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German Pages 283 Year 2000
Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert
Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 15
Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert Deutschland und Italien im Vergleich
Herausgegeben von
Oliver Janz Pierangelo Schiera Hannes Siegrist
Duncker & Humblot · Berlin
Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert Deutschland und Italien im Vergleich Berlin 7.-9. Dezember 1995
Leiter der Tagung Oliver Janz Pierangelo Schiera Hannes Siegrist
Italienische Ausgabe Centralismo e federalismo nell'Ottocento e nel Novecento ltalia e Germania a confronto (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Quademo 46), i1 Mulino, Bologna 1997
Übersetzung der italienischen Texte Klaus Peter Tieck
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert :
Deutschland und Italien im Vergleich I Hrsg. : Oliver Janz ... Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient; Bd. 15) ISBN 3-428-10432-3
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0939-0960 ISBN 3-428-10432-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Inhaltsverzeichnis Einführung
Oliver janz und Hannes Siegrist Zentralismus und Föderalismus - Strukturen und Kulturen im deutsch-italienischen Vergleich. Einleitende Bemerkungen . . . • . . . . . . . . . . . . • . • . . . . . . .
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Pierangelo Schiera Zentralismus und Föderalismus in der nationalstaatliehen Einigung Italiens und Deutschlands. Anregungen zu einem politologischen Vergleich . . . . . . . . . . . .
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Wege zum Nationalstaat
Marco Meriggi Zentralismus und Föderalismus in Italien. Erwartungen vor der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ...
41
Otto Dann Der deutsche Weg zum Nationalstaat im Lichte des Föderalismus-Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
Carlo Gbisalberti Einheitsstaat und Föderalismus in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Dieter Langewiesehe Föderalismus und Zentralismus im deutschen Kaiserreich: Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur - eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . .
79
Arpad von Klim6 Zwischen Zentralstaat und Peripherie. Spitzenbeamte in Italien und Preußen-Deutschland 1870-1914 . . . . . .
91
Ilaria Porciani Lokale Identität - nationale Identität. Die Konstruktion einer doppelten Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
6
Inhaltsverzeichnis
Nation, Region, Republik
Susanne von Falkenhausen Das Bild des Volkes- Vom Zentralismus zur Totalität in Italien und Deutschland . . . . . . . . . .
. . . . . 137
Oliver janz Nationalismus im Ersten Weltkrieg. Deutschland und Italien im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Gustavo Corni Zentralismus und Lokalismus in der deutschen Landwirtschaft zwischen den beiden Weltkriegen. . . . . . . . . . • . . . . 185 Kurt Düwell Zwischen Föderalismus, Unitarismus und Zentralismus. Reichsreform und Länderneugliederung in der Weimarer Republik 0918-1933) . . • . • . . . . . . . . . . • . . . . . . . 215 Hans Mommsen Reichsreform und Regionalgewalten - Das Phantom der Mittelinstanz 1933-1945. . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . 227 Jens Petersen Italien in seiner Vielfalt - Das Prinzip der Stadt als Erklärungsmodell der Nationalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . .
239
Umberto Allegretti Zentralismus und Föderalismus im republikanischen Italien. • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . 253 Christoph Kleßmann Thesen zur Rolle von Zentralismus und Föderalismus in der Bundesrepublik und in der DDR. . . . . . . . . . . . .
263
]ürgen Kocka Bemerkungen zur Schlußdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Paolo Prodi Bemerkungen zur Schlußdiskussion. . . . . . . . . • . . • . . . • . . . . 279 Verzeichnis der Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Einfü hrun g
Zentralismus und Föderalismus - Strukturen und Kulturen im deutsch-italienischen Vergleich Einleitende Bemerkungen
Von Oliver ]anz und Hannes Siegrist
Zentralismus und Föderalismus sind in den letzten Jahren in Italien weit mehr als in Deutschland Gegenstand von wissenschaftlichen und politischen Debatten1. Mit der Krise des politischen Nachkriegs-Systems und dem Aufkommen regionalistisch-separatistischer Protestbewegungen ist auch die zentralistische Staatsordnung unter heftigen Beschuß geraten. Ihr wird eine ganze Reihe von italienischen Fehlentwicklungen angelastet, allen voran die Hypertrophie und Ineffizienz der Verwaltung und die schwache Identifikation der Bürger mit dem Gemeinwesen. Nahezu alle politischen Lager sprechen sich heute in Italien für eine Stärkung dezentraler Instanzen aus, ohne daß dies jedoch bis jetzt zu einer durchgreifenden Reform geführt hätte. Der Blick in die Geschichte zeigt, daß föderale und zentralistische Prinzipien von Verfassung und Verwaltung auch in Deutschland die Auseinandersetzungen um die politische, gesellschaftliche und kulturelle Integration tiefgreifend geprägt haben2 . Der Problemkreis ist von hoher Bedeutung für die Gesellschafts- und Verfassungsgeschichte beider Länder, die sich aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten als ,verspätete' Nationen, der Gleichzeitigkeiten in der Nationalstaatsbildung, der parallelen Erfahrung von Faschismus und Nationalsozialismus und einer demokratischen Neuordnung nach dem Krieg als Ver-
Das Spannungsverhältnis von zentralen und dezentralen, nationalen und regionalen Strukturen in Politik, Kultur und Gesellschaft ist eine prominente Leitfrage in neueren Gesamtdarstellungen der italienischen Geschichte (Vgl. z.B.: G. Sabbatucci I V Vidotto (Hrsg.), Storia d'Italia, 6 Bde., Bari 1994-1999) aber auch in Synthesen einzelner Forschungsfelder (Vgl. z.B.: A.M. Banti, Storia della borghesia italiana, Bari 1996). Auch scheinen in Italien zur Zeit mehr verfassungs-und verwaltungsgeschichtliche Synthesen, die auf ein breites Publikum zielen, auf den Markt zu kommen als in Deutschland. Vgl. z.B.: R. Romane/li (Hrsg.), Storia dello stato italiano dall'unita ad oggi, Rom 1995; G. Melis, Storia dell'amministrazione italiana, Bologna 1996. Grundlegend: T Nipperdey, Der Föderalismus in der deutschen Geschichte, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986, S. 60-109; R. Kose/leck, Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: 0. Brunner I W Conze I R. Kose/leck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgan 1972, S. 582-671.
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Oliver janz und Hannes Siegrist
gleichspartner gut eignen3. Trotz mancher Ähnlichkeiten hat sich die Beziehung von Zentrum und Peripherie in den beiden Fällen ganz verschieden gestaltet und ganz unterschiedliche Dynamiken entfaltet. Die in diesem Band versammelten Beiträge überprüfen, inwieweit sich die Frage nach dem Spannungsverhältnis von zentralistischen und föderalistischen, nationalen und regionalen Gestaltungsprinzipien und Kräften in ihrer Komplexität, Widersprüchlichkeit und Wechselwirkung als strukturierende Perspektive einer vergleichenden deutsch-italienischen Gesellschaftsgeschichte der letzten 150 Jahre eignet. Zentralismus und Föderalismus bilden einen zentralen Aspekt der Geschichte der Bürgergesellschaft, ihres Aufstiegs, ihrer Krisen und ihrer Perspektiven. Sie stehen für Partizipations-, Macht-, Einfluß- und Verteilungschancen im System der gesellschaftlichen Ungleichheit. Sie verweisen auf Aushandlungs-, Entscheidungs- und Legitimationsmechanismen und auf unterschiedliche Weisen von funktionaler und symbolischer Integration gesellschaftlicher Interessengruppen und soziokultureller Milieus4• Wie zahlreiche Beiträge zeigen, muß daher die verfassungs-und verwaltungsgeschichtliche Ebene mit gesellschafts-und kulturgesellschaftlichen Perspektiven verbunden und die in vielen Bereichen noch nicht hinreichend erforschte Verfassungspraxis und ihre sozialgeschichtlichen Kontexte einbezogen werden. Zu fragen ist nicht nur nach Trägerschichten und Interessengruppen, sondern auch nach den mentalitätsgeschichtlichen Dimensionen von Zentralismus und Föderalismus und nach deren Bedeutung für die politische Kultur der beiden Länder, etwa für das Spannungs- und Wechselverhältnis von bürgerlicher Selbstorganisation und staatlichem Handeln. In dieser Perspektive lassen sich in Verfassung und Gesellschaft der beiden Länder immer wieder Elemente ausmachen, die im Kontrast zu den jeweils dominanten Leitbildern stehen. So tritt für das "zentralistische" Italien bei näherer Betrachtung die ausgeprägte Bedeutung vor allem lokaler und kommunaler Instanzen, Identitäten und Loyalitäten und ihre Wechselwirkung mit den zentralen staatlichen Strukturen, für das "föderale" Deutschland eine faktische und im Verlauf eher zunehmende Zentralisierung und Homogenisierung in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens in den Vordergrund. Die Entwicklung im frühen 19. Jahrhundert stand zunächst in beiden Ländern, wie Dann und Meriggi herausarbeiten, im Zeichen einer vielfach an die Zum deutsch-italienischen Vergleich: W Schieder, Das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis. Zum Problem faschistischer Regimebildung, in: G. Schutz (Hrsg.), Die große Krise der dreißiger Jahre, Göttingen 1985, S. 44-71, S. 46 ff.; H. Siegrist, Advokat, Bürger und Staat. Sozialgeschichte der Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz (18.-20. Jahrhundert), Frankfurt a.M. 1996. Grundsätzlich zum Vergleich H.-G. Haupt I j. Kocka (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 1996. Zur Problematik der Bürgergesellschaft in historischer Perspektive: j. Kocka, Das europäische Muster und der deutsche Fall, in: ]. Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, 3 Bde., Göttingen 1995, S. 9-75.
Zentralismus und Föderalismus
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napoleonische Zeit anknüpfenden Entpartikularisierung, einer politisch defensiven Modernisierung und administrativen, infrastrukturellen und kulturellen Zentralisierung innerhalb der Einzelstaaten. Diese Zentralisierungstendenzen scheinen jedoch in Deutschland viel stärker den einzelnen Staaten und ihren Monarchien zugute gekommen zu sein und polyzentrische Konstellationen und föderative Weichenstellung langfristig eher verstärkt zu haben als in Italien, nicht zuletzt, weil sie dort zunehmend als Ausdruck der Fremdherrschaft betrachtet wurden. In den liberalen Nationalbewegungen in Italien und Deutschland waren über weite Strecken keineswegs unitarisch-zentralistische Modelle dominant, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen: in Deutschland wegen der starken Identifikation der Liberalen mit einzelstaatlichen Traditionen und einer zunehmend realpolitisch-konservativen Orientierung, die die Staatsbürgernation nicht gegen die Fürsten durchsetzen wollte (Dann), in Italien aus einem Impuls gegen den Zentralismus der restaurativen "monarchia amministrativa", der sich aus einem Gemisch aus traditionellem Lokalismus und liberalistischem Verlangen nach einem "stato minimo" speiste (Meriggi). Mit der Gründung der Nationalstaaten verfestigten sich die Divergenzen. Für eine föderale Lösung auf der Basis einzelstaatlicher Monarchien fehlten in Italien schon wegen des Papsttums und der Österreichischen Herrschaft in großen Teilen von Nord- und Mittelitalien die Voraussetzungen. Hinzu kam, daß in Süditalien nur schwer an historisch gewachsene Regionen angeknüpft werden konnte. Die schmale soziale Basis und die Opposition von Papsttum und Kirche, das Erstarken legitimistischer Tendenzen, die bürgerkriegsartigen Verhältnisse in Süditalien und die prekäre äußere Lage Italiens führten in den liberalen Führungsschichten rasch zu defensiven Reaktionen, die zunächst noch diskutierte Alternativen zu einer kompromißlosen Durchsetzung des zentralistischen Einheitsstaates, der sich in den Jahren nach 1861 rasch verfestigte, verdrängten (Meriggi, Ghisalberti). Der deutsche Nationalstaat von 1871 dagegen war ein Mischgefüge aus föderalen und unitarischen Zügen, das dynamische Politikfelder aus Bereichen wie Recht, Wirtschaft, Sozialpolitik und Militär dem Reich zuordnete und damit für weitere Unitarisierungstendenzen offen war, diese jedoch in beträchtlichem Maße föderal-regional brach und abfederte. Daß die föderalen Elemente der Reichsverfassung konservative Funktionen erfüllten, ist bekannt5: Der Bundesrat war als Gegengewicht zum Reichstag konzipiert und stellte damit eine Barriere gegen eine durchgreifende Parlamentarisierung dar, indem die Reichsgewalt dem Zugriff des Parlaments in einem "föderalistischen Verantwortungsnebel" (Langewiesche) entzogen wurde. So fand das Problem der sozialen und politischen Kontrolle in Deutschland und Italien unterschiedliche konstitutionelle und administrative Lösungen, die
Vgl. T Nipperdey, Föderalismus, S. 149.
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sich jedoch in vieler Hinsicht als funktional äquivalente Antworten der herrschenden Eliten auf unterschiedlich gelagerte Probleme der sozialen und politischen Kontrolle erwiesen. Während in Deutschland das föderal-monarchische Element als Partizipationsbremse gegen Parteien und nationales Parlament fungierte, das sich bereits nach allgemeinem Wahlrecht bildete, wurden die Barrieren in Italien, wo sich das oligarchisch verfaßte Parlament fest in der Hand der liberalen Führungsschicht befand, die Barrieren eher an der Peripherie errichtet, gegen sezessionistische und legitimistische Kräfte, gegen die flächendeckend organisierte Kirche und das territorial verwurzelte katholische Lager und zunehmend auch gegen die stark regional verankerten Sozialisten. Vorschnelle Dichotomisierungen sollten jedoch vermieden werden. Während sich in Deutschland hinter der föderalen Fassade in vielen Bereichen tiefgreifende Vereinheitlichungstendenzen beobachten lassen (Langewiesche), erfuhr die kommunale Ebene im Italien Giolittis einen deutlichen Zuwachs an Aufgaben und Kompetenzen. Sie wird mit der Ausweitung des kommunalen Wahlrechts zunehmend auch zur Bühne, auf der sich der Vormarsch sozialistischer und katholischer Kräfte vollzog (Ghisalberti). Wie Meriggi zeigt, ist darüber hinaus zu fragen, ob es im liberalen Italien nicht von vorneherein Gegengewichte zum administrativen Zentralismus gab. Die politische Klasse des unitarischen Italiens war stark territorial fragmentiert, was zu einer Überformung politischer Frontstellungen und Fraktionsbildungen durch regionale Gegensätze führte und die Herausbildung nationaler Parteien erheblich verzögerte. Das Parlament fungierte daher weniger als Bühne politischer Weltanschauungsparteien, die homogene soziopolitische Milieus vertraten, sondern als flexible klientelistische Vermittlungsinstanz lokaler Eliten und ihrer Interessen, die immer wieder neu gebündelt werden mußten. So wird hinter der Fassade eines exekutiv-administrativen Zentralismus ein lokalistisch-klientelistisch geprägter ,parlamentarischer Föderalismus' deutlich, dessen integrative Funktionen sich nicht zuletzt an der wachsenden Meridionalisierung der Staatsverwaltung ablesen lassen, die oft durch parlamentarische Patronage vermittelt wurde (Klim6). Föderale und zentralistische Strukturen und innere Nationsbildung stehen im deutschen und italienischen Fall in einem engen und komplexen Wechselverhältnis, das sich vielfach mit den Kategorien der "Komplementarität" und "Kompensation" begreifen läßt. So läßt sich der hohe Grad staatlicher Zentralisierung in Italien nach 1861 auch als Ausgleich für die wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit des Landes und seine ausgeprägte lokale und regionale Fragmentierung intepretieren. Die rasche Staatsbildung war der gesellschaftlichen und kulturellen Nationalisierung weit vorausgeeilt. Damit erhielt der italienische Einigungsprozeß einen eigentümlich forcierten Charakter, der eher eine administrative als politische Form der Zentralisierung und Integration begünstigte. Vieles spricht dafür, daß der ausgeprägte Zentralismus des unitarischen Staates, der sich mit einem pädagogisch-paternalistischen Selbstverständnis der
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liberalen Eliten und einer wenig effizienten patriotischen Rhetorik verband, eher als Ersatz für eine tiefgreifende Nationalisierung fungierte und die politische, soziale und kulturelle Integration des Landes in vieler Hinsicht behindert hat. Er traf auf eine hochgradig fragmentierte Gesellschaft, deren Loyalitäten sich vorwiegend auf lokaler und familistischer Ebene herstellten. Das Fehlen intermediärer Instanzen führte zu einer ausgeprägten Distanz zwischen den Verwalteten und dem wenig effizienten zentralisierten Staatsapparat, der sich zur personellen Verfügungsmasse der politischen Klasse entwickelte und hohen fiskalischen Druck ausübte, führte zu einem Dualismus von nationaler und lokaler Ebene, der den Nationalstaat schwächte und die Identifikation mit seinen Strukturen und Symbolen erschwerte. In Deutschland hingegen war der Prozeß der Nationsbildung zum Zeitpunkt der Einigung weiter fortgeschritten als in Italien. Der Nationalstaat war durch das Alte Reich, den Deutschen Bund, den Zollverein und den preußischen Staat in vieler Hinsicht vorgeprägt worden. Schon deshalb lag eine forcierte Unitarisierung nach italienischem Vorbild in Deutschland weit weniger nahe. Die stärkere politische, wirtschaftliche und kulturelle Vorprägung des Nationalstaats ermöglichte eine föderal strukturierte Einheit, die eine gewisse Balance zwischen den Gliedstaaten wahrte und regionale Traditionen respektierte. Dies hat jedoch wiederum die Akzeptanz des Nationalen und die Durchsetzung des Nationalstaats in Deutschland erheblich erleichtert (Langewiesche). Gerade im kulturellen Bereich, in Bildungswesen, Kunst und Wissenschaft, aber auch in den Kirchen, werden regionale Sonderidentitäten weitergepflegt und sogar verstärkt kultiviert. Sie richteten sich jedoch nun nicht mehr gegen den Nationalstaat, sondern kamen ihm zugute, weil sie ihn föderal ausgestalteten, ältere, vornationale Identitäten und Traditionen gleichsam entschärften und inkorporierten. So hat der Föderalismus, gerade weil er sich in vielen Bereichen frei entfalten konnte, die Koexistenz und flexible Verkoppelung von regionalen und nationalen Identitäten, partikularen Traditionen und unitarischen Tendenzen im Kaiserreich gefördert und die Akzeptanz des Nationalstaats in breiten Bevölkerungsschichten gefördert. Der Erste Weltkrieg hat unter dem Zwang zur totalen Mobilisierung der nationalen Ressourcen und unter dem Druck wachsender und neuer sozialer Probleme die Tendenzen zur Bürokratisierung und Staatsintervention deutlich beschleunigt. Der Zentralstaat übernahm nun mehr Kompetenzen und Aufgaben als jemals zuvor. Der Alltag und die Erfahrungen vereinheitlichten und entregionalisierten sich. Staat und Nation wurden nun, besonders in Italien, auch für die Schichten der Bevölkerung massiv erfahrbar, deren Horizont lokale und regionale Kontexte bisher kaum überstiegen hatte. Einen Zentralisierungsschub brachte auch die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches kurz vor Kriegsende. Unter dem Druck der drohenden Niederlage und der Demokratisierungswelle wurden die föderativen Hindernisse der Parlamentarisierung überwunden. Der Reichstag wurde nun gegenüber dem Bundesrat zum eigentlichen Machtzentrum. Aber auch Gegentendenzen sind zu verzeichnen. So führte die wachsende Kriegsmüdigkeit in manchen deut-
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sehen Regionen zu einer Delegitimierung des preußisch dominierten Reiches. Die Kritik am Krieg schlug um in eine Stimmung gegen "Berlin" und den preußischen Militarismus. In Weimar wies die Tendenz jedoch auf eine verstärkte Unitarisierung. Das Reich erhielt mit der neuen Verfassung erheblich erweiterte Kompetenzen in Gesetzgebung und Verwaltung, während sich die Stellung Preußens im Reich schon durch den Wegfall der Realunion von preußischer Königs- und deutscher Kaiserkrone und der Personalunion von Reichskanzler und preußischem Ministerpräsidenten abschwächte. Auf den Gesamtstaat kamen nun als Folge des Krieges erheblich mehr Aufgaben zu (Reparationen, Schuldentilgung, Kriegsopferversorgung), so daß sich das bisherige Verhältnis von Ländern und Reich in der Finanzverfassung umkehrte und der Zentralstaat nun einen erheblich höheren Anteil an den Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand verbuchen konnte, während sich der finanzielle Spielraum der Länder und Gemeinden einengte (Düwell). Aber erst der "Preußenschlag" vom Juli 1932, der den Untergang der Republik einläutete und als Modell für die spätere nationalsozialistische Gleichschaltung der Länder gelten kann, scheint den wirklich einschneidenden Traditionsbruch gebracht zu haben. Weder der italienische Zentralismus noch der deutsche Föderalismus haben die Etablierung faschistischer Diktaturen verhindern können. Föderale Prinzipien haben sich aber im Gegensatz zu zentralistischen Strukturelementen als weitgehend unvereinbar mit den modernen Diktaturen des 20. Jahrhunderts erwiesen. Diese setzten auf den autoritären, hierarchisch gegliederten Einheitsstaat und zentralistische Einheitsparteien im Dienste totalitärer, nach Inhalt und Ursprung freilich ganz heterogener, Visionen. Sie zielten darauf, Staat und Gesellschaft kurzzuschließen und politische, soziale, rassische und regionale Unterschiede radikal einzuebenen, im Zweifelsfall mit Gewalt. Dem italienischen Faschismus ging es von Beginn an um eine mit religiösen Heilserwartungen aufgeladene ,anthropologische Revolution', die tiefverwurzelte regionale und kulturelle Besonderheiten zugunsten eines neuen nationalen Einheitscharakters annullieren wollte: ein totalitäres Projekt, das im Nationalsozialismus weit stärker rassistisch-biologistische Züge trug. Die faschistischen Massenorganisationen erstreckten sich schon bald mit kapillarem Einfluß über das nationale Territorium und ergänzten und verstärkten den staatlichen Zentralismus. Der Aufbau einer paralellen Parteibürokratie führte jedoch auch immer mehr zu einer Art zentralistischem Dualismus, zu Konflikten zwischen Staat und Partei, Dauerkonflikten zwischen Parteisekretären und Präfekten. Ähnliche Phänomene lassen sich im Nationalsozialismus beobachten, der die gewachsenen föderativen Strukturen des Reiches fast vollständig auflöste, ohne jedoch die Rolle der Mittelinstanzen und die Funktion der Reichsstatthalter und Gauleiter klar zu bestimmen. Diese gleichsam destruktive Zentralisierung führte zu einem Dauerkonflikt zwischen den Reichsbehörden und den Parteiapparaten der Länder, zu einem Chaos der Unterstellungsverhältnisse, das sich im weiteren Verlauf verschärfte durch unterschiedliche Regelungen in den besetzten Gebieten und im Altreich und die Schaffung immer neuer Zustän-
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digkeiten und Apparate. Das Ergebnis war eine sukzessive Zersplitterung der Verwaltung und der staatlichen Hoheitsgewalt in paralelle Apparate, ein "amorphes Emsemble unterschiedlicher Satrapien" (Mommsen), die nur noch durch die "Führerloyalität" zusammengehalten wurden. Die Erfahrung des Nationalsozialismus und der alliierten Besatzung haben den Föderalismus zu einem Kernelement des politischen Selbstverständnisses der alten Bundesrepublik werden lassen und ihn hier eindeutiger als im Kaiserreich und in Weimar mit Demokratie und Pluralismus verbunden. Der Föderalismus hat sich im Westen Deutschlands nach dem Krieg problemlos durchsetzen können. Er entsprach alliierten Interessen an der Verhinderung einer erneuten Machtkonzentration in Deutschland, aber auch süddeutschen Wünschen und tiefreichenden Ressentiments gegen einen preußisch gefärbten Unitarismus. Die Bedingungen für einen ausbalancierten Föderalismus waren durch den Wegfall Preußens und die durch Krieg und Vertreibung hervorgerufene Bevölkerungsdurchmischung besser als je zuvor. Der Föderalismus, daran besteht kaum Zweifel, hat in vielfacher Hinsicht zur Stabilität der Bundesrepublik beigetragen, auch und gerade weil er über das Instrument des Finanzausgleichs eine Homogenisierung der Lebensverhältnisse gefördert hat. Diese "Erfolgsgeschichte" hat jedoch dazu geführt, daß einzelne Schwächen des föderalen Systems im öffentlichen Bewußtsein kaum mehr wahrgenommen werden und seine konkreten Ausformungen gegenüber Reform und Kritik weitgehend immun geworden sind (Kleßmann). Während der staatliche Zentralismus in Italien immer mehr zu einem negativen Mythos geworden ist, zu einer Projektionsfläche vielfältiger politischer Kritik, hat sich der Föderalismus in Deutschland zu einem kaum noch hinterfragten positiven Mythos entwickelt. Seine funktionalen Stärken und Ausstrahlungskraft und die negativen Erfahrungen mit dem Zentralismus des SED-Staats haben wesentlich dazu beigetragen, daß nach 1989 auch auf dem Gebiet der DDR wieder ohne große politische Kontroversen Länder gebildet wurden. Abschließend sei auf eine Problematik hingewiesen, die in fast allen der hier versammelten Beiträge angesprochen wurde. Stadt und Region, kommunale und regionale Strukturen, Traditionen und Identitäten als Gegengewichte zu Zentralstaat und Nation haben in Deutschland und Italien bis heute einen deutlich verschiedenen Stellenwert im kollektiven Bewußtsein6 , was nicht nur den historischen Ausprägungen des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie in den beiden Ländern den Stempel aufprägte, sondern auch für die gegenwärtige italienische Debatte von Bedeutung ist. Wo im nationalen und liberalen Geschichtsdenken des italienischen Risorgimento die Glorie der mittelalterlichen Stadtrepubliken als Hort der Kultur und bürgerlichen Freiheit be-. schworen und die nationale Einheit über eine Vielfalt von Städten imaginiert
Vgl. für Deutschland den Forschungsüberblick von D. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur, 40 0995), S. 190-236.
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Oliver Janz und Hannes Siegrist
wurde (Petersen), da stand in Deutschland das Reich als Bund der Fürsten und Stämme. Wo im Kaiserreich Heimatbewegung und Geschichtsvereine auf die Region bezogen waren, sich regionale und nationale Identitäten und Symbole überlagerten und wechselseitig verstärkten, so in der Festkultur und in der bürgerlichen Selbstdarstellung im liberalen Italien das nationale und das städtische Element (Porciani). Die Stadt als primäre politische Bezugsgröße und Lebenszentrum zieht in Italien in Krisenzeiten des Nationalstaats, wie Petersen mit Blick auf die aktuelle "Bewegung der Bürgermeister" meint, noch die meisten politischen Hoffnungen auf sich. Dazu paßt, daß die bescheidenen Reformansätze der letzten Jahre bisher im wesentlichen nur den Städten zugute gekommen sind und über die Einführung einer Regionenkammer nach deutschem Vorbild noch keineswegs Kohsens besteht, wie Allegretti zeigt, wobei eine zweite Kammer mitunter als Vertretungsorgan nicht nur der Regionen, sondern auch der Kommunen gedacht wird. In Deutschland dagegen scheint es in Krisenphasen regelmäßig zu einer Reaktivierung regionaler Identitäten und Strukturen zu kommen, wie etwa die Endphase des Ersten Weltkriegs zeigt oder die Reföderalisierung im Westen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und die Selbstverständlichkeit, mit der nach dem Ende des SED-Staats im Osten Deutschlands an die alten Länder wiederangeknüpft wurde (Janz/ Kleßmann). Die gegenwärtige Ländergliederung scheint in Deutschland auf starken, historisch gewachsenen Identitäten zu ruhen und ist daher auch weitgehend resistent gegen administrative Zweckmäßigkeitsüberlegungen, wie das Beispiel der gescheiterten Fusion von Berlin und Brandenburg deutlich macht. Die Länder scheinen überdies gewillt zu sein, auch in der Europäischen Union eine stärkere Rolle zu übernehmen. In Italien dagegen weisen die Regionen gegenüber Stadt und Provinz, wie mehrere Beiträge unterstreichen, nur eine schwache historische Konsistenz auf (Ghisalberti). Sie wurden als Verwaltungseinheit über weite Strecken der letzten 150 Jahre kaum in Betracht gezogen und erst in den 1970er Jahren als intermediäre Instanzen eingeführt, allerdings nur halbherzig und mit begrenzten Kompetenzen. Im öffentlichen Bewußtsein und im kollektiven Gefühlshaushalt der Italiener haben sie sich nur schwach verankert (Allegretti). Nicht zufällig scheinen sie sich gerade dort als leistungsfähig erwiesen zu haben, wo sie sich auf starke, bis ins Mittelalter zurückreichende Traditionen kommunaler Selbstverwaltung und städtisch geprägten Bürgersinns stützen können7 . Das Phänomen der Lega Nord muß nicht unbedingt im Widerspruch zur These von der Schwäche des "affetto regionale" in der italienischen Gesellschaft (Allegretti) stehen. Der Regionalismus der Lega bezieht sich in vieler Hinsicht weniger auf eine traditionelle Region, sondern auf einen modernen Wirtschaftsraum, für den auch die Lega nur mit großer Mühe klare historisch-
Vgl. R.D. Putnam, Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton 1993, insbes. S. 120-162.
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kulturelle Konturen konstruieren kann, und wird überdies durch eine eher liberistisch-politische als regionalistisch-kulturell motivierte Kritik am bürokratischen Wohlfahrtsstaat überlagert. Das historisch ganz unterschiedlich gelagerte Verhältnis von Stadt, Region und Nationalstaat wird vermutlich zu berücksichtigen sein, wenn das deutsche Modell und seine Anwendung auf den italienischen Fall zur Debatte steht. Es bleibt eine offene Frage, ob ein dezentralisierender Umbau in Italien auf diesem Hintergrund eher bei den Kommunen ansetzen muß (Petersen) oder als Basis einer föderalen Neuordnung nicht auch in Italien als Äquivalent zu den deutschen Ländern letztlich nur die Region zur Verfügung steht (Allegretti), soll der Dualismus von partikularen und zentralistischen Strukturen dauerhaft überwunden werden.
2 Janz u. a.
Zentralismus und Föderalismus in der nationalstaatliehen Einigung Italiens und Deutschlands Anregungen zu einem politologischen Vergleich Von Pierangelo Schiera
I.
Zentralismus und Föderalismus sind die zunächst vorläufigen und ungenauen Termini des hier thematisierten Vergleichs. jeder Vergleich ist naturgemäß irreführend. Das gilt auch für den Vergleich zwischen Italien und Deutschland in der hundertjährigen Zeitspanne von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Und doch kann man sagen, daß es ohne Vergleich keine Historiographie, sondern bloß Hofgeschichtsschreibung gibt. Das Risiko ist deshalb einzugehen, und es gilt, Vergleichsmomente herauszuarbeiten, die präzise genug für eine Problematisierung sind und gleichzeitig allgemein genug, um die überwiegenden Unterschiede zu überbrücken, die jede historische Situation kennzeichnen. Die Analogie, die am Anfang meiner Arbeitshypothese steht, lautet: Italien und Deutschland erlebten den Übergang zur "nationalstaatlichen" Form politischer Organisation etwa zum gleichen Zeitpunkt und unter denselben Bedingungen. Diese Feststellung gilt in vollem Umfang natürlich nur innerhalb einer traditionellen, d.h. rechtlich-formalen, Betrachtung des Staats, die sich zeitgleich zu den hier angesprochenen Phänomenen, vorwiegend also im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert herausgebildet hat. In diesem formalen, sowohl verfassungs- wie verwaltungsrechtlichen Sinn können auch die zwei Begriffe Zentralismus und Föderalismus präzisiert werden; sie sind in der Tat auf beide Disziplinen anwendbar. Auf diese Weise wird der Vergleich aber von vornherein eingegrenzt, und vieles, sehr vieles bleibt aussen vor. Zunächst einmal der gesamte internationale Rahmen der europäischen Politik, in dem der deutsche und der italienische Staatsbildungsprozeß ablaufen konnten. Es geht nicht bloß um die vieldiskutierte Frage vom Primat der Innen- oder der Außenpolitik. Es geht vielmehr um den Zusammenhang zwischen den beiden Ebenen, der, was den italienisch-deutschen Vergleich angeht, vieles erklärt, so zunächst einmal das Problem der Beziehungen zu Österreich, die für beide Staatsbildungsprozesse, wenn auch in entgegengesetztem Sinn, zentral waren: äußere Kriege für Deutschland, innere Kriege für Italien. 2*
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Pierangeta Schiera
Auch das Thema Wirtschaft bleibt außen vor, sowohl in der materiellen Dimension der Güterproduktion als auch in der sozialen Dimension des Klassenkampfs oder in der politisch-kulturellen Dimension der Modernisierung, von den internationalen Aspekten bei der Herausbildung der Märkte ganz zu schweigen. Auch unter diesem Gesichtspunkt, wie unter dem des zeitlichen Ablaufs der kapitalistischen Entwicklung, waren die Unterschiede zwischen Deutschland und Italien sicherlich stark genug, um die jeweiligen Nationsbildungsprozesse sowohl in sozialer als auch in politischer Hinsicht zu beeinflussen. Ein dritter Gesichtspunkt, der bei einer rein rechtlich-formalen Perspektive zu kurz kommt, bezieht sich auf die Komponenten, die man früher ,geistesgeschichtlich' genannt hätte; zu ihnen zählen die historisch-philosophischen und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen des nationalen Phänomens, aber auch technischere Aspekte wie die Herausbildung der öffentlichen Meinung, die Alphabetisierung, das Schulwesen, die Verbreitung des Zeitungswesens, die politisch zentrale Rolle der neuen Wissenschaft. Ein weiteres Kontrast- und Differenzierungsmoment zwischen Italien und Deutschland, das Konfessionsproblem, soll hier nur erwähnt sein. Diese Aufzählung der Auslassungen ist keine captatio benevolentiae; auch soll sie nicht die Unzulänglichkeiten der Arbeitshypothese von vornherein entschuldigen. Sie soll bloß zum Ausdruck bringen, daß dieser Vergleich, wie jeder Vergleich, ausschnitthaft und, innerhalb gewisser Grenzen, auch künstlich ist. Dennoch ist er unentbehrlich, um die Untersuchung auf eine Ebene zu heben, die höher liegt als die der Tatsachen, die in ihrer Vorläufigkeit ja auch enttäuscht und zu keinen gesicherten Ergebnissen führt.
II.
Im ersten Artikel für die "Geschichtlichen Grundbegriffe", zum Schlagwort "Bund", schreibt Reinhard Koselleck: "Eine Begriffsgeschichte des Bundes muß um so mehr auf eine exakte Eingrenzung achten, als es sich um einen Grundbegriff der menschlichen Verfassungsgeschichte handelt, der sich in leere Allgemeinheiten verflüchtigt, wenn er nicht durch jeweilige Definitionen präzisiert wird". Dabei klärt er, daß das "Verständnis vom ,Bund' zunehmend aus seiner Beziehung zum ,Staat' gewonnen" wurde, "als einer entstehenden modernen Verfassungsbauform", wie Kaselleck definiert 1 • Zentralismus (Staat) und Föderalismus (Bund) scheinen auch für Kaselleck die motorischen Elemente der ganzen Frage zu sein. Die Frage des Zusammenhangs zwischen zentralisierendem und pluralistischem Element war, recht besehen, schon in der klassischen Epoche des moR. Kose/leck, Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: 0 . Brunner I W. Conze I R. Kose/leck (Hrsg.), Geschichtiche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 582-583.
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derneo Staates offen, die meist mit dem Begriff ,Absolutismus' bezeichnet wird und Kasellecks "Sattelzeit" vorausgeht. Die Pionierstudien Gustav Schmollers und Otto Hintzes haben gezeigt, wie problematisch die Verfassungsform des Ständestaats war. Gerhard Gestreich hat dann das Thema weiter ausgeleuchtet, und Emile Lousse (um von Tocqueville ganz zu schweigen) hat die Strukturbreite des Phänomens auch in Bezug auf das Ancien Regime in Frankreich offengelegt Mir scheint die Perspektive Nipperdeys angemessen zu sein, der von den .Minimalbedingungen frühneuzeitlicher Staatlichkeit" spricht, d.h. von der zur modernen Staatsbildung notwendigen Kombination eines "institutionellen Minimums" und eines "territorialen Maximums" 2 . Dies führte zu variablen Kombinationen zwischen den beiden Elementen ,Zentralismus' und ,Föderalismus', die von der Dominanz des ersten Elements in der französischen Monarchie zur Dominanz des zweiten im Heiligen Römischen Reich gingen. Es handelt sich ganz allgemein um Variationen des Strukturverhältnisses von Pluralismus und Einheit, das alle Phasen der europäischen Verfassungsgeschichte kennzeichnet. Dieses Verhältnis hat wiederum mit der Strukturspannung zwischen Verteidigung und Bewahrung konsolidierter Interessen (in Form alter und neuer Privilegien, aber auch von Verfassungspakten und zuweilen auch von Widerstandspositionen) und der Garantie von Gleichheit und gleichen Chancen (zugunsten von vielfältig ausgegrenzten und/ oder aufsteigenden Gruppen oder Ständen) zu tun. Die Auswirkungen bündeln sich in jenem Knoten, den das aus zentralistischen und pluralistischen Elementen zusammengesetzte Solidaritätsprinzip darstellt. Sie schlagen sich aber auch nieder im Liberalismus des 19. Jahrhunderts, der ständig schwankt zwischen dem Einklagen idealer Erneuerungsprinzipien und der praktischen, realpolitischen Durchsetzung und Verteidigung der allmählich dominant werdenden bürgerlichen Interessen. Das am Anfang genannte Risiko, die beiden Begriffe Zentralismus und Föderalismus mit zu stark verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Inhalten zu erdrücken, könnte durch weiter gefaßte Koordinaten gemildert werden, die die Achsen ,Einheit' und ,Pluralismus' und ,Bewahrung' und ,Erneuerung' einbeziehen, wobei das zentrale und für die gesamte Ideologiegeschichte Europas im 19. Jahrhundert charakteristische Verhältnis zwischen ,Herrschaft' und ,Freiheit' nicht aus dem Blick geraten darf.
m. In dieser Perspektive scheint es mir wichtig, auf Benedetto Croces Geschichte des europäischen Liberalismus, "Storia d 'Europa nel XIX secolo", hinzuweisen, in der er die deutsche Einigung im Vergleich mit der italieniT Nipperdey, Der Föderalismus in der deutschen Geschichte, in: T Nipperdey, Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986, S. 62 ff.
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sehen so interpretiert3: "Im Umerschied zur italienischen war die deutsche weder eine Freiheits- noch eine Unabhängigkeitsbewegung gegen Fremdherrschaft und auch keine Bewegung geschlossener nationaler Einheit .. . Sie war recht eigentlich die Bildung einer Macht". Und weiter: "Bismarck war, im Unterschied zu Cavour, ein ausschließlich politisches Genie, der sich um wie auch immer beschaffene Ideale nicht kümmerte, ein ,harter Realist', ein ,Mann der Realität', ein ,Mann des Willens', ein ,titanischer' ,Beherrscher', wie ihn seine Landsleute nannten". Die Schlußfolgerung Croces ist in ihrer Strenge emblematisch: "Wenn das italienische Risorgimento das MeisteJWerk des europäischen liberalen Geistes war, so war dieses Risorgimento Deutschlands das MeisteJWerk der politischen Kunst und der damit verbundenen militärischen Tugend: zwei MeisteJWerke, die so unterschiedlich waren wie ein schönes Gedicht und eine starke Maschine". Croce selbst war sich im klaren über den Wandel der Rahmenbedingungen, unter denen sich die deutsche Entwicklung abspielte. So überschreibt er das achte Kapitel seiner "Storia d 'Europa", aus dem die Zitate entnommen sind, mit "Die Einigung der deutschen Macht und der Wandel des europäischen politischen Denkens". Wir haben in der Zwischenzeit diese Schwelle bei der Behandlung dieser Frage überschritten und gelernt, den politischen Aspekt im Staatsleben zu berücksichtigen, auch jenseits oder vielleicht diesseits der Ideale und der "schönen Dichtung" 4 . Auch Ernesto Sestan unterstreicht den tiefen geistigen Wandel, der den beiden Einigungsprozessen zugrunde liegt: "Ohne eine tiefe Umwandlung der Geister hätten weder das italienische Risorgimento noch die deutsche Einheit stattfinden können; Umwandlung nicht so sehr ,von oben', sondern ,von unten': eine andere Art und Weise des Individuums, sich zum Staat zu verhalten". Eine Umwandlung, die auf einer neuen ethischen Haltung beruhte: "... dieses mächtige Gefühl der Menschenwürde geht über auf das Nationalgefühl und gibt ihm einen Dynamismus, den nur ein moralischer oder religiöser Impuls verleihen kann". Mit dem Unterschied allerdings, daß in Deutschland das neue nationale Reich "das politische Problem übersteigt und sich als Kosmpolitismus präsentiert, als universale Mission", während es in Italien dem Boden der Politik verhaftet bleibt5. Auch hier steht die Politik im Mittelpunkt der Überlegung, mit einem deutlicheren Akzent noch als bei Croce, denn anstelle der Ideale und der Dichtung thematisiert Sestan die ,Lehre'. Der Einigungsprozeß führt seiner Meinung nach in Italien zu einem Plus an Politik und in Deutschland zu B. Croce, La storia d'Europa nel secolo decimonono, Bari 1972, S. 217-218, 223.
Meneghello (II dispatrio, Mailand 1958) zeigte das ,berühmteste' ,Geschichtsbuch' Croces - wahrscheinlich das hier zitierte - seinem englischen Freund Sir jeremy. Dessen Kommentar lautete: "Ich bin derselben Meinung ... Ich habe daran nie gezweifelt ... Es sind Ideen, die wir hier stillschweigend voraussetzen". E. Sestan, Europa settecentesca e altri saggi, Mailand / Neapel1961 , S. 146, 147, 148.
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einem Plus an ,politischer Doktrin'. "Und gerade die Ereignisse der Jahre 4849 zeigen, von der Unterschiedlichkeit der Probleme abgesehen, die Unterschiedlichkeit der Einigungsprozesse. Während man in Italien zwischen der föderalen Lösung der gemäßigten neowelfischen Kräfte und der unitarischen republikanischen Lösung der mazzinianischen Demokraten schwankte, hatte man in Deutschland, wo der dynastische Partikularismus viel stärker verwurzelt war, keine Zweifel hinsichtlich der föderalen Lösung. Aber auch für Sestan besteht der wirkliche Gegensatz weiterhin zwischen Macht und Freiheit. Das erhellt aus der Tatsache, daß seiner Meinung nach in Deutschland das Ziel der Einheit auch ohne die angemessene Berücksichtigung der ,Freiheit' verfolgt wurde. "Und es sind zwei Machtproben, Königgrätz und Sedan, in denen die deutsch-preußische Einigung sich feiert und vollendet"6 . Ich selbst habe zu zeigen versucht, daß in Deutschland dieses ,Plus an Lehre' von der Politik nicht zu trennen ist, ja den entscheidenden politischen und Verfassungsfaktor darstellt, der aus dem Fall Deutschland ein in Europa und Amerika bewundertes und aufmerksam untersuchtes Phänomen machte. Und ich bin auch davon überzeugt, daß die ,Deutsche Wissenschaft' nicht nur auf der Ebene der Naturwissenschaften, sondern auch und vor allem auf der Ebene der Sozial- und der Staatswissenschaften eine Rolle gespielt hat; diese lieferten nämlich ein unabdingbares Instrument für die Konzeption und, mehr noch, den Funktionsmodus des staatlichen Experiments in Deutschland, wie es sich nach der Einheit entwickelte. Die hellsichtige Intuition Croces, wonach "die Naturwissenschaft sich allmählich an die Stelle der Philosophie und der Historiographie geschoben hatte und sich letztlich thronend darauf niedergelassen hatte und zur Königin gekrönt worden war", wäre daher vielleicht anders zu formulieren. Auch seine Schlußfolgerung, daß sich auf diese Weise die Idee der ,Macht und Stärke' durchgesetzt habe, ein weiterer Grund für die Abkehr Deutschlands von dem gemeinsamen Pfad des politischen Denkens in Europa, ist zu überprüfen7 . Mir scheint, daß die deutsche Wissenschaft insgesamt den Thron bestieg, nicht so sehr im Hinblick auf die Idee der Macht wie die der Politik selbst. Und die Folge war nicht eine deutsche AbkappeJung vom europäischen Kontext, sondern im Gegenteil die Verbreitung und die Rezeption des deutschen Modells in der ganzen Welt8 . Kurz, die Frage scheint komplexer und auch beunruhigender zu sein, denn es stimmt vielleicht, daß die "Idee der Macht" auf fruchtbaren Boden fiel, aber dies geschah gerade auf dem Boden der Politik, einer Politik, die jedoch in zunehmendem Maße technisch-wissenschaftlich behandelt wurde, dank des komplexen Verhältnisses zwischen den neuen Sozial- und Staatswissenschaften sowie dem Staat und der Regierung. Daß dieser Sachverhalt einen wichtigen Unterschied zum italienischen Fall darstellen kann, beweisen jüngste Ebd., S. 154-155. B. Croce, La storia d'Europa, S. 225.
P. Schiera, Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992.
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Studien über Versuche in Italien, eine Sozialwissenschaft zu schaffen, die den Bedürfnissen des neuen Einheitsstaats und vor allem den Interessen des aufsteigenden Bürgertums gerecht wurde. Mit kursorischem Bezug auf die verschiedenen europäischen Modelle, aber bei deutlichem Übergewicht des deutschen Modells, wurde die Möglichkeit eines ,mittleren Weges' konzipiert, auf dem die Wissenschaft stets zu einer Verschränkung mit den Idealen und einem Kamprarniß mit den Interessen bereit war. Es handelt sich im wesentlichen um eine weitere der unzähligen Varianten des italienischen Eklektizismus oder auch Transformismus, um nicht zu sagen der "schönen Dichtung", von der Croce mit ganz anderen Absichten sprach, mit deren peinlichen Aspekten wir es aber heute noch zu tun haben. Eine unvoreingenommene Untersuchung des Interesses, mit dem in Italien nicht nur die rechts- und linksgerichteten Parteien, die nacheinander die Regierung bildeten, sondern auch die durchweg in der Opposition stehenden demokratischen Kräfte das Experiment Bismarcks verfolgten, zeigt ohne jeden Zweifel, daß die verbreitete Antipathie gegenüber der Person des ,eisernen Kanzlers' einherging mit einer ausdrücklichen Bewunderung für die große soziale, institutionelle, kulturelle und wissenschaftliche Reife, die Deutschland kennzeichnete und sich in der Idee der ,Modernität', vor allem der Modernität des Staates, zusammenfassen ließ. So schrieb Rosario Romeo 1971: "Die Germanophilie der (italienischen) Intellektuellenkreise wurde in anderen Kreisen durch das Prestige gefestigt, daß deutsche Industrie und wissenschaftliche Präzision auf allen Gebieten der Technik und des Wirtschaftslebens errangen. Vor allem in Süditalien wirkte ganz allgemein das deutsche Beispiel eines starken und geordneten Staats, der auf echten politischen Tugenden, Disziplin und tiefem Pflichtbewußtsein beruhte"9 Das Thema der Modernität bewies seine ganze Aktualität nach dem schicksalsträchtigen September 1870. Die Einnahme Roms stellte für Italien, das deutsch besetzte Paris für ganz Europa Sinnbild einer neuen Ordnung dar. Mit Bezug auf Alberto Blanc, den Generalsekretär des italienischen Außenministeriums, der realistisch dazu riet, "se saisir vigoureusement des seules choses solides et sGres", macht auch Federico Chabod, dessen "La politica estera italiana" von 1951 die einzige wirklich bedeutende Arbeit über die italienische Außenpolitik darstellt, jene "choses" in den .lebendigen Kräften" der Technik, der Produktion, der materiellen Macht aus, die seiner Meinung nach in engem Zusammenhang standen mit der "Verbreitung der preußischen Auffassungen und Ideen". Er zog sogar eine Parallele zwischen dem von Blanc beschworenen Realismus und dem Realismus der preußischen Hohenzolle rn-Tradition, der "jetzt erneut als Richtschnur des Grafen Bismarck erschien - des Mannes des Tages" 10. 9 R. Romeo, La Germania e Ia vita intellettuale italiana dall'Unita alla prima guerra mondiale, in: R. Romeo, Momenti e problemi di storia contemporanea, Assisi I Rom
1971, S. 169-170.
°F
1
Chabod, Storia della politica estera italiana dal 1870 al 1896, Bari 1962, S. 6.
Zentralismus und Föderalismus
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IV.
Es war notwendig, einige der wichtigsten Interpretationen der italienischen Historiographie zur nationalen Einigung Revue passieren zu lassen und so das Klima wiederzugeben, in dem mehrfach (aber stets in einem zu engen und mangelhaften Rahmen) eine vergleichende Geschichte Italiens und Deutschlands im letzten Jahrhundert in Angriff genommen wurde. Wichtig ist aber auch der heutige Kontext, in dem wir als Historiker leben, d.h. die Prozesse, die derzeit ablaufen und Italien und Deutschland in einem Unternehmen vereinen, das sie nicht bloß in ihrer vergangeneo Geschichte prägt, sondern sie auch auf dasselbe Ziel festlegt. Es handelt sich natürlich um den europäischen Einigungsprozeß, der - wie immer er auch verlaufen und ausgehen mag - das Ende der europäischen Nationalstaaten und ihre Aufhebung in neuen Formen der Staatlichkeil bedeuten wird. Was die Perspektiven des Zentralismus und des Föderalismus damit zu tun haben, ist evident. Deshalb erschienen ·uns diese beiden Begriffe auch für die historische Rekonstruktion von Interesse, die den Gegenstand unserer Tagung bildet. Worum handelt es sich also? Wie ich eingangs betont habe, sind die beiden Termini ungenau und nur von beschränktem Aussagewert. Sie stellen jedoch einen annehmbaren Kompromiß dar zwischen den unterschiedlichen Bedeutungen in dem von uns durchmessenen semantischen Feld. Ein altes, aber trotz einer jüngst erschienenen Neuauflage sehr vernachlässigtes Buch liefert vielleicht noch den besten Rahmen für ihre genauere Untersuchung. Ich beziehe mich auf das 1928 erschienene Werk von Hedwig Hintzen. Es zeigt, daß sich im revolutionären Frankreich zum ersten Mal kompromißlos die Alternative zwischen zwei Regierungsprinzipien stellte, die das ganze Ancien Regime hindurch, bei unterschiedlicher Relevanz, koexistiert hatten. Die jakobinische Diktatur hat sich für die zentralistische Lösung entschieden, und Napoleon ist diesen Weg weitergegangen und hat das Modell perfektioniert. Für uns kommt es hier zunächst einfach darauf an, auf die Unausweichlichkeil des damit aufgeworfenen Problems hinzuweisen. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch, in dem die Nationalstaatenbildung erfolgte, aber auch die liberalen Verfassungen in Kraft traten, war und blieb dieses Problem entscheidend. Der für das Ancien Regime und seine komplizierte ,Staat(s)-Gesellschaft' kennzeichnende Dualismus von Monarch und Ständen, Einheit und Pluralismus, hat in der neuen ,Staat(s)-Ordnung', die aus Organisation und Verfassung besteht, keinen Platz mehr. So heißt es bei dem von Koselleck zitierten Ludolph Huco, "De statu regionum Germaniae" (1661): .Si respublica ben constituta est, foederibus non opus est. Ubi autem respublica ... laborat, utique foedera necessaria sunt, ut pactis privatis securitatem nobis conciliemus, quam iure publico non habemus. Nostra autem respublica tarn turbulenta, tarn imbecillis fuit, ut solo hoc subsidio hactenus stetisse videatur" 12 11 H. Hintze, Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution, Berlin 1928, Neudruck Frankfurt a.M. 1989. 12 R. Koselleck, Bund, S. 619.
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Was sich mit der neuen Ordnung ändert, ist das Verhältnis zwischen privatem und öffentlichem Bereich und die Subsumierung der pacta privata unter die öffentliche Ordnung. Aufgrund dieser ,Publizierung' der Politik im Rechtsweg trat auf interner Ebene das Problem der Organisation in den Vordergrund, während im äußeren Bereich sehr schnell eine Homogenität und Gleichberechtigung der verschiedenen staatspolitischen Einheiten erreicht wurde. Auf diese Weise wurde die Alternative zwischen einer einheitlichen und zentralisierten Organisationsform (die wir Zentralismus nennen) und einer pluralistisch untergliederten möglich. Diese Probleme sind in Frankreich am prägnantesten formuliert worden. Frankreich war darüber hinaus der Kontext, in dem die Begriffe ,Organisation', ,Föderalismus' und ,Zentralismus' im modernen Sinn präzisiert worden sind, so daß Frankreich durch ,.die Gesetzgebung und Herrschertätigkeit Napoleons ... als Typus des zentralisierten, bureaukratisierten und militarisierten nationalen Einheitsstaats seine letzte Form und Prägung erhalten" hat0 Das schließt jedoch nicht aus, daß diese Problematik die Umstände vorgegeben hat, unter denen sich der nationale Staatsbildungsprozeß auch im übrigen Europa, insbesondere eben in Deutschland und Italien, vollzogen hat.
V.
,.Die vernunftmäßige Idee der Födera/ität, die sich allmählich über alle Staaten erstrecken soll, fand nach Kant ihre Verwirklichung im Völkerrecht, das - nach französischem Sprachvorbild - auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein solle. Mit dem neuen Begriff des ,Föderalismus' wurde zugleich die republikanische Homogenität aller Mitgliedstaaten als conditio sine qua non des Völkerbundes postuliert" 14• So konnte der alte deutsche Begriff ,Bund' durch die neuen Organisationsformen des modernen Föderalismus empirischer und realistischer umgesetzt werden. Erst jetzt wurde eine klare theoretische Unterscheidung zwischen ,Bund' und ,Bündnis' und der Konzeption einer dann im 19. Jahrhundert realisierten ,Bundesstaatsverfassung' möglich. KoseHeck reduziert die historische Wirkung des Föderalismus auf die großen politischen und ideologischen Wandlungsprozesse der Sattelzeit. Nipperdeys Ansicht, wonach der Föderalismus dynamisch, als historischer Wirklichkeits-, Beziehungs- und Prozeßbegriff zu verstehen und zu behandeln ist1S, steht dazu nicht im Widerspruch. Schon Hege! hat ja lapidar festgestellt, daß die ,.deutsche Verfassung" am Ende des Heiligen Römischen Reichs ein derart verwirrendes Bild vermittelte, daß es keine zu ihrer Definition brauchbaren 13
H. Hintze, Staatseinheit und Föderalismus, S. 481.
14
R. Kose/leck, Bund, S. 637.
15
T. Nipperdey, Der Föderalismus, S. 60.
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Begriffe mehr gab und sie durchaus als nicht mehr existent bezeichnet werden konnte 16• Von diesem Tiefpunkt aus begann in Deutschland eine neue Verfassungsdebatte. Sie war geprägt durch das Spannungsverhältnis zwischen den beiden politisch-rechtlichen Figuren ,Staatenbund' und ,Bundesstaat' im Rahmen der beiden großen, auf dem Wiener Kongreß sich abzeichnenden politischen Tendenzen: die Restauration der alten Ständegesellschaft und die Einführung der liberalen Verfassung. Nur auf diese Weise konnte sich seit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs eine föderalistische Theorie herausbilden, die im Rheinbund ihr erstes Experimentierfeld fand. Grundlage war die nunmehr erreichte Staatlichkeit der alten Territorialfürstentümer. Sie bildeten die notwendige Basis formaler Gleichheit, ohne die ein Bundesstaat rechtlich gar nicht hätte begründet werden können 17 • ,Bund' wurde zum Leitbegriff einer neuen sozialen und politischen Organisation in historisch-philosophischer Perspektive - in Wechselwirkung und Reaktion zum allmählichen Absterben des Alten Reichs. Dabei entfaltete er sich auf drei Ebenen: a) als gesellschaftliche Einheit, gewissermaßen anstelle der alten Ständeordnung; b) als politische Form, anstelle der überkommenen Reichsordnung; c) als neue Figur des internationalen Rechts und der Geschichtsphilosophie. Einerseits bediente sich die föderalistische Richtung der Mittel, die eine sich beschleunigende Rechtswissenschaft ausarbeitete, andererseits stellte die politische Dimension des nationalen Liberalismus den ideologischen Bezugsrahmen dar. Auch für Welcker war der "Bundesstaat" die "schwerste aller Konstruktionen, aber gerade deshalb auch die reichste und größte politische Organisation, die höchste Idee der politischen Einheit großer Nationen". In Deutschland gab es jedoch konkretere Anhaltspunkte für die Diskussion, auch deshalb, weil die liberale Bewegung in ihren unterschiedlichen Schattierungen hier von Anbeginn an einen stark praktischen Grundzug gehabt hatte. Besonders in der Auseinandersetzung zwischen Österreich und Preußen wurde der Gegensatz zwischen Föderativprinzip und unitarischem Prinzip polemisch stark aufgeladen, praktisch jedoch in unerwartet realpolitische Lösungen umgesetzt. Die Revolutionäre von 1848, die eine Art Reichskonstitutionalismus - ein Mittelding zwischen zentralisierter Regierung und Bund - anstrebten, beriefen sich auf die Reichs- und nicht auf die Bundesidee. Es ging darum, einen Kompromiß zu finden zwischen der Bundes- und Partikularismustradition Österreichs und der Zentralisierungs- und Unitarismustradition Preußens, zwischen der restaurativen Bundesidee und der liberalen Idee des Einheiststaats. Damit hat auch die zentrale Rolle des Zollvereins als Übergang zwischen dem Deutschen Bund von 1815 und dem kleindeutschen 16 G. Mol/at (Hrsg.), Die Verfassung des Deutschen Reichs, Stuttgart 1935, Bd. 1: "Es ist kein Streit mehr darüber, unter welchen Begriff die deutsche Verfassung falle. Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr". 17
R. Koselleck, Bund, S. 635.
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Reich zu tun. Und aus dieser Notwendigkeit des Kompromisses heraus ist auch die an sich paradoxe Verkoppelung von Liberalismus und Föderalismus zu verstehen. "Bundesstaat war die oppositionelle Verfassungsparole, die Parole der friedlichen Revolution" 18 , und die Liberalen blieben Föderalisten, weil sie mehr Realisten als Revolutionäre waren. Es läßt sich demnach die folgende logische Reihe aufstellen: Reich als Bundesstaat - Bundesstaat als Nationalstaat. Auf den preußischen Militärsieg von 1866 und die Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 konnte mit logischer Konsequenz nur die Reichsgründung von 1871 folgen. Diese Lösung der deutschen Frage wurde erreicht durch die Verbindung der Großmachtpolitik Preußens mit den konkreten Zielen der nationalliberalen Bewegung: eine Verbindung, die natürlich (und realistischerweise) auf die preußische Vormachtstellung gegründet war.
VI. Auf die wirkliche Bedeutung der in der Präambel der Reichsverfassung von 1871 enthaltenen Erklärung, wonach das Reich einfach eine Union von Fürsten und Städten war, kann hier nicht eingegangen werden. Für Nipperdey und Kaselleck steht außer Zweifel, daß es sich in Wirklichkeit um einen Bundesstaat handelte, der gekennzeichnet war durch das Fehlen einer Zentralregierung, aber auch durch das Fehlen einer Bundesexekutive. Es handelte sich um eine unitarisch-föderative Organisation, in der Preußen eine Hegemoniestellung innehatte, die das Gleichgewicht zwischen den einzelnen Staaten und dem Reich sichern konnte, aber auch, aus der Perspektive der Liberalen, das Gleichgewicht zwischen der föderativen politischen Lösung und dem Verfassungsziel des Einheitsstaats. Hinzu kam, daß der Föderalismus (dank des Bundesrats) das einzige wirksame Gegengewicht zum fortdauernden, letztlich antiparlamentarischen monarchisch-konstitutionellen System war. Das Modell hatte jedenfalls in allen Bereichen des politischen Lebens großen Erfolg, wobei die Grundtendenz - ausgehend von der Entwicklung in Wissenschaft und Kultur - hin zur überregionalen Assimilation, ja zur Nationalisierung der Kompetenzen im Zeichen eines gewissermaßen "kooperativen Föderalismus" ging. Von 1871 bis 1914 erfolgte eine fortschreitende Expansion der unitarischen Institutionen, wobei das Gewicht des Reichs gegenüber den Mitgliedsstaaten (Preußen eingeschlossen) stieg, und zwar dank der neu geschaffenen unitarischnationalen Reichsstruktur. Auch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Zusammenbruch der Monarchie beendeten den Prozeß nicht: Für Hugo Preuß waren die allgemeine Orientierung und die Tendenzen der Parteien, die erst jetzt zum ersten Mal über die Verfassung Deutschlands befinden konnten, zentralistischer geworden als 1871 19 • Aber selbst das nationalsozialistische Regime 18
T. Nipperdey, Der Föderalismus, S. 73.
19
Ebd., S. 154.
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entging nicht ganz der Dialektik zwischen Einheit und Pluralität. Ideologisch gesehen waren die Nationalsozialisten Zentralisten, aber der Föderalismus blieb dennoch nicht ohne Einfluß auf die Grundzüge des Regimes. Die Zeit zwischen 1933 und 1945 ist denn auch verfassungsgeschichtlich als eine Kombination von Staatszentralismus und Partikulargewalten beschrieben worden, die nicht wenig zum neuen Föderalismus nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen hae0 . Im Unterschied zu Deutschland blieb der Gegensatz zwischen Zentralismus und Föderalismus in Italien lange auf die theoretische Ebene begrenzt, wobei jedoch Radikale und Gemäßigte umgekehrte Rollen spielten. Auch in Italien haben die französische Besatzungszeit und ganz allgemein die auch verfassungspolitisch prägende napoleonische Ära eine sowohl positive als auch negative Rolle gespielt. Liberale und nationale Komponenten waren eng miteinander verquickt, auch weil es sich bald gezeigt hatte, daß die Gesellschafts- und Regierungssysteme des Nordens und des Südens nur schwer in einem einheitlichen Modell zusammengefaßt werden konnten. Die zentralistisch-unitarischen Formen der französischen Herrschaft wurden mit dem napoleonischen Despotismus identifiziert. Der föderalistische Ansatz eines monarchischen Konstitutionalismus gewann somit, auf der Grundlage des englischen und des französischen Modells, die Oberhand und vereitelte jeden Versuch, eine republikanische Föderation (nach amerikanischem Muster) ins Leben zu rufen. In Italien scheiterte jedoch jedes Verfassungsprojekt, vor allem nach dem Wiener Kongreß, an der Österreichischen Besatzungsmacht. Mazzini reduzierte dieses Problem auf eine gelungene Formel, die auf den drei Prinzipien Unabhängigkeit, Einheit und demokratische Republik beruhte21 • Die Revolutionen 1848-49 wirkten sich negativ auf die moderat-föderalistische Option einer allmählichen und spannungsfreien Ausdehnung der piemontesischen Herrschaft auf ganz Italien aus. Im Unterschied zu Deutschland erhielt die ,Befreiung von der Fremdherrschaft' Vorrang gegenüber dem verfassungspolitischen Realismus, und das Scheitern der Revolution hatte einen drastischen Gegensatz zwischen elitären demokratischen Bewegungen und antiliberalen und restaurativen Rückzugsgefechten der Monarchen zur Folge, wobei auch die Option eines monarchisch-konstitutionellen Föderalismus auf der Strecke blieb. Die Folge der Radikalisierung dieser beiden ,föderalistischen' Optionen (der republikanisch-radikalen und der monarchisch-konstitutionellen) war, daß sich die einzige Lösung durchsetzte, die innen- und außenpolitisch prkatikabel war: die des gemäßigten Unitarismus. In diesem Zusammenhang erlangte Piemont seine historische Rolle zurück und wurde zum monarchischen Interpreten der alten republikanischen Ideale der Unab-· 20
Nipperdey bringt das Beispiel der Gauleiter (ebd. , S. 94-95).
21
N. Antonacci, Centralisrno e federalisrno nell'Jtalia del XIX secolo. Una riflessione,
in: Scienza & Politica, 15 0 996), S. 24. 22
Ebd., S. 28.
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hängigkeit und der Einheit. Diese Entwicklung bedeutete zwar nicht das Ende der lokalen Partikularismen22 , sie bewirkte jedoch die Verlagerung des föderalen Problems von der Verfassungs- hin zur Verwaltungsebene, indem sie das Dilemma zwischen Zentralismus und Dezentralisierung aufwarf. Mit der Einheit wurde das Problem des Föderalismus in Italien zur Frage der Autonomie. Der Problemkreis ist bis heute durch Forderungen und Projekte und ihre mangelhafte Umsetzung gekennzeichnet und eng verknüpft mit dem Gefälle zwischen dem Norden und dem Süden des Landes. Das Wechselspiel zwischen einem modernisierenden Zentralismus, der den Erfordernissen der Industrialisierung vor allem im Norden, aber auch der national-liberalen Assimilierung des süditalienischen Bürgertums entsprach, und einem latenten Autonomismus (der mit den Iokalistischen und klientelistischen Interessen des Transformismus verbunden war und auf der anderen Seite die Funktion hatte, die sozialistische und katholische Opposition zu neutralisieren, die sich in peripheren Autonomiebestrebungen geltend machte) ist grundlegend für den Mittelweg, den Italien auf politisch-institutioneller, aber auch auf der Ebene der politischen Debatte und der wissenschaftlichen Diskussion bis hin zum Faschismus ging23 • Offen bleibt die Frage, inwieweit auch der Faschismus von der Problematik Föderalismus und Zentralismus erfaßt wurde. Mit dem Faschismus wurde der ,Regionalismus', der die ersten fünfzig Jahre nach der Einheit geprägt hatte, durch den ,Korporativismus' verdrängt, der die soziale Dynamik und Problematik der Repräsentation und Demokratie, die die neue Massengesellschaft mit sich brachte, sicher direkter anging. Es kann hilfreich sein, statt von "totalitärem Staat" eher von "nationalfaschistischem Gewerkschaftsstaat" zu sprechen, zumindest für die erste Phase, und den Faschismus als "autoritäre und parteimäßige Nationalisierung und Integration des Pluralismus der organisierten Interessen" zu beschreiben24 . Was fehlt - und auch durch unsere Tagung nicht geboten werden konnte -, ist eine umfassende Interpretation des Phänomens sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene, mit dem Ziel, eventuelle Impulse auszumachen, die Italien und Deutschland in dem Jahrzehnt, das zwischen dem Beginn der faschistischen und dem der nationalsozialistischen Herrschaft liegt, ausgetauscht haben. Die Verbindung von Zentralismus und Föderalismus zwischen den beiden Kriegen konnte nicht ohne Folgen bleiben für die republikanische Verfassung. Das wird deutlich anband der verwirrenden und im Grunde zersetzenden Mischung von regionalistischem Modell und Parteien- und Gewerkschaftspluralismus, die sich im Verfassungstext niedergeschlagen hat.
23
R. Gherardi, Le autonomie locali nel liberismo italiano (1861-1900), Mailand
1984. 24 P.G. Zunino, L'ideologia del fascismo, Bologna 1985, S. 257 ff. ; E. Gentile, Le origini dell'ideologia fascista (1918-1925), Bologna 1996, S. 443 ff.
Zentralismus und Föderalismus
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VII.
Nach diesem kurzen historiographischen Exkurs über das föderalistischunitarische Problem im nationalen Einigungsprozeß Deutschlands und Italiens, ist es notwendig, zu den Begriffen zurückzukehren. Was bedeutet es also, Begriffe zum historischen Vergleich zu vervvenden? Es bedeutet zunächst, eine Arbeitshypothese zu formulieren, d.h. möglichst genau die Grenzen des Vergleichs festzulegen. Es bedeutet jedoch folglich auch, einen künstlichen Bezugsrahmen vorzugeben, im Bewußtsein, daß sich die Dinge nicht genauso abgespielt haben, da viele konstitutive Faktoren der historischen Entwicklung sicherlich außerhalb dieses Rahmens bleiben. Es kann also nicht darum gehen, Gewißheilen zu fixieren und eine in allen Aspekten wahrheitsgetreue Rekonstruktion der historischen Wirklichkeit anzustreben. Man läuft dabei eher Gefahr, die historische Wirklichkeit zu verfälschen, indem man sie den gewählten Begriffen entsprechend zurechtstutzt. Letztlich sind diese - jedenfalls meiner Meinung nach - Gegenstand der Untersuchung, und das historische Material, auf das zurückgegriffen wird, kann einem besseren Verständnis der Begriffe dienen, von denen man ausgegangen ist. Wir bewegen uns hier also auf der Ebene der regelmäßig-typischen Entwicklung der historischen Tatsachen, auf der Suche nach den großen Kräften, die in der Geschichte wirken, und bedienen uns dabei einer riskanten aber vielversprechenden Mischung von historischer Analyse und sozialwissenschaftlicher Kategorienbildung. "Allgemeine Staatslehre auf historischer Grundlage", so waren die Vorlesungen überschrieben, die Otto Hintze im Wintersemester 1914-15 hielt. Später wurde es sein Ziel, eine "allgemeine Staats- und Gesellschaftslehre auf historischer Grundlage" zu formulieren 25 • Im Anschluß an unsere Rekonstruktion kann man vielleicht sagen, daß die beiden Begriffe ,Zentralismus' und ,Föderalismus' nach der Revolution eine im Vergleich zu ihrer Stellung in der europäischen Geschichte vom Mittelalter bis zum Ancien Regime, neue Bedeutung erhielten, und zwar mit der Durchsetzung einer neuen Form von Staat, die auf wissenschaftlicher wie auf Verfassungsebene in ihrem Grundzug durch die Existenz einer Rechtsordnung bedingt war. Neu ist vor allem die Wechselbeziehung zwischen den beiden Begriffen gewesen. Während sie vorher symbiotisch miteinander verbunden waren und ihre Substanz untereinander austauschten, schienen sie sich nunmehr alternativ zueinander zu verhalten und sich gegenseitig auszuschließen. Ihre Funktion ist nun eine eher technische und organisatorische, gleichsam neutrale, auf Kosten der traditionellen Werte und materiellen Interessen, auf die sich der Verfassungs-· dualismus im Ancien Regime bezog.
25 G. Di Costanzo, Otto Hintze e i frammenti della Allgemeine VeJWaltungs- und Verfassungsgeschichte, in: Archivio di storia della Cultura, 1995, S. 124-140.
