Infrastruktur und intensive Verbindungen in diese Regionen. Medizinische Versorgung und Bildungsmaßnahmen, beides klassische Felder der Entwicklungshilfearbeit, gehörten auch zu den traditionellen Tätigkeitsfeldern der Missionsstationen. Diese Strukturen sollten nun genutzt werden, um die eingenommenen Spendengelder sachgemäß ausgeben zu können.45 Bei Brot für die Welt war der Rückgriff auf diese Verbindungen zwar anfangs nicht vorgesehen, doch schien eine andere Lösung in den ersten Jahren nicht möglich gewesen zu sein.46 Misereor ihrerseits förderte gezielt die vorhandenen Verbindungen mit den Missionsstationen. Aufgrund des flächendeckenden Netzes von Missionseinrichtungen, das um einiges ausgeprägter war als auf der evangelischen Seite, konnte Misereor ihre finanziellen Mittel zur kirchlichen Entwicklungshilfe relativ effizient verwenden. Zwar riskierten beide Werke mit dieser Praxis, dass gegen sie der Vorwurf erhoben werden konnte, sie unterstützten entgegen der öffentlichen Verlautbarungen eben doch Missionsziele, doch ohne die Nutzung dieser alten Netzwerke wäre in der Aufbauphase eine erfolgreiche Arbeit bei Brot für die Welt und Misereor erschwert worden. Die Vergabepraxis der Anfangsjahre war demnach geprägt von einer breiten Unterstützung der bereits vorhandenen Missionseinrichtungen in den Einsatzländern. Dies wandelte sich bei Brot für die Welt sukzessive dahingehend, dass ab Mitte der sechziger Jahre die Verantwortung für die Projekte auf die neu entstandenen jungen Kirchen bzw. auf die ökumenischen Bündnisorganisationen Weltkirchenrat und Lutherischer Weltbund übertragen wurde. Misereor hingegen unterstützte weiterhin vor allem alteingesessene Missionseinrichtungen, die aber im Laufe der Zeit immer weniger von entsandten Missionaren, sondern stärker von einheimischen Katholiken betrie44 Allerdings wird aus verschiedenen Briefen deutlich, dass Dossing und weitere Mitglieder der Bischöflichen Kommission der Meinung waren, dass Misereor zumindest indirekt wertvolle Arbeit für die Mission leiste. Siehe z. B. den Brief von Dossing an Frings v. 14.01.1961, in: Misereor-Archiv, MAA 1, sowie das Protokoll der Sitzung der Bischöflichen Kommission v. 13.–14.06.1960, in: Misereor-Archiv, MBK 10. 45 Dies ist auch der Grund, warum in den ersten Jahren landwirtschaftliche Projekte nur selten gefördert wurden. 46 Siehe das Protokoll über die Arbeitssitzung Brot für die Welt v. 09.09.1960, in: Archiv des Diakonischen Werkes, HGSt Nr. 3191, sowie das Protokoll über die Sitzung der Bischöflichen Kommission v. 11.01.1962, in: Misereor-Archiv, MBK 16.
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ben wurden. Inhaltlich zielte die Arbeit sowohl bei Brot für die Welt als auch bei Misereor in der ersten Entwicklungsdekade darauf ab, besonders Bedürftigen in ihrer Not zu helfen, sei es durch Sofortmaßnahmen oder durch strukturelle ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘. Allerdings blieb es größtenteils bei der Förderung von Einzelprojekten, die nicht in ein übergreifendes Programm integriert wurden. Als die Papstenzyklika Populorum Progressio von 1967 und die evangelische Weltkirchenkonferenz von Uppsala im Jahre 1968 die gewachsene Relevanz der Entwicklungshilfe hervorhoben,47 fühlten sich Misereor und Brot für die Welt in ihrem Handeln bestätigt. Gleichzeitig deckte der Rückblick auf die erste Entwicklungsdekade eine größer werdende Kluft zwischen Nord und Süd und eine stetig voranschreitende Verarmung der Dritt-Welt-Länder auf. Diese Erkenntnis führte zu einer Überarbeitung der jeweiligen Hilfskonzepte der beiden kirchlichen Organisationen. Durch Evaluationen der Projekte und Konferenzen, in denen nun auch Vertreter aus den Entwicklungsländern selbst zu Wort kamen, sowie durch eine verbesserte Zusammenarbeit der Hilfsorganisationen bewegten sich Brot für die Welt und Misereor von der Unterstützung von Einzelprojekten hin zu einer Konzeption ganzer Programme. Mit diesem Vorhaben starteten sie in die zweite Entwicklungsdekade.48 Somit entschieden sich beide Hilfsorganisationen seit Ende der sechziger Jahre auch für einen Weg der intensiven Kooperation. Damit sollte zum einen eine bessere Koordinierung der Projektvergabe ermöglicht werden, zum anderen bildete die Zusammenarbeit eine solide Basis, um sich auf dem nun größer werdenden und von Konkurrenz geprägten Spendenmarkt zu behaupten. VON DER KONKURRENZ ZUR ZUSAMMENARBEIT Die Anfangsjahre kirchlicher Entwicklungshilfe waren geprägt durch ein Klima der Konkurrenz auf dem Spendenmarkt. Dies betraf zum einen die Einnahmen der unterschiedlichen Organisationen innerhalb der beiden Kirchen Deutschlands. So stand die bereits 1957 gegründete Arbeitsgemeinschaft für die Hungernden von Lothar Kreyssig im Schatten von Brot für die Welt, obwohl sie sich durchaus als erste evangelische Hilfsaktion für die Menschen in der Dritten Welt bezeichnen konnte. Auch zu einzelnen Landes47 Für weiterführende Literatur zum Zweiten Vatikanischen Konzil und der Weltkirchenkonferenz in Uppsala siehe Hubert Wolf u. Claus Arnold (Hg.), Die deutschsprachigen Länder und das zweite Vatikanum, Paderborn 2000; Kurt Zaugg-Ott, Entwicklung oder Befreiung? Die Entwicklungsdiskussion im Ökumenischen Rat der Kirchen 1968–1991, Frankfurt / Main 2004. 48 Mit der zweiten Entwicklungsdekade werden die Entwicklungshilfebemühungen im Zeitraum der siebziger Jahre bezeichnet.
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kirchen gestaltete sich das Verhältnis der Geschäftsstelle von Brot für die Welt schwierig, da vor Ort die Spendenwerbung für unabhängige Einzelaktionen des Öfteren als sinnvoller erachtet wurde als die allgemeinen Sammlungen für Brot für die Welt. Der Pressereferent von Brot für die Welt, Bernhard Ohse, warf den Landeskirchen diesbezüglich vor, sich Projekte herauszusuchen, die besonders attraktiv erschienen.49 Wie bereits zuvor erwähnt, befürchtete zudem der Missionsrat Einbußen bei den Spendeneinnahmen für missionarische Projekte infolge der Gründung von Brot für die Welt – auch hier herrschte mithin eine gewisse Konkurrenz um Spendengelder zwischen den verschiedenen evangelischen Organisationen. Auf katholischer Seite wiederum führten Überschneidungen in der Öffentlichkeitsarbeit und den Zielen der Hilfsorganisationen Misereor und der 1961 gegründeten, ebenfalls auf Spenden angewiesenen Aktion Adveniat nach wiederholten heftigen Auseinandersetzungen zu einer festgelegten Abgrenzung der Aufgaben und Zusammenarbeit in der Öffentlichkeitsarbeit.50 Neben der innerkirchlichen Konkurrenz kann zum anderen auch von einer „konfessionellen Konkurrenz“51 zwischen Misereor einerseits und Brot für die Welt andererseits gesprochen werden. Einen entscheidenden Anstoß für die Gründung von Brot für die Welt ergab sich, wie bereits angemerkt, aus der Tatsache, dass Misereor einen überaus hohen Spendeneingang während der ersten Aktion erzielen konnte – ein Erfolg, hinter dem man auf evangelischer Seite nicht zurückbleiben wollte. Misereor wiederum beschloss eine Fortführung der Aktion, um den nun so erfolgreich etablierten Spendenmarkt für ausländische Zwecke nicht den evangelischen Organisationen zu überlassen. Ein Überblick über die Spendeneinnahmen zeigt, dass im Konkurrenzkampf zwischen Misereor und Brot für die Welt die katholische Initiative zumindest hinsichtlich der Spendeneinnahmen die Spitzenpositioin einnahm:
49 Brief von Bernhard Ohse an Andrea Schallbruch, Diakonie-Ausschuss Düsseldorf, 18.10.1961, in: Archiv des Diakonischen Werkes, HGSt Nr. 3207. 50 Siehe hierzu Misereor-Archiv, MBK 38, MBK 52, MBK 53. 51 Willems, Entwicklung, Interesse und Moral, 227.
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Grafik 1: Misereor und Brot für die Welt: Kollekten- und Spendeneinnahmen in Mio. DM, 1959–198052
Auffällig ist nicht nur der relativ kontinuierliche Anstieg der Spendeneinnahmen beider Initiativen, sondern vor allem die Tatsache, dass der Abstand zwischen den Erlösen der beiden Organisationen stets zwischen etwa zwanzig Millionen DM und knapp vierzig Millionen DM lag. Die intensivere Kirchlichkeit der katholischen Bevölkerung, die mit einer höheren Frequenz bei den Gottesdienstbesuchen und daraus folgend höheren Kollektensummen einherging, kann als eine der Ursachen dieses im Vergleich zu Brot für die Welt größeren Erfolges von Misereor angeführt werden.53 Neben der inner- und interkirchlichen Konkurrenz lässt sich darüber hinaus aber noch eine Konkurrenzsituation zwischen den kirchlichen Organisationen einerseits und den neu entstehenden weltlichen Hilfsorganisationen andererseits feststellen. Als beispielsweise der deutsche Zweig der Freedom from hunger campaign, die spätere Deutsche Welthungerhilfe, in der zweiten 52
Daten zu Misereor für die Jahre 1959–1968 aus Misereor-Pressestelle. Werkmappe zur Fastenzeit 1969, in: Misereor-Archiv, Drucksachen 1966–69, Mappe 1969; Daten zu Misereor für die Jahre 1969–1976 entnommen aus den jeweiligen Jahresberichten von Misereor; Daten zu Misereor für die Jahre 1977–1986 aus Misereor Jahresbericht (1986), 44. Daten zu Brot für die Welt entnommen aus Brot für die Welt: Jahresbericht 1988, 20–21. 53 Siehe dazu u.a. Gabriel, Zwischen Tradition und Modernisierung; Karl Gabriel, Zwischen Aufbruch und Absturz in die Moderne. Die Katholische Kirche in den 60er Jahren, in: Axel Schildt, Detlef Siegfried u. Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, 528– 543.
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Hälfte der sechziger Jahre erstmals eine große Kampagne zur Bekämpfung des Hungers in der Welt plante, stiegen die kirchlichen Hilfsorganisationen Misereor und, etwas zögerlicher, Brot für die Welt mit ein. Der gemeinsam organisierte Aufruf unter dem Motto „Tag des brüderlichen Teilens“ sollte zusätzlich die bislang noch kaum von den Sammlungsaktionen angesprochene nichtchristliche Spendergruppe zur Gabe animieren. Die beiden christlichen Hilfsorganisationen bezweckten mit dieser Arbeitsgemeinschaft aber auch, die neuformierte Welthungerhilfe durch eine Zusammenarbeit besser kontrollieren und „in Schach halten“ zu können. Die regelmäßigen Aufrufe im Rahmen des „Tages des brüderlichen Teilens“ ergaben seit 1968 unterschiedliche Einnahmenhöhen auf den getrennten Spendenkonten. Während Misereor sehr hohe Erlöse auf ihrem Konto verbuchen konnte, blieb es bei Brot für die Welt bei gleich bleibenden Spendeneinnahmen mittlerer Größenordnung. Die Deutsche Welthungerhilfe rangierte dagegen weit abgeschlagen auf dem letzten Platz und konnte ihr Ziel, mithilfe der gemeinsamen Aktion mit den bereits etablierten kirchlichen Hilfswerken eine breitere Öffentlichkeit für sich zu gewinnen, nicht verwirklichen.54 Zum Ende des Jahres 1972 stieg sie daher aus der Arbeitsgemeinschaft aus. Brot für die Welt und Misereor führten die Aktion auf ökumenischer Basis weiter und nannten sie nun „Brüderlich teilen – gemeinsam handeln“. Die intensive Kooperation zwischen der evangelischen und der katholischen Hilfsaktion, die mit „Brüderlich Teilen“ 1968 begonnen hatte, manifestierte sich abermals 1970 in einem gemeinsam publizierten Strategiepapier. Die beiden Geschäftsführungen entwickelten ein Fünf-Punkte-Programm für eine bessere Kooperation zwischen Misereor und Brot für die Welt. Damit mündete eine anfängliche Konkurrenzsituation in eine Zusammenarbeit. Das Programm beinhaltete folgende Punkte: 1. die qualitative Verbesserung der Arbeit in den Geschäftsstellen; 2. die gemeinsame Förderung – ideell und finanziell – von ökumenischen Initiativen in den Entwicklungsländern; 3. die Intensivierung der Abstimmung und Zusammenarbeit bei der Öffentlichkeitsarbeit und Bewusstseinsbildung in der Bundesrepublik; 4. die Abstimmung und Zusammenarbeit bei der Spendenwerbung; 5. eine gemeinsame Untersuchung sowie Gutachten und Studien über besondere Probleme kirchlicher Entwicklungsarbeit.55
54 In einer vertraulichen Aktennotiz von Geschäftsführer Hans-Peter Merz v. 16.04.1968 bescheinigte dieser der Welthungerhilfe eine „Profilneurose“ gegenüber den beiden großen kirchlichen Organisationen, in: Misereor-Archiv, HGF Brüderlich Teilen – allgemein. 55 Siegfried Baumgartner; Helmut Falkenstörfer, „Zum Thema: Gemeinsam Handeln“, (= Nr. 1 Misereor + Brot für die Welt Schriftenreihe) 1971, 9f.