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Unter ,Zentralismus' ist nun jenes Lösungsmodell des Staatsproblems zu verstehen, das alle Kompetenzen der Souveränität von einem einzigen Zentrum des Territoriums her organisiert, das sie unmittelbar, durch direkte Verwaltung, oder indirekt, durch periphere Verwaltung, ausübt. Dieses System hat seinen höchsten Stabilitätsgrad in Frankreich erreicht, vor allem durch die Figur des Präfekten. Es hat auch in Deutschland Einfluß ausgeübt und war in Italien zweifellos das tragende Element einer administrativen Versinnbildlichung, die von Piemont ausging, wo das zentralistische System bereits vor der nationalen Einheit übernommen worden war. Unter ,Föderalismus' ist hingegen jenes Lösungsmodell des Staatsproblems zu verstehen, das (meist ausgehend von einer faktisch gegebenen Situation) die Souveränitätskompetenzen auf unterschiedliche territoriale Gebilde verteilt, unbeschadet allerdings der politischen Einheit, die in einem einzigen Zentrum (oder sogar, wie in Deutschland, in der Person des Kaisers selbst) verankert ist. Im nachrevolutionären Europa gibt es keine Beispiele eines föderalen Systems, außer dem Spezialfall der Schweizer Eidgenossenschaft. Das herausragende Modell eines föderalen Systems sind die Vereinigten Staaten. Auf den ersten Blick könnte man sagen, daß das föderale Lösungsmodell den entsprechenden Völkern ein höheres Maß an politischer Reife abverlangt. Es impliziert nämlich, ja setzt voraus, daß die inneren Unterschiede zwischen den verschiedenen Mitgliedern der Föderation gewahrt und geachtet werden. Es erfordert deshalb ein höheres Maß an Toleranz und Flexibilität als ein zentralisierter politischer Verband, in dem die konformen Verhaltensweisen von einem einzigen Zentrum heraus vorgegeben und sanktioniert werden. Man könnte auch hinzufügen, daß das föderalistische Lösungsmodell besser zu einer relativ weit entwickelten Phase im Bildungsprozeß eines einheitlichen Nationalbewußtseins paßt. Die inneren Besonderheiten der verschiedenen Gemeinschaften können nämlich nur auf der Grundlage eines einheitlichen Willens gewürdigt werden, der in einer gemeinsamen Geschichte und im Bewußtsein gemeinsamer Interessen wurzelt. Andererseits erfordert ein föderales System, um funktionieren zu können, ein annähernd gleiches Niveau der verschiedenen Mitglieder, die aufgrund der ihnen zustehenden Kompetenzen in der Lage sein müssen, zusammen sowohl die gemeinsamen als auch die besonderen Ziele zu verfolgen. Umgekehrt scheint das zentralistische Lösungsmodell am besten geeignet zu sein, weit voneinander entfernte und differenzierte Teile eines Menschen- und Territorialverbandes, der nach Einheit strebt, zusammenzuschließen und vom Zentrum aus die Schwachstellen im Einigungsprozeß auszugleichen. Dies führt zu dem auf den ersten Blick wichtigsten Unterschied zwischen den beiden Modellen: der jeweiligen "politischen Produktivität". Das zentralisierte verspricht eine aggressivere und leistungsfähigere Verfolgung gemeinsamer Ziele; das föderale sichert ein höheres Maß an Mitbestimmung und an Wahrung de r Besonderheiten. Kurz, das zentralistische Modell ist politischer als das föderalistische, aber umgekehrt erfordert das föderale Modell eine aus-
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gefeiltere Verwaltungskonzeption und -praxis. Das zeigt die fast obsessive Eile, mit der nach der politischen Einheit die nationale Verwaltungsgesetzgebung in Italien auf den Weg gebracht wurde; eine imponierende legislative Leistung, die jedoch nicht zu einer wirklich allgemein geteilten Verwaltungskultur und -praxis werden konnte. Die Auswirkungen haben seitdem bis heute die Geschichte des Staates in Italien bestimmt. Der Unterschied zwischen den beiden Modellen hat letztlich mit dem unterschiedlichen Politikbegriff zu tun, der ihnen zugrunde liegt. Der Föderalismusbegriff ist mehr auf Mitbestimmung, aber auch mehr auf Verwaltung gestimmt, der Zentralismusbegriff ist effizienter, aber auch ideologischer. Im Rahmen des zentralistischen Modells spielt die (zentrale) Verwaltung deshalb letztlich eine politische Rolle, während im föderalen Modell die (im wesentlichen lokale) Verwaltung eine vorwiegend technische Funktion erfüllt. In den zentralistisch strukturierten Staaten herrscht folglich eine diffusere, dauerhaftere und tiefere Tendenz zur Dramatisierung des politischen Geschehens vor, während die föderal strukturierten Staaten durch eine technische und funktionale politische Kultur geprägt sind, die dazu neigt, die Probleme zu neutralisieren und technisch zu lösen, anstatt sie andauernd zu Momenten des politischen Konflikts zu machen. Hinzu kommt natürlich die gewichtige Kombination von liberaler und sozialer Verfassung - der beide Modelle sich im Zuge der Revolution anzupassen hatten - und der verschiedenen Wahlsysteme, die mehr oder weniger proportional oder direkt waren, sich jedoch stets auf eine tendenzielle Erweiterung des Wahlrechts hin bewegten.
vm. Auch aus diesen gewissermaßen typologischen Gründen schien es interessant und vielversprechend, Deutschland und Italien einem ersten Vergleich zu unterziehen, in einer sicherlich ,verspäteten' (und durch Sonderwege geprägten) Entwicklungsperiode der europäischen Verfassungsgeschichte, die durch die beginnende Krise des Jus publicum europaeum im Zuge der großen wirtschaftlichen, sozialen und internationalen Wandlungsprozesse im Anschluß an die erste industrielle Revolution gekennzeichnet ist. Deutschland und Italien erreichten spät und unter unterschiedlichen Bedingungen die "institutionell minimale" (Nipperdey) Ebene politischer Organisation, die die ,Verfassung' des modernen Europa kennzeichnet, d.h. den nationalen Einheitsstaat. Darüber hinaus taten die beiden Länder diesen entscheidenden - und trotz der Verspätung unabdingbaren - Schritt auf den entgegengesetzten Wegen des Föderalismus und des Zentralismus. Es ist nunmehr zu fragen, ob diese Entscheidung kohärent gewesen ist und ob sie tatsächlich in der historischen Entwicklung Wirkungen gehabt hat, die mit der inneren Logik der beiden Ansätze zu tun haben. Die Verspätung und die entsprechend forcierte Anwendung der beiden Systeme, des föderalen und des zentralistischen, in Deutschland und Italien dürfte eine ideale, aber zugleich faktische 3 Janz u. a.
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(gleichsam laboratoriumsmäßige) Überprüfung ihrer Bedeutung für die Verfassung erleichtern. Die nationalstaatliche Einigung ist nicht der einzige Ausgangspunkt für eine vergleichende Geschichte Italiens und Deutschlands von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Die beiden Länder waren nämlich in diesem Zeitraum durch ein enges Netz wechselseitiger Kontakte und gemeinsamer Erfahrungen miteinander verbunden, eine komplexe Geschichte von reziproken Beeinflussungen und Rezeptionen, Bündnissen und Treuebrüchen, Liebe und Haß, die trotz durchgehend großer struktureller, kultureller und materieller Unterschiede vielfach zu großen Ähnlichkeiten in ihrer historischen Entwicklung geführt haben. Welche Bedeutung haben in dieser komplexen Beziehung Zentralismus und Föderalismus gehabt? Der erste Eindruck ist, daß unterschiedliche nationalstaatliche Lösungsmodelle stellenweise zu analogen Ergebnissen geführt haben. Daraus könnte man schlußfolgern, daß die föderale bzw. zentralisierte Staatsform, die die beiden Länder im Zuge der Vollendung ihrer politischen Einheit angenommen haben, für deren historisches Verständnis nicht entscheidend sind. Wenn angesichts unterschiedlicher politisch-orgnisatorischer Lösungsmodelle analoge Ergebnisse erzielt worden sind, bedeutet dies, daß sie zur Erklärung solcher Ergebnisse weder notwendig noch ausreichend sind und andere Momente des Vergleichs zwischen diesen beiden historischen Wirklichkeiten gefunden werden müssen. Die Falsifizierung der bisher zugrunde gelegten Arbeitshypothese wäre an sich schon ein gutes Forschungsergebnis; sie hätte auf diese Weise anderen Forschungsperspektiven Platz zu machen. Föderalismus und Zentralismus wären dann aus dem zur vergleichenden Untersuchung der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung Italiens und Deutschlands zwischen 19. und 20. Jahrhundert brauchbaren Begriffsinstrumentarium zu entfernen. Aber verhalten sich die Dinge tatsächlich so? Diese Frage steht im Grunde am Anfang unserer Untersuchung. Sie beruht eigentlich auf einer anderen These als die eben illustrierte. Sie nimmt eine andere Entwicklung des Zusammenhangs von Föderalismus und Zentralisierung an und geht davon aus, daß in den beiden untersuchten Fällen, Italien und Deutschland, das jeweilige Ausgangsmodell nicht konsequent angewandt, sondern häufig mit dem entgegengesetzten vermischt worden ist. Die Gründe dafür sind sowohl traditionelle (die mit den sozialgeschichtlichen und institutionengeschichtlichen Vorgaben zu tun haben) als auch rationale (die mit mehr oder weniger bewußt verfolgten politischen Zielen zu tun haben). Könnte diese zweite These bestätigt werden, wären die Folgen bedeutend. Zunächst würden auf der Ebene der historischen Untersuchung die beiden Mythen (Föderalismus und Zentralismus) dekonstruiert, auf die sich die zeitgenössische öffentliche Meinung versteift hat, um die jeweiligen nationalen Einigungsprozesse zu erklären und zu legitimieren. Zweitens, würde sich bestätigen, daß eine ausschließlich oder überwiegend rechtsgeschichtliche Re-
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konstruktion verfassungsgeschichtlicher Modelle unzureichend ist und überwunden werden muß zugunsten von Interpretationen, die unterschiedliche wirtschaftliche, soziale und ideologische - Faktoren der Verfassung berücksichtigen. Folglich, und drittens, würde sich die Verfassung als adäquater Untersuchungsraum für Phänomene bestätigen, die die Gesellschafts- und Politikgeschichte einer bestimmten Gemeinschaft betreffen. Auch, und viertens, wäre die These bestätigt, daß die vergleichende Untersuchung unterschiedlicher Ge-meinschaften verfassungsgeschichtlich zu fundieren ist, um die prägenden Grundzüge des untersuchten Prozesses besser zu verstehen, unter Verwendung adäquater Begriffsapparate, mit deren Hilfe der Diskurs von der rein hi-storiographischen auf die reflektiertere Ebene einer Staatslehre auf historischer und nicht mehr bloß rechtlicher Grundlage (d.h. einer Gesellschaftsoder politischen Wissenschaft, wie sie Max Weber und Otto Hintze gelehrt haben) verlagert werden kann. Dies könnte auch zu einer Relativierung der französischen Revolution in ihrer Bedeutung als Epochenwende und Zäsur zwischen zwei geschichtlichen Zeiten und Welten führen, einer nur alten und einer anderen nur modernen; eine Zäsur, die vielleicht zu viel Aufmerksamkeit beansprucht hat aufgrund der Hegemonie der Rechtswissenschaften im 19. Jahrhundert und der dementsprechenden Überbetonung der Rechtsordnung in allen wesentlichen Aspekten des Staatslebens, von der Gesetzgebung bis hin zur Verwaltung und zur Rechtsprechung.
IX.
Zweifellos erfolgte die deutsche Einheit auf föderaler und die italienische auf zentralistischer Grundlage. Es handelte sich sogar um ganz bestimmte und bewußte Entscheidungen, die auf der Ebene des Rechtsdenkens theoretisiert wurden, in den jeweiligen Verfassungsurkunden ihren Niederschlag gefunden haben und entschlossen in die Gesetzgebung und verwaltungspolitische Praxis der beiden Staaten umgesetzt wurden. Es gibt jedoch gute Gründe für die Annahme, daß sich auf dieser Basis bald gegenläufige Tendenzen entwickelten, die in die Richtung eines kooperativen Föderalismus bzw. einer Zentralisierung auf lokalistischer Grundlage gingen. Beide historischen Zusammenhänge wiesen von Anfang an und auch später einen hohen Anteil an Transformismus auf. Er war nicht bloß formaler Art (d.h. auf die Reinheit der angewandten technischen und politischen Lösungen bezogen), sondern auch sozialer und materialer Art (d.h. auf den politischen Gebrauch bezogen, den die beteiligten Kräfte von den ihnen zur Verfügung stehenden Instrumenten machten, um ihre Interessen und ihre Position innerhalb der jeweiligen Verfassungsrahmen zu verteidigen). Was herauskam, waren Zwitterlösungen, eingelassen in Zwangslagen, die durch den Wandel des internationalen Rahmens und der neuen Massendimension der Politik verursacht waren. Weder Föderalismus noch Zentralisierung erwiesen sich in der Lage, aus diesen Zwangslagen auf territorial-
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nationaler Ebene herauszukommen. Der Föderalismus stand unter Requalifizierungsdruck und machte sich notgedrungen auf immer höheren Ebenen der internationalen Politik geltend (vom Völkerbund zur UNO, wobei die Phase der von den USA und der UdSSR beherrschten Militärblöcke sowie das heutige Europa nicht zu vergessen sind). Der Zentralismus war - und ist heute mehr denn je - außer Stande, dem zentrifugalen Druck aus den (sozialen und territorialen) Peripherien standzuhalten. Die nationalstaatliche Lösung, die sich in ganz Europa nach der französischen Revolution durchsetzte und auch dank der Form des Rechtsstaats erfolgreich angewandt wurde, hatte nur scheinbar den alten Dualismus von Einheit und Vielheit der Politik gebrochen zugunsten eines verstärkten staatlichen Monopolismus, der auf dem Primat der Gesetzgebung und der dementsprechenden Objektivierung der Verwaltung beruhte, wobei auch das dritte Moment, die Rechtsprechung sich unweigerlich verselbständigte. Die Durchführung der Gewaltenteilung - Dreh- und Angelpunkt der nachrevolutionären Verfassungswende - wurde zweifellos möglich dank des Rechtsstaats; sie hatte aber auch zu tun mit der außergewöhnlichen Expansion des Staates im Zeichen des Zentralismus, obwohl auch die imponierende Formierung der bürgerlichen Gesellschaft zu berücksichtigen ist, die in der Industrialisierung ihre materielle Grundlage fand und auf sozialer Ebene zu einer neuen und beispiellosen Form des Klassenkampfs führte. Über seine ideologischen Komponenten hinaus (die aber auch unterstützend wirkten) konnte der Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft bedeutende strukturelle Folgen haben. So führte er z.B. innerhalb des allgemein akzeptierten Rahmens des Nationalstaats zu neuen Formen der alten Dynamik zwischen unitarischem und pluralistischem Moment der politischen Organisation. Die große Zeit der Nationen und der Nationalismen schien die ideale Wiege des neuen Etatismus auf rechtlicher Grundlage zu sein; der Staat stand für das administrative Monopol der Macht und gleichzeitig für die verfassungsmäßige Garantie der Freiheit. Aber diese Zeit war in Wirklichkeit eher kurz. Bereits Ende des Jahrhunderts zeichneten sich die Ansätze neuer Entwicklungen ab, im Zuge der demokratischen Vermassung auf innenpolitischer und der weltpolitischen Ausdehnung der Konflikte auf internationaler Ebene. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich überall in Europa ein regionalistischer Trend durch, der sich gegen die nationale Einheit und ihre Räson richtete und nach pluralistischen Lösungen in der Politik und auch in der Verwaltung strebte. Hedwig Hintze hat dieses Phänomen so beschrieben: "Regionalism has been called a manifestation of ,world federalism' and an intermediate stage between administrative decentralization and federalism"26 • Frankreich wurde als klassisches Land der politischen Einheit und der Verwaltungszentralisierung die Geburtsstätte eines Regionalismus, der auch auf andere ,nationale' Situatio-
26 H. Hintze, Regionalism, in: Encyclopaedia of the Social Sciences, 14. Auf!., London I New York 1962 ff.
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nen übertragbar war. Die Untersuchung des italienischen und des deutschen Falls scheint diese These eines Zusammenhangs zwischen der ergebnislosen Gegenüberstellung von Zentralismus und Föderalismus und der Verbreitung des Regionalismus zu bestätigen. Aber noch einmal: Handelte es sich bloß um Transformismus oder entsprach die Verkomplizierung der beiden ,reinen' Modelle durch den Regionalismus den tieferen Erfordernissen des politischen Prozesses? Mein Eindruck ist, daß die beiden Komponenten Einheit und Vielheit Grenztendenzen eines jeden Versuchs menschlichen Zusammenlebens darstellen und daß sie vor allem in den Phasen der europäischen Geschichte, die größere Entwicklungsschübe zu verzeichnen hatten, für sich genommen nur provisorische und gewissermaßen komplementäre Teillösungen begründen konnten. Die historische Dominanz der einen vermochte niemals die andere auszulöschen und verdrängte sie bloß auf eine tiefere und weniger formalisierte, aber deshalb nicht weniger bedeutungsvolle Ebene. Die gesamte europäische Verfassungsgeschichte, und nicht bloß die bekannte ,deutsche Frage' besteht in dem Verhältnis zwischen Einheit und Vielheit oder auch, wenn man so will, von Macht und Freiheit. Der Regionalismus kann somit vielleicht als Zwischenformel gelten oder als Maßstab für den Vergleich zwischen Deutschland und Italien. Da sich auch hier keine der beiden Reinformen ,Zentralismus' und ,Föderalismus' durchsetzen konnte, stellte der Regionalismus vielleicht, trotz der unterschiedlichen Kontexte, einen konkreten Durchsetzungsmodus und gleichzeitig den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den beiden Modellen dar. Hiermit überschreiten wir jedoch den Rahmen unserer Tagung. Ein Hinweis auf diese Zusammenhänge ist jedoch angesichts der möglichen Bedeutung dieser Ansätze für die Zukunft am Platz. Die kommende Entwicklung wird sich in dem Dreieck Zentralismus-Föderalismus-Regionalismus abspielen; sie kann sich nun jedoch auf komplexe Telekommunikations- und Datenverarbeitungstechniken stützen, die vielleicht dazu beitragen können eine neue und bessere Antwort auf die Probleme Einheit und Vielheit, Macht und Freiheit zu finden.
Wege zum Nationalstaat
Zentralismus und Föderalismus in Italien Erwartungen vor der Einheit Von Marco Meriggi
Daß das im liberalen Italien in den Jahren unmittelbar nach der nationalen Einigung etablierte Verwaltungsmodell zentralistisch war, ist kaum mehr als ein Gemeinplatz. Dieser Gemeinplatz beruht auf solider und scheinbar unerschütterlicher Grundlage. Das zeigt sich, wenn man, unter allen Faktoren, die normalerweise mit dem Grundzug dieses Modells in Verbindung gebracht werden, die Bedeutung der Präfektur in der Verwaltungsordnung Italiens nach der Einheit unterstreicht. Im Zusammenhang mit der Etablierung des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie, das theoretisch auf der Unterordnung beruhte, stand auch die entsprechende, den Verwaltungsgesetzen von 1865 zugrunde gelegte Entscheidung, auf die Einrichtung der Region zu verzichten, die noch in den ersten Jahren nach der Einheit Italiens viele Befürworter hatte, vor allem in der den Gemäßigten nahestehenden politisch-sozialen Elite der Lombardei, der Toskana, teilweise auch der Emilia und Siziliens, die bei allem Zögern die nationale Einheit vollendet hatte. Die Etablierung einer auf die breite Streuung der Präfekten abgestellte Verwaltungsordnung, die keine Regionalparlamente vorsah, ist von vielen Historikern, unbeschadet der positiven oder negativen Einschätzung des Phänomens1, als Beleg für die im wesentlichen französisch-napoleonische (und folglich zentralistische) Struktur des Verfassungssystems im geeinten Italien gewertet worden. Die von mehreren Autoren verfaßte und kürzlich von Raffaele Romanelli herausgegebene Geschichte des Staates in Italien zeigt jedoch, daß das geeinte Italien gleichzeitig "zu viel und zu wenig" 2 Staat gehabt hat. Der Lokalismus habe sich trotz der zentralistischen Einheitlichkeit der Verwaltungsordnungen mit der Zeit durchgesetzt und sei in dem Maße, wie er sich in den Praktiken der Politik und der sozialen Hegemonie niederschlug, zum tragenden Kern der materiellen Verfassung geworden 3. Vgl. C. Ghisalberti, Storia costituzionale d'Italia 1848-1948, Bari 1974; U. Allegretti, Profilo di storia costituzionale italiana. Individualismo e assolutismo nello Stato liberale, Bologna 1989. R. Romanelli (Hrsg.), Storia dello stato italiano. Daii'Unita a oggi, Rom 1995.
Vgl. R. Romanelli, Il comando impossibile. Stato e societa nell'Italia liberale, neue erweiterte Auflage, Bologna 1995.
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Diejenigen Historiker, die den Akzent stärker auf die zentralistischen Strukturen des Einheitsstaats legen, tendieren mehr oder weniger offen dazu, in ihnen das natürliche Erbe des napoleonischen Zentralismus zu sehen, der das gesamte Territorium (die Inseln ausgenommen) vom Ende des 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert beherrscht hat. Die Staaten der Restauration übernahmen diesen Zentralismus, lösten ihn aber von den Bezügen auf die revolutionäre Tradition, die ihn bei seiner Etablierung legitimiert hatte. Einige Interpretationen unterstreichen auch, daß sich in der Entscheidung zugunsten des Zentralismus die Ansprüche des unaufhaltsam aufstrebenden Bürgertums widerspiegelten, das sich als nationale fortschrittliche Klasse darstellen und die rückwärtsgewandten und partikularistischen Vorstellungen der vorunitarischen Aristokratien ersticken wollte. Zusammen mit vielen anderen Historikern, vor allem Vertretern der Sozialund Wirtschaftsgeschichte\ bezweifle ich, daß die nationale Einigung von einem fortschrittlichen Bürgertum bewerkstelligt worden ist. Ich sehe darin eher das Ergebnis der vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, von regionalen Aristokratien und anderen lokalen hegemonialen Gruppen vollbrachten Anstrengung, sich von einer Fremdherrschaft zu befreien, die in der Epoche des zentralistischen modernen Staats als schlimmer schien, als sie vorher empfunden worden war (so im Lombardo-Veneto und in der Toskana). Auch gab es Versuche, sich von der Staatlichkeit an sich zu befreien, die auch dann als lästig galt, wenn sie von Herrschaftsträgern vertreten wurde, die sich den lokalen Verhältnissen besser angepaßt hatten (so etwa im Königreich der beiden Sizilien und im Kirchenstaat). Obwohl die "Historische Rechte" als die politisch-sozial bestimmende Schicht der Verfassungsentwicklung Italiens den Stempel des Zentralismus aufdrückte, hatte sich ein großer Teil dieser Schicht in der Zeit vor der Einheit in eine antizentralistische Richtung bewegt. In den Jahrzehnten vor der Einheit vertraten sie lokalistische, partikularistische und autonomistische Positionen; im wesentlichen handelte es sich um eine antinapoleonische Einstellung, die hineingetragen wurde in die Auseinandersetzung mit den zentralistischen Tendenzen, die jede Regierung in Italien als unverzichtbares Erbe der vorangegangenen Epoche übernahm, einer Zeit in der der Grundstein für den modernen Verwaltungsstaat gelegt worden war. All dies sollte uns vorsichtig machen gegenüber Interpretationen, die für die Zeit nach der Einheit die zentrale Rolle des Staats oder die Staatszentriertheit Italiens betonen5 . Es geht vielmehr darum, auch die Gegengewichte und die
Eine gute Zusanunenfassung der einschlägigen Historiographie der letzten zwanzig Jahre gibt: L. Rial/, The Italian Risorgimento. State, Society and National Unification, London I New York 1994. Dieser kleine Band ist von mir rezensiert worden in: Storica, 2 (1996), 6. M. Meriggi, Uno statocentrismo apparente, in: Socieet e Storia, 53 (1991), S. 649-
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Grundstrukturen zu berücksichtigen. Dabei ist es notwendig, über eine auf den rechtlich-formalen Aspekt eingeengte Interpretation hinauszugehen und die Einbindung der institutionellen Strukturen in die sozialen Verhältnisse zu untersuchen. Der Zentralismus des geeinten Italien war nicht, wie bereits erwähnt, die natürliche Weiterentwicklung des napoleonischen Zentralismus, den die traditionellen Eliten der präunitarischen Staaten unter den bonapartistischen Regierungen (Königreich Italien, Königreich Neapel, Kaiserreich) Anfang des 19. Jahrhunderts kennengelernt und dann weiterhin unter den Regierungen der Restauration hatten hinnehmen müssen. Der Zentralismus nach ,französischer Art' der ersten fünfzehn Jahre des 19. Jahrhunderts hatte auf die Aristokratie Italiens wie ein Schock gewirkt. Er hatte Traditionen zerstört, die gewohnheitsmäßigen Verbindungskanäle zwischen Zentrum und Peripherie behindert, die alte ständische Rechtsprechung der Korporationen aufgehoben und das Monopol der staatlichen Rechtsprechung eingeführt. Die zwölf Staaten, die in Italien bestanden hatten, waren 1808 auf drei zusammengeschrumpft. Gleichzeitig war die Gemengelage lokaler Institutionen verschwunden; durch sie hatte sich die Vorherrschaft der aristokratischen Eliten geltend gemacht, die in Mittel- und Norditalien wesentlich städtisch-patrizisch und im Süden hauptsächlich agrarisch-feudal waren. Städtische Statuten, Feudalgerichtsbarkeiten und Organe gemeinschaftlicher Selbstverwaltung wurden durch die napoleonische Gesetzgebung jäh außer Kraft gesetzt. An ihre Stelle trat eine hierarchische Struktur zwischen Zentrum und Peripherie, die vieles gleichmachte, Unterschiede einebnete und autoritär und demokratisch zugleich war. Die alten dominanten Gruppen wurden geknebelt oder in einen Verwaltungskreislauf gezwungen, in dem sie bloß eine untergeordnete Funktion ausübten und sich den Anordnungen der Zentralregierungen in Mailand, Neapel und Paris fügen mußten. Nach dem Fall Bonapartes erhofften sich die adligen Stände, die von dem französisch-napoleonischen System benachteiligt worden waren, eine antizentralistische Zukunft. Das von den Franzosen formalisierte Institutionenmodell hatte zwar Bewunderer und Anhänger unter den Bürokraten und Militärs, die an seiner Einführung in den verschiedenen Teilen Italiens mitgewirkt hatten. Diese standen jedoch am Anfang der Restauration auf der Verliererseite und wurden von den Aristokraten, die in den restaurierten Staaten auf die politische Bühne zurückgekehrt waren, als hassenswertes Symbol für den autoritären Geist des vergangeneo Regimes hingestellt. Die diffuse Erwartung in ganz Italien stand unter dem Einfluß der traditionellen Modelle, der jeweiligen Region und Stadt. Man versprach sich viel von einer Rückkehr zur Milde des Ancien Regime, zu einer Idylle, in der die lokale Rechtsprechung mehr galt als die staatliche. Diese Forderung wurde zwischen 1815 und 1821 allgemein erhoben, und zwar sowohl in den Territorien, die den legitimen vorrevolutionären Monarchen zurückgegeben worden waren
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(Piemont, Lombardei, Toskana, Kirchenstaat, Königreich der beiden Sizilien, Parma und Piacenza, Modena und Reggio), als auch in jenen, die neuen politischen Einheiten zugeschlagen worden waren (Genua und Ligurien, die nunmehr dem Königreich Sardinien einverleibt worden waren, das Veneto, das nach dem kurzen Interim Anfang des Jahrhunderts wieder habsburgisch geworden und mit der Lombardei zum Königreich Lombardo-Yeneta vereint worden war). Vor allem die Vertreter der von Napoleon entmachteten Aristokratien formulierten eine zweideutige Vision, die einerseits die Welt des kirchlich-adeligen Ständewesen des Ancien Regime beschwor, andererseits sich aber auch von einem vorsichtigen, zensusgebundenen Liberalismus angezogen fühlte. Die traditionellen Positionen der Adeligen von Geblüt sollten erhalten bleiben, gleichzeitig sollten das bürgerliche, vor allem das grundbesitzende Honoratiorentum, in die Reihen der titulierten und traditionell führenden Schichten integriert werden. Der gemeinsame Grundzug dieser beiden parallel verlaufenden Denkstränge besteht darin, daß dem lokalen Raum und den lokalen Eliten eine verfassungsmäßige Rolle zu geben sei, als Gegengewicht zum ausufernden Zentralismus der verflossenen napoleonischen Zeit. Die altständischen und die neuständischen oder, wie ich sie nennen würde, liberal-ständischen Kräfte sind sich, abgesehen von einigen unterschiedlichen Nuancierungen ihres Diskurses, in der Verfolgung dieser Perspektive im wesentlichen einig. Sie werden jedoch behindert durch die untergründige ,Rückkehr der Revolution', die entgegen allen Erwartungen seit den Anfängen der Restauration stattfindet. Ich beziehe mich dabei nicht auf die sporadischen Aufstände gegen die Regierungen, die in den verschiedenen Staaten Italiens zwischen 1815 und 1848 wiederholt die bleierne Atmosphäre der nachnapoleonischen Zeit stören. Ich meine vielmehr die alltägliche, keinen großen Lärm erzeugende Revolution, die von den absolutistischen Regierungen betrieben wird, die, indem sie das institutionelle Modell der ,Verwaltungsmonarchie' verwenden, das napoleonische zentralistische Erbe bestätigen. Der Neuentwurf der geopolitischen Landkarte Italiens, der mit wenigen Ausnahmen die alte Regionalgliederung zu bestätigen schien, lenkte sicherlich die Vorstellungen der traditionellen Stände zurück zu den beruhigenden Bildern der Vergangenheit. Aber hinter der Wiederherstellung der alten formalen Zusammenhänge verbarg sich, wie sich innerhalb von wenig mehr als fünf Jahren zeigen sollte, keineswegs die Rückkehr zur alten Welt. Mehr oder weniger alle Regierungen des restaurierten Italien waren nämlich durch eine starke Kontinuität zum napoleonischen Regime gekennzeichnet, vor allem hinsichtlich des bürokratischen Eingriffs in die Bereiche der geographischen Randgebiete und in deren soziale Kreise, die noch Ende des 18. Jahrhunderts durch eine starke Selbstbezogenheit und aristokratische Hegemonie gekennzeichnet waren.
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Die Feudalität war überall ausgelöscht. Und auch dort, wo die provinzialen oder regionalen Vertretungsformen wiederhergestellt wurden, deren Aufgabe es war, die gesellschaftlich herrschenden Kräfte zu repräsentieren (in den Kongregationen des Lombardo-Veneto, den Provinziallandtagen im Kirchenstaat und im Königreich beider Sizilien, später auch im Königreich von Sardinien und im Großherzogtum Toskana), waren diese eher durch die ihnen gezogenen Grenzen gekennzeichnet als durch die Chancen, in Konkurrenz zur bürokratisch-zentralistischen Macht der Regierung zu treten. Ähnliches gilt für die verschiedenen Formen der Gemeindevertretung, die, mit unterschiedlichen Namen ausgestattet, die napoleonischen Gemeinderäte ersetzten. Die italienischen Aristokratien hatten eine Neuauflage der vorrevolutionären Stände im großen Stil erträumt. Was heraus kam, war eine schwache Parodie jener Institutionen. Und sie erprobten bald ihre traurige Unwirksamkeit, denn ihre täglichen Anstrengungen zerbrachen an der zähen Entschlossenheit zentralisierter Verwaltungsapparate, die noch dazu in einigen restaurierten Staaten - vor allem im Lombardo-Veneto - nach einem vorübergehenden, wenige Jahre dauernden Abtauehen von den Überlebenden der großen napoleonischen Zeit geleitet wurden; von jenen also, die vor nicht mehr als fünf Jahren mit Bonaparte für immer versunken zu sein schienen. Die Steuern, die gegenüber den ersten fünfzehn Jahren des Jahrhunderts nur geringfügig gesenkt worden waren, machten sich weiterhin drückend bemerkbar - in einigen Staaten, wie im Königreich beider Sizilien weniger als in anderen wie dem Lombardo-Veneto. Die Großgrundbesitzer merkten sofort, daß das vorrevolutionäre cbeap government nichts als eine schöne Erinnerung bleiben sollte. Darüber hinaus wurden moderne zentralisierte Institutionen auch auf den beiden großen Inseln, Sizilien und Sardinien, eingeführt, die während der napoleonischen Zeit den entmachteten Monarchen Zuflucht geboten hatten und deshalb noch nicht den für die bonapartistischen Regimes kennzeichnenden Zentralismus kennengelernt hatten. Vor diesem Hintergrund der materiellen Verfassung sind meines Erachtens die politischen Oppositions- und Protestkundgebungen zu interpretieren, die im Zeitraum zwischen Ende der napoleonischen Ära und der nationalen Einheit innerhalb von Sozialgefügen formuliert wurden, die vor allem lokal (d.h. ständisch) bleiben oder wieder werden wollten, während die Regierungen, denen sie untergeordnet waren, sie in eine überlokale Dimension projizierten und sie deshalb einer zentralistischen Spannung unterwarfen. Die Bandbreite der politischen Optionen war während jenes Zeitraums vorwiegend föderalistisch orientiert. Das kann nicht überraschen, wenn man bedenkt, daß die von Mazzini aufgezeigte unitarische Perspektive (wobei Mazzini sicherlich damit keine Zentralismusvorstellungen verband) noch kurz vor dem Jahr 1859 längst nicht alle, die mit der herrschenden Ordnung unzufrieden waren, überzeugte. Viele waren vor allem auf der Suche nach Unabhängigkeit, nämlich Unabhängigkeit vom zentralisierten Staat sowie Unabhängigkeit sowohl von diesem als auch von der Fremdherrschaft, in jenen Ter-
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ritorien, in denen die Regierung sich mit einer Dynastie identifizierte, die als auswärtig wahrgenommen wurde (im Lombardo-Veneto, in geringerem Maße in der Toskana, am stärksten vielleicht in Sizilien, wo die regionalistischen und antineapolitanischen Empfindungen ziemlich verwurzelt waren). Der Traum von der Unabhängigkeit - der Peripherien in ihrer Gesamtheit gegenüber einem beliebigen Zentrum - war nur schwer vereinbar mit dem Ziel der Einheit und erst recht mit der Sympathie für die zentralisierten Institutionen, die die Verwirklichung der Einheit unterstützten. Die jüngste Erfahrung hatte nämlich gelehrt, daß jeder Versuch, zu vereinfachen, oder die Einheiten auf der Landkarte Italiens zu verringern, die Einführung zentralistischer Verwaltungsmodelle mit sich gebracht hatte. So war es in der napoleonischen Zeit gewesen. In geringerem Ausmaß war es auch in der Restaurationszeit dabei geblieben. Angestrebt wurde unter diesen Umständen deshalb ein Minimalstaat, der durch ein Mehrstaatensystem besser garantiert werden konnte. Gemeinde, Stadt, Provinz und Region waren die Bestandteile der institutionellen Ordnung, die den Ständisch-Liberalen vor Augen standen, wenn sie in der Publizistik und in der historiographischen Interpretation6 ihre Unzufriedenheit mit der herrschenden Ordnung verarbeiteten. Ihr Projekt lief allmählich auf zentrifugale Perspektiven hinaus und griff dabei stark auf das Modell der lokalen vorrevolutionären Vergangenheit und auf eine Erfahrung vor der Zeit des uniformisierenden französischen Zentralismus zurück. Ihre Vorstellungen bewegten sich in jener breiten Grauzone zwischen Neuständeturn und Zensusindividualismus, in der sich übrigens ein Großteil des kontinentaleuropäischen Liberalismus jener Jahre bewegte. Aber nicht allein die Liberalaristokraten vertraten diese Position. Näher als gemeinhin angenommen standen ihnen Denker, Politiker und Publizisten wie der Fürst von Canosa im Königreich beider Sizilien' oder wie Leopardi senior Monaldo - im Kirchenstaat. Ihre Neigung, das gesellschaftliche Zusammenleben8 auf die elementaren und organischen, der staatlichen Künstlichkeil entgegengesetzten, Zellen zurückzuführen, umfaßte auch die Familie und vor allem die Kirche, die große körperschaftliche Institution, die überall durch die Entwicklung der säkularen Zentralgewalt in eine Krise gestürzt worden war. Mit unterschiedlicher Intensität sahen sowohl die Ständisch-Liberalen (wie Vgl. dazu W. Maturi, Interpretazioni del Risorgimento, Turin 1%1. Über Canosa vgl. jetzt A . De Francesco, Ideologie e movimenti politici, in: G. Sabbatucci I V. Vidotto (Hrsg.), Storia d'Italia, Bd. 1: Le premesse dell'Unita, Rom I Bari 1994, S. 229-336, insbes. die Bewertung Canosas S. 267: .. Der neapolitanische Zentralismusgegner polemisierte gegen die staatliche Ordnung bonapartistischen Ursprungs, die er beschuldigt, durch das Gewicht ihrer komplexen Struktur unterschiedslos auf den lokalen Gemeinschaften zu lasten." Canosa wollte den für die Ständegesellschaft typischen Pluralismus aufrecht erhalten. Vgl. ebd., S. 296. Zu Monaldo Leopardi ebd. besonders S. 268, wo der Vater Giacomos als .,Dichter des lokalen Mikrokosmos" bezeichnet wird.
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Capponi, Ricasoli, Balbo, Confaloneri, Farini) als auch die sogenannten Reaktionäre auf eine gleichzeitig häusliche und regionale Vergangenheit. Und das starke Gewicht, das beide Richtungen auf die Kirche legten (man denke nur an die Neowelfen im ständisch-liberalen Bereich) war in einem Land, das in allen seinen Regionen stark katholisch war, Ausdruck des entschiedenen Versuchs, die aufkommende egalitäre moderne Staatlichkeil durch ein System von Gegengewichten und einen verbreiteten institutionellen Pluralismus aufzufangen. Der kirchliche Pluralismus gehörte dazu. Er galt als wünschenswerte Gegentendenz zum staatlichen Zentralismus, nicht nur bei dem nostalgischen Monaldo Leopardi, der vor allem dessen autoritäre Aspekte hervorhob, sondern auch bei Denkern, die den Neuerungen der Zeit aufgeschlossener gegenüberstanden, wie Balbo, Gioberti und Rosmine; sie vertraten tendenziell eine stärker auf Partizipation abgestellte Interpretation. Einige forderten jedoch ausdrücklich ein regelrecht föderales Programm. Sie orientierten sich an ausländischen Mustern und setzten auf die Zukunft und nicht den häuslichen Rahmen und die Vergangenheit. Vertreter eines föderalen Republikanismus, einer Alternative zu dem unitarischen Republikanismus Mazzinis, wie Carlo Cattaneo, Giuseppe Ferrari und Giuseppe Montanelli repräsentierten ein regionales Sozialmilieu, das anders war als das aristokratische, das, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den spontanen Föderalismus der Reaktionäre mit dem der Ständisch-Liberalen verband. Die föderalistischen Republikaner standen in einer Denktradition, die sich gerne mit den ausländischen Verfassungslehren auseinandersetzte: Cattaneo interessierte sich für die Vereinigten Staaten und vor allem für die Schweiz; Ferrari und Montanelli standen der jüngst von Proudhon neu interpretierten Tradition des französischen Revolutionsföderalismus nahe. Sie standen nicht auf dem Boden der Ständegesellschaft, wie die reinen Reaktionäre und die Ständisch-Liberalen, sondern nahmen eine Zivilisation vorweg, die die Wirtschaft und den Markt stützte. Dementsprechend war man gegen die Fesseln im Wirtschaftsleben, die ein sich mit dem Spätmerkantilismus verbindender Staatszentralismus mit sich brachte. Eine ähnliche Position vertrat, obgleich in einer anderen sozialen Denktradition stehend, auch Camillo Cavour. Reine Reaktionäre, Nostalgiker der organischen Gesellschaft, StändischLiberale, die einen gemäßigten und zensusbezogenen Konstitutionalismus vertraten, föderalistische Republikaner, denen es um die freie Marktwirtschaft zu tun war, die sie als Emanzipations- und Fortschrittsgarantie sahen, als Fixpunkt in der Befreiung der Zivilgesellschaft aus den Klammern des ständischen Sozialgefüges: Die föderalistische Front war breit und vielschichtig. Die Motive des Föderalismus, waren sicherlich unterschiedlich, gemeinsam war aber der Gegenstand ihrer Polemik, nämlich der napoleonische Staat, der beengend Ebd., S. 274. Oe Francesco unterstreicht den starken Antistatalismus des Roveretaners, der der Verteidigung der Kirche gegen jeden absolutistischen Übergriff regalistischer Prägung diente - im Namen einer Liberias ecclesiae stark ständischen Zuschnitts.
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wirkte, wenn er von lokalen einheimischen Dynastien geleitet wurde, der sogar erstickend sein konnte, wenn er in der Hand ausländischer Dynastien lag und mit der Zwangseingliederung einer italienischen Region in einen ethnisch gemischten Staatsverband einherging, wie im Falle der Lombardei und Venetiens im Habsburgerreich. Von Mazzini abgesehen - der Genuese war jedoch weit eher ein Vertreter der Einheit denn des Zentralismus -, schien der zentralistische Weg noch mitten in den fünfziger Jahren nur bei den Intellektuellen und Politikern des Südens glaubwürdig zu sein. Sie lebten in einer derart zerl'allenen, in primäre soziale Netze aufgelösten Gesellschaft, daß sie sich nur von einer kontinuierlich wirkenden Zentralgewalt, die an Leistungsfähigkeit der des napoleonischmuratianischen Reichs nahe kam, Emanzipationschancen erwarten konnten. Angestrebt wurde in 'diesem Fall ein auf das südliche Italien beschränkter, aber nach außen mit dem übrigen Italien föderalisierter Zentralismus, denn Italien galt weiterhin als unterteilt in geopolitische Zonen, entsprechend der Auffassung der natürlichen zentrifugalen Bestimmung der Halbinsel 10 . Warum entschied man sich dann für den Zentralismus? Warum war man für den Unitarismus anstatt für den Föderalismus, wo doch die sozial und politisch bestimmenden Schichten und Repräsentanten des Risorgimento - die Lombarden Casati, jacini, Cattaneo, die Toskaner Capponi, Ricasoli, Montanelli, die Piemontesen Balbo, Gioberti, die Sizilianer Scialoja, Amari und die Emilianer Farini, Minghetti11 - die Kombination von Unabhängigkeit und Föderalismus der Kombination von Einheit und Zentralismus vorzogen? In der Vergangenheit hat die Historiographie in dem Bemühen, eine überzeugende Antwort darauf zu geben, vor allem auf die Probleme der öffentlichen Ordnung und Sicherheit hingewiesen: Die herrschenden Schichten des Nordens und Zentralitaliens sahen sich mit einem desorganisierten Süden konfrontiert, mit dem Fehlen einer zivilen Ordnung und der Verbreitung des Brigantentums. Dem neuen Nationalstaat fehlte die moralische und ideologische Anerkennung verschiedener seiner Teile. Infolge seiner Verdammung durch den Papst verweigerten beträchtliche Teile der sozialen Eliten die Mitwirkung in den öffentlichen Einrichtungen. Im Süden der Halbinsel bestand eine diffuse Loyalität gegenüber den Bourbonen fort. International war der Staat keineswegs allgemein anerkannt. Im Zeichen des Ausnahmezustandes zeichnete sich ein Zusammenhang ab zwischen dem Primat der Innenpolitik und dem Primat der Außenpolitik als den bestimmenden Faktoren einer sowohl unitarischen als auch föderalistischen Lösung, die scheinbar im Widerspruch steht zu den erwähnten Idealen des Risorgimento. In geringerem Maße ist auf einige nicht zu unterschätzende 10
Ebd., S. 305 ff.
Zur anhaltenden autonomistischen Tendenz fast aller zitierter Personen in den ersten Jahren nach der Einheit vgl. R. Romane/li, Centralismo e autonomie, in: R. Romane/li (Hrsg.), Storia dello Stato, S. 125-186, hier S. 132. 11
Zentralismus und Föderalismus in Italien
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Gegengewichte zum Zentralismus hingewiesen worden, die die These einer (angesichts der Voraussetzungen unerklärlichen) Kontinuität in Bezug auf das französisch-napoleonische Verfassungsmodell als wenig ergiebig erscheinen lassen. Gerade diese Gegengewichte sollen im Mittelpunkt der abschließenden Überlegungen stehen. Das Anfang des Jahrhunderts verbreitete napoleonische Muster des Zentralismus war eine rein verwaltungstechnische Struktur, d.h. es wurde realisiert durch eine kohärente, effiziente und im großen und ganzen nicht komrollierbare Exekutivgewalt. Es wurde symbolisch und praktisch repräsentiert durch die Präfekten und die Departements, die für eine Einebnung lokaler Besonderheiten und traditioneller Räume standen. Diese hatten gegenüber der Exekutivgewalt kein Mitspracherecht. Das auf das Königreich Italien übertragene Verfassungsmodell Savoyen-Piemonts war nicht nur, was den bürokratischen Zentralismus angeht, technisch weniger effizient als das französisch-napoleonische 12 , sondern auch gekennzeichnet durch die Stellung des Parlaments - eine Besonderheit, die es grundlegend von den vorhergehenden vorunitarischen Modellen unterschied -, d.h. durch die Bedeutung, die dem Gesetzgebungsorgan eingeräumt wurde. Obgleich es durch die Exekutive beschränkt war13, bündelte das Parlament faktisch im Zentrum den diffusen, überall in Italien verbreiteten lokalen und klientelistischen Föderalismus. In den 1850er Jahren begannen die führenden liberalen Schichten des Risorgimento sich mit wachsender Sympathie Piemont zuzuwenden, das nun als möglicher italienischer Garant einer oppositionellen Bewegung galt, die sich im wesentlichen allerdings die Unabhängigkeit und nicht die Einheit zum Ziel nahm. Die Verbindung mit Piemont schien in den Augen der Liberalen die Möglichkeit zu bieten, die von dem Zentralismus der vorunitarischen Regierungen im Wege der Verwaltungsmonarchie unterdrückten lokalen Interessen besser zu unterstützen. War das piemontesische Parlament mit seiner zensusbedingten Zusammensetzung und seinem starken adeligen Anteil nicht die beste Instanz, um bruchlos überzuleiten von einem traditionellen selbstbezogenen Munizipalismus zu einem moderneren Verfassungsliberalismus, auf der Grundlage der Anhindung lokalistisch-föderaler Instanzen an das Zentrum? Von dort aus konnte man sicherlich leicht mit einer Exekutive verhandeln, deren bürokratische Struktur Effizienz gewährleisten sollte14 . Kurz: Zusammen
12 Vgl. ebd., S. 138 die punktuelle Beschreibung der wichtigsten Unterschiede sowie G. Melis, L'amministrazione, in: R. Romanelli (Hrsg.), Storia dello stato, S. 187251 es. 195).
13
Vgl. A.M. Banti, Storia della borghesia italiana, Bd. I, Rom 1996.
Zur Bestätigung dieser Interpretation, auf der Grundlage einer punktuellen Untersuchung des Denkens Cavours in den fünfziger Jahren vgl. A. De Francesco, Ideologie e movimenti politici, S. 317-320. Vgl. auch im selben Band M. Meriggi, Societa. istituzioni e ceti dirigenti, S. 119-228. 14
4 lanz u. a.
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Marco Meriggi
mit dem zentralistischen Exekutivstaat erhielten die von den vorunitarischen Staaten zum geeinten Italien übergegangenen Führungsschichten auch den föderalen Gesetzgebungsstaat Er entsprach am besten dem diffusen historischen Lokalismus oder Munizipalismus, den die postunitarische Entwicklung als Erbe der vielfältigen mittelalterlichen und neuzeitlichen Tradition in Italien bewahren sollte 15 . Nur unter dieser Bedingung war die institutionelle Entscheidung für den Zentralismus und Unitarismus möglich. Die Neuordnung der internationalen Ordnung zusammen mit den Rissen in der öffentlichen Ordnung und im moralischen Zusammenhalt im Innem verunmöglichten die Verwirklichung sowohl eines Minimalstaats als auch eines Bundesstaats. Das erzwang die Verabschiedung von einer überwiegend rückwärts gewandten Vorstellungswelt Immerhin konnte man wenigstens auf der Ebene der Mitbestimmungsinstitutionen den Einfluß und die Macht auszugleichen versuchen, die man auf der Ebene der Exekutive verlor. Den Schlüssel zur Interpretation der Orientierungen des gesamten gemäßigt-liberalen Italien lieferten die Überlegungen, die der Sizilianer La Farina Ende der fünfziger Jahre zur Rechtfertigung des kurz vorher geschlossenen Abkommens zwischen den sizilianischen Liberalen und dem Piemont Cavaurs anstellte . •Wenn Piemont zum Regieren gemacht ist, so ist Sizilien mehr zur Freiheit geeignet, so daß man sagen kann, daß die beiden Provinzen sich gegenseitig ergänzen und zusammen das Kühnste und Expansivste darstellen, das in Italien gefunden werden kann" 16.
Indem sie die Freiheit mit der Regierung, den Föderalismus des Geistes mit dem Zentralismus der Vernunft verband, erzielte die sizilianische Nation inzwischen das positive Ergebnis der Befreiung von der neapolitanischen Herrschaft, d.h. von einem Zentralismus, der als unbegrenzte Vorherrschaft der Exekutive verstanden wurde und den, vom Königreich Sardinien abgesehen, in den fünfziger Jahren noch alle vorunitarischen Staaten hinzunehmen hatten. Und in den darauffolgenden Jahren verstanden auch die Wahlföderalisten wie die Lombarden (sowohl die aristokratischen als auch die bürgerlichen), die Toskaner und die Emilianer, daß die unitarische Lösung in den Repräsentationsorganen die Ausübung eines Föderalismus ermöglichte, der in den regionalen oder lokalen Parlamentiergruppierungen seine natürliche Repräsentation fand. Bedeutete nicht das Fehlen nationaler Parteien und, im Zusammenhang damit, die große Verbreitung regionaler Gruppierungen in den Parlamenten des liberalen Italien - zunächst in Turin, dann in Florenz, schließlich in Rom -, daß dem italienischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts das schwierige Kunststück gelungen war, vor allem notabilär-föderal zu bleiben und gleichzeitig scheinbar unitarisch-zentralistisch zu werden? 15 Überzeugende Beobachtungen in diesem Sinn bei P Pombeni, La rappresentanza politica, in: R. Romane/li (Hrsg.), Storia dello Stato, S. 73-124, hier S. 88. 16 Zitiert bei A. De Francesco, Ideologie e movimenti politici, S. 330.
Der deutsche Weg zum Nationalstaat im Lichte des Föderalismus-Problems Von Otto Dann
I.
Nach dem definitiven Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation im Jahre 1806 war es völlig offen, wie die Zukunft Deutschlands und seiner Völker aussehen könnte. Auf deren Gestaltung einzuwirken, wurde zu einer Herausforderung für alle beteiligten Kräfte. Es ging um das Projekt einer nationalen Staatsbildung: Diese mögliche Perspektive stand allen Beteiligten mehr oder weniger vor Augen - auch den europäischen Zeitgenossen, die den Vorgang mit einem Interesse verfolgten, das sich selbst dem rückblickenden Historiker noch vermittelt. Dabei ging es nicht zuletzt um die Frage, welche institutionelle Form des Nationalstaats sich in der längst staatlich organisierten Landschaft Mitteleuropas verwirklichen ließe. Gab es überhaupt eine Alternative zu dem unitarisch-zentralstaatlichen Modell, das seit Napoleon im politischen Denken Europas dominant geworden war? Zunächst ist hier die Ausgangslage zu analysieren. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts überwogen die Zweifel, ob Deutschland überhaupt noch die Chance habe, ein souveräner Staat zu werden. Dem zu Ende gehenden Reich hatten beinahe alle Kriterien eines Nationalstaates gefehlt. In seinem Rahmen hatten die deutschen Fürstenstaaten ein immer stärkeres Eigengewicht entwickelt, und seit dem Aufstieg Preußens existierten zwei deutsche Großmächte. In Mitteleuropa hatten sich schon seit Jahrhunderten mehrere politische Zentren ausgebildet. Andererseits war die Nationsbildung innerhalb der deutschsprachigen Reichsbevölkerung nicht mehr zu übersehen: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war sie so weit fortgeschritten, daß Friedrich Schiller anläßlich des Friedens von Luneville, der den Zerfall des Reiches einleitete, notieren konnte: .Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge ... Die Majestät des Deutschen ruhte nie auf dem Haupt seiner Fürsten" 1• Die Nation, die Schiller hier F Schiller, Sämtliche Werke, Bd. I, München 1965, S. 473. Die folgenden An· merkungen bringen lediglich die Nachweise der zitierten Aussagen und gelegentlich einen Hinweis auf Spezialliteratur. Für den Argumentationszusammenhang sei verwiesen auf: 0 . Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland. 1770-1990, 3. erw. Aufl., München 1996, Kap. 3-5. 4*
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Otto Dann
von dem Reich der Fürsten abgrenzt, umfaßte die nationalbewußten deutschsprachigen Bildungsschichten. Sie rekrutierten sich aus verschiedenen sozialen Herkunftmilieus: dem Adel, den Akademikern, den Beamten, dem modernen Bürgertum, den gebildeten Frauen und zunehmend auch aus emanzipierten deutschsprachigen Juden. Die im 18. Jahrhundert standardisierte deutsche Schriftsprache ermöglichte diesen Schichten, sich als ein lesendes Publikum zu konstituieren. Es umfaßte etwa drei der achtzehn Millionen deutschsprachiger Bevölkerung im Heiligen Römischen Reich. Mehr oder weniger waren sie durch die Aufklärungsbewegung mobilisiert worden und seit 1789 durch die Französische Revolution politisch besonders herausgefordert. Ihrem reichspatriotischen Engagement aber war seit 1797 die Basis entzogen. Sie waren daher offen für neue politische Orientierungen, und offen war auch die Frage, in welcher Richtung die große Mehrheit der Bevölkerung, die noch nicht nationalbewußt war, sich orientieren würde. Der regierende Adel in Deutschland hatte sich weitgehend in die bildungsbürgerliche Kulturbewegung integriert, politisch aber war er von eigenen Interessen geleitet. Er war zwar der politische Träger des Reiches, an dessen Staatsbildung aber war er nicht mehr interessiert. Das Heilige Römische Reich war zudem als Rahmen für die deutsche Nationsbildung zunehmend problematisch geworden. Seine Bevölkerung bestand nicht nur aus Deutschen, sie hatte einen multiethnischen Charakter, und neben den Deutschen erlebten auch andere Völker einen nationalen Aufbruch. Das Ende des Reiches war demnach nicht der Zusammenbruch eines Nationalstaates. Die Grenzen eines künftigen deutschen Nationalstaates waren durch das Reich keineswegs vorgegeben. Auch hier bestand eine offene Frage, die sich nach 1806 sofort stellte. In dem Lied .Was ist des Deutschen Vaterland?" wurde sie von Ernst Moritz Arndt auch in ihren problematischen Dimensionen zum Ausdruck gebracht. Trotz einer fortgeschrittenen Nationsbildung der reichsdeutschen Bevölkerung war also hinsichtlich ihrer politischen Konstituierung als Staatsbürgernation noch vieles offen: das nationale Staatsgebiet, der Umfang der Staatsnation und nicht zuletzt deren politische Verfassung. Dieser Ungewißheit einer nationalen Staatsbildung stand die Situation in den deutschen Einzelstaaten gegenüber: Das Staatsgebiet, das Staatsvolk und die politischen Institutionen waren hier klar definiert, die Nationsbildung jedoch war eine offene Frage. Die Realisierung von Nationalstaaten stand seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa auf der Tagesordnung der Geschichte. Mit dem Konzept der Staatsbürgernation und dessen Durchsetzung in den Patriotenbewegungen war seit Ende des 18. Jahrhunderts im europäischen Kulturkreis eine neue, intensivierte Phase moderner Staatsbildung eingeleitet, nachdem bereits im frühneuzeitlichen Europa einige Staaten, in denen sich die Adelskultur als dominante Landeskultur durchsetzen konnte, zu Nationalstaaten geworden waren. Die Gründung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, vor allem
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aber die nationale Revolution in Frankreich hatten hier eine Signalwirkung auf alle sich emanzipierenden Gesellschaften. Im Verlaufe der modernen Staatsbildung hatten sich bereits seit dem 16. Jahrhundert in Europa zwei Strukturmodelle herausgebildet: 1. Ein Zentralismus setzte sich in den Staaten durch, in denen ein starkes Königtum, von Adelsgesellschaft und dem Beamtenturn unterstützt, die Staatsbildung in die Hand genommen hatte. Hier wurde die Residenzstadt des Fürsten das politische Zentrum, von dem aus das Land verwaltet und gestaltet wurde. Beispielhaft war Frankreich, wo die zentralisierende Tendenz des bourbonischen Absolutismus seit 1789 von der regierenden Staatsbürgernation aufgegriffen und intensiviert wurde. 2. Ein Föderalismus hatte sich in den Ländern durchgesetzt, in denen der moderne Staat durch einen Zusammenschluß von Republiken mit eigener politischer Selbstverwaltung entstanden war. Hier war der Nationalstaat eine Föderation, die vor allem durch gemeinsame Außeninteressen zusammengehalten wurde. In diesen Staaten bildete sich keine dominante Regierungsstadt aus; die nationalen Funktionen waren schwach entwickelt. Die Republik der Vereinigten Niederlande galt im alten Europa als das besondere Beispiel eines nationalen Bundes, und neben der Schweizer Eidgenossenschaft wurde auch das Heilige Römische Reich als eine Föderation bezeichnet. Seit der Entstehung der Vereinigten Staaten von Nordamerika existierte im abendländischen Kulturkreis dann auch ein moderner föderaler Nationalstaat. Hier wurde nach der Konstituierung von Einzelstaaten durch deren föderalen Zusammenschluß im Zuge einer gemeinsamen Verfassungsgebung der nationale Bundesstaat geschaffen. Mit den beiden modernen Nationalstaaten, die sich im späten 18. Jahrhundert durchgesetzt hatten, stand sowohl für den zentralstaatlichen wie für den föderalen Typus ein Modell zur Verfügung. Im kontinentalen Europa war sodann mit der hegemonialen Expansion des republikanischen und des napoleonischen Frankreich der Zentralstaat zum favorisierten Modell geworden. Es war ein bedeutsames Ereignis, daß im Jahre 1815 die alte Republik der Vereinigten Niederlande monarchisch-zentralistisch umgestaltet wurde. Die im 19. Jahrhundert neuerrichteten Nationalstaaten in Belgien, in Griechenland und in Italien waren stark vom französischen Modell geprägt, und auch in der Schweiz vollzog sich zwischen 1848 und 1874 eine zentralisierende Umgestaltung der Eidgenossenschaft. Gegenüber diesem dominanten Typus der nationalen Staatsbildung beobachten wir heute in Europa eine zunehmende Tendenz des Abbaus von zentralstaatlichen Strukturen. Die regionalen Autonomiebewegungen in den west-und südeuropäischen Staaten haben allgemein zu einer Kritik des Zentralismus geführt. Die aktuelle politische Entwicklung in Europa steht unverkennbar im Zeichen des Föderalismus.
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In der folgenden Abhandlung soll die Alternative von Föderalismus versus Zentralismus im Mittelpunkt eines Rückblickes auf die nationale Staatsbildung in Deutschland stehen. Die Perspektiven eines Staatenbundes waren hier das zentrale Thema des politischen Diskurses. Bis zur Revolution von 1848 konnte die nationale Staatsbildung nur als Projekt diskutiert werden; erst mit der Reichsverfassung von 1849 existierte eine konkrete verfassungsrechtliche Orientierung. Somit stehen verschiedene Konzepte eines Nationalstaats der Deutschen im Mittelpunkt der folgenden Abhandlung. Welche Modelle und Leitbegriffe waren hier vorherrschend? Bei einer solchen Untersuchung dürfen die politischen Verfassungsstrukturen nicht außer acht gelassen werden, ebenso wie der Vergleich zu anderen europäischen Gesellschaften, die sich auf dem Weg zu einem Nationalstaat befanden. Den politischen Entwicklungen folgend, sind zunächst die um 1800 existierenden Formen der Staatlichkeil in Deutschland ins Auge zu fassen (II.), sodann das im Jahre 1815 realisierte Modell eines nationalen Staatenbundes (111.). Dem standen die Staatsmodelle gegenüber, die unter dem Begriff des Reiches von der nationalen Bewegung verfolgt wurden (IV.), seit den 1830er Jahren sogar in revolutionärer Zuspitzung (V.). Schließlich ist ein Blick zu werfen auf das von Bismarck durchgesetzte Verfassungsmodell des zweiten Deutschen Reiches (VI.).
n. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Heilige Römische Reich zu Ende ging, wurde deutlich, welch eine entwickelte Kultur moderner Staatsbildung in Deutschland existierte. Mit der Auflösung der Reichsinstitutionen war keineswegs eine Gefährdung der politischen Ordnungsverhältnisse verbunden. Diese waren seit langem durch die Territorialherrschaft in den Einzelstaaten etabliert und entwickelt. Die einschneidenden Veränderungen der politischen Landkarte, bedingt durch die Kriege mit Frankreich, führten jedoch zu politischen Herausforderungen und gesellschaftlichen Problemen. Sie wurden innovativ angegangen von den deutschen Regierungen, die versuchten, die neuen Gebiete und Bevölkerungen in die bestehenden politischen Strukturen zu integrieren. Dies konnte gelingen, weil die meisten dieser Fürstenstaaten zu einer durchgreifenden Modernisierung ihres politischen Systems bereit waren. In den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kam es auf vielen Gebieten des öffentlichen Lebens zu einschneidenden Reformen, in denen die altständische Gesellschaft nicht revolutionär beseitigt, vielmehr evolutionär verändert wurde. In einem Prozeß der "defensiven Modernisierung" (HansUlrich Wehler) gelang es, das fürstenstaatliche System zu erhalten, neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen zu eröffnen und die Regierungsverfassung zu modernisieren. Die deutschen Fürstenstaaten vollzogen zu Beginn des Jahrhunderts nicht nur eine Modernisierung der politischen Verwaltung, sondern auch den Über-
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gang zum Konstitutionalismus. Die Mehrheit der regierenden Fürsten band sich an eine Verfassung, an ein Grundgesetz über die politischen Institutionen: Die konstitutionelle Monarchie wurde zur charakteristischen Verfassungsform, außer in Österreich und Preußen. In diesem Zusammenhang war auch die Einrichtung eines Parlamentes als Verfassungsorgan vorgesehen; das Staatsvolk bekam damit einen eigenen Repräsentanten und ein Sprachrohr, wenn auch noch keine politische Mitbestimmung. Im Lichte des Föderalismus-Problems bleibt für die Struktur dieser Staatsreformen festzuhalten: Sie führte durchweg zu einer Stärkung der Regierung. Die Residenzstadt wurde nun für alle Schichten des Volkes zu einer wirklichen Hauptstadt. Sie war der Sitz der Zentralinstitutionen und im Zuge der Modernisierung der Infrastruktur (Wegenetz, Eisenbahnbau) konnte sie zum Zentralort ausgebaut werden. Die Hauptstädte der Fürstenstaaten waren nicht nur Residenz- und Regierungsorte sowie der Sitz des Parlamentes. Sie wurden für alle interessierten Schichten zu dem Ort, an dem die zentralen Institutionen des öffentlichen Lebens angesiedelt waren, neben den politischen auch die kulturellen: Theater, Oper und Museen, Hochschulen und Bibliotheken, Zoologische und Botanische Gärten. Somit konnte ein Zentralismus der modernisierten Staatlichkeit und des öffentlichen Lebens und häufig auch der wirtschaftlichen Modemisierung, zum Charakteristikum der deutschen Einzelstaaten im 19. Jahrhundert werden. Durch die kleinräumigen Verhältnisse wurde er naturgemäß begünstigt. Nur in extrem peripheren Regionen von größeren Staaten entstanden Entwicklungsprobleme, z.B. in der bayerischen Pfalz oder in den preußischen Westprovinzen. Die zentralisierende Tendenz in den deutschen Einzelstaaten eröffnete auch für die politische Identitätsbildung neue Dimensionen: die Perspektive einer einzelstaatlichen Nationsbildung. Nach 1806 konnte sich in diesen Staaten im Zusammenhang ihrer Modernisierung und ihres Konstitutionalismus ein eigenständiger Verfassungspatriotismus entwickeln. Damit bleibt festzuhalten: Die Zentralstaatlichkeit war in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine etablierte politische Realität. Sie bildete die Grundlage für die Stärke der Landeskultur in den Einzelstaaten und wurde begünstigt durch Modernisierungsprozesse im öffentlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß nicht nur in Deutschland die monarchische Verfassung eine Tendenz zum Zentralstaat besonders begünstigte. Bereits in der frühen Neuzeit war das Königtum durch seine Residenzbildung, die Ausschaltung der Mittelgewalten und den Ausbau eines staatlichen Verwaltungssystems ein starker Motor des Zentralismus. Es ist kein Zufall, daß im 19. Jahrhundert überall in Europa die Monarchie als Normalform eines modernen Staates angesehen wurde. Alle neu entstehenden Nationalstaaten konstituierten sich damals als eine Monarchie, obwohl nationalbürgerliche Schichten die führende Kraft darstellten. Von Griechenland im Jahre 1830 über Belgien, Italien und Rumänien bis zu Norwegen im Jahre
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1905: Für den neu gegründeten Nationalstaat wurde stets ein König gesucht und - häufig in Deutschland - auch gefunden. Für die nationale Entwicklung in Deutschland ergab sich aus dieser Konstellation ein besonderes Problem. Hier war in alter Tradition die monarchische Verfassung in den Einzelstaaten präsent. Es gab daher eine Frage, die die deutsche Nationalbewegung zusätzlich belastete: Welche Staatsform sollte der Nationalstaat haben? Zwei Begriffe standen im Mittelpunkt der nationalpolitischen Diskussion: der Bund und das Reich.
m. Nach dem Sieg über die napoleonische Herrschaft (Erster Pariser Frieden im Mai 1814) war die Verfassungsfrage das wichtigste politische Thema in Deutschland. In den Jahren 1814 und 1815 beteiligten sich neben den Regierungen auch andere politische Kräfte an dieser Diskussion. Im Oktober 1814 hatten die in vielen Regionen stattfindenden Gedächtnisfeiern an die große Leipziger Schlacht vor einem Jahr deutlich gemacht, wie stark sich ein Nationalbewußtsein in der Bevölkerung verbreitet und intensiviert hatte. Die nationale Verfassungsfrage hatte nun eine erhöhte Dringlichkeit. Es war nicht nur die Minderheit der aktiven Patriotenkreise, die von den Regierungen eine Lösung erwartete. Zu eigenständigen nationalpolitischen Projekten jedoch waren die nationalbewußten Bevölkerungsschichten im damaligen Deutschland noch nicht in der Lage. Das erwachende politische Engagement konzentrierte sich auf die Verfassungsbewegung in den Einzelstaaten. Im Hinblick auf eine nationale Verfassung setzte man auf das Handeln der Fürsten, die in Deutschland von jeher für die Reichsangelegenheiten zuständig waren und denen man im Kampf gegen Napoleon weitgehend auch gefolgt war. Die seit dem Oktober 1814 in Wien versammelten Fürsten waren nicht zuletzt auf dem Hintergrund dieser Erwartungen zu einer Lösung der deutschen Verfassungsfrage verpflichtet. Schon in den vorbereitenden Gesprächen stand das Problem im Mittelpunkt und beherrschte sodann den gesamten Kongreß. Die Vorschläge und Verhandlungen zu diesem Punkt kreisten um den Begriff des Bundes, und es war ein Deutscher Bund, der im Juni 1815 schließlich konstituiert wurde. Die Konzentration auf den verfassungsrechtlich neuen Begriff des Bundes bedeutete eine bewußte Distanzierung von dem Begriff des Reiches, der bisher im Zentrum stand. Nur noch am Rande, etwa im Vorschlag des oranischen Kongreßdelegierten, ein "Reich deutscher Nationen" zu errichten, wurde der Reichsbegriff auf dem Kongreß gebraucht. (Bemerkenswert ist die pluralische Verwendung des Nationsbegriffs.) Auch der Vorschlag, ein Kaisertum wieder zu errichten, wurde von der Mehrheit der Teilnehmer abgelehnt. Der Freiherr vom Stein hatte die Schaffung eines deutschen Kaisertums propagiert, verband seinen Vorschlag jedoch mit der Verwendung des Bundesbegriffs.
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Die Verwendung des Begriffs des Bundes brachte zum Ausdruck, daß die Fürsten lediglich einen föderativen nationalen Dachverband im Auge hatten. Der Bundesbegriff hatte in der Reichsgeschichte erst eine kurze Tradition 2• In der Phase des Zerfalls des Reiches im späten 18. Jahrhundert entstand ein Deutscher Fürstenbund als die Interessenvereinigung einiger Reichsfürsten zur Abwehr politischer Gefahren. Im Jahre 1795 propagierte der Königsherger Philosoph Immanuel Kant einen "Föderalismus freier Staaten" und stellte damit die Idee eines Staatenbundes zur Friedenswahrung in Mitteleuropa zur Diskussion3. Unmittelbar nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches entstand der Rheinbund (Confederation) deutscher Fürsten - die erste staatsrechtliche Verwendung des Bundesbegriffs im deutschen Raum. Durch die gleichzeitige Allianz der Bundesmitglieder mit dem Empire Napoleons, war der Rheinbund in seinem förderativen Charakter problematisch. Doch die föderale Idee wirkte weiter: Im Jahre 1807 faßten Preußen und Rußland in ihrem Vertrag von Bartenstein unter dem Stichwort "Federation Constitutionelle" einen Bund deutscher Fürsten ins Auge; der für den Fürsten Metternich arbeitende Friedrich Gentz verfaßte 1808 in Wien eine Denkschrift "Grundlinien einer deutschen Föderativ-Verfassung". Mit dem Pariser Frieden vom Mai 1814 begann die konkrete Umsetzung dieser föderalen Projekte. Im sechsten Artikel des Friedensvertrags wurde festgehalten: "Les etats de l'Allemagne seront independants et unies par un Iien federatif" 4• Dieser Artikel war eine wichtige Vorgabe für die Verhandlungen in Wien. Der mit der Bundesakte vom Juni 1815 konstituierte Deutsche Bund wurde erst in der Wiener Schlußakte von 1820 definiert als ein "völkerrechtlicher Verein": "eine Gemeinschaft selbständiger, unter sich unabhängiger Staaten", die nach außen "eine in politischer Einheit verbundene GesamtMacht" darstellen sollte. Diese Einheit präsentierte sich in der Bundesversammlung der Delegierten der Mitgliedsstaaten sowie in der Vereinbarung einer gemeinsamen Verteidigung gegenüber Angriffen von außen. Die Grenzziehung des Deutschen Bundes jedoch, die sich an die Grenzen des Reichs anlehnte, machte deutlich, wie stark man noch in dessen Rahmenvorstellungen lebte. Die Bundesmitglieder vereinbarten eine Anerkennung der personalen Fluktuation ihrer Staatsangehörigen, und so hofften viele auf einen "die Nationalität sichernden Staatenbund", wie es der badische Delegierte Graf Buol zum Ausdruck brachte. Es kam jedoch nach 1816 nicht zu einem Ausbau des Deutschen Bundes in dieser Richtung. Das bekamen zuerst die gesellschaftlichen Kräfte zu spüZum Folgenden vgl. in erster Linie R. Kose/leck, Art. Bund, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 642 ff. Vgl. I. Kant, Zum Ewigen Frieden, B 27 ff. Siehe hierzu R. Kose/leck, Art. Bund, S. 658 f., ebd. auch die folgenden Zitate.
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ren, die die nationale Grundidee des Bundes aufgreifen und an sie anknüpfen wollten: die Studenten an den Universitäten, die als ,Burschenschaft' einen eigenen Bundestag als nationales Parlament der Studenten einrichten wollten, oder Friedrich List, der beim Deutschen Bund um die Zulassung eines Deutschen Handels- und Gewerbevereins nachsuchte. Es waren daher nationale Initiativen außerhalb der Bundesinstitutionen, die die föderale Idee dann weiterentwickelten, z.B. eine Initiativgruppe von Patrioten in der preußischen Regierung, die 1833 den Deutschen Zollverein durchsetzen konnten. Das Grundprinzip dieses Vereins, der nicht alle Staaten des Bundes umfaßte, war die Gleichberechtigung der Mitglieder. Auf diesem Fundament konnte der Zollverein "die Heimat der Idee der Einheit" im vormärzliehen Deutschland werden. Im Revolutionsjahr 1849 kam die Regierung in Preußen auf jene nationale Bundesidee zurück und versuchte, mit dem sogenannten Erfurter Unionsplan den national-föderalen Impuls des Revolutionsjahres fortzusetzen. Der Deutsche Bund sollte zu einer Deutschen Union, einem Staatenbund mit Österreich, umgewandelt werden und daneben ein kleindeutscher Bundesstaat ohne Österreich, aber mit einem Nationalparlament entstehen. Die Österreichische Regierung konnte den preußischen Unionsplan im Jahre 1850 torpedieren. Im Jahre 1863 jedoch unternahm sie selbst einen letzten Versuch zur Rettung des Deutschen Bundes als Föderation von Fürstenstaaten. An der föderalen Grundstruktur des Bundes als ,Staaten-Verein' sollte festgehalten werden, gegenüber den parlamentarisch-konstitutionellen Reformvorschlägen der Nationalbewegung aber erklärte man: "Einrichtungen, wie eine einheitliche Spitze oder ein aus direkten Volkswahlen hervorgehendes Parlament passen nicht für diesen Verein, sie widerstreben seiner Natur" 5 . Otto von Bismarck, seit einem Jahr preußischer Ministerpräsident, hatte jedoch erkannt, daß mit einem Beharren auf der "Natur" des Staatenbundes die politischen Probleme in Deutschland nicht gelöst werden konnten; er benutzte das Gewicht der preußischen Monarchie dazu, um den Deutschen Bund endgültig zu sprengen. Damit hatte sich jener "Ewige Bund", wie sich der Deutsche Bund bezeichnete, als eine vergängliche Institution erwiesen. Sein Föderalismus war von Anfang an problematisch. Die ungleiche Mitsprache der Bundesmitglieder, vor allem das Übergewicht und die Geheimpolitik der Großmächte Österreich und Preußen, waren zentrale Konstruktionsfehler. Die Gleichberechtigung der Mitglieder, das Grundprinzip eines echten Föderalismus, wurde hier mißachtet. Der Deutsche Zollverein stand demgegenüber auf einem besseren Fundament; er blieb über das Ende des Deutschen Bundes hinaus erhalten, konnte sich national reformieren und diente in den Jahren nach 1866 als eine exemplarische Institution im Übergang zum Nationalstaat. Wichtigster Grund des Scheiteros des Deutschen Bundes war seine Frontstellung gegenüber der nationalen Bewegung. Im Zuge dieser Grundhaltung Ebd, S. 667.
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wurden bereits im Zusammenhang der Karlsbader Beschlüsse von 1819 sowohl der Zweck wie auch der Charakter des Bundes wesentlich verändert. Im Mittelpunkt stand nun nicht mehr der nationale Zusammenhalt, sondern die Sicherung der fürstenstaatlichen Herrschaft und Unabhängigkeit. Die wichtigen politischen Entscheidungen wurden nicht mehr in der Bundesversammlung getroffen, sondern in bilateralen Verhandlungen zwischen den Großmächten außerhalb der Bundesinstitutionen. Diese verfassungspolitische Entwicklung führte dazu, daß der Begriff und das Modell des Bundes innerhalb der Nationalbewegung schon bald an Ansehen verlor, obwohl deren kompromißbereite Kräfte sich wiederholt um eine Anknüpfung bemühten, z.B. durch den Antrag des badischen Abgeordneten Bassermann im Februar 1848, neben dem Bundestag der Fürsten eine Repräsentation des Volkes einzurichten. Innerhalb der Nationalbewegung war man auf der Suche nach einem alternativen Verfassungsmodell für den erhofften Nationalstaat. Schon im Jahre 1825 bezeichnete Friedrich von Gagern die Anhänger des Deutschen Bundes als die "Servilen", und er unterschied innerhalb derer, die sich für einen deutschen Nationalstaat engagierten, zwischen "Unitariern", die einen unitarisch-zentralistischen Staat favorisierten, und "Föderalisten", die zu einem nationalen Bundesstaat tendierten. Auch unter den Gegnern des Deutschen Bundes war also weiterhin das föderale Modell im Spiel. Im Vorfeld der Revolution von 1848 prognostizierte der liberale Schriftsteller Paul Achatius Pfizer im Jahre 1846 sogar eine Kombination des unitarischen mit dem föderalen Modell als mögliche Lösung der nationalen Staatsbildung in Deutschland: .,Die heutige Gestaltung der deutschen Verhältnisse scheint auf eine staatsrechtlich-nationale Verbindung mit Preußen und eine föderalistisch-völkerrechtliche mit den germanischen Nachbarstaaten und mit Österreich hinzuweisen" 6 .
IV.
Im Mittelpunkt der verfassungspolitischen Vorstellungen in der deutschen Nationalbewegung, die sich in Opposition zum Bund der Fürsten befand, stand von Anfang an der Begriff des Reiches. Die Fürsten, die das Heilige Römische Reich repräsentiert und getragen hatten, ließen mit dessen Ende im Jahre 1806 auch den Reichsbegriff fallen und griffen ihn im Jahre 1815 bei ihrer Bundesgründung nicht wieder auf. Nachdem die Fürsten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert immer wieder zu erkennen gegeben hatten, daß sie an einer Reform des Reiches nicht interessiert waren, wurde der Reichsbegriff von den Anhängern der bürgerlichen Nationalbewegung in den Jahren nach 1806 bekenntnishaft aufgegriffen, oft in betonter Abgrenzung von den Fürsten.
Ebd , S. 661 f.
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"Wir wollen das Wort nicht brechen und Buben werden gleich, wollen predigen und sprechen vom Kaiser und vom Reich!". So dichtete konfessorisch der junge Max von Schenkendorf. Ein Bekenntnis zu dem alten nationalen Verfassungsbegriff findet man sowohl bei dem Protestanten Friedrich Ludwig Jahn wie auch bei dem Katholiken Joseph Görres. Dieser ließ die Losung "Kaiser und Reich" auf das Titelblatt seines "Rheinischen Merkur" setzen. Welche Vorstellungen und Forderungen verbanden sich mit dieser betonten Verwendung des Reichsbegriffs? Eine Restauration des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation wurde von keinem gewünscht. "Die Wiederherstellung der ehemaligen Reichsverfassung ist unmöglich", erklärte der Freiherr vom Stein bereits in seiner Denkschrift vom 17. September 1812. Sein eigenes Festhalten am Reichsbegriff war hingegen verbunden mit einem Blick in das Mittelalter: "Könnte ich aber einen Zustand wieder aus der Vergangenheit hervorrufen, so wäre es der unter unseren großen Kaisern des 10. bis 13. Jahrhunderts, welche die deutsche Verfassung durch ihren Wink zusammenhielten"8. Nicht nur der ehemalige Reichsfreiherr blickte so ins Mittelalter zurück, die neu gegründeten Burschenschaften erklärten im Artikel 12 ihrer "Grundsätze und Beschlüsse": "Die Sehnsucht nach Kaiser und Reich bleibt ungeschwächt in der Brust jedes deutschen Mannes und Jünglings, solange es eine Erinnerung an eine schönere Zeit geben wird" 9. Auch das Barbarossa-Gedicht von Friedrich Rückert, das in diesen Jahren entstand und sofort populär wurde, ist ein Ausdruck dieser verbreiteten Orientierung. Das Kaiserreich des Mittelalters, das bleibt bemerkenswert, wurde nicht in seinen ursprünglichen Strukturen zurückgewünscht, sondern als ein zentral regierter Staat - in den Worten Steins: "Ein kräftiger Staat; er bestand aus einem zahlreichen Adel von verschiedenen Klassen, aus Geistlichkeit, aus vielen kleinen Freien - aber selbst der größte war Kaiser und Reich untertan, und auch der kleinste Freie stand unmittelbar unter diesem" 10• Außerdem galt jenes Reich als ein deutscher Staat; sein vornationaler, multiethnischer Charakter wurde durchweg übersehen. Der Reichsbegriff der deutschen Nationalbewegung, auf das Mittelalter orientiert, war geprägt von einer starken Aktualisierung: sowohl einer Nationalisierung wie auch einer Verstaatlichung im modernen Sinne. Stein bezeichnete sein nationaldeutsches Reichsideal als "das Wünschenswerte, aber nicht das Ausführbare". Es war in der Tat ein großes Problem, wie Bei E. Fehrenbach, An. Reich, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, S. 490.
s.
Deutsche Verfassungspläne 1812-1815, hrsg. von M . Botzenhart, Stuttgart 1972, 8.
E. Fehrenbach, An. Reich. 10
Deutsche Verfassungspläne, S. 8 und 10.
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ein Reich als Nationalstaat im nachnapoleonischen Mitteleuropa zu verwirklichen war. Es gab dafür kein überzeugendes Modell; das zeigen die Bemühungen des Freiherrn vom Stein auf dem Wiener Kongreß. Das Reich blieb ein Perspektivbegriff der deutschen Patrioten für den erhofften Nationalstaat nach europäischem Muster. Er konnte in den Jahren um 1815 nicht als ein alternatives Verfassungsmodell zum Deutschen Bund konkretisiert werden. Nur in einem Punkte wird dieser Begriff politisch greifbar: in der damals aktuellen Forderung nach einer parlamentarischen Repräsentation des deutschen Volkes. "Wir beschränken uns hier" -so war am 7. Mai 1815 im Rheinischen Merkur zu lesen 11 - "einen Mangel der vorgeschlagenen Bundes-Verfassung zu zeigen, den Mangel einer allgemeinen, deutschen National-Repräsentation". Der anonyme Verfasser fragt: .Deutschland, das gemeinsame Vaterland, soll nach dem Plane der Bundesverfassung nur von einer Versammlung seiner Fürsten regiert werden, ohne daß das deutsche Volk durch Stellvertreter an der Bestimmung seiner Schicksale teilnehmen dürfte. Warum dieses? Haben unsere einzelnen Regierungen sich etwa so patriotisch erzeigt, daß in ihren Händen das Wohl des Ganzen von jeder Seite gesichert wäre? ... Ihr Fürsten, hört auf unser Wort! Gebt außer den Landständen uns auch Reichsstände. Laßt uns ein Volk und ein Staat werden, stark durch den Gemeingeist, der uns alle belebt; laßt uns nicht in unzählige kleine Reiche zerfallen. Das Volk aber erhebe seine Stimme laut und verkünde, was es sehnlich wünscht und was es zu fordern berechtigt ist".
Ähnliche Stimmen lassen sich in den Jahren 1814 bis 1816 mehrfach nachweisen. Die in den Einzelstaaten verbreitete konstitutionelle Bewegung wurde hier auf die nationale Ebene übertragen und dabei der Reichsbegriff in Anspruch genommen. Die Forderung nach Reichsständen, nach einer nationalen Volksrepräsentation, war als eine institutionelle Ergänzung zum Verfassungssystem des Deutschen Bundes gedacht. Für ein solches produktives Weiterdenken der Bundesverfassung war jedoch schon bald kein politischer Spielraum mehr gegeben. Im Bunde mit der restaurativen preußischen Regierung blockierte Metternich sowohl die föderale Weiterentwicklung des Deutschen Bundes wie auch den Konstitutionalismus in den deutschen Staaten. Die Kräfte und Gruppen der nationalen Bewegung wurden verfolgt und in den Untergrund gedrängt. Hier aber entstanden neue Vorstellungen von einem Nationalstaat, denen nicht mehr das kooperative Modell einer Zusammenarbeit von Fürsten und Volk zugrunde lag und die nicht mehr an die Institutionen des Deutschen Bundes anknüpfen wollten. Es waren alternative Konzepte, getragen von einer demokratischen Grundtendenz. Die verfassungspolitische Bewegung im Um-· feld der französischen Juli-Revolution von 1830, in der erstmals wieder an die Revolution von 1789 angeknüpft wurde, bildete den inspirierenden Hintergrund. Im "Hessischen Landboten", der bekanntesten deutschsprachigen Flug-
II
Ebd., S. 67 f.
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schrift jener Jahre, verfaßt von Georg Büchner im Rahmen eines politischen Geheimbundes, heißt es: "Deutschland, das jetzt die Fürsten schinden, wird als ein Freistaat mit einer vom Volk gewählten Obrigkeit wieder auferstehen ... Gott der Herr hat das Reich zu Trümmern gehen lassen, um es zu einem Freistaat zu verjüngen". Der Freistaat, d.h. die Republik, war hier das leitende Konzept für ein neues Reich 12 •
V.
Schon das untergegangene Heilige Römische Reich wurde als Republik bezeichnet; denn in ihm war die politische Souveränität nicht in einer einzigen Institution konzentriert, sie wurde - wie in einer Bürgerrepublik - von gleichberechtigten Ständen ·getragen. Die Verfassungsform der Republik war überhaupt eng mit dem Begriff des Föderalismus verbunden; es waren nichtmonarchische Staaten, bürgerlich geprägte Republiken, die in der frühen Neuzeit als Modelle föderaler Staaten präsent waren: die Schweizer Eidgenossenschaft, die Republik der Vereinigten Niederlande und auf der Basis moderner demokratischer Grundprinzipien schließlich die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Im Zusammenhang der Französischen Revolution aber war sogar ein zentralistischer Nationalstaat im Rahmen seiner demokratischen Umgestaltung zu einer Republik geworden. Damit waren für das verfassungspolitische Denken in Europa neue Perspektiven eröffnet. Immanuel Kant hat sie bereits 1795 in seiner Schrift "Zum Ewigen Frieden" ausgezeichnet und neue Anregungen für die weitere verfassungspolitische Entwicklung daraus abgeleitet, die große Beachtung fanden. Für eine gerechte, einen dauerhaften Frieden ermöglichende Staatsverfassung sei ,Republikanismus' eine notwendige Voraussetzung. Darunter verstand Kant die Durchsetzung des Rechtsstaates auf der Basis der Menschenrechte, politisch gesichert durch eine wirksame Repräsentation des Volkes. Eine solche demokratisierende Entwicklung hielt Kant auch innerhalb von Monarchien für möglich. Er plädierte außerdem für den Föderalismus als Prinzip internationaler Zusammenarbeit, konkretisiert im Projekt eines ,Völkerbundes', d.h. eines Bundes von Staaten, in denen die Völker Grundlage einer Repräsentativverfassung sind. Kant harre diese Gedanken nicht in einem nationalpolitischen Zusammenhang entwickelt; sie gewannen jedoch für die verfassungspolitische Diskussion in Deutschland nach 1806 große Bedeutung, da hier mit den Perspektivbegriffen des Republikanismus und des Föderalismus die Erfahrungen mit den ersten Staatsbürgernationen fruchtbar gemacht wurden. Der Philosoph Fichte, der Kants Gedanken zuerst kommentierend aufgegriffen hatte, entwickelte 1813, im Jahr der nationalen Befreiung, seine Staatslehre als eine "Lehre von der Errichtung des Reiches", das er als ein "Vernunft12 W Mager, Art. Republik, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, S. 629; zum Folgenden ebd., S. 595 ff.
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reich" verstand. Er nahm den Reichsbegriff auf und verband ihn mit dem republikanisch-menschenrechtliehen Programm Kants. Friedrich Schleiermacher, der führende protestantische Theologe, beteiligte sich 1814 an der deutschen Verfassungsdebatte mit einem Vortrag in der preußischen Akademie; er entwickelte hier den ,föderativen Staat' als eine nationale Perspektive und verstand ihn als "Republik der höheren Ordnung", in der sich die "Einheit des Volkes" als politischer Souverän durch eine "repräsentative Versammlung von Abgeordneten der einzelnen Staaten" darstellen sollte 13 . Damit befand er sich im Einklang mit den zeitgenössischen Forderungen nach Reichsständen als Nationalparlament14 • Der württembergische Liberale Pfizer argumentierte noch 1832 in dieser Linie, wenn er "die föderativ-republikanischen Elemente Deutschlands" als die zentrale Perspektive der nationalen Entwicklung festhielt Im Jahre 1832 aber war der verfassungspolitische Diskurs innerhalb der nationalen Bewegung bereits weitergegangen. Auf dem Harnbacher Fest ging es um die .Organisation eines deutschen Reiches im demokratischen Sinne" (Wirth), und Jakob Siebenpfeiffer hielt "die Repräsentativ-Republik für die einzige Staatsform, die einem größeren Volk, das seine Würde fühlt, geziemt, für die alleinige, die heute möglich"15 . Mit diesem Konzept einer demokratischen Republik, die nach dem Vorbild der französischen Republik von 1792 zumeist als unitarisch gedacht wurde, war innerhalb der deutschen Nationalbewegung ein Modell für den erhofften Nationalstaat vorhanden, das eine radikale Alternative zum Deutschen Bund darstellte. Die zweite französische Republikgründung im Februar 1848 beflügelte daher die deutschen Demokraten, auch in ihrer Revolution des gleichen Jahres das Verfassungsmodell der Republik zu proklamieren. "Ganz Deutschland wird zu einer einigen, unteilbaren Republik", so die abschließende Forderung im Programm des Bundes der Kommunisten, und der aus dem Exil zurückkehrende Ferdinand Freiligrath dichtete: .Die Republik, die Republik! Wohlan denn, Rhein und Eibe ... ". Es waren allen voran die Demokratischen Vereine, die eine unitarische Republik im ersten Impuls der Revolution auf ihre Fahnen schrieben. Ein Beschluß des ersten nationalen Demokratenkongresses vom Juni 1848 lautet: "Es gibt nur eine für das deutsche Volk haltbare Verfassung, die demokratische Republik, d.h. eine Verfassung, in welcher die Gesamtheit die Verantwortlichkeit für die Freiheit und Wohlfahrt des einzelnen übernimmt". Nur in einer Republik sei "die Einheit des deutschen Volkes" wirklich gewahrt. Dementsprechend wurden in der Faulskirehe von den demokratischen Abgeordneten auch Vorschläge zu einer politischen Gebietsreform gemacht, die ähnlich wie im Frankreich des Jahres 1790 die Vereinheitlichung des nationalen Territoriums gewährleisten sollte.
13
R. Kose/leck, Bund, S. 660.
14
Vgl. oben, S. 61.
15
E. Fehrenbach, Art. Reich S. 494, und W Mager, Art. Republik, S. 629 f. ; das
Folgende S. 634 ff.
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Eine Deutsche Republik war bereits zu Beginn der April-Revolution von Friedrich Hecker in Konstanz proklamiert worden, als vom Südwesten her Deutschland revolutionär umgestaltet werden sollte. Dieser Versuch wurde schon bald in der Rheinebene bei Waghäusel zusammengeschossen, und seitdem war die Republik im deutschen Bürgertum das Stichwort für einen revolutionären Umsturz. "Die Frage konstitutionelle Monarchie oder Republik heißt bei uns soviel: ob wir Reform oder Umsturz wollen", schrieb David Friedrich Strauß im April 1848 in der Schwäbischen Chronik, und im Juni 1848 konnte Friedrich Dahlmann im Bericht des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung festhalten, "daß die überwiegend große Mehrzahl unseres Volkes der Monarchie anhängt, wovon die Folge, daß die Republik allein durch blutigen Bürgerkrieg und auf dem Wege langer Anarchie auf deutschem Boden errichtet werden könnte". Damit war die Republik als demokratisches Modell eines deutschen Nationalstaats für den weiteren Verlauf der Revolution als unpopulär ausgeschieden; auch die demokratischen Kräfte wagten seit dem Sommer 1848 nicht mehr, die Staatsform der Republik weiter zu verfolgen. Erst im Jahre 1918 konnte sie in Deutschland wieder als nationales Verfassungsmodell erfolgreich vertreten werden. Die unitarische Tendenz, die sich etwa seit 1832 mit dem Republikanismus verband, war mit diesem jedoch nicht abgebrochen oder desavouiert. Hinzuweisen ist vielmehr darauf, daß die bürgerliche Gesellschaft im vormärzliehen Deutschland bei ihrer Selbstorganisierung weitgehend einheitliche Strukturen und eine zentralisierende Ausrichtung verfolgte. Seit den burschenschaftlichen Organisationsversuchen des Jahres 1818 gab es eine stetige Bemühung um den Aufbau nationaler Zentralinstitutionen, sowohl bei den Berufsverbänden (z.B. Börsenverein der deutschen Buchhändler, Nationalkongresse der Germanisten, später der Volkswirte) wie auch bei gesellschaftlichen Organisationen (Dombau-Zentralverein, nationale Organisierung der Turner, Sänger und Schützen). Ein sprechender Indikator dieser unitarischen Tendenz ist der pejorative Begriff ,Partikularismus', der in den 1840er Jahren in Deutschland aufkam und dann während der Revolution von 1848 eine große Konjunktur hatte. Er wurde verwendet zur Kritik der Kräfte und Tendenzen, die sich gegen die nationale Einheit und eine entsprechende Zentralisierung der Kräfte richteten. Man sprach vom "dynastischen Partikularismus" oder von einem der Nation entgegengesetzten "Stammespartikularismus"; Heinrich von Treitschke setzte den Begriff in den 1860er Jahren sogar weitgehend mit dem des Föderalismus gleich 16 . In der Revolution von 1848 war es die erklärte Absicht des Liberalismus, über den Föderalismus des Deutschen Bundes hinauszugehen. Damit wurde das Reich als Nationalstaat zum allgemeinen Verfassungsbegriff "Wir wollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesamte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung liegen in der Souveränität der Nation", 16 Vgl. /. Veit-Brause, Art. Partikularismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, S. 738-758 zum Gesamtzusammenhang.
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so erklärte Heinrich von Gagern zu Beginn der Verhandlungen in der Paulskirche17. Diese Absicht war jedoch nicht verbunden mit einer Absage an die Einzelstaaten und ihre Fürsten; der Nationalstaat sollte mit den Fürsten verwirklicht werden. Schon im Vorparlament setzte Gagern dem republikanischen Antrag des Demokraten Gustav von Struve das Bekenntnis für die Fürsten entgegen. Man wollte festhalten am föderalen System der Fürstenstaaten, es aber verbinden mit dem unitarischen Prinzip eines Nationalstaats - in den Worten Gagerns: "Daß man dem Prinzip der Monarchie im Staate treu bleibt und zugleich der Notwendigkeit der Durchführung der Einheit huldigt" 18. In diesem Sinne hatte bereits der Siebzehner-Ausschuß in seinem .Entwurf des deutschen Reichsgrundgesetzes" festgelegt: "Die zum bisherigen Deutschen Bund gehörigen Lande bilden fortan ein Reich (Bundesstaat). Die Selbständigkeit der einzelnen deutschen Staaten wird nicht aufgehoben, aber soweit es die Einheit Deutschlands fordert, beschränkt" 19 . Gervinus kommentierte dies in seiner Deutschen Zeitung: "Man fühlte, daß das Wort Reich die Einheit zu ausschließlich ausspreche; die Umwandlung des Staatenbundes in einen Bundesstaat ist allgemein angenommenerweise die Aufgabe; man fügte also diese Bezeichnung zur Verdeutlichung bei. Das, was man sagen wollte, drückte aber das eine Wort ,Bundesreich' in vollständiger Weise aus". Mit dem neuen Begriff des Reiches verband sich also ein bundesstaatlicher Föderalismus, der über den Staatenbund des Deutschen Bundes hinausführen sollte. In welchem Maße dies geschehen konnte, blieb offen und wurde zu einer umstrittenen Frage der praktischen Politik. Hier kam es schon im Juli 1848 mit dem Huldigungs-Erlaß des Reichskriegsministers zu einer brisanten Herausforderung der Fürstensouveränität, und diese konnte sich durchsetzen. Weitere Anlässe sollten folgen. Die Nationalversammlung in Frankfurt hielt am Prinzip der Vereinbarung fest und strebte einen bundesstaatliehen Nationalstaat an. Hier war die Verfassung der USA ein wichtiges Vorbild. Schon im Verfassungsdiskurs des Vormärz hatte Welcker mit Bezug auf die USA erklärt, .die höchste und reichste politische Organisation, die höchste Idee der politischen Verbindung großer Nationen" sei der Bundesstaat20 • Sodann ist darauf hinzuweisen, daß auch in dem demokratisch-unitarischen Antrag Struves im Vorparlament eine Berufung auf die Verfassung der USA enthalten war: .Aufhebung der erblichen Monarchie und Ersetzung derselben durch frei gewählte Parlamente, an deren Spitze frei gewählte Präsidenten stehen, alle vereint in der föderativen Bundesverfassung nach dem Muster der nordamerikanischen Freistaaten"21 • 17 E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 5tuttgart 1965, 5. 621. 18
Ebd., S. 600.
19
R. Kose/leck, Art. Bund, 5. 664; ebd. auch das Folgende.
K.Th . Welcker, Art. Bund, Bundesverfassung etc., in: K. Rotteck I K.Th . Welcker (Hrsg.), Das Staatslexikon, Bd. 3, 1836. 20
21 E.R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 5tuttgart 1976, 5. 271.
5 Janl u. a.
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Mit seiner Ablehnung dieses konsequent republikanischen Modells eines föderalen Nationalstaats geriet der deutsche Liberalismus im Verlaufe der Revolution in zunehmende Schwierigkeiten; denn Preußen verteidigte die Souveränität der Einzelstaaten, und die Österreichischen Abgeordneten plädierten sogar für eine staatenbündische Lösung. Dennoch konnte mit der Reichsverfassung von 1849, auf dem Hintergrund einer Entscheidung für die kleindeutsche Lösung, ein überzeugendes Modell für den föderalen Nationalstaat vorgelegt werden. Bei einer weitgehenden Respektierung der existierenden Staaten, die in der Institution des Staatenhauses verfassungsrechtlich eingebunden wurden, begründete man den Vorrang der Reichsgewalt ( vgl. § 5 der Reichsverfassung). Eine national-unitarische Tendenz ist in dieser Verfassung vor allem durch den starken Grundrechtsteil gegeben, und viele Hoffnungen dieser Richtung verbanden sich mit dem Kaisertum als Reichsoberhaupt Hier jedoch wurde man durch das Verhalten des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. ernüchtert, der bereits im zweiten Halbjahr 1848 zur Gegenrevolution übergegangen war. Nach dem politischen Scheitern des durch die Reichsverfassung vorgegebenen bundesstaatliehen Modells kam es zu den Versuchen der konservativen Großstaaten, einen reformierten Staatenbund zu verwirklichen. In der öffentlichen Meinungsbildung blieb das Problem der nationalen Staatsverfassung damit lebendig. Die Diskussion konzentrierte sich in den 1850er Jahren auf das Modell des Bundesstaates. Außerdem wurde die Idee eines nationalen Doppelbundes, die Pfizer schon 1845 geäußert hatte, in den Planungen der Großmächte weiterverfolgt. Sie lag dem preußischen Unionsplan von 1849/50 zugrunde 22 , dem sich Österreich entgegenstellte (Olmützer Punktation), dann jedoch selbst mit diesem Modell operierte ( vgl. die sechs Punkte des Freiherrn von Bruck)23 • Im Zusammenhang der Dresdner Konferenzen des Jahres 1850 kam es zu einer Wiederherstellung des Deutschen Bundes im alten Gewande. Erst nach dem Wiederaufleben der Nationalbewegung erneuerte Österreich seine Anstrengungen zur nationalen Bundesreform, die mit der Einladung zum Frankfurter Fürstentag 1863 ihren Höhepunkt fanden. Die dort vorgelegten Reformvorstellungen beinhalteten jedoch kein parlamentarisches Zugeständnis an die Nationalbewegung und waren von daher ohne Chance24 • Das erkannte Otto von Bismarck, der darauf seinen preußischen Lösungsweg aufbaute.
VI.
Mit dem Leitbegriff des Reiches, den die deutsche Nationalbewegung dem Bund der Fürsten gegenübergestellt hatte, war ein eindeutiges Modell für den erstrebten Nationalstaat nicht verbunden; das wird im Rückblick deutlich. 22
Vgl. o ben, S. 58.
23
E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 901.
24
Vgl. oben, S. 58.
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Eine wirkliche Alternative zum Föderalismus des Staatenbundes der Fürsten wäre eine unitarisch-zentralstaatliche Republik gewesen. Ein solcher nationaler Einheitsstaat wurde in Deutschland nur von wenigen vertreten, und im damaligen Europa war er vor allem als Erinnerung an die erste französische Republik lebendig. Als im Februar 1848 in Frankreich die Zweite Republik ausgerufen wurde, hat die demokratische Bewegung kurzfristig ihre nationalrevolutionären Hoffnungen für Deutschland auf eine solche unitarische Republik gesetzt. Innerhalb der nationaldemokratischen Bewegung waren die republikanischen Vorstellungen über den Nationalstaat jedoch eher am Föderalismus der nordamerikanischen Freistaaten orientiert. Das Modell eines föderal-republikanischen Nationalstaates, dokumentiert im Antrag Struve des Vorparlaments, wurde in der badischen Aprilrevolution zu verwirklichen versucht; es scheiterte mit deren Zusammenbruch bereits im zweiten Monat der deutschen Revolution. Eine Lösung der nationalen Staatsbildung auf dem Wege eines konsensualen Föderalismus der Fürstenstaaten und der Nationalbewegung war in Umrissen nach der Verabschiedung der Reichsverfassung 1849 vorhanden; sie wurde nochmals im Zusammenhang der Bundesreformbewegung von 1862-63 sichtbar. Konfrontiert mit dem Machtanspruch der deutschen Großmächte, konnten sich diese Ansätze nicht entfalten. Das Reich, der zentrale Staatsbegriff der Nationalbewegung, schien untrennbar verbunden mit der Institution des Kaisertums. In dieser Option kam die monarchische Grundeinstellung der überwiegenden Mehrheit der bürgerlichen Schichten zum Ausdruck. Sie wurde 1848 vom politischen Liberalismus und der Mehrzahl der Fraktionen der Nationalversammlung getragen. Mit dieser Grundeinstellung jedoch konnte die Souveränitätsfrage während der Revolution nicht zugunsten der bürgerlichen Kräfte entschieden werden. Die Nationalbewegung blieb mit ihrem Projekt der Staatsbildung an die Fürsten und deren Konsens gebunden. Dieser jedoch führte 1849-50 nicht über staatenbündische Modelle hinaus. Angesichts der Rivalität der Großmächte und der Aporie in der Österreichischen Frage kam man wieder auf den Deutschen Bund als kleinsten gemeinsamen Nenner zurück. Dennoch blieb ein Deutsches Reich als nationaler Bundesstaat der Staatsbürgernation und der Fürsten das leitende Grundmodell der nach wie vor ungelösten Staatsbildung in Deutschland. Mit der Reichsverfassung von 1849 existierte dafür ein Modell, das von den Fürsten einen nationalen Souveränitätsverzicht verlangte, zu dem deren Mehrheit im Jahre 1849 bereit war, nicht aber die Minderheit der Mächtigen. Eine große Bereitschaft, auf konsensualer Basis einen nationalen Bundesstaat zu realisieren, war in den frühen 1860er Jahren noch einmal vorhanden; hier aber war es Bismarck, der einen Durchbruch in dieser Richtung vereitelte. Die Lösung der nationalen Staatsbildung in Deutschland, die Bismarck seit 1863 in wenigen Jahren so überzeugend durchsetzen konnte, beruhte im Kern darauf, daß er auf den preußischen Staat und seinen bewährten Zentralismus
s•
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zurückgriff und diesen zum Ausgang und Grundbaustein des deutschen Nationalstaates machte. Er verband ihn mit der Institution des nationalen Parlamentes und mit Konzessionen an den Fürstenbund. In dieser Richtung war durch die Reichsverfassung von 1849 vorgearbeitet worden, vor allem aber durch den betonten Unitarismus innerhalb der wiedererstarkten Nationalbewegung seit 1858. Der Deutsche Nationalverein als führender Agitator dieser Bewegung machte sich zum Fürsprecher einer kleindeutschen Lösung: Der preußische Staat sollte mit der ,realpolitischen' Lösung der Nationalstaatsbildung beauftragt werden. In diesem Zusammenhang war der Einheitsstaat so deutlich wie nie bisher innerhalb des nationalen Diskurses das Leitmodell. Heinrich von Treitschke, führender Publizist jener Tendenz, wies den föderalen Bundesstaat nach dem Muster der USA oder der Schweiz für Deutschland als ungeeignet zurück; er verwies auf die Nationalstaatsbildung Italiens, wo man sich soeben an dem französischen Modell des Zentralismus orientiert hatte 25 . Nach dem Sieg über Österreich und seine Verbündeten im Jahre 1866 gelang Bismarck der machtpolitisch entscheidende Schritt: Er nötigte die Mehrheit der deutschen Fürsten anläßlich der Gründung des Norddeutschen Bundes zum nationalen Souveränitätsverzicht So konnte im Jahre 1870 der deutsche Nationalstaat im Sinne der Nationalbewegung als ein Deutsches Reich gegründet werden. Er war staatsrechtlich wiederum ein Bund der Fürsten (institutionalisiert im Bundesrat), dominiert jedoch von den Institutionen des preußischen Einheitsstaates (der preußische Ministerpräsident als Reichskanzler) und verbunden mit den unitarischen Institutionen des Reichstages als Nationalparlament und des Kaisertums, in dem Preußen und das Reich zusammengebunden waren. Bismarck bezeichnete das Kaisertum in seinen Memoiren pointiert als .ein werbendes Element für Einheit und Zentralisation" 26 . Er hatte im übrigen für das Föderalismusproblem in Deutschland während seiner Reichsgründungspolitik stets ein waches Gespür. •Man wird sich in der Form mehr an den Staatenbund halten müssen, diesem aber praktisch die Natur des Bundesstaates geben mit elastischen, unscheinbaren, aber weitgreifenden Ausdrücken. Als Zentralbehörde wird daher nicht ein Ministerium, sondern ein Bundestag fungieren, bei dem wir, wie ich glaube, gute Geschäfte machen ... ", heißt es in seinen Diktaten bei der Ausarbeitung der Verfassung des Norddeutschen Bundes. Auch im Jahre 1870 war er darum bemüht, bei der Formulierung der Reichsverfassung den Begriff des Bundes neben dem des Reiches zu erhalten. Damit war der Verfassung des deutschen Nationalstaates eine Ambivalenz zwischen zentralstaatlichen und föderalen Elementen eingeschrieben, und es blieb für dessen weitere Entwicklung offen, in welcher Richtung er sich zu orientieren habe.
25 H. von Treitscbke, Bundesstaat und Einheitsstaat, in: Historische und politische Aufsätze, Bd. 2, 1870. Vgl. auch Treitschkes Rückblick von 1874: Bund und Reich, ebd. 26 0. von Bismarck, Gesammelte Schriften, Friedrichsruher Ausgabe, Bd. 15, S. 325; das Folgende Bd. 6, S. 168.
Einheitsstaat und Föderalismus in Italien Von Carlo Ghisalberti
In den drei ,jakobinischen' Jahren waren durch die Überhöhung und Verbreitung der französisch-revolutionär geprägten Idee eines geeinten und unteilbaren Italien die Voraussetzungen für einen italienischen Unitarismus geschaffen worden. Gegen Ende der napoleonischen Zeit, als das Land wieder in den politischen Partikularismus zurückzufallen begann, hatte es an Kräften, die auf Einheit drängten, sowohl in unitarischer als auch in föderaler Form, nicht gefehlt. Sie wurden durch die Erkenntnis begünstigt, daß der gesamte nationale Raum, trotz der unterschiedlichen Verfassungsordnungen, in die das napoleonische Regime ihn unterteilt hatte, eine im großen und ganzen einheitliche Gesetzgebung und Verwaltung besessen hatte, die den übergeordneten Zusammenschluß der italienischen Staaten vorwegzunehmen und zu begünstigen schien. In der Episode Murat, die im "Proclama di Rimini" im Frühjahr 1815 kulminierte, die der noch junge Pellegrino Rossi als Manifest der nationalen Aspirationen des Landes feierte und das kurz darauf Alessandro Manzoni in einem stark patriotisch akzentuierten Gedicht verarbeiten sollte, schien der Unitarismus französischen Zuschnitts die dominante Note zu sein1 • Auf dieses Modell schien sich in starkem Maße auch Gian Domenico Romagnosi im ersten Teil seiner umfangreichen und ziemlich schwerfälligen .Monarchia nazionale rappresentativa", die im selben Jahr erschienen war\ zu beziehen. Eine dazu gegenläufige Position vertrat Angeloni, der sich über den Prestigeverlust dieses Modells in der öffentlichen Meinung, der durch den Fall des napoleonischen Kaiserreichs drohte, im klaren war. In seiner Schrift .Sopra l'ordinamento ehe aver dovrebbero i governi d'Italia", die später einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichen sollte, vertrat er 1814 konföderale oder föderale Lösungsmodelle, um die Einheit des Landes in einer derart schwierigen Lage zu gewährleisten. Angeloni war einer der wenigen, die für die Organisation der Herrschaft und die rechtlich-institutionellen Formen Nordamerikas ein gewisses Interesse aufbrachten. Denn obwohl erste Werke über die VerZum ,jakobinischen' Unitarismus von Pellegrino Rossi vgl. u.a. PE. Schatzmann, P. Rossi et Ia Suisse, Genf 1929; C. Ghisalberti, Pellegrino Rossi e il costitu-
zionalismo della monarchia di luglio, in: Stato e costituzione nel Risorgimento, Mailand 1972, S. 163 ff.; j.P Garnier, Gioacchino Murat re di Napoli, Neapel 1976. Zu Romagnosi vgl. vor allem L. Mannori, Uno Stato per Romagnosi, Bd. 1: Il progetto costituzionale, Mailand 1984.
Carlo Ghisalberti
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einigten Staaten erschienen waren, hatten die meisten von der Verfassungsstruktur Nordamerikas erst eine vage und abstrakte Vorstellung3 . Das erklärt vielleicht zum Teil, warum die föderale Regierungsform jener Republik, der Compagnoni in seiner ziemlich konzeptlosen "Storia d'America" übrigens einige Seiten gewidmet hatte, nicht zum Bezugspunkt in der politischen Debatte in Italien werden konnte, weder in der Restaurationszeit noch in den entscheidenden Jahrzehnten des Risorgimento. Der Einfluß des amerikanischen Modells in Italien blieb äußerst gering. Die Verbindungen zwischen dem unterschiedlich formulierten und motivierten Föderalismus einiger italienischer Politiker und dem Föderalismus der politischen Kultur in den Vereinigten Staaten erwiesen sich mit der Zeit als schwach und künstlich4• Andererseits scheint auch der Schweizer Föderalismus nur in seltenen Fällen ein Modell geworden zu sein. Das Wissen um die großen ethnischen, religiösen, politischen und sozialen Unterschiede, die zwischen Italien und der kleinen Alpenrepublik bestanden, und die schweren Konflikte, die in jenen Jahrzehnten die Schweiz erschütterten und das Zusammenleben der Kantone erschwerten, trübten in Italien das Bild der Eidgenossenschaft. Daß viele italienische Patrioten die Schweiz stark idealisierten, war nicht so sehr auf ihre konföderierte Struktur zurückzuführen, sondern hatte andere Gründe. Da war zum einen der Genf-Mythos. Die Stadt war ein Wallfahrtsort der Freiheit und wegen der Burg von Coppet eine heilige Stätte des modernen Konstitutionalismus; auch der junge Cavour zeigte sich auf seinen ersten Reisen davon beeindruckt5 . Ein zweiter Grund war die Art und Weise, in der in jenem Land die kollektive Freiheit der Bürger praktisch organisiert war und ihre sehr weitgehende Teilhabe an öffentlichen Angelegenheiten6 . Diese Elemente und ihre mythische Überhöhung wurden Gemeingut großer Teile des italienischen Liberalismus, nicht nur jener Ideologen des Föderalismus, die nach dem Scheitern der Revolutionen von 1820-21 und nach der Enttäuschung über die Haltung von Carlo Alberto in Piemont, und des Monarchen in Neapel völlig außer Stande schienen, ein politisch realisierbares Projekt zu vertreten. Durch die Reformen, die nun auch auf Anraten MetterÜber Angeloni vgl. R. De Felice, Angeloni Luigi, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 3, S. 242 ff. Zu seinen Kenntnissen des nordamerikanischen Konstitutionalismus und Föderalismus, die wirklich etwas mangelhaft waren, wie im allgemeinen bei allen Vertretern seiner Generation, vgl. E. Morelli, La costituzione americana e i democratici italiani deii'Ottocento, in: Rassegna storica del risorgimento, 75 (1991), S. 429 ff. Gültig in diesem Zusammenhang die Bewertung von S. Mastel/one, La costituzione degli Stati Uniti d'America e gli uomini del Risorgimento (1820-1860), in: Italia e Stati Uniti nell'eta del Risorgimento e della Guerra Civile, Florenz 1969, S. 261 ff. Zum Thema vgl. auch C. Gbisalberti, Il sistema politico italiano, S. 346 ff. C. Cavour, Diari (1833-1856), hrsg. von A. Bogge, Rom 1991, S. 15 (24. August
1833). 6
Vgl. C. Gbisalberti, Costituzione politica e sistema federale, S. 100-102.
Einheitsstaat und Föderalismus in Italien
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nichs in vielen Staaten Italiens durchgeführt wurden, und vor allem durch die Gonsuite das vom napoleonischen Kaiserreich übernommene Verwaltungssystem vervollständigten und es an einigen Punkten durch gezielte Eingriffe verbesserten, schien der bürokratische Zentralismus leistungsfähiger zu werden. Indem jede Form lokaler Autonomie beschnitten wurde, fielen die Grundlagen weg, auf denen sich in den größeren Staaten eine bescheidene Form von Regionalismus und irgendeine Form von Union oder Assoziation hätte entwickeln können7 . Die Verbreitung des Mazzinianismus in größeren Teilen der öffentlichen Meinung und seiner Einheitsidee, die die revolutionäre Vorstellung einer geeinten und unteilbaren italienischen Republik beschwörte und den Kräften des Risorgimento einen Sinn und eine umfassende Perspektive nationaler Regeneration gab, drängte implizit die damals von ganz wenigen vertretenen föderalistischen Thesen an den Rand. Und obwohl das Programm Mazzinis vielen sektiererisch und extremistisch erschien, war eine Alternative nicht in Sicht, zumindest bis zu den vierziger Jahren, als man sich in den Reihen der Gemäßigten wieder auf eine Verständigung mit den Monarchien zu orientieren begann, die mit den Aufständen von 1820-21 unterbrochen worden war'. Allmählich setzte sich der Eindruck durch, daß ohne die Unterstützung der verschiedenen einzelstaatlichen Dynastien der Einigungsprozeß nicht vorangebracht werden konnte. Dabei war man sich bewußt, daß der Mißerfolg der bisherigen revolutionären Versuche, jenseits ihrer ideologischen Motive und Ausprägungen, vor allem auf die Auseinandersetzung mit den Herrscherhäusern und auf die fehlende Unterstützung der Kreise zurückzuführen war, die mit ihnen auf vielfältige Weise verbunden waren. Deshalb kam es zu einer Neuauflage föderativer Programme, die auf eine Einbindung der verschiedenen Dynastien und der ihnen ergebenen Gruppen bei der Lösung der italienischen Frage setzten. Diese Programme waren natürlich gemäßigt; sie sahen in einer Union und nicht in einem Einheitsstaat das politische Ziel der nationalen Unabhängigkeitsbewegung und sahen das Weiterbestehen der verschiedenen Einzelstaaten und ihrer Monarchen vor, auch die des Papstes, der die Souveränität über Rom und den Kirchenstaat innehatte. Diese Programme wiesen je nach Verfasser individuelle Variationen auf. Sie konnten eine Föderation oder Konföderation verschiedener Verfassungsordnungen vorsehen oder, auch aus militärischen Gründen, die Vorherrschaft eines bestimmten Staates fordern oder aber sie erkannten die besondere Rolle des Papstes an und wiesen ihm die Vorherrschaft zu. In den Augen einiger sollte er Präsident der Union der italienischen Staaten werden. Allen gemeinC. Ghisalberti, Dall'antico regime al 1848, Bari 1974, S. 121 ff. ; A . Scirocco, L'Italia del Risorgimento, Bologna 1990, S. 107 ff. Zu Mazzini und dem Mazzinianismus gibt es eine uferlose Literatur. Vgl. von den jüngsten Arbeiten S. Mastellone, Il progetto politico di Mazzini (Italia-Europa), Florenz 1994; M. Scioscioli, Giuseppe Mazzini. I principi e Ia politica, Neapel 1995.
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sam war die Forderung nach einem politisch-rechtlichen Band, das alle italienischen Einzelstaaten trotz einer tausendjährigen partikularistischen Tradition zusammenschließen sollte. Angesichts der starken Religiosität seiner Theoretiker, die von den Ideen der nationalen Freiheit und Unabhängigkeit zwar beeinflußt, sich doch bewußt waren, daß jede Auseinandersetzung mit der Kirche und dem Papsttum schon wegen des großen Gewichts, das beide in der italienischen Gesellschaft hatten, zu vermeiden war, wurde dieser Föderalismus auch vom liberalen Katholizismus der vierziger Jahre vertreten. Die Bewegung nannte sich neogue!fismo, in Erinnerung an den Kampf, den die italienischen, meist welfisch gesinnten Kommunen im Mittelalter um ihre Autonomie mit der Unterstützung des Papsttums gegen den Kaiser ausgetragen hatten. Die neowelfischen Hoffnungen nährten die Leidenschaften und die Hoffnungen der öffentlichen Meinung. Das steigerte sich noch durch Pius IX., der im Kollektivbewußtsein zu einem Mythos wurde, zum Papst, der Italien und der liberalen Unabhängigkeitsbewegung seinen Segen gab. Diese Hoffnungen erwiesen sich jedoch bald als gegenstandslos, als 1848 der Papst und die anderen Souveräne, auf die sich die Einigung der Nation in dem von Piemont geführten Krieg gegen Österreich stützen sollte, ihre Unterstützung zurückzogen. Der Zusammenbruch der neowelfischen Hoffnungen zog das jähe Ende der föderalistischen Illusionen nach sich, das Scheitern des letzten verzweifelten Versuchs der gemäßigten Kreise, ein Abkommen unter den Souveränen der Einzelstaaten herbeizuführen. Die italienische Revolution hatte deshalb von diesem Augenblick an nur noch unitarische Motivationen und Inhalte9• Einige, unter ihnen nach dem tragischen 15. Mai 1848 in Neapel auch Silvio Spaventa, behaupteten nun, daß jener föderalistische Versuch nur aus taktischen Gründen konzipiert worden sei und daß das Hauptziel des Risorgimento immer nur die Bildung eines unteilbaren italienischen Einheitsstaats auf den Trümmern der Regionalstaaten gewesen sei. Diese Meinung gewann durch die späteren Ereignisse an Glaubwürdigkeit. Die von den Gemäßigten vor 1848 vorgeschlagene Föderation wurde nun lediglich als eine Stufe auf dem Weg zum Endziel der nationalen Einheit gesehen10• Gleichzeitig verloren auch die anderen föderalistischen Ansätze an Boden. Das gilt z.B. für die Vorschläge von Demokraten, die, wie Cattaneo, nicht starr die unitarischen Positionen Mazzinis einnahmen. Es handelte sich um politische Entwürfe, die aus dem Bewußtsein der Vielfalt und der Unterschiede Über den liberalen Katholizismus im allgemeinen und insbesondere den Föderalismus seiner Vertreter vgl. vor allem G. Spadolini, Cattolicesimo e Risorgimento, Florenz 1986 und darüber hinaus natürlich A.C. ]emolo, Chiesa e Stato in Italia negli ultimi cento anni, 2. Aufl., Turin 1963, S. 13 ff. Vgl. nunmehr die interessanten Bemerkungen von G. Aliberti, Nazione e Stato nei federalisti cattolici del risorgimento: Balbo, Taparelli, D'Ondes Reggio, in: Ricerche di Storia sociale e religiosa, 45 0994), S. 127 ff. 10 Vgl. dazu die Rezension von C. Ghisalberli zu: II Nazionale. Giornale quotidiano politico-letterario: 1848, anst. Nachdruck, hrsg. von S. Scarano, mit einer Einführung von E. Garrin, Neapel 1992, in: Clio, 29 (1993), 3, S. 553 ff.
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zwischen den verschiedenen Teilen Italiens heraus entstanden waren. Cattaneo war ein aufmerksamer Erforscher der Besonderheiten seiner Lombardei, die zusammen mit Venedig der Österreichischen Souveränität und Verwaltung und damit einem Regierungssystem unterstand, das auf Gesetzen und Institutionen aufbaute, die sich von den ursprünglich französischen der anderen italienischen Staaten unterschieden. Er hielt diese Vielfalt und diese Unterschiede für nur schwer überwindbar; sie standen für ihn im Widerspruch zu jedem unitarischen Projekt, vor allem wenn dieses auf Piemont setzte. Cattaneos Lebensweg und geistige Prägung führten ihn zu einer Bewunderung existierender föderaler Staaten, die er mehr als jeder anderer untersucht hatte: die Vereinigten Staaten und, mehr noch, die Schweizer Eidgenossenschaft. Hier hatte er viele Jahre lang gelebt und in Lugano unterrichtet und hob die Schweiz daher stets als positives Gegenbeispiel zu den zentralistischen Modellen französischer Prägung hervor. Sein politisches Engagement, das zum Zeitpunkt des Mailänder Aufstands von 1848, an dem er maßgeblich beteiligt war, deutlich hervortrat, bewog ihn, die Angliederung seiner Region an Piemont zu bekämpfen und für die Autonomie der Lombardei einzutreten. Aus demselben Grund stellte er später die Richtlinien und die Mittel, mit denen zwischen 1859 und 1861 die staatliche Einigung Italiens herbeigeführt wurde11 , in Frage. Es ist bekannt, daß diese föderalistischen Tendenzen, deren Hauptvertreter Cattaneo und seine Nachahmer waren, zum Zeitpunkt der Einheit isoliert blieben. Die politische Initiative der gemäßigten Liberalen stützte sich auf das Königreich Sardinien, die einzige Macht, die nach dem Scheitern der neowelfischen Illusion einer Union italienischer Staaten das Ziel der nationalen Unabhängigkeit und Freiheit verfolgte. Diese Kraft gewann die Oberhand und führte schrittweise und kontinuierlich den Prozeß des Risorgimento einer monarchischen und unitarischen Lösung zu. Die subalpine Monarchie griff auf die revolutionäre Idee eines einheitlichen und unteilbaren Italien zurück und übernahm ihre wesentlichen Inhalte, die auch dank der Tätigkeit der .Societa Nazionale" in weiten Kreisen verbreitet waren. Auf diese Weise gelang es ihr, als Vollstreckerio der Ziele des italienischen Liberalismus, der nach den beiden ,schrecklichen' Jahren 1848-49 alle Hoffnungen in sie gesetzt hatte, die Bildung des neuen Staats zu vollenden. Gerade wegen dieses Rückgriffs auf die revolutionäre Konzeption glaubten einige, jene Monarchie als ,jakobinisch' bezeichnen zu können. Aus der Idee eines einheitlichen und unteilbaren Italien ging auf fast natürliche Weise die Zentralisierung der Verwaltung hervor. Sie war von großem Nutzen, weil sie erstens den politischen Traditionen der meisten Gebiete Italiens entsprach und zweitens, weil sie den Kräften, die das Risorgimento vollendet hatten, die Kontrolle des Landes sicherte gegen jede Auflösungsgefahr, die dem neuen Staat durch den nostalgischen und klerikalen Konservativismus drohte, und drittens schließlich, weil sie den Italienern in den unterschiedli11 C. Ghisalberti, 11 federalismo di Carlo Cattaneo ed il modello elvetico, in: Modelli costituzionali e Stato risorgimentale, Rom 1987, S. 107 ff.
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chen Regionen einen Begriff von der effektiven Präsenz des neuen Staats mit seinen Organen, Ämtern und Beamten vermittelte. Auf diese Weise wurde das französisch-napoleonische Verwaltungsmodell wieder aufgegriffen, das überdies von der italienischen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts als das effizienteste und funktionalste bezeichnet wurde. Der gemäßigte Liberalismus griff bei der Bildung der neuen Staatsordnung in breitem Maße darauf zurück. Für Politiker und Juristen war es vollkommen vereinbar mit den konstitutionellen Grundlagen, auf denen der Staat aufbaute, und entsprach vollkommen den damals von der deutschen Rechtskultur formulierten Postulaten des Rechtsstaats. Die wenigen und kaum ausgearbeiteten regionalistischen Ansätze, die vor der Einheit formuliert und durch Farini und Minghetti in Gesetzesvorschläge umgesetzt wurden und heute von Politikern und Historikern oft als Alternative zu dem sich damals durchsetzenden Zentralismus betrachtet werden, hatten trotz ihrer äußerst gemäßigten Form keinen Erfolg. Man war nämlich der Meinung, daß das Präfekturwesen den Erfordernissen einer Nation, deren innerer Zusammenhalt noch schwach war und die von äußeren Feinden bedroht war, besser entsprach. Ferner glaubte man, daß für Liberalismus oder Demokratie der Grad der Zentralisierung nicht entscheidend sei. Den wesentlichen Grundzug von Liberalismus und Demokratie sah man nämlich in der Wahl der Abgeordneten durch die Bürger und der Regierungen durch das Parlament und nicht im Verwaltungstypus der lokalen Einrichtungen. Nicht zufällig wurde unterstrichen, daß es in der Geschichte absolutistische Staaten mit breit ausgestalteten lokalen Autonomien wie das Österreichische Kaiserreich vor dem Verfassungserlaß ebenso gegeben habe wie liberale Staaten mit einer vollkommen zentralisierten Verwaltung wie Frankreich nach der Revolution. Aber auch ganz abgesehen von den Argumenten, die die von Rattazzi und Lamarmora zwischen 1859 und 1865 durchgesetzte Zentralisierung abstützten und rechtfertigten, hatten in Italien nach der Einheit die im Risorgimento unterlegene föderalistische Option wie die der Dezentralisierung nur äußerst geringes Gewicht. Die Regierungen der "Destra Storica" erarbeiteten zwar einige Vorschläge und Gesetzesinitiativen zur Abmilderung der Zentralisierung. Und die nach der Machtergreifung der Linken 1876 von Depretis geführten Regierungen weckten in einigen Teilen der öffentlichen Meinung Hoffnungen auf eine größere Autonomie der lokalen Einrichtungen, aufgrund des Versprechens, das der Ministerpräsident in der bekannten Rede von Stradella vor seiner Machtübernahme abgegeben hatte. Keine der beiden Richtungen veränderte jedoch die bislang verfolgte zentralistische Politik. Dies auch aus der vielfach begründeten Befürchtung, daß die katholische und die noch in den Anfängen stehende sozialistische Opposition die Kontrolle über die Provinzen und die Gemeinden erlangen und den Staat schwächen könnten. Auch Crispis Reformen der Gemeinde- und Provinzverwaltung und der Verwaltungsjustiz stellten sich als eine Vervollständigung und Vervollkommnung des bei der Einigung begründeten Staats und nicht als der Beginn eines
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alternativen Modells zum Zentralismus dar. Für die konservative, von Crispis Nachfolger Di Rudinl theoretisierte und geplante Dezentralisierung gilt dies jedoch nicht. Sie begünstigte implizit die Rückgabe der lokalen Herrschaft an die Agraroligarchien, die der liberalen Politik der Regierenden nach der Einigung wenig Sympathie entgegenbrachten 12 . In einer rückständigen Gesellschaft, wie sie Italien Ende des 19. Jahrhunderts war, hätte die Schwächung der Zentralgewalt einen Rollen- und Prestigeverlust der zahlenmäßig schwachen liberalen Elite zugunsten der konservativen und reaktionären Kräfte bedeutet, denn die Vertreter des entstehenden Sozialismus waren in keiner Weise in der Lage, die Regierung und die Verwaltung zu führen. Sie bekämpften erbittert die Politik des aus dem Risorgimento hervorgegangen Staats, die ihrer Meinung nach die Interessen der breiten Schichten nicht berücksichtigte und ohne soziale Inhalte war. Darin unterstützte sie zuweilen die katholische Opposition, die darüber hinaus durch völlige Intransigenz gegenüber dem laizistischen und auf Säkularisierung drängenden Liberalismus gekennzeichnet war, der u.a. die weltliche Herrschaft der Päpste beseitigt hatte. Die katholische Opposition war daran interessiert, die im Zuge der Zentralisierung verweigerte lokale Autonomie einzufordern. Die massive Präsenz der Kirche im ganzen Land und die starke territoriale Verwurzelung der katholischen Organisationen hätte die ,welfische' oder, wenn man so will, ,weiße' Eroberung der peripheren Verwaltungen ermöglicht und damit eine Tendenzwende in der italienischen Politik eingeleitet. Die Konsolidierung des liberalen Staats nach der Krise am Ende des 19. Jahrhunderts und der Ermordung des Königs milderten die Spannungen und die Auseinandersetzungen ab und begrenzten sie auf ein erträgliches Maß. Die Zeit Giolittis stellte den Höhepunkt dieser Entwicklung dar: Es kommt zu einem Ausbau der öffentlichen Verwaltung, einer Konsolidierung des Einheitsstaats und einer Beteiligung breiterer Schichten am öffentlichen Leben und an den lokalen Einrichtungen durch die Erweiterung des Wahlrechts, die Erweiterung kommunaler Kompetenzen und die Einführung der Ad-hoc-Referenda. Die autonomistischen Kräfte in den verschiedenen Teilen des Landes waren in diesen Jahren nicht zahlreich und schwach. Selbst der sizilianische Regionalismus, der sich immer wieder bemerkbar machte, schien nur geringe Bedeutung zu haben. Er ersehnte einerseits die alte und aus der Sicht der adeligen Schichten privilegierte Stellung der Insel zurück und trat andererseits für eine andere Verwaltungsform als die von den Präfekten geleitete Provinzverwaltung ein, denn diese glich die Verwaltung Siziliens der der anderen Regionen an 13 . 12 C. Ghisalberti, Accentramento e decentramento nell'esperienza italiana, in: Modelli costituzionali, S. 147 ff. 13 C. Ghisalberti, Per una storia dell'autonomismo siciliano, in: Clio, 29 0993), S.
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Die Region als potentielle oder auch nur hypothetische Verwaltungseinheit wurde nicht übermäßig ernst genommen, denn ihre historische Konsistenz und ihre effektive politische Rolle waren nur schwer nachzuweisen. Für den kontinentalen Süden war es in der Tat problematisch, ihre Existenz zu behaupten. Dort stammte nämlich der einzige historisch überlieferte Verwaltungskreis, die Provinz, direkt von den alten normannischen giustizierati ab; die Einheit des Reichs hatte dort niemals andere Strukturen zugelassen. Auch die territorialen Grenzen und die grundlegenden Merkmale der Regionen des Kirchenstaats konnten nur schwer definiert werden. Seine unterschiedlichen territorialen Gebiete, die mit der Zeit mehr schlecht als recht zusammengefügt und chaotisch verwaltet worden waren, konnten keine klaren Grundzüge ausprägen, die als ,regional' hätten definiert werden können. Auch für andere Teile Italiens war das Modell ,Region' nicht brauchbar, mit Ausnahme vielleicht der Toskana nach dem Untergang der Stadtstaaten und der Einigung unter den späten Medici und dem Haus Lothringen. Eine weitere Ausnahme ist die Lombardei, die im Gefolge Cattaneos als unitarische Einheit dargestellt wurde, deren Teile aber nur schwer miteinander verschränkt werden konnten, weil sie vorgeformt waren durch das Gefüge und die Geschichte der Territorien der Gonzaga oder der lange Venedig unterworfenen Gebiete, die nur wenige Berührungspunkte mit den anderen traditionell um Mailand kreisenden Territorien hatten. Die Darstellung und Konstruktion einer Geschichte Italiens als Geschichte der Städte und der um sie kreisenden Provinzen war deshalb einfacher; vor allem seit die Städte allmählich aber kontinuierlich seit der Revolutionszeit und der napoleonischen Ära zu Hauptorten, zu Verwaltungs- und Kulturzentren eines umliegenden wirtschaftlichen und sozialen Raums geworden waren, der die Stadt für eine ganze Reihe zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Beziehungen als notwendig empfand. Die wachsende Bedeutung der Provinz und der Stadt, die der Provinz Bedeutung und Gewicht gab und auf institutioneller und administrativer Ebene eine immer wichtigere Rolle spielte, hatte sich im Bewußtsein niedergeschlagen. Der Staat und die politische Klasse hatten diese Bedeutung erkannt; beide bedienten sich der Stadt und ihrer Verwaltung als Knotenpunkte des öffentlichen Lebens, vor allem in der Zeit Giolittis, in der der liberale Staat seinen Höhepunkt erreichte 14 • Daß diese Konzeption des öffentlichen Lebens und der Staatsorganisation, die beide auf der Provinz und den Präfekturen beruhten, im großen und ganzen richtig war, bewiesen im Ersten Weltkrieg das Durchhaltevermögen und der Zusammenhalt des Landes. Die Potentiale des Zentralismus wurden damals voll ausgenutzt, und sie bewiesen dabei die Funktionalität und Effizienz,
14 Über die Ursprünge von alldem vgl. C. Ghisalberti, La citta come centro amministrativo tra giacobinismo rivoluzionario ed autoritarismo napoleonico in Italia. Aspetti e problemi, in: V Conti (Hrsg.), Le ideologie della citta europea dall'Umanesimo al romanticismo, Florenz 1992.
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die sie auch vorher angesichts außergewöhnlicher, die Zivilgesellschaft stark belastender Umstände gezeigt hatten. Als nach Kriegsende wieder, vor allem von katholischer Seite, regionalistische Forderungen erhoben wurden, wobei man diesmal auf die Erfahrungen in den ,befreiten Gebieten' verweisen konnte, bestätigte das Land im wesentlichen seinen Zentralismus. Aufgewertet wurden lediglich Rolle und Funktion der Provinz im Zusammenhang mit einer Verwaltungsordnung, die noch den aus französisch-napoleonischer Zeit stammenden Richtlinien folgte, die die "Destra Storica" bei der Einigung festgelegt hatte. Ein Beobachter vom Niveau Gioacchino Volpes, der für die damals formulierten Reformansätze offen war, rechtfertige im Grunde die innere Struktur dieser Ordnung, als er 1921 schrieb: ,Jeder institutionelle Umbau ist nur dann nützlich, wenn er zu einem stärkeren Zusammenhalt der gesellschaftlichen Kräfte führt, einer höheren politischen Bildung der Gemeinschaft und der Führungsschichten, einem ausgeprägteren Sinn für das Allgemeinwohl, einem größeren Arbeitswillen und einer Bereitschaft, den eigenen Lebensstandard gewissen allgemeinen Bedingungen der nationalen oder internationalen Wirtschaft anzupassen".
Und im Zusammenhang mit dem immer wiederkehrenden Vorschlag, die Region in diese Ordnung einzubringen, erinnert er daran, "daß der Eintritt neuer Kinder in die italienische Familie, der Eintritt des Trentino sowie von Jstrien mit Triest, die tatsächlich reich sind an robustem Leben und gesunden regionalen Organen, stimulierend gewirkt hat. Es liegt an uns, daß es sich dabei nicht um eines der üblichen Rezepte handelt, die morgen von anderen Rezepten verdrängt werden, sondern um eine fruchtbare Idee mit nützlichen Resultaten für die italienische Nation, für eine stärkere Koordinierung ihrer Kräfte, für eine festere Einheit" 15.
Das Hauptanliegen, so scheint es, blieb weiterhin die Verteidigung und die Verstärkung des unitarischen Nexus, den das Risorgimento geschaffen hatte und den auch ein sicherlich nicht konservativer Ideen verdächtiger Historiker wie Salvemini positiv hervorgehoben hatte, weil er den Zentralismus als die einzige für Italien mögliche Lösung betrachtete 16. Angesichts der Tatsache, daß in der liberalen Zeit wenig Raum war für regionalistische Tendenzen, überrascht es kaum, daß für die föderalistischen überhaupt kein Platz war, obgleich in der Rechtskultur und in der politischen Sprache der Rekurs auf Begriffe und Termini des Schweizer und vor allem des amerikanischen Föderalismus in wachsendem Maße üblich wurde. Die Inhalte dieses ausländischen Föderalismus und die Substanz seiner Institutionen blieben jedoch weiterhin fremd und vollkommen außerhalb der italienischen Erfahrung und Perspektive. Deshalb kann zum Abschluß unserer Ausführungen die Einschätzung Croces noch Gültigkeit beanspruchen. Er hatte in seiner "Storia d'Italia da! 1871 al·
15 G. Volpe, Unita e regionalismo, in: La sera, 10. März 1921, später in: L'Jtalia ehe fu, Mailand 1961, S. 266 ff. 16 G. Salvemini, Carlo Cattaneo, in: Opere, Bd. 2: Scritti sul risorgimento, hrsg. von P Pieri I C. Pischedda, Mailand 1961, S. 429 ff.
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1915" bei der Erörterung dieser Fragen zusammenfassend darauf hingewiesen, daß .,man in Italien viel von Verwaltungsautonomie und von der Selbstverwaltung nach englischem oder amerikanischem Vorbild sprach, und es schien, als ob man hier unsererseits einen großen Mangel sah und gleichzeitig große Hoffnungen hegte. Aber der Historiker muß sagen, daß, wären diese Institutionen nötig gewesen, Italien sie sich geschaffen hätte, und die Forderungen und Vorschläge wären nicht, wie geschehen, gelobt und ungehört geblieben, weil sie einem bereits angelaufenen Prozeß zur Hilfe gekommen wären" 17
Diese Behauptung ist auch heute nur schwer zu widerlegen. Sie regt in ihrer extrem klaren Formulierung zum Nachdenken an über die allzu zahlreichen Prozesse, die dem Staat des Risorgimento noch heute von denen gemacht werden, die in. Unkenntnis der italienischen Geschichte die Grundzüge unserer unitarischen Verfassungsordnung ändern wollen und dabei alternative Modelle vorschlagen, die das Land, wie es wiederholt gezeigt hat, nicht akzeptiert.
17
B. Croce, Storia d'Italia dal 1871 al 1914, 12. Aufl., Bari 1959, S. 25-26.
Föderalismus und Zentralismus im deutschen Kaiserreich: Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur - eine Skizze Von Dieter Langewiesehe
Die Frage nach Föderalismus und Zentralismus im deutschen Kaiserreich wird meist auf die staatliche Ordnung des jungen Nationalstaates bezogen: Verfassungskonstruktion und Verfassungsrealität werden dann untersucht, die ,Verpreußung' des Reiches oder die ,Verreichlichung' Preußens und die ,Staatssekretarisierung' seiner Regierung werden als Gegenpole betrachtet 1• Der Blick auf die staatliche Ordnung und ihre Entwicklung ist zweifellos wichtig, doch er genügt nicht. Wer die Reichweite von Prozessen wie Unitarisierung oder Nationalisierung erkennen will, aber auch die fortdauernde Kraft einzelstaatlicher oder regionaler Traditionen 2, deren Überlebensfähigkeit durch Wandel und deren Funktionen für den neuen Nationalstaat, - wer danach fragt, darf sich nicht auf die Staatsordnung und ihre Veränderung beschränken. Um die Bedeutung von Zentralismus und Föderalismus für die Entwicklung des ersten deutschen Nationalstaates angemessen einschätzen zu können, muß vielmehr der gesamte Komplex von Staat und Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur betrachtet werden 3. Die folgende Skizze kann lediglich einige Problemfelder umreißen, zumal der Forschungsstand für die verschiedenen Bereiche höchst unterschiedlich ist. Vgl. etwa R. Dietrich, Föderalismus, Unitarismus oder Hegemonialstaat? in: 0. Hauser (Hrsg.): Zur Problematik ,Preußen und das Reich', Köln 1984, S. 49-81; H. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 2. Aufl., München 1993, Kap. 10. Zur Unterscheidung der Begriffe Föderalismus und Regionalismus vgl. (mit umfangreichen Literaturangaben) K. Möckl, Föderalismus und Regionalismus im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, in: F. Esterbauer u.a. (Hrsg.), Von der freien Gemeinde zum föderalistischen Europa. Festschrift für Adolf Gasser zum 80. Geburtstag, Berlin 1983, S. 529-549. In meiner Skizze steht die Frage nach der politischen, ökonomischen und soziokulturellen Spannweite einzelstaatlicher Prägungen im Nationalstaat im Vordergrund. Es geht also um die gesellschaftlichen Fundamente der föderativen Staats- und Gesellschaftsordnung, nicht um die regionale Binnendifferenzierung des Föderativen. Den wohl besten Gesamtüberblick mit Schwerpunkt auf der staatlichen Ordnung, aber doch darüber hinausblickend gibt T Nipperdey, Der Föderalismus in der deutschen Geschichte, in: T Nipperdey, Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986, S. 60-109. Knapp, aber mit weiter Perspektive: R. Kose/leck, Diesseits des Nationalstaats. Föderale Strukturen der deutschen Geschichte, in: Transit. Europäische Revue, 7 0994), S. 63-76.