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In diesem Zusammenhang fanden zusätzlich regelmäßige Treffen der Geschäftsführer von Brot für die Welt, der Evangelischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe, Misereor und der Katholischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe statt, um die Projektarbeit untereinander abzustimmen und gemeinsame Aktionen zu planen. Die auf Seiten der Gemeinden steigende Nachfrage nach ökumenischen Projekten sollte auf diesem Weg befriedigt werden.56 Die Auswirkungen konfessioneller Konkurrenz können im Nachhinein durchaus als positiv sowohl für die Etablierung der Organisationen als auch für die Effektivität der geleisteten Hilfe bewertet werden. Zum einen war die aufmerksame Beobachtung der „konkurrierenden“ Organisationen auf dem Spendenmarkt eine Hilfe für die eigene Strukturbildung, da positive Vorbilder übernommen werden konnten.57 Zum anderen verfolgten die beiden großen Organisationen aber auch den Weg der Zusammenarbeit, um den Wettbewerb in sinnvolle Bahnen zu lenken. Die Unterstützung für die Menschen in der Dritten Welt blieb im Zentrum der Arbeit der zwei Hilfsaktionen und sollte möglichst umfangreich gewährleistet werden. Als weiteren Vorteil sah man in der kirchlichen Zusammenarbeit die Möglichkeit, sich gegen die nun neu entstehenden weltlichen Organisationen besser behaupten zu können. DIE ENTWICKLUNG PRIVATER ENTWICKLUNGSHILFEORGANISATIONEN JENSEITS VON MISEREOR UND BROT FÜR DIE WELT Denn es blieb nicht bei der Konkurrenz für die beiden kirchlichen Großorganisationen Misereor und Brot für die Welt von Seiten der Deutschen Welthungerhilfe. Vielmehr entstanden seit den sechziger Jahren immer mehr spendenbasierte Initiativen, die sich der Hilfe für die Dritte Welt widmeten. Vor dem Hintergrund der Liberalisierung des Sammlungsgesetzes und des Rückzuges des Staates aus der Kontrolle und Eingrenzung des Spendenmarktes wuchs die Zahl der im Ausland tätigen spendenfinanzierten Initiativen inner- und außerhalb der Kirchen deutlich. Zu denken ist etwa an die Gründung des deutschen Zweiges von Terre des hommes im Jahr 1967, dessen Spendeneinnahmen 1972 erstmals die Zwei-Millionen-DM-Grenze durchbrachen und der bereits 1980 mehr als zehn Millionen DM jährlich einnahm.58 In den siebziger Jahren folgten weitere Neugründungen wie etwa Medico international, Cap Anamur und der deutsche Zweig von World Vi56 Von Hahn an Gundert und Falkenstörfer, 21.06.1971, in: Archiv des Diakonischen Werkes, HGSt Nr. 3549. 57 So galten die bereits anfänglich bestehenden strukturellen Maßnahmen bei Misereor durchaus als positives Beispiel für den Verteilungsausschuss von Brot für die Welt. Siehe Archiv des Diakonischen Werkes, HGSt Nr. 3201. 58 Wir danken Terre des hommes für die Bereitstellung ihrer Spendenstatistiken.
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sion. Außerdem durften sich ältere Organisationen, die zunächst lediglich ein Nischendasein gepflegt und sich in erster Linie über Mitgliederbeiträge finanziert hatten, aufgrund der Liberalisierung des Sammlungsgesetzes seit Mitte der sechziger Jahre mit Spendenaufrufen an die gesamte bundesrepublikanische Bevölkerung richten, so dass auch sie ihre Spendeneinnahmen deutlich steigern konnten. Das 1957 gegründete Deutsche Aussätzigenhilfswerk etwa vermochte es, in den ersten zehn Jahren seines Bestehens seine Einnahmen um das 25-fache zu steigern und sein Wachstum seit den späten sechziger Jahren sogar nochmals deutlich zu beschleunigen.59 Die 1959 ins Leben gerufene Kindernothilfe erhöhte seit den frühen siebziger Jahren ihre Einnahmen ebenfalls in wesentlichem Umfang; dies trifft auch auf die schon früh gegründete Christoffel-Blindenmission zu, deren jährliche Spendeneinnahmen Mitte der siebziger Jahre bei weit über zwanzig Millionen DM lagen.60 Im kirchlichen Bereich bekamen Brot für die Welt und Misereor 1961 zudem, wie bereits erwähnt, Konkurrenz durch Adveniat, einer katholischen Initiative, die sich sowohl Missions- als auch Hilfsaufgaben in Zentral- und Südamerika widmete.61 Spätestens Ende der siebziger Jahre hatten Brot für die Welt und Misereor endgültig ihre Monopolstellung hinsichtlich der spendenfinanzierten Entwicklungshilfearbeit verloren. Eine Vielzahl kirchlicher und nichtkirchlicher Organisationen war entstanden, die die Bundesdeutschen um Gelder für die Arbeit in der Dritten Welt baten. Besonders jene Organisationen, die (anders als Brot für die Welt und Misereor) weniger die nachhaltig angelegte Hilfe zur Selbsthilfe finanzierten, sondern eher auf Hilfe in akuten Notlagen etwa in Folge von Natur- und / oder Hungerkatastrophen spezialisiert waren, hatten auf dem nun liberalisierten Spendenmarkt großen Erfolg. Seit dem Ende der siebziger Jahre waren die beiden kirchlichen Hilfsorganisationen somit nur noch zwei Initiativen unter vielen, die sich in der Bundesrepublik der Hilfe für Bedürftige im Ausland widmeten. Die Pioniere dieses Feldes der Philanthropie in der Bundesrepublik sind seitdem nur noch spezialisierte Akteure eines breit gefächerten Feldes, auf dem viele Organisationen mit oft sehr spezifischen Anliegen agieren. Misereor und Brot für die Welt gehören immer noch zu den relativ erfolgreichen Spendenakquisiteuren, doch einige Initiativen stellen mittlerweile bedeutende Konkurrenten dar. Der Relevanzverlust der beiden kirchlichen Organisationen lässt sich mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen erklären. Hier ist zunächst der Bedeutungsrückgang kirchlicher Institutionen seit den sechziger Jahren im All59 Wir danken der Deutschen Lepra- und Tuberkulose-Hilfe e.V. für die Bereitstellung ihrer Spendenstatistiken. 60 Spendenstatistiken zur Christoffel-Blindenmission finden sich in Wolfgang Erk (Hg.), CBM-Dokumentation – Missionsdiakonie transparent. Zahlen, Daten, Fakten. Eine Zwischenbilanz, Stuttgart 1987, 19. 61 Stefan Voges, Solidarität in der Weltkirche. Die Gründung der bischöflichen Aktion „Adveniat“, in: Historisches Jahrbuch 125 (2005), 327–347.
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gemeinen zu nennen. Die beispielsweise am Rückgang der Gottesdienstbesuche abzulesende Abnahme der Kirchlichkeit zunächst auf protestantischer, dann auch auf katholischer Seite, die zudem mit einer allmählichen Auflösung des katholischen Milieus einherging, konnte nicht ohne Konsequenzen bleiben.62 Zudem kann der wachsende Erfolg der weltlichen Organisationen auf einen Wandel in der Berichterstattung der bundesdeutschen Medien zurückgeführt werden.63 Seit den sechziger Jahren berichteten die Printmedien und das sich schnell durchsetzende Fernsehen in zunehmendem Maße über Dritt-Welt-Länder. So stieg die mediale Aufmerksamkeit für nichtwestliche Regionen, doch standen dabei oft Meldungen über Katastrophen, Erdbeben, Überschwemmungen, Dürreplagen und Hungersnöte im Zentrum.64 Teilweise waren diese Berichte mit schockierenden Bildern von hungernden und leidenden Menschen versehen, was auf die Affektebene der Betrachter zielte und bei diesen häufig Mitleidsreflexe auslöste, die sich oft in einem Willen zur Hilfe und damit auch häufig in einer Spendenhandlung niederschlugen.65 Durch die Konzentration der Medien auf die verschiedensten Katastrophen in 62 Zur Auflösung des katholischen Milieus siehe u.a. Gabriel, Zwischen Aufbruch und Absturz; Karl Gabriel, Die Katholiken in den 50er Jahren. Restauration, Modernisierung und beginnende Auflösung eines konfessionellen Milieus, in: Axel Schildt u. Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, 418–431. Zur Entwicklung auf evangelischer Seite siehe Martin Greschat, Protestantismus und Evangelische Kirche in den 60er Jahren, in: Axel Schildt, Detlef Siegfried u. Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre, 544–580. 63 Zum Wandel des Medienkonsums der Bundesdeutschen siehe u.a. Konrad Dussel, Vom Radio- zum Fernsehzeitalter. Medienumbrüche in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Axel Schildt, Detlef Siegfried u. Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre, 673–694. Zur Rolle der Medien in der Bundesrepublik siehe Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006. Einen Überblick gibt auch Jürgen Wilke, Mediengeschichte der BRD, Köln, Weimar 1998. 64 Zur Medienberichterstattung über die Dritte Welt siehe u.a. Dirke Köpp, „Keine Hungersnot in Afrika“ hat keinen besonderen Nachrichtenwert. Afrika in populären Zeitschriften (1946–2000), Frankfurt / Main 2005. Zur „Inszenierung“ von Hungerkatastrophen in den bundesdeutschen Medien, analysiert anhand des so genannten Tags für Afrika, der Mitte der 1980er Jahre stattfand, siehe Jürgen Horlemann, Ein Tag für Afrika oder: Wie Hunger verkauft wird, Berlin 1987. Eine ebenfalls gegenwartsbezogene, sehr kritische Analyse des Verhältnisses zwischen Hilfsorganisationen und Medien findet sich auch bei Horand Knaup, Hilfe, die Helfer kommen. Karitative Organisationen im Wettbewerb um Spenden und Katastrophen, München 1996. 65 Eine Gegenwartsanalyse zum Zusammenhang zwischen Wohltätigkeit im internationalen Maßstab und der Berichterstattung über Notlagen und geleistete Hilfsmaßnahmen liefert u.a. Sigrid Baringhorst, Politik als Kampagne. Zur medialen Erzeugung von Solidarität, Opladen 1998. Siehe auch Jonathan Benthall, Disasters, Relief and the Media, London 1993, sowie Gabriele Lingelbach, Das Bild des Bedürftigen und die Darstellung von Wohltätigkeit in den Werbemaßnahmen bundesrepublikanischer Wohltätigkeitsorganisationen, in: Archiv für Kulturgeschichte 89 (2007), 345–365.
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den Entwicklungsländern erhielten aber jene Organisationen, die sich auf die Hilfe in akuter Not, etwa in Folge von Naturkatastrophen, konzentrierten, einen Wettbewerbsvorteil auf dem expandierenden Spendenmarkt. Da Aktionen wie Cap Anamur sowie auf Katastrophenhilfe spezialisierte Initiativen häufiger in den Medien präsent waren als jene Organisationen, die eher auf langfristige Hilfe zur Selbsthilfe setzten, zogen sie in zunehmendem Maße Spendenleistungen an sich. Die Hinwendung der privaten Spendenleistung von der Entwicklungs- zur Katastrophenhilfe, die seit den sechziger Jahren zu beobachten war und die Arbeit der tatsächlichen Entwicklungshilfeorganisationen gefährdete, hat somit einen ihrer Gründe im Wandel der Medienberichterstattung. FAZIT Überblickt man die Genese der spendenfinanzierten privaten Entwicklungshilfe seit den späten fünfziger Jahren, so kann man diese in gewissem Sinne als eine Erfolgsgeschichte beschreiben. Dies betrifft zunächst die tatsächlich geleistete Hilfe vor Ort, also die Vergabepraxis: Nach anfänglichen Schwierigkeiten bei der Verteilung der Gelder etablierte sich eine Vergaberoutine, die zunehmend durch klar formulierte Richtlinien und eine wachsende Kenntnis und Professionalität gekennzeichnet war. Die kirchlichen Organisationen nahmen in der privaten Entwicklungshilfe eine Vorreiterrolle ein, die nicht zuletzt aus ihrem theologischen Verständnis des Helfens und aus den bereits vorhandenen Strukturen durch die traditionelle Missionstätigkeit resultierte. Mit dem zunehmendem Erstarken der jungen Kirchen in den Empfängerländern intensivierte sich die ökumenische Zusammenarbeit. Misserfolge bei der Durchführung einzelner Projekte führten zu Lernprozessen, die ihrerseits die Konsequenz hatten, dass die Betroffenen vor Ort zunehmend in die Entscheidungsprozesse eingebunden wurden. Die immer stärkere Orientierung hin zu einer programmatischen Entwicklungshilfe ist als Bestandteil dieses Lernprozesses zu interpretieren. Auch die anfängliche interkonfessionelle Konkurrenz machte einem ökumenischen Zusammenwirken Platz. Das lag vor allem an der für die zweite Entwicklungsdekade formulierten Zielsetzung, die Hilfen an die Dritte Welt noch umfangreicher und effizienter zu gestalten. Darüber hinaus sollte mit einer interkonfessionellen Kooperation die führende Position auf dem Spendenmarkt verteidigt werden. In den eigenen Reihen setzten sich sowohl Brot für die Welt als auch Misereor mit ihren Leitgedanken durch. So wehrte sich Brot für die Welt erfolgreich gegen eine staatliche Beteiligung an der evangelischen Hilfsaktion und überließ es der EKD, dafür eine weitere Organisation zu gründen. Kardinal Frings wiederum schuf mit dem Hilfswerk Misereor eine Initiative, die weitgehend unabhängig vom päpstlichen Zentralismus agierte. Die deutschen Bi-
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schöfe riefen eine Initiative ins Leben, deren Wirken nicht zuletzt durch die Papstenzyklika von 1967 bestätigt wurde. Auch auf der Akquise-Seite lässt sich die Genese der privaten Entwicklungshilfe zumindest teilweise als Erfolgsgeschichte beschreiben. Die Bundesdeutschen ließen sich schnell von der Notwendigkeit von Spenden für Bedürftige in der Dritten Welt überzeugen. Der selbst für die Initiatoren überraschende Erfolg der ersten Kollektenaktionen von Misereor und Brot für die Welt zeigte ebenso wie die in den Folgejahren stetig ansteigenden Spendeneinnahmen, dass die Bevölkerung durchaus willens war, großzügig zu geben, wenn eine vertrauenswürdige Organisation sie auf adäquate Weise um einen Obolus bat.66 Allerdings steht die medieninduzierte Tendenz auf Seiten der Spender, ihre Gaben zunehmend auf die Hilfe in akuten Notfällen zu konzentrieren und die auf Nachhaltigkeit angelegte Entwicklungshilfe demgegenüber zu vernachlässigen, in gewissem Gegensatz zu den Lernprozessen, die auf Seiten der helfenden Organisationen gemacht wurden. Philanthropie ist im Medienzeitalter mithin widersprüchlichen Tendenzen ausgesetzt.