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1. Zentralismus und Föderalismus in der staatlichen Ordnung
Zunächst em1ge Bemerkungen zur staatlichen Ordnung - als Pflichtteil gewissermaßen. Er kann kurz gehalten werden, denn neue Einsichten tauchen dazu in der Fachliteratur schon seit längerem nicht mehr auf. Den Stand der Forschung hat Thomas Nipperdey in seiner "Deutschen Geschichte" präzise zusammengefaßt, mit abwägenden und doch zugleich entschiedenen Urteilen. Den ersten deutschen Nationalstaat charakterisiert er als ein hundesstaatliches "Gefüge von förderalen und unitarischen Zügen"4, geprägt durch den Dualismus Preußen-Reich, doch mit einer preußischen Hegemonie als dem "Kernelement" der Reichsverfassung. In Preußen lagen "die Wurzeln der Macht", dennoch sei das ReiCh kein "Großpreußen" geworden5 . Eine zentrale Sperre gegen die Verpreußung des Reiches war dessen Verfassung. Als ihr "eigentliches Geheimnis" begreift Nipperdey - darin die Mehrheitsmeinung pointiert zusammenfassend - "die Konstruktion des Bundesrates als Gegenpart des Reichstags"6 : "eine feste Barriere gegen jede Parlamentarisierung oder Quasi-Parlamentarisierung des Kanzleramtes und der Reichsleitung ... , Bollwerk des deutschen konstitutionellen, also nichtparlamentarischen Systems, des monarchisch-bürokratischen Obrigkeitsstaates, der monarchischen Herrschaft über Parlament und Parteien". Kurz- Föderalismus als Parlamentarisierungsblockade, eingeschrieben in die Reichsverfassung, faßbar vor allem an der Institution des Bundesrates, der derart konstruiert war, daß die Reichsgewalt in einem föderalistischen Verantwortungsnebel dem Zugriff des Reichsparlaments entzogen blieb. Im einzelnen unterscheidet Nipperdey mit Blick auf die staatliche Ordnung vier große Komplexe im Reichsföderalismus: den Verwaltungsföderalismus, den Finanzföderalismus, den Kulturföderalismus und den Verfassungsföderalismus7. Überall verlief die Entwicklung in die gleiche Richtung: Die Reichsgewalt wurde gestärkt, die zentralisierende Unitarisierung schritt voran. Den Hauptgrund wird man - wie in der föderativen Schweiz, wo gegen Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls der Bund gegenüber den Kantonen neue Aufgabenfelder erhielt8 - darin sehen dürfen, daß in der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung zwischen Reich und Bundesstaaten die dynami-
T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, München 1992, S. 85.
Ebd., S. 97. Ebd., S. 92; das folgende Zitat S. 93. Ebd., S. 86. Vgl. P Stad/er, Der Föderalismus in der Schweiz. Entwicklungste ndenze n im 19.-20. Jahrhundert, in: j.C. Boogman I G.N. van der Plaat (Hrsg.), Fede ralism. History and Current Significance of a Fo rm of Government, Den Haag 1980, S. 177-188, 182 ff.
Föderalismus und Zentralismus
im
deutschen Kaiserreich
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sehen Entwicklungsbereiche dem Reich zugewiesen worden sind: Recht, Wirtschaft, Militär und Soziales vor allem. Der Interventionsstaat, der damals entstand, wurde auf der Reichsebene ausgebildet, wenngleich er in weiten Bereichen dank der föderalistischen Grundstruktur in der Verwaltung der Bundesstaaten blieb. Diese föderative Brechung der Unitarisierung gilt selbst für den Sozialversicherungsstaat, dessen Grundlagen in den achtziger Jahren durch Reichsgesetze gelegt wurden. Der Wandel von der traditionellen Armenfürsorge zur modernen Sozialversicherung, den das Reich als Gesetzgeber vorantrieb, bedeutet einen Zentralisierungsschub, doch die Last der Durchführung oblag den Kommunen. Es war für die soziale Absicherung weiterhin wichtig, wo man wohnte, denn die kommunale Sozialpolitik entschied über die Art und die Höhe der Leistungen. Welche Hilfen etwa ein alteingesessener Handwerker fand, der in wirtschaftliche Probleme geriet, oder ob seiner Witwe ein Absturz in ein Armenschicksal erspart blieb, hing nicht vom Reich ab, sondern von der Kommune, in der sie lebten9 . Auch der Steuerstaat blieb im Kaiserreich weiterhin stark föderalistisch geprägt. Seit der Reichsfinanzreform von 1909 griffen zwar direkte Reichssteuern erstmals in stärkerem Maße auf den Steuerbürger durch. Doch gewichtiger waren weiterhin die bundesstaatliehen Steuern und die kommunalen Steuerzuschläge, die jeweils nach höchst unterschiedlichen Maßstäben erhoben wurden. Trotz aller Tendenzen zur Vereinheitlichung der Steuern hing das Wohlbefinden des Steuerbürgers noch gegen Ende des Kaiserreichs davon ab, in welchem Staat und in welcher Kommune er lebte. Wer 1905 über ein Einkommen von 10.000 Mark verfügte, mußte mit einem Steuersatz zwischen 3 und 15 Prozent rechnen - je nach Wohnort 10• Es ist also ein Unterschied, so lassen sich diese Beobachtungen verallgemeinern, ob man das Spannungsfeld nationalstaatlicher Zentralismus und bundesstaatlicher Föderalismus auf der Institutionenebene betrachtet oder zugunsten einer Wirkungsanalyse diese Ebene verläßt. In einer wirkungsgeschichtlichen Perspektive ließen sich auch dem konservativen Institutionenansatz noch neue Seiten abgewinnen. Doch dazu gibt es wenig Forschung.
9 Vgl. etwa H.-P]ans, Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege in Ulm. Stadt, Verbände und Parteien auf dem Weg zur modernen Sozialstaatlichkeit, Ulm 1994 und die Beiträge in: D. Langewiesehe (Hrsg.), Kommunale Sozialpolitik in vergleichender Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft, 21 0995), 3. Zu den zentralen Entwicklungslinien siehe vor allem G.A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 2. Aufl., München 1991. 10 Denkschriftenband zur Begründung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend Änderungen im Finanzwesen, Teil I , Berlin 1908, S. 781 ff.; vgl. H.-P Ullmann, Die Bürger als Steuerzahler im Deutschen Kaiserreich, in: M. Hettling I P Nolt (Hrsg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland, München 1996, S. 231-246.
6 Janz u. a.
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2. VVU1schaftsräu01e Der Nationalstaat vollendete den nationalen Wirtschaftsraum und schuf eine nationale Wirtschaftsordnung, doch .im Raumbild der Industrialisierung" findet sich .jenes der älteren Territorialstaaten" wieder, wenn auch .vielfach modifiziert" 11 • Das Kaiserreich wurde zum Industriestaat, aber die ökonomischen Unterschiede zwischen den Regionen schwanden nicht, sondern wuchsen12. Es bestand ein wirtschaftliches Entwicklungsgefälle zwischen Ost und West in Preußen und zwischen Nord und Süd im Reich. Im Pro-Kopf-Einkommen wurden diesen regionalen Entwicklungsunterschiede für den einzelnen fühlbar, und über die Migrationsprozesse kamen sie in Gestalt von Regionalcharakteren in Konflikt untereinander und damit zu Bewußtsein - etwa wenn sozialistische Gewerkschafter die •verdammte Bedürfnislosigkeit" der gen Westen ziehenden Arbeiter aus den Ostprovinzen als Organisationshemmnis für ihre Gewerkschaftsarbeit beklagten. Dem an Jammerlöhne gewohnten Ostelbier", der an den Niederrhein ziehe, erscheine seine dortige .Lohnsklaverei" als ein .Dorado für den Arbeiter" 13 • Unter den sozialdemokratisch orientierten Freien Gewerkschaften, der größten Organisation unter den damaligen Gewerkschaftseinrichtungen, kam es im späten Kaiserreich zwar zu einem entschiedenen Zentralisierungsprozeß, doch noch 1914 hatten von den 47 Zentralverbänden nur 30 ihren Sitz in Berlin 14 . Die anderen blieben dort, wo das Zentrum ihrer Branche war, und sechs saßen weiterhin in Hamburg. Diese .plutokratische Republik", wie sie ein Hamburger Sozialdemokrat genannt hatte, galt bis ins späte 19. Jahrhundert als die sozialdemokratische Hauptstadt des Kaiserreichs15 . Bis 1902 hatte hier auch die Gewerkschaftszentrale, die 1890 gegründete Generalkommission, ihren Sitz. Erst 1903 zog sie nach Berlin16. Die neue Reichshauptstadt nahm also an
11 G.A. Ritter / K. Tenfe/de, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 74. 12 Siehe vor allem FB. Tipton jr., Regional Variations in the Economic Development of Germany during the Nineteenth Century, Middletown, CT 1976; die Entwicklungsunterschiede .carried regions apart instead of bringing them together" (S. 151). 13 Aus Otto Hues Artikelserie .Die Metallarbeiterorganisation am Niederrhein und ihre Hemmnisse" (Metallarbeiter-Zeitung, Dezember 1896), zitiert nach K. Schönhoven, Expansion und Konzentration. Studien zur Entwicklung der Freien Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland 1890 bis 1914, Stuttgart 1980, S. 88; zu den obrigkeitsstaatlichen Organisationshemmnissen im Osten, vgl. S. 84 ff. 14 Adressenbeilage des .Correspondenzblatts der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands", Nr. 1. vom 2.1.1915. Grundlegend zu dem Konzentrationsprozeß: K. Schönhoven, Expansion und Konzentration. 15 Vgl. H. Kutz-Bauer, Arbeiterschaft und Sozialdemokratie in Harnburg vom Gründerkrach bis zum Ende des Sozialistengesetzes, in: A. Herzig I D. Langewiesehe I A. Sywottek (Hrsg.), Arbeiter in Hamburg. Unterschichten, Arbeiter und Arbeiterbewegung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, Harnburg 1983, S. 179-192, 179.
16 Vgl. K. Schönhoven, Expansion und Konzentration, S. 305.
Föderalismus und Zentralismus im deutschen Kaiserreich
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Bedeutung für die beruflichen Interessenorganisationen der Arbeiter zu, aber sie wurde keineswegs zum Zentralpunkt. Die Gewerkschaftsorganisationen lassen das Raumbild, das aus den alten Einzelstaaten erwuchs und als regionale Wirtschaftsstruktur im Kaiserreich weiterlebte, ebenso erkennen wie die Unternehmerverbände und die Verbände der Landwirte. Preußische und nichtpreußische Industrielle, so beschreibt Hans-Peter Ullmann die "regionalen Konfliktlinien" im Unternehmerlager, standen sich in den Verbänden der Schwerindustrie und der Fertigindustrie gegenüber17. Letztere, seit 1895 im Bund der Industriellen zusammengeschlossen, waren dezentral organisiert. Dieser Verbandsföderalismus galt als sein Markenzeichen im Kontrast zum Zentralismus der Schwerindustrie. Der Organisationsgegensatz Zentralismus - Föderalismus findet sich auch beim Bund der Landwirte, protestantisch und im Kern ostelbisch, verglichen mit den strikt dezentral aufgebauten Bauernvereinen, die vor allem Katholiken erfaßten18 •
3. Die Parteienlandschaft und der Föderalismus der politischen Kultur Mit dem Reichstag war ein neues politisches Kraftfeld entstanden, das zweifellos die nationalstaatliche Zentralisierung förderte. Das gilt auch für die Parteien. Gleichwohl wurden sie keine reinen Reichsparteien. Selbst die Liberalen, die sich wie keine andere politische Organisation mit dem neuen Nationalstaat identifizierten und ihn als ihr Werk betrachteten, besaßen weiterhin ihr Zentrum in den Einzelstaaten19• Der deutsche Parteienregionalismus war vor der Reichsgründung entstanden, und er wurde durch die föderalistische Grundordnung des neuen Nationalstaates gefestigt. Darin stimmt die Parteienforschung überein20• Karl Rohe hat diese Deutung weitergeführt. Er unterscheidet für das Kaiserreich zwischen regionalisierten Fünfparteiensystemen und einem nationalisierten Drei-Lager-System. Sie "koexistierten gleichsam nebeneinander", wobei letzteres in der milderen "süddeutschen politischen Kultur" "weniger schroff" ausgeprägt gewesen see 1 .
17
H. -P U//mann, Interessenverbände in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 81.
18
Ebd., S. 89 f.
Vgl. als Überblick L. Ga// I D. Langewiesehe (Hrsg.), Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, München 1995; D. Langewiescbe, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 142 ff. 19
20 Vgl. als Überblick mit Literaturangaben 5. Lässig I K.H. Pobl I ]. Reta/lack (Hrsg.), Modernisierung und Region im wilhelminischen Deutschland. Wahlen, Wahlrecht und Politische Kultur, Bielefeld 1995. 21 K. Robe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, Frankfurt a.M. 1992, S. 108, 116 (Zitate).
6•
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Die Überzeugung, eine höhere politische Kultur zu besitzen als die Preußen, gehörte zum föderativen Glaubenskern des Süddeutschen. Man findet ihn sogar in der Sozialdemokratie, der am stärksten zentralisierten unter den deutschen Parteien und stärker auch als alle anderen Parteien auf die nationale Handlungsebene ausgerichtet. Zentralisation, so erklärte Georg von Vollmar 1893 für die bayerischen Sozialdemokraten, sei .in jeder Form freiheitsschädlich ... Wir sind Föderalisten, natürlich auf demokratischer Grundlage" 22 • Der Liberale Friedlich Naumann sprach 1904 von der .preußischen Polizeiund Herrenmoral", die den deutschen Süden abstoße, und er suchte nach Möglichkeiten, die .süddeutsche Lebensdemokratie" gegen die .allgemeine Zeitmoral", die er im Gleichschritt mit der preußischen Polizei- und Herrenmoral voranmarschieren sah, abzuschirmen. Er propagierte als Schutz die Förderung der kleinen und mittleren Betriebe, da die großbetriebliche Rahstoffindustrie die .Alleinherrschaft" fördere und deshalb die .demokratische Moral" zerdrücke23 • 'Den möglichen Zusammenhang von Wirtschaftsstruktur und politischer Kultur und das föderative Grundmuster dieser Beziehung hatten also schon Zeitgenossen des Kaiserreichs erkannt. 4. Nation und föderative Kultur
Aus dem großen Themenbereich ,Nation und Föderalismus', in dem die Forschung in den letzten Jahren stark in Bewegung gekommen ist24 , wird hier ein einzelner, allerdings zentraler Aspekt in den Mittelpunkt gerückt. In ihm bündeln sich viele Entwicklungslinien und das Neue wird deutlich sichtbar: das Verhältnis der Reichsnation zum föderativen Grundmuster der deutschen Geschichte . •Reichsnation" hat vor der Nationalstaatsgründung im außerpreußischen Deutschland bei aller Meinungsvielfalt vor allem eins bedeutet: die Hoffnung auf eine geeinte deutsche Nation ohne zentralisierenden Nationalstaat. Wie das nationale Gehäuse konkret aussehen sollte, war außerordentlich umstritten. Es sollte auf jeden Fall kein unitarischer Nationalstaat sein. Mit der Nationalstaatsgründung ging diese Option des außerpreußischen Deutschlands verloren, aber ihre Kraft überdauerte in veränderter Gestalt. Der föderative Nationalismus, wie ich diese Tradition, die sich am Alten Reich orientierte,
22 Zitiert nach G.A. Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich, 2. Aufl., Berlin 1963, S. 130.
23 F. Naumann, Der deutsche Süden, abgedruckt in: W Schmitz (Hrsg.), Die Münchner Moderne. Die literarische Szene in der ,Kunststadt' um die Jahrhundertwende, Stuttgart 1990, S. 81-85. 24 Vgl. mit umfangreichen Literaturverweisen D. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur, 40 0995), S. 190-236; insbesondere S. 218 f. (Region und Nation).
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nenne2;, mußte sich dem preußisch-unitarischen Nationalismus beugen, doch der föderative Grundgehalt lebte fort und trug dazu bei, den ersten deutschen Nationalstaat föderalistisch auszugestalten. Wie gesellschaftlich und kulturell durchdringend, alle sozialen Schichten und alle politischen Kreise erfassend, dieser Föderalismus war, läßt sich an einer Fülle von Einzelheiten erkennen. Der Föderalismus der Parteienlandschaft und der Interessenorganisationen wurden schon genannt, ebenso das Meinungsklima im außerpreußischen Deutschland, das in der politischen Kultur ein Süd-Nord-Gefälle wahrnahm. Es dokumentiert sich auch in der unterschiedlichen Anfälligkeit des Nordens und des Südens für die "Denkmalwut" und "Denkmalpest", wie manche Zeitgenossen die Flut nationaler Denkmäler nannten. Nahezu vier Fünftel aller im Kaiserreich errichteten Nationaldenkmäler entstanden in Preußen, Sachsen und den thüringischen Ländern, während der Süden sich stark zurückhielt26 • Er verschloß sich auch dem architektonischen Wandel der Denkmäler zum völkisch-monumentalen27 . Die föderalistische Grundstruktur, die sich an solchen kulturellen Differenzen ablesen läßt, wurde durch den Fortbestand der Einzelstaaten als Bundesstaaten institutionell gefestigt. Sie versuchten, sich gegen das wirtschaftlich, politisch und militärisch übermächtige Preußen kulturell zu behaupten. Und das mit Erfolg. Erwähnt sei nur, daß der Großherzog von Hessen-Darmstadt sich als Kunstmäzen profilierte und seinem Bundesstaat als deutschem Zentrum des Jugendstils ein innovationsfreudiges Gesicht zu geben suchte28 • Auch der württembergische Monarch Wilhelm II. entwickelte sich zu einer Art Kunstkönig. Als Mäzen blieb er als eigenständige Kraft wahrnehmbar, und er konnte sich zugleich von den kunstautokratischen Allüren seines preußischen Namensvetters, dem er gerne aus dem Wege ging, sichtbar absetzen29 • Diese durch den Nationalstaat mediatisierten Fürsten fanden in der Kulturpolitik ein Refugium, in dem sie einen Ausgleich für den Verlust an politischem Einfluß 25 Vgl. D. Langewiesche, Kulturelle Nationsbildung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: M. Hettling I P Nolt (Hrsg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland, München 1996, S. 46-64; in langfristiger Perspektive und mit weiterer Literatur D. Langewiesche, Reich, Nation und Staat in der jüngeren deutschen Geschichte, in: Historische Zeitschrift, 254 (1992), S. 341-380. 26 R. Alings, Monument und Nation. Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal - zum Verhältnis von Nation und Staat im deutschen Kaiserreich 1871-1918, Berlin 1996, S. 87. Vgl. F. Schmoll, Verewigte Nation. Studien zur Erinnerungskultur von Reich und Einzelstaat im württembergischen Denkmalkult des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1995. Was die Stärke des Bismarckkultes angeht, kommen beide Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen. 27
F Schmoll, Verewigte Nation, S. 332.
28
Vgl. etwa: Darmstadt - Ein Dokument deutscher Kunst 1901-1976, Darmstadt
1976. 29 Vgl. B . janzen, König Wilhelm II. als Mäzen. Kulturförderung in Württemberg um 1900, Frankfurt a.M. 1995.
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suchten. Damit stärkten sie nicht nur den Kulturföderalismus, sondern untermauerten generell die föderative Grundstruktur der deutschen Gesellschaft. Besonders ausgeprägt war dies in Bayern. München zählten Zeitgenossen gemeinsam mit Berlin und Wien zu den deutschen Hauptorten der Moderne, und vielen galt es als die wahre deutsche Kunsthauptstadt, die ein Gegengewicht zur Hohenzollernmetropole bilde und stärker nach Frankreich als nach Preußen blicke. Dieses Gegen-Bild wurde von Einheimischen und Zugereisten, von Künstlern und der Tourismusbranche gleichermaßen gepflegt30. •München leuchtete", schrieb Thomas Mann 1903: ,.Die Kunst blüht, die Kunst ist an der Herrschaft, die Kunst streckt ihr rosenumwundenes Scepter über die Stadt hin und lächelt"31 • Moderner Kunstsinn und ein Volksleben, das sich dem Diktat der Zivilisationsmoderne - noch - nicht beuge: Diese Verbindung wurde immer wieder an München gerühmt und Berlin, dem ,.Schlußstein im gigantischen Ausbau eines eisernen Reiches", entgegengestellt: ,.In Berlin steht das moderne Leben auf seiner Höhe, automatisch, tadellos und blitzend wie ein vervollkommnetes Geschütz. . . . Hier steht das reine Bild des ehemaligen einfachen und gesunden Lebens vor dir" . •Hier hast du den genauen Begriff von dem, was man früher als Süddeutschland bezeichnete"32. Was bei Marcel Montandon 1902 wie ein elegischer Abschied an die ,.abendländische Vergangenheit" klingt - bewahrt im süddeutschen Lebensstil, der in München noch nicht untergegangen sei, feierte Theodor Lessing 1896 in seiner Hymne an München als die katholisch-süddeutsche Verweigerung gegenüber dem protestantisch-norddeutschen Spießbürger, der sein geordnetes Leben zur nationalen Norm erheben will: .Dieses Volk wusch sich 'nicht und badete nicht und war doch kunstnäher als die gewaschene Menschheit des Nordens, wo der Spießbürger die erste Geige spielt. Deutschlands gewaschene Bevölkerung ist nicht deutsch; sie zerfällt in feindliche Klassen, Pöbel und Bourgeoisie, aber in Baiern lebt das einige drekete Volk, von Herzen auch nicht schöner als unsre norddeutschen Proleten, aber welch schöne Namen hatten sie: Aloysius, Genoveva, Bartholomäus und Veronika ... Katholischer Himmel goß Süßigkeit über die Grobiane" 33.
Was Theodor Lessing verklärte, empfand Victor Klemperer als peinlich. Doch in einem stimmten die beiden Norddeutschen überein: München ist ganz anders als Berlin. Als Klemperer nach der Jahrhundertwende zum Studium nach München kam, überwältigte ihn der Katholizismus des Alltags. Überall sichtbar, ,.färbte er auffallend, und unmittelbar nach dem Bier, das Volksleben. Mönche und Nonnen waren häufig auf der Straße zu sehen". Die erste Münchner Fronleichnamsprozession, die Klemperer miterlebte, beindruckte ihn zutiefst, wenngleich er gemeint hatte, ,.so etwas könnte man nur in Italien 30
VgL die Einleitung zu W Schmitz (Hrsg.), Die Münchner Moderne.
31
Aus .Gladius dei", zitiert nach ebd. , S. 36.
M . M ontandon, Das .andere Deutschland" - München (Walhalla, 1902), zitiert nach W Schmitz (Hrsg.), Münchner Moderne, S. 28-30; auch das folgende Zitat. 32
33
Ebd., S. 37 f.
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oder Spanien, allenfalls in Österreich zu sehen bekommen". Hoch und niedrig vereinte sich im Kultus. Daß jedoch auch der Universitätsrektor, geschmückt mit Talar und Amtskette, teilnahm, empfand er als Entwürdigung der Wissenschaft. Protestantisch und wissenschaftlich setzte er ebenso gleich wie deutsch und protestantisch: "wo der Katholizismus begann mit seinen Dogmen und seinem Gepränge, da begann für mich schon das Ausland". "München, so sagte ich mir, liege in Bayern, und die Bayern seien nun einmal nicht so ganz richtige Deutsche wie die Preußen, und das müsse man hinnehmen". Doch leicht fiel es ihm nicht, zumal ihn die "Masse der Feiertage", die auch die Universität eifrig in Freizeit umsetzte, stets an das andersartige Lebensgefühl des katholischen Südens erinnerte34• Als der assimilierte Jude Victor Klemperer in München in die katholische "Sonderwelt"35 eintauchte und dabei seinen süddeutschen Kulturschock erlebte, hatte im deutschen Nationalstaat bereits eine "Gegenbewegung zur Rückbesinnung auf die alte Vielfalt der regionalen Kulturtraditionen" eingesetzr36. Durchgesetzt hat sich dieser Versuch des Widerrufs gegen die protestantische Verengung der deutschen Nationalliteratur, die im 18. Jahrhundert begonnen hatte und zu Beginn des 19. Jahrhunderts vollendet war, allerdings nicht. Erst die jüngere Germanistik beginnt, die verschütteten Spuren, die durch die stammesbiologischen Geschichtskonstruktionen des Nationalsozialismus zusätzlich diskreditiert schienen, freizulegen 37 • Im frühneuzeitlichen Deutschland, so konnte sie zeigen, war das literarische Leben in zwei auch sprachlich getrennte Kulturkreise zerfallen. Das "Lutherisch Deutsch", das Jakob Grimm noch 1819 in der Vorrede zu seiner "Deutschen Grammatik" "den protestantischen dialekt" genannt hatte38, triumphierte spätestens seit der Klassik als nationale Hochsprache über die oberdeutsche Schriftsprache, die im katholischen Deutschland, ausgehend von Bayern und Österreich, gepflegt worden war. Dem "poetischen Rang der deutschen Klassik" unterlagen die anderen regionalen Idiome, die sich dem "norrnsetzenden Mitteldeutschen" als Schriftsprache beugen mußten. Doch die regionalen Dialektdichtungen florierten auch im 19. Jahr34
V Klemperer, Curriculum Vitae. Jugend um 1900, Bd. 1, Berlin 1989, S. 285-288.
35
Ebd., Bd. 2, 1989, S. 458.
36 D. Breuer, Deutsche Nationalliteratur und katholischer Kulturkreis, in: K. Garher (Hrsg.), Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Tübingen 1989, S. 701-715, 703; vgl. D. Breuer, Warum eigendich keine bayerische Literaturgeschichte? Defizite der Literaturgeschichtsschreibung aus regionaler Sicht, in: K. Grubmüller I D. Hess (Hrsg.), Bildungsexklusivität und volkssprachliche Literatur vor Lessing nur für Experten? (Akten des VII. internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, 7), Tübingen 1986, S. 5-13. 37 Vgl. neben den Studien Breuers und die dort zitierte Literatur auch N. Mecklenburg, Literaturräume. Thesen zur regionalen Dimension deutscher Literaturgeschichte, in: A . Wierlacher (Hrsg.), Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik, München 1985, S. 197-211.
38
Zitiert nach D. Breuer, Nationalliteratur, S. 710.
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hundert. Und im Alltag ließ die "Normierung der deutschen Standardsprache" ohnehin viel Raum für Regionalsprachen. "Nord- und süddeutsche Intonation koexistierten gleichberechtigt. Die deutsche Sprache dient nicht im gleichen Maße wie das Englische als Kennzeichen von Klassenzugehörigkeit Die regionale Färbung des Hochdeutschen wirkt ausgleichend gegenüber sozialen und Bildungsbarrieren". Und die deutsche Literatur bewahrte stärker als die Germanistik das "Bewußtsein des Eigenwerts der Regionen und ihrer Idiome" 39. Auch das Bildungswesen blieb im Kaiserreich trotz aller Angleichungsprozesse föderalistisch. Und selbst im Universitätsbereich gelang es Preußen keineswegs, Berlin zum obersten Maßstab zu erheben. Wie Marita Baumgarten jüngst für die Geisteswissenschaften zeigen konnte, hatte sich im Kaiserreich ein preußisches Beziehungsnetz ausgebildet, in dem Berlin den Spitzenplatz einnahm. Doch das außerpreußische Deutschland fügte sich nicht der preußischen Universitätshierarchie, sondern konkurrierte erfolgreich40 . Gefestigt wurde dieser kulturelle Föderalismus auch durch den Fortbestand des protestantischen Kirchenföderalismus, und selbst für den Katholizismus hat man von einer "episkopalen Mainlinie" 41 gesprochen. Sichtbar wird sie nicht nur in der ,großen' Kirchenpolitik, sondern auch in Kleinigkeiten. So besaß im Kaiserreich jede katholische Diözese ihr eigenes Kirchenliederbuch. Den Zusammenhang mit der föderativen Grundstruktur Deutschland erkannte man damals durchaus: "buntfarbig wie die Karte Deutschlands ist auch das Gesamtbild des deutschen Kirchenliedes", schrieb 1912 ein katholischer Autor42. Er empfand das jetzt allerdings als ein Hemmnis. "Wie schmerzlich empfindet ein jeder, der durch das Schicksal in eine andere Diözese verschlagen wird, daß er dort selten ein Lied in der gleichen Weise singen kann, wie er es von Jugend auf gelernt und geübt hat ... Und wie sehr gar ist uns die Möglichkeit genommen, bei gemeinsamen Kongressen, seien es nun Katholiken-, Caritas- und sonstige Verbandstage, bei allen Teilnehmern das Gefühl der Zusammengehörigkeit von innen heraus durch gemeinsame Kirchenlieder zu erwecken. Gerade in dem Punkte des Kirchengesanges mangelt den deutschen Katholiken das, was sie doch sonst vor allen andern Religionsgemeinschaften voraus haben, - die Einheit in der Allgemeinheit". 39 P Ho.ffmann, ,Regionalismus' und ,Weltsprache der Poesie' in der deutschen Gegenwartslyrik, in: L. Fiez I P Hoffmann I H.- W Ludwig (Hrsg.), Regionalität, Nationalität und Internationalität in der zeitgenössischen Lyrik, Tübingen 1992, S. 94-113, Zitate S. 103 f. 40 M. Baumgarten, Die Geistes- und Naturwissenschaften an der Universität Göttingen 1866-1914: Die Universität unter preußischer Führung, in: W Strobel (Hrsg.), Die deutsche Universität im 20. Jahrhundert. Die Entwicklung einer Institution zwischen Tradition, Autonomie, historischen und sozialen Rahmenbedingungen, Greifswald 1994, s. 30-46, 42.
41 PL. Volk SJ, Die Kirche in den deutschsprachigen Ländern (Deutschland, Öster· reich, Schweiz), in: H. jedin I K. Repgen (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 7, Freiburg 1985, S. 540. 42 ]. 1beele, Vom katholischen deutschen Kirchenliede, in: Akademische Bonifatius-Correspondenz, Nr. 4, 4.5.1912, S. 225; dort auch die folgenden Zitate.
Föderalismus und Zentralismus im deutschen Kaiserreich
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Der Cäcilienverein beriet deshalb, wie in allen deutschsprachigen Diözesen ein gemeinsamer Kanon von .,wenigstens 25 Liedern" erreicht werden könne. Ob der Militärdienst, der oft als ein Nationalisierungsvehikel angeführt wird, dies wirklich gewesen ist, müßte erst noch erforscht werden. Wer zum Militär einrücken mußte, blieb in bundesstaatlicher Obhut und damit in der föderativen Grundstruktur der deutschen Geschichte. Victor Klemperer notierte in seinem Kriegstagebuch, zu seiner Überraschung bestehe selbst jetzt noch, mitten im Ersten Weltkrieg, "eine Scheidewand zwischen Stamm und Stamm. Und die Isolierung der Gruppen ging noch viel weiter, man fühlte nicht nur regional, sondern jede Stadt, jedes Dorf hatte ein eigenes Gefühl der Zusammengehörigkeit, eine eigene Prätention, eine eigene Antipathie den andern Städten und Dörfern gegenüber. Vielleicht war das bei den Süddeutschen stärker ausgeprägt als bei den Norddeutschen, aber vorhanden war es auch bei diesen" 43 .
Ausschlaggebend seien Gruppengefühle: aus welcher Region man komme, welcher Religion man angehöre, welchen Beruf man habe. "Man war Bauer, man war Handwerker, man war Fabrikarbeiter. Dies alles und dies allein war man mit dem Herzen; Deutscher hingegen war man nur, weil man es so in der Schule gelernt hatte, Deutschland war ein bloßes Schulwissen, ein bloßer Begriff und ein jetzt wenig beliebter".
So jedenfalls nahm der Akademiker es bei den einfachen Soldaten wahr: .,Vaterland war ein Allgemeines, das die Gebildeten erdacht hatten und das nur sie im Herzen tragen konnten". Deutschland, die deutsche Nation - ein Gebildetenkonstrukt? Das ist sicher überzogen. Aber diesen innerdeutschen kulturellen und gesellschaftlichen Grenzlinien künftig nachzugehen, wäre wichtig, um das Verhältnis von Zentralismus und Föderalismus im ersten deutschen Nationalstaat angemessen ausloten zu können. Wie wird wohl das Ergebnis solcher Untersuchungen lauten? Meine Hypothese heißt: Der historisch überkommene Föderalismus hat mit der Nationalstaatsgründung seine Zielrichtung radikal geändert. Föderativer Nationalismus richtete sich jetzt nicht mehr gegen einen zentralen Nationalstaat. Im Gegenteil, weil er regionale und einzelstaatliche Traditionen verteidigte, trug nun der föderative Nationalismus wesentlich dazu bei, daß der neue Nationalstaat in der deutschen Gesellschaft breit und schnell akzeptiert wurde. Man wuchs in den Nationalstaat hinein, indem man sich als Föderalist oder Regionalist bekannte. Die Heimatbewegungen stritten nicht gegen den Nationalstaat, sondern machten ihn annehmbar, weil sie ihn föderativ ausgestalteten. Vielleicht ist hier ein zentraler Unterschied zu der Entwicklung im italienischen Nationalstaat zu sehen. Der deutsche wurde schneller in der breiten Bevölkerung anerkannt als der italienische, und auch die Verlierer der nationalen Einigung fanden sich rascher mit ihm ab und lernten schließlich, ihn zu schätzen. An 43
V Klemperer, Curriculum Vitae, S. 367; auch die folgenden Zitate.
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den kirchentreuen Katholiken ist dieser Unterschied am besten zu erkennen. Den "Raub des Patrimonium Petri" durch den italienischen Nationalstaat beklagten auch deutsche Katholiken, doch die Faszination des eigenen, so überaus dynamischen Nationalstaates wirkte. Es gelang ihm jedoch nicht, das historisch eingeschliffene und alltäglich erlebte föderative Grundmuster der deutschen Staats- und Gesellschaftsordnung auszulöschen. Nicht einmal der gemeinsam durchlittene Erste Weltkrieg vermochte dies. Als der Kapp-Lüttwitz-Putsch die Weimarer Republik erschütterte, kommentierte das Organ des Bistums Württemberg, die "Rottenburger Zeitung": "Für die Berliner Experimente hat das Schwäbische Volk absolut keinen Sinn. Allerwärts begegnet man im Volke einmütiger Ablehnung des Berliner Gewaltstreichs wegen seiner ungünstigen Rückwirkung nach innen und außen. Der Ruf nach dem Schwergewicht der Mainlinie wird wieder laut. Das deutsche Volk ist dem Herrenmenschentum des Ostens entwachsen. Die klein-deutsche, großpreußische Idee hat seit 60 Jahren zu viel gesündigt ob ihrer Einseitigkeit, Kurzsichtigkeit und Weltfremdheit Kein Großpreußen mehr!"44 .
44 Rottenburger Zeitung 61 , 15.3.1920; zitiert nach R. Best, Bürgerkrieg als neue gesellschaftliche Erfahrung in der Weimarer Republik, geschichtswiss. Magisterarbeit (Ms), Tübingen 1996, S. 30.
Zwischen Zentralstaat und Peripherie Spitzenbeamte in Italien und Preußen-Deutschland 1870-1914
Von Arpad von Klim6
I. Einleitung
In den europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts entwickelten sich sehr unterschiedliche Auffassungen vom Staat. Doch das Image des Staates in der öffentlichen Meinung konnte wohl kaum gegensätzlicher ausfallen als in Italien und Preußen. Während dem preußischen Staat und seinen Beamten bis heute der Mythos einer schier unbegrenzten Effizienz und Unbestechlichkeit anhaftet, begegnet dem italienischen Staat seit seiner Entstehung Mißtrauen und Ablehnung, was sich durch zahlreiche Skandale und offensichtliche Organisationsdefizite verstärkte 1 . Diese Beobachtung verweist auf zwei allgemeine Annahmen, die den folgenden Ausführungen vorangestellt werden sollen.
Vgl. T Süle, Preußische Bürokratietradition, Göttingen 1988. Selbst Preußenkritiker zweifeln nicht an der Effizienz des preußischen Staates: vgl. Hj. Puhle, Preußen: Entwicklung und Fehlentwicklung, in: Hj. Puhle I H.U Web/er (Hrsg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 11-42, hier S. 14 f. Für Italien: vgl. / . Porciani, Stato e nazione: l'immagine debole dell'Italia, in: S. Soldani I G. Turi (Hrsg.), Fare gli italiani. Scuola e cultura nell'Italia contemporanea, Bd. 1: La nascita dello Stato nazionale, Bologna 1993; ein Literaturüberblick bei: G. Melis, Tendenze della storiografia sull'amministrazione italiana: gli studi sui ministeri e quelli sugli enti pubblici, in: Journal für Europäische Verwaltungsgeschichte, 1 (1989), S. 315-335; zur Beamtenschaft vgl. ders., La cultura e il mondo degli impiegati, in: S. Cassese (Hrsg.), L'amministrazione centrale, Turin 1984, S. 303-402; zuletzt: S. Cassese, 11 sistema amministrativo italiano, ovvero !'arte di arrangiarsi, in: S. Cassese I C. Francbini, L'amministrazione pubblica italiana. Un profilo, Bologna 1994, S. 11-18. Die gegenseitige Beobachtung der Zeitgenossen verstärkte noch das jeweilige Image. So schauten die Italiener voller Neid, aber auch mit einer gewissen Furcht auf die preußisch-deutsche Staats"maschinerie", vgl. 0 . Weiss, Staat, Regierung und Parlament im Norddeutschen Bund und im Kaiserreich im Urteil der Italiener (1866-1914), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken (von nun an QFIAB), 66 (1986), S. 310-377. Umgekehrt verlachten nicht wenige (protestantische!) Nationalliberale wie Treitschke die "Unordnung" der italienischen Verwaltung, hinter der sie das ihnen nicht geheure Papsturn vermuteten, vgl. H. von Treitscbke, Cavour, in: Ausgewählte Schriften, Bd. 2, 6. Aufl., Leipzig 1916, S. 1-188, hier S. 166 f. ; zum Vergleich der Verwaltungsstrukturen in Italien und Deutschland: A. von Klim6, Neue Wege in der italienischen Verwaltungsgeschichte, in: QFIAB, 73 0993), S. 673-681.
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Erstens: Zwischen den Formen nationalstaatlicher Verwaltungsstrukturen und den sozialen und kulturellen Merkmalen des dazugehörigen Verwaltungspersonals besteht ein enges wechselseitiges Verhältnis. Zweitens: Dieses Wechselverhältnis ist eingebunden in die Dynamik der ökonomisch-sozialen Bedingungen, des politischen Systems und der Kultur des verwalteten Territoriums. Die Ausprägung dieser gegenseitigen Beziehungen entscheidet letztendlich darüber, wie Gesellschaften ihren jeweiligen Staat betrachten. Leider haben sich diese eigentlich selbstverständlichen Erkenntnisse in der Verwaltungsgeschichtsforschung noch nicht etabliere. In den nun folgenden Thesen soll versucht werden, diese allgemeinen Aussagen durch einen Vergleich der italienischen und preußischen Spitzenbeamten in der Zeit zwischen etwa 1870 und 1914 zu illustrieren und zu spezifizieren. Dabei wird sich hoffentlich auch zeigen, daß der vergleichende Zugriff auf historische Probleme zu einer stärker kontextorientierten Betrachtung beitragen kann. Aus zwei Gründen wird nicht die italienische mit der deutschen Verwaltungselite verglichen: Zum einen gab es im betrachteten Zeitraum eine Reichsbeamtenschaft erst in Ansätzen, da das Reich lediglich für Verfassungs- und Finanzfragen, für Außenpolitik, Post und Eisenbahnwesen zuständig war3. Im Gegensatz zur italienischen nationalen Verwaltung stellte die Reichsverwaltung somit eine Art Verwaltungsoberfläche dar und keinen vollständigen Verwaltungsapparat mit Zentralbehörden, Mittelinstanzen und Unterbehörden. Zum anderen rekrutierte das Reich den größten Teil seiner höheren Beamten aus der preußischen Beamtenschaft4• Doch trotz dieser Konzentration aus Preußen soll versucht werden, in einzelnen Punkten auch auf andere deutsche Einzelstaaten einzugehen, um das Bild etwas abzurunden. Eine zweite Einschränkung betrifft den Tätigkeitsbereich der untersuchten Beamten: Ich betrachtete ausschließlich die Spitzenbeamten der Ministerialver"Verwaltungsgeschichte" begnügt sich im allgemeinen mit einer bloß politik-, sozial- und wirtschaftshistorisch gewürzten Beschreibung von Behörden, ohne deren Eingebundensein in Gesellschaften zu reflektieren. Zumeist wird davon ausgegangen, daß staatliche Behörden notwendig seien, ohne ihre Entstehung und Entwicklung zu hinterfragen. Ein gutes Beispiel bilden die Bände der äußerst nützlichen fünfbändigen: Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von K.G.A.jerisch I H. Poh/ I G.Chr. von Unrnh, Stuttgart 1983 ff. Einen tiefergehenden, reflektierten Ansatz verwendet dagegen: Tb. EI/wein, Der Staat als Zufall und Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe, Bd. 1: Die öffentliche Verwaltung in der Monarchie 1815-1918, Opladen 1993. Vgl. W. Frotscher, Die eigenen Angelegenheiten der Bundesstaaten, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 1984, S. 407-3434; E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 1963, S. 833 ff. Vgl. j.C.G. Roehl, Beamtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland, in: M. Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1918, München 1977.
Zwischen Zentralstaat und Peripherie
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waltung beider Länder. Das Personal der italienischen untergeordneten Behörden in den Provinzen und besonders den Gemeinden genoß in der liberalen Zeit noch keinen Beamtenstatuss. Die genannten Einschränkungen der Untersuchungsgruppen sind jedoch notwendig, um die für einen Vergleich notwendige Problemkonstellation zu erhalten, nach der zwei gesellschaftliche Gruppen mit vergleichbaren Funktionen in einer vergleichbaren Situation gegenübergestellt werden6 .
ll. Verwaltungselite und Verwaltungsstrukturen in Italien und Preußen vor dem Ersten Weltkrieg 1. Soziale Herkunft
Über die soziale Herkunft der italienischen Beamten können leider nur sehr ungenaue Angaben gemacht werden. Das hat sowohl historische als auch historiographische Ursachen. In den Personalakten italienischer Ministerien ebenso wie in den zeitgenössischen biographischen Nachschlagewerken werden nur in seltenen Fällen Angaben etwa zum Beruf des Vaters gemacht, eine Frage, der in Preußen dagegen höchste Wichtigkeit beigemessen wurde7 • Hierzu kann auf die Arbeit von R. Romane/li über die segretari communali verwiesen werden: Sulle carte interminate. Un ceto di impiegati tra privato e pubblico: I segretari comrnunali in Italia, 1860-1915, Bologna 1989. Bezeichnenderweise wurden die Komrnunalbeamten, ebenso wie der podesta oder Gemeindevorsteher erst in der Zeit der faschistischen Diktatur "verstaatlicht", oder besser: "verzentralstaatlicht". Mussolini strebte eine Stärkung des italienischen Staates an, den er in eine .Maschine" verwandeln wollte, wobei er unbewußt auf das Unterlegenheitsgefühlt der Italiener gegenüber der preußisch-deutschen Staatsmaschinerie reagierte. Vgl. R. De Felice, Formazione ed evoluzione dello stato giuridico degli impiegati civili dello Stato, in: Cento anni di amministrazione pubblica in Italia, Mailand 1961, S. 177-194, hier S. 189 ff.; G. Melis, La cultura, S. 381 ff.; M. Rusciano, L'impiego pubblico in Italia, Bologna 1978, S. 46 ff.; F Mignella Calvosa, Stato e Burocrazia in Italia. Un'analisi storico-sociale (1923-75), in: Revue Internationale de Sociologie, 14 0978), S. 158-197, hier S. 169 ff. Zur Problematik des historiographischen Vergleichs: A. von Klim6, Eliten zwischen Bürokratie und Politik. Überlegungen zu einem Vergleich Italiens mit Preußen, 1860-1930, in: A. Triebe/ (Hrsg.), Gesellschaften vergleichen, Berlin 1994, S. 332-345. Vgl. die Personalakten des Justizministeriums im Archivio Centrale dello Stato (ACS)/Ministero di Grazia, Giustizia e Culti/Magistrati/Versamento I (1860-1905) und Versamento II (ab 1906); des Innenministeriums: ACS/ Ministero dell'Interno/ Personale fuori servizio/versamento 1930 (riservato) und versamento 1947/ordinari; Unterrichtsministerium: ACS/Ministero della Pubblica Istruzione/ Fascicoli personali 1%1-81. Auch im Innenministerium selbst, im Palazzo Viminale in der Nähe des Zentralbahnhofs be-· finden sich noch Personalakten aus dem 19. Jahrhundert, was als Merkmal der Besonderheiten der italienischen Bürokratie auch im 20. Jahrhundert betrachtet werden kann. Die genaue archivialische Bezeichnung des Fundus ist: Archivio di deposito del Ministero dell'Interno, Direzione Generale per l'amministrazione generale e per gli affari del personale: Registri di matricola del personale. Wertvolle Hinweise findet man auch in einigen Nachlässen im ACS: Und zwar derjenigen der Minister Francesco Borgatti (ACS/ Carteggio Borgatti/Busta 1 und 2, Beamten des Justizministeriums, 1866), Francesco
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Dagegen wird in Italien sehr viel häufiger nach dem Vermögen (patrimonio), in der Regel nach den Einkünften aus Land- oder Immobilienbesitz, gefragt. Dieser Unterschied verweist weniger auf eine andere industrielle Entwicklung, da er schon für die Zeit des Vormärz festzustellen ist, also vor der Industrialisierung Preußens. Vielmehr scheint sich die soziale Einordnung und das gesellschaftliche Prestige in Preußen schon früh an staatlich definierten und kontrollierten akademischen Titeln und Berufen orientiert zu haben8 . In Italien dominierte bis zum Ersten Weltkrieg dagegen die Prestigeskala einer sich selbst organisierenden Besitzergesellschaft9 . Diese unterschiedlichen Konzeptionen waren untrennbar mit dem Verhältnis des jeweiligen Bürgertums zum Staat verknüpft. Marco Meriggi formuliert dies folgendermaßen: "Das Verhältnis zum Staat war demnach für das Bürgertum beider Länder ein zentrales Element des eigenen Selbstverständnisses und der eigenen Machtposition. Während jedoch das deutsche Bürgertum vom monarchisch-autoritären Staat ,kolonialisiert' worden war, stellte der Staat für das italienische Bürgertum ein Legitimations- und Verteidigungsinstrument dar, mit dessen Hilfe der eigene Standort bestimmt und die Grenzen der Bürgerlichkeit abgesteckt werden konnten (Wahlrecht). Dem italienischen Bürgertum war es gelungen, die Monarchie zu kolonialisieren und sich des Staates zu bemächtigen: Das Bürgertum war der Staat" 10•
Trotz der Schwierigkeiten, die den Quellen und der sich in ihnen ausdrükkenden historischen Realität entspringen, lassen sich im Bezug auf die soziale Crispi (ACS/ Carte Crispi - Roma, Präfekten/Innenministerium) und Bettino Ricäsoli (ACS/Carte RicäsolVFondo Bastogi und Fondo Bianchi, Innenministerium). Auch die Personalakten der preußischen Ministerien sind nur in Fragmenten im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlen (GStA) erhalten: Der Bestand Merseburg enthält unter der Repositur 77 (Innenministerium) noch wenige (2451) Personalakten von Höheren Beamten der Zeit von 1840-1939, nicht nur aus dem Innenressort. Ergiebiger, wenn auch ebenso wenig vollständig ist die Repositur 125 (Prüfungskommission für höhere Verwaltungsbeamte), die Prüfungsakten enthält. Dieses Material konnte durch die Repositur 90 aus dem Dahlemer Bestand ergänzt werden: Diese Sammlung von Protokollen des Staatsministeriums urnfaßt auch eine Aktenserie, .speciell betreffend das höhere Personal" einzelner Ministerien. Dagegen sehr wertvoll sind die Nekrologe im Deutschen Reichs- und Preußischen Staatsanzeiger. Sehr ungenau und wenig informativ dagegen die Angaben in zeitgenössischen italienischen biographischen Lexika, vgl. die Mikrofichesammlung: Archivio Biografico Italiano (ABI); D. Amato, Cenni biografici d'illustri uomini politici, Neapel 1887-91; A. Bnmia/ti, Annuario Biografico Universale, Turin 1884-1887; T. Sarti, Il parlamento subalpino e nazionale. Profili e cenni biografici di tutti i deputati e senatori eletti e creati dal 1848 al 1890, Terni 1890. Vgl.]. Kocka, Obrigkeitsstaat und Bürgerlichkeit. Zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, in: W Hardtwig (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Moderne, München 1993, S. 107-121. Allgemein: R. Romanelli, Political Debate, Social History, and the Italian Borghesia: Changing Perspectives in Historkai Research, in: Journal of Modern History, 63 (1991), S. 717-739. Zum Vergleich: M . Meriggi, Italienisches und deutsches Bürgertum im Vergleich, in: j. Kocka I U. Frevert (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1, München 1988, S. 141-159, hier S. 157. 10 Ebd., Hervorhebung im Original.
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Herkunft der Verwaltungseliten beider Länder mindestens drei klare Unterschiede ausmachen, die sehr aufschlußreich sind. Erstens gab es unter den höheren Beamten Preußens, aber auch anderer deutscher Staaten sowie des Reichs einen wesentlich höheren Anteil an Adligen und Nobilitierten als in Italien11 • Selbst unter den Diplomaten und Generälen, eine Kategorie, die in allen damaligen europäischen Ländern eine Domänen des Adels war, betrug die Adelsquote in Italien nur knapp 40%12 . Selbst das republikanische Frankreich wies unter seinen obersten Ministerialbeamten mehr Adlige auf als das neugegründete Königreich, wo der Anteil unter 10% lag13 . Der zweite Unterschied betrifft die räumlich-kulturelle Herkunft der Verwaltungseliten: Wesentlich mehr preußische als italienische Spitzenbeamte stammten aus ländlichen Gebieten (Orten unter 5.000 Einwohnern), während unter den italienischen der Anteil der Großstädter (über 100.000 Einwohner), bei vergleichbaren Bevölkerungsanteilen in beiden Ländern, höher war14• 11 In Preußen lag der Anteil der Adligen unter den drei obersten Rängen im Innen-, Justiz- und Kultusministerium zwischen 52,4% (in den Jahren 1860-1889) und 28,5% (1890-1918). Nach der Revolution sank dieser Anteil auf 9,5%. In Italien betrugen die entsprechenden Anteile lediglich 13,7% (1860-1889), bzw. 8,5% (1890-1922). Unter Mussolini waren ebenfalls weniger als ein Zehntel der obersten Funktionäre in den genannten Ministerien Titelträger (8,3%). 12 Vgl. dazu die umfangreiche Untersuchung der Universita di Lecce, Dipartimento di Storia economica e sociale: La formazione della diplomazia nazionale (1861-1915). Indagine statistica, Rom 1986. Danach betrug der Anteil des Adels bei Diplomaten und höheren Konsularbeamten lediglich 43,2%. Im Deutschen Reich lag der Anteil der Adligen, zum größten Teil preußischer Herkunft, zwischen 1871 und 1914 bei 68,8%. Vgl. L. Cecil, The German Diplomatie Service, 1871-1914, Princeton 1976, S. 66. Nach Pierluigi Bertinaia schwankte der Adelsanteil beim italienischen Offizierskorps zwischen 6,5% (1863) und 3,1% (1887); selbst bei den Generälen übertraf der Anteil des Adels niemlas 40% vgl. P Bertinaria, L'esercito, in: L. Pilotti (Hrsg.), La formazione della diplomazia italiana 1861-1915. Atti del Convegno, Lecce 9-11 febbraio, Mailand 1987, S. 80-89, hier S. 85.
13 Für Frankreich vgl. Ch. Charte, Les hautes fonctionnaires en France au XIXeme siede, Paris 1980; ders., Les elites de Ia Republique (1880-1900), Paris 1987. Ähnliches gilt auch für andere deutsche Staaten. So etwa für Bayern, wo 1910 10,7% der Direktoren und Räte, 38,6% der Regierungspräsidenten, sowie 26,6% der Ministerialdirigenten Adlige bzw. Nobilitierte waren; in den preußischen Ministerien trugen 1912 30o/o der Unterstaatssekretäre 12,8% der Direktoren im Innenministerium und 41 ,4% im Auswärtigen Amt einen Adelstitel. Im Vergleich zur Staatselite der Bismarck-Zeit ging der Anteil der Adligen in Preußen insgesamt jedoch leicht zurück. Das gilt aber nur für den Anteil der Titelträger (von 52,4% auf 38,5%); der Anteil der aus adligen Familien stammenden Spitzenbeamten blieb mit etwa einem Viertel gleich. Abgenom-· men hatte somit nur die Zahl der nobilitierten Bürgerlichen (von 6 auf 5). Vgl. H. Henning, Die deutsche Beamtenschaft im 19. Jahrhundert. Zwischen Stand und Beruf, Stuttgart 1984, S. 42 f.; 47 ff. Auch Hennig stellte fest, daß der Adel vornehmlich hohe, repräsentative Positionen besetzte, während insgesamt das Bürgeturn auf dem Vormarsch war. 14
Das gilt analog für die Reichsbeamten, vgl. j.C. G. Roehl, Beamtenpolitik
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Drittens scheint es unter den höheren Ministerialbeamten Preußens und des Reichs wesentlich mehr Väter gegeben zu haben, die im Staatsdienst standen, also v.a. Beamte, Offiziere, Pfarrer als in Italien. Das weist auf eine deutlich höhere Selbstrekrutierung hin und dies mit steigender Tendenz seit 189015 . Alle drei gennanten Differenzen erklären sich zum Teil aus den unterschiedlichen Rekrutierungssystemen. Die Rekrutierung des Personals der italienischen Zentralverwaltung war zentralisiert. Das bedeutet, daß es egal war, ob ein Bewerber über einen nationalweit ausgeschriebenen concorso (Konkurswettbewerb) oder über einen der möglichen ,Seiteneinstiege' in ein hohes Ministerialamt gelangte: Die Entscheidung für die Einstellung fiel in Rom. Sie oblag dem zuständigen Minister, also einem Parlamentarier16 .
15 Eine Auswertung der oben genannten Quellen ergab für die obersten drei Ränge des jeweiligen Innen-, Justiz- und Kultusministeriums für die Perioden 1860-1889 (Generation "Bismarck"/"Risorgimento"), 1890-1918/22 (Generation "Wilhelm 11."/"Giolitti") und 1919/23-1930 ("Weimar"/"Faschismus") folgende Ergebnisse:
Vaterberuf/ Kategorie
Preußen
Italien Faschismus
Bismarck
Wilhelml.
Weimar
Risorgimento
Gioli!!i
Beamte höhere andere Richter ufficiali Pfarrer Professoren
59,6% 33,3 %
69,2% 25,0%
29,8% 5,3% 7,0% 1,7%
33.9%
(11)
(6)
(8)
(2) (2)
Handel/Grundbesitz Grundbesitzer Händler Handwerk andere
30,9%
Freie Berufe Advokaten/Notare Ärzte/ Apoteker Ingenieure Künstler Literaten Gesamtzahl
-
21,2% 4,0% 7,7% 11,5% 15,4% 9,6% 5,8%
-
9,5%
15,4% 11,5% 4,0%
-
(2)
17,5% 28,1%
-
48,4%
(21) (10) (6) (3) (2)
1 7,7%
(11) (7) (2)
24,6% 1,7% 1,7% 8,8%
-
8,8%
-
(3)
-
42
52
(9) (5) (2) (2)
38
62
(43)
(16)
16 Vgl. G. Melis, La cultura; A. Tar·adel, II modello Cavouriano di amministrazione centrale, in: L'Educazione Giuridca, Bd. IV: II pubblico funzionario. Modelli storici e comparativi, Halbbd. II, Perugia 1981, pp. 363-437, N. Randeraad, Gli alti funzionari del Ministero dell'Interno durante il periodo 1870-1899, in: Rivista trimestrale di diritto pubblico, I 0989), S. 202-265.
Zwischen Zentralstaat und Peripherie
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In Preußen und auch im Reich wurde der Nachwuchs für die höhere Verwaltungslautbahn dagegen dezentral ausgewählt und ausgebildet 17 . Dort lag es in den Händen des Regierungspräsidenten, also des höchsten Beamten auf Regierungsbezirksebene, ob ein Absolvent des ersten juristischen Staatsexamens als Referendar in den Verwaltungsdienst aufgenommen wurde oder nicht. Einen Posten in einem preußischen Ministerium oder gar einem Reichsamt bekam man erst nach einer langen Tätigkeit in der Provinz 18 . Auf diese Weise gelang es der preußischen konservativen Führungsschicht ein relativ homogenes, streng nach sozialen und politischen Kriterien ausgewähltes Beamtenkorps heranzuziehen. In dieses System waren die lokalen Eliten über ihre Vertrauensleute auf den Landratsämtern und in den Regierungspräsidien in den Entscheidungsprozeß mit eingebunden. In Italien sollte dagegen das zentralistisch organisierte Rekrutierungssystem gewährleisten, daß die liberale parlamentarische .,Klasse" 19 die Kontrolle über den Staatsapparat behielt. Die lokalen Eliten Italiens waren ebenfalls indirekt, über ihre parlamentarischen Vertreter in Rom, also anders als in Preußen außerhalb des staatlichen Bereiches, an diesen Verfahren beteiligt. Dies mag in den süddeutschen Staaten des Deutschen Reiches ähnlich gewesen sein, wirkte sich aber auf das Gesamtbild der deutschen Beamtenschaft weniger aus20 .
17 W Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg, Berlin 1972; B . Wunder, Das Prüfungsprinzip und die Entstehung der Beamtenschaft in Deutschland, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1993, S. 11-26. 18 Während ein preußischer höherer Ministerialbeamter im Durchschnitt mit etwa 22 Jahren in den Staatsdienst eintrat und mit etwa 41 Jahren seine erste Stelle in der Zentralverwaltung antrat, also 19 Jahre später, dauerte es in Italien nur durchschnittlich 6 Jahre zwischen dem Eintritt in den Staatsdienst, der etwa mit 24 erfolgte und dem Antritt ersten Stelle in einem Ministerium (im Durchschnitt mit 30 Jahren).
19 Der Begriff .,parlamentarische Klasse" geht auf Paolo Farneti zurück. Nach Farneti war das Parlament der zentrale Raum des politischen Systems im liberalen Italien. Es bildeten sich keine Parteien aus, so daß das Parlament lediglich ein Forum für den Austausch der herrschenden lokalen Eliten, völlig losgelöst vom überwiegenden .,Rest" der Gesellschaft wurde. Aufgrund des klientelistisch geprägten Auswahlverfahrens und des begrenzten Wahlrechts entstand eine parlamentarische Klasse, zumeist bestehend aus Advokaten, anderen Freiberuflern und Grundbesitzen, die sich durch den Besitz politischen Kapitals (Bourdieu), im Sinne von an sie delegierter Macht, von anderen Klassen unterschieden. Vgl. P Farneti, Sistema politico e societa civile, Turin 1971; neuerdings: F. Andreucci, Social Cleavages und the Political System in Late 19thCentury Italy, in: H. Best I H. Thome (Hrsg.), Neue Methoden der Analyse historischer Daten, St. Katharinen 1991. 20 Nach Heinrich Best ist es eine v.a. preußische und norddeutsche Besonderheit (im Gegensatz zu Frankreich und den süddeutschen Staaten), daß die Vermittlung zwischen lokalen und nationalen Interessen in den Händen der lokalen (nicht kommunalen!) Staatsbeamten lag. Vgl. H. Best, Die Männer von Bildung und Besitz. Struktur und Handeln parlamentarischer Führungsgruppen in Deutschland und Frankreich 1848/ 49, Düsseldorf 1990.
7 Janz u. a.
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2 . Die Karrieren
Ähnlich wie die Rekrutierung zeichnen sich auch die Karrieren der italienischen Ministerialbeamten durch eine ausgeprägte Zentralisierung aus. Eine Ministerialkarriere, d.h. eine Laufbahn, die innerhalb eines Ministeriums begann und dort nach etwa 30 Jahren wieder endete, wurde mehr und mehr zum Regelfall21 . Erfahrenes Verwaltungspersonal aus der Provinz wurde nur selten, am ehesten noch im Bereich der Öffentlichen Sicherheit, auf einen höheren Posten in Rom versetzt. Auch die strenge Trennung der einzelnen Behördenlautbahnen verstärkte die etwas paradoxe Tendenz zu einer personellen Abschließung der Ministerien gegenüber anderen Behörden bei gleichzeitiger Offenheit gegenüber politischen Quereinsteigern. In Preußen wie auch im Reich war ein Wechsel zwischen verschiedenen Behörden und Verwaltungszweigen dagegen unproblematischer, da dort ja die meisten höheren Beamten dem allgemeinen Verwaltungsdienst angehörten. Auch dies hängt m.E. mit dem bereits vorher erwähnten grundsätzlichen Unterschied zwischen beiden Ländern zusammen: In Italien sollte im Prinzip alles der Stärkung der Macht des parlamentarischen Ministers dienen; in Preußen und im Reich sollte dagegen der Einfluß der peripheren bürokratischen Behörden (in Verbindung mit den lokalen Eliten) bewahrt und dem zunehmenden Zentralisierungsdruck entgegengestellt werden. Die preußischen Konservativen behaupteten, die stärker dezentralisierte Organisation der preußischen Verwaltung mit der zentralen Figur des Landrats, unterstreiche die Verbindung zum "Volke". Doch tatsächlich wurde dadurch nur die Herrschaft der traditionellen Eliten bestätige2 • Bismarck beschrieb den Unterschied des preußischen Landräte- zum französischen Präfekturmodell, das Italien übernommen hatte, in einer Denkschrift an Prinz Wilhelm (1853) insofern, "daß die Beamten, welche in unmittelbare Berührung mit dem Volke treten, die Landräte, nicht subalterne Unterpräfekten sind, sondern dem angesehensten und wohlhabendsten Teil der Bevölkerung angehören" 23 . Doch auch innerhalb der Ministerien scheinen die preußischen höheren Beamten einen größeren Handlungsspielraum gehabt zu haben, als im zentralistischen Frankreich, dessen Modell Italien übernommen hatte. So urteilte der 1849 nach Paris emigrierte Historiker Karl Hillebrand (1866): "Leur sphere d'activite est on ne peut plus large, et il decident Ia tres-grande majorite des affaires qui chez nous se decident au ministere. Les instructions que
21
Vgl. N. Randeraad, Gli alti funzionari.
Gegen die neuere These von Herman Beck, der behauptet, die traditionellen Eliten Preußens hätten einen Schulterschluß mit den Unterschichten gegen das liberale Großbürgertum gesucht, vgl. H. Beck, The Social Policies of Prussian Officials: The Bureaucracy in a New Light, in: Journal of Modern History, 64 0992), S. 263-298. 22
23 Zitiert nach: FL. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt a.M. 1988, S. llO f.
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les ministres leur donent sont tres sommaires: les inspections sont rares; le droit de nomination sur place est forte etendu; ('initiative leur appartient en toutes choses; ils sont, en un mot, Iew-s propres maftres, sous leur responsabilite personnelle"24.
Die unterschiedliche Entwicklung des Verwaltungsrechts und damit des rechtlichen Status des Verwaltungspersonals25 verstärkt diesen Eindruck: Während im Deutschen Reich bereits 1873 ein Reichsbeamtengesetz verabschiedet wurde und in Preußen die Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts26 galten, blockierte das italienische Parlament bis 1908 eine Kodifizierung der Rechte des Verwaltungspersonals. Das erleichterte willkürliche Eingriffe, aber auch Patronage durch die Minister. Diese Lage wurde zusätzlich kompliziert durch die häufigen Wechsel an der Spitze der Ministerien. Die Folgen des zentralistischen Verwaltungssystems können außerdem anhand des Wachstums der italienischen Ministerien abgelesen werden27 • Während z.B. das dortige Innenministerium auf der Ebene der obersten Abteilungen zwischen 1880 und 1932 vierzehnmal umorganisiert wurde, gab es in Preußen lediglich zwei vergleichbare Veränderungen zwischen 1863 und 1933 und im Reichsamt des Inneren zwischen 1879 und 1917 sogar überhaupt keine! Das geradezu oszilierende Wachstum der italienischen Zentralverwaltung hing auch zusammen mit sozialen und politischen Erfordernissen, zunehmend Stellen vor allem für süditalienische Juristen zu schaffen 28• Bei diesen
24 Eigene Hervorhebungen, zitiert nach: La Prusse et ses institutions, in: Journal de Debats, 24.11.1866, S. 111. Karl Hillebrand (1828-1884), Sohn des katholischen Philosophen Joseph Hillebrand, geboren in Gießen, nahm am badischen Aufstand von 1848 teil und mußte darauf nach Frankreich fliehen. In Paris arbeitete er zeitweise als Sekretär von Heinrich Heine und war ab 1863 Professor für Literatur. 1871 siedelte er nach Florenz über, vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, 50 (1905). 25 Zur Entwicklung des italienienischen Beamtenrechts: M. Rusciano, L'impiego pubblico, S. 48 ff.; M. Colacito, Art. Impiego Statale, in: Enciclopedia del Diritto, Bd. XX 0970), S. 293-305, hier S. 3o6; M. D'Aiberti, L'alta burocrazia in Italia, in: M. D'Aiberti, L'alta burocrazia, Bologna 1994, S. 131-143. Zeitgenössische Klagen über die .Defekte des italienischen Verwaltungsrechts" im Vergleich zu Preußens bei R. Cardon, La giustizia e l'amministrazione, Turin 1884, S. 153-188 (Preußen), S. 222-278 (Italien), wobei der Autor sich auch kritisch gegenüber dem "Polizeirecht" Preußens äußert, vgl. S. 178 ff. Wesentlich positiver wurde das preußische Verwaltungsrecht um die Jahrhundertwende betrachtet. Zu den bedeutendsten Bewunderern zählt der liberal-konservative Verwaltungsrechtier und Politiker Antonio Salandra, der Italien als Ministerpräsident (1914-16) in den Ersten Weltkrieg führte. Vgl. seine Schrift: La giustizia amministrativa nei Governi liberi, Turin 1904, S. 191 ff.
26
1989,
Dazu: B. Wunder, Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt a.M. 28 ff.
s.
27 Vgl. A. von K/im6, Staat und Klientel im 19. Jahrhundert (Italien in der Moderne, 4), Greifswald 1997, S. 49 f.
zK Vgl. M. Barbagli, Disoccupazione intellettuale e sistema scolastico in Italia (1859-1973), Bologna 1974; S. Cassese, Questione amministrativa e questione meridionale, Mailand 1977.
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handelte es sich um die Söhne jener bürgerlichen Wählerschichten, welche die Vormacht des liberalen Honoratiorenblockes im Parlament bis 1919 gewährleisteten. Die relative Stabilität der Ministerialverwaltung Preußens und des Reichs verweist dagegen auf eine stärkere Autonomie, oder negativ ausgedrückt: Abschottung dieser Behörden gegenüber äußeren politischen und sozialen Einflüssen.
]. Selbstdarstellung und Selbstverständnis der Verwaltungseliten Die Sozialisation und der Alltag in den Behörden, die soziale und kulturelle Nähe zu nicht staatlich gebundenen bürgerlichen Milieus führte dazu, daß sich in Italien, im Gegensatz zu Preußen und zum Reich, erst gegen Ende des untersuchten Zeitraums so etwas wie ein .Standesbewußtsein" der italienischen Beamten entwickelte. Lange Zeit fühlten sich die obersten Bürokraten der liberalen politischen Klasse verbunden, mit der sie bis etwa 1890 auch personell eng verquickt waren 29 . Viele Beamte waren außerhalb der Amtszeiten als Advokaten oder Architekten tätig, und pflegten in Vereinen, Wohltätigkeitsorganisationen und Freimaurerlogen allgemeine Formen bürgerlicher Geselligkeit. Diese enge Verbindung zur bürgerlichen Gesellschaft wie auch zur Familie stand einer Identifizierung mit der abstrakten Idee des Staates entgegen. Dagegen war eine Grundvoraussetzung für eine Karriere im höheren Verwaltungsdienst Preußens wie auch des Reichs die Verinnerlicherung des traditionellen elitär-konservativen preußischen Staatsdenkens. Gleichzeitig betonte dieses Beamtenkorps die sozialen und kulturellen Trennlinien gegenüber dem freiberuflichen und dem Unternehmerischen bürgerlichen Milieu, bei gleichzeitigem Bekenntnis zu Monarchie und Militär. Auch die Kluft zwischen den obersten Beamten und den Parlamentariern war in Preußen-Deutschland wesentlich tiefer als in Italien. Denn ein Grundpfeiler der preußisch-deutschen Beamtenideologie, das wurde schon häufig festgestellt, war die Idee dem Staat zu dienen und daher .über den Parteien" zu stehen30 . In Italien entstand ein ähnliches Denken erst langsam, als sich die Krise des parlamentarischen Sy29 Italienische Historiker umschrieben die damalige Praxis der Besetzung von Verwaltungsstellen in Ministerien und Provinzverwaltungen mit Parlamentariern und Freunden von Parlamentarien als .Osmose" zwischen Politik und Verwaltung. In der neusten Forschung bevorzugut man den Begriff .Identität" (identita), vgl. G. Melis, lntroduzione, in: Le Riforme Crispine, Bd. 1, S. 4; die Formulierng der älteren These bei: R. Faucci, L'osmosi, in: S. Cassese (Hrsg.), La formazione dello stato amministrativo, Mailand 1974, S. 69 (sozialer Hintergrund der Eliten); und bei A. Caraccio/o I S. Cassese, lpotesi sul ruolo degli apparati burocratici deii'Italia liberale, in: Quaderni Storici, VI 0971), S. 601-608. 30 PCh. Witt, Konservatismus als .Überparteilichkeit", Die Beamten der Reichskanzlei zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, in: D . Stegmann I B .-j. Wendt I P-Ch. Witt (Hrsg.), Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert, Bonn 1983, s. 231-280.
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stems zuspitzte und Kritiker eine autoritäre Wende, eine "scelta prussiana" einforderten. Doch erst der Faschismus verhalf ähnlichen Gedanken zum Durchbruch31 .
m. Schlußfolgerungen Der Vergleich zeigte, wie Formen und Prinzipien von Verwaltungssystemen geprägt sind durch das politische Denken der herrschenden Eliten und die Gesellschaft, in denen sie entstehen. In Italien hatte eine liberale, teilweise revolutionäre, stärker bürgerlich und parlamentarisch orientierte Elite nach 1860 die nationale Verwaltung bewußt zentralistisch aufgebaut, bzw. an zentralistische Traditionen angeknüpft, da sie den sogenannten Massen wie auch einem Teil der traditionellen Eliten und besonders der katholischen Kirche zustiefst mißtrauten32. Die piemontesische Monarchie und die sie stützenden konservativen adligen Eliten waren bereits 1848 entscheidend geschwächt worden, so daß sie nicht wie ihr preußisches Pendant die weitere Entwicklung in Richtung auf ein parlamentarisches, bürgerliches System aufhalten konnten33. In Preußen war bereits in der Zeit der napoleonischen Kriege ein modernes, bewußt dezentral organisiertes Verwaltungssystem in enger Abstimmung mit lokalen Eliten errichtet worden. Dieses größere Maß an Dezentralisierung und Autonomie basierte aber auf der Voraussetzung, daß die sorgfältig ausgewählten Spitzenbeamten die preußische Staatsideologie verinnerlicht hatten. Modern ausgedrückt ermöglichte erst diese corporate identity der preußischen Beamtenelite die Dezentralisierung, also die Verlagerung von Entscheidungen an untergeordnete Behörden. Dabei spielten ältere Traditionen des Reformabsolutismus ebenso eine Rolle wie der Staatskirchencharakter der großen protestantischen Kirchen, die anders als die katholische Kirche Italiens sich weitgehend mit den Zielen des monarchischen Staates identifizierte und damit wichtige Sozialisationsaufgaben auch für die Bürokratie wahrnahm. Dieses preußische System überstand nicht nur die Revolution von 1848, sondern konnte von Bismarck in das neue Reich hinübergerettet werden. Der bürgerliche Parlamentarismus wurde hingegen erst im nachhinein in dieses 31 Vgl. A. von Klim6, Verwaltungseliten im Übergang vom liberalen Italien zum Faschismus (1890-1930), in:]. Petersen I W Scbieder (Hrsg.), Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat - Wirtschaft - Kultur (Italien in der Moderne, 2), Greifswald 1996. 32 Siehe dazu den Beitrag von Carlo Ghisalberti in diesem Band. 33 Wie sehr der Einfluß des Adels auf den piemontesischen, also den Kern des italienischen, ~taatsapparat nach 1848 zurückgegangen war, belegen eindeutig Pietro Saracenos Arbeiten zu den piemontesischen Richtern. Von diesen trugen um 1847 noch etwa 90% einen Adelstitel, während der Adel nach 1860 bereits in eine Minderheitsposition geriet. Vgl. P Saraceno, Storia della Magistratura Italaina. Le origini. La Magistratura del Regno di Sardagna, Rom 1993, S. 59.
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System eingepaßt und blieb daher lange Zeit ein Fremdkörper. Im liberalen Italien hatte die Bürokratie dagegen eine eher untergeordnete Bedeutung, was ihrem Personal jedoch eine nicht zu unterschätzende geistige Freiheit gegenüber dem Staat sicherte.
Lokale Identität - nationale Identität Die Konstruktion einer doppelten Zugehörigkeit Von Ilaria Porciani
1. Von der Nation zur Stadt1 Die lokalen Identitäten stellen in Italien sicher kein neues Phänomen dar. Sie reichen weit in unsere Vergangenheit zurück und wurzeln im Munizipalismus. Er ist die Erbschaft einer verspäteten unitarischen Staatsbildung und des FehJens einer Kulturhauptstadt, Elemente, die nicht nur die Kultur des Landes in ihrer ganzen Breite, sondern auch das Selbstverständnis der Intellektuellen beeinflußt haben. Es handelt sich auch nicht um rein italienische Phänomene. In einem breiteren Kontext und auf die derzeitige Situation bezogen, hat Ralf Dahrendorf jüngst unterstrichen, daß die Globalisierung selbst eine Wiedergeburt der Lokalismen und eine "bewußte Regionalisierung als Antwort auf den Verlust des Sinns von ,Zuhause', den man auf den großen Märkten empfindet" 2 , nach sich zieht. Einige Studien zum 19. Jahrhundert haben darauf hingewiesen, daß es in der italienischen Entwicklung offenkundige Parallelen zu anderen europäischen Ländern gibt, zu den /ate comers im nationalen Staatsbildungsprozeß wie Deutschland, aber auch zu Ländern wie Frankreich, die sehr viel früher einen Zentralisierungsprozeß auf administrativer wie kultureller Ebene eingeleitet haben. Im Rahmen einer Tagung, in der Italien und Deutschland, ausgehend vom Begriffspaar Zentralismus-Föderalismus, einander gegenübergestellt werden, lohnt es sich, einige Überlegungen zu diesem Thema anzustellen. Ich hoffe, damit auch klären zu helfen, welche Vergangenheit hinter den Tendenzen steht, die sich heute in unserem Land manifestieren. Auf der einen Seite hält die Wiederbelebung lokaler Traditionen an, wobei bekanntlich viele von ihnen erfunden sind. In den letzten zwanzig Jahren haben sie sich in ganz Italien immer mehr verbreitet und sind immer sichtbarer geworden. So wurIch entlehne den Titel dieses Abschnitts, indem ich ihn umkehre, dem Buch M. Meriggi I P. Schiera, Dalla citta alla nazione. Borghesie ottocentesche in ltalia e in Germania, Bologna 1993. So R. Dahrendorf in einem Interview mit D. Pasti, in: La Repubblica, 29. Januar 1997, anläßlich des Bands: Perehe I'Europa? Riflessioni di un europeista scettico, Rom I Bari 1997. Vgl. auch die Bemerkungen von K. Koestlin, Le regioni tra identita e progetto, in: Memoria e ricerca, 6 (Dezember 1995), S. 13-27.
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den Volksfeste gestiftet, die sich auf Stadtteile, Fahnen, Symbole und andere Zugehörigkeiten berufen, was wohl nicht nur als Touristenfang abzutun ist. Auf der anderen Seite sehen wir uns Ereignissen mit völlig neuen Proportionen und Bedeutungen gegenüber. Es geht nicht mehr um die ,kleine Heimat', der Pancrazi in einer Zeit, die für die Nation und den Sinn der gemeinsamen Zugehörigkeit entscheidend war, ein dichtes und schwermütiges Buch widmete. Darin schreibt er, daß der Krieg "bei allem Ruin für das große Vaterland" gelehrt habe, "einen Augenblick lang das kleine Vaterland zu erkennen und zu lieben" 3. Die politischen Losungen werden flankiert durch die mystifizierende Darstellung eines ungewissen "venetischen Volks" mit angeblich klaren Konturen und gemeinsamer Vergangenheit (als ob es zwischen der dominierenden Stadt und der Terraferma nie tiefe Spannungen gegeben hätte) und durch das Bild eines festgefügten und homogenen Nordens4• Er wird versinnbildlicht durch die Ikone der Lega lombarda, in der sich ein vieldeutiger Mythos verdichtet. In den letzten hundertfünfzig Jahren stand Pontida nämlich nacheinander für allgemein patriotische und nationale Inhalte ohne explizite föderalistische Akzente, für antistaatliche katholische Nostalgien und schließlich für die separatistischen Thesen der Lega5. Es lohnt sich deshalb, einige schon sehr früh formulierte und kürzlich weiterentwickelte Hinweise von Lucio Gambi aufzugreifen6 . Sie zeigen, daß die Grundzüge der Region, die die funktionale Homogenität und die Selbstwahrnehmung sicherstellen, unterschiedlich sein können und daß es neben historischen Regionen, die eine frühe, starke und fest umrissene Identität ausgeprägt haben (ich denke vor allem an das AastaTal oder an die Toskana), andere gibt, die künstlich und mit vielen Widersprüchen in .Szene gesetzt worden sind. P Pancrazi, La piccola patria. Cronache della guerra in un comune toscano giugno - luglio 1944, Florenz 1946, S. VI. Natürlich sind die entsprechenden Zusammenhänge ziemlich komplex: Man denke nur an die tiefgreifenden Überlegungen, die in eben diesen Jahren Werner Kegi und Federico Chabod über den Kleinstaat anstellten. 4 M . Meriggi, Breve storia dell'Italia settentrionale dall'ottocento a oggi, Rom 1996, bezweifelt zurecht, daß es ein einziges Norditalien, als einheitliche Zivilisation, gegeben hat. Vgl. P Brunello, Pontida, in: I luoghi della memoria. Simboli e miti deii'Italia unita, Rom I Bari 1997, S. 15-28 und meinen Beitrag: Italien .,Fare gli italiani" zum Katalog der Ausstellung: Mythen der Nationen, Deutsches Historisches Museum, Berlin 1998, S. 210-213. Über das Zusammentreffen des Separatismus der Lega mit der Regionalfrage vgl. auch die Bemerkungen von S. Cavazza, Identita e culture regionali nella storia d'Italia, in: Memoria e ricerca, 6 (Dezember 1995), S. 51-71. 6 Vgl. L. Gambi, L'equivoco tra regioni funzionali e compartimenti statistici, in: Questioni di geografia, Neapel 1965; von demselben Autor: Le .. regioni" italiane come problema storico, in: Quaderni storici, 34 0977), S. 275-299; Che genere di regione e Ia Romagna, in: Studi romagnoli, 20 0969), S. 89-90; L'.,invenzione" delle regioni italiane, in: M . Bel/abarba I R. Stauher (Hrsg.), Identita territoriali e cultura politica nella prima eta moderna I Territoriale Identität und politische Kultur in der Frühen Neuzeit (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Contributi I Beiträge, 9), Bologna I Berlin 1998, S. 375-380. In demselben Sammelband siehe auch A. Viggiano, La Repubblica nello Stato. L'identita patrizia e il governo veneziano dei Domini ,da terra' e ,da mar', S. 47-66; sowie M . Cuaz, Le identita valdostane, S. 29-46.
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Eine Bestandsaufnahme dieser Themen scheint mittlerweile unverzichtbar auch in der Forschung zum nation building, die immer stärker die Verschränkung der Nation mit anderen Identitäten zur Kenntnis nimmt: .Genauso wie die Annahme einer Nationalsprache nicht automatisch zum Verlust des Dialekts, sondern zur Ausbildung differenzierter Sprachpraktiken führt, hat die Annahme einer nationalen Identität historisch mit vielfältigen Zugehörigkeitsinhalten koexistiert: Gruppen-, Regional- und Ortszugehörigkeit"7 • All diese Kollektividentitäten, insbesondere die uns hier interessierenden lokalen, können nicht als zum Verschwinden bestimmte Residuen gelten. Sie erscheinen vielmehr als dynamische Realitäten, die denselben Spannungen und Wandlungen unterliegen, die am Anfang der sogenannten ,Erfindung der nationalen Tradition' stehen. Diese lokalen Identitäten sind nicht Gegenstand eines bloßen Wiederkennungsprozesses, sondern eine regelrechte Konstruktion. Sie erfolgt zum einen durch die lokalen Eliten oder bestimmte politische Bewegungen: in Italien sind in diesem Zusammenhang die Katholiken bemerkenswert, die lange Zeit die lokalen Identitäten gegen den Staat stellten, mit dem sie sich nicht identifizierten, und die auf diesem Wege Räume für eine Dezentralisierung im konservativen Sinn suchten. Nicht selten erfolgt die Konstitution von lokalen Identitäten aber auch ,von oben', nahm der Staat selbst eine aktive Rolle ein. Die Historiographie hat sich bislang vor allem auf die Institutionen konzentriert (ich verweise auf die Diskussion über die Regionen und auf die durch das Präfektursystem flankierte Provinz). Es fehlt jedoch eine adäquate Untersuchung des Vereinswesens auf lokaler, d.h. städtischer, provinzialer oder regionaler Grundlage, das doch zur Umschreibung der sozialen Räume solcher Identitäten so viel beigetragen hat. Schließlich sind alle Praktiken zu untersuchen, die mit der lokalen Erinnerung zu tun haben: von dialektalischen Wendungen bis hin zum Sammlerturn im Bereich der gadgets und der Memorabilia. Es handelt sich also um sehr viel bruchstückhaftere und komplexere Prozesse als die Nationsbildung, die, trotz all ihrer Lücken und Schwächen, bislang zurecht als dominant gegolten hat und deshalb auch früh Gegenstand zahlreicher Untersuchungen geworden ist. Die stark vom Zentrum aus kontrollierten Institutionen, vor allem das Heer und die Schule, aber auch die aufs genaueste von den Präfekten eingehaltenen Rituale wie die Nationalfeste sind in gewisser Weise leichter unter Kontrolle zu halten, auch für Historiker. Schwerer ist eine Gesamtbewertung der lokalen Identitäten, zu deren Konstruktion von Fall zu Fall unterschiedliche Träger und Projekte beitragen; sie schöpfen aus einem Reservoir, das eigentümliche Widersprüche zu nähren vermag. Dennoch lohnt sich dieser Versuch. Auch jene Sparten der Historiographie, die sich mehr als andere auf die Nation als solche konzentrieren, haben nunmehr diesen Weg eingeschlagen8 . F Benigno, Nazionalismi e regionalismi. Frontiere, identita e spazio politico nell'Europa del XX secolo, in: Meridiana, 13 0992), S. 219. Vgl. die Hinweise von M . Agulhon, Conscience nationale et conscience regionale en France de 1815 a nos jours, in: j.C. Boogman I G.N. van der Plaat (Hrsg.),
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Obwohl die Forschung in Italien noch in den Anfängen steht, kann man ein Feld abstecken, auf dem sich die ersten Fallstudien abzeichnen und die ersten Typologien entwickelt werden. Die Regionalidentität nimmt, wie Catherine Bertho vor einigen Jahren in einer wichtigen Studie für Frankreich gezeigt hat, gerade dann eine fest umrissene Gestalt an, wenn sie wie in der Bretagne unterdrückt wird, ein Fall, der signifikanterweise zeitgleich zur Einebnungsdynamik der Revolution und des napoleonischen Kaiserreichs wahrgenommen wird9 . Gerade in jenem Zusammenhang kommt es allmählich zu einem kohärenten und organisierten Diskurs über die Provinz und über die Region: jeder Provinz wird eine bestimmte Geographie, eine Geschichte, eine Galerie bekannter Persönlichkeiten und eine Folklore zuerkannt (Elemente, die die Autorio bereits ab 1830 für gegeben sieht). Was die Situation in Italien während der Restaurationszeit betrifft, ist zunächst festzuhalten, daß vor der Einigung bereits auf verschiedenen Ebenen städtische, subregionale oder auch auf die Regionalstaaten bezogene lokale Identitätsbildungsprozesse abliefen, die jedoch nicht mit der Bildung eines kulturellen Nationalbewußtseins kollidierten. Komplizierter wird es allerdings nach der Einigung, als die Grundzüge anderer kleinerer und naher ,Vaterländer' wieder auftauchen und sich im Verhältnis zu der von oben konstruierten nationalen Identität neu bilden. Die Analogien mit Deutschland sind zahlreich. Der von Celia Applegate untersuchte Fall der Pfalz - ähnliche Hypothesen lassen sich auch für Bayern, Sachsen und Pommern aufstellen- zeigt, daß bereits Anfang des 19. Jahrhunderts vertretene regionale Identitätselemente sich miteinander verbinden und parallel zur Reichsgründung allmählich eine fest konturierte Physiognomie ausbilden. Es geht hier nicht darum, schnelle und eindeutige Gleichsetzungen vorzunehmen. Die föderale Struktur verleiht dem deutschen Zusammenhang einen völlig anderen Kontext als dem italienischen. Eher ist ein dichotomisches Modell wie das von Tacke heranzuziehen, das Frankreich und Deutschland gegenüberstellt. In Frankreich begründet sich die Nation vor allem durch den Staat, während die Region auf den abstrakteren Bereich der Kultur und der Geschichte beschränkt bleibt. In Deutschland dagegen ist die Nation primär Geschichte und Kultur, und die Region ist in den Territorialstaaten verankert und identifiziert sich mit ihnen. In Italien hat man es jedoch meiner Ansicht nach mit einem gegenüber Deutschland etwas anderen Phänomen zu tun. Hier sind es, zumindest in einigen Fällen, die lokalen Eliten, die auf der Grundlage von Geschichte und Kultur Regionalidentitäten schaffen, die es vorher nicht gab.
Federalism. History and Current Significance of a Form of Government, Den Haag 1980. 9 Vgl. C. Bertho, L'invention de Ia Bretagne. Genese sociale d'un su!reotype, in: Actes de Ia recherche en sciences sociales, 1980, S. 45-62.
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Wenn man sich auf ein Terrain wie das der "Heimat" begibt, kann man sich mit der von Ferdinand Tönnies vor einem Jahrhundert getroffenen Unterscheidung von "Gesellschaft" und "Gemeinschaft" schwerlich zufrieden geben. Diese stellen nämlich nicht zwei bestimmte Stufen einer linearen und dichotomischen Entwicklung dar, sondern zwei Pole, zwischen denen jede Form menschlicher Vergesellschaftung oszillieren kann 10• Die Heimat besteht nicht zuletzt aus Verlockungen: dem Idyll einer kleinen lokalen Gemeinschaft, der Opposition gegen die einebnende Modernität, der Harmonie einer freundlichen und kontrollierten Natur und einer häufig stilisierten Ländlichkeit. Auch diese Elemente sind im Laufe der Untersuchung zu berücksichtigen. Um die lokalen Identitäten zu verstehen, lohnt es sich also, nach den Tempi und den Modi zu fragen, mit denen das Phänomen in Erscheinung tritt, nach den sozialen Akteuren, die es sich zu eigen gemacht haben und die es interpretiert oder gar konstruiert haben. Darüber hinaus ist zu fragen, auf welche Vergangenheit sich diese Identitäten gegründet haben oder in welcher sie sich spiegeln wollten, und schließlich, in welchem Verhältnis die Konstruktion dieser Identitäten zu anderen nationalen Identitätsbildungsprozessen gestanden hat. Die beiden Prozesse sind auf jeden Fall parallel zu lesen. Für Deutschland hat die Arbeit von Charlotte Tacke 11 und für Italien haben einige Beiträge von Bruno Tobia 12 gezeigt, daß die metaphorische und materielle Konstruktion von nationalen Denkmälern und Symbolen die Chance bietet, soziale Räume auch auf regionaler Ebene (meistens der Honoratioren und des Bürgertums) neu zu definieren und zu straffen. Ereignisse wie die Pilgerfahrt zum Pantheon 1884 oder die Geldsammlung für die verschiedenen Denkmäler wie etwa das für Viktor Emanuel in Rom sind Anlässe, in denen sich auch die lokalen oder regionalen Komponenten wiedererkennen können, etwa bei der Durchführung der Kollekten oder bei den Ehrungen, die die einzelnen Delegationen - z.B. 1884 - den Gefallenen ihrer jeweiligen Stadt erweisen. So erwähnt Tobia etwa "die Ehrung der Büste des bei der Verteidigung Roms gefallenen Mailänders Luciano Manara durch die Bürger seiner Stadt oder den Zug der Bologneser zum Gianicolo zur Ehrung ihrer dort Gefallenen; ferner den Zug einer Delegation aus Cremona zur Porta San Pancrazio zur Ehrung des Cremonesers Pagliari oder den Umzug von Bürgern aus Teramo zur Porta Pia (die erste Kompanie, die durch die historische Bresche stieß, waren Bersaglieri aus Teramo)" 13. Demselben Kontext können die zahllosen Gedenksteine und Nekrologe für Gefallene in den italienischen Städten zugeordnet werden,
10 Vgl. C. Applegate, A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley I Los Angeles I Oxford 1990, S. 4. 11 Vgl. C. Tacke, Denkmal im sozialen Raum, Göttingen 1995 und dies., Movimenti nazionali borghesi tra nazione e regione, in: M. Merlggi I P Scbiera (Hrsg.), Dalla citta alla nazione, S. 249-273. 12 Vgl. insbesondere B. Tobia , Associazionismo e patriottismo: il caso del pellegrinaggio nazia nale a Roma del 1884, ebd., S. 227-248. 13 Ebd., S. 229.
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die immer und nicht ohne Widersprüche eine doppelte Bedeutungsebene aufwiesen: eine nationale und eine kommunale, die Nation und die Stadt. In Florenz wurde z.B. 1863 die Einladung zur Einweihung eines Gedenksteins für die "gefallenen Bürger" verteilt. Der aus dem Büro des Bürgermeisters kommende Text war mit einer Korrektur versehen: Der Terminus "Bürger" war zur Vermeidung von Mißverständnissen durch das Wort "Florentiner" ersetzt worden14. Diese Tendenz wird noch deutlicher, wenn man den hohen Stellenwert der wiederkehrenden, im Gedächtnis der Stadt fest verankerten patriotischen Gedenktage in Rechnung stellt. Sie übertreffen an Ausstattung und Teilnehmerzahl nicht selten das Nationalfest des "Statuto". Der 11. Februar in Padua oder der 12. Januar in Palermo, "städtische Jahresfeier der Revolution von 1848" 15 , oder der 8. August in Bologna (diesem Datum war nicht von ungefähr das imponierendste der Risorgimento-Denkmäler in der Stadt gewidmet) und die Feiern für die Schlachten von Curtatone und Montanara in Florenz, Siena und Pisa sind starke Momente einer lokalen oder regionalen Identität auf dem neuen Boden der Nation. Sie sind ein Mittel, um älteren und tiefer verwurzelten lokalen Identitäten einen neuen nationalen Zuschnitt zu geben und ihnen die Nation näher zu bringen. Im Fall von Florenz kommt eine Intervention von oben zum Vorschein, auf die wir nicht gefaßt waren und die eine zu sehr auf die Nation abhebende Interpretation des Zeremoniells relativiert. Im Jahr 1867 beschließt der Gemeinderat, die getrennte Gedenkfeier für Curtatone und Montanara abzuschaffen "in der Meinung, daß der Augenblick gekommen ist, um mit feierlichem Begräbnis an einem einzigen und bestimmten Tag im Jahr des glorreichen Endes aller für die Unabhängigkeit des Vaterlands gestorbenen Italiener zu gedenken". Daraufhin befürchtet nun der Generalsekretär des Innenministeriums, daß diese Maßnahme auf die Florentiner Bürgerschaft einen schlechten Eindruck machen könnte, die "aus dieser Gedenkfeier eine ihrer liebsten patriotischen Traditionen gemacht habe"; er erreicht, daß zumindest die Messe in Santa Croce beibehalten wird 16. Andererseits stellen sich Präfekten, Abgeordnete und Bürgermeister bei diesen Feiern als Repräsentanten der Stadt und der Nation zugleich dar. Erinnert sei bloß an die Rolle der Obrigkeiten und der Honoratioren bei den Schulfesten oder den Wohltätigkeitsveranstaltungen, bei denen sie im Mittelpunkt einer Patronage stehen, die vor allem auf die Stadt zugeschnitten ist17 . Wir haben diese Beispiele vorweggenommen, weil wir die Teilnahme regionaler Abgeordneter an Nationalfesten nicht behandeln und die patrioti14 Vgl. Archivio storico del comune di Firenze, b. 4237, Festa dello Statuto. 15 Vgl. Archivio di Stato di Palermo, Prefettura, Gabinetto, 1860-95, b. 31, Fasz. 2. 16 Archivio storico del comune di Firenze, Deliberazioni del consiglio 1862-65, S. 250-251. 17 Vgl. meine Arbeit: La festa della nazione. Rappresentazione dello stato e spazi sociali nell'Italia unita, Bologna 1997, S. 162-167.
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sehen Feste, die wenigstens zum Teil in Konkurrenz zu dem landesweit gefeierten Nationalfest standen, nicht näher untersuchen können. Das würde zu weit führen, noch dazu bei einem ungesicherten Erkenntnisstand18 . Wir konzentrieren uns stattdessen auf zwei entscheidende Daten: die zwei Jahre der Annexionen und das fünfzigjährige Jubiläum des Königreichs im Jahre 1911. Zwischen ihnen liegt eine lange Zeitspanne, in der nur schwer Zäsuren ausgemacht werden können, die für all die vielfältigen Ebenen der Konstruktion lokaler Identitäten Gültigkeit haben. Wie noch zu zeigen sein wird, sind eher allmähliche Übergänge als jähe und für das gesamte nationale Territorium bedeutsame Zäsuren zu verzeichnen.
2. 1859-1860: Zwei ausschlaggebende Jahre Der zwei Jahre währende Zeitraum der Annexionen begann mit der Wahrnehmung einer Leere und schloß mit der Angst vor einer Aufsaugung. Die Leere wurde durch den Zusammenbruch der alten präunitarischen Staaten hinterlassen. Er bedeutete nicht nur den Abgang von Monarchen, die kaum noch, wenn überhaupt jemals, geliebt worden waren, sondern auch das Ende eines politischen (und in gewisser Weise auch sozialen) Raumes, das Ende des Kleinstaats. Einige Städte verloren ihre Hauptstadtrolle, und es fielen die Grenzen. Die Angst vor einer "Piemontisierung" ging um. "Mailand erlebte den Eintritt in den Einheitsstaat fast als erniedrigenden Abstieg und brutale Auslöschung", schreibt Silvio Lanaro in Anlehnung an die Zeilen, die Carlo Tenca am 15. März 1861 an die Gräfin Maffei richtete: "Dieses neue Italien, Gott segne es! Bis jetzt ist es ein Körper, der keine Seele gefunden hat. Und unterdessen vergeht die Seele unserer Stadt Mailand" 19. Das "Archivio Storico Campano", eine Zeitschrift, die immerhin das Motto der deutschen "Monumenta", Sanctus amor patriae dat animum, übernommen hatte, erinnerte fast drei Jahrzehnte später, 1889, daran, daß Regionen und Provinzen "auf dem Altar des Vaterlands staatliche Vorrechte, moralische und materielle Interessen geopfert (haben), im sicheren Bewußtsein, zur Bildung des freien und geeinten Italien beigetragen zu haben" 20 . Der Beitrag zur Einheit wurde also als "Opfer" definiert: ein starker Begriff, der in jenen Jahren oft auf das Opfer des Lebens für das Vaterland bezogen wurde. Um diesen Verlust zu kompensieren, blühte jetzt eine Gelehrsamkeit wieder auf, die auf anderen Grundlagen die verlorene Identität neu erschaffen sollte. Diese Tendenz setzte sich sofort durch; sie 18 Vgl. einige Bemerkungen in meinem Beitrag: Appunti sulle feste pubbliche a Bologna dall'arrivo dei francesi all'eta della Destra storica, in: C. Col/ina I M . Gavel!i' (Hrsg.), Passi di danza, passi di parata. Feste civili e patriottiche a Bologna 1796-1870, Bologna 1994, S. 18-20. 19 S. Lanaro, Le elites settentrionali e Ia storia italiana, in: Meridiana, 16 0993), S. 30. Vgl. das ganze, der Frage des Nordens gewidmete Heft. 20 Es handelt sich um den mit "i compilatori" unterzeichneten Leitartikel der Zeitschrift: Archivio Storico Campano, I (1889), 1, S. III.
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wurde unterstützt durch den voluntaristischen und in gewisser Weise auch utopischen Zug, der die Politik der provisorischen Regierungen prägte: Alles, so schien es, konnte dekretiert und neu begründet werden, zumindest im Bereich der Kultur; andere mußten dann die Erfahrung machen, wie schwer es war, die vielen ehrgeizigen Pläne mit den alles andere als vollen Kassen des Staates in Einklang zu bringen. Doch obwohl diese provisorischen Regierungen ein ziemlich kurzes Leben hatten, hinterließen sie Spuren, auf die sich in den folgenden Jahrzehnten lokale Intellektuelle und Politiker in ihrem Streit mit der fernen Hauptstadt berufen konnten. Diese Tendenz ist schon mehrmals in anderen Zusammenhängen hervorgehoben worden. Sie kam vor allem in den Gebieten zur Geltung, die zum Kirchenstaat und zur Toskana gehört hatten. Es lohnt sich, einige Aspekte dieses Vorgangs unter· dem Gesichtspunkt der Konstruktion regionaler und lokaler Identitäten neu zu interpretieren. Ein aufmerksamer und belesener Chronist der Stimmungen jener zwei Jahre, Marco Tabarrini, unterstrich, daß die neue Rhetorik des großen Vaterlandes sehr darauf aus war, die Liebe zum kleineren Vaterland auszunutzen. Dieser Aspekt wird besonders deutlich, wenn das kleine Vaterland, wie hier, das von Lucca ist, das stolz auf seine Geschichte und auf seine Traditionen als Stadtstaat ist und dessen Grenzen erst seit einem Jahrzehnt nicht mehr bestehen. "Ich weiß nicht, wer der Autor dieser Worte ist" - fragt sich Tabarrini anläßlich einer Rede Bettino Ricasolis vom 12. Februar 1860 - "aber die Gedanken stammen von ihm. Er hat allen städtischen Glorien Luccas geschmeichelt, um sie dem unitarischen Begriff näher zu bringen, der, wie er diesmal ohne Umschweife gesagt hat, das gesamte Land zwischen den Alpen und dem Leuchtturm umfaßt" 21 . Der Kommentar Tabarrinis fiel zynisch aus: "Man spricht von Verwaltungsautonomie und von Traditionen, aber es sind Worte, noch dazu reichlich verwickelte. Es wird einen Übergangszustand geben, und dann wird das Parlament alles nivellieren" 22 . In einer so delikaten Phase, das fällt auf, war es also opportun, gerade auf die "städtischen Glorien" abzuheben; dies konnte äußerst hilfreich sein, wenn es darum ging, die öffentliche Meinung auf den Eintritt in die neue staatliche Realität vorzubereiten. Betrachtet man die Politik der provisorischen toskanischen Regierung global, wird deutlich, wie wichtig sie die Neudefinition einer toskanischen Kulturidentität nahm. Die zwischen 1859 und der Annexion in Angriff genommenen Restaurationsarbeiten an Denkmälern und Kunstwerken dienen unzweideutig der Bewahrung des toskanischen Kulturguts. Sie sind zu umfangreich, um nicht einen ideologischen Stempel zu tragen. Gerade einmal zwei Monate nach der Vertreibung des Großherzogs wurde nicht nur die Restaurierung der Kirchen Santa Maria Novella und San Lorenzo genehmigt, sondern auch die Schaffung eines Museums für toskanische Altertümer im Palagio del Podesta, 21
M . Taban'ini, Diario, 1859-60, hrsg. von A. Panella, Florenz 1959, S. 123.
22
Ebd., S. 140.
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die Bildung einer Kommission zur Konservierung der Denkmäler und der Kunstgegenstände und die Finanzierung zahlreicher heimatgeschichtlicher Studien. Bekanntlich ging man noch weit darüber hinaus und arbeitete sehr ehrgeizige Projekte aus. Zu nennen ist etwa die Gründung des Instituts für höhere Studien, das zur Definition der Regionalidentität und der Regionalhauptstade3 beitragen sollte, oder die Verteidigung des Florentiner Modells bei der Organisation der historischen Studien24 . Man könnte hier überhaupt das gesamte Projekt anführen, das in der Toskana im Bildungswesen verfolgt wurde, von den Volksschulen bis zu der besonderen Verkoppelung von Gymnasium und Universität25 . In allen diesen Fällen lag eine komplexe Gemengelage kultureller und politischer Elemente vor, die mit den Eigenarten der ersten toskanischen Destra zu tun hatten26. Sie lassen sich mit der Formel, die auch die Zeitung "Nazione" am 17. Januar 1860 aufnahm, "Etruria docet", auf den Begriff bringen. Auch in der Emilia kam es in der schwierigen Phase der provisorischen Regierungen - vor allem dank Politikern wie Minghetti und Farini, die nicht zufällig für die Dezentralisierung eintraten - zu einer Reihe von Projekten, die die lokale Kulturidentität hervorheben sollten. Das betraf nicht nur die Hochkultur sondern auch die Sitten und Gebräuche des Volkes. Der Unterrichtsminister der provisorischen Regierung, Antonio Montanari, verwies im Februar 1860 auf ein breites Spektrum von Zielsetzungen. Abgesehen von historischen Studien war vorgesehen, "den Wortschatz der wichtigsten Dialekte der Emilia zu sammeln, nicht nur den Wortschatz der in den größeren Städten gesprochenen Dialekte, sondern auch jene veralteten und abgelegten Wörter, die im Pöbel und bei den Bauern in Gebrauch geblieben sind; die alten und neuen Dialektnamen der Flüsse, der Bäche, der Ströme, der Wälder, der Berge, der Felder, der Häuser, die volkstümlichen Legenden, Traditionen und alten abergläubischen Geschichten aufzuschreiben, die bei den weniger gebildeten Klassen noch überdauern; die Hausgebräuche, Gewohnheiten, die Formen für Brot und Kuchen und die besonderen Besuchsarten, die Trauer- und Beglückwünschungsbesuche zu beschreiben; kurz, dahin zu wirken, daß die Worte und die Sitten der Geschichtsschreibung ebenso dienen können wie die archäologischen Denkmäler und sie so aufgearbeitet werden, daß ein Vergleich mit den Sprachen, Dialekten und Gewohnheiten anderer Länder möglich wird" 27 23 Vgl. E. Garln, L'Istituto superiore cento anni dopo, in: La cultura italiana tra '800 e '900, Sari 1966, S. 29-66. 24 Vgl. meine Arbeit: Stato e ricerca storica al momento dell'unificazione: Ia vicenda della Deputazione toscana di storia patria, in: Archivio Storico Italiano, 136 0978), S. 351-403. 25 Vgl. meinen Aufsatz: Lo stato unitario di fronte alla questione dell'universita, in:. I. Porciani (Hrsg.), L'universita tra Otto e Novecento. I modelli europei e il caso italiano, Neapel 1993. S. 133-184. 26 Vgl. A. Salvestrlni, I moderati toscani e Ia classe dirigente italiana (1859-1976), Florenz 1965. 27 Referat des Unterrichtsministers (Modena, 9. Februar 1860), zitiert in: La R. Deputazione di Storia Patria per le provincie di Romagna dell'anno 186o al 1894, Bologna 1899, S. 9.
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Montanari faßt hier nicht nur ein breites Spektrum von Maßnahmen ins Auge. Er schlägt auch nachdrücklich verschiedene "Territorialkommissionen" vor, die die jeweiligen "Kreise" untersuchen sollen. Er vertritt ein stark dezentralisiertes Modell, in dem sich die verschiedenen "Provinzen der Emilia" in ihrer Individualität wiedererkennen können sollten; implizit hatte er vielleicht die Absicht, Wissenschaftler und Honoratioren der einzelnen Städte zu beteiligen. Ausgangspunkt dieses Projekts war die Notwendigkeit, ein historisches Gedächtnis zu konstruieren, das sowohl der Emilia als auch der Romagna und dem Umland Parmas Raum und Sichtbarkeit gab: unterschiedlichen Regionen, aber auch unterschiedlichen Städten. Das Ganze sollte sich dann auch in der Organisation der historischen Forschung niederschlagen. Hier wirkten sich die beträchtliche Unterschiede in den regionalen Traditionen aus. Die von Farini begründete Deputation für Heimatgeschichte der Provinzen Emilia und Romagna löste sich auf. Die Deputation für die Romagna und die für die Provinzen Parmas spalteten sich ab, da sie ihre Traditionen nicht mit der emilianischen vermischen wollten28 • 3. Die Rolle der Geschichte Die Heimatgeschichtsvereine treten nicht erst nach der nationalen Einigung in Erscheinung. Hier wäre etwa an die relativ früh gegründeten in organischem Zusammenhang mit dem Königreich Sardinien stehende piemontesische Deputation zu erinnern. Sie war bereits in den dreißiger Jahren im Rahmen der Eingriffe Carlo Albenos in die Kultur- und Repräsentationspolitik des Königreichs entstanden. Eine Gruppe von Historikern, die die savoyische Perspektive der Turiner Institution nicht teilen wollten, hatten 1858 die "Societa ligure di storia patria", die ligurische Gesellschaft für Heimatgeschichte, gegründet29. Im selben Jahr erarbeitete Adamo Rossi, Bibliothekar der Gemeindebibliothek Augusta und Professor am Gymnasium von Perugia, das Projekt einer "historischen Bibliothek Perugias", das dann nicht realisiert wurde. Hier soll jedoch nicht die Geschichte dieser dann blockierten Versuche geschrieben werden, zumal darüber wenig bekannt ist; unterstrichen werden soll vielmehr, daß dieser Prozeß vor allem seit der Einheit größere Dimensionen gewann, denn hier entstanden nun die Voraussetzungen für zahlreiche Initiativen sowohl im Bereich der Geschichtsforschung und der Quellenedition als auch in dem des Denkmalschutzes und der Denkmalpflege.
ZH Vgl. R. Morghen, L'opera delle deputazioni e societa di storia patria per Ia formazione della coscienza unitaria, in: Il movimento unitario nelle regioni d'Italia. Atti del convegno delle deputazioni e societa di storia patria svoltosi in Roma dal 10 al 12 dicembre 1%1, Bari 1963, S. 10 ff. 29 Vgl. E. Grendi, Storia di una storia locale: perehe in Liguria (e in Italia) non abbiamo avuto una ,local history'?, in: Quaderni storici, 28 0997), 82, S. 141-197.
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Das lokale Kulturleben intensivierte sich mit dem Eintritt in den Einheitsstaat. Die Eröffnung neuer Schulen und besonders staatlicher Gymnasien, die vereinzelte Gründung von Bibliotheken und Pinakotheken, die Erneuerung des lokalen Verwaltungsapparats vor allem in den Provinz-Hauptstädten schlug sich im lokalen Kulturleben deutlich nieder und begünstigte ein neues Vereinswesen. Paradoxerweise setzte gerade die Einheit einen kulturellen Prozeß auf lokaler Ebene in Gang, dessen Träger Historiker und andere Gebildete waren, die sich meist auf die "Stadtgeschichte und den lokalen Denkmalschutz" konzentrierten und "die kulturellen Eigenarten der eigenen Städte und ihren spezifischen Beitrag ... zum nationalen Leben" 30 hervorhoben. Das galt für Regionen ohne starke Identität wie etwa Umbrien oder Apulien oder die Abruzzen, aber auch für Regionen und Städte, die ausgeprägtere Traditionen aufzuweisen hatten. Dies gilt nicht nur für die Geschichtsvereine, sondern auch für den vielfältigen Bereich der Denkmalschutzvereine und der historischen Kommissionen und wird auch durch Allegorien an öffentlichen Gebäuden wie etwa Rathäusern bestätigt. Ich erwähne nur die schöne Allegorie "Genova gloriosa"; sie wurde von Niccolo Barabino für die Stadt Genua gemalt und auf dem Titelblatt der "IIlustrazione italiana" von 1879 publiziert. Ein anderes Beispiel sind die städtischen und regionalen Motive im Risorgimento-Saal des Palazzo pubblico in Siena, eines der bedeutendsten Werke symbolischer Repräsentation jener Jahre31 . Vor allem in den Palazzi der Provinzverwaltungen, die im Unterschied zu den Rathäusern oft neu erbaut wurden, verschränkten sich historische Erinnerung und Repräsentation der lokalen Identität miteinander. In Sassari gab der Provinzialrat zwischen 1873 und 1878, in enger Verbindung mit den lokalen Historikern, dem Maler Giuseppe Sciuti die Themen der Fresken für den Ehrensalon vor. Sie wurden als "erstes, gelungenes Beispiel eines bürgerlichen Gemäldezyklus in Italien" bezeichnet. Die ausgewählten Ereignisse sind bezeichnend: Die Botschafter der Gemeinde Sassari verlesen 1294 die Konvention, die die Freiheit der Republik Sassari sicherstellt, wenn auch im Rahmen der verbrieften Treue zu Genua; die Ankunft Angioys, der, wenn man Giuseppe Mannos "Storia moderna di Sardegna" glauben darf, mit dem Ruf .es lebe die sardische Nation, es lebe die Freiheit" begrüßt worden war2 . Der Akzent lag in diesem Fall besonders deutlich auf der sardischen Identität: Der Maler begnügte sich nicht damit, Dalzanis "Galleria di costumi sardi" zu studieren; er fuhr vielmehr nach Sardinien, um sich Männer der Gegend als Modelle zu nehmen. 30 F Bracco I E. /race, La memoria e l'immagine. Aspetti della cultura umbra tra Otto e Novecento, in: R. Covino I G. Gallo (Hrsg.), L'Umbria, Turin 1989, S. 610 ff. 31 Dazu vgl. Cartoni di Cesare Maccari per gli affreschi nel Palazzo Pubblico di Siena, Mailand 1998. 32 Vgl. A . Mattone, La storia di Sassari e della sua provincia negli affreschi dello Sciuti, in: Il palazzo della provincia di Sassari, Mailand 1986, S. 77.
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Hinter solchen Operationen stand die Absicht, zu zeigen, wie stark die Macht des Staats über die Provinz .in der lokalen Zeit (sozusagen dem Beziehungsraum der repräsentierten Bürger) und in der allgemeinen Zeit der Nation" verankert wa~3 . Das Hauptinstrument zur Definition der lokalen Identität war die Geschichte, schon deshalb, weil die historischen Studien ein Regelwerk auszubilden und eine bestimmte Rolle zu spielen begannen und dabei allmählich über eine relativ starke Organisationsstruktur verfügen konnten. Die Geschichte dieses Vorgangs ist bekannt, aber es lohnt sich vielleicht dennoch, sie kurz in Erinnerung zu rufen. Die Auseinandersetzung um die Edition der Dokumente begann nach dem 1859 im Bereich der historischen Studien angelaufenen piemontesischen Zentralisierungsversuch. Nach der Annexion der Lombardei sollte die Einflußzone der subalpinen Deputation auch auf diese Region ausgedehnt werden, ganz so, als ob man auch die historische Identität und die Forschung, die sich ihr verpflichtet fühlte, hätte annektieren können. Dies wurde als einer der vielen Versuche von "Piemontisierung" wahrgenommen, und zwar auf einem Gebiet, für das die Intellektuellen besonders sensibel waren: dem der Geschichte und der Erinnerung. Die lokalen Identitäten erschienen unterdrückt, und man befürchtete, daß die Räume für andere Initiativen, die Historikern unterschiedlicher regionaler Herkunft Mitwirkungs- und Ausdrucksmöglichkeiten gegeben hatten, in Frage gestellt würden. Die historische Erinnerung wurde, wenn auch nur in der Form von Quellensammlungen und Quelleneditionen, Gegenstand einer heftigen Auseinandersetzung. Ich erinnere hier bloß an den Fall der Toskana, wo das "Archivio storico italiano" von Vieussieux seit 1841 verschiedene regionale Traditionen zusammengeführt und die Quellenedition auf nationaler Ebene zu koordinieren versucht hatte. Zum Zeitpunkt der Einigung stand die Gruppe der Toskaner einem Autonomieverlust auf diesem Gebiet ausgesprochen feindselig gegenüber. Es kam deshalb zu langwierigen Verhandlungen; es ging darum, die Zeitschrift zu retten und die "gefährliche Tendenz" zu begrenzen, "die sich von den Archiven über die Bibliotheken, die Kunststiftungen, die Galerien allmählich auf all das ausdehnt, was mit den lokalen Interessen, dem intellektuellen Leben des Königreichs in Zusammenhang steht" 34 . Wie später deutlich wurde, konnte auch die kulturelle Identität und das Gewicht der historischen Erinnerungen eine Münze im politischen Geschäft werden. Der Widerstand gegen die Zentralisierung auf dem Gebiet der Forschung und der historischen Repräsentation war aber noch viel breiter und beschränkte sich nicht auf Florenz. Nach und nach, beanspruchten unterschiedliche Historikergruppen für die Geschichte ihrer Provinz oder ihrer Region das 33 Vgl. M . Magnani, Giuseppe Sciuti e il ,suo ' salone, in: Il palazzo della provincia, S. 88-103.
34
La Nazione, 2. Februar 1861.
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alleinige Besitzrecht Auf diese Weise kam es zu einer Reihe von Abspaltungen von den überregionalen Deputationen. 1875 verließen die lombardischen Historiker die subalpine Deputation, in der sie sich nicht mehr wiedererkennen konnten3;. Ein Jahr später setzte die Veröffentlichung des "Archivio Storico per Je Province Napoletane" ein; es wurde von einer zwei Jahre vorher gegründeten Gesellschaft für Heimatgeschichte herausgegeben. In den darauffolgenden Jahren steigt die Zahl ähnlicher Initiativen kontinuierlich an; sie liefen parallel zur Vermehrung von Kommissionen und Komitees für Denkmalpflege, für historische Restaurierungen, für den Museumsausbau. Überall entstanden neue historische Gesellschaften und Deputationen: in Palermo, in Ferrara, in den Marken, in Valdelsa, in Apulien (1895), in Gallarate (1896), in Vigevano (1897), in Pistoia und in Umbrien (1898), in Messina (1900), in Pavia 0901), in Ostsizilien 0904) und im Friaul (1911). Am Beispiel des kürzlich untersuchten Falls von Umbrien kann die Geschichte einer solchen Abtrennung von der toskanischen historischen Deputation, im Zusammenhang mit einem vorher nicht vorhandenen regionalen Identitätsbildungsprozeß beschrieben werden36. Er war von Zeitschriften und Zeitungen getragen, die in den siebziger Jahren zu erscheinen begannen und die auch hier besonders auf die Kunst zielten, wie z.B. das "Giornale di erudizione artistica", das einige Jahre vor der Gründung des "Archivio storico per Je marche e I'Umbria" (1884), der "Societa umbra di storia patria" und der "Deputazione di storia patria per Je Marche e per I'Umbria" von 1896 herauskam. Bereits diese Daten markieren eine Art Kontinuum, das auch andere italienische Regionen kennzeichnet, wo Initiativen und Gründungen von Literaten, Historikern und Folkloristen eine Iokalistische Tendenz fortführen, die jedoch in der Nation einen starken Bezug hat. Für Umbrien ist die Arbeit am Mythos des kriegerischen Umbrien, der den Mythos Carduccis vom "grünen Umbrien" flankiert, zu nennen; er beruht auf mediävistischen Studien, in deren Mittelpunkt das freie Volk von Perugia stand, während das "Archivio storico del Risorgimento umbro" bereits 1905 einen regionalen und nationalen Diskurs entwickelt hatte·17.
Die zeitliche Reihenfolge der Organisation kunstgeschichtlicher und historischer Studien (in der Mediävistik wie in der neueren Geschichte) die Bracco und lrace präzise und überzeugend dargestellt haben, steht wahrscheinlich stellvertretend für eine auch anderswo stattfindende Entwicklung. Der Fall der Abruzzen, den wir hier nicht ebenso detailliert verfolgen können, gewinnt anhand der ersten Nummer des Bulletins der "Societa di storia patria" ziemlich deutliche Konturen. Im Geleitwort der Zeitschrift heißt es dazu deutlich: "wenn nach der Schaffung Italiens - dem bekannten Ausspruch nach - noch die 3' Vgl. G. Martini, L'"Archivio Storico Lombardo": origini e signiticato di una grande impresa cul!urale, in: Nuova Rivista Storica, 61 0977), 3-4, S. 377-387. 36 R. Covino, Dall'Umbria verde all'Umbria rossa, in: R. Covino I G. Gallo (Hrsg.), L'Umhria, S. 509. 37 F. Bracco I E. Irace, La memoria e l'immagine, S. 630-636.
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Italiener zu schaffen waren, stand man hier in dem besonderen Fall vor der Notwendigkeit, die Abruzzesen zu schaffen, d.h. Personen, die ideell durch das Band eines gemeinsamen Ursprungs oder zumindest einer Verwandtschaft zusammengehalten wurden" 38. Aber woher kam das Bedürfnis, diese Identitäten zu konstruieren? Manchmal entstanden diese Gesellschaften und ihre Zeitschriften, um eine lokale Tradition für ein Territorium zu begründen, das keine besaß, wie etwa im Fall Apuliens, das von jeher in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Neapel gestanden hatte. Sie unterstützten aber auch lokale Identitäten, die an Boden verloren hatten, wie z.B. Lecce, das nach der Einheit gegenüber Foggia politische und wirtschaftliche Bedeutung eingebüßt hatte, oder Spoleto, das, aus der Rolle als Provinzhauptstadt verdrängt, sich als caput Umbriae neu zu profilieren suchte. Sie entstanden aber auch, um die kleineren Zentren aufzuwerten, die sich mit regionalen Zentren von erdrückendem Gewicht nicht identifizierten. Ein Beispiel hierfür ist das "Archivio storico campano", das 1889 unter dem Schutz des patriotischen Provinzialrats von "Terra del lavoro" und der Gemeinden Capua, Capua Vetere, Sessa Aurunca, Nola, Vairano, San Marcellino, Carinola, Jeverola und Acerra ins Leben gerufen wurde. In anderen Fällen, wie etwa in Sizilien, wurde eine durchdachte politische Operation durchgeführt; Crispi hatte sie zeitgleich zum Fall der Desfra storica eingeleitet, um zu beweisen, daß der Süden eigene Institutionen und Kultur, bürgerliche Schichten und Führungseliten besaß. Die Studien zu diesen Themen haben sich bislang zumeist auf die historiographische Ausrichtung der Vereine konzentriert; eine prosapographisch fundierte Untersuchung der Träger solcher Initiativen und der informellen Netzwerke, die sie unterhielten, ist unterblieben. Es ist sicher falsch, einen zu engen Zusammenhang zwischen den beiden Ebenen herzustellen. Auch sind Aspekte wie die Autonomie und die Freiheit der Forschung angemessen zu berücksichtigen. Dennoch wäre es interessant, einige lokale Situationen stichprobenartig zu erfassen und zu entschlüsseln, wie die Aufwertung der lokalen historischen Identität auch als Mittel zur Erhöhung des Prestiges in den städtischen Eliten und damit auch als politisches Kapital eingesetzt wurde. Die diesbezüglichen Untersuchungen sollten die Deputationen und die Gesellschaften für Heimatgeschichte und andere ähnliche Institutionen umfassen. Zu rekonstruieren wäre dabei ihre Verwurzelung in den alten Adels- und Honoratioreneliten, aber auch im Honoratiorenturn neuen Typs, das auf der nationalen politischen Ebene zu finden ist. In dieser Hinsicht können aus der einfachen Durchsicht der Mitgliederverzeichnisse einige Hinweise gewonnen werden. Ich erwähne hier das Beispiel der neapolitanischen Gesellschaft für Heimatgeschichte, zu der sowohl Aristokraten als auch gebildete adelige 38
So G. Dragonetti in:
Bollettino della societa di storia patria Anton
L.
Antinori,
I (1889), I, S. XV. Natürlich wurde sofort auch die ,Überlegenheit' der aquilanischen
Komponente deutlich (ebd., S. XIX). Über die Zeitschrift vgl. W Capezzali, Il bollettino della societa di storia patria Anton L. Antinori I889-I909, L'Aquila I974.
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Damen39, aber auch Politiker verschiedener Richtungen wie Antonio Mordini auf der einen und Antonio Salandra auf der anderen Seite gehörten; sie waren erklärtermaßen alle daran interessiert, daß ihr Name mit einem derartigen Unternehmen in Verbindung gebracht wurde. Schließlich scheint es mir signifikant zu sein, daß die historische Gesellschaft unter ihren Gründungsmitgliedern auch eine bunte Reihe städtischer Zirkel anführte, vom .Casino dell'Unione" bis hin zum .Circolo Nazionale", dem "Circolo dell'Accademia" und dem .Circolo del Whist". Diese Realitäten sind uns noch nahezu unbekannt; Hypothesen wären deshalb verfrüht40 • Anzuregen wäre vielleicht eine Ausdehnung der Forschungen auf die Provinzialkommissionen für den Schutz der Denkmäler, Kunstgegenstände und Altertümer41 und auf die Komitees, die die Bewegung zugunsten der historischen Restaurierungen in Gang hielten42 . Die jüngst erschienenen Beiträge von Bencivenni, Dalla Negra und Grifoni führen womöglich weiter bei der Rekonstruktion prosopagraphischer Zusammenhänge. Luigi Masella hat die .schwierige Konstruktion einer (apulischen) Identität" nachgezeichnet und den Zusammenhang zwischen diesen beiden Ebenen der Kulturtätigkeit deutlich gemacht. Dabei rückte der Aufstieg einer politischen Schicht in den Mittelpunkt, für die es notwendig ist, eine regionale Identität zu konstruieren und zu tradieren. Hierauf zurückzuführen ist etwa die Ausstellung apulischer mittelalterlicher Kunst im Rahmen der Turiner Ausstellung von 1898. Sie legte das Schwergewicht bewußt nicht auf die antike Archäologie, sondern auf das Mittelalter, eine Zeit, in der, wie Sylos auf der Tagung der Dante Alighieri-Gesellschaft von 1907 formulierte, .wir ein Reich waren, das einzige Reich der ganzen Halbinsel"43. An dieser Stelle treten im 39 Viele Vertreter der neapolitanischen baute vo/ee, Aristokraten wie der Herzog Ferdinando Carafa, der Baron Federige Bellelli, der Herzog von Caianiello, der Graf von Campodisola, der Herzog Antonio Zunica della Castellina, der Fürst Gaetano Filangieri di Satriano, die Baracco, sowie einige gebildete adelige Damen wie die Gräfin Ersilia Lovatelli, die Gräfin Rosalia Pignone del Carreno, die Gräfin Ravaschieri Fieschi. 40 Zum Thema vgl. A .M. Banti I M. Meriggi (Hrsg.), Elites e associazioni nell'Italia dell'Ottocento, in: Quademi storici, 26 (1991), 77. Über die Zusammenhänge zwischen Akademie und politischen Klientelen vgl. L. Muse/la, Individui, amici, clienti: relazioni personali e circuiti politici in Italia meridionale tra otto e novecento, Bologna 1994. 41 Vgl. M. Bencivenni I R. Da/la Negra I P Grifoni, Monumenti e istituzioni, Bd. 2: Il decollo e Ia riforma dei servizi di tutela dei monumenti in Italia, Florenz 1992. 42 Ansätze zur Einordnung des Problems in einen größeren Zusammenhang und zu einer ersten vergleichenden Fragestellung bei R. Kosbar, Against the .Frightful Leveler". Historie Preservation and Urban Meaning in Nazi Gerrnany, in: Studies on the Representation of the Past, 3 (1991), 1, S. 30-59; siehe weiter ders., Commemorative Dissonance: Historie Preservation and the Possibilities of German Memory, 1890-1914, Aufsatz zur Tagung .Regional and National Identities in Europe in the 19th and 20th Centuries" (Istituto Universitario Europeo, 18. April 1994); Memoeie molteplici, nazioni molteplici: l'uso dei monumenti nella Germania imperiale, in: Passate e presente, 39 0996), S. 47~68. 43 Zitat in L. Masel/a, La difficile costruzione di una identita pugliese (1880-1980), in: L. Mase//a I B. Salvemini (Hrsg.), La Puglia, Turin 1989, S. 345-346, vgl. Auch den ganzen Aufsatz (S. 281-438) und L. Zingarelli, L'immagine della Puglia, ebd., S. 277.
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Rahmen der Dante Alighieri-Gesellschaft die Motive eines nationalistischen Regionalismus noch stärker hervor. Dank des neubelebten Mythos des Hl. Nikolaus deutete er eine Art ,Mission' in Richtung Osten an. Die Rolle der Dante Alighieri-Gesellschaft und ihrer lokalen Komitees scheint entscheidend gewesen zu sein. Der Name der Gesellschaft kommt nicht zufällig in zahlreichen lokalen Zeitschriften vor, etwa in der "Verbania", der es um eine kulturelle Identität des Raumes um den Lago Maggiare zu tun ist, oder in Zeitschriften der Marken oder Süditaliens. Der Bezug auf die in ihrer regionalen Besonderheit wahrgenommenen Schönheiten des Vaterlands wird begleitet von ausgesprochen nationalistischen Tönen. "Picenum" publiziert 1910 Gedichte wie das von Libero Altomare, das den Fahnen huldigt: "Rugiadose di lacrime e di sangue sature di memorie, han germogliato tra rombi, plausi, e voci di campane S'abbarbicano ai fusti dei canoni ... oh bello e rotear l'ultima inguria sovra il nemico, e rotearla in alto" 44 . Die lokalen Identitäten schienen in keiner Weise im Gegensatz zur Nation zu stehen; sie stellten vielmehr eine Voraussetzung dar für die Definition der Nation und Kenntnis von ihr. In diesen Jahren war man in weiten Kreisen der Meinung, daß eine Geschichte Italiens in seiner Gesamtheit nicht geschrieben werden könne. Die wichtigste und vielleicht in diesem Stadium einzig mögliche Alternative war offensichtlich die Sammlung der Materialien für die Geschichte der einzelnen Provinzen. Diese Perspektive war so stark verbreitet, daß sie sich auch in der Kunstgeschichte mit der Entstehung der Regionalschulen anläßlich der ersten nationalen Ausstellungen45 und sogar im Roman durchsetzte. Matilde Serao sagte 1895 zu Ugo Ojetti: .Den italienischen Roman kann es nicht geben, für den Augenblick; alle Romane, die wir hervorbringen, sind Teile, Elemente, Koeffizienten des zukünftigen vollständigen und vollkommenen italienischen Romans; sie sind, und sei es nur aufgrund des Themas, im wesentlichen regional . . . Kurz, ein ethnischer Grund steht der Entstehung des italienischen Romans entgegen, und das wird lange Zeit so bleiben, weil der Mittelpunkt für eine Einigung fehlt. Die Hauptstadt, Rom. Das sind Worte. Rom ist Rom und wird nie die Hauptstadt Italiens sein"46 .
44 "Von Tränen und Blut benetzt I schwer an Erinnerungen, sind sie entsprungen I unter Dröhnen, Beifall und Glockengeläut I Sie klammern sich an die Kanonenrohre ... I Oh, schön ist es, die letzte Schmähung kreisen zu lassen I über dem Feind und sie hoch kreisen zu lassen." 45 Der Kunsthistoriker Cavalcaselle sprach ausdrücklich von Regionalschulen. P Villari hatte in seinem Beitrag: La pittura moderna in ltalia e in Francia von 1868 festgestellt: "Diese drei Schulen, die lombardische, die toskanische und die neapolitanische, blieben getrennt und sich fremd. Sie begegneten einander zum ersten Mal in der großen italienischen Ausstellung von Florenz, im Jahr 1861, und sofort wurde die Wirkung eines Einflusses deutlich, den die eine auf die andere ausübte" (Rom 1869,
S. 41). 46
U. Ojetti, Alla scoperta dei letterati, Florenz 1946, S. 273-274.
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In diesem Abschnitt gibt es zwei wichtige Elemente: die Hoffnung auf einen "italienischen Roman", der "im Augenblick" noch nicht möglich ist, aber vorbereitet werden solle durch die Aufwertung der Regionalliteratur und den Zusammenhang zwischen der nicht existierenden Nationalkunst und der fehlenden Hauptstadt. Wenige Jahre später wird der Unterrichtsminister Guido Baccelli bei der Eröffnung der dritten internationalen Kunstausstellung in Venedig die "vielfältige Unbestimmtheit unserer Regionen" unterstreichen, dabei jedoch das Erbe der alten Republiken in eine nationalistische Perspektive bezogen. Auch er warf in diesem Zusammenhang das Problem der Hauptstadt auf: "Heute, wo das italische Volk aufgrund der reuenden Tugend des savoyischen Geschlechts und eines begabten Volkshelden die bürgerliche Zwietracht in einen brüderlichen Liebeswettkampf verwandelt hat, verschmelzen die einzelnen Leben wieder zu einem gemeinsamen Leben; das neue Italien gefällt sich in all seinen Erinnerungen, die durch die Arbeit der Zeit noch klarer geworden sind, und auf alle ist es stolz wie auf ein großes und glorreiches Erbe. Aber heute spürt es die Kraft, das Erbe mit seiner gegen die Fremdherrschaft erkämpften Einheit zu verteidigen, und auf dem Schilde Roms thront neben den edelsten Abzeichen der Löwe des heiligen Markus. All dies macht Italien zu einer Nation, die nicht ihresgleichen haben kann; denn während man sagen kann, daß Paris Frankreich ist, London England, kann man nicht sagen, daß Rom Italien ist: Rom ist die historis.:he Hauptstadt der Welt, aber die hundert Städte, jede mit ihren Schätzen und ihrer Geschichte, umgeben wie eine Krone die ewige Stadt, und die Lichtbahnen, die jede von ihnen aussendet, konzentrieren sich auf sie, um die lebendige Lichtquelle zu nähren, die für alle Welt Italien ist"47
Das große Thema des FehJens einer wirklichen Hauptstadt und der Kluft zwischen der Idee Roms und seiner sehr viel bescheideneren Wirklichkeit bedürfte vertiefterer Untersuchungen im Anschluß an die noch immer wertvollen Hinweise Chabods; sie können aber in diesem Rahmen nicht durchgeführt werden48 • Sicher stellten die großen Ausstellungen von 1911 auch den Versuch einer Antwort auf dieses Fehlen einer Hauptstadt dar; sie waren nicht nur metaphorisch - Ausdruck des Willens, Italien nach Rom zu bringen.
4. Die hundert Städte Das Zitat von Serao und der Bezug auf das Jahr 1911 haben die schwächere Seite der lokalen Identität in den Mittelpunkt gerückt: die Region. Daß es hier an einem institutionellen Unterbau, wie sie die Provinz darstellte, und an einer Dimension der ,Natürlichkeit', wie sie auch die Juristen der Gemeinde zusprachen, fehlte, mindert die Bedeutung der Region zweifellos im Vergleich zu den zwei sehr viel stärkeren und unmittelbareren Realitäten: dem Staat und
47 Discorso di S.E. il Minisero della Pubblica Istruzione Guido Baccelli pronunziato il 24. aprile del 1899 per l'inaugurazione della III Esposizione internazianale di belle arti in Venezia, Rom 1899, S. 4. 48 Vgl. F Chabod, Storia della politica estera italiana, Bd. 1: Le premesse, Bari 1951.
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der Stadt. Die Historiker haben seit Lanaro mehrfach die Bedeutung der hundert Städte in der Geschichte und in der Selbstdarstellung des geeinten Italien unterstrichen. Unter historiegraphischem Gesichtspunkt sei bloß die bekannte und treffende Definition Cattaneos erwähnt; er sprach von der "Stadt, die als Anfang der italienischen Geschichten gilt". Diese Formel kam bei unterschiedlichen historiegraphischen und kulturellen Richtungen gut an. Aber weit vor Cattaneo hatte sich schon der Einfluß Sismondis durch seine ,Storia delle Repubbliche italiane" und das "Compendio" geltend gemacht. Dazu trug vielleicht auch das Bild bei, das die ausländischen Reisenden auf Italien projizierten. Den Anfang machte Madame de Stael, die 1807 (sicher unter dem Einfluß Sismondis) auf das fast vollkommene Fehlen der Antike und ,eine andere Art historischer Schönheit" hinwies, "... die Städte, die das Zeichen des republikanischen Genius des Mittelalters tragen" 49. ,Corinne" war bekanntlich kein Roman, dem gleich Erfolg beschieden war. Dennoch fanden die dort verarbeiteten Stereotypen schnelle Verbreitung und stifteten ein sehr enges Verhältnis zwischen städtischer Landschaft und Erinnerung. Aber es waren nicht nur literarisch interessierte Reisende wie Ruskin oder Mäzene wie Temple Leader, die einen Prozeß der Denkmalpflege und des Museumsbaus in Gang setzten, der - verständlicher-, aber paradoxerweise - mit der Zerstörung der antiken Mauern einsetzte, die den neuen Städten Platz zu machen hatten. Das zeigen die jetzt allmählich untersuchten Beispiele, das historische Gebäude in Saluzzo, das vom Grafen Emanuele Taparelli d'Azeglio, einem gebildeten und feinsinnigen Sammler, erworben und restauriert und fünf Jahre später der Stadt für Museumszwecke oder für Gemeindefeste geschenkt worden war50. Auch das Bild der vielen Städte Italiens stand nicht notwendigerweise im Gegensatz zu dem der Nation. Das zeigt der frühe Gebrauch dieses Bilds. Es begann mit der Sechshundertjahrfeier für Dame 1865, einem großen Moment nationaler Selbstdarstellung. Bei diesem Anlaß wurde nicht zufällig auf der Piazza Santa Croce ein Amphitheater errichtet, an dem Insignien der wichtigsten italienischen Städte zu sehen waren. Eine herausragende Stellung hatten natürlich die alte Hauptstadt Turin, die neue Hauptstadt Florenz, die Hauptstadt in pectore Rom, und das noch zu den Irredenta zählende Venedig: Städte, die die postunitarische Toponomastik bevorzugte. Der Ausdruck ,die Städte Italiens" fand so große Verbreitung, daß er auch im Bereich der Werbung und des Handels verwandt wurde; denn gerade dieser Name wurde den Großkaufhäusern Bocconi in Mailand und an der Piazza Colonna in Rom gegeben. Ab den achtziger Jahren setzte sich jedoch eher das bekannte Syntagma ,hundert Städte" durch. Das ist der Titel einer bekannten illustrierten 49 Vgl. die Einleitung von P. Schiera zu jean-Char/es-Uonard Simonde De Sismondi, Storia delle Repubbliche italiane, Turin 1996; dazu nun die Bemerkungen von M . Moretti, Fortuna del mito municipale, in: L'indice dei libri del mese, 14 0997), S. 34-
35.
50 Vgl. G. Bertero I G. Caritil (Hrsg.), II museo civico di Casa Cavassa a Saluzzo. Guida alla visita. Storia e protagonisti, Turin 1996.
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Beilage des "Secolo" Edoardo Sonzognos: einer bemerkenswerten Initiative, die vielleicht zum ersten Mal ein breites Publikum - die allmählich nationalisierte Mittelschicht - in die Lage versetzte, die Denkmäler der wichtigsten italienischen Städte durch Kupferstiche und durch die elegante typographische Aufmachung Palmiro Premolis, dem Herausgeber der "Enciclopedia popolare illustrata", kennenzulernen51 . Die tragende Idee bestand sicher nicht darin, Lokalismen zu schüren; vielmehr sollte die Nation in der Vielfalt der Geschichte und der Kunst der einzelnen italienischen Städte und Provinzen sichtbar gemacht werden. Dieser Gesichtspunkt war bei den Fünfzigjahrfeiern der Einheit vorherrschend. Diese Intention ist durch die Tatsache belegt, daß zu den "hundert Städten" auch die Irredenta-Städte Trient, Triest, Gorizia, Capodistria und Pola gehörten. Es gibt jedoch nicht nur eine territoriale Projektion. Die Städte haben wie die Regionen die Aufgabe, die verschiedenen glorreichen Augenblicke im Leben der Nation zu repräsentieren. Dem Projekt Sanzognos liegt ausdrücklich die Idee zugrunde, "die Phasen zu untersuchen, die der Geist der Bevölkerung durchschritten hat und die Art und Weise in der sich der Nationalcharakter gebildet hat", da "diese grundlegende Suche nach dem historischen Fortschritt des italienischen Lebens durch die Jahrhunderte hindurch nicht von seinen bildenden Elementen in den verschiedenen Regionen getrennt werden kann". Im Entwurf Sanzognos fehlt auch nicht die Gegenwart, denn es erscheinen auch die Denkmäler für die Helden des Vaterlands und der neue nationale Stil. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf der Konservierung der Kunstschätze und den besonderen Merkmalen jeder Stadt. Der Band über Florenz etwa bezog Stellung gegen die Zerstörungen des historischen Stadtkerns, gegen jenen "schrecklichen Mißton" des "zerkleinerten Rokoko" und der "armseligen Eleganz, die das kaufmännische Jahrhundert bevorzugt"; er kritisiert die Piazza Vittorio Emanuele als "typische Äußerungsform dieses Florentiner Lebens, das ganz Schein und Blendwerk ist", und stellt sie der Piazza della Signoria gegenüber, die er als "ernst, grandios, monumental und ruhig" bezeichnet, die an das Florenz der Kommunen erinnert, "dessen Name in fernen Ländern berühmt war und mit den Namen Dantes und Amerigo Vespuccis in Verbindung gebracht wurde" 52. Hier gingen schon Stimmungen um, die wir dann in einigen nationalistisch inspirierten Untersuchungen über die Folklore wiederfinden: Der Wandel der Städte, der zum Verlust ihrer Lebendigkeit führt, und sich auch auf die Bewohner auswirkt, "die nunmehr in ihrem Charakter und ihren Gewohnheiten denen jeder anderen großen Stadt gleichen" 53: "die fröhlichen Feste, die traditionellen Messen, die anmutigen Bräuche. Nur der scoppio del carro am Gründonnerstag auf der Piazza del Duomo und im canto dei pazzi und die wenigen Papierlaternen, die am Abend des 7. September 51 Vgl. U. Bellocchi, Uomini e tecnologie al servizio del progresso, Einleitung zum Nachdruck des Bandes Toscana, Bologna o.]. 52 Ebd., S. 15. 53 Il nuovo centro, Le cento citta d'Italia, Beilage zu: Secolo, 37 (1902), S. 15.
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den Halbschatten der Straßen der volkstümlichen Quartiere erleuchten, erinnern heute an die traditionellen, religiösen und profanen Schauspiele, die Florenz in den vergangeneo Zeiten mit Leben erfüllten" 54 . Man trauerte den Festen nach, die allmählich verschwanden, ein Hauptthema der Wochenillustrierten. Die "Tribuna illustrata" und der "Domenica del Corriere" registrierten prompt die Prozessionen für die Hl. Rosalia in Palermo oder den Palio von Siena und erinnerten auch an den Palio von Asti, der nach einem ersten Wandel 1858, als die Reiter anfingen, sich nach englischer Art zu kleiden, zunächst durch ein Wagenrennen und dann durch ein Reitturnier ersetzt worden war.
5. Regionen und Politik Im neuen Einheitsstaat wurde die Region, die im Zuge der Angliederung des Mezzogiorno aus der Verwaltungsordnung ausgegliedert worden war, wenn auch unter anderen Vorzeichen, Teil der Politik. Luigi Luzzati meinte dazu: "In Italien gibt es keine Parteien in dem Sinn, wie sie in den großen Verfassungsstaaten verstanden werden ... wir sind leider durch persönliche und, Gott sei uns gnädig, auch regionale Liebes- und Haßgefühle voneinander getrennt" 55 . Man sprach von einer toskanischen oder emilianischen Destra. Aber auch diese Phänomene folgen, wie nähere Untersuchungen gezeigt haben, eher städtischen als regionalen Mustern. Isabella Zanni Rosiello hat unterstrichen, daß die gemäßigten Gruppen trotz der Bildung einer gemeinsamen provisorischen Regierung für die Provinzen der Emilia und trotz der Gleichstellung dieser Provinzen auf der Ebene der Verwaltung und der Gesetzgebung den Munizipalismus und die Kirchturm-Mentalität nicht überwinden konnten. Das charakteristische Element dieser Phase war eine Haltung, "die [eher) als nostalgische Erinnerung an überholte Traditionen erscheint, [denn] als klarer Wille, sich von der piemontesischen ,Eroberung' nicht absorbieren zu lassen" 56. Auch Minghetti hatte schließlich die Schwierigkeit der Emilia, sich als Region zu definieren, deutlich angesprochen. Gerade bei der Einbringung seiner Gesetzesvorschläge äußerte er sich dazu. Während die Lombardei, die Toskana und Piemont "mit den jeweiligen Ländern, aus denen sie zusammengesetzt sind, enge Beziehungen, Sympathien entwickelt und die Interessen und Bedürfnisse der Nachbarn kennengelernt hatten, ... blieb dies in der Emilia aus, wo die Parmenser bis heute den Modenesern und erst recht den Bolognesern völlig fremd geblieben sind, wo die Barrieren, die die alten Staaten markierten, den Austausch und die Verschmelzung der Interessen verhindert haben"57 •
54
55
Ebd. Zitat in: A .M. Banti, Storia della borghesia italiana. L'eta liberale, Rom 1996, S.