66 Bei einer genaueren Betrachtung relativiert sich die Erfolgsgeschichte der spendenfinanzierten Entwicklungshilfe insofern, als die Bundesdeutschen wahrscheinlich kaum einen wachsenden Anteil ihres Einkommens für Spendenleistungen investierten, sondern lediglich mehr gaben, weil sie auch mehr verdienten. Der Erfolg der privaten Entwicklungshilfe schreibt sich somit in den ökonomischen Erfolg der Nachkriegsgeschichte ein.
„UNSER TISCH IST BESSER GEDECKT“. OSTDEUTSCHE PHILANTHROPIE UND WOHLTÄTIGKEIT, 1959–1989* Gregory R. Witkowski1 Die Deutschen blicken auf eine lange Tradition der Unterstützung wohltätiger Zwecke zurück, die auch nach Gründung der DDR fortgesetzt wurde. Obwohl die ostdeutsche Regierung in den fünfziger Jahren viele philanthropische Organisationen auflöste, wurden Spendenkampagnen weiterhin vom Staat, durch die so genannten Massenorganisationen wie den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) sowie durch die katholische und die evangelische Kirche organisiert. Die ostdeutsche politische Führung mobilisierte die Bevölkerung, sich mit Zeit und Geld für eine weite Spanne von Aktivitäten zu engagieren. Dies reichte von lokalen Aktivitäten wie der Einrichtung von Dorfbüchereien über regionale und nationale Aktivitäten wie das Einbringen der Ernte oder den Bau eines neuen Sportstadions bis hin zum Engagement für internationale Zwecke. Dazu gehörten auch die in diesem Aufsatz diskutierten Spendenkampagnen. Im Zentrum des Beitrags stehen drei wichtige ostdeutsche Spendenkampagnen für Entwicklungsländer, die sich von inländischen Sammelkampagnen insofern unterschieden, als der Druck zu spenden ein ganz anderer war. Die Spendenaktivitäten für die evangelische Aktion Brot für die Welt, den staatlichen Solidaritätsfond und die katholische Sammlung Not in der Welt zeigen, dass viele Menschen in der DDR nach wie vor bereit waren, für wohltätige Zwecke zu spenden. Allerdings war das sozialistische Regime viel stärker in diesen Prozess involviert, als dies für liberal-demokratische Regierungen, einschließlich die der USA, üblich war. Obwohl die Spendenaufrufe für diese Kampagnen einen Großteil der ostdeutschen Bevölkerung erreichten, waren es letztlich nur die Christen, die die kirchlichen Spendensammlungen unterstützten. Dieser Beitrag veranschaulicht anhand ausgewählter * 1
Übersetzung aus dem Englischen von Esther Conrad und Eva Schissler. Ich möchte mich beim DAAD und der Fulbright Commission für ihre Unterstützung meiner Forschung bedanken. Die Teilnehmer an der Tagung Philanthropy in History: German and American Perspectives am Deutschen Historischen Institut in Washington, D.C. haben mir viele nützliche Hinweise gegeben. Thomas Adam und Gabriele Lingelbach danke ich für ihre weiterführenden Kommentare. Auch Thomas Cox und Juliane Nitschke gilt mein Dank für die sprachlichen und stilistischen Verbesserungsvorschläge.
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Kampagnen die Bedeutung der Philanthropie in der DDR und befasst sich darüber hinaus mit der Rolle von Wohltätigkeitsorganisationen in einer Diktatur. Hier soll die These vertreten werden, dass trotz der großen Unterschiede zwischen den kirchlichen und den politischen Entscheidungsträgern beide Seiten die moralische Verantwortung des Gebens betonten, um die Unterstützung der DDR-Bevölkerung zu gewinnen oder zu erhalten. Zwar hatten die genannten Institutionen mit ihrem Versuch, sich des Rückhalts der Bevölkerung zu versichern, auf lange Sicht keinen Erfolg, doch das Interesse an den Spendensammlungen trug durchaus dazu bei, das Engagement ihrer Anhänger sicherzustellen. HINTERGRUND Seit der Gründung der DDR bemühte sich die SED-Führung angesichts einer ihr skeptisch gegenüberstehenden Öffentlichkeit, ihre Machtposition durch eine Doppelstrategie abzusichern: Einerseits versuchte sie, die unabhängigen gesellschaftlichen Einrichtungen zu kontrollieren, um das Entstehen einer Opposition zu verhindern. Andererseits wollte sie eine funktionsfähige, international anerkannte Regierung aufbauen. In dem Bestreben, ihre politische Autorität zu behaupten, setzten sowohl die ostdeutschen als auch die sowjetischen Funktionäre die Kirchen und Wohltätigkeitsorganisationen unter Druck. Obwohl die SED ihre Ziele nie ganz erreichen konnte, ist ihre Strategie für unser Verständnis der Spendenkampagnen wichtig. Der Zweite Weltkrieg endete mit dem Zusammenbruch der deutschen Infrastruktur und setzte alle bestehenden Institutionen unter großen finanziellen Druck. Auch die Wohltätigkeitsorganisationen waren vom kriegsbedingten wirtschaftlichen Einbruch stark in Mitleidenschaft gezogen. Sie gingen mit äußerst geringen finanziellen Reserven und mit beschädigter oder gänzlich zerstörter Infrastruktur aus der nationalsozialistischen Diktatur hervor. Bereits vor der ostdeutschen Staatsgründung waren sie erheblichem Druck der neuen Machthaber ausgesetzt. Unter dem Vorwand der Entnazifizierung führten letztere direkt nach Kriegsende eine Bodenreform durch, in deren Verlauf alle Ländereien über einhundert Hektar beschlagnahmt und an Kleinbauern und Flüchtlinge verteilt wurden. Viele Stiftungen hingen von diesen Ländereien ab, um ihre Aktivitäten zu finanzieren; sie sahen sich nun aufgrund des Geldmangels zur Aufgabe gezwungen.2 Diejenigen, die Kriegszerstörung und Bodenreform überstanden hatten, fielen 1953 einer staatlichen Revision zum Opfer, welche die Auflösung zahlreicher Institutionen zur Folge hatte. Nur wenige unabhängige Organisationen blieben während 2
Zur Bodenreform vgl. Arnd Bauerkämper (Hg.), Junkerland in Bauernhand? Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone, Stuttgart 1996.
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der DDR-Zeit bestehen, die meisten verschwanden spätestens in den fünfziger Jahren.3 Auch die ostdeutschen Kirchen sahen sich mit den Bestrebungen der SED konfrontiert, ihre Aktivitäten einzuschränken. Die marxistisch-leninistische Ideologie forderte die Zerstörung der Kirchen, was mit dem Ziel der SED einherging, diejenigen Institutionen, die mit Partei und Staat nicht konform gingen, so weit wie möglich auszuschalten. Daher wurden die Privilegien der Kirchen in den fünfziger Jahren immer weiter eingeschränkt. So weigerte sich der Staat, Kirchensteuern zu erheben, schränkte den Religionsunterricht in den Schulen ein und institutionalisierte die Jugendweihe in Konkurrenz zur christlichen Konfirmation, um nur einige Maßnahmen zu nennen. Die SED übernahm durch ihre Massenorganisationen auch viele gesellschaftliche Aufgaben der Kirchen.4 Allerdings gelang es den Kirchen, institutionelle Ressourcen und Unterstützung innerhalb der Bevölkerung zu mobilisieren, mit deren Hilfe sie eine gewisse Präsenz in der DDR bewahrten. Trotz des deutlichen Konflikts zwischen der SED und den Kirchen führte der Wunsch des Politbüros nach internationaler Anerkennung letztlich zu einer begrenzten Kooperation zwischen beiden Institutionen. Seit der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 wurde die DDR lediglich von den anderen sozialistischen Ländern als unabhängiger Staat anerkannt. Die Bundesrepublik hingegen unterstrich mithilfe der so genannten Hallstein-Doktrin ihren Alleinvertretungsanspruch. Sie drohte jenen Ländern, die diplomatische Verbindungen mit der DDR aufbauen wollten, mit der Einstellung von Subventionen und dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Hier kam der erstarkenden BRD zugute, dass sie über weit umfangreichere finanzielle Mittel verfügte als die DDR. Sie nutzte diese Mittel im Rahmen der Entwicklungshilfe, um sich die Loyalität der Länder in der Dritten Welt zu sichern. Unterdessen sah die DDR-Führung in intensiveren Kontakten zu den neuen unabhängigen Staaten Afrikas, Asiens sowie Mittel- und Südamerikas eine Chance, sich mit einer aktiveren Außenpolitik zu profilieren. Da viele dieser Länder die guten Beziehungen der BRD zu den ehemaligen Kolonialmächten mit Misstrauen betrachteten, versprach sich das SED-Sekretariat von der Zusammenarbeit mit diesen Entwicklungsländern diplomatische Erfolge.5 1960 3
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Rupert Graf Strachwitz, Foundations in Germany and Their Revival in East Germany after 1989, in: Helmut K. Anheier u. Stefan Toepler (Hg.), Public Funds, Private Purpose. Philanthropic Foundations in International Perspective, New York 1999, 219–234, hier 223ff. Als Einführung zur komplizierten Beziehung zwischen den Kirchen und der DDR-Regierung siehe Robert Goeckel, Die evangelische Kirche in der DDR, Leipzig 1995; Bernd Schäfer, Staat und katholische Kirche, Köln 1998. Näheres zur Hallstein-Doktrin findet sich bei William Gray, Germany’s Cold War. The Global Campaign to Isolate East Germany 1949–69, Chapel Hill 2003. Ausführlicheres zu den Zielen ostdeutscher Außenpolitik in Afrika findet sich bei Ulrich van der Heyden,
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begann die SED-Führung, sich der internationalen Beziehungen der Kirchen zu bedienen, um ihren eigenen Einfluss in den Entwicklungsländern zu stärken. Während der Kalte Krieg die Welt weitgehend in Blöcke aufgeteilt hatte, besaßen die Kirchen als transnationale Institutionen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Macht und Einfluss. Diese Position, gekoppelt mit dem Verlangen des Politbüros nach Anerkennung im In- und Ausland, stellte den Ausgangspunkt für die Gründung der drei hier analysierten Spendenkampagnen dar. Zwar versuchte die SED, sich die Kontakte der Kirchen im Ausland zunutze zu machen, doch es waren die Kirchen, die an die Regierung herantraten und ihre Pläne präsentierten, wohltätige Kollekten zu organisieren. Den führenden Köpfen der beiden Kirchen war – besonders nach dem Bau der Berliner Mauer – klar, dass die DDR Bestand haben würde und sie sich daher mit dem Staat arrangieren müssten. Zugleich erkannten sie, dass ihre Entscheidungen von den Kirchengemeinden in Westdeutschland und andernorts aufmerksam verfolgt wurden. Aus diesem Grund gingen sie vorsichtig vor und versuchten, ihre eigenen Zielsetzungen zu bewahren, auch wenn sie mit dem Staat kooperierten. Aus Sicht der Kirchen boten sich die wohltätigen Kampagnen an, um das Engagement ihrer Mitglieder in der DDR sicherzustellen und ihre Reputation im In- und Ausland zu wahren, indem sie sich demonstrativ für die Notleidenden einsetzten. Der Ursprung der ostdeutschen Spendenkampagnen lag daher zum einen in dem historisch bedingten Misstrauen der Kirchen gegenüber dem SED-Staat, das aufgrund der unterschiedlichen Weltanschauungen und im Laufe von zehn Jahren staatlicher Unterdrückung entstanden war. Zum anderen waren die Kampagnen durch Veränderungen in den Konzepten des Staates und der Kirchen geprägt. OSTDEUTSCHE SPENDENKAMPAGNEN Während der Osterzeit 1959 begann die katholische Kirche in der BRD, unter dem Namen Misereor eine Kollekte zur Linderung der Armut in den Entwicklungsländern durchzuführen. Evangelische Würdenträger trafen sich kurz danach, um über ähnliche Maßnahmen zu sprechen, denn sie wollten den Eindruck vermeiden, dass sich die Protestanten weniger um die Armen der Welt kümmerten als die Katholiken, und sie suchten zu verdeutlichen, dass sie auf sozialer Ebene ähnliche Ziele verfolgten.6 So beschrieb das (protes-
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Ilona Schleicher u. Hans-Georg Schleicher (Hg.), Die DDR und Afrika, 2 Bde., Münster 1994, sowie bei Ulf Engel, Afrikapolitik im Schatten der Hallstein Doktrin. Die beiden deutschen Staaten und Tansania, Leipzig 1998. Zu den kirchlichen Kampagnen in der BRD siehe den Aufsatz von Annett Heinl und Gabriele Lingelbach in diesem Band.
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tantische) Diakonische Werk die Gründung seiner Kampagne als konfessionellen „Wettbewerb der Liebe“.7 Während die katholische Kirche ihre Aktionen auf die Bundesrepublik beschränkte, plante das Diakonische Werk sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland zu sammeln. Evangelische Kirchenführer beider deutscher Staaten trafen sich im Herbst 1959 in Berlin, um ihre Pläne zu vervollständigen.8 Obwohl allen die Schwierigkeiten einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit bewusst waren, empfanden die ostdeutschen Repräsentanten ihre Mitarbeit als unerlässlich und wiesen ihr zentrale Bedeutung zu. Ein evangelischer Bischof formulierte dies wie folgt: „Wir Christen in der DDR werden nicht fehlen. Auch unsere Felder tragen volleres Korn, auch unsere Industrie und Handel sind gewachsen, und unser Tisch ist besser gedeckt.“9 Er betonte zu Recht, dass die DDR trotz ihrer relativen wirtschaftlichen Rückständigkeit gegenüber der BRD im Vergleich zur restlichen Welt ein durchaus wohlhabendes Land war. Während der Adventszeit 1959 begann das Diakonische Werk seine Kampagne unter dem Motto „Zahllose Menschen auf der Welt hungern nach Brot“. In der Bundesrepublik erinnerten Broschüren an die Nachkriegserfahrungen der Deutschen. So wie ihre Generation in einer Krisenzeit internationale Hilfe erhalten habe, seien die Deutschen nun verpflichtet, Anderen in der Welt zu helfen. Diese Pflicht gewann dadurch an Bedeutung, dass den Europäern aufgrund ihrer Vergangenheit „eine besondere Verantwortung“ gegenüber den Menschen in Asien, Afrika und Mittel- und Südamerika zukomme, wie es hieß.10 Doch die meisten Ostdeutschen waren keineswegs davon überzeugt, dass ihnen nach dem Krieg geholfen worden sei. Im Gegenteil: Viele erinnerten sich nur zu gut an die erzwungenen Reparationszahlungen zugunsten der Sowjetunion sowie an die Industriedemontage.11 Aus diesem Grund änderten Kirchenführer in der DDR die Argumentationsweise, um eine größere Resonanz bei der Bevölkerung zu erzielen. So gab das Diakonische Werk der DDR 7
Christian Berg, Die Entstehung der Aktion BfdW in Berlin 1959, Archiv des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche Deutschlands, BfdW DDR 1, 2. 8 Kurzprotokoll über die Arbeitssitzung Brot für die Welt v. 23.09.1959 in Berlin-Charlottenburg, Archiv des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche Deutschlands, BfdW DDR 1, 6. 9 Werner Rautenberg, In Ost und West gemeinsam, in: Das Diakonische Werk, 11.4 (1959), zit. n. Uwe Kaminsky, Nothilfe über die Grenzen hinaus. Die Entstehung von Brot für die Welt in der DDR, in: Ingolf Hübner u. Jochen-Christoph Kaiser (Hg.), Diakonie im geteilten Deutschland, Stuttgart 1999, Anm. 182. 10 Brot für die Welt – Entwurf des Aufrufes des Rates der EKD, Archiv des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche Deutschlands, BfdW DDR 1, 1. 11 Zur Diskussion über die Auswirkungen der Reparationszahlungen auf die Entwicklung Ostdeutschlands siehe das vierte Kapitel in Corey Ross, The East German Dictatorship, New York 2002.
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eine Broschüre heraus, die hervorhob, dass pro Jahr fünfzig Millionen Kinder an Unterernährung stürben. Aufgrund der kolonialen Vergangenheit trage das „christliche Europa“ eine besondere Verantwortung für dieses Problem.12 Allerdings bereitete das Argument, die Kirchen müssten für die Dritte Welt sammeln, dem Diakonischen Werk einige Schwierigkeiten. Viele ostdeutsche Pfarrer waren der Meinung, dass ihre eigenen Gemeinden selbst noch finanzielle Hilfe benötigten, um sich von den Kriegszerstörungen zu erholen.13 Dennoch akzeptierten viele Ostdeutsche mit Beginn der Kampagne die Vorstellung, dass die DDR eine moralische Verpflichtung in der Welt habe und dass sie, wenn auch nicht selbst ein Land des Überflusses, so doch immerhin ein hinreichend wohlhabendes Land sei. Ostdeutsche evangelische Christen reagierten auf den Spendenaufruf, indem sie bei der ersten Sammlung 4,8 Millionen DDR-Mark spendeten. Legt man den offiziellen Wechselkurs von eins zu eins zu Grunde, so ergibt sich daraus in der DDR ein größerer pro Kopf-Betrag als in der BRD.14 Das Diakonische Werk musste noch zwei weitere Hindernisse überwinden. Zunächst war die DDR-Mark keine harte Währung und konnte daher nur schwer umgetauscht werden. Darüber hinaus verbot die DDR-Regierung den Geldtransfer ins Ausland. Zwar sprachen sich zunächst einige Kirchenführer dafür aus, die Gelder ohne offizielle Einwilligung der Regierung auf die westdeutschen Konten zu überweisen, doch letztlich entschied sich das Diakonische Werk für Verhandlungen mit den staatlichen Stellen.15 Die DDR-Regierung sah das Vorhaben anfänglich mit Skepsis. Der Staatssekretär für Kirchenfragen, Werner Eggerath, lehnte Brot für die Welt als Ausdruck imperialistischen Handelns ab. Er betrachtete die Spendensammlungen als Teil eines neo-kolonialistischen Bestrebens, die Position der Kirche zu stärken, die als reaktionär und mit der BRD verbündet galt.16 Dennoch diskutierte Eggerath am 11. und 12. April 1960 mit evangelischen Kirchenführern über Brot für die Welt. Bei diesen beiden Treffen belehrte er die Vertreter der Kirchen, „dass es nicht normal sei, dass die staatlichen Organe immer wieder vor vollendete Tatsachen gestellt würden“.17 Er erklärte, die Kirche hätte die Regierung viel früher davon in Kenntnis setzen müssen, dass sie eine Kollekte veranstalten wolle – schließlich sei es in einer Planwirt12 Unser tägliches Brot, Berlin 1959, Archiv des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche Deutschlands, HGSt 3199. 13 Alexander Schug, Interview mit Gertrud Freyss, Vergangenheitsagentur, Berlin 2005. 14 Kaminsky, Nothilfe über die Grenzen hinaus, 183. 15 Staatssekretär für Kirchenanfragen Eggerath gegenüber Minister Rau, 13. April 1960, Stiftung Archiv Partei- und Massenorganisationen-Bundesarchiv Berlin, DY 30 IV 2/14/60, 61. 16 Ebd. Für eine ähnliche Argumentation nach dem Fall der Mauer siehe Friedhelm Raden, Christliche Hilfswerke im Kalten Krieg, Herbolzheim 2000. 17 Brief von Eggerath an Rau, 15. April 1960, Stiftung Archiv Partei- und Massenorganisationen-Bundesarchiv Berlin, DY IV 30 2/14/60, 62.
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schaft schwierig, spontane Änderungen vorzunehmen. Eggerath lehnte auch das Vorhaben der Kirche ab, ihre Gelder mithilfe der westdeutschen Kirche in BRD-Mark umtauschen zu lassen und dann an bedürftige Länder zu verteilen. Obwohl er dies nicht offen zugab, lag der Grund für seine ablehnende Position wahrscheinlich darin, dass die Verteilung ostdeutscher Hilfsgelder in westdeutscher Währung das Ziel des Politbüros untergraben hätte, als unabhängiger Staat mehr Legitimität zu erlangen. Des Weiteren hätte die Regierung die Kontrolle über den Verbleib der Gelder verloren.18 Dennoch regte der Staatssekretär an, dass die Kirche die Gelder von Brot für die Welt nutzen solle, um damit ostdeutsche Produkte zu kaufen und zu verschicken. Diese Spenden würden dann an Regionen weitergeleitet, in denen „unmittelbare Not“ herrsche, wie zum Beispiel unter den Opfern des Algerien-Krieges oder der Apartheid in Südafrika.19 Das Diakonische Werk sollte also Hilfssendungen dorthin schicken dürfen, wo die DDR-Führung bestimmte Länder und / oder Gruppierungen unterstützen wollte. Dieselben Regionen wurden auch durch den staatlich kontrollierten Solidaritätsfonds unterstützt. Letztlich wollte die Kirche in der DDR keine Konfrontation mit der Regierung riskieren, indem sie ihr westdeutsches Pendant um Hilfe beim Geldumtausch bat. Dies hätte zukünftige Spendensammlungen aller Wahrscheinlichkeit nach unmöglich gemacht. Die Verantwortlichen standen also vor der Wahl, die Gelder vorerst in einem Fonds aufzubewahren oder sie in Absprache mit der Regierung zu verteilen. Sie entschlossen sich für Letzteres und verbrachten drei Monate damit, die Einzelheiten des Vorgehens mit der Regierung zu verhandeln. Am Ende zog die Regierung das Rote Kreuz der DDR, eine staatlich kontrollierte Organisation, die über das Internationale Rote Kreuz weltweite Beziehungen pflegte, zur Hilfe, um die Kontrolle über die Warenlieferungen zu behalten.20 Zwar beschränkten die Statuten der Organisation die potenziellen Empfänger der Auslandshilfe auf andere Zweigstellen des Roten Kreuzes weltweit, doch das Diakonische Werk und das Rote Kreuz der DDR einigten sich darauf, gemeinsam darüber zu entscheiden, wohin die Hilfe geschickt werden sollte. Über die Verwendung der Hilfesendungen vor Ort konnten die jeweiligen Empfänger selbst entscheiden. Alle Sendungen
18 Die Position der Regierung wurde auch in der westdeutschen Presse veröffentlicht, in: Die andere Zeitung. Ein Auszug aus diesem Artikel befindet sich im Brief von Berg an Geissel vom 28. Juni 1960, Archiv des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche Deutschlands, HGSt 3202. 19 Niederschrift über die Besprechung mit Bischof Mitzenheim in Erfurt, Stiftung Archiv Partei- und Massenorganisationen-Bundesarchiv Berlin, DY 30 IV 2/14/60, 58–59. Siehe auch Niederschrift Unterredung am 12. April beim Staatssekretär für Kirchenfragen, Stiftung Archiv Partei- und Massenorganisationen-Bundesarchiv Berlin, DY 30 IV 2/14/60, 50–55. 20 Zur offiziellen Geschichte des Roten Kreuzes in der DDR siehe Lilo Trautmann, Beiträge zur Geschichte des DRK der DDR, 5 Bde., Dresden 1983.
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enthielten eine Spenderliste, um sicherzustellen, dass die Gaben die ihnen gebührende Anerkennung erhielten.21 Dem Abkommen entsprechend musste das Rote Kreuz den Empfängern zwar die Herkunft der Spenden offen legen, nicht jedoch die Höhe der Spenden aus den jeweiligen Quellen.22 Trotz dieser Vereinbarung informierte das Rote Kreuz der DDR in den sechziger Jahren die Empfänger selten darüber, dass ihre Warenlieferungen aus Kirchenspenden stammten.23 Des Weiteren schloss das Abkommen „gemischte“ Sendungen, deren Inhalt aus unterschiedlichen Quellen stammte, nicht aus. Das Rote Kreuz verschickte infolgedessen Hilfslieferungen unterschiedlicher Herkunft und verschleierte dadurch das Ausmaß der kirchlichen Beteiligung.24 Diese Beteiligung war umfangreich: 1965 war das Rote Kreuz der DDR unter den Mitgliedern des internationalen Roten Kreuzes der viertgrößte Spender auf dem humanitären Gebiet. Dabei wurde der überwiegende Anteil (neunzig Prozent) dieser Spenden durch Brot für die Welt finanziert.25 In der Praxis gewährte das ostdeutsche Rote Kreuz nur jenen Ländern Hilfe, die gute Beziehungen zur DDR unterhielten und wies alle Hilfsgesuche aus anderen Regionen ab. Folglich trug die Kampagne dazu bei, ostdeutsche außenpolitische Ziele zu fördern, die sich aufgrund der Konfrontation mit der Bundesrepublik anderweitig kaum realisieren ließen. Die durch Brot für die Welt finanzierten Hilfslieferungen wurden daher zu einem wesentlichen Bestandteil der ostdeutschen Entwicklungshilfe. Dies blieb auch der Fall, nachdem die westdeutsche Regierung die Hallstein-Doktrin relativierte und unter Willy Brandt schließlich ganz aufgab. Das Diakonische Werk etwa kooperierte in den frühen sechziger Jahren auch mit dem staatlichen Solidaritätskomitee. Bereits wenige Jahre nach der Gründung des Komitees wurde der Direktor der ostdeutschen Brot-für-die-WeltKampagne, Ulrich von Brück, Mitglied des Solidaritätskomitees. 1984 erkannte die DDR-Regierung die Wichtigkeit von Brot für die Welt an, indem sie dem Diakonischen Werk für seine Spendensammlungen den Goldenen Stern für Völkerfreundschaft verlieh.26 Diese Auszeichnung, die normalerweise nur Massenorganisationen oder staatstreue Bürger erhielten, symbolisierte die grundsätzliche Kooperationsfähigkeit von Staat und Kirche, wenn die beiden in anderen Bereichen auch in Konflikt zueinander standen.
21 Titelloses Abkommen, 23. Juli 1960, Archiv des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche Deutschlands, BfdW DDR 68. 22 Ebd. 23 Pastor Heinrich Puffert gegenüber Ulrich von Brück, 20. August 1964, Archiv des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche Deutschlands, BfdW DDR 96. 24 Titelloses Abkommen, 23. Juli 1960, Archiv des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche Deutschlands, BfdW DDR 68. 25 Kaminsky, Nothilfe über die Grenzen hinaus, 188. 26 Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED, 25. Oktober 1984, Stiftung Archiv Parteiund Massenorganisationen-Bundesarchiv Berlin, DO 4 872.
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Das Solidaritätskomitee war die wichtigste staatliche Einrichtung, die Geld für die Entwicklungsländer sammelte. Mit seiner Gründung griff die SED-Führung eine alte Tradition der nationalen und internationalen Arbeitersolidarität wieder auf, die von der kommunistischen Partei der Weimarer Republik bis hin zu den sozialistischen Solidaritätsappellen des 19. Jahrhunderts zurückreichte. Zu jener Zeit hatten die Gelder, die von Parteimitgliedern oder anderen Arbeitern gespendet worden waren, häufig der Unterstützung unbeschäftigter oder streikender Arbeiter gedient. Diese Strategie wurde bereits in den zwanziger Jahren auf die internationale Ebene ausgeweitet. So sammelten deutsche Kommunisten im Rahmen der Internationalen Arbeiterhilfe Gelder für streikende Arbeiter in England.27 Kurz nachdem die SED an die Macht gekommen war, gründete das Regime in den fünfziger Jahren verschiedene Aktionsgruppen, um den Bekanntheitsgrad internationaler Unabhängigkeits- und Widerstandsbewegungen zu erhöhen, die der Sowjetunion nahe standen (zum Beispiel während des Korea-Krieges). Im Januar 1960 formalisierte das Sekretariat des Zentralkomitees diese Bemühungen, indem es das spätere Solidaritätskomitee ins Leben rief. Auf Anweisung der SED sammelten die Massenorganisationen der Nationalen Front Spenden am Arbeitsplatz, um Unabhängigkeitsbewegungen in Afrika und andernorts zu unterstützen.28 Im Juli 1960 gründete die SED ein eigenes Komitee, das sich aus Repräsentanten aller großen Massenorganisationen zusammensetzte. Da alle Mitglieder dieses Gremiums hauptamtlich anderen Beschäftigungen nachgingen, war es vorerst wenig aktiv. Dies änderte sich, als das Komitee 1963 vergrößert wurde und später ein eigenes Sekretariat zur Verwaltung des Fonds ernannte. Das Solidaritätskomitee betreute Spendensammlungen und leitete Gelder an linksgerichtete Regierungen und Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien und Mittel- und Südamerika weiter. Es lieferte Lebensmittel und Medikamente, aber auch solche Hilfsgüter, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden konnten, wie zum Beispiel Lastwagen und medizinisches Gerät zur Versorgung verwundeter Soldaten. Einige Bewegungen erhielten auch Waffen und andere Militärgüter vom Komitee. Sowohl die militärische als auch die humanitäre Hilfe entsprach dem Bestreben der SED, internationale Beziehungen aufzubauen und diplomatische Anerkennung zu erlangen. Diese nichtstaatlichen Kontakte erforderten keine offiziellen Beziehungen zur DDR, was wiederum bedeutete, dass die betreffenden Staaten die HallsteinDoktrin nicht offen missachten mussten, um an Spenden zu gelangen. Im 27 Siehe Eric D. Weitz, Creating German Communism, 1890–1990, Princeton 1997, 249– 256. Ausführlicheres zur Bedeutung der Arbeiterklassentraditionen in der Gründungszeit der DDR findet sich bei Gareth Pritchard, The Making of the GDR 1945–53. From Antifascism to Stalinism, Manchester 2000. 28 Ilona Schleicher, DDR-Solidarität im südlichen Afrika. Auseinandersetzung mit einem ambivalenten Erbe, Berlin 1999.