44. 56 I. Zanni Rosiello, L'unificazione amministrativa nelle "provincie dell'Emilia" 18591860, Mailand 1965, S. 224-225. 57 Ebd., S. 242.
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Einige Forscher haben vor kurzer Zeit eine Verstärkung dieses Phänomens in der Regierungszeit der Sinistra festgestellt, als eine politische Schicht abzutreten begann, die besonders im Mezzogiorno stark unitarisch orientiert gewesen war und die "liberale Abneigung gegen eine territorial strukturierte Repräsentation" 58 vertreten hatte. Sie hatte in der Zentralisierung das einzige Mittel gesehen, Iokalistischen Kräften und den partikularistischen Interessen zu begegnen. Wie Banti jüngst geschrieben hat, "kam der verstärkte Bezug auf regionale Unterscheidungen nicht von ungefähr"59• Die ideologischen Unterschiede zwischen der Destra und der Sinistra reduzierten sich, und die politischen Lager zerfielen in lokale oder persönliche Gruppierungen. Gerade die Vertretung lokaler Interessen kennzeichnete die Tätigkeit vieler Politiker in der Zeit des Transformismus und auch in den Jahren danach, als die verstärkten Konzessionen an lokale und zentrale Kräfte das zentralistische System faktisch immer mehr durchlöcherten. Zweitens, waren auf der Ebene der kulturellen und politischen Diskussion und im Rahmen der Rezeption von ausländischen Verfassungs- und Verwaltungsmodellen (ich denke vor allem an die Diskussion über das englische self government, das oft über die deutsche Rezeption vermittelt wurde) Überlegungen zur Dezentralisierung im organischen und konservativen Sinn sehr verbreitet. Schließlich suchte ein Großteil der katholischen Kultur, Alternativmodelle zu entwickeln und wenigstens die lokalen Einrichtungen zu kontrollieren. All diese Aspekte, auf die hier nur kurz eingegangen werden kann, sind zumindest als Hintergrund zu berücksichtigen, wenn es um den Zusammenhang zwischen der Entstehung lokaler und regionaler Identitäten, dem politischen Deriken und der politischen und administrativen Praxis geht. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß sich im Übergang von den Notabien der alten Destra, die adelig, im Grundbesitz verankert und der klassischen Bildung und Kultur verhaftet waren, zu den homines novi der Sinistra, deren Notabien-Status nach Farneti nicht mehr auf dem Grundbesitz, sondern auf Tausch- und Vertragsbeziehungen beruhte, ein Wandel vollzog. Eine Untersuchung der politischen Sprachen sollte m.E. versuchen, zu verstehen, wie sich der Appell an die lokale Identität verändert, auf die zu berufen sich, wie wir gesehen haben, sogar ein Politiker wie Ricasoli nicht zu schade war. Aber natürlich ging es hier nicht nur um Rhetorik: ebenso wichtig waren komplexere, auf visuelle Effekte abgestellte und teilweise spektakuläre Initiativen wie die regionalen Ausstellungen. Daß die regionale oder auch die städtische Identität in politische Münze umgesetzt werden konnte, war evident und wurde ausdrücklich gesagt, auch von Historikern. So schrieb z. B. 1911 der Philologe und Literaturhistoriker Francesco D'Ovidio: "Die idealen Interessen eines Landes sind nicht weniger wichtig und dringend als die materiellen; . . . ein Land ist und gilt um so mehr, als seine idealen Interessen es bewegen. Mit ihrer unwägbaren Kraft, die gewisse Geister nicht zu schätzen La difficile costruzione di un'identita, S. 324.
58
L. Masella,
59
A .M . Banti, Storia della borghesia, S. 44.
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wissen, tragen sie sehr viel mehr, als diese glauben, zur Erreichung der materiellen Ziele bei. Wißt ihr, warum die Vertreter von Florenz, sobald sie erwas vom Staat verlangen, immer auf offene Ohren stoßen? Weil sie überallhin vom Schatten Dante Alighieris begleitet werden und hinter ihm stehen die Schatten vieler Großer und vieler großer Taten! ... Jede Region, die den ideellen Dingen, die anderen am Herzen liegen, gleichgültig gegenübersteht, stellt sich selbst hinter alle anderen ... Mut also und Bereitschaft, jede schöne und gute, praktische oder poetische Sache, die dem Molise oder irgendeinem seiner Winkel Vorteil oder Ehre verschafft, aufzugreifen . .. Und je edler ihr die molisanisehe Heimat gegenüber Italien hochhaltet, desto mehr wird euch das italienische Vaterland heilig und wohltätig sein. Wir sind unterdessen den anderen Italienern, die an unserem Familienfest teilnehmen, dankbar ... Es lebe der König, es lebe Molise, es lebe Italien" 60 .
Auf der Ebene der Rhetorik setzte sich die Metapher der Nation als Familie und der Regionen als Schwester durch, aber man erkannte auch die Chance, die Region im politischen Tausch zur Geltung zu bringen. Diese Erkenntnis spielte auch eine bedeutende Rolle bei der Bildung von "regionalen Familien", die vor allem im Zuge der beträchtlichen internen Wanderungsbewegungen entstanden. Aber auch dieses Terrain ist, was die Zeit Giolittis angeht, bis heute wenig untersucht worden. Das einzige, das wir bisher darüber wissen, deutet darauf hin, daß der Faschismus diesem Phänomen seit Anfang der dreißiger Jahre zunehmend Mißtrauen entgegen brachte.
6. Das Jahr 1911 Die hier dargestellten Phänomene bündeln sich 1911 in einer einzigen von oben gesteuerten Initiative. Gemeint sind die großen Ausstellungen zur Fünfzigjahr-Feier des Königreichs; sie entwickeln einen Diskurs weiter, der bereits mit der Turiner Ausstellung von 1884 begonnen worden war61 . Die alten und neuen Kulturtraditionen scheinen sich nun zu verschränken: Die historischen Studien und die volkskundlichen Untersuchungen, die in Pitre ihren bekanntesten Vertreter hatten und die mit Richtungen wie der von Efisio Giglio Fos und seiner Zeitschrift "ltalia nostra" 62 ihre Fortsetzung fanden, die Ausstellungen antiker Kunst und die Denkmalschutzbewegungen fließen nun zu einer Repräsentation der Regionen nationalistischer Prägung zusammen. So behandelte 1911 auch der Sozialwissenschaftler Scipio Sighele das Thema des Regionalismus: "Was lebt, ist nie symmetrisch: Was natürlich ist, ist immer vielfältig. Die übertriebene Zentralisierung verstößt gegen diese Wahrheit. Weil sie unterschiedliche Ide60
F D'Ovidio, Ne! primo centenario della provincia di Molise, in: Rivista d'Italia,
s. 36. Vgl. M.L. Neri, Stile nazia nale e identita regionale, in: La chioma della vittoria. Scritti sull'identita degli italiani dall'unita alla seconda repubblica, Florenz 1997, S. 133169. 62 S. Cavazza, Piccole patrie: feste popolari tra regione e nazione durante il fascismo, Bologna 1997. 14 (1911), 2, 61
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en, Sitten und Gewohnheiten auf eine einzige Ebene reduzieren und auf dasselbe Maß zuschneiden möchte - einen einzigen Typus von Italiener, den es nicht gibt. Es gibt in Wirklichkeit viele Typen von Italienern, genauso viele, wie es bei uns Regionen gibt; unterschiedliche Typen, die aber nicht im Gegensatz zueinander stehen und die im Gegenteil in ihren sympatischen und einander ergänzenden Unterschieden die wundervolle Einheit des nationalen Organismus bilden. Alle höheren Organismen - die Individuen wie die Kollektive - sind aus verschiedenen Organen zusammengesetzt; jedes von ihnen trägt zum Leben des Ganzen bei, vorausgesetzt, daß jedes seiner Natur und seiner besonderen Funktion gemäß behandelt wird. Diese Andersartigkeit zu vergewaltigen und sie durch dieselbe Behandlung zu unterdrücken, heißt den Organismus zu beschädigen. Die Übertreibung und die Hyperbel, die unsere größten Mängel sind, haben uns glauben gemacht, daß wir nicht nur alle Brüder, sondern auch alle von einem Ende zum anderen der Halbinsel gleich seien, und wir sind immer vorwärts gegangen auf den Krücken der Rhetorik und dem Klang der großen Worte nach, und wir verkündeten, daß wir alle auf dieselbe Weise, bis in die kleinsten Besonderheiten hinein, verwaltet werden müßten, die Italiener Siziliens, des Venetos, Piemonts und Kalabriens . . . Ich behaupte, daß die wahre Gefahr für die Einheit unseres Vaterlands nicht im offenen Eingeständnis besteht, daß es aus Regionen zusammengesetzt ist, die unterschiedliche Ideen, Gefühle und Bedürfnisse haben, sondern in der Hartnäckigkeit, mit der diese Unterschiede bestritten werden und in der Absicht, alle Italiener auf dieselbe Weise unterrichten und verwalten zu wollen, indem sie in ein Prokustesbett gezwungen werden, das Protestgeschrei auslöst und pathologisch jenen regionalen Geist auf Irrwege drängt, der - wenn er in seinen richtigen Grenzen geachtet würde - noch heute, wie in einem gewissen Sinn zu Zeiten der Kommunen, ein Glück für Italien wäre" 63 .
Für Sighele gab es also keinen Widerspruch zwischen dem ,kleinen Patriotismus' und dem ,großen Patriotismus'. Im Gegenteil, für ihn ermöglicht gerade die Liebe zur Heimat eine größere Liebe für das italienische Vaterland, indem dieser eine Art von häuslichem Gefühl beigemischt wird. Auch hier wird die Metapher der Familie zu Hilfe genommen: "Mißtraut demjenigen, der kein besonders zärtliches Gefühl für den Ort empfindet, an dem er geboren wurde: Er erinnert mich an den Sohn, der keine Liebe für seine Mutter empfindet: Wie kann dieser seine Stadt, seine Nation wirklich lieben?". Diese legitime Liebe zum kleinen Vaterland zu vergewaltigen, bringe das Risiko mit sich, sie "degenerieren zu lassen in jenen Regionalismus, der nicht über die Grenzen der Provinz, in der man geboren wurde, hinausblickt, und der aufgrund dieser Kurzsichtigkeit ein Gegner und nicht ein Verbündeter des Patriotismus ist und damit ein Hindernis für den Übergang vom Patriotismus zum Nationalismus". Ein richtig verstandener Regionalismus unter dem Schutz des Staats und im Zeichen des Nationalismus schien Sighele das Mittel zu sein, um das Mißverhältnis zwischen einem zu starken Zentrum und einer zu schwachen Periphe-. rie auszugleichen. Das Bezugsmodell war Preußen: .Obwohl es militärisch zentralisiert ist, hat Preußen ein bewundernswertes Netz von Selbstverwaltungsorganen. Es hat die schwierige Aufgabe gelöst, dem Staat all
63
S. Sighele, II nazionalismo e i partiti politici, Mailand 1911, S. 115-116.
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seine Autorität zu lassen in den Fragen, in denen er sie haben muß, und sie ihm zu nehmen, wo sie nutzlos und schädlich ist. Die Bürger schätzen diese Unterscheidung, die dem kleinen Vaterland eine gewisse Unabhängigkeit läßt, und sie ziehen daraus ein Gefühl der Dankbarkeit, die sie das große Vaterland um so inniger lieben läßt".
Diese Äußerungen wurden nicht zufällig 1911 gemacht, als der Nationalismus auch die katholischen Massen erfaßte und im Rahmen der Fünfzigjahrfeiern auch das Schicksal der Landsleute in Übersee zur Flankierung expansionistischer Bestrebungen beschwört wurde. So schrieb Ettore Pais, ein prominenter Latinist und eine große Persönlichkeit, anläßlich der Ausstellungen von 1911: "Die lange Unterdrückung durch Fremde hat Jahrhunderte hindurch einige unserer Regionen geschwächt. Wenn der Seemann Liguriens, des Golfs von Neapel, Siziliens noch heute die alte Kraft zeigt, wenn er kühn die Meere durchzieht, die ihn nach Afrika und nach Amerika führen, wenn der Bewohner der Alpenjoche die heilige Grenze des Vaterlands zu verteidigen und ihr Respekt zu verschaffen weiß, fehlt es in den Ebenen, wo die Sonne mehr als anderswo scheint und der Wein und der Ölbaum blühen, nicht an Leuten, die sich zu sehr auf die Wohltat des Friedens verlassen".
Für Pais sollte nicht nur die Vitalität der Regionen aufgewertet werden, sondern die Aufmerksamkeit auch stärker auf die überseeischen Interessen Italiens gerichtet werden, womöglich mit einer Ausstellung von "Kanonenmodellen und leistungsfähiger Schlachtschiffe"64 am Rande der Ausstellungen zum fünfzigjährigen Jubiläum. Für die Konstruktion der lokalen und insbesondere der regionalen Identitäten stellt das Jahr 1911 ein entscheidendes Datum dar. Es ist einer der Augenblicke, in dem, wie Bourdieu geschrieben hat, die fast magische Gewalt der nomination publique ausgeübt wird. Hier nimmt ein Konzept Form an, indem es öffentlich benannt und offiziell gemacht wird. Eine virtuelle, negierte oder ignorierte Gruppe macht sich gegenüber anderen Gruppen und gegenüber sich selbst sichtbar65 . Dabei nehmen "nicht intentionale" Denkmäler durch ihre künstliche Reproduktion einen hohen Grad von Intentionalität an66. Durch ein gigantisches Kunstwerk wird metaphorisch ganz Italien nach Rom gebracht, so daß "die Italiener jeder Provinz in Rom einen Zipfel ihrer Heimat wiederfinden und von einem Gebäude zum anderen, von einem zum anderen Haus eine ideelle Reise an alle typischen Orte Italiens unternehmen können"67.
64
E. Pais, Roma antica e Ia genesi dell'unita d'Italia, in: Rivista d 'Italia, 14 (1911),
2, S. 233-357. 65 P Bourdieu, L'identite et Ia representation. Elements pur une reflexion critique sur l'idee de region, in: Actes de Ia recherche en sciences sociales, 35 (1980), S. 6372, insbesondere S. 67. 66 Vgl. A . Riegl, Der moderne Denkmalkultus: sein Wesen und seine Entstehung, in: Gesammelte Aufsätze, Augsburg I Wien 1926, S. 144-148. 67 Natura ed arte, 20 (1911 ), S. 627.
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Der umfassende Sinn dieser Initiativen ist es, die Regionen oder besser die Provinzen, die sie konstituieren, als ein dichtes Palimpsest zu präsentieren, das die Nation zu einem riesigen Diorama zusammenfügt. Dieselbe Absicht lag einer Reihe von Erinnerungskarten zugrunde, die wie ein Puzzle zusammengesetzt werden konnten, wobei man, um die gesamte Gestalt Italiens zu erhalten, die Ansichten seiner wichtigsten Städte zusammenfügen mußte. An Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Ebenen fehlt es nicht, aber mir scheint, daß sie noch nicht besonders untersucht worden sind. Deutlich wird jedenfalls die Absicht, nicht so sehr und nicht nur Besonderheiten zu repräsentieren, die in der nationalen Idee aufgehen, sondern auch die verschiedenen Stufen und Momente der nationalen Größe. Im Obergeschoß des "Vittoriano"68 werden die Regionen rundum durch Allegorien verkörpert, die sich indirekt auf Modelle beziehen, die seit Mitte der Sechziger Jahre in der Befreiungshalle von Leo von Klenze zu sehen sind. Sie wurde auf Wunsch von Ludwig I. von Bayern erbaut, um die Staaten zu feiern, die gegen Napoleon gekämpft hatten. Später finden sich solche Allegorien im Hotel de ville in Paris; nachdem das Feuer der Kommune es zerstört hatte, war es wiederaufgebaut worden. Die Regionen werden in der Erinnerung an die Vergangenheit, in Literatur und Architektur rekonstruiert und zugleich in den Sitten des Volkes und in der ethnographischen Ausstellung in Rom beschworen. Die Idee, die Regionen darzustellen, war schon in Sacconis Entwurf des Vittoriano vorhanden. Er nannte sie ausdrücklich der Reihe nach, je nach der Distanz, in der sie zum ursprünglichen Kern des Königreichs Sardinien standen. Auf Piemont folgten deshalb der Reihe nach Sardinien, Ligurien, die Lombardei, die Emilia, die Toskana, Umbrien, die Marken, die Abruzzen, Kalabrien, Apulien, Kampanien, die Basilicata, Sizilien, das Veneto und Latium. Ursprünglich war auch eine Allegorie der Romagna vorgesehen, die jedoch auf Wunsch des Ministers wieder herausgenommen wurde, um stattdessen Lukanien einzusetzen. Die Einteilung nach Regionen, die hier dargestellt und damit festgelegt wurde, war differenzierter als in den Handbüchern der ersten Jahrzehnte nach der Einheit. Das "Dizionario di geografia comparata ad uso delle scuole" von Francesco Predari69 etwa beschränkte sich darauf, Piemont, die Lombardei, die Emilia, die Marken, Umbrien, die Toskana, Neapel und Sizilien aufzuzählen. Ich habe in den Unterlagen, die im "Archivio Centrale dello Stato" aufbewahrt werden, den Wettbewerb und die Kriterien, die die Auswahl unter den 240 Entwürfen von 183 Künstlern bestimmten, nicht weiter verfolgen können.
611 1885-1911 errichtetes römisches Denkmal zu Ehren Viktor Emanuelll. zur Feier der Einigung Italiens. Dazu E. Brice, Munumentalite publique et politique a Rome. Le Vittoriane, Rom 1998 und T Rodiek, Das Monumento nazianale Vittorio Emanuele II in Rom, Frankfurt a.M. I Bern I New York 1982. 69 Mailand 1871, S. 609.
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Ich kann nur hoffen, daß andere dies tun werden; es gilt über die Hinweise der zeitgenössischen Presse hinauszugehen, die uns dazu anhalten, über die noch relativ schwache semantische Kraft der Regionen nachzudenken, wie wir sie heute kennen und wie sie in den Ausstellungen von 1911 dargestellt wurden. Einige der zahlreichen Kritiken berührten einen für uns entscheidenden Punkt. Sie schlugen vor, anstatt der neuen die alten historischen Regionen darzustellen, "die in den klassischen Autoren der alten Geschichte und Geographie niedergelegt sind: das cisalpinisehe Gallien, Etrurien, Apulien und Brutium"70. Da die über das Thema veröffentlichten Arbeiten "gehaltvolle Ideen über die Art und Weise, wie sich die Problematik der Nation hier artikulierte"71, vermissen lassen, wäre es interessant, zu untersuchen, warum hier die Lombardei mit der Eisenkrone oder das strenge kriegerische Piemont mit dem Panzerhemd triumphierten und über welche anderen Entwürfe sie den Sieg davontrugen. Interessant wäre es auch, die Diskussion über das Geschlecht der italienischen Regionen zu rekonstruieren, die das Ergebnis hatte, daß am Ende weibliche Allegorien den männlichen vorgezogen wurden72 • Diese Option, die in klassischen und europaweit sehr verbreiteten Modellen vorgegeben war, wäre näher zu untersuchen. Sie könnte damit in Verbindung gebracht werden, daß die ethnographischen Ausstellungen weibliche Kleidung und Schmuck in den Vordergrund rücken, Gegenstände, die noch lange die Aufmerksamkeit der Volkskundler beanspruchen werden, so als ob der Frau innerhalb der ,Familie' der Nation die Repräsentation all jener Dinge zukäme, die dem Leben des Volks und damit der Nation insgesamt am nächsten sind. Dieser Aspekt wäre zu vertiefen, ausgehend von den Beobachtungen Pasquale Villaris: "Die Kleider und der Schmuck, vor allem der Frauen aus dem Volk, bleiben, obwohl sie von Territorium zu Territorium verschieden sind, über die Zeit hinweg unverändert; an den Kleidern kann man mit Sicherheit die Bewohner dieses oder jenes Teils der Halbinsel erkennen" 73 . Es ist als ob die Frauen die Funktion hätten , ein Erkennungs- und Wiedererkennungszeichen darzustellen und die Tradition zu bewahren. Nicht von ungefähr gebrauchte der Faschismus oft das Bild von "geschminkten Frauen", wenn es darum ging, die "mit der modernen Zivilisation verbundene Korruption" anzuprangem74. Eine vertieftere Interpretation dieses Gender-Aspekts 70 Vgl. A . Meomartini, in: Ane e storia, 26 (1907), 17-18, S. 129-130. Vgl. den Beitrag von N. Cardano, "Il cavallo sull'altare". Storia del progetto iconografico attraverso il dibattito contemporaneo, in: Soprintendenza per i beni ambientali e arcbeologici de/ Lazio, Il Vittoriano. Materiali per una storia, Rom 1988, 2, S. 13-32. 71 Ebd., S. 22. 72 Ebd. Vgl. Archivio centrale dello Stato, Ministero dei Lavori Publici, Direzione generale dell'edilizia, div. V, b. 47. 73 P Vi//ari, Per una esposizione di etnografia italiana in Roma nel 1911, Rom 1911, S. 25. 74 S. Cavazza, Piccole patrie, S. 59.
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könnte vielleicht bestätigen, daß die Frau die symbolische Funktion hatte, die lokale Identität in der Erinnerung als ländliche Identität zu repräsentieren. Auch hier liefert wieder Villari entsprechende Hinweise; er führt nämlich trotz einer gewissen Vorsicht den Begriff des Atavismus ein. Er erzählt die Geschichte eines Mädchens aus den Abruzzen, die die Berufsschule für die Töchter der Emigranten in New York besuchte, aber keine Frauen-Arbeit zufriedenstellend erledigen konnte. "Die Leiterin und Gri.inderin dieser Schule erinnerte sich daraufhin einiger traditioneller Arbeiten, die in den Abruzzen gemacht wurden und von denen sie einige Exemplare aufbewahrt hatte. Und obwohl sie weitaus schwieriger waren als die anderen, versuchte sie sie dem Mädchen, das so unfähig schien, beizubringen. Zu ihrem großen Erstaunen merkte sie, daß sie sie hervorragend nachmachen konnte. War das nicht ein besonderer Atavismusbeweis, der zeigte, das diese seit Alters her in den Abruzzen ausgeführten Arbeiten in der Bevölkerung eine besondere Fähigkeit ausgebildet hatten, die auch bei denjenigen festzustellen war, die nie versucht hatten, sie auszuführen?"75 .
Diese Argumentation war natürlich verfänglich, aber verständlich im Klima jener Jahre. Die ethnographische Ausstellung von 1911 hatte, wie in der Zeitschrift Caroccis deutlich gesagt wurde, das Ziel, "vergessene und fast verschwundene Gewerbe und Volkskunstformen wieder zur Blüte zu bringen"76, darunter ein weibliches Kunsthandwerk, das alte, lokale, bereits vor Jahrhunderten verlorengegangene Traditionen wieder aufgreift, wie die Spitzenarbeiten von Burano oder die Aemilia Ars in Bologna, die dank des Engagements Rubbianis 1898 wieder zu neuem Leben erwachte. Die Argumentation Villaris griff auf einen Diskurs zurück, der bereits in den Regionalausstellungen und in den Ausstellungen weiblicher Handarbeiten am Ende des 19. Jahrhunderts breit vertreten war. Hatte nicht 1876 schon die erste Nummer des "Archivio Storico Siciliano" neben einem Aufsatz von Pitre einen Beitrag Salomone Marinis über den "Brautzug und die Aussteuer der sizilianischen Frauen im 14., 15. und 16. Jahrhundert" abgedruckt? Die allegorischen Figuren der italienischen Regionen wurden also an die Attika des "Vittoriano" verbannt. Vielleicht wurden sie nur dank der Abbildungen in Zeitungen wie der "Tribuna Illustrata" wahrgenommen, die ihre Komplexität nicht wiedergaben und sie unweigerlich vereinfachten. Vielleicht wußten die Leser dieser Zeitungen nicht, daß die mit ihrer Realisierung beauftragten Künstler auch aufgrund ihrer regionalen Herkunft ausgewählt worden waren; wahrscheinlich sollten hier Animositäten vermieden werden. Deutlich wurde jedenfalls die Hauptsache: die Attribute der verschiedenen Allegorien, die sich auf das ländliche Leben (Kampanien ist mit Ähren, Degen und Füllhorn versehen) oder auf die Geschichte (die Lombardei erinnerte an Legnano und die Toskana an das goldene Trecento) bezogen.
7 "'
P Vil/ar"i, Per una esposizione, S. 11-12.
76
Natura ed arte, 20 (1911), S. 626.
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In den Hallen, die hinter dem Forum der Regionen77 der römischen Ausstellung lagen, versuchte man die Höhepunkte des künstlerischen, aber auch des politischen Lebens der verschiedenen Provinzen darzustellen. Der nationale Stil sollte durch eine idealtypische Reihe von Regionalstilen ergänzt werden, in Erweiterung dessen, was bei ,historischen' Restaurierungen (die bekanntesten stammen von Partini, Rubbiani und D'Andrade7B) und in der privaten Baukunst mit stark politischem Einschlag schon seit längerer Zeit praktiziert wurde; ein Beispiel hierfür ist das venetianische Haus, das in Mailand vor 1866 zu Ehren der Irredenta-Stadt gebaut wurde79 • Einmal mehr sollte hier der Triumph der Nation anband der Regionen, aber auch anband der verschiedenen Epochen des nationalen Lebens dargestellt werden. In der toskanischen Ausstellungshalle wollte der Architekt Giusti "die Erde darstellen und glorifizieren, die in der lichten Renaissance Wiege aller Künste und fruchtbarer Garten der stärksten und genialsten Geister Italiens war" 80. Die von dem Architekten Antonio Curri für Kampanien, die Basilicata und Kalabrien entworfene Ausstellungshalle wollte "den Stil des Settecento" und damit die Größe des Vaterlands im 18. Jahrhundert feiern. In der venetischen Halle versuchte man eine Brücke zu schlagen zwischen der alten Größe der Serenissima und einer neuen Expansion im Osten. Es wurde auch kein venezianisches Monument zum Modell genommen, man zog es vielmehr vor, eine Loggia des Sansovino, die sich in Candia befand, zu rekonstruieren81 . Ein venezianisches Monument in der Türkei zu wählen, war in jenen Jahren eine ziemlich explizite Wahl und radikalisierte die im offiziellen - bezeichnenn Das Forum der Regionen von Piacentini "ist ein Bau, der sich an die antiken italischen Foren anlehnt, sowohl an die Roms ... als auch an die derjeniger Städte, die unter der Herrschaft des römischen Reichs standen" (La mostra regionale, in: La tribuna illustrata, 1911, S. 262). Es wurde natürlich mit politisch nicht neutralen Bezügen auf die Größe des imperialen Roms hin interpetiert. 78 Es ist nicht möglich, hier im Detail diese Argumentation weiterzuentwickeln. Ich verweise auf M .C. Buscioni (Hrsg.), Giuseppe Partini architetto del purismo senese, Florenz 1981; 0. Mazzei, Alfonso Rubbiani, Bologna 1981 und jüngst G. Guarsisco, Romanico. Uno stile per il restauro. L'attivita di tutela a Corno, Mailand 1992. Zum Revival des Mittelalters in diesem Bereich vgl. meinen Beitrag: II medioevo nella costruzione deii'Italia unita, in: R. Elze I P Schiera (Hrsg.), Italia e Germania. Immagini, modelli, miti fra due popoli neii'Ottocento (Annali dii'Istituto storico italo-germanico in Trento. ContributiiBeiträge, 1), Bologna I Berlin 1988, S. 163-191. 79 Insofern ist m.E. zurecht auf Aspekte wie die in Mailand von dem Architekten Achille Jodani erbauten ,venezianischen Häuser' hingewiesen worden (A.C. Buratti, Per uno stile nazionale. La cultura architettonica milanese e Ia nascita della scuola politecnica, in: G. Rumi I A.C. Buratti I A. Cova (Hrsg.), Milane nell'unita nazionale 1860-1898, Mailand 1991, S. 107-136). Analog dazu war die Möglichkeit, eine Reihe patriotischer dialektalischer Lieder aus den verschiedenen italienischen Regionen zu einer Art national-populärem Palimpsest zusammenzufassen: vgl. meinen Aufsatz: La festa della nazione, S. 139-140. 80 La tribuna illustrata, 1911, S. 455. 81 G. Cecchetti, Attraverso le sale dell'arte veneta, in: La tribuna illustrata, 1911, S. 496-498.
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deiWeise mit "Roma" betitelten - Journal der Ausstellung erläuterte Idee, wonach die Ausstellungen die Aufgabe hatten, .den Weg nachzuzeichnen, auf dem Italien sich durch geistige Anstrengung gestärkt hatte, um der gegenwärtigen Freiheit würdig zu werden und in ihr der Zukunft sicher zu bleiben"82 • Es war jedoch schwierig, wirklich regionale Modelle im engeren Sinne zu rekonstruieren83• In einigen Fällen war es notwendig, in einer Ausstellungshalle verschiedene Regionen zusammenzufassen. Dies war z.B. bei den süditalienischen Regionen der Fall. Aber darüber hinaus wurde deutlich, daß sich innerhalb der Komitees84, die diesen Teil der Ausstellung leiten sollten, ein System der Kompensationen durchsetzte, das auf eine angemessene Vertretung der einzelnen Städte zielte. Erhellend ist das Beispiel der toskanischen Halle: Giusti war darauf bedacht, die Florentinität nicht zu übertreiben, die jedoch seiner Meinung nach "gerechteiWeise" vorherrschen sollte. Er baute einen Eingang im pistoiesischen Stil, .eine Vorhalle mit sechs Säulen und einer gewölbten Decke, verziert mit türkisfarbenen Keramiken im Stile della Robbias, ähnlich denen der Kathedrale von Pistoia", einen grandiosen Zentralsaal, .gebaut wie der Volkssaal in den toskanischen Rathäusern", eine pisanisehe Ehrentribüne, einen Hof, der den des Palazzo Piccolomini in Pienza reproduzierte. Noch schwieriger war es, eine gemeinsame Ausstellungshalle für die Emilia und die Romagna zu bauen: Die beiden Baukörper waren so verschieden, daß sie "von zwei phantasiereich entworfenen Mauerseiten "verbunden werden mußten" 85 . Auch der Chronist der .Tribuna illustrata" konnte erleichtert aufseufzen, als er am Ende seines Berichtes die piemontesische Halle darstellen konnte, die strenger, aber vor allem homogener war. So beschrieb er sie als "eine der harmonischsten und, ich würde sagen, eine der logischsten, was das Verhältnis von Kunst und Geschichte und ihren Beitrag zum Gesamtbild angeht. Und das deshalb, weil diese Konstruktion nicht das Ergebnis vieler architektoni-
I padiglioni regionali in piazza d'armi, in: Roma, 1 0910), 1, S. 3. Wie schwierig es war, die ,regionalen' Grundzüge auf der Ebene der Folklore zu definieren, wird deutlich, wenn man die Auseinandersetzungen zwischen Pitre und Vigo zum Volksgut verfolgt. Der eine meinte, daß es willkürlich von einer Provinz auf die Region übertragen worden sei, was die Konstruktion eines illusorischen regionalen Stereotyps zur Folge gehabt habe. Vgl. G. Bonomo, Pitre, Ia Sicilia e i Siciliani, Palermo 1989, s. 144 ff. 84 Es wäre interessant, die Zusammensetzung der Komitees näher zu untersuchen; sie war ziemlich differenziert und spiegelte unterschiedliche Entscheidungen wider. In einigen Fällen bestand ein Mißverhältnis zwischen einer großen Zahl von Präsidenten und Vizepräsidenten und einer zahlenmäßig kleinen Kommission. In anderen Fällen zog man es vor, zahlreiche Vertreter verschiedenener Bereiche (aus Politik, Verwaltung, Honoratiorentum, Kunst) in einem einzigen Komitee zu versammeln. Manchmal wird die Ahsicht deutlich, parithetisch vorzugehen und allen lokalen Realitäten Geltung zu verschaffen. Immer vertreten waren jedenfalls einige herausragende Abgeordnete (z.B. Salandra für Apulien) und die Bürgermeister, darüber hinaus die Präsidenten der Provinzialräte, Universitätsprofessoren und Mitglieder der historischen Deputationen. Rs II padiglione emiliano-romagnolo, in: La Tribuna illustrata, 1911, S. 505-506. 82
83
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scher Besonderheiten darstellt, die aus verschiedenen Regionen und verschiedenen Zeitaltern stammen, sondern an ein einziges Monument erinnert und deshalb auch dessen solide, organische Homogenität aufweist"86.
7. Schlußfolgerungen Die Ausstellungen von 1911 waren vom Diskurs des nationalistischen Regionalismus beeinflußt, wenn nicht gar durchdrungen, wie er jüngst in dem schönen Buch von Stefano Cavazza neu interpretiert worden ist. Hier ist auch der Werdegang von Gestalten wie Crocioni verfolgt worden, der das nationalistische Interesse an diesen Themen deutlich macht. Der von ihm entwickelte Diskurs wurde teilweise auch vom Faschismus aufgegriffen. Das faschistische Regime hat sich scheinbar auf eine Nationalisierung konzentriert, die den regionalen Realitäten wenig Raum ließ. Die zu konstruierende Identität richtete sich, wie Gentile gezeigt harB7 , vor allem auf das große Vaterland. Die Rituale des Faschismus kreisten um den Liktorenkult und einheitliche Feste im ganzen Land. Demgegenüber ist zu fragen, ob der Vorschlag von Vittorio Cian, die Identität seiner Region, der Romagna, als vitales Moment der Nation neu zu interpretieren und noch einmal einen Zusammenhang zwischen den lokalen Besonderheiten und den Entwicklungsphasen herzustellen, völlig ungehört blieb. Während Cian die 1928 von Zanichelli veröffentlichte .Ora della Romagna" schrieb und das Einigungswerk des Faschismus als etwas feierte, für das die regionalen Identitäten kein Grund zur Besorgnis mehr seien, veröffentlichte De Agostini die Reihe "Visioni italiche", italische Ansichten, die unter stark nationalistischem Gesichtspunkt das bereits erwähnte Projekt der hundert Städte wiederaufgriff Drei Jahre später publizierte Renato Camiglia in Preziosis .La vita italiana", der in jenem Jahr eine .Liebesheirat" mit dem Faschismus Farinaccis feierte, einen Beitrag mit dem bezeichnenden Titel .Die Region gegen den Regionalismus"88 , in dem der liberale Staat beschuldigt wurde, das Leben der Regionen und ihre Identität erstickt zu haben. Seiner Meinung nach war eine kurzsichtige nivellierende Politik betrieben worden .und, was noch schlimmer ist, man stellte den Regionalismus mit der Tradition gleich, als ob man durch die Bewahrung der künstlerischen, historischen, literarischen Tradition den rein politischen Regionalismus wiederbelebt hätte"89. Der Liberalismus hatte also der Region den Gnadenstoß versetzt.
86
La Tribuna lllustrata, 1911, S. 471.
87
E. Gentile, Il culto del littorio, Rom I Bari 1993.
88
La vita italiana, 19 0931), 38, S. 134-138.
89
Ebd., S. 135.
Lokale Identität - nationale Identität
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Welche Politik der Faschismus in diesem Zusammenhang tatsächlich verfolgte, wurde deutlich, als die regionalen ,Familien' aufgelöst wurden, zuallererst die der Romagna, die der Bruder Mussolinis, solange er am Leben war, geschützt hatte, die aber gleich nach seinem Tod abgeschafft wurde90 .
90
1984,
Vgl. S. Cavazza, Piccole patrie, und V Emi/iani, Il paese dei Mussolini, Turin 14.
s.
Nation, Region, Republik
Das Bild des Volkes - Vom Zentralismus zur Totalität in Italien und Deutschland Von Susanne von Falkenhausen
Vor das Problem gestellt, wie ich den vierfach verknüpften Bezugsrahmen der Tagung - das Verhältnis von Zentralismus und Regionalismus und der Vergleich der beiden Länder - für mich und mein Fach erschließen könnte, habe ich mich dazu entschlossen, den Aspekt des Föderalismus1 außer acht zu lassen und mich auf den Zentralismus zu konzentrieren. Umso wichtiger war mir jedoch, die nationalen Bildersprachen der Länder zu vergleichen. Als Schlüsselbegriff einer Imagination des Nationalen schien mir das "Volk" geeignet zu sein, um so etwas wie Zentralismus in der Welt der Bilder wiederfinden zu können. Zudem ist der Begriff vom "Volk" mit der Französischen Revolution als ein die Nation konstituierender eingeführt - wie sehr er auch in der Geschichte der Machtverhältnisse im 19. Jahrhundert immer wieder verdeckt gewesen sein mag. Insofern wäre auch die Abwesenheit des Volkes in den Bildern der Nation aussagekräftig. Wie das Stichwort Totalität im Titel zu erkennen gibt, werde ich mich nicht auf das 19. Jahrhundert beschränken, sondern versuchen, den Bogen vom Vormärz bis zum Faschismus zu spannen. Nur so wird die Kontinuität der Vorstellungen von nationaler "Einheit" seit 1789, auch und gerade in ihren historischen Verschiebungen in Bezug auf Konstruktion und Position des "Volkes" deutlich. Meine bisherigen Erfahrungen im Dialog mit Historikerinnen veranlassen mich, eine kurze Bemerkung vorwegzuschicken, in der Hoffnung, Eulen nach Athen zu tragen: Bilder, auch die einer öffentlich-repräsentativen Kunst, spiegeln nichts. Sie reagieren auch nicht auf historisch Objektivierbares und schon
Auch mit dem Föderalismus ließe sich kunstgeschichtlich durchaus etwas machen, allerdings vermittelt durch die Themen, die in der Historienmalerei zu finden sind und die z.T. den Streit um die Form der zukünftigen Nation in Italien mitgestalten. Dies gehört allerdings v.a. in den Zusammenhang der unterschiedlichen Geschichtsbilder, mit denen die Nation fundiert werden sollte - in Italien: die Geschichte der unabhängigen Stände des Mittelalters für das föderative Staatsmodel und die Bezüge auf das antike Rom für das zentralistische Modell. Letztere sind jedoch gerade in der bildenden Kunst bis nach 1870 kaum zu finden, da bis dahin in der Historienmalerei generell das Repertoire des Mittelalter-Revivals vorherrschte. Hier gibt es zwischen den einzelnen Kulturbereichen Ungleichzeitigkeiten, die einen Vergleich fast unmöglich machen.
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gar nicht bilden sie es ab. Sie folgen eigenen, medienspezifischen Kodierungen innerhalb der Verfahren visue!!er Repräsentation - womit erst einmal nicht Staatsrepräsentation, sondern Repräsentation im bild- und sprachtheoretischen Sinne der ,Darste!!ung' gemeint ist. Diese Kodierungen wiederum können historisiert werden, d.h. heutiger Lesbarkeit zugeführt werden, indem die jeweiligen bildsprachlichen Faktoren in ihren historischen Bezügen (künstlerische Konventionen und die Abweichungen davon, Einordnung in das kollektive Bildgedächtnis, Rezeption, zeitgenössische Rede über Kunst, kulturund mentalitätsgeschichtliches Umfeld usw.) re-konstruiert werden. Erst dann können wir erschließen, wo und wie die Bilder, die eben keine "Que!!en" sind, in einer immerhin von uns definierten und beschriebenen historischen Situation stehen und welche Lesarten dieser Situation sie erlauben2 . Wir können die Bildproduktion, um die es hier gehen soll, auch als Teil von diskursiven Praktiken bezeichnen. Das bedeutet unter anderem, daß sie nicht nur Effekt von Diskursen ist, sondern diese mit produziert. Das meine ich, wenn ich sage, diese Bilder reagieren nicht - sie bringen das mit hervor, worauf sie zu reagieren scheinen. Wenn abstrakte Begriffe wie Nation und Volk bedeutsam werden, wie dies seit 1789 geschehen ist, löst dies noch nicht das Problem ihrer kollektiven ,Vorstellung'. Erst ihre bildhafte Vorste!!ung, ihre ,Verkörperung', scheint diese Begriffe letztlich diskursmächtig werden zu lassen. Dabei, und das ist das bildstrukture!!e Problem der Repräsentation, kann es nicht um die Nation/ das Volk als ,Abbild' gehen (was sollte da abgebildet werden?), sondern um die "Selbstbeschreibungsformel des Gesellschaftssystems" in einer Verbildlichung der "Einheitssemantik"3. Sie dient zur Herstellung kollektiver Identität und zur Identifikation mit einem verbindlichen Wertekatalog in einer symbolischen Repräsentation. Es gibt Bildverfahren zur Repräsentation von nationaler Zentralität im 19. Jahrhundert - und das gilt über Deutschland und Italien hinaus für die europäischen Nationalstaaten -, von denen ich die wichtigsten nennen will: Da ist vor a!!em die ,große Erzählung' über den Helden, selten die Heidin, über zentrale Momente eines Volksepos oder über die Gründungslegende der Nation. Der ,symbolische Einheitskörper des Herrschers' dagegen ist eine Repräsentationsform, die , weniger narrativ, als vielmehr zeitlich stillgestellt erscheint. Sie schließt an die monarchische Tradition an und geht vom Untertan, nicht vom Staatsbürger als Gegenüber aus - was mit zunehmender wirtschaftlicher und
Derartige Rekonstruktionen können im Rahmen dieses Beitrages allerdings nicht im Detail geleistet werden, denn dies WÜrde den historisch etwas großräumiger angelegten Bogen, den ich verfolgen möchte, unmöglich machen. Ich verweise dafür jedoch auf meine diesbezüglichen Versuche, die ich in den Anmerkungen anführen werde. G. Kiss, Nation als Formel gesellschaftlicher Einheitssymbolisierung, in: j.-D. Gauger I }. Stag/ (Hrsg.), ,Staatsrepräsentation', Berlin 1992, S. 105-130, dort S. 109.
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kultureller Hegemonie des Bürgertums immer schwieriger wird. Als politische Gegen- wie Komplementärfigur zum Herrscher fungiert der ,symbolische Einheitskörper des Volkes/der Nation' in Form der weiblichen Nationalallegorie, während der ,Kulturheld' als pars-pro-toto-Figur Baustein der Konstruktion bürgerlicher Geschichte ist, die sich konstituiert als Geschichte nationaler Kulturleistungen (uomini illustri). Hinzu kommen Kombinationen all dieser Bildstrategien. Sie entstehen, um die konfliktreichen Machtkonstellationen des 19. Jahrhunderts zwischen Monarchie und Demokratie, Bürgertum, Adel und Arbeiterschaft, Zentrum und Periferie im Bild zu ,harmonisieren'4 • Das "Volk" als zu repräsentierende Kollektiworstellung steht in gewisser Weise quer zu dieser Aufteilung und läßt sich in allen Punkten wiederfinden, auch in Bildern des Herrschers. Die früheste Bildgattung, in der nationale Erzählungen imaginiert wurden wenn wir einmal von politischer Flugblattgraphik u.ä. absehen- ist die Historienmalerei. Sie birgt die Möglichkeit, die dynastische Wiederkehr des Immergleichen (Eroberung, Heirat, Belehnung, Schlacht) mit neuen Erzählungen abzulösen. Hier artikulieren sich wesentliche Unterschiede zwischen Deutschland und Italien, denen wir im folgenden nachgehen werden. Recht früh im 19. Jahrhundert artikulieren sich in Italien bereits die ersten Versuche zu nationalen Bildepen, die den sogenannten "Romanticismo storico"5 einleiten. Impuls dafür ist, bereits· unter Napoleon vorbereitet, das "in tyrannos" der patriotischen Elite vor allem Norditaliens gegen Österreich6. Diese Elite figuriert auch als Auftraggeber, ohne ·die eine solch ambiziöse und oft großformatige Bildgattung nicht auskommt; bei Francesco Hayez' berühmter Schilderung der "Vespri Siciliani" ist das die Marchesa Visconti d'Aragona aus dem Umkreis der adligen Carboneria. Bezugsepoche ist in der Regel das Mittelalter. Diese Bilder leben von einer Art klandestiner Rezeption, in der sich der Widerstand gegen die Fremdherrscher kulturell artikuliert. Die Parallelen, die zwischen den Geschichten mittelalterlicher Rebellion/Volkserhebung und der tagespolitischen Situation gesehen werden, formen in dieser Zeit auch das Bild eines patriotischen "Volkes". Giuseppe Mazzini benannte den Unterschied zwischen dynastischer und "nationaler" Geschichte und Geschichtsmalerei deutlich: Nicht um den Helden als Einzelfigur gehe es nunmehr, sondern um
Dies faßt kurz einige strukturorientierte Resultate meiner Untersuchung nationaler Bildersprache im Risorgimento zusammen: Italienische Monumentalmalerei im Risorgimento 1830-1890- Strategien nationaler Bildersprache, Berlin 1993. Dort finden sich auch Darstellungen des Kunstapparats im 19. Jahrhundert in Italien und eine ausführliche Bibliographie zu den soziokulturellen Bedingungen von Kunst in Italien. Eine erste wissenschaftliche Erfassung für Italiens "Romanticismo storico" bietet der Ausstellungskatalog: Romanticismo Storico, Florenz 1974, mit einem ausführlichen Repertoire der Themen und der Literaturvorlagen. Siehe dazu u.a.: Katalog: II primo '800 italiano. La pittura tra passato e futuro, Mailand 1992, mit weiterf. Bibliographie.
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die Erzählung des "sentimento del ,collettivo' ehe domina oggi [1840, S.F.] e dominera sempre piu il concetto della storia"7 . Aber noch sei diese Historienmalerei nur Vorläufer einer nationalen Kunst, denn: "Perche !'Arte del Popolo, della Nazione Italiana possa esistere, bisogna ehe Ia Nazione sia . . . La caratteristica della scuola ehe seguono (gli artisti) e di essere eminentemente ,storica': e infatti nella continuita della tradizione storica ehe l'Italia debba attingere le ispirazioni e le sue forze per fondare Ia sua Nazionalita". Für Mazzini ist der erwähnte Hayez der "capo della scuola di Pittura Storica, ehe il pensiero Nazianale reclamava in Italia". Hayez greift bereits 1822 mit seiner ersten Version der "Vespri siciliani" (Abb. 1) das Thema der Volkserhebung gegen die (französische) Fremdherrschaft auf, das er der "Storia delle Repubbliche italiane" von Sismondi entnommen hatte8 . Das Bild zieht drei Zeitmomente des Aufruhrs zusammen: Im Vordergrund sehen wir jene Szene, die den Aufstand der Sizilianer gegen die Franzosen 1282 angestoßen hatte9 , dahinter und rechts im Mittelgrund rufen zwei Männer mit dem Rücken zum Betrachter mit dem Schrei "Mone ai Francesi" zum Kampf auf, der sich wiederum in den bewegten Gruppen im Hintergrund bereits vollzieht - eine Bilddramaturgie, die gegen die aristotelischen Regeln des Theaters, wie sie auf die Gattung des Historienbildes übenragen worden waren, zumindest in Bezug auf die Einheit der Zeit verstößt. Dies allein verweist bereits auf ein neues Erzählbedürfnis, dem die herkömmlichen Formen der Historienmalerei, orientien am Einzelhelden, nicht mehr genügen konnten, eben auf das Mazzini'sche "collettivo", das im Grunde auch nach neuen Bildregeln verlangte. Ganz anders dagegen die Situation in Deutschland vor 1848: Nationale Bezüge auf das Mittelalter kreisen in der Regel um die Kaiser-Mythen (Karl der Große, Friedrich Barbarossa). Das "Volk" tritt nicht in Erscheinung. Vielmehr geht es um die Ausbildung der mytischen Genealogie für ein deutsches "Reich", vorgestellt als Monarchie. Es ist sehr schwierig, das Verhältnis der bürgerlichen Eliten in Deutschland zu solchen Bildern nachzuvollziehen, die z.T. als Mo-
Dieses und die folgenden Mazzini-Zitate aus: G. Mazzini, Pittura moderna italiana (1840), in: Scritti editi ed inediti di Giuseppe Mazzini, XXI, Imola 1915, S. 275284, 292-299, 304-307, zitiert nach: Katalog: Romanticismo Storico, S. 136-139. j.-Ch.-L. Simonde de Sismondi, Storia delle Repubbliche italiane dei secoli di mezzo. Traduzione del francese, Italia 1817-1819. Hayez besaß dieses Buch und hatte sich daraus Notizen für Bildthemen gemacht, die veröffentlicht sind in: G. Nicodemi, Francesco Hayez, Mailand 1969, Bd. 1, S. 187-188. Hayez faßt diese so zusammen: "Il 30 marzo lunedl 1282 giorno dopo Pasqua, i Palermitani . . . si posero in via per andare ad assistere al Vespro nella chiesa di Monreale .. . I francesi stabiliti in Palermo presero parte alla festa ed alla processione. Questi avevano fatto pubblicare Ia proibizione di portare armi . . . una bella nobile donzella s'incamminava alla chiesa col suo sposo . . . Un francese . . . Ia frugo insolentemente nel seno sotto pretesto di verificare se portava armi nascoste. La giovane cadde svenuta e Drouet venne ammazzato . . . Allora fu gridato: Morte ai francesi ed il Vespro Siciliano ebbe principio" (ebd.).
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numentalzyklen von Aristokraten in Auftrag gegeben wurden10 und die so gar nicht bürgerlichen Bedürfnissen der Selbstrepräsentation zu entsprechen schienen. Alfred Rethels Zyklus zu Kar! dem Großen im Aachener Rathaus zeigt allerdings, daß in der Tat diese Variante des Reichsgedankens auch bei der bürgerlichen Auftraggeberschaft11 für öffentliche Kunst - so rar wie diese vor der Reichseinigung auch war - im Mittelpunkt stand. Rethels Bildfindung für den Besuch Ottos III. in der Karlsgruft (Abb. 2) für diesen Zyklus versucht, in einem Szenario, das uns recht "gothic" anmutet, jene mythische Kraft zu inszenieren, die dieser Geschichtsimagination zugesprochen wurde. Rethel zeigt nicht etwa den Jüngeren am geöffneten Sarg seines Vorgängers, sondern läßt den toten Kaiser aufrecht in der Krypta thronen; die Fackel, von den Begleitern Ottos getragen, läßt eine Art Licht in das Dunkel der Krypta fallen, die an den göttlichen Lichtstrahl bei Verkündigungsbildern u.ä. denken läßt; Otto und Gefolge gehen vor dem Toten anbetend in die Knie wie vor einer Gottheit. Im Kontrast zwischen dem großen Alten und dem jugendlichen Otto finden die Betrachterinnen eben jenes dynastisch Immergleiche, aber nun gewendet zur Genealogie für die rückwärts gewandte politische Utopie des neuen deutschen Reiches. Das Zusammenspiel des politischen "Urahn" mit der Jugend Ottos läßt diesen zur Präfiguration jenes neuen Herrschers werden, den Rethel als Hoffnungssträger für die Zukunft des Reiches herbeizuträumen scheint. Für Rethel waren die Kaiser Gegenstand der Volksverehrung, um "das niedergebeugte Nationalgefühl" wiederaufzurichten 12 • Die im Grunde ahistorische Wiederkehr des Immergleichen dynastischer Legitimation berührt sich hier mit den politischen Identitätsbedürfnissen des national gesinnten Bürgertums in einer Weise, die zeigt, daß in Deutschland die ideologischen und machtpolitischen Verschränkungen zwischen aufsteigendem Bürgertum und Monarchie ganz anders gelagert waren als in Italien. Das wird noch verstärkt durch die Form, in der die Monarchie imaginiert wird, in einem Rückgriff, der jede bürgerliche "Fortschrittsgeschichte" seit dem Mittelalter symbolisch ungeschehen machte. Die Helden dieser Nationalgeschichte sind die Kaiser, keine Tyrannenmörder und kein aufständisches "Volk". Und so finden wir in dieser Bildproduktion auch visuelle Strategien, die auf das klassisch barocke, königliche Exemplum Virtutis13 zurückverwei-
10 Dazu siehe u.a. /. jenderko-Sichelschmidt, Die Düsseldorfer Historienmalerei 1826 bis 1860, in: Katalog: Die Düsseldorfer Malerschule, Düsseldorf I Darmstadt 1979, S. 98-111 ; und D. Graf, Die Fresken von Schloß Heltorf, ebd., S. 112-120. 11 Auftraggeber waren in diesem Fall ein Aachener Bürger und der Kunstverein· für die Rheinlande und Westfalen. Der Auftrag wurde 1839 erteilt; er wurde erst nach der '48er Revolution fertiggestellt (siehe I. jenderko-Sichelschmidt, Die Düsseldorfer Historienmalerei, S. 107 ff.). 12
Ebd., S. 108.
Zur Geschichte dieser Bildgattung siehe u.a. den Katalog: Triumph und Tod des Helden, Köln 1987-1988. 13
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sen, wenn auch nun im Gewand des "gothic revival". Man kann sich vorstellen, wie Mazzini auf solche Themen reagiert hätte, die einen einsamen Einzelprotagonisten herausstellen, der noch dazu von Gott eingesetzt ist. Wie hätte sich für ihn wohl hier der Zusammenhang mit der "collettivita", dem "popolo" dargestellt, in dem er das Ideal nationaler Geschichtsmalerei sah? Als die ersten Bilder in Deutschland vom "Volk" als geschichtsformende Kraft können wohl Karl F. Lessings Bilder zur Hussitenbewegung betrachtet werden, die seit 1836 entstanden waren. Als isoliertes Phänomen haben sie begeisterte Zustimmung im kleinen demokratischen Lager hervorgerufen, so bei Friedrich Theodor Vischer: "Auf höchst erfreuliche Weise hat Lessing angefangen, aus der thatenlosen, trauernden Innerlichkeit sich herauszuarbeiten, das Epos der Geschichte aufzuschlagen und Thaten der Männer darzustellen"14. Wie Monika' Wagner beschreibt, suchten die demokratisch gesinnten Kunstkritiker des Vormärz in der Geschichte "jene Epochenumbrüche, die als Vorbild der angestrebten bürgerlich-demokratischen Gesellschaft dienen konnten. Doch ließen sich diese Vorstellungen im Rahmen der Monumentalmalerei als staatlich kontrolliertem öffentlichen Sektor nicht durchsetzen. Lediglich die Tafelmalerei - etwa Karl Friedrich Lessings "Hussitenpredigt" oder seine Luther-Bilder- lieferten hier Ansätze" 15 . Solche Umbrüche waren für Vischer die Reformationszeit, der Dreißigjährige Krieg, die Völkerwanderung 16 - also Momente einer zu konstruierenden ,Volks'-Geschichte, die von den Kontinuitäten der Herrschaftsgeschichte abwichen und zu denen auch die Hussitenbewegung gezählt werden konnte. Lessings Prediger (Abb. 3) ist imaginiert als eine Mischung von Aufrührer und Missionar; die hingebungsvoll Lauschenden sind aus typisierten VertreterInnen des ,niederen' Volkes zusammengestellt. Dennoch verbleibt Lessing, wenn auch nicht thematisch, so doch im Aufbau, innerhalb der Gesetze des herkömmlichen Historienbildes, denn mit dem Prediger steht ihm eine zentrale Erzähl- und Heldenfigur zur Verfügung, die auch kompositorisch innerhalb des klassischen, hierarchisch gliedernden Raumdreiecks hervorgehoben wird. Ein vergleichender Blick auf Hayez' immerhin vierzehn Jahre früher entstandenes "Vespri"-Bild macht die Grenzen der Lessing'schen Leistung und damit auch jene der deutschen Situation, innerhalb derer sich Lessing artikuliert, deutlich.
14 F.T. Vischer, Die Aquarell-Copien von Rambox in der Gallerie zu Düsseldorf (Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, 1842), in: Kritische Gänge, Bd. 1, Tübingen 1844, S. 207-287, dort S. 219, zitiert nach: M . Wagner, Allegorie und Geschichte. Ausstattungsprogramme öffentlicher Gebäude des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Tübingen 1989, S. 16, Anm. 83. Wagners Buch ist im übrigen seit M. Droste, Das Fresko als Idee. Zur Geschichte öffentlicher Kunst im 19. Jahrhundert, Münster 1980, der wichstigste Beitrag zur öffentlichen Kunst in Deutschland in diesem Jahrhundert. l S Ebd., S. 16. 16 Ebd., Anm. 82.
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Diese Divergenz zwischen den beiden Ländern in Bezug auf die Ausformung eines Bildes vom "Volk" innerhalb des nationalen Diskurses wird uns im übrigen durch das Jahrhundert begleiten. Es entsteht. der Eindruck, daß das sogenannte Bürgertum in Deutschland, bis auf die kleine Gruppe der Demokraten, seinen politischen Status offenbar nicht aus der Konstruktion eines Volksbegriffs bzw. seines Bildes ableiten wollte oder konnte. Nationale Einheit schien sich für diese Gruppe aus anderen Faktoren abzuleiten, die der Monar.: chie näherstanden als in Italien. Insofern, und das möchte ich als Diagnose schon vorausschicken, kam es in Italien eher als in Deutschland zu Bildformen und - verfahren, die ich als genuin bürgerlich bezeichnen möchte - und das, obwohl diese Schicht in Italien des 19. Jahrhunderts als nur schwach ausgebildet und kaum homogenisiert gilt. Wir könnten also die Frage nach dem Zentralismus, oder anders, nach Figurationen von Zentralität, bezogen auf die Konstituierung der Nation, auch anders stellen: Wie ist es um das zentrale Element der Nationsbildung in der westlichen Moderne bestellt: Die Konstruktion des politisch handelnden Subjekts "Der Bürger"? Wenn wir diese Frage an die damaligen Bildwelten stellen, so bieten sich jene an, die den patriotischen Kampf bis zur Nationsgründung zum Thema haben; und auch hier werden wir auf wesentliche Unterschiede zwischen Italien und Deutschland stoßen. Der bekannteste deutsche Versuch einer diesbezüglichen Aussage schildert ein Scheitern, eine symbolische Leere, ja, eher die Absenz gerade dieses bürgerlichen politischen Subjekts: Menzels "Aufbahrung der Märzgefallenen" von 1848/49 (Abb. 4), vom Künstler unvollendet gelassen und zu seinen Lebzeiten nie ausgestellt17 • Es gibt also in diesem Fall keine öffentliche Rezeption der Zeitgenossen wie bei Lessings Hussitenbildern; wir können uns nur auf die Verankerung des Künstlers im zeitgenössischen Diskurs stützen. Die ersten Studien entstanden unmittelbar nach den Berliner Märzkämpfen. Das Bild zeigt jedoch nicht den Kampf, sondern einen Moment des Trauerzuges nach dem Kampf. Das Trauergeschehen, wie es Menzel aufgezeichnet hat, zeigt keine Spur von Volksempörung. Die Mitte des Bildes - d.h. der Ort, der in der großen Erzählung dem/ den Protagonisten vorbehalten war, ist leer. Es bleibt uns nur, als einzigen ,Helden' der Revolution den aus der Mitte versetzten Sarg eines gefallenen Märzkämpfers zu identifizieren. Die epische Erzählung vom handelnden Volk ist suspendiert. Es wundert nicht, daß Menzel das Bild nicht vollendet hat. 17 Für eine genauere Interpretation und zeitgenössische Positierung dieses Bildes in Bezug auf die Selbstkonstruktion des bürgerlichen .,Subjekts", auch im Vergleich zur Pariser 48er Revolution, siehe den Artikel der Autorin: Zeitzeuge der Leere - Zum Scheitern nationaler Bildformeln bei Menzel, im Katalog zur Ausstellung: Adolph Menzel 1815-1915. Das Labyrinth der Wirklichkeit, Köln 1997, S. 494-502.
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In der damals verbreitesten Darstellung der Märzrevolution, Alfred Rethels "Auch ein Totentanz", einer vielverkaufen sechsteiligen Stichserie, wird die Revolution von einem Verführer des Volkes in Gestalt des Todes initiiert, der dieses Volk ins Verderben führt (Abb. 5). Das Scheitern der Revolution wird zu einem tragisch schicksalhaften Geschehen stilisiert: das Volk ist ihm hilflos ausgeliefert, politisch wird es in der Rolle des unreifen Kindes gesehen. Dieser bürgerliche Blick auf die Revolution sieht in ihr nicht die Chance zur eigenen Emanzipation, sondern ist geprägt von Angst vor jenem Chaos, mit dem die Gemäßigten die niederen Stände und damit das revolutionäre Geschehen tout court verbinden. Es gibt also weder ein einheitliches bürgerliches, noch ein einheitliches revolutionäres Subjekt, und schon gar nicht sind beide identisch. In Deutschland konnte sich offenbar keine positive Bildtradition der volkstümlichen Revolutionserzählung ausbilden. In Italien hingegen wurde gerade diese Tradition vor allem in Ober- und Mittelitalien gepflegt, vorbereitet in Historienbildern wie den bereits erwähnten "Vespri Siciliani" von Francesco Hayez, oder dem wildbewegten Bild eines Volksaufstandes von Emilio Busi und Luigi Asioli, "La cacciata dei Tedeschi da Genova per il moto del Balilla", beendet 1842 (Abb. 6). Auch hier gab es einen Bürger als Auftraggeber, Niecola Puccini aus Pistoia, unter den Zeitgenossen berühmt geworden wegen seiner patriotisch-didaktischen Kulturarbeit, wie man heute sagen würde, gerade auch für die ,niederen' Stände 18 . Obwohl im Gewand akademischer Figur- und Farbauffassung, ahnen wir doch einen fernen Reflex von Delacroix' "La Liberte guidant le peuple" von 1831, vor allem in der Figur des jungen, der die Kämpfer antreibt. Der Balilla-Aufstand von 1746 gegen die "Tedeschi" wurde von Mazzini und Guerrazzi als Manifestation des politisch handelnden Volkes gefeiert und erlebte - ebenso wie das Bild - sein Revival im Faschismus19, der sich mit der Wiederbelebung dieser Art Mythen als Vollender des Risorgimento inszenierte. Ein Bild wie Antonio Puccinellis Porträt eines unbekannten toskanischen Freiwilligen von 1848 (Abb. 7) mag nun als eine Art bildfaktischer Nachweis dienen, daß es zumindest in jenen Gegenden Italiens, deren bürgerliche Klasse die Patrioten der 48er Revolution hervorbrachte, weniger Probleme als in 18 Puccini ist eine der interessantesten Erscheinungen des italienischen kulturellen Vormärz. Berühmt wurde er v.a. durch seinen Landschaftsgarten, ausgestattet mit patriotischen Denkmälern berühmter Italiener (ein besonderes, leeres Podest war dem zukünftigen Realisator der Nation vorbehalten), den er an gewissen Feiertagen auch für die arme Bevölkerung öffnete. Er gab außerdem, beraten von Niccolini und Guerazzi, einen Zyklus von elf Bildern mit patriotischen Historienthemen bei den führenden toskanischen Malern der Zeit in Auftrag. Garten wie Bilder fanden in Stichwerken weite Verbreitung; siehe dazu den Katalog: Cultura deii'Ottocento a Pistoia. La Collezione Puccini, Pistoia 1977. Auch hierin ist ersichtlich, daß das Verhältnis zwischen Bürgern und "niederem" Volk in Nord- und Mittelitalien (vielleicht mit Ausnahme Piemonts, siehe dazu die Debatte um die "educazione del popolo", dargestellt in: G. Cbiosso [Hrsg.l, Scuola e stampa nel Risorgimento. Giornali e riviste per l'educazione prima deii'Unita, Mailand 1988), weniger angespannt war, als in Deutschland. 19
Siehe zum Bild den Katalog: Garibaldi, Arte e Storia, Rom 1982. S. 91-92.
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Deutschland mit einer politischen Selbstdefinition gab, auch auf individueller Ebene. Der Blick des Freiwilligen schaut wach und in hohem Maße ,subjekt'haltig auf die Betrachterinnen, Ambivalenzen gegenüber seiner Rolle als Soldat der Revolution scheint er nicht zu empfinden. Auch die Enttäuschung über die letzliehe Niederlage scheint im Bild nicht auf, obwohl das Bild erst 1849 vollendet worden ist. Selbst, wenn wir Abstriche machen von dieser Einschätzung, vor allem, weil der ungewöhnlich intensive Blickaustausch zwischen Soldat und Betrachterin, den Puccinelli herbeiführt, wohl auch darauf zurückzuführen ist, daß der Porträtierte ein Freund des Malers war - Vergleichbares gibt es für Deutschland nach meiner Kenntnis nicht. Ein wesentlicher Faktor dabei dürfte der Umstand sein, daß in Italien nicht nur um die politische Emanzipation zu Staatsbürgern einer Nation gekämpft wurde, sondern gleichzeitig gegen die Fremdherrschaft; und zumindest hier gab es in den Jahrzehnten bis zur Reichsgründung immer wieder Teilerfolge. Die große Erzählung der Volkserhebung, für die ich noch viele Beispiele zeigen könnte, bildet immerhin einen soliden Fundus im kollektiven Bildgedächtnis, gleich wie skeptisch Giulio Bollati sich zur Konsistenz einer Identität des "Italieners" äußern mag20 • Mit der 48er Revolution rückt dann auch in Italien die Gegenwart in die Position der Geschichte, und die Erzählung aktuellen, kollektiven wie individuellen Heldentums dringt in neue, bürgerliche Bildgattungen vor, die bisher niedriger eingestuft worden waren, als die Historienmalerei. So zeigen die .Cucitrici di camicie rosse" von Odoardo Borrani 1863 (Abb. 8) eine biedermeierliche .Heimatfront" der Revolution in der Gattung des häuslichen Genrebildes, während .Garibaldi e il maggiore Leggiero in fuga trasportando Anita morente" von Pietro Bouvier, 1864 (Abb. 9), den Kampf in die Strophe einer herzzerreißenden Ballade zu verwandeln scheint, die den (ausnahmsweise weiblichen) Heldentod mit dem tragischen Ende einer Lebensliebe kombiniert. Giuseppe Oe Nigris hat die bürgerliche Rezeption der Bilder vom Befreiungskampf in .Le impressioni di un quadro" von 1863 (Abb. 10) übermittelt 21 . Es hat allerdings den Anschein, daß diese Erzählung, die in der Regel republikanischen Charakter hat, nach 1870 mit zunehmender Zentralisierung auf das Haus Savoia gleichsam relegiert wird in den Mythos Garibaldi, der gegen Ende des Jahrhunderts besonders vom anarchosozialistischen Ambiente gepflegt wird. Pietro Nomellinis .Garibaldi" von 1907 (Abb. 11) bietet eine gespenstische Wiederauferstehungsszenerie der Garibaldi-Truppen, von einem Trompeter zum Appell gerufen, mit den Gefallenen der letzten Schlacht noch am Boden liegend, Garibaldi schattenhaft zu Pferde22. Garibaldi ist in Italien die einzige Einheitsfigur, die der des Königs Konkurrenz machen kann. 20
G. Bollati, L'ltaliano - II carattere nazionale come storia e come invenzione,
Turin 1983. 21
Abgebildet im Katalog: Garibaldi, S. 25.
Das Bild von Nomellini geht auf eine literarische Quelle zurück: .,Inno di Garibaldi", von Luigi Mercantini (1821-1972), die populärste Hymne des Risorgimento, 22
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Einzig vergleichbarer Mythos in Deutschland, aber politisch völlig anders gelagert, ist der Bismarcks. Alexander Zicks "Germanias letzter Gruß" (an Bismarck) von 1899 (Abb. 12), neben Nomellinis Garibaldi gesehen, verdeutlicht weitere grundsätzliche Unterschiede in den Konstruktiuonsweisen nationaler Einheit. Wo bei Nomellinis Garibaldi in gleichsam napoleonischer Tradition das Volk als Volksheer auftaucht, ist bei Zicks Bismarck die Nation als weibliche Allegorie gegeben, begleitet von Allegorien der Bundesländer, altgermanischen Kämpen und deutschtümelnden Rittern. Ob dieser altmodische Figurenapparae3 als Repräsentation im Sinne einer Darstellung der Nation als .Volk" geeignet gewesen sein könnte, wage ich zu bezweifeln. Vielmehr scheint es hier um die recht forcierte Konstruktion einer Nationalität als etwas Mythisch-Fernes und deshalb Heiliges zu gehen und weniger um ein Angebot partizipatorischer Identifikation. Und diese Art des Mythos macht die Nation zu etwas Entrücktem. Zwischen .Volk" und .Nation" wird der Mythos errichtet. Damit wird ein Autoritätsgefälle eingeführt: Die Nation ist nun eine mythisch gesetzte, heilige Autorität, der das Volk unterstellt ist. Wie wir gesehen haben, beginnt diese Tendenz bereits im Vormärz mit den Kaisermythen. Meine Hypothese wäre, daß diese Distanz zwischen Bevölkerung, Volksrepräsentation und Nationalmythos in Deutschland notwendig war, um den ,Konflikt' zwischen monarchischer Staatsform und modernem Nationsgedanken ,im Bild zu neutralisieren'. Das provoziert die Frage, welches .Volk" denn dann wohl gemeint gewesen sein mag, eine Frage, die sich mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung zum akuten Problem auswächst: der Volksbegriff kann nicht mehr harmonisiert werden im Sinne einer Konstruktion von nationaler Einheit. Es entsteht ein Bruch zwischen .Volk" und .Nation", bzw. ,innerhalb' dessen, was das Volk sein könnte. In Deutschland reagiert man mit immer aggressiveren Visualisierungen der Nation auf die Spaltung des Volksbegriffs: Hermann Prells Fresko .Germania zwischen Wehrkraft und Fruchtbarkeit'' von 1891 im Palazzo Caffarelli (Abb. 13), der damaligen deutschen Botschaft in Rom24 , zeigt in machtvollem, neobarocken Gewand ein Programm imperialistischer Expansion, mit dem auch die Arbeiterschaft für den Nationalmythos gewonnen werden sollte, mit zumindest partiellem Erfolg. Die Intensität, mit der diese Bilderpolitik betrieben wurde, zeigt sich auch im Monumentalvon Garibaldi selbst in Auftrag gegeben, deren erste Strophe mit dem Satz beginnt: .Si scopron le tombe, si levano i morti, i martiri nostri son tutti risorti". Ich verdanke diesen Hinweis Benedetta Heinemann Campana. 23 Es gibt in Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Diskussion, ob die Historienmalerei oder die Allegorie für die bürgerliche Kultur der Gegenwart angemessener wäre. Wie M. Wagner, Allegorie, besonders S. 14 ff., zeigt, hat diese Diskussion auch politische Dimensionen, wobei die Befürworter der Allegorie eher auf der konservativen Seite angesiedelt sind. Konkreten Aufwind gegenüber der Historienmalerei erhält die Allegorie dann nach der Reichsgründung in der Malerei mit öffentlichem Repräsentationscharakter, d.h. im Zusammenhang mit der kaiserlichen Zurschaustellung von Macht. 24
Siehe M . Wagner, Allegorie, S. 94.
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bild von Max Seeliger, "Erziehung der Jugend", von 1900 (Abb. 14) für die Aula des Gymnasiums in Wurzen2;. Zeitgleich entstand in Italien ein noch heute bekanntes Bild monumentalen Formats: Giuseppe Pellizza da Volpedo, "II Quarto Stato"26 (Abb. 15), in den Jahren nach 1968 Ikone der außerparlamentarischen Linken. Die anarchohumanistische Version vom Volk war um 1900, wenn auch minoritär, immerhin so lebendig, daß der Maler sich in der vergeblichen Illusion wiegen konnte, das Bild würde vom König angekauft werden, denn er hielt es für ein Bild, das über die Linke hinaus universale Gültigkeit besaß. Ästhetisch zeigt sich seine Suche nach einer allgemeingültigen Bildsprache in der radikalen Vermeidung der damals üblichen anekdotischen Erzählweise, der Stillstellung und Monumentalisierung des Bildaufbaus und in seiner Filterung der Philosophenfiguren in Raffaels "Schule von Athen" für die debattierenden Arbeiter, in dem Versuch, dem Vierten Stand mit den Strategien ästhetischer Nobilitierung die Würde der Allgemeingültigkeit zu verleihen. Auch hier suchen wir in Deutschland vergebens nach vergleichbaren Beispielen auf diesem Niveau. Bei der graphischen Bildpropaganda der Arbeiterbewegung dagegen, die ich hier nicht heranziehe, gäbe es sicher Übereinstimmungen, allerdings nicht nur zwischen diesen beiden Ländern, sondern international. Beenden wir unsere kurze Bildreise mit den •Volksherrschaften" des zwanzigsten Jahrhunderts, nun allerdings mit den Repräsentationsformen des jeweiligen Volks-Führers. Die Volksmetapher konnte gegen Ende des Jahrhunderts als übergreifende Einheits- und Autoritätsmetapher, auch unter dem Zeichen kolonialer Expansion, kaum noch wirksam sein27 . Für diese Situation, auch als Krise des liberalen Staates beschrieben, bot erst der Faschismus eine Lösung an: Gleichsam in Wiederaufnahme einer Tradition, die sich im Grunde aus dem historischen Bruch der Französischen Revolution und den Legitimationsverfahren Napoleons ableitet, tritt der legitimatorische Kreislauf zwischen Volk und Führer in Kraft: Das Problem einer machtdelegierenden, das Volk transzendierenden Autorität wird nun ,innerhalb' dieses Zirkels gelöst. Das Volk selbst, im NS der Rassekörper bzw. kollektiv die völkische Gemeinschaft, wird als sakrale Autorität, als Mythos gesetzt, die nun die Staatsmacht/ den Führer legitimiert. Umso erstaunlicher, daß die visuellen Führer-Inszenierungen von Hitler und Mussolini sich erheblich unterscheiden: Während Hitler immer erkennbar Hitler bleibt - hier im Plakat zum Plebiszit von 1933 (Abb. 16) als Kniestück 25
Ebd., S. 213.
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Dazu v.a. A. Scotti (Hrsg.), Giuseppe Pelizzada Volpedo. Il Quarto Stato, Milano
1976. 27 Im Folgenden nehme ich Gedanken wieder auf, die ich ausführlicher in: Vom Baihausschwur zum Duce. Visuelle Repräsentation von Volkssouveränität Demokratie und Autokratie, in: A . Graczyk (Hrsg.), Das Volk, Abbild, Konstruktion, Phantasma, Berlin 1996, S. 3-17, entwickelt habe.
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im Dreiviertelprofil über der aufschauenden Masse montiert -, gibt es von Mussolini eine Bandbreite von Strategien, die vom Naturalismus bis zur modernistischen Montage reicht: Mussolini, ebenfalls auf einem Plakat zum Plebiszit von 1934 in Italien (Abb. 17), auf sich herabschauend, wobei sein Körper, Hobbes "Leviathan" gleich, von der Masse gebildet wird, oder umgekehrt: Mussolini bildet die Masse in Form unendlich vieler Duce-Köpfe selbst (Abb. 18) - etwas, was Hitler nie zugelassen hätte. Mussolini geht auch so weit, sich total ent-körpert darstellen zu lassen: abstrahiert zum Signet des Riesenbuchstabens M vor einem Jugendlager (Abb. 19). Was geben diese Formen zu erkennen? Mussolini zieht den Autorisierungskreislauf zwischen Volk und Führer am engsten. Er ,verkörpert' das Volk und nimmt damit einen Legitimationsmodus wieder auf, den Napoleon entwickelt hatte und der nach Napoleon im 19. Jahrhundert keine Anwendung mehr gefunden hatte. Dies geschieht sogar auch in Abweichung vom naturalistisch-ganzheitlichen Körperbild. Hitler hingegen läßt eine solche Abweichung nicht zu. Das ist der eine Unterschied. Der andere ist, daß Hitler sich, anders als Mussolini, nicht als Inkarnation des Volkes inszeniert. Der völkische Rassekörper wird visuell nicht im Bild des "Führers" inszeniert, sondern in dem des jungen, nackten Körpers, sei er männlich wehrhaft oder weiblich fruchtbar. Fritz Erlers Hitler-Porträt (Abb. 20) vermag das Verhältnis zwischen Rassekörper, der gleichzeitig Volkskörper ist, und dem Führer zu exemplifizieren: Hitler, mit dem Rücken zum männlichen "Volkskörper" in Gestalt der Skulptur eines nackten, knieenden Kriegers stehend, ist der Konstrukteur dieses Rasse/ Volkskörpers, sein Architekt. In gewisser Weise schiebt sich also wieder ein Mythos zwischen das Volk und eine weitere Größe, der sich das Volk zu unterstellen hat: diesmal nicht der Nation, sondern dem Führer. Die Rasse als zentrale Kollektivzuschreibung machte die inszenierte Verschmelzung von Volk und Führer, die wir bei Mussolini gesehen haben, unmöglich. Das Volk ist nurmehr Volkskörper, von Hitler ,geformt'. Nun legitimiert sich nicht mehr der Führer vor seinem Volk, sondern das Volk muß sich vor und in dem strengen Blick seines Führers und ,Architekten' legitimieren.
Das Bild des Volkes
Abbildung L Francesco Hayez, I vespri Siciliani (Öl auf Leinwand, 1. Version 1821-1822)
Abbildung 2: Alfred Rethel, Otto III. in der Karlsgruft (Entwurf zum Fresko im Aachener Rathaus, 1847)
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Abbildung 3: Car/ Friedricb Lessing, Hussitenpredit (Öl auf Leinwald, 1836)
Abbildung 4: Adolpb Menzel, Die Aufbahrung der Märzgefallenen (Öl auf Leinwand, 1848)
Das Bild des Volkes
Abbildung 5: Alfred Rethe/, Auch ein Totentanz (Blatt 6, Holzschnitt, 1849)
Abbildung 6: Emi/io Busi und Luigi Asio/i, La cacciata dei Tedeschi da Genova per il moto di Balilla (Öl auf Leinwand, 1842)
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IFa~kcnhauscn
Abbildung 7: Antonio Puccinelli, Ritratto di un volontario toscano (Öl auf Leinwand. 1849)
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Abbildung 8: Odoardo Borrani, Le cucitrici di camice rosse (Öl auf Leinwand, 1863)
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Abbildung 9: Pietro Bouvier, Garibaldi e il maggiore Leggiero in fuga trasportando Anita morente (Öl auf Leinwand, 1864)
Abbildung 10: Giuseppe De Nigris, Le impressioni di un quadro (Öl auf Leinwand, 1863)
Das Bild des Volkes
Abbildung 11: Pietro Nomellini, Garibaldi (Öl auf Leinwand, 1907)
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Abbildung 12: Alexander Zick, Germanias letzter Gruß (Gouache, 1898-1899)
Abbildung 13: Hermann Prell, Germania zwischen Wehrkraft und Fruchbarkeit (Fresko, Palazzo Caffarelli, Rom, um 1891)
Das Bild des Volkes
Abbildung 14: Max Seeliger, Erziehung der Jugend (Fresko, Aula des Gymnasiums Wurzen, um 1900)
Abbildung 15: Giuseppe Pellizza da Volpedo, Il Quarto Stato (Öl auf Leinwand, 1901)
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Ahbildung 16: Plakat: ,Ja! Führer wir folgen Dir" 0933)
Das Bild des Volkes
Abbildung 17: Plakat: .,1934.XII. SI" 0934)
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Abbildung 18: Fotomontage: Mussolini 0936)
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Abbildung 19: Eingangstor zu Jugendlager: M (Datierung unbekannt)
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Abbildung 20: Fritz Er/er, Hitler (Öl auf Leinwand, Datierung unbekannt)
Nationalismus im Ersten Weltkrieg Deutschland und Italien im Vergleich Von Oliver janz
Der Erste Weltkrieg war der erste große technisch-industrielle Massenkrieg der Geschichte und nahm in seinem Verlauf immer mehr die Züge eines totalen Krieges an. Er zwang die beteiligten Gesellschaften zu einer beispiellosen Mobilisierung ihrer gesamten Ressourcen. Wirtschaft und Gesellschaft wurden inuner stärker zentraler staatlicher und militärischer Interventionen unterworfen. Die kriegführenden Nationen waren auf die Partizipation der gesamten Bevölkerung angewiesen und muteten ihr beispiellose Opfer zu. Damit erhöhte sich der Legitimations- und Konsensbedarf der Kriegsgesellschaften drastisch, erlangten Ideologien und Propaganda eine enorme Bedeutung. Zu einem entscheidenden Vehikel der Mobilisierung wurden nationalistische Parolen, Mythen und Deutungsmuster. Ohne die Integrationskraft nationalistischer Emotionen und Ideologien läßt sich nur schwer erklären wie es in den meisten Kriegsgesellschaften über einen Zeitraum von mehreren Jahren und wachsende soziale und politische Spannungen hinweg gelang, ein beträchtliches Maß an Kriegsbereitschaft aufrechtzuerhalten1• Der Appell an die nationale Solidarität, die Aktivierung nationaler Bedrohungsängste und Feindbilder und die Propagierung nationaler Kriegsziele und Kriegsdeutungen zielten auf den Schulterschluß gegen den äußeren Feind, sollten Halt und Geborgenheit in der Gemeinschaft vermitteln und den hohen Opfern und KriegsGerade die italienische Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten stark den sozialen Konflikten und Spannungen während des Ersten Weltkriegs, dem Frontalltag, dem sozialen Protest und den verschiedenen Formen der Verweigerung zugewandt. Vgl. E. Force/la I A. Monticone, Plotone di esecuzione. I processi della prima guerra mondiale, Bari 1968; R. Monteleone, Lettereal re, Roma 1973; S. Fontana I A.M. Pieretti (Hrsg.), Mondo popolare in Lombardia. Operai e contadini lombardi nel primo conflitto mondiale, Mailand 1980; M. Isnenghi (Hrsg.), Operai e contadini nella Grande Guerra, Bologna 1982; G. Procacci (Hrsg.), Stato e classe operaia in Italia durante Ia prima guerra mondiale, Mailand 1983; A. Gibelli, L'officina della guerra, Turin 1991. Demgegenüber ist schon mehrfach gefordert worden, stärker die Aufmerksamkeit auf die kohäsion- und konsensstiftenden Momente in der italienischen Kriegsgesellschaft zu richten, die dazu beitrugen, daß die Mehrheit der Bevölkerung und der Soldaten sich an den Kriegsanstrengungen zumindest ohne offenen Protest und Verweigerung beteiligten. Vgl. R. Vivarelli, Storia delle origini del fascismo (1967), Bologna 1991, S. 22. Ähnlich argumentiert auch M. Isnenghi im Nachwort zur Neuauflage von: Il mito della Grande Guerra, Bologna 1989, S. 395 ff. 11•
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anstrengungen Sinn verleihen. Die Einordnung des Einzelnen in die Maschi~ nerie des Krieges konnte nur gelingen, wenn konkurrierende Identitäten und Loyalitäten, die sich etwa aus regionaler, konfessioneller oder Klassenzugehörigkeit ergaben, zugunsten der kämpfenden Nation zurückgedrängt wurden. So wurde der Erste Weltkrieg gerade für die beiden .jungen" Nationalstaaten Deutschland und Italien zum ersten großen Test für jene langfristige .Nationalisierung der Massen", die darauf abzielte, die Nation an zentraler Stelle im Gefühls- und Wertehaushalt breiter Bevölkerungsschichten zu verankern 2 •
1. Augusterlebnis und Intervento Die Vorstellung, daß die ganz überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung den Ausbruch des Ersten Weltkriegs in einem Taumel nationalistischer Begeisterung freudig begrüßt habe, ist von neueren Forschungen erheblich relativiert worden3. Noch in der letzten Woche des Juli 1914 konnte die SPD reichsweit etwa 750.000 Menschen zu Demonstrationen gegen den Krieg mobilisieren. Die bürgerliche Presse hat ihr Augenmerk dann aber vor allem auf die Menschenmengen gerichtet, die sich um den 1. August herum oft mehr aus Neugier als aus patriotischer Begeisterung auf den zentralen Straßen und Plätzen der großen Städte versammelte. Diese Ansammlungen stellten jedoch keinen repräsentativen Querschnitt durch die Bevölkerung dar, sondern waren geprägt von Angehörigen der bürgerlichen Mittelschichten und Jugend. Insgesamt bewegten sich die Reaktionen auf den Kriegsausbruch in einem breiten Spektrum, das von Kriegsbegeisterung und patriotischem Pathos über eine ernste und gefaßte Stimmung bis hin zu Angst, Panik und offener Verzweiflung reichte. Vor allem auf dem Land und in den Arbeitervierteln der Städte hielt sich die Begeisterung über den Krieg in engen Grenzen4• Die Manifestationen patriotischer Kriegsbegeisterung sind jedoch nicht nur quantitativ relativiert, sondern vielfach auch anders interpretiert worden 5. Der Vgl. S. Audoin-Rouzeau, The National Sentiment of Soldiers during the Great War, in: R. Tombs (Hrsg.), Nationhood and Nationalism in France, London 1991, S. 89100,
s.
97.
Vgl. G. Mai, Das Ende des Kaiserreichs. Politik und Kriegsführung im Ersten Weltkrieg, München 1987, S. 9-30; ].T Verbcy, The .Spirit of 1914": The Myth of Enthusiasm and the Rhetoric of Unity in World War I Germany, Ph.D., Berkeley 1991, S. 58-70; W Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses, Essen 1993, S. 36-44. Vgl. B. Ziemann, Zum ländlichen Augusterlebnis 1914 in Deutschland, in: B. Loewenstein (Hrsg.), Geschichte und Psychologie. Annäherungsversuche, Pfaffenweiler 1992,
s.
193-203.
Vgl. B . Ulricb, Die Desillusionierung der Kriegsfreiwilligen von 191 4, in: W Wette (Hrsg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992, S. 110-126; M. Stöcker, "Augusterlebnis 1914" in Darmstadt Legende und Wirklichkeit, Darmstadt 1994.
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Beifallsjubel der Menge, die Hochrufe auf den Kaiser, das Einstimmen in patriotische Gesänge und die spontanen patriotischen Ansprachen seien nicht als Kriegsbegeisterung zu verstehen, sondern als Ausdruck und Ventil einer über Tage hinweg ins Unerträgliche gewachsenen Spannung, als Versuch, in einer Situation völliger Verunsicherung Halt in der Gemeinschaft zu finden. Der patriotische Jubel sei überdies meist von konkreten Anlässen ausgelöst und durch Bekanntmachungen und Ansprachen, dem Erscheinen der Monarchen, dem Ein- und Ausrücken von Truppen und durch Marschmusik inszeniert worden. Er sei daher nicht "als Ausdruck einer wirklichen inneren Kriegsbegeisterung" zu interpretieren6 . Viele Menschen seien überdies nicht primär von Kriegsbegeisterung erfüllt gewesen, sondern von der karnevalesken Lust am Ausnahmezustand. Die Unterscheidung zwischen "innerer Kriegsbegeisterung" und einem bloß "inszenierten" nationalistischem Taumel kann jedoch nicht überzeugen. Daß sich die beobachteten Phänomene auch als Kompensation und Abfuhr von innerer Spannung und Unsicherheit verstehen lassen, ändert nichts an ihrem nationalistischen Charakter, gehört es doch gerade zu den klassischen Mechanismen nationalistischer Identifizierung besonders in Situationen erhöhter Kontingenz und Krise, psychische Spannungen durch eine forcierte Identifizierung mit der nationalen Gemeinschaft abzubauen. Dabei bedarf die Mobilisierung nationaler Emotionen im öffentlichen Raum meist der Inszenierung und symbolischer Bezugspunkte. Erklärungsbedürftig bleibt vielmehr, warum die Anlässe bei den versammelten Menschen beträchtlichen Jubel auslösten, wieso sich die aufgestaute Spannung und Unruhe vor allem in patriotischer Begeisterung entlud und nicht in Verweigerung und Protest und warum die temporäre Durchbrechung des Alltags als nationale Verbrüderung erlebt und gedeutet werden konnte. Und auch der Hinweis auf den hohen sozialen Druck, denen junge Männer, die nicht bereits eingezogen waren, im August ausgesetzt waren, relativiert zwar die traditionelle Vorstellung von der spontanen Kriegsbegeisterung der Freiwilligen, läßt aber die Frage offen, warum in bestimmten Milieus ein derart hoher Druck zum freiwilligen Kriegsdienst entstehen konnte7 . Zudem halten auch die neueren Arbeiten, die sich der Dekonstruktion des August-Mythos verschrieben haben, daran fest, daß die Stimmung in Öffentlichkeit und Bevölkerung im Laufe des August 1914 unter dem Eindruck der ersten Siegesmeldungen, des Burgfriedensschlusses und der relativ reibungslosen Mobilisierung eine neue Qualität annahm. Die Kriegsbegeisterung, die nach den ersten Siegesmeldungen am 7. August einsetzte, war breiter und auch sozial repräsentativer als die vorwiegend bürgerlich und studentischjugendlich geprägten Manifestationen in den Tagen um den 1. August. Die ersten militärischen Erfolge nährten die Hoffnung auf einen raschen deutschen Sieg. Der Krieg erschien allen Befürchtungen zum Trotz als kurzer, ruhmvoller 6
Ebd., S. 50. Vgl. B. V/rieb, Die Desillusionierung der Kriegsfreiwilligen, S. 111 f.
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und ritterlicher Kampf, der spätestens an Weihnachten beendet sein würde. Tausende verfolgten jubelnd den Auszug oder Durchzug der Truppen und überhäuften die Soldaten mit Blumen, während die Bürgermeister oder andere Honoratioren Ansprachen hielten und Frauen des Roten Kreuzes ,Liebesgaben" verteilten. Zu einem zweiten wichtigen Kristallisationspunkt der Begeisterung wurden die Siegesfeiern, die mir Glockengeläut, feierlichen Proklamationen und Paraden begangen wurden. Den Höhepunkt bildete die Sedansfeier am 2. September, die von vielen als Vorgeschmack auf die abschließende Siegesfeier verstanden wurde. Mehrere Hunderttausend Menschen verfolgten die Berliner Parade unter den Linden, auf der erbeutetes französisches Kriegsgerät vorgeführt wurde8 . Im Laufe des August griff die nationale Begeisterung auch auf Teile der Arbeiterschaft über9. Auch in den proletarischen Wohngegenden wurden Siegesfeiern abgehalten, patriotische Lieder angestimmt oder Bänder in den preußischen und deutschen Farben angelegt, in Berlin sogar geflaggt10• Diese Indizien dürfen jedoch nicht überbewertet werden. Die Stimmung in den Arbeitervierteln blieb gedrückt, schon wegen der sozialen Not, die die Umstellung auf die Kriegswirtschaft hervorrief. Offene Kriegsgegnerschaft wurde jedoch nun auch in der Arbeiterschaft eher untypisch 11 . Das Einschwenken der SPD in die nationale Einheitsfront hatte dem kollektiven Protest gegen den Krieg die organisatorische Grundlage entzogen und führte bei vielen Sozialdemokraten zu Verunsicherung. Der Krieg schien zu einer unabänderlichen Tatsache geworden zu sein. So lief die Mobilisierung weitgehend reibungslos ab, was in der bürgerlichen Öffentlichkeit einen nachhaltigen Eindruck hinterließ und als weiterer Beleg für die nationale Geschlossenheit gewertet wurde. Viele sozialdemokratisch geprägte Arbeiter fügten sich jedoch nicht nur widerwillig dem äußeren Zwang, sondern übernahmen die von der Parteiführung und den meisten Parteiorganen verbreitete These vom ,gerechten Verteidigungskrieg" und die Hoffnung durch ,nationale Pflichterfüllung" zu einem gleichberechtigten und geachteten Teil einer im Innern erneuerten Nation zu werden. Dies führte in breiten Teilen der Arbeiterschaft zu einer Haltung, die wenn auch nicht als Kriegsbegeisterung, doch als patriotische Kriegsbereitschaft charakterisiert werden kann. Dieser defensive und sozialintegrative Patriotismus läßt sich auch in den Feldpostbriefen sozialdemokratischer Arbeiter aus der ersten Kriegsphase nachweisen. Die Pflicht zur Vaterlandsverteidigung wurde von der Mehrzahl der Soldaten nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Den Feind von der Heimat fernzuhalten, stellte vielmehr ein zentrales sinnstiftendes Motiv für sozialdemokratische Soldaten dar12 • Vgl. ].T Verhey, The .Spirit of 1914", S. 194-202. 9
Vgl. V Ullrich, Kriegsalltag. Harnburg im Ersten Weltkrieg, Köln 1982, S. 14.
10
Vgl. ].T Verhey, The ,Spirit of 1914", S. 203 f.
11
Vgl. W Kru.se, Krieg und nationale Integration, S. 159, S. 164.
12
Vgl. ebd., S. 184-195.
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So ist insgesamt festzuhalten, daß sich im August 1914 in Deutschland eine nationalistische Kriegsbegeisterung und Kriegsbereitschaft mit beträchtlichen Breitenwirkungen herausbildete. Die bürgerliche Öffentlichkeit wurde von einem beispiellosen Pathos der nationalen Einheit und Begeisterung durchdrungen, die sich in einer Flut von Kriegspublizistik niederschlug13 . Mit dem Burgfrieden erklärten sich alle relevanten gesellschaftlichen Kräfte zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen bereit. Das führte zu einer deutlichen Veränderung des politisch-sozialen Klimas. In den ersten Kriegsmonaten gab es keine nennenswerte Opposition und fast alle Streiks endeten. Bisher diskrimierte Kräfte wie Gewerkschaften und Sozialdemokratie, Frauenorganisationen, Katholiken und nationale Minderheiten erfuhren durch ihr Bekenntnis zur Landesverteidigung eine erhebliche Anerkennung und Aufwertung. Unter dem Eindruck des nationalen Schulterschlusses und erster militärischer Erfolge konnten für einen begrenzten Zeitraum in breiten Bevölkerungsschichten starke nationale Emotionen und eine beträchtliche Kriegsbereitschaft mobilisiert werden. 1914 meldeten sich 300.000-400.000 Kriegsfreiwillige nicht nur aus der bürgerlichen Jugend zu den Waffen14 . Allein im August wurden über vier Millionen Reservisten eingezogen. Die wenigsten desertierten oder entzogen sich. All dies wurde möglich, weil sich ein übergreifender Kriegsnationalismus herausbildete, der einen Minimalkonsens zwischen verschiedenen politischen Lagern und sozialen Milieus markierte, eine ideologische Schnittfläche, die divergierende Hoffnungen und Interessen überwölbte und auf die unterschiedliche Wertvorstellungen, Kriegsdeutungen und Zukunftsentwürfe projiziert werden konnten15 . Zu den zentralen Elementen dieses Kriegsnationalismus gehörte die Vorstellung, Deutschland sei von seinen Feinden überfallen und zum Kriegseintritt gezwungen worden. Die von der Reichsleitung verbreitete und in der Öffentlichkeit kaum noch infrage gestellte Parole vom Verteidigungskrieg knüpfte an systematisch kultivierte Bedrohungsängste der Vorkriegszeit an und bildete die Grundlage für einen breiten Konsens über alle Lager hinweg. Für die Sozialdemokratie war entscheidend, daß mit der Existenz des Reiches auch die Entfaltungschancen der deutschen Arbeiterbewegung auf dem Spiel zu stehen schienen. Die Parole von der "legitimen Landesverteidigung" war eine der wichtigsten Voraussetzung dafür, daß die Führer der Sozialdemokratie den 13 Vgl.j.T Verhry, The "Spirit of 1914", S. 26o ff. ; E. Koester, Literatur und Weltkriegsideologie, Kronberg 1977; H. Fries, Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter, Konstanz 1995. 14
Vgl. B . Ulricb, Die Desillusionierung der Kriegsfreiwilligen, S. 114.
15 Vgl. W: Kruse, Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkriegs, in: M. von den Linden I G. Mergner (Hrsg.), Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung, Berlin 1991, S. 73-87, S. 83; eine gute Zusammenfassung, von der die vorliegenden Überlegungen viel profitiert haben, bietet: 0. Müller, Krieg der Nationen. Kriegsnationalismus in Deutschland und England 1914-1915, Magisterarbeit, Universität Bietefeld 1994, S. 48.
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"Burgfrieden" gegenüber ihren Anhängern rechtfertigen und den Krieg mit ihren programmatischen Traditionen vereinbaren konnten16. Hinzu trat die Mobilisierung nationaler Feindbilder, die einen "Objektwechsel der Aggressionen" 17 von innenpolitischen Gegnern auf die äußeren Feinde bewirkte. Für die Sozialdemokratie war zunächst ausschlaggebend, daß der Krieg gegen Rußland geführt wurde, das für Autokratie und Despotie stand 18. Das dominante Feindbild in der deutschen Öffentlichkeit wurde jedoch England, das als "Krämernation" hingestellt wurde, die aus Neid auf Deutschlands wirtschaftlichen Aufstieg den Krieg entfacht habe. England stand nun den deutschen Intellektuellen für alle Krisenphänomene der Moderne, die bisher an der eigenen Gesellschaft beklagt worden waren, für Materialismus, Individualismus, WerteverfalL In scharfer Abgrenzung gegen den Westen wurden nun Tiefe und Innerlichkeit, Idealismus und Gemeinschaftssinn, Organisation und Disziplin zu Besonderheiten der deutschen Kultur und politischen Verfassung hochstilisiert19 • Diese Feindbilder und Selbststilisierungen sprachen in ihren antiliberalen und kapitalismuskritischen Motiven nicht nur kulturpessimistische Bildungsschichten, sondern auch das sozialdemokratische Milieu an und wurden zur Grundlage für ein nationalistisches Sendungsbewußtsein, daß sich in verschiedenen Varianten in fast allen Lagern nachweisen läßt. So wurde der "Deutsche Krieg" mal zum demokratischen Befreiungskrieg gegen Autokratie und Zarismus oder zum revolutionären Kampf gegen den "englischen Weltkapitalismus", mal zum Krieg für die Selbstbehauptung des "deutschen Wesens" in der Welt oder zum Kampf für die deutsche politische Kultur der "Volksgemeinschaft", die als Lösungsmodell für die Probleme fortgeschrittener Industriegesellschaften angepriesen wurde. Mit diesen Kriegsdeutungen eng verknüpft war die Vorstellung von der reinigenden Kraft des Krieges, ein chiliastisch aufgeladener Erneuerungs- und Erlösungsmyrhos, der die verschiedensten kulturkritischen Strömungen der Vorkriegszeit bündelte20 •
16 Vgl. P Brandt l D. Grob, .Vaterlandslose Gesellen". Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992, S.159 ff.; W Krnse, Krieg und nationale Integration, S. 6771. 17 D. Grob, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a.M. 1973, S. 725.
18
Vgl. W Krnse, Krieg und nationale Integration, S. 72 ff.
R. Rürnp, Der .Geist von 1914" in Deutschland. Kriegsbegeisterung und Ideologisierung des Krieges im Ersten Weltkrieg, in: B. Hüppauf (Hrsg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, Königstein 1984, S. 1-30; W Krnse, Die Kriegsbegeisterung; W Mommsen, Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde 1870-1918. Kultur und Politik im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a.M. 1994, S. 111-174. 19
20 Vgl. R.N. Stromberg, Redemption by War. The Intellectuals and 1914, Lawrence, KS 1982.
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Im Zentrum des deutschen Kriegsnationalismus und des "Augusterlebnisses" aber stand der Kult der Gemeinschaft und der nationalen Integration21. Daß die verfeindeten politischen Lager und gesellschaftlichen Gruppen mit Kriegsausbruch ihre Konflikte suspendierten und Hunderttausende sich freiwillig zu den Waffen meldeten, löste in der bürgerlichen Öffentlichkeit Überraschung und Begeisterung aus und wurde als langersehnte Vollendung der inneren Nationsbildung gefeiert. Für die Sozialdemokraten war der Kriegsausbruch eine willkommene Gelegenheit, ihre nationale Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen und ihre Diffamierung als "vaterlandslose Gesellen" Lügen zu strafen. Hier kam nun offen der langfristige und "unbewußte Nationalisierungsprozeß" der sozialdemokratischen Arbeiterschaft im Kaiserreich zum Ausdruck22 • Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung erfuhr eine nie gekannte Anerkennung und Aufwertung. Das galt auch für andere Außenseiter der Wilhelminischen Gesellschaft wie Juden oder Katholiken, die sich nun als vollwertiger Teil der "nationalen Gemeinschaft" fühlen konnten23 • Dieses Konglomerat von Kriegsdeutungen konnte gerade wegen seiner Offenheit und Polyvalenz eine beträchtliche Kraft entfalten. So sahen das Regierungslager und ein Großteil der bürgerlichen Öffentlichkeit im "Geist von 1914" vor allem eine Bestätigung der bestehenden Ordnung und eine Bekehrung der Opposition zu Monarchie, Reichsnation und entpolitisiertem Obrigkeitsstaat, den man durch Krieg und Burgfrieden dauerhaft zu stärken hoffte24 . Die radikalen Nationalisten dagegen feierten den Krieg als Wiedergeburt der Nation im völkischen Geist und als Absage des deutschen Volkes an Klassenkampf und Demokratie. An die Stelle der Parteien trat für sie jedoch nicht der monarchische Obrigkeitsstaat, sondern die autoritär geführte Volksgemeinschaft, deren wahre Interessen man selbst zu vertreten glaubte 25 . Sozialdemokraten, Katholiken und andere Außenseiter der Wilhelminischen Gesellschaft 21
Vgl. W: Krnse, Die Kriegsbegeisterung, S. 83; ].T Verhcy, The "Spirit of 1914",
s. 216-305.
22 H.-U. Weh/er, Sozialdemokratie und Nationalstaat. Nationalitätenfragen in Deutschland 1840-1914, Göttingen 1971, S. 214.
23 Vgl. C. Picht, Zwischen Vaterland und Volk. Das deutsche Judentum im Ersten Weltkrieg, in: W. Michalka, Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S.736-756; H. Hürten, Die katholische Kirche im Ersten Weltkrieg, in: W: Michalka, Der Erste Weltkrieg, S. 725-735; R. von Dülmen, Der Deutsche Katholizismus und der Erste Weltkrieg, in: Francia, 2 (1974), S. 347-376; B. Guttmann, Weibliche Heimarmee. Frauen in Deutschland 1914-1918, Weinheim 1989, S. 117-166; U. von Gersdor:ff, Frauen im Kriegsdienst 1914-1945, Stuttgart 1969; H.-U. Bussemer, "Weit hinter den Schützengräben". Das Kriegserlebnis der bürgerlichen Frauenbewegung, in: Berliner Geschichtswerksta~t (Hrsg.), August 1914. Ein Volk zieht in den Krieg, Berlin 1989, s. 136-146.
24
Vgl. j.T Verhcy, The "Spirit of 1914", S. 307-313.
Vgl. H. Bräutigam, "Nun ist sie da, die heilige Stunde!" Der Krieg aus der Sicht von Alldeutschen, Flottenverein und Kolonialgesellschaft, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.), August 1914, S. 26-37. 25
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sahen dagegen in den Parolen des August vor allem das Versprechen auf Gleichberechtigung; Integration und Partizipation. Hier wurde die Unterstützung der Kriegsanstrengungen als Vorleistung für Reformen verstanden und dem Krieg eine demokratisierende Eigendynamik unterstellt, von der man hoffte, daß sie sich gegen die herrschende Ordnung und ihre Repräsentanten wenden würde. Annahmen dieser Art stützten sich nicht zuletzt auf die unübersehbaren Tendenzen zu zentraler staatlicher Wirtschaftslenkung im Krieg. Sie kamen deutlich zum Ausdruck in der Rohstoffbewirtschaftung durch zentrale Rohstoffgesellschaften, die eine Art Zwangssyndizierung der beteiligten Industrien unter staatlicher Kontrolle der 1914 gegründeten Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium brachte. Derartige Tendenzen sind auch zu beobachten in der Zwangsbewirtschaftung der Lebensmittelversorgung, die von zunächst lokalen, dann aber bald reichsweiten Höchstpreisfestsetzungen, über staatliche Importmonopole und Exportverbote bis hin zur Rationierung und Mangelverwaltung durch zentrale Reichsstellen und schließlich das 1916 gegründete Kriegsernährungsamt fortschritt und einen immer umfangreicheren Erfassungs-, Verwaltungs- und Verteilungsapparat hervorbrachte. Auch die Rüstungswirtschaft und der Arbeitsmarkt wurden im Zuge des Bindenburgprogramms und des Hilfsdienstgesetzes von 1916 immer stärker der Intervention zentraler staatlicher und militärischer Behörden wie dem 1916 gegründeten Kriegsamt, das alle kriegswirtschaftlichen Kompetenzen bündeln sollte, unterworfen26. Vor allem in den Gewerkschaften, deren Vertreter immer mehr in die Verantwortung für die Kriegswirtschaft einbezogen und als legitime Vertreter der Arbeiterschaft anerkannt wurden, sah man im ausgeprägten Staatsinterventionismus der deutschen Kriegswirtschaft nun vielfach einen ersten Schritt zu Verwirklichung des ·Sozialismus. Sozialdemokratische Leitwerte wie Disziplin, Organisation und Solidarität schienen sich im Krieg immer mehr auf die gesamte Nation zu übertragen. In diesen Prinzipien wurde nun das "Geheimnis der nationalen Kraft" Deutschlands ausgemacht und zugleich ein Bindeglied zwischen der Arbeiterbewegung und dem preußisch-deutschen Militär, von dem viele glaubten, daß es sich im Zuge der Massenmobilisierung zu einer demokratischen Volksarmee wandeln würde27 . Diese kriegssozialistischen Projektionen wiesen in ihrer antiliberalen und etatistischen Stoßrichtung enge Verbindungen zu den "Ideen von 1914" auf, die vielfach die "militärische Formierung von Wirtschaft und Gesellschaft als ganz neuartige Form staatlich organisierter Volksgemeinschaft" interpretierten, 26 Vgl. W Michalka, Kriegsrohstoffbewirtschaftung, Walter Rathenau und die "kommende Wirtschaft", in: W Michalka, Der Erste Weltkrieg, S. 485-505; H.G. Ehlert, Die wirtschaftlichen Zentralbehörden des Deutschen Reiches 1914-1919, Wiesbaden 1982. 27 Vgl. W. Krnse, Krieg und nationale Integration, S. 116-121; P. Brand I D. Grob, "Vaterlandslose Gesellen", S. 163 ff.
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in der die Probleme kapitalistischer Klassengesellschaften eine zugleich antiliberale und antirevolutionäre Lösung finden sollten. Indem die spezifische Modernität des deutschen Militär- und Industriestaats und der deutschen Kriegswirtschaft ins Zentrum des Diskurses rückte, konnte der Krieg nicht nur im bürgerlichen Lager, sondern auch in Teilen der Sozialdemokratie als Kampf für eine Gesellschaft der Zukunft propagiert werden. Hier faßten nun auch sozialimperialistische Kriegsdeutungen Fuß, die England als kapitalistische Vormacht zum Hauptgegner erklärten, mit Individualismus und Marktwirtschaft gleichsetzten und seine Niederwerfung zur Überwindung des "Weltbourgeois" durch den "Weltproletarier" stilisierten. So erhielt der Krieg in Teilen der Arbeiterbewegung einen revolutionär-missionarischen Sinn, der weit über das Theorem vom Verteidigungskrieg gegen die zaristische Autokratie hinausging. In Italien hatte sich schon im Zusammenhang mit dem Libyenkrieg 1911/ 1912 unter Intellektuellen, Hochschullehrern und in der studentischen Jugend eine erhebliche nationalistische Kriegsbegeisterung manifestiert, die deutlich machte, wie stark der nationale Gedanke sich auch in Italien bereits von seinen liberalen Traditionen entfernt hatte28 • Im Mittelpunkt dieses Kriegsnationalismus stand der vitalistische Mythos der Erneuerung, der nationalen Wiedergeburt im Zeichen von nationaler Solidarität und Eintracht durch die "reinigende Kraft des Krieges", dann vor allem der Gedanke imperialer Größe, der sich aus dem Mythos des antiken Roms als domina gentium und der Seerepubliken speiste, eine "invention of tradition", die dem imperialistischen Kolonialkrieg historische Legitimation verlieh und eine zivilisatorische Sendung Italiens im Mittelmeerraum für kulturellen Fortschritt, moderne Rechtsordnung und Staatlichkeil unterlegte, und schließlich: die Verbindung der nationalen mit der sozialen Parole im Theorem der nazione proletaria, das den Krieg zum Klassenkampf der Emigranten- und Tagelöhner-Nation gegen die etablierten, plutokratischen Imperialmächte umzudeuten versuchte. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte in Italien in scharfem Kontrast zu Deutschland nicht zur Bildung einer nationalen Einheitsfront, sondern zu einer Polarisierung der politischen Landschaft. Die Periode der Neutralität bis zum Mai 1915 schuf den zeitlichen Raum, in dem sich eine intensive Debatte über den Kriegseintritt, die Bündnispartner und die Kriegsziele des Landes entwickeln konnte. Sie führte zu einer Polarisierung der politischen Szene in Neutralisten und Interventisten, aber auch zu tiefen Gräben innerhalb der beiden Lage?J. 28 Vgl. G. Cianferrotti, Giuristi e mondo accademico di fronte all'impresa di Tripoli, Mailand 1984; L. Lotti, L'eta giolittiana, in: G. Spadolini (Hrsg.), Nazione e nazionalita in Italia, S. 45-64, S. 56 ff.; E. Ragionieri, La storia politica e sociale, in: Storia d'Italia, Bd. 4,3: Dall'unita a oggi, Turin 1976, S. 1668-2472, S. 1937-1949.
29 Vgl. zum Folgenden insgesamt: B. Vigezzi, L'Italia di fronte alla prima guerra mondiale, Bd. 1: L'ltalia neutrale, Neapel 1966; R. de Felice, Mussolini. 11 rivoluzionario, Turin 1965, S. 221-287; P. Melograni, Storia politica della Grande Guerra, Bari 1969, S. 1-78, N. Tranfaglia, La prima guerra mondiale e il fascismo, Turin 1995, S. 9-59.
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Die Kriegspolitik Salandras zielte auf die Stabilisierung der durch schwere soziale Unruhen bedrohten Führungsrolle der liberalen Eliten und eine Abbremsung der von Giolitti eingeleiteten Integration des sozialistischen und des katholischen Lagers in das politische System durch einen kurzen und erfolgreichen Krieg, der Italien umfangreiche Gebietserwerbungen bringen sollte. Die Politik des salandrinischen sacro egoismo wurde unterstützt von der kleinen, aber hochaktiven Partei der Nationalisten30 . Der Krieg sollte nicht nur eine Rückkehr zum "System Giolitti" verhindern, sondern das parlamentarische System überhaupt überwinden und eine Regeneration der Gesellschaft im Zeichen von Autorität, Hierarchie und Disziplin herbeiführen. Im Krieg sahen die italienischen Nationalisten wie die Alldeutschen den unausweichlichen Überlebenskampf der Völker und Rassen um Raum, Reichtum und Macht. Die Bündnisfrage war für sie letzlieh eine taktische Frage, denn der Krieg war in jedem Fall guerra nostra, ein Krieg, der der "proletarischen Nation" die langersehnte Großmachtstellung bringen sollte. Im Lager der Linken formierte sich dagegen ein demokratischer Interventismus, der sich die Verteidigung der Demokratie in Europa gegen den Hegemonialanspruch Deutschlands, gegen Autoritarismus und Militarismus, als deren Bollwerke die Mittelmächte gesehen wurden, auf die Fahnen schrieb. Republikaner, Radikale und Sozialreformisten propagierten den Kriegseintritt als Kampf für Freiheit und nationale Selbstbestimmung, für ilmenpolitische Demokratisierung und soziale Erneuerung. In diesem Kontext wurden die traditionellen Ziele des Irredentismus aufgenommen. Der revolutionäre Interventismus hingegen propagierte den Kriegseintritt gegen die Mittelmächte vor allem als Variante der direkten, revolutionären Aktion. Der Krieg wurde hier als Kampf gegen die herrschende Klasse im eigenen Land begriffen, die mit der Tripelallianz assoziiert wurde. Die sozialistische Partei Italiens jedoch blieb als einzige der großen sozialistischen Parteien Europas dem proletarischen Internationalismus treu und lehnte den Krieg als imperialistischen Krieg grundsätzlich ab. Die Linie der unbedingten Neutralität führte zu einer Isolierung der Partei nicht nur von den partiti popolari sondern auch von den Kriegsgegnern im liberalen Lager um Giolitti31 . Bei Liberalen, Katholiken und Nationalisten bestand ein Minimalkonsens darüber, daß Italien aus dem Konflikt der europäischen Mächte Gewinn ziehen sollte. Die Anhänger Giolittis im liberalen Lager setzten jedoch darauf, auf dem Verhandlungsweg territoriale Zugeständnisse als Preis für die Neutralität des Landes zu erzielen. Diese Linie der "bedingten Neutralität", die die Kriegsoption nicht grundsätzlich ausschloß, trennte die Anhänger Giolittis von den
30 Vgl. F Perfetti, II movimento nazionalista in Italia (1903-1914), Rom 1984; Aj. Le Grand, The Italian Nationalist Association and the Rise of Fascism in ltaly, Lincoln, NE 1978. 31 Vgl. L. Valiani, Il partito socialista italiano nel periodo della neutralita 19141915, Mailand 1977.
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Sozialisten und führte zu einer folgenreichen Schwächung des neutralistischen Lagers. Die italienische Kriegsbewegung entfaltete mit ihren Parolen und Kriegsdeutungen eine deutlich geringere Mobilisierungs- und Integrationskraft als der deutsche Kriegsnationalismus. Der Interventismus blieb nicht nur im Parlament in der Minderheit, auch in der Bevölkerung fand er nur begrenzten Widerhall. Die Masse der Bevölkerung stand dem Krieg ablehnend oder indifferent gegenüber. Dies galt vor allem für die ländlichen Schichten, die den größten Teil der Soldaten stellten und im Krieg eine Art Naturereignis, eine "Strafe Gottes" oder einen Krieg der signori sahen. Begriffe wie "patria", "Trento e Trieste" oder die Parole vom Erzfeind Österreich hatten für sie in der Mehrzahl keine Bedeutung32 . Auch das Bürgertum war in seiner Mehrheit nicht für den Krieg. Der Interventismus und Enthusiasmus des maggio radioso wurde vor allem von der Intelligenz und Studentenschaft getragen. Diese Gruppen stellten auch die meisten Kriegsfreiwilligen, die bisher noch kaum untersucht worden sind. In Italien haben sich in scharfem Kontrast zu Deutschland bei einer Gesamtzahl von etwa 5.5 Millionen mobilisierten Soldaten bis 1918 nur etwa 8.000 Männer freiwillig zu den Waffen gemeldet33. Insgesamt prägten nicht Kriegsbegeisterung und Kriegsbereitschaft das Bild, sondern Fatalismus, Resignation und ein hohes Ausmaß an Verweigerung: Etwa 870.000 Italiener wurden während des Ersten Weltkriegs Gegenstand eines Militärgerichtsverfahrens, davon 370.000 im Ausland lebende Italiener und 100.000 Inlandsitaliener, weil sie der Einberufung zum Kriegsdienst nicht Folge leisteten. Von den übrigen 400.000 Soldaten und Offizieren, gegen die ein Verfahren eingeleitet wurde, fast 10% der Truppe, die während des Kriegs zum Einsatz kam, wurden 170.064 wegen verschiedener Vergehen zu meist schweren Strafen verurteilt, davon 4.028 zum Tode34 . Für die geringere Mobilisierungskraft des italienischen Kriegsnationalismus lassen sich eine ganze Reihe von Erklärungen anführen: Der Kriegseintritt Italiens vollzog sich durch seine Verzögerung anders als in Deutschland bereits vor dem Hintergrund starker innenpolitischer Auseinandersetzungen über den Krieg. Vor allem aber trug er trotz der vehementen Agitation der Inter32 Vgl. A. Monticone, Problemi e prospettive di una storia della cultura popolare dell'Italia nella prima guerra mondiale, in: M. Isnenghi (Hrsg.), Operai e contadini, S. 33-39; N. Tranfaglia, La prima guerra mondiale, S. 49-59, S. 62-63; P Melograni, Storia politica; S. So/dani, La Grande guerra lontano dal fronte, in: G. Mori (Hrsg.), La Toscana, Turin 1986, S. 345-454, S. 381-401; A . Bazzanel/a, Die Stimme der Illiteraten. Volk und Krieg in Italien 1915-1918, in: K. Vondung (Hrsg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen; Göttingen 1980, S. 334-351. Vgl. auch die in Anm. 51 zitierte Literatur. 33 Vgl. P Melograni, Storia politica, S. 25; G. Anesi, La legione trentina, in: Archivio trentino di storia contemporanea, 1994, S. 21-50.
34 Von diesen Todesurteilen wurden 750 ausgeführt. Vgl. E. Forcel/a I A . Monticone, Plotone di esecuzione. I processi della prima guerra mondiale, Bari 1968; G. Procacci, Soldati e prigionieri italiani nella Grande Guerra, Rom 1993, S. 19-35.
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ventisten im öffentlichen Raum deutlich den Charakter einer parlamentarisch nicht legitimierten Regierungsentscheidung aus rein machtpolitischem Kalkül. Die politische Führung unternahm zunächst nur geringe Anstrengungen, dem Krieg eine populistische Legitimation zu verleihen. Während sich die Kaiserproklamationen in Deutschland der modernen Sprache der egalitären Volksgemeinschaft bedienten und vage Hoffnungen auf Erneuerung mobilisierten, blieben die Appelle der italienischen Führung einer traditionellen Rhetorik verhaftet, die auf Gehorsam und Unterordnung zielte, und auch die Militärführung setzte zur Sicherung von Kampfbereitschaft und Gehorsam zunächst nicht auf ideologische Mobilisierung, sondern auf Disziplinierung durch die gut geölte Repressions-Maschinerie der Militärjustiz35. Der Kriegseintritt konnte im italienischen Fall kaum mit einer äußeren Bedrohung legitimiert· werden, schon weil er nicht vor dem Hintergrund der Julikrise mit ihrer Dynamik vermeintlicher Bündnisverpflichtungen und Mobilisierungszwänge erfolgte und überdies deutlich wurde, daß auch ohne militärische Intervention territoriale Zugeständnisse zu erreichen waren36. Mit der Parole vom Verteidigungskrieg fehlte dem italienischen Kriegsnationalismus eine wichtige lntegrationsklammer. Wenn es ein funktionales Äquivalent für Gemeinschaftsmythos und Verteidigungskrieg gab, so war es die Deutung des Krieges als Vollendung des Risorgimento und Befreiung der Irredenta, der italienisch-sprachigen Gebiete der Donaumonarchie37• Die Forderung nach der Angliederung der Irredenta verband zwar alle Strömungen des Interventismus und fand auch im neutralistischen Lager Widerhall. Dennoch blieb die risorgimentale Kriegsdeutung, die an die nationale Einigungsbwewegung des 19. Jahrhunderts und ihre Mythen anknüpfte, in ihrer mobilisierende Kraft begrenzt. Zu rasch waren die Bündnispartner gewechselt worden, zu sehr hatte der Irredentismus im Zeichen der kolonialpolitischen Mittelmeer-Orientierung vor 1914 an Bedeutung verloren, zu stark waren die austrophilen und pazifistisch-neutralistischen Strömungen gerade im katholischen Lage~. Hinzu kam, daß sich durch den Libyen-Krieg auch im bürgerlichen Lager bereits eine erhebliche Desillusionierung breit gemacht hatte und die hohen Kosten imperialer Politik und ihre mageren wirtschaftlichen und sozialpolitischen Erträge deutlich geworden waren. 35 Vgl. P Melograni, Storia politica, S. 56-64, S. 156-158. Zur Auslandspropaganda: L. Tosi, La propaganda italiana all'estero nella prima guerra mondiale. Rivendicazioni territoriali e politica delle nazionalita, Udine 1977. 36 Vgl.]. Gooch, Army, State and Society in Italy 1870-1915, London 1989, S. 169. 37 Vgl. das italienische Gegenstück zu P Witkops, Kriegsbriefe gefallener Studenten, München 1928 (1916 zum ersten Mal erschienen): A. Omodeo, Momenti della vita di guerra. Dai diari e dalle lettere dei caduti 1915-1918, Turin 1968, der freilich die Kriegsdeutungen der Offiziere und Gebildeten ganz auf das risorgimentale Interpretationsmuster zu reduzieren versucht. Vgl. M . Isnenghi, Il mito della grande guerra, S. 264. 38 Vgl. A . Monticone, I vescovi e Ia guerra 1915-1918, in: A. Monticone, Gli italiani in uniforme, Bari 1972, S. 145-184, S. 149-154; L. Bruti-Liberati, Il clero italiano nella Grande Guerra, Rom 1982, S. 17-21.
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Daneben muß aber auch auf eine Reihe von langfristig wirksamen, strukturellen Faktoren hingewiesen werden, die der "Nationalisierung der Massen" und der mobilisierenden Kraft nationalistischer Mythen und Emotionen im liberalen Italien bis in den Ersten Weltkrieg hinein enge Grenzen setzten. Der italienische Nationalstaat sah sich mit markanten regionalen Disparitäten und starken kommunalen Identitäten konfrontiert, die die Ausbildung eines starken Staats- und Nationalbewußtseins erschwerten. Nicht zufällig meinte "patria" im Italienischen zunächst "Vaterland" und "Vaterstadt" zugleich und die zweite Bedeutung ging nur langsam zurück. Noch am Beginn des 20. Jahrhunderts sagte man etwa in den Abbruzzen, wenn die jungen Männer ihre Dörfer zur Ableistung des Wehrdienstes verließen, sie würden sich nun "nach Italien aufmachen"39. Loyalitäten stellten sich vor allem auf lokaler Ebene her, über Verwandschafts- und Klientelbeziehungen. Dies hat sich durch die hochgradige Zentralisierung des Staatsapparates nicht vermindert. Der ausgeprägte Dualismus von Staat und Gesellschaft, von lokaler und nationaler Ebene schwächte den Nationalstaat und erschwerte die Identifikation mit seinen Strukturen und Symbolen. Im deutlichen Rückstand zu anderen europäischen Nationalstaaten war auch die kulturelle Integration des Landes: Dialekte und Sondersprachen, um 1871 noch von 98% der Bevölkerung gesprochen, behielten im Alltag, im kirchlichen Leben und in den Volksschulen bis ins 20. Jahrhundert eine große Bedeutung. Der Einfluß des staatlichen Volksschulwesens, das die Massen zur Identifikation mit Staat und Nation erziehen sollte, blieb begrenzt. Die Alphabetisierung machte nur nur langsame Fortschritte. 1911 betrug der Anteil der Analphabeten noch 38% und im Süden des Landes lag er deutlich darüber. Die nationale Hochkultur blieb die Sache einer kleinen Minderheit. Eine auflagenstarke Massenpresse mit nationaler Verbreitung konnte sich nicht entwikkeln. Die mündliche Kommunikation behielt eine zentrale Bedeutung und mit ihr der Einfluß der Priester und der Kirche. Die Fundamentalopposition der katholischen Kirche gegen den liberalen, laizistisch geprägten Nationalstaat weichte sich bis 1914 nur langsam auf. Dies hat das Entstehen einer katholischen Massenpartei nach deutschem Muster erheblich verzögert und die Integration des katholischen Milieus und der ländlichen Bevölkerung in das politische System erschwert. Hinzu kam ein Wahlrecht, das bis 1913 sehr restriktiv blieb und die Politisierung breiter Bevölkerungsschichten begrenzte. So entwickelten sich auch im bürgerlichen und selbst im sozialistischen Lager keine modernen Massenparteien und auch keine mitgliederstarken nationalistischen Agitationsverbände wie in Deutschland. Begrenzt blieb auch die Verbreitung eines populären, militärisch gefärb-. ten Patriotismus, wie er vor allem in den zahlreichen und mitgliederstarken Kriegervereinen des Deutschen Kaiserreichs kultiviert wurde, nicht zuletzt weil 39 Vgl. S. Lanaro, Da contadini a italiani, in: P. Bevi/aqua CHrsg.), Storia dell'agricoltura italiana in eta contemporanea, Bd. 3: Mercati e istituzioni, Venedig 1991, S. 937968, S. 938.
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das italienische Militär aus den Einigungs- und Kolonialkriegen weit weniger Prestige ziehen konnte als sein preußisch-deutsches Pendant und immer wieder massiv als Repressionsinstrument im Inneren eingesetzt wurde, aber auch weil bis zum Ersten Weltkrieg meist nur 20-25% eines Altersjahrgangs zum Militärdienst eingezogen wurden40 . Diese strukturellen Probleme der nationalen Integration schlugen sich auch auf der Ebene der nationalen Symbole und Kulte nieder, wie die italienische Forschung gerade in den letzten Jahren in vielfältiger Weise herausgearbeitet hat41 . Die nationale Symbolik war vorwiegend auf die savoyische Dynastie und das Risorgimento bezogen, norditalienisch geprägt und entfaltete im Süden des Landes eine geringe Anziehungskraft. Auch das Repertoire des italienischen Kulturnationalismus speiste sich vor allem aus nord- und mittelitalienischen Traditionen. Der Süde'n brachte kaum Identifikationsfiguren in den nationalen Symbolhaushalt ein. Die risorgimentalen Erinnerungsorte und Pilgerfahrten, die nationalen Denkmäler und patriotischen Feiern konzentrierten sich in Nord- und Mittelitalien. Von großer Bedeutung im Vergleich mit Deutschland ist, daß die Kirche an der Ausgestaltung der nationalen Kulte nicht beteiligt war. Nationaler und kirchlicher Kultus, nationale und religiöse Symbolik blieben weitgehend getrennt42. Die sporadischen nationalen und monarchischen Feiern konnten angesichts der erdrückenden Dominanz der Kirche im Festkalender nur eine marginale Bedeutung erlangen. Auch in der kollektiven Bilderwelt und in der urbanen Topographie blieb die Kirche massiv präsent. Ein weiterer Grund für die Schwäche der nationalen Symbolik und Repräsentation wird in den konkurrierenden Interpretationen der Nation gesehen, die das liberale Italien aus dem Risorgimento übernahm. Der scharfe Gegensatz zwischen der monarchischen und der republikanisch-demokratischen Deutung der Nation führte dazu, daß der junge Nationalstaat zu keinen starken und eindeutigen Symbolen finden konnte und sich nur über eine Akkumulation divergierender Elemente darstellen konnte.
40 Vgl. ]. Goocb, Nationalism and the Italian Army, in: C. Björn (Hrsg.), Nations, Nationalism and Patriotism in the European Past, Copenhagen 1994, S. 198-212, S. 205. Zu den italienischen Kriegervereinen vor 1914: G. Isola, Un luogo d'incontro fra esercito e paese. Le associazioni dei veterani del Risorgimento (1861-1911), in: Esercito e citta dall'Unita agli anni Trenta, Bd. 1, Rom 1989, S. 499-519.
41 Grundlegend: B. Tobia, Una patria per gli italiani. Spazi, itinerari, monumenti neii'Italia unita (1870-1900), Bari 1991; U. Levra, Fare gli italiani. Memoria e celebrazione del Risorgimento, Turin 1992; Il mito del Risorgimento nell'Italia unita. Atti del convegno, Milano 9-12 novembre 1993, Mailand 1995; /. Porciani, Stato e nazione: l'immagine debole deii'Italia, in: S. Soldani I G. Turi (Hrsg.), Fare gli italiani, Bd. 1, Bologna 1993, S. 385-428; E. Gentile, II culto del littorio. La sacralizzazione della politica neii'Italia fascista, Bari 1994, S. 3-38. 42 Vgl. I. Porciani, Lo Statuto e il Corpus Domini. La festa nazionale dell'Italia liberale, in: II mito del Risorgimento, S. 149-173, S. 151-157.
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Verhindert wurde eine wirksame "Nationalisierung der Massen" jedoch vor allem durch die liberalen Eliten selbst. Es fehlte der Wille, breite Bevölkerungsschichten durch patriotische Kulte und nationale Liturgien zu politisieren und durch die Mobilisierung nationaler Emotionen an die bestehende Ordnung zu binden. Das Politikverständnis der Eliten blieb auf die Austarierung konkreter Interessenkonstellationen durch klientelistische Netze bezogen und entwickelte wenig Sensibilität für die Chancen politischer Konsensstiftung durch die Mobilisierung emotionaler Ressourcen. 2. Der Kriegsnationalismus im Wandel Die Unterschiede zwischen Deutschland und Italien in der Integrationskraft des Nationalismus und zum Teil auch in seinen Inhalten scheinen sich im Laufe des Ersten Weltkrieges eher abgeschwächt zu haben. Angesichts der hohen Verluste, der Schrecken und der Sinnlosigkeit des industrialisierten Massenkrieges und der ausbleibenden militärischen Erfolge machten sich in Deutschland schon nach wenigen Monaten Desillusionierung und Kriegsmüdigkeit breit43. Die sozialen Folgen des Krieges, die durch staatliche Interventionen und die zunehmend zentralistisch organisierte Zwangswirtschaft nicht wirksam gemildert werden konnten und die klassengesellschaftliehen Strukturen umso deutlicher offenlegten, schufen eine Klima, in dem die Parole von der nationalen Solidargemeinschaft an Glaubwürdigkeit verlor. Auch die Parole vom Verteidigungskrieg büßte an Zugkraft ein, da die deutschen Heere seit Ende 1914 an allen Fronten tief im Feindesland standen44 • Von besonderer Bedeutung in unserem Zusammenhang ist, daß mit dem Anwachsen sozialer Spannungen, dem Legitimitätsverfall des monarchischen Obrigkeitsstaates, seiner Kriegspolitik und seiner Repräsentanten, regionale Identitäten an Bedeutung gewannen und in der Bevölkerung und im Militär der außerpreußischen Bundesstaaten starke Ressentiments gegen Preussen entstanden45 • Schon 1916 kamen Gerüchte in Umlauf, daß bayerische Truppen vor Verdun fünf Mal eine Stellung zurückerobern mußten, die preussische Truppen verloren hatten. Verbreitet war auch die Vorstellung, die staatlich reglementierte Lebensmittelversorgung privilegiere einseitig bestimmte Regionen. Die Militärbehörden versuchten ohne großen Erfolg, diesen Ressentiments, in denen sich Klassengegensätze und Stadt-Land-Gegensätze oft mit regionalen Identitäten überlagerten, entgegenzutreten. Besonders unter den 43 Gerade auch unter den Kriegsfreiwilligen, vgl. B. U/rlch, Die Desillusionierung, S. 115 ff. 44 Eine gute Zusammenfassung der Literatur zur Entwicklung der Kriegsgesellschaft bietet: R. Besse/, Germany after the First World War, Oxford 1993, S. 1-48. 45 Aber auch andere Regionalismen verstärkten sich, etwa antibayerische Ressentiments in der Pfalz, vgl. C. Applegate, A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990, S. 111.
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bayerischen Soldaten verstärkte sich im Krieg die Mißstimmung gegen Preußen, Kaiser und Reich. Eine Urlaubsreisende berichtete im Sommer 1918 an den preußischen Kriegsminister von bayerischen Soldaten, die unter großer Zustimmung des Publikums während einer Bahnfahrt "die unflätigsten Reden gegen den Kaiser, der die ganze Welt gegen uns gehetzt hätte", führten. "Andere sagten wieder, ja der König hat uns 1870 an Preußen verkauft, wir wollen aber nicht mehr zu Deutschland gehören . . . Unsere Gegner schelten nur über den preußischen Militarismus, nicht über den deutschen . . . Die Stimmung war so feindlich, daß man gar nicht sagen darf in Bayern, daß man aus Berlin kommt" 46. Vor dem Hintergrund der sinkenden Popularität und Akzeptanz der Kriegspolitik und der Augustmythen kam es in der deutschen Öffentlichkeit schon bald zu verstärkten Auseinandersetzungen über den Sinn des Krieges. Dabei traten die unterschiedlichen Deutungen, die sich mit den Mythen des August verbunden hatten, immer deutlicher hervor. Der Kriegsnationalismus verlor an integrativer Kraft und wurde zunehmend zur Quelle von politischen Konflikten. Die nationale Rechte gab ihm eine völkische, annexionistische und autoritäre Wendung und kündigte damit den nationalen Basiskonsens des August auf. Hinzu kam, daß die dem Kriegsnationalismus inhärenten Partizipations- und Gleichheitsversprechen nicht eingelöst wurden, so daß die Führer der Mehrheit in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung immer größere Schwierigkeiten hatten, die Basis zur Suspendierung der traditionellen Oppositionspolitik zu motivieren. So wurde der Konsens, den der Kriegsnationalismus markiert hatte, immer mehr ausgehöhlt bis der Burgfrieden schließlich zerbrach. Bereits im Herbst 1914 begann in der deutschen Öffentlichkeit eine Debatte über die Kriegsziele des Reiches. Vor allem die Konservativen und die Nationalliberalen traten entschieden für weitreichende Annexionen ein, unterstützt von der Schwerindustrie und einigen Wirtschaftsverbänden, dem Gros der Hochschullehrer, vielen Intellektuellen und den nationalistischen Kampfverbänden. Eine zentrale Rolle bei der Anheizung und Koordinierung des Eroberungsklimas spielte der Alldeutsche Verband, der im Zuge der Kriegszielbewegung zu einer zentralen Formation des nationalen Lagers avancierte und mit seinen völkischen Positionen und weitreichenden Annexionsforderungen in weiten Teilen der kulturellen, politischen, militärischen und wirtschaftlichen Führungsschichten Gehör fand 47 •
46 Schreiben Helene Wendtlands vom 9.8.1918 an den preußischen Kriegsminister, Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Abt. IV, MKr2345, zitiert nach: B. V/rieb I B. Ztemann, Frontalltag im Ersten Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1994, S. 74-75. 47 Vgl. T Nipperdey, Machtstaat vor der Demokratie. Deutsche Geschichte 18661918, Bd. 2, München 1992, S. 802-805; H.-P. VI/mann, Das Deutsche Kaiserreich 18711918, Frankfurt a.M. 1995, S. 256 ff.; 0 . Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland, München 1993, S. 221-224;]. T Verbey, The "Spirit of 1914", S. 401-410.
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Als deutliches Indiz für die Aufkündigung des nationalen Konsenses durch das rechte Lager und seine Radikalisierung im Krieg kann auch gelten, daß schon wenige Monate nach dem Kriegsausbruch antisemitische Tendenzen wiederauflebten, obwohl sich das deutsche Judentum vorbehaltlos in die nationale Einheitsfront eingereiht hatte. Die Juden wurden in der Öffentlichkeit nun immer wieder als Kriegsgewinnler diffamiert und der Drückebergerei bezichtigt. Anfragen von Parlamentariern, antisemitischen Vereinigungen, einflußreichen Interessengruppen und hohen Militärs setzten die preußische Militärführung derart unter Druck, daß es schließlich zu einer als konfessionelle Erfassung getarnten ,Judenzählung" kam, deren Ergebnisse nicht veröffentlicht wurden, was dem Vorwurf der Drückebergerei in der Öffentlichkeit weiteren Vorschub lieferte48 • Durch die Radikalisierung der Kriegszielbewegung geriet die Politik der Reichsleitung, die die Rechte mit vagen Kriegszielformeln (.reale Garantien und Sicherheiten") und die Sozialdemokratie mit dem Versprechen innerer Reformen nach dem Krieg ruhig zu stellen versuchte, immer mehr unter Druck. Angesichts der Kriegsmüdigkeit der Arbeiterschaft, des Ausbleibens innerer Reformen und der Verhärtung der Positionen der Annexionisten und Reformgegner, die sich auf ein breites Kartell stützen konnte, das von der Obersten Heeresleitung über die wichtigsten Wirtschaftsverbände bis hin zu den Alldeutschen reichte, nahm in der Sozialdemokratie der Konsens für den Burgfrieden immer mehr ab. Die Anfang 1917 besiegelte Spaltung der Partei zwang die Mehrheits-Sozialdemokraten zu einer stärkeren Profilierung. SPD, Linksliberale und Zentrum, die sich nun erstmals zu einer Blockbildung zusammenfanden, brachten im Juli 1917 im Reichstag eine Resolution für einen Verständigungsfrieden ohne Annexionen und Kontributionen ein und forderten nun energisch eine Reform des preußischen Drei-Klassen-Wahlrechts und eine Parlamentarisierung des Reiches. Dies führte zu einer weiteren Polarisierung der politischen Landschaft. Die Gegner von Verständigungsfrieden und Reformen sammelten sich nun außerhalb des Parlaments in der .Vaterlandspartei", die große Teile des konservativbürgerlichen Lagers und die meisten industriellen, landwirtschaftlichen und mittelständischen Interessenverbände für einen radikalisierten Kriegsnationalismus mobilisieren konnte. Die Partei, die in kürzester Zeit über 2.500 Ortsgruppen mit über 1 Mio. Mitglieder verfügte, entfaltete eine lautstarke Durchhalte-Propaganda für einen kompromißlosen Siegfrieden und die Vertagung innerer Reformen, die ein Erfolg der deutschen Waffen überflüssig machen sollte49 • 48 Vgl. M. Vogt, Radikalisierung der Gesellschaft im Krieg, in: H Böhme I F. Kallenberg (Hrsg.), Deutschland und der Erste Weltkrieg, Darmstadt 1987, S. 193-220, S. 210212.
49 Vgl. D. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1877-1918, Köln 1970, S. 449-523; j.T Verhry, The "Spirit of 1914", S. 413 ff.
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Im Zuge der Kriegszielbewegung und der Agitation gegen innere Reformen vollzog sich ein tiefgreifender Wandel im nationalen Lager. Alte und neue Rechte überbrückten ihre Kluft im Zeichen eines völkischen Nationalismus, der nicht mehr auf Staatsvolk und Reichsnation bezogen war, sondern die Nation als ethnisch-organische Einheit begriff, deren Wille sich in mythischen Momenten wie dem August 1914 manifestierte und nicht von Parteien und Parlamenten, sondern autoritär vertreten und geführt werden sollte50. Während das Konzept der organischen Volksgemeinschaft als Legitimationsquelle politischer Herrschaft an Boden gewann, verlor die monarchische Idee im konservativ-nationalen Lager immer mehr an Bedeutung. Dies verstärkte sich, je mehr die monarchische Gewalt durch die Militärführung ausgehöhlt wurde. Der Kaiser zog sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück und machte auch in der Bilderwelt der Postkarten oder Propagandaplakate stärkeren Symbolen wie dem Volkshelden Hindenburg oder stahlharten Frontsoldaten, Arbeitern, Bauern und Frauengestalten Platz, die für die kämpfende Volksgemeinschaft und ihren Durchhaltewillen, die Volksgemeinschaft und die bedrohte Heimat standen51 . Die Positionen des radikalisierten nationalen Lagers bestimmten auch zunehmend die zivile und militärische Propaganda. Sie stilisierte den Krieg zum Überlebenskampf der nur die Alternative zwischen Sieg oder Niederlage offenließ. Der Appell an die nationale Geschlossenheit trug nun offen antisozialistische und antiparlamentarische Züge, spielte das autoritäre Führungsprinzip gegen Reform und .Parteiengeist" aus und stilisierte die Bereitschaft des Einzelnen zur bedingungslosen Unterordnung unter das Ganze zur kriegsentscheidenden nationalen Ressource. Die Träger dieser Propaganda rekrutierten sich vor allem aus patriotischen Vereinen und Verbänden und unter den Angehörigen des akademisch gebildeten Bürgertums52• Wachsende soziale Spannungen, zunehmende Kriegsmüdigkeit, Verweigerung und Protest prägten auch in Italien das Bild, eine Entwicklung, die in den Arbeiterrevolten von Turin und Mailand 1917 ihren Höhepunkt erreichte. Die Masse der Soldaten und der Zivilbevölkerung stand dem Krieg und den Kriegsmythen des Interventismus, wie die neuere Forschung nicht zuletzt durch umfangreiche Editionen von Kriegsbriefen einfacher Soldaten dokumentiert hat, distanziert bis ablehnend gegenüber. Das vorherrschende Reaktionsmuster der Soldaten war durch Fatalismus und Resignation gekennzeichnet,
s.
50 Vgl.]. T Verhcy, The .Spirit of 1914", S. 375 ff., 0. Müller, Krieg der Nationen, 76-86. 51
Vgl. j.T Verbcy, The .Spirit of 1914", S. 354 ff.
Vgl. W Deist, Zensur und Propaganda in Deutschland während des Ersten Weltkrieges, in: W Deist, Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991, pp.153-164; G. Mai, .Aufklärung der Bevölkerung" und .Vaterländischer Unterricht" in Württemberg 1914-1918, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 36 0977-79), S. 199-235. 52
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ihre Sehnsüchte auf die Familie, das Dorf, die Heimat und ein möglichst baldiges Kriegsende gerichtet;3. Der Krieg brachte jedoch Millionen von bäuerlichen Soldaten, die bisher den beschränkten Horizont ihres Heimatdorfes kaum verlassen hatten, aber auch ländliche Arbeitskräfte, die in den Kriegsindustrien des Nordens eingesetzt wurden, in Komakt mit anderen Regionen des Landes und förderte so das Bewußtsein, einer umfassenderen nationalen Gemeinschaft anzugehören, ein Prozeß, der bisher noch nicht systematisch untersucht worden istS4. Dies führte freilich nicht zwangsläufig zu einer positiven Identifikation mit Staat und Nation, denn diese traten den Einzelnen vorwiegend in der Form eines fremden und bedrohlichen militärisch-industriellen Apparats entgegen. Sicher ist jedoch, daß der Krieg den Gebrauch der Dialekte zurückgedrängt und die Diffusion einer einheitlichen italienischen Umgangssprache gefördert und die Alphabetisierung vorangetrieben hat. So wurden im Laufe des Krieges immer mehr Menschen zu Adressaten schriftlicher Medien und politischer Propaganda55. Im politischen Raum ging die Opposition gegen die Kriegspolitik der Regierung nach dem Eintritt in den Konflikt eher zurück. Die Regierung konnte sich schon bald auf eine Mehrheit im Parlament stützen, denn sowohl die liberalen Neutralisten als auch die Exponenten des katholischen Lagers erklärten sich zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen bereit. Der relativ breite Konsens in der politischen Arena kam schließlich im "Kabinett der nationalen Einheit" zum Ausdruck, das im Juni 1916 nach schweren militärischen Mißerfolgen und der Ablösung Salandras gebildet wurde. Ihm gehörten, von den Sozialisten abgesehen, Vertreter praktisch aller politischen Kräfte an. Doch auch die Führung des PSI nahm trotz ihrer radikalen Rhetorik letztlich eine attentistische Position ein und verzichtete weitgehend darauf, die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung in revolutionäre Aktionen umzusetzen56. Die Reformisten, die in der Parlamentsfraktion, in den Gewerkschaften, in den Arbeiterkammern und in den sozialistischen Stadtverwaltungen dominierten, entfalteten eine rege soziale Aktivität auf kommunaler und betrieblicher Ebene und trugen dadurch erheblich zur Stabilisierung der "Heimatfront" bei 57• 53 Einen Überblick gibt: B. Bianchi, La grande guerra nella storiografia italiana dell'ultimo decennio, in: Ricerche storiche, 21 (1991), S. 693-745, S. 712. Für die Erforschung von Frontalltag, Mentalität und Verhalten der italienischen Soldaten und Kriegsgefangenen grundlegend: G. Procacci, Soldati e prigionieri; L. Fabi, Gente di Trincea. La Grande Guerra sul Carso e sull'Isonzo, Mailand 1994. 54 Vgl. S. Lanaro, Da contadini a italiani, S. 937-968; A . Gibelli, Grande guerra e identita nazionale nelle testimonianze dei combanenti, in: Ricerche storiche, 27 (1997), s. 617-634.