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Endeffekt legten die Sammlungen des Solidaritätskomitees und der Kirchen den Grundstein für neue internationale Beziehungen der DDR (wenn auch bis in die späten sechziger Jahre in nur begrenztem Maße). Von der Lieferung militärischer Güter an Unabhängigkeitsbewegungen erhoffte sich die DDRFührung, dass es diesen Gruppen gelingen würde, ihre Regierungen zu stürzen; zu den neuen Regierungen könnte die DDR dann diplomatische Beziehungen aufnehmen und auf diese Weise ihre internationale Position verbessern. Zusätzlich zur Vergabe internationaler Hilfe hatte das Solidaritätskomitee die Aufgabe, in Ost- wie in Westdeutschland das Bild eines Staates zu entwerfen, der sich um die Not der Armen sorgte. Die ostdeutsche Propaganda kontrastierte den Altruismus der DDR, den das Solidaritätskomitee verkörpere, mit der westdeutschen Unterstützung neo-kolonialer Regime. Während die DDR ihren moralischen Verpflichtungen durch sozialistische Solidarität nachkomme, fördere die westdeutsche Außenpolitik die Unterdrückung der ehemaligen Kolonialgesellschaften. Der vor diesem Hintergrund errichtete Fonds setzte sich aus Gewerkschaftsbeiträgen und Sammlungserträgen zusammen. Das Solidaritätskomitee organisierte Spendensammlungen in Fabriken und auf der Straße sowie durch den Verkauf von Briefmarken und kleinen Andenken. Auf diese Art wurde die geleistete Unterstützung für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht, so dass sich der soziale Druck zur Spendengabe verstärkte. Plakate und andere Werbematerialien, die in Fabriken und in öffentlichen Gebäuden aufgehängt wurden, riefen zu privaten Überweisungen auf. Allerdings bestand der Großteil der gespendeten Gelder aus Mitgliedsbeiträgen, so dass der Einzelne kaum Entscheidungsspielraum hatte. So spendete der FDGB dem Solidaritätsfond 1962 beispielsweise 1,75 Millionen DDR-Mark. Im Gegensatz dazu summierten sich die Privatspenden auf lediglich 146.000 DDR-Mark.29 Im Vergleich zu den Ergebnissen von Brot für die Welt war dies zwar relativ wenig, aber dennoch mehr, als das Solidaritätskomitee erwartet hatte. Öffentliches Entsetzen über das südafrikanische Sharpeville-Massaker, bei dem südafrikanische Polizisten unbewaffnete schwarze Demonstranten erschossen, verschaffte dem Solidaritätsfonds sofort viele Spender.30 Hier übernahm die Gewerkschaft eine Führungsrolle. Ihre täglich erscheinende Zeitung Die Tribüne berichtete regelmäßig über Afrika und versprach, dass alle durch den Verkauf von Solidaritätsbriefmarken gesammelten Gelder im April 1960 als Unterstützung nach Afrika geschickt werden würden. In den folgenden Jahren leitete die Gewerkschaft weiterhin Gelder aus Beiträgen und 29 Komitee der DDR für Solidarität mit den Völkern Afrikas, Haushaltsplanvorschlag 1963, ohne Datum, Stiftung Archiv Partei- und Massenorganisationen-Bundesarchiv Berlin, DZ 8 7416. 30 Ausführlicheres zur Rolle des Solidaritätskomitees in Südafrika findet sich bei Ilona Schleicher, Zwischen Herzenswunsch und politischem Kalkül. DDR-Solidarität mit dem Befreiungskampf im südlichen Afrika, Berlin 1998.
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aus Spenden an den Fonds weiter. Die Eskalation des Vietnamkrieges im Jahre 1965 machte dann Vietnam zu einem neuen Spendenschwerpunkt. Das Solidaritätskomitee schuf eine dem Komitee angliederte Kommission, die ihre Tätigkeit auf diesen Konflikt konzentrierte. Für die DDR war die Unterstützung Vietnams ein nützliches Propagandainstrument, während die Bundesrepublik als Verbündete der USA mit der Gewalt und Zerstörung in Verbindung gebracht wurde, die amerikanische Truppen in Südostasien anrichteten.31 Es gelang der Kommission, breite Unterstützung für ihre Aktivitäten zu erhalten. Von seiner Gründung im Jahre 1965 bis 1968 lieferte das Solidaritätskomitee Waren im Wert von 75 Millionen DDR-Mark an Vietnam, wobei der Großteil dieser Summe aus Gewerkschaftsbeiträgen stammte. In Reaktion auf die Tet-Offensive 1968 erhöhte sich der Umfang der Hilfslieferungen noch einmal.32 Nach dem Rückzug der Amerikaner und der Vereinigung Vietnams durch die Kommunisten setzte das Solidaritätskomitee seine Hilfe für die vietnamesische Regierung fort. In seinen öffentlichen Appellen erinnerte es an die Zerstörung Deutschlands durch die alliierten Streitkräfte während des Zweiten Weltkriegs und wies die Ostdeutschen darauf hin, wie dringlich es sei, Vietnams Infrastruktur wiederaufzubauen. Bis 1989 hatte das Solidaritätskomitee eine Gesamtsumme von 3,7 Milliarden DDR-Mark für unterschiedliche Zwecke in der ganzen Welt gesammelt.33 Der Fonds war so erfolgreich, dass die SED 1982 die Beiträge senkte, die die Gewerkschaften und andere Gruppen beizusteuern hatten. Zudem reduzierte sie den Wert der Briefmarken, die vom Solidaritätskomitee verkauft wurden. Doch die Ostdeutschen spendeten ungeachtet dieser Maßnahmen mit unvermindertem Enthusiasmus weiter. Die Gründe dafür waren vielfältig. Einige Geldgeber spendeten aus Gewohnheit weiter die gleichen Beträge wie zuvor; bei anderen war ein soziales Verantwortungsgefühl entscheidend und / oder ihre sozialistische Solidarität mit den Menschen in Entwicklungsländern. Hinzu kam, dass der Niedergang der DDR-Wirtschaft in den achtziger Jahre Verbrauchern immer weniger Gelegenheiten bot, ihr Geld auszugeben. In Zeiten des Geldüberschusses war die monetäre Spende kein allzu großes Opfer, da die Menschen nur wenige Produkte zur Auswahl hatten, für die es sich lohnte, etwas zu bezahlen. Tatsächlich lag einer der Gründe, warum das Komitee die Spendenbeiträge senkte, darin, dass es selbst nicht genügend Waren finden konnte, die mittels der gesammelten Gelder gekauft werden 31 Siehe zum Beispiel die Broschüre Unbesiegbares Vietnam des Afro-Asiatischen Solidaritätskomitees der DDR (Vietnam-Ausschuss) aus dem Jahr 1966. 32 Günter Wernicke, The World Peace Council and the Antiwar Movement in East Germany, in: Andreas Daum, Lloyd Gardner u. Wilfried Mausbach (Hg.), America, the Vietnam War, and the World. Comparative and International Perspectives, Washington, D.C. 2003, 299–319. 33 Hans-Joachim Döring, „Es geht um unsere Existenz“. Die Politik der DDR gegenüber der Dritten Welt am Beispiel von Mosambik und Äthiopien, Berlin 1999, 209.
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konnten. Die staatlichen Planer benutzten die Hilfslieferungen in der Regel dafür, Güter loszuwerden, die sie nicht anderweitig in West- oder Osteuropa absetzen konnten (zum Beispiel minderwertige Textilien). Mit Ausnahme von einigen Dingen wie Medikamenten, die für die Katastrophenhilfe unentbehrlich waren, wollten die Planer keine Waren abgeben, an denen es in der DDR selbst mangelte. Da nur wenige Produkte zur Verfügung standen, begann das Solidaritätskomitee, Millionen DDR-Mark in die Ausbildung von Schülern und Studenten aus Entwicklungsländern zu investieren.34 Das Ausmaß dieser Förderungen reichte weit über den Zuständigkeitsbereich des Solidaritätskomitees hinaus und kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht erschöpfend behandelt werden. Dennoch können wir anhand dieses Aspekts einige wichtige Punkte nachvollziehen. Indem das Komitee Ausbildungsprogramme finanzierte, legte es die Grundlage für Kontakte zwischen Ausländern und DDR-Bürgern. Obwohl in der DDR eine relativ strikte Trennung zwischen einheimischen und ausländischen Milieus existierte, brachte die Präsenz der Studenten und Schüler aus den Entwicklungsländern authentische außereuropäische Erfahrungen an ostdeutsche Schulen und Universitäten. Die genauen Auswirkungen dieser Interaktionen sind weitgehend unbekannt; sicher ist jedoch, dass in den siebziger und achtziger Jahren der Umfang unabhängiger Spendensammlungen für Entwicklungsländer zunahm, die von Studierenden organisiert wurden. Durch die Unterstützung von Bildungsmaßnahmen beförderte das Komitee außerdem die außenpolitischen Zielsetzungen der DDR-Führung, die ihrerseits Wert auf den Aufbau persönlicher Kontakte zu Entwicklungsländern durch Bildungsaustausch legte. Wenngleich zu erwarten war, dass das Solidaritätskomitee solche Initiativen fördern würde, überrascht es vielleicht, dass die Gründung einer katholischen Spendeninitiative in der DDR ebenfalls mit den Zielen des Politbüros verbunden war. Daher wird dieser Beitrag im Folgenden die katholische Spendeninitiative Not in der Welt untersuchen. Trotz der Antipathien, die die katholische Kirche gegenüber dem ostdeutschen Regime hegte, bewunderten katholische Kirchenführer den Erfolg der Kampagne Brot für die Welt und versuchten, die westdeutschen Spendenaktionen auf die DDR auszudehnen. Ausgehend von den Ergebnissen der evangelischen Kampagne Brot für die Welt in der DDR und der katholischen Kampagne Misereor in der BRD, schätzte der Kölner Generalvikar Joseph Teusch, dass eine katholische Spendensammlung in der DDR über eine Million Mark einbringen würde.35 Allerdings betrachteten führende Mitglieder der katholischen Kirche in der DDR, unter anderem der Berliner Erzbischof Alfred Bengsch, die westdeutschen Bestrebungen zur Ausweitung von Mise34 Ebd., 208f. 35 Martin Höllen (Hg.), Loyale Distanz?, Bd. 3, Teil 1, Berlin 1998, Dokument 595a, 38.
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reor anfangs mit Skepsis.36 Bengsch war der Meinung, dass die Spendensammlung nur geringe Ergebnisse erzielen würde. In einem Brief an einen westdeutschen Kollegen äußerte er den Verdacht, dass Teusch lediglich an größerem Ruhm für die Kampagne interessiert sei, und verhöhnte gleichzeitig die erwartete Summe von einer Million Mark als Wunschtraum. Obwohl die erste katholische Spendensammlung in Ostdeutschland zwei Jahre später 1,8 Millionen DDR-Mark einbrachte, sprachen gute Gründe dafür, den zu erwartenden Betrag niedrig anzusetzen, wie Bengsch es tat. Im Herbst 1966 hatte er mit dem ostdeutschen evangelischen Bischof Friedrich Wilhelm Krummacher über die Möglichkeit einer katholischen Spendensammlung gesprochen. Dem katholischen Erzbischof zufolge berichtete Krummacher, dass der von Teusch geschätzte Betrag auf dem besten Sammlungsergebnis der letzten vier Jahre beruhte.37 Die heutige Aktenlage bestätigt diese Aussage allerdings nicht. Teusch hatte zwei Millionen Mark als Basis für die geschätzten Einnahmen angesetzt. Dieser Wert lag deutlich unter dem Durchschnitt für die Jahre, in denen die evangelische Kirche zu Spendensammlungen aufgerufen hatte (in den frühen sechziger Jahren alle zwei Jahre).38 Obwohl das Diakonische Werk diese und andere Informationen zu Brot für die Welt an die katholischen Bischöfe verteilt hat, sieht es so aus, als habe Bischof Krummacher Erzbischof Bengsch davon abbringen wollen, eine katholische Wohltätigkeitsorganisation in Konkurrenz zu Brot für die Welt zu initiieren. Als die katholische Spendenaktion in der DDR anlief, schrieb Krummacher, dass die evangelischen Kirchenführer „die Angelegenheit sorgfältig bedenken sollten, damit keine Beeinträchtigung der Aktion ‚Brot für die Welt‘ durch die sicherlich nicht geringen katholischen Kollekten eintritt.“39 Durch den „Wettbewerb der Liebe“ rückten die von der evangelischen Kirche in der DDR gesammelten Gelder den Gesamtspendenbetrag von Brot für die Welt in die Nähe des Gesamtbetrags der katholischen Kampagne in der Bundesrepublik. Dieser Punkt spielte wahrscheinlich eine wichtige Rolle in dem Bestreben der evangelischen Kirche, eine katholische Spendenaktion in der DDR zu verhindern. In den darauf folgenden Jahren vermied Ulrich von Brück die Kooperation und den Kontakt mit Not in der Welt, da er sicherstellen wollte, dass seine eigene Organisation trotz der katholischen Konkurrenz um die wenigen für Wohltätigkeitsspenden verfügbaren Waren weiterhin Hilfsgüter liefern konnte. Bengschs Skepsis gegenüber der katholischen Spendensammlung in der DDR ging über die Frage hinaus, welche Erträge eine solche Kampagne ein36 Ebd., Dokument 576, 3. 37 Ebd., Dokumente 596 und 596a, 39. 38 Sammlungsergebnisse Aktion Brot für die Welt, Archiv des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche Deutschlands, BfdW 9. 39 Bischof Krummacher gegenüber Oberkirchenrat von Brück, 28. November 1967, Archiv des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche Deutschlands, BfdW 1.
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bringen würde. Er argumentierte, dass die Ausweitung von Misereor auf die DDR die Position der katholischen Kirche gegenüber der SED-Führung schwächen würde. Da er Erzbischof von Ost- und Westberlin zugleich war, versuchte er die Gratwanderung zu vollbringen, einerseits als antikommunistischer Hardliner zu erscheinen und andererseits mit der SED in wichtigen Angelegenheiten zu kooperieren. Die DDR-Führung war ihrerseits bemüht, sich die Loyalität der Kirchenoberhäupter zu sichern. DDR-Politiker forderten sie und ihre Kirchen wiederholt auf, ihre Unterstützung der DDR als unabhängigen Staat unter Beweis zu stellen. Bengsch befürchtete, dass eine gesamtdeutsche Spendenaktion zu noch energischeren Forderungen seitens der Regierung und zu noch mehr Problemen für die Katholiken im Osten führen würde. Anfänglich lehnte der Erzbischof auch die Idee ab, eine separate Spendensammlung unter ostdeutschen Katholiken zu organisieren. Dahinter stand die Sorge, dass die gesammelten Gelder mit dem staatlichen Solidaritätsfonds zusammengelegt werden würden, um das kommunistische Regime in Nordvietnam zu unterstützen – ein Motiv, das nicht in Bengschs Sinne war.40 Entsprechend bemühte er sich sehr darum, nicht den Anschein zu erwecken, die katholische Kirche würde Nordvietnam unterstützen. Er wusste, dass Monsignore Otto Groß, der Vorsitzende des ostdeutschen Verbands der internationalen katholischen Hilfsorganisation Caritas, den Transfer harter Währung nach Nordvietnam verhandelte, um dort Krankenhäuser und Infrastruktur aufzubauen – wenngleich teilweise unter katholischer Zuständigkeit.41 Obwohl katholische Kirchenführer grundsätzlich zur Kooperation mit der DDR-Regierung bereit waren, um mehr Handlungsspielraum innerhalb der DDR zu gewinnen, waren sie sich sicherlich der Auswirkungen bewusst, die der Anschein einer allzu engen Beziehung zur ostdeutschen Staats- und Parteiführung in Rom und im Westen erwecken würde. Aus diesem Grund war Bengsch bestrebt, den Eindruck zu vermitteln, dass die katholische Kirche in Distanz zum Regime stehe. Letztlich spielte Groß, der über gute Beziehungen zu Staat und Staatssicherheit verfügte, die entscheidende Rolle bei der Etablierung einer katholischen Spendenkampagne in der DDR. Begünstigt wurde dies durch einen Wandel in den internationalen Entwicklungen: 1965 etablierten Israel und die BRD diplomatische Beziehungen – eine Entscheidung, die acht arabische Länder dazu veranlasste, ihre Beziehungen zur Bundesrepublik abzubrechen. Ostdeutsche Politiker erkannten, dass sie diese Situation zu ihrem Vorteil nutzen könnten, um ihre wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zum Nahen Osten auszubauen. Die kirchlichen Spendenkampagnen spielten in diesen po40 Höllen, Dokument 596, 39. 41 Vermerk zu einer Aussprache mit Ordinariatsrat Msgr. Groß, 22. Juni 1966, Stiftung Archiv Partei- und Massenorganisationen-Bundesarchiv Berlin, DO 4 838, Seite 2 des Berichts. Siehe auch Christoph Kösters, Staatssicherheit und Caritas 1950–1989, Paderborn 2001, 131.
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litischen Bestrebungen eine wichtige Rolle, insbesondere in Zusammenhang mit dem gerade unabhängig gewordenen Algerien, das zu diesem Zeitpunkt der Hauptempfänger der evangelischen Hilfskampagne Brot für die Welt war. Der katholische Repräsentant Groß reiste 1966 mit Zustimmung der ostdeutschen Regierung nach Algerien, um vor Ort katholische Hilfsmaßnahmen zu organisieren. Groß gelang es auch deshalb, die Hilfskampagne Not in der Welt in die Wege zu leiten, weil die katholische Kirche daran interessiert war, auch nach Ende der französischen Kolonialherrschaft in Algerien präsent zu bleiben. Zudem spielten die ostdeutschen Bemühungen um diplomatische Anerkennung durch die neue algerische Regierung eine wichtige Rolle. Im März 1968 begann die katholische Kirche mit der Spendensammlung, und zwar getrennt von ihrem westdeutschen Pendant Misereor.42 Im Gegensatz zur evangelischen Kampagne waren die katholischen Hilfsbemühungen gänzlich frei vom Einfluss des Roten Kreuzes oder anderer Vermittler. Die Hilfe wurde durch die Caritas „von Kirche zu Kirche“ geschickt. Diese Unabhängigkeit rührte offenbar daher, dass die katholische Kirche in der DDR eine Minderheitenposition inne hatte – nur elf Prozent der Ostdeutschen waren katholisch, verglichen mit circa achtzig Prozent Protestanten.43 Hinzu kam, dass die DDR-Regierung gegenüber der katholischen Kirche zeitweilig positiv eingestellt war, da diese durch den Transfer harter Währung nach Nordvietnam wichtige Hilfe geleistet hatte. Ungeachtet des tatsächlichen Grundes berichtete Groß, dass die Katholiken es geschafft hätten, ihre Unabhängigkeit vom „roten“ Roten Kreuz zu wahren. Dennoch behielt der Staat einen gewissen Grad an Kontrolle über die Hilfslieferungen, da die Kirche auf Waren, Transporterlaubnisse und Transportraum auf Schiffen angewiesen war. Theoretisch beschränkte der Staat die Einkäufe der katholischen Kirche auf Produkte aus Fabriken, die ihre Produktionsquoten überschritten hatten. Dadurch hatte die Caritas in Ostdeutschland zu Anfang Schwierigkeiten, Waren zu finden. Katholische Kirchenführer sicherten sich dennoch das nötige Material, indem sie persönliche Beziehungen zu Fabrikdirektoren aufbauten und für die Lieferungen in bar bezahlten.44 Manchmal intervenierten zentrale und regionale Regierungsbeamte und verhinderten den Kauf von Qualitätsprodukten, die sie für den Export (zum Erhalt von Devisen) oder für den inländischen Verkauf bestimmt hatten. Doch trotz des
42 Höllen, Dokument 621, 71. 43 Ausführlicheres zum Thema Religionszugehörigkeit findet sich bei Detlef Pollack, Von der Volkskirche zur Minderheitskirche. Zur Entwicklung von Religiosität und Kirchlichkeit in der DDR, in: Hartmut Kaelble u.a. (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, 271–294, 272. Näheres zu den Verhandlungen über Vietnam findet sich bei Christoph Kösters, Staatssicherheit, 131. 44 Bischof Braun, Bericht über die Anfänge des Bischöflichen Werkes Not in der Welt, Diözesanarchiv Berlin Ia/15-1, Seite 2 des Berichts.
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zunehmenden Warenmangels in den achtziger Jahren war die Kirche in der Lage, weiterhin Waren aus der DDR zu exportieren. Die von der Kirche gesammelten Gelder stammten primär aus zwei Quellen. Eine Möglichkeit zu spenden, stellten die kirchlichen Kollekten dar, die anfangs zu Ostern, später aber (wie die evangelischen Sammelaktionen) auch während der Adventszeit stattfanden. Obwohl diese Kollekten insofern öffentlich waren, als der Spender beim Geldgeben von Anderen beobachtet werden konnte, blieb die Höhe des gespendeten Betrags geheim, weil für die Gaben Briefumschläge bereitstanden. Zum anderen nahmen Einzelpersonen Kontakt mit der Kirche auf, um die Kampagne in einigen Fällen mit Spenden im Wert von mehreren tausend DDR-Mark zu unterstützen. In einigen Fällen spendeten ältere Katholiken, die keine Angehörigen in der DDR hatten, der Kampagne sogar ihr gesamtes Vermögen, da sie es sonst niemandem hätten vermachen können. Es ist nicht ganz klar, ob diese privaten Spenden oder die aus den öffentlichen Kollekten höhere Summen erbrachten. Insgesamt aber war Not in der Welt beim Einwerben von Spenden äußerst erfolgreich. Nach der ersten Spendensammlung schlug Groß vor, dass 600.000 DDRMark an Algerien vergeben werden sollten. Gemeinsam mit der Caritas in Algerien stellte er eine Liste des benötigten Materials auf, die von Medikamenten über Spielzeug bis hin zu Kleidung reichte.45 Da die Lieferung primär für Schulen und Internate gedacht war, sollte sogar eine Tischtennisplatte mitgeliefert werden.46 Am Anfang waren die Organisatoren von Not in der Welt mit den gleichen Schwierigkeiten wie ihre evangelischen Kollegen konfrontiert, insbesondere wenn es darum ging, die Zustimmung der DDR-Regierung für große Warenlieferungen zu erhalten. Hier griff Groß erneut ein. Er informierte den algerischen Caritas-Verband über das Vorhaben, ihnen Spenden zukommen zu lassen. Letztere wiederum informierte die algerische Regierung von dem Plan der Kirche. Im Herbst 1968 begannen die Bemühungen des Monsignore Früchte zu tragen. Das Außenministerium verkündete: Wir sind der Meinung, dass die Spende der kath[olischen] Kirche von den algerischen offiziellen Behörden begrüßt werden würde und wir sind davon überzeugt, dass wir bei richtiger politischer Bewertung und Auswertung dieser Aktion zur Festigung der Position der DDR in Algerien beitragen können.47
Als die Verhandlungen zwischenzeitlich zu einem Stillstand kamen, lud Groß Anfang 1969 algerische katholische Kirchenführer zu einem Treffen mit ost45 Vermerk zu einem Gespräch mit Prälat Groß, 24. Juli 1968, Stiftung Archiv Partei- und Massenorganisationen-Bundesarchiv Berlin, DO 4 838, Seite 2 des Berichts. 46 Für eine Aufstellung der Waren siehe die Materialliste von der Caritas der DDR an die Caritas Algérienne, Stiftung Archiv Partei- und Massenorganisationen-Bundesarchiv Berlin, DY 30 IV A 2/14/30, 22–24. 47 Auszug aus einem Schreiben der HV Algier, 21. Oktober 1968, Stiftung Archiv Parteiund Massenorganisationen-Bundesarchiv Berlin, DO 4 838, Seiten 1–2 des Berichts.
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deutschen Politikern nach Berlin ein. Die Kirchenführer sprachen von der Möglichkeit, dass die algerische Regierung die DDR in absehbarer Zukunft anerkennen würde. Die ostdeutsche Regierung, die dringend auf diplomatische Erfolge angewiesen war, genehmigte daraufhin im Juli 1969 die Lieferung nach Algerien. Ein Jahr später erkannte die algerische Regierung die DDR offiziell an.48 Obwohl es mehrere Gründe für die Anerkennung der DDR durch Algerien gab, verhalf die Kooperation zwischen dem ostdeutschen Regime und der katholischen Kirche der DDR zu jener diplomatischen Aufwertung, die sie sich erhofft hatte. Das Bestreben des Politbüros, die DDR zu einem anerkannten Mitglied der internationalen Gemeinschaft zu machen, wurde durch die Entspannung der Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschland, die zum Abschluss des Grundlagenvertrags von 1972 führte, wesentlich erleichtert. Dieses Übereinkommen erkannte die Existenz zweier deutscher Staaten an und resultierte in der diplomatischen Anerkennung der DDR durch den Westen. Auch nachdem dieses außenpolitische Ziel erreicht war, wurden die Spendensammlungen fortgeführt, da sie weiterhin den innenpolitischen Interessen der Kirchen- und der Parteiführer dienten. Denn unter dem Druck der SEDPolitik waren die Kirchen mit einer sinkenden Mitgliederzahl und folglich mit der Gefahr ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung konfrontiert. Die Spendenkampagnen sind ein Beispiel für die Aktivitäten, die die Kirchen in der DDR nutzten, um sich innerhalb eines atheistischen Staates weiterhin der Unterstützung der Bevölkerung zu versichern. So wurden die Spendenaktionen in den Kirchenzeitungen ausführlich behandelt. Oftmals veröffentlichten diese auch den Spendenaufruf und berichteten danach über die eigentliche Sammlung – manchmal auch über die Höhe der erzielten Summe. Abschließend zeigten Folgeartikel die dankbaren Spendenempfänger. 1970 wurden zum Beispiel fünf Artikel über die Initiative Not in der Welt im Berliner St. Hedwigsblatt veröffentlicht. Auch wenn diese Beiträge nur kurz waren, veranschaulichen sie doch das kontinuierliche Engagement der katholischen Kirche und damit ihre Bedeutung im sozialistischen System. Zwar konnten die Spendensammlungen allein den Säkularisierungstrend, der sich sowohl aus der SED-Politik als auch aus den breiteren europäischen Entwicklungen im religiösen Bereich erklärt, nicht aufhalten. Doch halfen sie, die verbleibenden Kirchenanhänger fester einzubinden.49 48 Kösters, Staatssicherheit, 137–138. Siehe auch die Vereinbarung zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Demokratischen Volksrepublik Algerien über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vom 20. Mai 1970, in: Dokumente zur Außenpolitik der DDR 1970, Bd. 18, Teil 1, Berlin 1972, 384. 49 Zu dem Aspekt, sich für eine kommunistische Analyse des Erfolgs nicht-traditioneller religiöser Aktivitäten gesellschaftliche Unterstützung zu sichern, siehe Einschätzung
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Dem Regime halfen diese Spendenkampagnen, den relativen Wohlstand der DDR auf der globalen Ebene hervorzuheben, indem sie die weltweit herrschende Armut in den Vordergrund rückten. Ostdeutsche Politiker wehrten wiederholt Kritik an der Teilung Deutschlands und Vergleiche mit ihrem wohlhabenderen westlichen Nachbarn ab. Entsprechend war es wichtig, die Aufmerksamkeit der Ostdeutschen von der deutschen Teilung auf die Probleme der Entwicklungsländer zu lenken. Klaus Gysi, Staatssekretär für Kirchenfragen, erklärte, dass Brot für die Welt nicht nur für die Verteilung materieller Güter wichtig sei, sondern auch, um die Öffentlichkeit über die drängenden Fragen der Zeit, darunter Frieden, soziale Gerechtigkeit, Hunger und Rassismus, zu informieren.50 Das Solidaritätskomitee folgte diesen Richtlinien, indem sein Statut nicht nur die Wichtigkeit betonte, Entwicklungsländer mit Waren zu versorgen, sondern auch die Bedeutung der Aufklärungsarbeit im eigenen Land hervorhob. Ein Ziel bestehe darin, unter den Deutschen „den Gedanken der Solidarität mit den um Freiheit und nationale Unabhängigkeit kämpfenden Völkern Afrikas und Asiens [zu fördern und zu entwickeln].“51 Die erhofften Auswirkungen im Inland wurden von Anfang an klar herausgestellt. Solche Kampagnen sollten den DDR-Bürgern veranschaulichen, dass ihr Staat sowohl eine Industriemacht als auch ein Land war, das sich für die Verbesserung der Welt einsetzte. Eine derartige Identität half der DDR, sich vom materiellen Wettbewerb mit dem Westen, der bereits in den siebziger Jahren klar verloren war, abzuheben. Ihre Vertreter betonten den moralischen Wettbewerb mit dem Westen, in dessen Verlauf sich die sozialistischen Wurzeln des Internationalismus und der Arbeitersolidarität als überlegen erweisen würden. In diesem Zusammenhang maß man dem Wiederaufbau Südostasiens eine besondere Bedeutung zu, da die Zerstörung der Region durch „USamerikanische Aggression“ und den „Neo-Kolonialismus“ der Bundesrepublik verursacht worden seien.52 Im Gegensatz zur Letzteren würden die DDR und ihre Bürger helfen, diese Region wieder aufzubauen und andere Gegner des Westens (oder einfach Notleidende) zu unterstützen. Wie es ein Ostdeutscher in den sechziger Jahren formulierte: der Entwicklung der Art und Weise und der Methoden der religiös politischen Beeinflussung der Bevölkerung durch die evangelischen Landeskirchen mit Schlussfolgerungen, Stiftung Archiv Partei- und Massenorganisationen-Bundesarchiv Berlin, DY 30 IV A2/14/9, 68–82. 50 Entwurf, Klaus Gysi, 26. November 1984, Stiftung Archiv Partei- und Massenorganisationen-Bundesarchiv Berlin, DO 4 872. 51 Die afro-asiatische Solidaritätsbewegung, Berlin 1986, 24. 52 Zu den Veröffentlichungen des Solidaritätskomitees gehören u.a.: Die Aggression der USA in Vietnam. Protokoll des Internationalen Kolloquiums über die Aggression der USA in Vietnam, Berlin 1969; Afro-Asiatisches Solidaritätskomitee in der Deutschen Demokratischen Republik. Der Neokolonialismus in der westdeutschen Bundesrepublik. Eine Dokumentation, Dresden 21965.
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Die Welt ist in einem schlechten Zustand. Menschen in Indien hungern, die Schwarzen in Afrika hungern, ein Großteil der Menschen in Mittel- und Südamerika hungern […]. Es gibt heutzutage wichtigere Probleme als die Teilung Deutschlands.53
Obwohl nicht ganz klar ist, wie viele Ostdeutsche diese Ansicht tatsächlich teilten, ist es durchaus möglich, dass die Spendenkampagnen von direkter Kritik an der DDR ablenkten. In jedem Fall schufen sie ein Ventil für sozialistische Solidarität mit anderen Ländern und für sozialistische Ideale im Allgemeinen. Indem sie das Engagement der Kirchenmitglieder förderten, festigten die Spendensammlungen außerdem die Position der Kirchen gegenüber dem Staat. Und diese Unterstützung der Kirchen durch die Bevölkerung war wichtig, um deren begrenzte Autonomie in der DDR zu gewährleisten. Zusätzlich regten die kirchlichen Spendensammlungen eine Diskussion über soziale Gerechtigkeit an, was zu weiteren Sammlungen christlicher Studentenorganisationen führte, wie zum Beispiel der Aktion Tansania. Zwar brachten diese Bemühungen relativ wenig Geld ein, doch erhöhten sie das Bewusstsein unter den desillusionierten ostdeutschen Studenten. In diesem Sinne erweiterten diese und andere Studentensammlungen, wie etwa INKOTA, das bürgerschaftliche Engagement in der DDR.54 Diese Bemühungen trugen auch zur politischen Partizipation der Kirchenmitarbeiter und zum gesellschaftlichen Engagement von – in erster Linie – christlichen Bürgern bei. Die DDR-Führung hatte sich erhofft, durch den Solidaritätsfonds, Brot für die Welt und Not in der Welt eine ostdeutsche Identität zu erschaffen, in der die DDR als europäische Macht identifiziert werden würde, die dem Westen moralisch überlegen sei. Stattdessen trug der transnationale Austausch eher dazu bei, dass sich die ostdeutsche Bevölkerung stärker engagierte und selbstbewusst über Ungerechtigkeit und andere soziale Fragen diskutierte. FAZIT Als das ostdeutsche Regime 1989 gestürzt wurde, hatte Brot für die Welt über einen Zeitraum von dreißig Jahren insgesamt 180 Millionen DDR-Mark gesammelt, Not in der Welt 83 Millionen in 21 Jahren und der Solidaritätsfond in 29 Jahren mehrere Millionen. Die deutsche Wiedervereinigung veränderte die Rahmenbedingungen dieser philanthropischen Tätigkeit, indem die ost53 Hans Axel Holm, The Other Germans. Report from an East German Town, New York 1970, 36. (Übersetzung des Zitats durch den Verfasser.) 54 Die Aktion Tansania wurde 1968 von katholischen Studenten in Magdeburg und Leipzig gegründet. INKOTA steht für INformation, KOordination, TAgungen und wurde 1971 gegründet. INKOTAs Schwerpunkt bestand darin, Ostdeutsche über die Probleme in Entwicklungsländern zu informieren und Reaktionen zu koordinieren. Es erzielte eine hohe Resonanz unter den Studenten in der DDR.
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deutschen kirchlichen Spendenaktionen in die gesamtdeutschen Sammlungen einflossen. Not in der Welt wurde in das westdeutsche Misereor eingegliedert, während der Solidaritätsfond in eine Stiftung namens Solidaritätsdienst International e.V. umgewandelt wurde. Das neue politische System und die wirtschaftliche Unsicherheit in den neuen Bundesländern veränderten zwar das Wesen des Gebens, doch war 1990 keine „Stunde Null“ für ostdeutsche Wohltätigkeitsaktivitäten. Diese Fallstudie zu ostdeutscher Wohltätigkeit für Entwicklungsländer eröffnet einen Einblick in den Charakter von Philanthropie in einer Diktatur. Das SED-Regime kontrollierte und beeinflusste die Kampagnen, indem es Sammelstellen beschränkte, den Kauf von Waren kontrollierte und Lieferungen überwachte. Der Staat griff viel stärker in diesen Prozess ein als es in den USA oder in westeuropäischen Ländern üblich war.55 Dennoch wies die ostdeutsche Wohltätigkeit gewisse Parallelen zum amerikanischen und zum westlichen Modell allgemein auf. Ähnlich wie Wohltätigkeit in anderen Ländern auch, spiegelte sie die Werte ihrer philanthropischen Institutionen und Spender wider. Sowohl der Solidaritätsfonds als auch Brot für die Welt und Not in der Welt richteten ihre Hilfe auf Entwicklungsländer aus, ungeachtet dessen, ob dabei sozialistische oder christliche Solidarität mit den Armen in den Vordergrund gestellt wurde. Diese und andere Wohltätigkeitssammlungen, die der westlichen Öffentlichkeit zumeist weitgehend unbekannt blieben, waren für viele Ostdeutsche ein integraler Bestandteil ihres täglichen Lebens. Viele dieser Hilfsleistungen waren humanitärer Art und verdienen es, in das Vermächtnis des ostdeutschen Engagements einzugehen. Die Lieferung von Hilfsgütern war mehr als die Hilfe von Mensch zu Mensch. Es ermöglichte der DDR, Kontakte mit anderen Staaten zu etablieren und war daher eng mit ihren außenpolitischen Zielen verbunden. In diesem Zusammenhang ergänzte sich das Bestreben des Politbüros, seinen Einfluss in der Welt auszudehnen, mit dem Ziel der Kirche, die darum bemüht war, ihren Einfluss in den ehemaligen europäischen Kolonien aufrechtzuerhalten. In den Sammelkampagnen fanden Staat und Kirche, deren Beziehung von der Gründung der DDR bis zu ihrem Untergang oftmals von Konflikten geprägt war, eine gemeinsame Kooperationsbasis. Während diese Spendensammlungen auf der internationalen Ebene von großer Bedeutung waren, soll an dieser Stelle die These vertreten werden, dass sie auch viel über die innenpolitischen Strategien von Staat und Kirche aussagen. So versuchten beide, durch die Spendenaktionen Unterstützung für sich zu gewinnen. Die Führung der DDR hoffte, durch diese Mobilisierung den relativen Wohlstand der DDR auf der globalen Ebene hervorheben und somit Kritik vom Staat abwenden zu können. Für die Kirchen waren die Spendensammlungen ein wichtiger 55 Corinna Unger argumentiert in diesem Band, dass amerikanische Wohltätigkeit ebenfalls stark von den Umständen des Kalten Kriegs beeinflusst war, jedoch nicht in dem Ausmaß, wie dies in der DDR der Fall war.
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Weg, ihre Mitglieder in einem Staat an sich zu binden, der ihnen ansonsten kaum Möglichkeiten ließ, Aufmerksamkeit für kirchliche Angelegenheiten zu mobilisieren. Am Ende erwies sich jedoch keine dieser beiden Strategien als erfolgreich.
AUTORINNEN UND AUTOREN Thomas Adam ist Associate Professor für deutsche und transatlantische Geschichte an der University of Texas at Arlington. Nach seiner Promotion an der Universität Leipzig (1998) erhielt er ein Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für einen zweijährigen Forschungsaufenthalt an der University of Toronto. Zu seinen Publikationen gehören u.a. Stipendienstiftungen und der Zugang zu Höherer Bildung in Deutschland von 1800 bis 1960 (2008) und Buying Respectability. Philanthropy and Urban Society in Transnational Perspective, 1840s to 1930s (2009). Thomas Adam ist Herausgeber von Philanthropy, Patronage, and Civil Society (2004) und Co-Herausgeber von Traveling between Worlds. German-American Encounters (2006). Peter Dobkin Hall ist Senior Research Associate am Baruch College of Public Affairs der City University of New York. Er wurde im Jahre 1974 an der State University of New York at Stony Brook promoviert. Von 2000 bis 2008 war er der Inhaber der Hauser Lectureship on Nonprofit Organizations an der John F. Kennedy School of Government an der Harvard University. Hall verfasste u.a. The Organization of American Culture, 1700– 1900. Institutions, Elites, and the Origins of American Nationality (1982) und Inventing the Nonprofit Sector and Other Essays on Philanthropy, Nonprofit Organizations, and Voluntarism (1992). Gemeinsam mit George E. Marcus veröffentlichte er Lives in Trust. The Fortunes of Dynastic Families in Late Twentieth Century America (1992) und zusammen mit Colin Burke das Kapitel Nonprofit, Voluntary, and Religious Entities in den Historical Statistics of the United States – Millennial Edition (2006). Annett Heinl arbeitet seit Januar 2006 als Projektmitarbeiterin im Rahmen des Exzellenzclusters Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke der Universität Trier an einer Dissertation zum Thema Die Institutionalisierung kirchlicher Entwicklungshilfe bei Brot für die Welt und Misereor. Ihr Studium absolvierte sie in Dresden in den Fächern Germanistik und Geschichte. Sie schrieb ihre Examensarbeit zum Thema Die Etablierung des wirtschaftlichen Reisekadersystems der DDR. Darüber hinaus veröffentlichte sie den Artikel Ist gerichtet mit Feuer. Das Ende eines Münzfälschers (1531 / 1536) (in: Gerd Schwerhoff u. Marion Völker (Hg.), Eide, Statuten und Prozesse. Ein Quellen- und Lesebuch zur Stadtgeschichte von Bautzen (14.–19. Jahrhundert), Bautzen 2002, 160– 167).
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Autorinnen und Autoren
Simone Lässig ist seit Oktober 2006 Direktorin des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung und Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Braunschweig. Zuvor war sie Research Fellow am Deutschen Historischen Institut in Washington, D.C. und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Dresden. Zu ihren Publikationen gehört u.a. Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert (2004). 2008 erschien ein von ihr und Volker Berghahn herausgegebener Sammelband mit dem Titel Biography between Structure and Agency. Central European Lives in International Historiography. Weitere Publikationen beschäftigen sich u.a. mit der Geschichte von Religion und Religiosität, Unternehmergeschichte, Philanthropie und Mäzenatentum sowie mit Fragen von Geschichtskultur, Geschichtsunterricht und Erinnerungspolitik. Gabriele Lingelbach vertritt seit 2008 die Professur für Westeuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Sie promovierte an der Freien Universität Berlin im Jahr 2000 mit einer vergleichenden Arbeit zur Geschichte der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA (Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts). 2007 habilitierte sie an der Universität Trier mit einer Arbeit über die Entwicklung des Marktes für Wohltätigkeitsspenden in der Bundesrepublik Deutschland (erscheint demnächst unter dem Titel Spenden und sammeln. Die Entwicklung des westdeutschen Spendenmarktes bis in die frühen 1980er Jahre). Weitere ihrer Veröffentlichungen beschäftigen sich entweder mit der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte im internationalen Vergleich oder mit philanthropiegeschichtlichen Themen, siehe u.a. Die Entwicklung des Spendenmarktes in der Bundesrepublik Deutschland von der staatlichen Regulierung zur medialen Lenkung (in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), 127–157). Kathleen D. McCarthy ist Direktorin des von ihr im Jahre 1986 ins Leben gerufenen Center on Philanthropy and Civil Society an der City University of New York. Sie wurde im Jahre 1980 an der University of Chicago promoviert. Vor ihrer Lehrtätigkeit als Professorin für amerikanische Geschichte am Graduate Center of the City University of New York arbeitete sie als Visiting Research Fellow an der Rockefeller Foundation, als Assistant Secretary der MetLife Foundation und als Beraterin für die Ford Foundation, das National Endowment for the Humanities und die Continental Bank Foundation. Sie ist die Autorin von Noblesse Oblige (1982), Women’s Culture. American Philanthropy and Art, 1830–1930 (1991) und American Creed. Philanthropy and the Rise of Civil Society,
Autorinnen und Autoren
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1700–1865 (2003). Sie ist die Herausgeberin von fünf Sammelbänden. Kathleen McCarthy war Gastprofessorin in vielen Ländern und ihre Arbeiten wurden in neun Fremdsprachen übersetzt. Außerdem fungierte sie als Präsidentin der Association for Research on Nonprofit and Voluntary Organizations (ARNOVA) und als Vorstandsmitglied der International Society for Third Sector Research (ISTR). Kevin V. Mulcahy ist Inhaber der Sheldon Beychok Distinguished Professorship des Fachbereichs Political Science and Public Administration an der Louisiana State University in Baton Rouge, wo er seit 1980 lehrt. Kevin Mulcahy wurde 1977 an der Brown University promoviert. Seit 1997 ist er der Herausgeber der international führenden Fachzeitschrift Journal of Arts Management, Law and Society. Er publizierte u.a. Public Policy and the Arts (1982) und America’s Commitment to Culture (1995). Er war Gastprofessor in Australien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Kanada, Norwegen, Österreich, Schweden, Taiwan und Ungarn. Francie Ostrower ist seit 2008 Professorin an der Lyndon B. Johnson School of Public Affairs und dem College of Fine Arts der University of Texas at Austin. Nach ihrer Promotion an der Yale University im Jahre 1991 lehrte sie an der Harvard University. Von 2000 bis 2008 arbeitete sie als Senior Research Associate am Urban Institute Center on Nonprofits and Philanthropy in Washington, D.C. Sie ist die Autorin von Why the Wealthy Give (1995), Trustees of Culture (2002), Attitudes and Practices Concerning Effective Philanthropy (2004) sowie Nonprofit Governance in the United States (2007) und ist zusammen mit Paul DiMaggio die Co-Autorin von Race, Ethnicity and Participation in the Arts (1992). Stephen Pielhoff studierte Geschichte und Politik in Freiburg i. Br., Düsseldorf und Siegen und promovierte 1997 mit einer Dissertation über kommunale Armenfürsorge und bürgerliche Privatwohltätigkeit (veröffentlicht 1999 unter dem Titel Paternalismus und Stadtarmut. Armutswahrnehmung und Privatwohltätigkeit im Hamburger Bürgertum 1830–1914). Weitere Veröffentlichungen sind u.a. Stifter und Anstifter. Vermittler zwischen „Zivilgesellschaft“, Kommune und Staat im Kaiserreich (in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), 10–45) sowie Schwierige Geschenke. Anerkennungskonflikte zwischen Avantgardekünstlern, Vermittlern und Mäzenen im wilhelminischen Kaiserreich (in: KulturPoetik 7.2 (2007), 179–198). Rupert Graf Strachwitz beschäftigt sich als Politikwissenschaftler und Historiker seit über dreißig Jahren mit Theorie und Praxis der Zivilgesellschaft und insbesondere des Stiftungswesens. Seit 1997 ist er Direktor des Mae-
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Autorinnen und Autoren
cenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt Universität zu Berlin, zudem ist er Lehrbeauftragter an der Humboldt Universität und der Universität Münster. Er fungiert als Mitherausgeber des Handbuchs Stiftungen in Theorie, Recht und Praxis (2005) und hat circa dreihundert Publikationen verfasst. Corinna R. Unger promovierte mit einer Arbeit zur Geschichte der „Ostforschung“ nach 1945 an der Universität Freiburg. Seit November 2005 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Zeitgeschichte am Deutschen Historischen Institut in Washington, D.C. Ihr dortiges Forschungsprojekt untersucht verschiedene Ansätze der Entwicklungs- und Modernisierungspolitik in Indien nach 1947. Dazu ist u.a. erschienen: Rourkela, ein „Stahlwerk im Dschungel“. Industrialisierung, Modernisierung und Entwicklungshilfe im Kontext von Dekolonisation und Kaltem Krieg (1950– 1970) (in: Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008), 367–388) und Modernization as a Global Project (hg. mit David C. Engerman, in: Diplomatic History 33.3 (2009)). Michael Werner studierte Neuere und Neueste Geschichte, Politikwissenschaften und Mittelalterliche Geschichte an der TU Dresden und der HU Berlin und verfasste seine Magisterarbeit zum Thema Stiftungen in Dresden zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg. Anschließend promovierte er an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt als Stipendiat der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius (Hamburg). 2008 schloss er seine Dissertation unter dem Titel Stiftungsstadt und Bürgertum. Hamburgs Stiftungskultur vom Kaiserreich bis in den Nationalsozialismus ab. Er veröffentlichte bisher u.a. Die bürgerliche Kultur des Stiftens in der Residenz- und Hauptstadt Dresden (in: Heike Biedermann, Ulrich Bischoff u. Mathias Wagner (Hg.), Von Monet bis Mondrian. Meisterwerke der Moderne aus Dresdner Privatsammlungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Dresden 2006, 25–32) sowie Gemeinsinn und Standesbewusstsein – bürgerliche Stiftungskultur um 1900 (in: Dresdener Hefte 93 (2008), 35–44). Gregory R. Witkowski ist seit 2005 Assistant Professor of History an der Ball State University, Indiana. Sein erstes Forschungsprojekt trug den Titel Workers to the Countryside! Mobilizing the Masses in East Germany. Zurzeit beschäftigt er sich mit der Untersuchung von Spendensammlungen in der DDR für afrikanische Länder. Er veröffentlichte u.a. Peasants Revolt? Re-evaluating the 17 June Uprising in East Germany (in: German History 24 (2006), 243–266).
PERSONENREGISTER Abbe, Ernst 108–109, 129–130 Åberg, Ingrid 23 Abramson, Alan 85 Adam, Thomas 9–10, 14, 17, 163 Adams, Christine 31 Adams, Herbert Baxter 42 Adenauer, Konrad 129, 298 Adickes, Franz 107 Aich, Adolf 106 Alexander, Lamar 93 Arendt, Hannah 201 Baltzell, Digby 144 Barlach, Ernst 173 Baum, Gustav 222 Bebel, August 108 Beer, George Frank 57 Beit, Alfred 170 Bengsch, Alfred 324–326 Berg, Christian 292–294, 297 Biermann, Leopold 184 Biermann-Ratjen, Hans Harder 184 Blau, Peter 154 Boeddinghaus, Paul 222 Bourdieu, Pierre 161 Bowditch, Henry Ingersoll 44, 56–60, 62– 63, 65 Bowen, William 83 Boylan, Anne 37 Brand, Oskar 229 Brandt, Willy 320 Bremer, Fredrika 30 Brinckmann, Justus 178 Brück, Ulrich von 320, 325 Bush, George 90 Carnegie, Andrew 109, 137, 255, 258, 254 Carter, Jimmy 84 Cohen, William 17 Cremer, Josef 229 Curtis, Sarah 23 Cutting, Robert Fulton 65 Dale, James 98 Dahrendorf, Ralf 238 DeNora, Tia 221 Dillon, C. Douglas 83
DiMaggio, Paul 141 Dohnanyi, Klaus von 128 Doig, Jameson 207 Domhoff, G. William 74 Dossing, Gottfried 291, 297–298, 303 Drevermann, Marlis 247 Drucker, Peter 87, 95 Dulles, John Foster 76, 269 Dwight, Timothy 96 Eggerath, Werner 318–319 Elvers, Rudolf 47 Ensminger, Douglas 271, 273 Erb, Alfons 290 Erhard, Ludwig 129 Espagne, Michel 42, 44 Essberger, Elsa 176 Essberger, John T. 176–177 Ethrington, Edwin 83 Ewing, Bayard 83 Fahs, Charles B. 276 Feddersen, Martin 176 Fehl, Wolfgang 245, 246–248 Feldstein, Martin 83 Filer, John 83 Finney, Charles Grandison 35 Fishel, David 206 Fleischhauer, Klaus 241–242 Fliedner, Theodor 25 Florida, Richard 209 Ford, Henry 255, 267 Fougeret, Mme 30 Francke, August Hermann 24, 27 Frank, Hans 121 Friedman, Milton 87 Friedrich Emil Leopold III. 230 Frings, Joseph Kardinal 290–291, 295, 297, 303, 311 Froebel, Friedrich 26–27 Fry, Elizabeth 25 Fugger, Jakob 102–103, 105 Gardner, John W. 76, 85 Gingrich, Newt 90–92 Girard, Stephen 35 Goldwater, Barry 87
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Personenregister
Gore, Albert 80 Göring, Hermann 175, 186 Gould, Elgin R. L. 41, 61–65 Grace, Peter 91 Graham, Isabella Marshall 27, 29 Greenspan, Alan 89 Grimm, Julius Otto 232 Groß, Otto 326–328 Gründgens, Gustav 173 Gülke, Peter 241–242 Gysi, Klaus 330 Haas, Walter 83 Habermas, Jürgen 237–238 Hansmann, Henry 86 Hargrove, Erwin 207 Hase, Hans-Christoph von 294, 301 Heilbrun, Richard 203 Helfferich, Emil 185 Helfferich, Karl 185 Heydt, August von der 222, 241 Hill, Octavia 41, 57–59, 61, 63, 65 Hitler, Adolf 185–186 Hoesch, Albert 226, 229 Hoffmann, Carl Wilhelm 49–50 Holtzendorff, Arndt von 182 Horn, Alan 216 Huber, Victor Aimé 44, 47–53, 56–59, 61 Hueck, Gustav 222 Hüffer, Eduard 234 Hüffer, Wilhelm 235 Hüttner, Georg 228–229, 237 Jackstädt, Werner 239, 247 Jacobs, Jane 209 Janssen, Julius 229 Jefferson, Thomas 35, 95–96 Jüchter, Heinz-Theodor 241–243 Jung, Carl August 222 Kahlhöfer, Helmut 245 Kant, Immanuel 103, 122 Kissinger, Henry 76 Kaufmann, Karl 175, 186–187 King, Martin Luther 199 Knauft, E. B. 85 Kolko, Gabriel 74 Kortländer, Bernd 42 Koven, Seth 29 Kreyssig, Lothar 289, 304 Kristol, Irving 88–89 Krokisius, Edmund 50–51 Krummacher, Friedrich Wilhelm 325
Lamontagne, Raymond 81 Lazarus, Ralph 83 Lenkowsky, Leslie 89 Liagre, Gustav de 56 Lichtwark, Alfred 168–169 Lingelbach, Gabriele 10, 12, 14, 42–43 Long, Russell 80 Lord Ashley, Lord Shaftesbury 47 Lowell, John 35, 96 Lumumba, Patrice 273 Lundberg, Ferdinand 74, 80, 137 Mann, Klaus 173 Marie Antoinette 30 McCarthy, Eugene 80 McCormack, Elizabeth 83 McNamara, Robert 15 McNerney, Walter 83 Melle, Werner von 168 Merton, Wilhelm 107 Merz, Hans–Peter 307 Meyer, Heinrich 294 Meyer, Herrmann Julius 64–65 Michel, Sonya 29 Millikan, Max 259 Mills, C. Wright 74 Mohn, Reinhard 130 Napoleon 23, 25, 31, 33, 39 Nixon, Richard 89 O’Connell, Brian 85, 89 Ohlendorff, Heinrich 172 Ohse, Bernhard 305 Otto, Louise 26 Overbeck, Julius 226–229 Overbeck, Wilhelm 226 Owen, Robert 48 Patman, Wright 79–80 Paul, Vinzenz von 31 Pauli, Gustav 183–184 Pawlowna, Marie 33 Peabody, George 41, 57 Phillips, Michael 206 Pifer, Alan 83 Plumer, Christopher 95–96 Powell, Lewis 87–88 Price, Don K. 268, 270 Putnam, Robert 95 Rand, Ayn 87 Reagan, Ronald 85, 90 Reemtsma, Hermann 173–177, 186 Reemtsma, Philipp 173–177, 186
Personenregister Rein, Adolf 185 Rentschler, Ruth 207 Ritter, Bruce 91 Rockefeller IIIrd, John D. 82–85, 89, 275 Rockefeller, John D. 109, 255 Rodgers, Daniel T. 8, 17, 41 Romney, George 83 Ronge, Johannes 25 Roosevelt, Franklin D. 255, 260 Rostow, Walt 259 Rothschild, Hannah Louise 105 Rothschild, Louise von 105 Rothschild, Mayer Carl 105 Ruprecht, Wilhelm 44 Rusk, Dean 76, 277 Salamon, Lester 85, 98 Salk, Jonas 199 Sauerlandt, Max 183–184 Savigny, Friedrich Karl von 11, 109 Schäfer, Axel 8, 41 Schäffer, Fritz 126 Scheel, Walter 299 Scheid, Erich Mittelsten 246 Schmidt, Friedrich 232 Schneidt, Hanns-Martin 241 Senckenberg, Johann Heinrich 103 Siemers, Edmund J. A. 169–172, 174, 186 Siemers, Kurt 171 Siemers, Kurt Hartwig 171 Sieveking, Amalie 25, 32 Simmel, Georg 151 Simon, James 102 Simon, Louis 102 Simon, William E. 89, 91 Sklar, Kathryn Kish 39
341
Skocpol, Theda 39 Sloman, Ricardo 185 Smith, Southwood 47 Smith, Patrick 142–143 Smithson, James 35 Städel, Johann Friedrich 103 Stephan, Hans-Ulrich 246 Sternburg, Maximilian Speck von 128 Sternheim, Carl 173 Stewart, Martha 199 Stowe, William 66 Stutzer, Gustav 106 Sullivan, Leon 83–84 Surrey, Stanley 79 Teusch, Joseph 291, 324 Ticknor, George 43 Tocqueville, Alexis de 8–9, 17–19, 22, 30, 37, 40, 95 Toscer, Sylvie 290, 297 Useem, Michael 140–141 Varrentrapp, Georg 51–53 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 220 Waterlow, Sidney 41 Weber, Max 128, 145, 207, 220 Weinberger, Caspar 89 Weisbrod, Burton 70, 79 Wenker, Heinrich 229 Werner, Michael 10, 12, 14, 42, 44 Wicküler, Franz 222 Wiese, Leopold von 172 Winfrey, Oprah 199 Wiskott, Gustav 226, 229 Wiskott, Wilhelm 226, 229 Zeiss, Carl 108 Zolberg, Vera 200