55 Vgl. G. Sanga, Lettere dei Soldati e formazione dell'italiano popolare unitario, in: S. Fontana I A .M . Pieretti (Hrsg.), Mondo popolare in Lombardia, S. 43-66. 56
Vgl. R. Vivare/li, Storia, S. 109-113.
57
Vgl. P Melograni, Storia politica, S. 266 ff.
Oliver janz
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Zu einem nachhaltigen Wandel kam es jedoch erst nach der Niederlage von Caporetto im November 1917, die die italienische Armee an den Rand der Auflösung brachte und sie zur Aufgabe großer Teile Nordost-Italiens zwang. Caporetto führte zu einem deutlichen nationalistischen Mobilisierungsschub. Der Krieg konnte jetzt als Verteidungskrieg dargestellt werden. Die Abwehr der feindlichen Invasion wurde das propagandistische Leitmotiv und markierte einen Konsens, zu dem sich fast alle politischen Kräfte bekannten. Die Öffentlichkeit wurde nun von einer Rhetorik der nationalen Geschlossenheit erfaßt, die auch vor dem Reformflügel des PSI nicht haltmachte. Auch hier war nun deutlich das Bedürfnis zu spüren, sich von der Rolle des nationalen Außenseiters zu lösen 58 . Hinzu kam, daß die demokratische Kriegsdeutung mit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten und der Revolution in Rußland 1917 erheblich an Schubkraft gewann. Die italienische Führung lehnte sich nun enger an die Programmatik der Entente an und baute eine systematische Propaganda auf, die sich gezielt der nationaldemokratischen Rhetorik bediente. Im Heer wie an der Heimatfront wurden nun hauptamtliche Propaganda-Offiziere eingesetzt, die sich vorwiegend aus den gebildeten Mittelschichten und den Intellektuellen des interventistischen Lagers rekrutierten. Der Appell an die nationale Einheit wurde nun auch in Italien mit dem vagen Versprechen sozialer Reformen verbunden. Der .italienische Krieg" wurde nun in Abkehrung vom sacro egoismo vorwiegend als irredentistischer Befreiungskrieg und als Teil eines universal legitimierten Kampfes für Demokratie, Freiheit und nationale Selbstbestimmung dargestellt. Das verband sich jedoch auch immer wieder mit dem Motiv der .proletarischen Nation", die für eine gleichberechtigte Stellung unter den Großmächten, ihre wirtschaftliche Entfaltung und territoriale Erweiterung kämpft, und dem imperialen Rom-Mythos, wobei auch hier der monarchisch geprägte Patriotismus immer mehr zurücktrat59• Die 1917 auf ihren Tiefpunkt gesunkene Stimmung in Bevölkerung und Armee hat sich im Laufe des letzten Kriegsjahres deutlich verbessert. Dazu trug auch die Stabilisierung der militärischen Lage bei, die fühlbare Unterstützung durch die Alliierten und eine Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen, die die Propaganda flankierten . Zu einem deutlichen patriotischen Mobilisierungsschub kam es vor allem in den bürgerlichen Mittelschichten60. Schon in den ersten Kriegsjahren waren in den größeren Städten ähnlich wie in Deutschland patriotische Organisationen und Komitees entstanden, die sich scheinbar auf dem neutralen Boden privater Wohltätigkeit bewegten, denen es aber immer auch um die Zelebrierung nationaler Gemeinschaft und Opferbereit58 Vgl. G. Procacci, Aspetti della mentalita collettiva durante Ia guerra: L'Italia dopo Caporetto, in: D. Leoni I C. Zadra (Hrsg.), La grande guerra. Esperienza, memoria, immagini, Bologna 1986, S. 261-290. 59
Vgl. M. lsnengbi, Giornali di trincea 1915-1918, Turin 1977, R. Vivarelli, Storia,
S. 60-66, S. 118 ff. 60
Vgl. G. Procacci, Aspetti, S. 273 ff.
Nationalismus im Ersten Weltkrieg
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schaft ging. In beiden Ländern spielten Frauen und Frauenorganisationen dabei eine herausragende Rolle. Der patriotischen Mobilisierung verschrieben sich in Italien auch eine ganze Reihe von Berufsverbänden, allen voran die 1915 gegründete .Unione generale degli insegoanti italiani per Ia guerra nazionale", der alle italienischen Lehrer- und Hochschullehrerverbände beitraten. Die Organisation verfügte 1917 über mehr als 6.000 Sektionen in allen Provinzen61 . Diese bürgerliche Selbstmobilisierung in zahlreichen patriotischen Initiativen, Vereinen und Komitees, die von Presseorganen und Schulen, Universitäten und Berufsverbänden, Frauenvereinen, karitativen und irredentistischen Organisationen getragen wurden, hat sich nach Caporetto erheblich verstärkt. Hier entfaltet sich unter vehementer Kampfansage an innere Feinde ein Engagement für den Krieg, das durchaus mit den Mobilisierungserfolgen des deutschen Kriegsnationalismus im bürgerlichen Lager vergleichbar ist. So entstand im Krieg nun auch in Italien eine starke nationalistische Vereins- und Verbandskultur, die auf die Mobilisierung und Vertretung nationaler Emotionen und Interessen jenseits staatlich-parlamentarischer Institutionen zielte. 1917 schlossen sich die patriotischen Vereine und Berufsverbände in einem Dachverband zusammen. Die .Opere federate di assistenza e propaganda nazionale" fungierten als Sammelbecken des bürgerlichen Kriegsnationalismus und gingen eine enge Verbindung mit dem Anfang 1918 gegründeten staatlichen .Commissariato di assistenza e propaganda" ein. Damit konnte die staatliche Propaganda und Kriegsfürsorge nun auf ein dichtes Netz von patriotischen Organisationen zurückgreifen. Aus diesem Reservoir nationalistischer Aktivisten, die meist aus dem gebildeten Bürgertum stammten, wurden die über 4.500 lokalen Sekretäre des .Commissariato" und auch der Propagandaminister selbst rekrutiert62 . Trotz konvergierender Tendenzen in Deutschland und Italien während des Ersten Weltkrieges sind wichtige Unterschiede festzuhalten: Die italienische Kriegsbewegung wies neben der radikalnationalistischen eine starke nationaldemokratische Strömung auf, die sich aus den risorgimentalen und irredentistischen Traditionen des italienischen Nationalismus speiste. Sie war weit stärker universalistisch orientiert als der deutsche Kriegsnationalismus und daher auch mit den Kriegszielen der Entente und den Unabhängigkeitsbestrebungen der kleineren Völker des Habsburgerreichs weitgehend kompatibel. Sie hat im übrigen dazu geführt, daß die Sicht auf den Ersten Weltkrieg und die italienische Beteiligung an ihm in weiten Teilen der italienischen Historiographie und Öffentlichkeit auch nach der Erfahrung des Faschismus und zum Teil sogar bis heute erstaunlich positiv ausfiel63. 61 Vgl. A. Fava, Assistenza e propaganda nel regime di guerra, in: M. lsnenghi (Hrsg.), Ope.rai e contadini, Bologna 1982, S. 174-212.
62
Ebd., S. 180 ff.
Vgl. Rj.B. Boswor1h, Mito e linguaggio nella politica estera italiana, in: Rj.B. Boswor1h I S. Rarnano (Hrsg.), La politica estera italiana, Bologna 1991, S. 35-67, S. 54. 63
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Die italienische Kriegsbewegung konnte sich - anders als der deutsche Kriegsnationalismus - bis zum Ende des Krieges eine prekäre Einheit bewahren. Die beiden Hauptströmungen des Interventismus differenzierten sich nicht klar aus: Ihre inneren Gegensätze wurden überlagert durch die gemeinsame Frontstellung gegen das neutralistische Lager, vor allem die sozialistische Partei, aber auch gegen Teile des katholischen Spektrums. Beide Flügel des Interventismus traten mit antisozialistischer Stoßrichtung für das Zurückstellen innerer Gegensätze im Krieg ein. Gemeinsam war ihnen auch die Ablehnung des "Systems Giolitti", das sie durch den Krieg zu überwinden hofften, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Den einen stand Giolitti für die transformistische und klientelistische Korruption der parlamentarischen Demokratie, den anderen für ein Zuviel an Demokratisierung und politischer Partizipation. Die italienische Kriegsbewegung verfügte zudem über einen tragfähigen gemeinsamen Nenner: "Trento e Trieste". Mit der Befreiung der Irredenta von österreichischer Herrschaft war ein Kriegsziel vorhanden, dessen Legitimität selbst im sozialistischen Lager nicht grundsätzlich bestritten wurde. Diese Plattform des Konsenses gewann noch an Breite als der Krieg nach Caporetto defensiven Charakter annahm und sich nun doppelt legitimieren konnte: als Verteidigungskampf und als nationaler Befreiungskrieg. Der italienische Kriegsnationalismus hat sich auch deshalb nicht in dem Maße wie in Deutschland in einer polarisierenden Diskussion über die Kriegsziele in seine defensiv-patriotischen, nationaldemokratisch-irredentistischen und radikalnationalistischen Bestandteile ausdifferenziert, weil selbst die minimalen territorialen Ziele des Landes bis zum Ende des Krieges militärisch nicht erreicht werden konnten. Die politische Führung und das nationalistische Lager waren daher nicht zu einer Offenlegung ihrer weitgespannten Ziele gezwungen und konnte diese hinter der Fassade einer nationaldemokratischen Rhetorik verstecken. Erst nach dem Krieg, als seinen Hoffnungen auf imperiale Größe und autoritäre Neuordnung im Innern frustriert wurden, wurde in vollem Maße deutlich, wie stark der radikale Nationalismus bereits in einflußreichen Sektoren der italienischen Gesellschaft verankert war.
Zentralismus und Lokalismus in der deutschen Landwirtschaft zwischen den beiden Weltkriegen Von Gustavo Corni
1. Die ,dualistische' Historiographie
Durch die deutsche Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte hat sich eine "Agrarfrage" gezogen, die zwar nicht wie in Rußland oder Italien ihr dominanter Faktor gewesen ist, aber dennoch ihre Entwicklung stark beeinflußt hat1• Zentrales Element der ,Agrarfrage' in Deutschland ist die andauernde politische, wirtschaftliche und soziale Kraft einer sozialen Gruppe, der ostelbischen Junker, gewesen. Sie haben bis in das volle Industriezeitalter hinein nicht nur viele typisch vormoderne Werte und Verhaltensweisen, sondern auch eine starke Hegemoniestellung in der Agrargesellschaft bewahrt. Das preußischdeutsche Junkerturn ist sicherlich ein Sonderfall, vor allem wenn man die stark beschleunigte Entwicklung der Industrie in Deutschland zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert berücksichtige. Daß diese soziale Gruppe (man hat sie als "Kaste" bezeichnet) im Zentrum des politischen und sozialen Systems des zur großen Industriemacht aufgestiegenen modernen Deutschland überlebte, hat in die deutsche Geschichte eine Grundspannung, eine folgenreiche Abweichung hineingebracht. Diese Folgen sind auch auf historiographischem Gebiet deutlich sichtbar. Wenn man einer seit über zwanzig Jahren maßgebenden Richtung glauben darf, stellt die Selbstbehauptung der Junker in der Modernisierung einen der wichtigsten Aspekte des sogenannten Sonderwegs Deutschlands in der neueren Geschichte dar, eines Sonderwegs, der dann in die nationalsozialistische Barbarei mündete3. Die Hegemonie des preußischen Junkerturns habe nämlich, so diese Interpretation, vor allem in Krisensituationen starke Spannungen zwischen den allgemeinen Interessen des Reiches und den spezifischen Interessen der ostelbischen In diesem ersten Teil des Aufsatzes greife ich auf einige Überlegungen zurück, die ich bereits entwickelt habe in: Nobili, grandi proprietari e contadini nella storiografia tedesca, in: L. Riberl (Hrsg.), La Germania allo specchio della storia, Mailand 1995, 5. 193 ff. Vgl. Aj. Mayer, The Persistence of the Old Regime. Europe to.the Great War, New York 1981 . Eine mehrstimmige Diskussion in: Deutscher Sonderweg. Mythos oder Realität, München 1982.
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Gutsbesitzer ausgelöst4 . Exemplarisch ist die Situation in der hektischen Endphase der Republik zwischen 1930 und 1933. Die Stabilität der republikanischen Institutionen, die durch die schwere Wirtschaftskrise stark erschüttert war, wurde durch den Druck einer zahlenmäßig kleinen Großgrundbesitzerkaste einer zusätzlichen Belastungsprobe ausgesetzt. Die Großagrarier verfolgten hartnäckig und geschickt eine eigene sektoriale Politik, die der Verteidigung ihrer wirtschaftlichen Interessen dienen sollte. Daß die Präsidialregierung des Katholiken Brüning (im Mai 1932) und wenige Monate darauf die Regierung General Schleichers (im Januar 1933) fielen, ist nämlich auf die Intrigen einiger Junker zurückzuführen, die dem Präsidenten Hindenburg freundschaftlich verbunden und gegen jede Reform des stark verschuldeten Agrarsektors waren. Diese Reformen sollten von der Regierung in kurzer Zeit durchgesetzt werden. Durch die Beschwörung des "Agrarbolschewismus" versuchten diese Intrigen, die großen sozialen Ungerechtigkeiten in den ländlichen Ostgebieten Deutschlands einzufrieren und die Vorherrschaft des Junkerturns zu sichern5• Ich möchte an dieser Stelle an ein weiteres, Jahrzehnte zurückliegendes Schlüsselereignis erinnern: die um die Jahrhundertwende ausgebrochene Diskussion zwischen Politikern, Ökonomen und Intellektuellen über eine mögliche Wende in der bis dahin verfolgten Wirtschaftspolitik. Zeitgleich zur Durchsetwog des Reichs als große Industriemacht eröffneten einflußreiche Kreise des politischen und kulturellen Lebens eine vielfältige Argumentationen auslösende Diskussion über die Frage, ob der Modernisierungsprozeß zu stoppen sei. In der Diskussion standen sich die Begriffe "Industriestaat" und "Agrarstaat" gegenüber6 . Die Diskussion wurde natürlich durch die tiefgreifenden Wandlungen gegenstandslos. Es ist jedoch m.E. bezeichnend, daß eine solche Diskussion stattfand und sich dabei nicht in den Kopfgeburten irgendeines zweitklassigen Ideologen erschöpfte, sondern die Elite der deutschen Intellektuellen anzog: von Lujo Brentano und Adolf Wagner bis zu Max Weber und Gustav Schmoller. Diese beiden Beispiele, die man noch um viele andere vermehren könnte, sind von einem überwiegenden (oder doch in den letzten Jahrzehnten sehr wichtigen Teil) der deutschen Historiographie als Zeichen einer deutlichen langfristigen Vormachtstellung des Junkerturns in der Agrargesellschaft interpretiert worden. Hinzu kommt, daß die "Agrarfrage" trotz ihrer Bedeutung in der deutschen 'Geschichte bislang kaum die Aufmerksamkeit der Historiographie Ein allgemeiner überblick bei FL. Carsten, Geschichte der preussischen Junker, Frankfurt a.M. 1988. Vgl. D. Gessner, Agrardepression und Präsidialregierungen in Deutschland 19301933, Düsseldorf 1977. Zur Diskussion vgl. K.D. Barkin, The Controversy over German Industrialization 1890-1902, Chicago I London 1970 und jüngst H. Harnisch, Agrarstaat und Industriestaat. Die Debatte um die Bedeutung der Landwirtschaft in Wirtschaft und Gesellschaft Deutschlands an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: H. Reif(Hrsg.), Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Berlin 1994, S. 33-50.
Zentralismus und Lokalismus in der deutschen Landwirtschaft
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für sich beanspruchen konnte, wenn man von rein technisch-produktiven oder rechtlichen Aspekten absieht. .Auch kürzlich ist im Rahmen einer breit ausgreifenden historiographischen Übersicht die im Vergleich zur britischen, französischen oder auch italienischen Historiographie geringere Bedeutung der Agrargeschichte in Deutschland unterstrichen worden7 . Jedenfalls scheint mir eines der wichtigsten Merkmale dieser historiographischen Tradition gerade die überwiegend borossisehe Perspektive zu sein8 . Aus der Rankeschen Schule historistischer Prägung heraus ist eine sehr reiche und selbstsichere Historiographie entstanden, die die Staats- und Gesellschaftsordnung Preußens in den Mittelpunkt stellte, die nicht nur als emblematisches Beispiel, sondern als regelrechtes Modell galt. Einer der Fixpunkte dieser Historiographie war, daß die preußische Staatsbildung und ihr internationaler Erfolg zum großen Teil mit der Fähigkeit der preußischen Souveräne zu tun hatte, sich den grundbesitzenden Adel zu unterwerfen und ihn von einem hartnäckigen Widersacher in eine tragende Stütze des monarchischen Staats umzuwandeln. Der Schlüssel zu diesem engen Abhängigkeits- und Gehorsamsverhältnis ist diesem historiographischen Ansatz folgend - eine Agrarpolitik gewesen, die darauf abzielte, dem grundbesitzenden Adel seine Hegemonie in den Landbezirken zu erhalten9 . Diese Hegemonie wurde durch eine eiserne, auch durch das Militärsystem aufrecht erhaltene soziale Kontrolle über die Landbevölkerung sichergestellrl0 • Diese soziale Kontrolle wurde jedoch durch die mäßigenden und schützenden Eingriffe des Monarchen und seiner (überwiegend aus Adligen bestehenden) Bürokratie abgemildert. Nachdem auf diese Weise seine materiellen Grundlagen gesichert worden waren, war der grundbesitzende Adel einem rapiden und intensiven Sozialdisziplinierungsprozeß unterzogen worden, vor allem durch die massive Aufnahme von Adeligen in Armee und Verwaltung. Die von der borussischen Historiographie vorgelegte Interpretation der späteren Entwicklung des Junkerturns seit der Anfangsphase im 18. Jahrhundert war auf einer Linie mit dem anfänglichen Ansatz; sie hob auf einen Staat ab, der die Hegemonie des Adels in den Landbezirken garantierte und seine wirtschaftliche Stellung durch eine lange Reihe von Interventionen aufwertete: von den Reformen Anfang des 19. Jahrhunderts bis hin zur protektionistischen C. Dipper, Bauern als Gegenstand der Sozialgeschichte, in: W Scbieder I V. Sellin (Hrsg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Göttingen 1987, Bd. 4, S. 9-33; vgl. auch / . Farr, ,Tradition' and the Peasantry. On the Modern Historiography of Rural Germany, in: Rj. Evans I WR. Lee (Hrsg.), The German Peasantry, London 1986, S. 1-36. 8 Vgl. G.G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschiehtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971, vor allem S. 86162.
Zum 18. Jahrhundert vgl. mein Buch: Stato assoluto e societa agraria in Prussia nell'eta di Federico II, Bologna 1982. 10
1962.
Vgl. 0 . Büscb, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713-1807, Berlin
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Gesetzgebung nach 1878. Die ersten sind als eine Sozialreform großen Ausmaßes gesehen worden, die den preußischen Landbezirken die sozialen Unruhen erspart hat, die viele europäische Länder im Übergang zum Agrarkapitalismus kennzeichnen. Die von Bismarck unter dem Druck einflußreicher (nicht nur agrarischer) Interessen beschlossene protektionistische Gesetzgebung ist als "zweite Reichsgründung" angesehen worden, weil sie die soziale Schlüsselgruppe des politischen und sozialen Systems im geeinten Deutschland stabilisiert habe. Es fehlt jedoch nicht an Stimmen, die von dieser Erfolgsgeschichte abweichen; Stimmen, die vor allem im auslaufenden 19. Jahrhundert laut wurden, als der Primärsektor zunehmend von der Industrie in Bedrängnis gebracht wurde. Die Umkehrung der Kräfteverhältnisse hatte traumatische Auswirkungen: etwa die bereits erwähnte Diskussion über die Alternative Agrarstaat/ Industriestaat oder die vor allem vom "Verein für Socialpolitik" herausgegebene Studienreihe 11 . Viele dieser Studien befürworteten eine Veränderung des status quo (und damit das Ende der Vorherrschaft der Junker), um eine Verschärfung der Krise zu verhindern. Eines der wichtigsten Beispiele dieser Kritik ist G.F. Knapps Buch über die Agrarreformen Anfang des 19. Jahrhunderts, die sogenannte Bauernbefreiung12 • Knapp kehrt die auf Harmonie gestimmte Darstellung der vorhergehenden Historiographie um, wonach diese Reformen auch eine Konsolidierung der Klein- und mittleren Bauern ermöglicht hatten. Er zeigt demgegenüber, daß die Landreformen der napoleonischen Zeit in den deutschen Landbezirken einen breiten Proletarisierungsprozeß ausgelöst, die Voraussetzungen für die Entstehung des Fabrikproletariats geschaffen und gleichzeitig die Vormachtstellung der adeligen Großgrundbesitzer gefestigt haben. Die Ursprünge der kritischen Interpretation der Erfolgsgeschichte der junkerliehen Landwirtschaft sind in der allerdings moderaten Reformkritik der sogenannten "Kathedersozialisten" zu suchen. Diese Kritik konnte jedoch erst einige Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs offen zutage treten, als nach der delikaten und langen Verdrängungsphase (die wenigstens die ganze Adenauerära hindurch angehalten hatte) die Historiker und die öffentliche Meinung der Bundesrepublik (in der DDR lagen die Dinge anders) den Nationalsozialismus und die historischen Gründe seines Triumphs einer vertieften Untersuchung unterzogen haben. Eine sehr wiclnige Rolle hat in diesem kritischen Revisionsprozeß Hans Rosenberg gespielt. Durch eine Reihe grundlegender Untersuchungen, aber auch dank eines Netzes von Schülern auf beiden Seiten des Atlantiks hat Rosenberg der Agrargeschichte eine neue Perspektive gegeben, die die überkommenen 11 Zu den Studien und Diskussionen innerhalb des Vereins über die Landwirtschaft und ihre Probleme vgl. jüngst M. jatzlauk, Diskussionen und Untersuchungen über die Agrarverhältnisse im Verein für Sozialpolitik in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in: H. Reif (Hrsg.), Ostelbische Agrargesellschaft, S. 51-72. 12 G.F. Knapp, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Teilen Preußens, 2 Bde., Leipzig 1887.
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historiegraphischen Leitlinien verdrängte. Im Mittelpunkt seiner Forschungen standen noch einmal die Junker, die er beschuldigte, um jeden Preis ihren verhängnisvollen Einfluß auf die deutsche Gesellschaft in ihrer Modernisierungsphase ausgeübt zu haben. Dank ihrer Verbindungen zur Regierungselite und ihrer Fähigkeit, auf deren Entscheidungen einzuwirken, aber auch dank einer bemerkenswerten Flexibilität hätten es die Junker, so Rosenberg, geschafft, ihre Herrschaft zu sichern, ja zu erweitern. Durch "Pseudomodernisierung", so der prägnante Ausdruck Rosenbergs, sei es den ostelbischen Großgrundbesitzern gelungen, in den von ihnen beherrschten Territorien (und nicht nur dort) die soziale und politische Entwicklung aufzuhalten und die Entwicklung einer wirklichen Demokratie in Deutschland zu behindern13. Rosenberg und seine Epigonen haben der Einführung der Schutzzölle von 1879 entscheidende Bedeutung als Bruch mit einer ganzen historischen Epoche beigemessen14 • Die Junker seien damals mit der rheinischen Schwerindustrie ein antiliberales und antisozialdemokratisches Bündnis eingegangen und hätten von jenem Zeitpunkt an die deutsche Geschichte bis 1933 und 1945 bestimmt. Die Thesen Rosenbergs sind von Wehler, Kocka und den anderen Historikern, die Anfang der siebziger Jahre die "neue Sozialgeschichte" begründet haben, in breitem Maße verarbeitet worden15 . Sie haben in der Tat den ostelbischen Großgrundbesitz als Grundbaustein des politischen Systems im wilhelminischen Reich in den Blick genommen. Diese historiographische Richtung hat mit Sicherheit das Panorama einer mit der sperrigen Erblast des Historismus befrachteten Geschichtsforschung ganz erheblich erneuert. Trotz ihrer Definition und Selbstdefinition als "Sozialgeschichte" hat sie jedoch weiterhin der Politik ein großes Gewicht beigemessen, insbesondere der Herausbildung der sogenannten Interessenverbände16. Das wichtigste Beispiel für diesen Ansatz, was insbesondere die Agrargeschichte betrifft, ist H.]. Puhles Untersuchung über den "Bund der Landwirte" 17 . Dieser Bund wurde 1893 gegründet, als Antwort auf den Versuch des Reichskanzlers Caprivi, die Schutzzölle abzuschaffen (oder zu reduzieren), 13 Die erste Niederschrift des Aufsatzes, auf den ich mich hier beziehe, "Die Pseudemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse", datiert von 1958, ist verschiedentlich neu publiziert worden; hier zitiert aus dem Band von H. Rosenberg, Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt a.M. 1969, S. 7-50. 14 Vgl. vor allem seine grundlegende Studie: Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967.
15 Ich verweise auf meine Arbeit: "La Neue Sozialgeschichte"· nel recente dibattito storiografico tedesco, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, III 0977),. S. 513-539.
16 Vgl. G.G. Iggers (Hrsg.), The Social History of Politics, Leamington Spa 1985, der in seiner langen Einleitung über die Grenzen und die Merkmale dieser fruchtbaren historiographischen Richtung reflektiert. 17 Hj. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservativismus im Wilhelminischen Reich, 1. Aufl. 1967, 2. Auf!. Bonn 1975.
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um die Entwicklung der primär exportorientierten Industrien zu begünstigen. Puhles Verdienst ist es, in den Mittelpunkt seiner Untersuchung eine Massenorganisation gestellt zu haben, die sich von den vorhergehenden, die Mitte der siebziger Jahre die Schutzzollkampagne eingeleitet hatten, unterschied 18 . Der Bund hatte, seinem Programm entsprechend, eine Massenbasis; er beschränkte sich nicht darauf, wirksame Lobbyformen in den Entscheidungszentren in Berlin zu organisieren, sondern versuchte auch, den Konsens breiter Schichten für sein Programm zu gewinnen. Puhle hat die außerordentliche Fähigkeit des .Bundes beschrieben, eine kapillar über das Territorium verbreitete Organisation aufzubauen, die 250 Ortssektionen umfaßte, Hunderte von spezialisierten und besoldeten Beamten und Rednern beschäftigte und ein dichtes Netz von Periodika unterhielt. Er zählte bereits ein Jahr nach der Gründung 201 .000 Mitglieder und kam am Vorabend des Ersten Weltkriegs auf 330.000. Dank dieses komplexen Organisationsnetzes und dank der Fähigkeit, für sein maximalistisches Programm breite Zustimmung in den Landbezirken zu gewinnen, hatte der radikal antidemokratische, antistädtische und auch antisemitische Bund ein grundlegendes Instrument zur Beeinflussung der politischen Entscheidungen in der Hand. Eine der wirksamsten Aktionsmethoden des Bundes bestand darin, durch Wahlabsprachen die Kandidaten für den Reichstag und die Landtage an sich zu binden, um dauerhaft ihre Stellungnahmen zu den Sachgebieten beeinflussen zu können, die agrarische Interessen betrafen. Puhle hat ausgerechnet, daß der Bund 1898 118 von 397 Reichstagsabgeordneten und 1907 128 von 396 bei ihrer Wahl entscheidend unterstützen konnte. Bei den letzten Wahlen vor dem Krieg 0912), die von den Sozialdemokraten gewonnen wurden, waren die zum Bund in einem Treueverhältnis stehenden gewählten Kandidaten immerhin 78 von 391. Noch deutlicher war der Einfluß des Bunds auf den preußischen Landtag, der nach einem Dreiklassen-Zensussystem gewählt wurde, das gerade die Gruppen begünstigte, die über große organisatorische Möglichkeiten und über politischen Einfluß verfügten. 1908 war über die Hälfte der Parlamentarier dem agrarischen Interessenverband verbunden. Der Bund vermochte ein breites Parteienspektrum zu beeinflussen, selbst das katholische Zentrum, obgleich er ein überwiegend protestantischer Interessenverband war. Seinen politischen Einfluß machte er jedenfalls vor allem gegenüber der konservativen Partei geltend19• Das Spezifikum in der Politik des Bundes besteht, in der Untersuchungsperspektive Puhles, in einer besonderen Mischung aus Politik ,von oben' und 18 Zur Stellung der Interessenverbände hinsichtlich des Protektionismus verweise ich auf K. Hardacb, Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren bei der Einführung der Eisen- und Getreidezölle in Deutschland 1879, Berlin 1967 und IN Lambi, Free Trade and Protection in Germany 1868-1879, Wiesbaden 1963. 19 Vgl. dazu R.M. Berdahl, Conservative Politics and Aristocratic Landholders in Bismarckian Germany, in: Journal of Modern History, 44 0972) und j.N. Retallack, Notabtes of the Right, London 1988.
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Politik ,von unten'. Die Leiter der Organisation, die überwiegend zur Schicht der ostelbischen Großgrundbesitzer gehörten, bewegten sich ebenso geschickt auf den Gängen der hohen Politik wie auf den Dorfplätzen, wo die aufgrund der schwierigen Wirtschaftslage erbosten Bauern und Kleinhändler zusammenkamen. Gerade gegenüber der Durchschnittsbevölkerung vermochte das Junkerturn unter Verwendung einer moderneren Sprache und raffinierterer Formen der Konsensorganisation jenen Paternalismus durchzusetzen, der ihn schon seit langem charakterisierte. Darüber hinaus jedoch ist der Bund, so Puhle, dadurch gekennzeichnet, daß er auf sehr viel breiterer Ebene Zustimmung zu gewinnen vermochte. Der "Präfaschismus" des Bundes - wie Puhle die explosive Mischung aus Populismus und Lobbyismus definiert20 - stellte eine neue Form von Nationalisierung der Landbevölkerung dar; er überwand den beengten Raum des Lokalismus und dehnte die Hegemonie des Junkerturns auf das ganze Reich aus. Ein weiterer zentraler Grundzug des Bunds war seine radikale Ideologie. Sie beruhte auf dem organizistischen Prinzip, in dessen Zeichen die ländliche Welt in das Zentrum der Gesellschaft gerückt und die als Produkt der Industrialisierung betrachtete Klasseneinteilung verurteilt wurde. Emotional stark aufgeladen, verband die Ideologie des Bundes den radikalen Nationalismus mit der Überhöhung der "guten alten Zeit" und mischte dem ein stark antisemitisches Element unter. Die Perspektive, aus der Puhle den Bund und seine Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg untersucht hat, steht stellvertretend für den Ansatz der gesamten "neuen Sozialgeschichte": Das Bismarck- und das wilhelminische Reich, auf die sich ihre Aufmerksamkeit richtete, wurde als ein festgefügtes und organisches politisches System angesehen. Besonders die ländliche Gesellschaft galt als grundlegende Komponente des Systems, als hegemonisiert durch die Schicht der Junker, die einen breiten und vielfältigen Konsens zur organisieren imstande waren, um ihre Interessen in einer für den Primärsektor schwierigen Zeit zu verteidigen. Diese Interpretation stand während der ganzen siebziger Jahre und bis Anfang der achtziger sehr hoch im Kurs, auch dank des Verkaufserfolgs eines zusammenfassenden Werks von H.-U. Wehler, in dem eine schematische, aber überzeugende Interpretation der tieferen Gründe der deutschen Sonderentwicklung geboten wurde21 . Natürlich fehlte es auch in dieser Erfolgsphase, in der der Ansatz der "neuen Sozialgeschichte" unstreitig das Klima in der deutschen Geschichtsschreibung belebte, nicht an Kritik. Ich erwähne hier nur den bedeutenden Historiker T. Nipperdey, der bereits damals Wehler mit Blick auf seine angeblich pädagogisch-präskriptiven Ambitionen beschuldigte, eine Art wiedererstandener Treitschke zu sein22 • Nipperdey, der erst in späteren Jahren eine eigene Geschichte des deutschen
20
Hj. Puhle, Von der Agrarkrise zum Präfaschismus, Wiesbaden 1972.
21
Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973.
T Nipperdey, Wehlers ,Kaiserreich'. Eine kritische Auseinandersetzung, in: Geschichte und Gesellschaft, 1 0975), S. 539-555. 22
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Kaiserreichs vorlegen konnte23, lastete Wehler und seinen Schülern an, den Ansatz der borussischen Historiographie einfach umgekehrt und das kritisiert zu haben, was in der Vergangenheit positiv bewertet wurde. Dabei habe er sich jedoch nicht von einer Interpretation distanziert, die die Gesamtentwicklung der deutschen Geschichte in dieser entscheidenden Phase auf Preußen und auf die Hegemonie des Junkerturns einengte. Diese Kritiken sind mit zum Teil stark polemischen Akzenten von einer Gruppe junger britischer Historiker vertieft worden, die im Laufe der letzten fünfzehn Jahre eine beträchtliche Anzahl von Studien und Untersuchungen vorgelegt haben. Dabei haben sie methodologisch und interpretativ einen Ansatz verwandt, der zu dem der "neuen Sozialgeschichte" im Widerspruch steht. Die herausragenden Vertreter dieser international sehr aktiven Gruppe junger Historiker sind G. Eley, D. Blackbourn und R.J. Evans. Das Hauptziel ihrer Kritik ist die ihrer Meinung nach übertriebene und unbegründete, gleichsam teleologische Kontinuität, die die .neue Sozialgeschichte" der deutschen Geschichte unterlege: beinahe einen roten Faden von Bismarck zu Hitle~4 • Erdrückt von der (ethisch herausragenden) Aufgabe, um jeden Preis die genetischen Faktoren des Nationalsozialismus aufzudecken, habe die deutsche Sozialgeschichte der Hegemoniefähigkeit der dominanten Klassen ein zu grosses Gewicht beigemessen und damit das Bild einer blockierten deutschen Gesellschaft gezeichnet. Dieses Bild entspreche nicht der Wirklichkeit, da die deutsche Gesellschaft, nach Meinung dieser britischen Historiker, eine sehr viel komplexere und vielfältigere Wirklichkeit gewesen sei. Sie schlugen deshalb eine Art Geschichte ,von unten', unter Heranziehung marxistischer Methodologien, vor, die zu Wehlers Geschichte ,von oben' und der seiner Schüler im Gegensatz steht25 • Diese Autoren haben in ihren Untersuchungen insbesondere die innere Struktur, die Verhaltensweisen und die Mentalitäten der ländlichen Schichten auf regionaler und lokaler Ebene näher untersucht. Sie hätten sich sehr gut auf wirtschaftlicher und politischer Ebene bewegt, ohne sich der Hegemonie des Junkerturns unterzuordnen. Die deutschen Bauern hätten während der Kaiserzeit demnach ein beträchtliches Maß an Autonomie und Handlungsfähigkeit bewiesen, jedenfalls ein weitaus größeres, als ihnen die "neue Sozialgeschichte" (oder erst recht die borussische Geschichtsschreibung) zumessen 23
T Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, 2 Bde., München 1991-1992.
Vgl. insbesondere das vieldiskutierte Buch von D. Blackbourn I G. Eley, The Peculiarities of German History. Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-Century Germany, Oxford I New York 1984, das die Bedeutung des Bürgertums in der Entwicklung der deutschen Geschichte in Frage stellt. Symptomatisch für diese historiegraphische Richtung ist auch die Anthologie von Rj. Evans (Hrsg.), Society and Politics in Wilhelmine Germany, London 1978. 24
25 Eine erste kritische Besprechung dieser historiegraphischen Richtung in W Mock, Manipulation von oben oder Selbstorganisation an der Basis, in: Historische Zeitschrift, 222 (1981), S. 358-380.
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möchte 26 . Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die Untersuchung Blackbourns über die ganz überwiegend katholische ländliche Gesellschaft Württembergs27 sowie die Arbeiten von I. Farr über den .Bayerischen Bauernbund", einen Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen lnteressenverband, der einen stark regionalistischen Ansatz verfolgte und sich zum Schutz der Interessen der Klein- und mittleren Bauern einer egalitären, scharf antikapitalistischen und antiklerikalen Ideologie bediente 28 • Besonders interessant sind auch die Untersuchungen, die die angestammten Interpretationen zur Bedeutung der protektionistischen Wende von 1879 wieder in Frage gestellt haben. Die borussische Historiographie und (mit entgegengesetzter Bewertung) die .neue Sozialgeschichte" waren davon ausgegangen, daß der Protektionismus die Folge des einseitigen und in der Tat erfolgreichen Drucks der ostelbischen Gutsbesitzer war, deren Produktion auf die Kombination von Roggen und Kartoffeln zugeschnitten war. Nach den Worten eines der Vorläufer der .neuen Sozialgeschichte", E. Kehr: "Die Getreidezölle sollten auch dem iodoientesten und infolge fehlender Auslandskonkurrenz rückständigsten Gutsbesitzer das Leben bequem machen"29 • Jüngste Studien haben hingegen gezeigt, daß dank indirekterer Schutzmethoden (insbesondere im Bereich der sanitären Kontrollen) auch die vorwiegend von mittleren und Großbauern in den westlichen und nördlichen Teilen des Reichs betriebene Viehwirtschaft durch den Protektionismus beträchtliche Vorteile genossen hat30. Diese neue historiographische Interpretation, die sich besonders auf die Diskontinuitäten und nicht so sehr auf die Kontinuitäten konzentriert hat, hat die Vorrangstellung, die das Junkerturn angeblich auch nach der Industrialisierung in der deutschen Gesellschaft eingenommen hat, weit niedriger veranschlagt. Diese neuen Studien haben zugleich die Fähigkeit der Bauern oder zumindest bedeutender Teile der ländlichen Gesellschaft zu politischer Selbständigkeit in den Vordergrund gerückt, vor allem auf lokaler und regionaler Ebene. Zu dieser Entwicklung haben eine Reihe kulturanthropologischer Studien beigetragen. Mit ihrer Hilfe konnte die Volkskunde (so die spezifisch deutsche Definition einer bestimmten historischen Anthropologie) wieder aus der Sackgasse herausgeführt werden, in die sie nach 1945 aufgrund ihrer engen Beziehungen zur nationalsozialistischen Ideologie geraten war. Ich beziehe mich vor allem auf Studien, die unter der Leitung des .Ludwig Uhland 26 Vgl. den wichtigen Aufsatz von D. Blackbourn, Peasants and Politics in Germany, in: European History Quarterly, 14 (1984). 27
Class, Religion and Local Politics in Wilhelmine Germany, New Haven I London
1980. 28 I. Farr, Populism in the Countryside: The Peasants League in Bavaria, in: Rj. Evans (Hrsg.), Sociery and Politics.
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E. Kehr, Schlachtflottenhau und Parteipolitik, 1894-1901, S. 271, Berlin 1930.
Vgl. R.G. Moeller, Peasants and Tariffs in the Kaiserreich. How Backward Were the Bauern7, in: Agricultural History, 55 0981) und S.B. Webh, Agricultural Proreetion in Wilhelmian Germany, in: Journal of Economic History, 42 (1982). 30
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Instituts" in Tübingen durchgeführt worden sind 31 , sowie auf eine Reihe von Veröffentlichungen, die seit Ende der siebziger Jahre von den Forschern der DDR über die Magdeburger Börde, eines der fruchtbarsten Gebiete MittelOstdeutschlands, vorgelegt worden sind32 Diese vielfach aus interdisziplinären Kooperationen hervorgegangenen Studien haben den Zusammenhang zwischen subjektiven und objektiven Faktoren, zwischen Kontinuität und Diskontinuität in den Landgemeinden deutlich gemacht und dabei auch neue, insbesondere mündliche Quellen benutzt. Diese neue Forschungsrichtung scheint die deutsche Agrargeschichte endlich von einer schweren ideologischen Last, man könnte beinahe sagen: einer kulturellen Mißbildung, befreit zu haben. Damit ist die nostalgische und romantisierende Ideologie gemeint, die die Landwirte pauschal als Bauern bezeichnet und als tragenden Pfeiler der nationalen und rassischen Integrität des deutschen Volks feiert. Es handelt sich hier um einen Aspekt, der dem vorhin dargestellten, fast ausschließlich auf die adeligen Großgrundbesitzer abhebenden Gesichtspunkt entgegengesetzt ist und ihn gewissermaßen widerspiegelt. Diese innerhalb der breiteren romantischen Bewegung Anfang des vorigen Jahrhunderts entstandene Ideologie konsolidierte sich in dem Maße, wie sich der Modernisierungs- und Industrialisierungsprozeß beschleunigte. Angesichts dieses scheinbar unaufhaltsamen Prozesses radikalisierten die Theoretiker des Bauerntums ihre ideologische und apologetische Interpretation. Auf diese Weise machten sie die Bauern (durchweg in einem verallgemeinernden Sinn) zu einer Art Volk ohne Geschichte, das zäh an seinem Siedlungsgebiet festhielt und hartnäckig die alten, überkommenen Werte der "deutschen Rasse verteidigte"33. Diese kulturellen Richtungen haben einen großen Erfolg gehabt, vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, und zwar auch auf populärer Ebene. Ich erwähne besonders die Verbreitung des sogenannten Bauernromans34 . So kam das Buch eines Wortführers dieser kulturellen Richtung, Wilhelm Heinrich Riehl, mit dem Titel "Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik" zwischen 1851 und 1930 auf 13 Auflagen. Es trug ganz offensichtlich zur Popularisierung einer Reihe von Gemeinplätzen und Losun31 Vgl. u.a. U. jeggle, Leben auf dem Dorf, Wiesbaden 1978 und W Kaschuba I C. Lipp, Dörfliches Überleben. Zur Geschichte materieller und sozialer Reproduktion
ländlicher Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Tübingen 1982. 32 Diese Untersuchung hat sich in einer Reihe von Publikationen niedergeschlagen; dazu zählen u.a. Hj. Rach I B. Weissei (Hrsg.), Landwirtschaft und Kapitalismus. Zur Entwicklung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse in der Magdeburger Börde, Berlin 1978 und dies. (Hrsg.), Bauer und Landarbeiter im Kapitalismus der Magdeburger Börde, Berlin 1982.
33 Vgl. vorbildlich G. lpsen, Das Landvolk. Ein soziologischer Versuch, Harnburg 1936. 34
Vgl. G. Scbweitzer, Bauernroman und Faschismus, Tübingen 1971 und K. Berg-
mann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft in Deutschland, Meisenheim 1970.
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gen zur Agrargesellschaft und ihren vermeintlichen Besonderheiten bei. Ein Erfolg in den Mittelschichten, der aber auch die Spitzen der deutschen Kultur, von Oswald Spengler bis Richard Wagner, erreicht hat35 . Diese kulturellen Strömungen sind im letzten Drittel des Jahrhunderts, zeitgleich zur ersten schweren Strukturkrise des Primärsektors, in einen radikalen Rassismus übergegangen, in dem Antikapitalismus, Großstadtfeindschaft und Antisozialismus sich mit einem scharfen Antisemitismus verbanden. Es handelt sich gerade um die spezifische Ideologie des bereits erwähnten Bunds der Landwirte, aber auch zahlloser anderer Interessenverbände, Parteien und Splitterparteien. Spezifische Kontinuitätszusammenhänge aufzeigen zu wollen, wäre sicherlich ein Fehler. Aber es ist sicher richtig, in dieser rassistischen und völkischen Kultur ein wichtiges Vorläuferphänomen der ruralistischen Ideologie des Nationalsozialismus zu sehen: die sogenannte Ideologie des Blut und Bodens, die die Bauern als ,Quelle' der rassischen Reinheit des deutschen Volks feierte. Unter historiographischem Gesichtspunkt hat dieses verschwommene und fast unbewegliche Bild der Bauen einen großen Einfluß auf die Studien zur Agrargesellschaft zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts ausgeübt. Die Bauern galten als eine sozial kaum strukturierte und zeitlicher Veränderung nicht ausgesetzte Größe, als ein ,Stand', der dank seiner Besonderheiten überdauert hatte, als die übrige Gesellschaft sich in soziale Klassen aufgliederte. Die Historiker, die diese ideologischen Prämissen akzeptierten, haben das Bauerntum als wenig offen gegenüber Einflüssen von außen dargestellt. Die Kontinuität des Bauerndaseins wurde im Verhältnis zu den zeitlichen und sozialen, ganz zu schweigen von den regionalen und konfessionellen Diskontinuitäten stark betont. Einige der wichtigsten deutschen Agrarhistoriker dieses Jahrhunderts sind diesem methodologischen Ansatz sehr verbunden. Er ist (trotz unterschiedlicher kultureller Ausgangspositionen) mit dem eingangs erwähnten borussischen vergleichbar. Ich erwähne besonders Günther Franz, den einflußreichen langjährigen Inhaber des einzigen Lehrstuhls für Agrargeschichte, den Historiker politischer Ideen Heinz Haushofer, die Historiker und Soziologen Günther Ipsen und Friedrich Lütge36 • Diese Historiker haben unstreitig wichtige Untersuchungen zur Agrarverfassung, zu den Produktionsmethoden und zur agronomischen Literatur vorgelegt. Dabei haben sie vor allem den rechtlich-institutionellen Rahmen der Beziehungen zwischen Bauern und Herrschaft in den Blick genommen. Soweit ich sehe, haben sie jedoch kaum adäquat Themen behandelt, die schon seit geraumer Zeit die internationale Historiographie in den Mittelpunkt gestellt hatte: die Mentalitäten, die kollektiven und individuellen Verhaltensweisen, die Spannungen zwischen Fortschritt und Stagnation, die nicht nur rechtlich-formalen, sondern auch wirtschaftlichen und sozialen 35 Vgl. G.L. Masse, The Crisis of German Ideology, New York 1%4. Jüngst A. D'Onofrio, Ruralismo e storia nel Terzo Reich, Neapel 1997.
36 Vgl. W Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993. 13•
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Auseinandersetzungen. Sie haben mehr die Kontinuitäten als die Brüche betont. Das zeigen die Schlüsselbegriffe dieser Historiographie: Dorfgemeinschaft und Verfassung37 • Besonders wichtig erscheint es mir hier zu unterstreichen, daß dieser historiographische Ansatz bei aller Hervorhebung der kleinen Dorfgemeinschaften am Ende die Gesamtschau bevorzugte und die Perspektive einer regionalistischen Untersuchung der deutschen Agrarentwicklung in den Hintergrund gestellt oder sogar ganz abgelehnt hat. Am Ende dieses Überblicks kann man festhalten, daß die deutsche Agrargeschichte noch in ihren jüngsten Produkten den regionalistischen Aspekt im Hintergrund gelassen und stattdessen das Bild einer Agrargesellschaft gezeichnet hat, die, sei es wegen der Hegemonie einer sozialen Schicht, sei es aufgrund angenommener tiefer ideologisch-kultureller Wurzeln, in sich festgefügt ist. Das überrascht, wenn man die tiefen Risse in der deutschen Gesellschaft auch in konfessioneller Hinsicht bedenkt, die bekanntlich eine so große Bedeutung in der politischen, sozialen und kulturellen Entwicklung gespielt haben.
2. Regionalismus aus konjunkturellen oder aus strukturellen Gründen?
Im zweiten Teil dieses Beitrags möchte ich einige Kriterien entwickeln, um zu beurteilen, ob man von Regionalismus in der deutschen Landwirtschaft zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg sprechen kann und in welchem Maß dieser Regionalismus die Entwicklung beeinflußt hat. Es ist nicht meine Absicht, eine Revision der angesehensten, bereits erwähnten, historiographischen Interpretationen vorzulegen, schon deshalb, weil die neue Historiographie zumindest in den letzten fünfzehn Jahren großes Gewicht auf diesen Aspekt gelegt hat. Auch kann ich hier nicht das Problem in all seinen Aspekten behandeln. Ich werde mich auf einige Hinweise beschränken und mich dabei vor allem auf die Frage konzentrieren, ob der Regionalismus ein strukturelles Element der deutschen Landwirtschaft ist oder ob er nicht vorwiegend bloß in besonders schwierigen konjunkturellen Situationen in Erscheinung tritt. Eine erste Grundtatsache sind die tiefen, bereits statistisch feststellbaren Unterschiede in der deutschen Landwirtschaft. Ich möchte nur kurz daran erinnern, daß eine starke bürokratische Tradition dazu geführt hat, daß bereits für den Zeitraum vor der Reichsgründung 1871 die Agrarstatistiken dank ihrer Konsequenz und Präzision ein grundlegendes Instrument für die Historiker darstellen. Unstreitig stellt der Dualismus zwischen Ost und West ein grundlegendes und langfristiges Element in der deutschen Agrargeschichte dar. Seine Ursprünge gehen bis auf die sogenannte deutsche Ostsiedlung zurück, bei der slawische Sozialstrukturen verdrängt oder symbiotisch überformt wurden. 37
Vgl. F Lütge, Geschichte der deutschen Agrarverfassung, Stuttgan 1963.
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Dieser Dualismus wird deutlich, wenn man die Verteilung der Landwirtschaftsbetriebe nach Größenordnungen analysiert. Betrachten wir die Statistik von 1895, die zweite nach der Einheit. In den Westgebieten war der Prozentsatz von Betrieben mit über 100 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche nur in zwei Fällen höher als 10% der bebauten Fläche; diese Fälle waren Braunschweig und Schleswig-Holstein. In Ostelbien lagen die Dinge völlig anders: 60,7% der Nutzfläche gehörten in Mecklenburg-Schwerin Betrieben, die über 100 Hektar Grund bewirtschafteten, 55,1% in Pommern und 52,2% in Posen. Umgekehrt verhält es sich mit den weniger als zwei Hektar großen Einheiten. In einigen Fällen konnte es sich um Betriebe handeln, die auf eine Produktion mit hohem Mehrwert spezialisiert waren (z.B. den Weinanbau), aber meistens handelte es sich um nicht selbständige Kleinbetriebe. Diese Art von Betrieben deckte prozentuell eine Fläche ab, die in acht Territorien von zwölf über dem nationalen Durchschnitt lag, mit Spitzen von 13,2% in Baden und 12,8% im Rheinland. Ihr prozentueller Anteil lag hingegen in nur vier östlichen Territorien von zwölf über dem Reichsdurchschnitt (5,5%), mit einer Spitze von 7,1% in Sachsen-Anhalt. Im Westen waren im Vergleich zum Osten Betriebe mit 2 bis 20 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche sehr viel stärker vertreten; sie machten die Hälfte der bebauten Fläche in sieben westlichen Territorien aus, mit Spitzen in Hohenzollern (73,6%), in Hessen (71,5%) und in Baden (71,1%), aber nur in einem östlichen Territorium: in Sachsen-Weimar mit 56,8% der bebauten Fläche. Was die Betriebe mit 20 bis 100 Hektar angeht, so gab es hier zahlreiche Übergänge. Sie erreichten in den westlichen Territorien sowohl hohe (über 40% in Schleswig, im Hannoverschen und im Oldenburgischen) als auch tiefe Prozentanteile (in fünf Territorien besaßen die Betriebe dieser Größenordnung weniger als ein Fünftel der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche). In allen östlichen Gebieten übertrafen die mittleren Betriebe 20% der bebauten Fläche, aber in keinem Gebiet übertrafen sie 40%. Sehr deutlich war der Unterschied zwischen Ost und West auch im Hinblick auf eine andere grundlegende Komponente: die Verteilung der Lohnarbeiterschaft Diese konzentrierte sich vor allem in den großen Gutsbetrieben im Osten, wo auch eine große Anzahl von Saisonarbeitern beschäftigt war, die vorwiegend aus Rußland kamen. 1907 beschäftigten die großen Gutsbetriebe (mit über 100 Hektar) im Durchschnitt 34 ständige Lohnarbeiter und 17 Saisonarbeiter. Aber auch in einigen westlichen Gebieten waren die Lohnarbeiter stark vertreten, wenigstens in einigen Gebieten mit großen bäuerlichen Nutzflächen. So kamen in der stark industrialisierten Umgebung von Wiesbaden auf jeden helfenden Familienangehörigen 19 Lohnarbeiter, und in Braunschweig war dieses Verhältnis 1 zu 15. Demgegenüber konnten Millionen von bäuerlichen Betrieben nur dank der Arbeit von Millionen von Bauern, ihrer Ehefrauen und Kinder bewirtschaftet werden. Der Ost-West-Dualismus ist zweifellos ein sehr wichtiges Untersuchungskriterium, auch im Hinblick auf das unterschiedliche Gewicht der wichtigsten Produktionen. Im Osten herrschte neben dem Anbau von Kartoffeln und
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Zuckerrüben die Getreidewirtschaft vor, während im Westen, von spezialisierten agrarwirtschaftlichen Produktionen wie dem Weinbau abgesehen, die Viehwirtschaft (Fleisch und Milch) am stärksten vertreten war. Dennoch löste der schnelle und intensive Industrialisierungsprozeß seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts starke Auswanderungswellen aus und führte zu einer massiven Landflucht. Das Bild der deutschen Agrargesellschaft wurde auf diese Weise sehr vielfältig. Den offiziellen Statistiken entsprechend waren 1882 die Gebiete, in denen der Prozentsatz von Beschäftigten in der Landwirtschaft am höchsten war: Ostpreußen (66,7%), Westpreußen (63,1%), Bayern (62,5%), Rheinland-Pfalz (58,7%) und Pommern (57,9016). Die Schlußlichter waren das Königreich Sachsen (23,5%) und der preußische Bezirk Düsseldorf (23,6%). Am Vorabend des Krieges zeigen die Statistiken von 1907 ein reichlich verändertes Bild: Ostpreußen (58,3%), Westpreußen (54,6%), Pommern (51,5%), Bayern (50,9016), Mecklenburg (48%). Der Vergleich zeigt, daß bei allgemein sinkenden Beschäftigungszahlen im Primärsektor die Ostgebiete eine vorwiegend ländliche Prägung behalten hatten, obwohl die wirtschaftlich gedrücktesten Landstriche in den Jahrzehnten um 1900 durch eine sehr starke Abwanderung von Arbeitskräften gekennzeichnet waren, die von der rapiden industriellen Entwicklung in die westlichen Regionen gezogen wurden. Auch in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wies die deutsche Landwirtschaft in sich starke Unterschiede auf. Während nach der Statistik von 1925 der durchschnittliche Anteil von Beschäftigten im Primärsektor im Reich auf 30,5% gesunken war, blieb er in den Ostgebieten weit höher: In Posen betrug er 60,9016, in Ostpreußen 55,7%, in Pommern 50,7% und in Oberschlesien 43% (aber in Bayern 43,8%)38. Der Großgrundbesitz behielt ein großes Gewicht, obgleich er gegenüber früher zurückging. Nach der Statistik von 1933, gehörten 19,90/o der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Betrieben mit mehr als 100 Hektar. Aber dieser Durchschnitt wurde in einigen Ostgebieten bei weitem übertroffen: Mecklenburg (54%), Stettin (49,0%), Königsberg (46,1 %), Anhalt (35,9016). Im Gegensatz dazu besaßen die großen Gutsbetriebe im Rheinland, in Hessen, in Bayern und in Württemberg im Durchschnitt 2 bis 7% der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Die anderen wichtigen Sparten der landwirtschaftlichen Betriebe zeigen weitere starke regionale Differenzierungen. Betrachten wir, anhand der Statistiken von 1933, den Viehbestand der landwirtschaftlichen Betriebe: Im nationalen Durchschnitt kamen auf jeden Betrieb 14,9 Pferde und 58,9 Rinder. Die Distrikte, in denen der prozentuelle Anteil von großen Gutsbetrieben am höchsten lag, weisen im Hinblick auf die Anzahl von Pferden andere Daten auf: Westpreußen 33,7, Mecklenburg 32,5, Königsberg 30,6 und Stettin 28,7. Die landwirtschaftlichen Betriebe im Rheinland, in Baden und in Hessen nahmen die unteren Plätze der Aufstellung ein; sie hatten oft (im Durchschnitt) weniger als ein Pferd zur Verfügung. Was den Rinderbestand betrifft, so wurde das Verhältnis zwischen dem prozentuellen 38 H. Raupacb, Der interregionale Wohlfahrtsausgleich als Problem der Politik des Deutschen Reiches, in: W Conze I H. Raupacb, Die Staats- und Wirtschaftskrise des Deutschen Reiches, Stuttgart 1967, S. 17.
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Anteil der Großbetriebe und der höheren Zahl zur Verfügung stehender Rinder im allgemeinen eingehalten. Es gab jedoch einige relevante Ausnahmen. So steht Schleswig an erster Stelle mit 121,4 Rindern pro Betrieb. Groß waren die Rinderbestände auch in anderen Gebieten der Mitte und des Nordens, wo der Prozentsatz von Betrieben mit über 100 Hektar deutlich unter dem nationalen Durchschnitt lag: Aurich zählte 75,9 Rinder, Lübeck 88,7 und Leipzig 69,6. Die Statistiken über die Arbeitskräfte zeigen, daß die in den Ostgebieten des Reichs konzentrierten Großbetriebe über eine sehr hohe Anzahl von Lohnarbeitern verfügten. Der nationale Durchschnitt lag bei 16,6 Lohnarbeitern, aber diese Zahl wurde deutlich überschritten in Ost- und Westpreußen, Brandenburg, Pommern und Schlesien, bei einer Spitze von 38,4 Lohnarbeitern pro Betrieb im schlesischen Distrikt Oppeln. Auf eine hohe Anzahl von Lohnarbeitern stößt man auch in Sachsen, Braunschweig, Lippe und Anhalt, die jedoch nicht durch ein so starkes Übergewicht an Großbetrieben gekennzeichnet waren39. Einige Hinweise nun auf das politische Verhalten der Landbevölkerung, wie es sich in den Wahlstatistiken, aber auch in der Entwicklung der Parteien und der Interessenverbände darstellt. Das Wahlverhalten in den Landbezirken war durch vielfältige Faktoren bedingt, unter denen sicher die Konfession ein sehr starkes Gewicht hatte. Sie flankierte ideologische und soziale Gesichtspunkte bei der Orientierung der politischen Entscheidungen der Bauern und ihrer Familien. Aber es fehlten auch nicht Iokalistische Elemente. Lang überdauerte die Fähigkeit der Junker, den Konsens der Bauern zu organisieren, deren Vorfahren jahrhundertelang innerhalb der ostelbischen Gutsherrschaft untertänig gewesen waren40 • Die Wahlergebnisse von 1907 zeigen deutlich die im Verhältnis zu den Westprovinzen oder auch den anderen Parteien unterschiedliche Fähigkeit der Großgrundbesitzerschicht (die fast ausschließlich in der konservativen Partei organisiert war), den Konsens in den ostelbischen Provinzen herzustellen. Bei einem Anteil der Wähler, der im Verhältnis zur Gesamtzahl im Reich knapp unter 30o/o lag, gewann die konservative Partei in jenen Gebieten 24,4o/o der Stimmen, gegenüber 13,4o/o für die Fortschrittspartei, 5,8o/o für die Freikonservativen und 3,2o/o für die Nationalliberalen. In den Gebieten westlich der Eibe konnten die Konservativen gerade 3,8% der Stimmen für sich verbuchen gegenüber 18,4o/o, die den Nationalliberalen zufielen41 . Diese Fähigkeit der Junker zur Hegemonie dauerte im wesentlichen bis 1930 an, als der Triumphzug der nationalsozialistischen Partei in allen Wähler39 Eine detaillierte Analyse der Agrarstruktur zwischen den beiden Weltkriegen in M. jatzlauk, Untersuchungen zur sozialökonomischen Struktur der deutschen Landwirtschaft zwischen den beiden Weltkriegen, Diss., Rostock 1983.
40 Vgl. M.L. Anderson, Voters, Junker, Landrat, Priest: Old Authorities and the New Franchise in · Imperial Germany, in: American Historkai Review, 98 0993), S. 14481474. 41 Vgl. die vertiefte Studie von S. Suval, Electoral Politics in Wilhelmine Germany, Chapel Hili 1985, hier S. 110.
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schichten der Gesellschaft (auch unter konfessionellem Gesichtspunkt) einsetzte. Bei den Wahlen von 1928 war es der DNVP, der Nachfolgerio der konservativen Partei noch gelungen, die relative Mehrheit in zwei östlichen Wahlkreisen zu erreichen: Pommern (41,4%) und Ostpreußen (31,4%), wobei sie in sieben anderen Wahlkreisen 20% der Stimmen überschritt. Vier Jahre später brach die jetzt von dem radikalen Demagogen Alfred Hugenberg (der glaubte, auf gleicher Höhe mit Hitler zu sein) geführte Partei bei den Wahlen im Juli 1932 auch in diesen letzten Hochburgen zusammen. Die DNVP konnte einen Stimmenanteil von über 10% nämlich nur in Pommern (15,8%) und im Wahlkreis Potsdam II (10,9) behaupten. Demgegenüber verbuchte die nationalsozialistische Partei auch in den östlichen Wahlkreisen enorme Erfolge. Auf die Wahlen in der Endphase der Weimarer Republik werde ich später noch zurückkommen. Was die Kaiserzeit angeht, so sei darauf hingewiesen, daß wenigstens in zwei besonders akuten Krisenphasen die Stimmen der Bauern sich je nach Ortszugehörigkeit aufsplitterten. Das bedeutendste Beispiel ist der bereits erwähnte "Bayerische Bauernbund", der 1893 gegründet wurde im Zusammenhang mit der harten Reaktion der Agrargesellschaft gegen das Vorhaben des Reichskanzlers Caprivi, die Schutzzölle abzuschaffen. Diesen Interessenverband gab es nur in Bayern; er stützte sich sowohl auf den starken Regionalpartikularismus als auch auf eine populistische und egalitäre, z.T. antisemitische und dezidiert gegen die Vorherrschaft des bayerischen Klerus gerichtete Ideologie. Das Programm des "Bauernbunds" war eine kuriose Mischung von ,reaktionären' und ,fortschrittlichen' Elementen. Es enthielt auch die Forderung nach Agrarreformen zugunsten der Kleinbauern. Der "Bauernbund" ging sogar über sein Modell, den "Bund der Landwirte", hinaus und beschloß, unmittelbar in die politische Auseinandersetzung einzugreifen. Er stellte eigene Wahllisten zusammen und erhielt bei den Wahlen von 1907 zum bayerischen Landtag sogar 10% der Stimmen. Der "Bauernbund" setzte seine Tätigkeit auch nach dem Ersten Weltkrieg fort und trat eindeutig für die Republik ein. Gleichzeitig nutzte er die Opfermentalität und die Frustration der Landbevölkerung aus und verlangte zu ihren Gunsten eine Reihe von Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in verschiedenen Gebieten des Reichs eine Reihe von Parteien, die den Antisemitismus zum tragenden Pfeiler ihrer Ideologie machten. Diese meist kleinen und in begrenzten Gebieten des Landes konzentrierten Parteien sahen in einer "jüdischen Verschwörung" (die ihrer Meinung nach die Linke und das Großkapital vereinte) die Hauptursache für die Krise, in die die deutsche (und europäische) Landwirtschaft im letzten Drittel des Jahrhunderts geraten war. Von Ideologen geführt, die kaum Skrupel hatten, aber geschickte Redner und Demagogen waren, wie 0. Boeckel und H. Ahlwardt, versuchten diese Parteien vergebens, ein dauerhaftes Bündnis einzugehen; in Wirklichkeit verfingen sie sich in Rivalitäten und wechselseitigen Konflikten42 . Diese Vielzahl kleiner antise42 Vgl. P Putzer, The Rise of Political Antisemitism in Germany and Austria, New York 1964.
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mitischer Parteien gelangte mit den Wahlen von 1893 auf den Höhepunkt ihres Erfolgs, als es ihnen gelang, 17 Abgeordnete in den Reichstag zu entsenden und 200.000 Stimmen für sich zu verbuchen. Diese Stimmen entfielen hauptsächlich auf Sachsen, Hessen und Kassel. Das zeigt, daß die antisemitischen Parteien eine starke, wenngleich fest umgrenzte lokale Verwurzdung aufwiesen. In den darauffolgenden Jahren löste sich der Erfolg dieser Parteien vollkommen in Luft auf, aber sicherlich eher aufgrund ihrer ideologischen und organisatorischen Schwäche und nicht etwa wegen der schwindenden Attraktivität des antisemitischen Themas. Wie sich in den darauffolgenden Jahren zeigte, blieb die Tendenz zur Suche eines Sündenbocks in weiten Teilen der ländlichen Gesellschaft in Deutschland stark43 • Die Verschränkung von Interessenverbänden und Politik war in jener Phase sehr eng. So war auch im katholischen Bereich das Netz landwirtschaftlicher Vereine, der sogenannten "Christlichen Bauernvereine", eng mit der Zentrumspartei und der Kirchenhierarchie verbunden44 . Faktisch waren die Bauernvereine nicht in der Lage, einen ihrer quantitativen Größe entsprechenden politischen Einfluß auszuüben, vor allem deshalb, weil sie sich auf regionaler Basis konstituiert hatten. Der Ursprung der Bauernvereine geht auf das Jahr 1862 zurück, als der adelige Großgrundbesitzer Freiherr von Schorlemer-Alst einen Bauernverein in Westfalen gründete. Schorlerner hatte eine deutlich ständisch orientierte ideologische Einstellung und ein stark lokalistisches Interesse. Endziel war die Bildung eines christlichen Staats, in dem der Bauernstand eine entscheidende Rolle spielen sollte. Dieses ideologische Korsett schränkte in nicht unerheblichem Maß die Handlungsfreiheit der Bauernvereine auf politischer und praktischer Ebene ein. Das Beispiel Schorlerners wurde in Schlesien, Hessen, Bayern und in zahlreichen anderen stark katholischen Regionen nachgeahmt. In den darauffolgenden Jahrzehnten fanden intensive Diskussionen darüber statt, wie man die Bauernvereine zusammenschließen konnte, denn man war sich bewußt, daß ihre Uneinigkeit die Schwäche der katholische Bauern erhöhte. Aber erst während des Ersten Weltkriegs wurde die ..Vereinigung der deutschen Bauernvereine" ins Leben gerufen. Auch die rasante Entwicklung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens in Deutschland hatte ein doppeltes Merkmal: einerseits einen allgemeinen ideologischen Rahmen, der ständisch und industriefeindlich war und darauf abzielte, möglichst wirksam die Interessen der ländlichen Bevölkerung zu verteidigen, andererseits eine nicht unbedeutende Iokalistische Komponente. Diese Duplizität wird ganz deutlich, wenn man die quantitative und qualitative Entwicklung des ländlichen Genossenschaftswesens untersucht, das gleichzeitig aus den Lehren (und praktischen Initiativen) von Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Wilhelm Haas hervorging. Diese beiden Reformatoren, die zur persönlichen Umsetzung ihrer Ideen bereit waren, führten nicht ohne
43
Vgl. D. Peal, Antisemitism by Other Means, in: Leo Baeck Yearbook, 32 (1987).
44
F jacobs, Von Schorlerner zur Grünen Front, Düsseldorf 1957.
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Mühe die Konzeption der Genossenschaft im landwirtschaftlichen Bereich ein. Die Unterschiede zwischen den beiden Strömungen, die sich seit den siebziger Jahren bemerkenswert schnell entwickelten, sind alles in allem geringfügig. Raiffeisen sah im Kreditwesen den Schlüssel zur Entwicklung der kleinen Betriebe, während Haas mehr die mittelgroßen, marktorientierten Bauern der mittleren und südlichen Regionen im Blick hatte. Im Gründungsjahr der "Vereinigung der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften" 1883 existierten jedenfalls im Reich 1.050 landwirtschaftliche Genossenschaften. Vor dem Krieg waren es bereits 28.138. Hier interessieren vor allem die Zahlen zu ihrer regionalen Verteilung. In Bayern gab es 1890 370, in Württemberg 322, im Rheinland 277, in Hessen 263, aber in Mecklenburg-Strelitz nur 16, in Brandenburg 34 und in Westpreußen 40 Genossenschaften. Anfang des 20. Jahrhunderts entfielen von den 12.736 eingetragenen Genossenschaften 6.692 auf die westlichen, 3.384 auf die östlichen und 955 auf die nördlichen Provinzen (Schleswig-Holstein und Hannover). Aber nicht nur die absoluten Zahlen machen den Unterschied zwischen Ost und West deutlich. Die Statistiken von 1912 zum Anteil der in den Genossenschaften eingetragenen Landwirte (im Verhältnis zur Gesamtzahl der existierenden Betreibe) zeigen, daß der Prozentsatz der in das Genossenschaftswesen eingebundenen Bauern in den westlichen Regionen sehr viel höher lag als in den östlichen. Die Reihenfolge wurde angeführt von Hessen-Nassau, wo 45.5% der Bauern in Genossenschaften eingetragen waren. Eng beieinander lagen Hannover und das Rheinland. Von den östlichen Provinzen hielt sich nur das katholische Schlesien mit 45,3% eingetragenen Bauern auf solch hohem Niveau. Die anderen östlichen Regionen wiesen viel niedrigere Prozentsätze auf; die niedrigsten verzeichnen die beiden Teile Mecklenburgs: Schwerin mit 18% und Strelitz mit 10%. Dieser deutliche Abstand hing offensichtlich mit sozialen, politischen und Vereinstraditionen zusammen, die von Region zu Region völlig verschieden waren, auch wenn die Unterschiede nicht schematisch auf die genossenschaftsfeindliche Einstellung des Junkerturns zurückgeführt werden können. So waren etwa in den Kornhandelsgenossenschaften die Großgrundbesitzer in großer Anzahl vertreten. Die starke Beteiligung der Großgrundbesitzer am Genossenschaftswesen ist deutlich durch die Verbreitung der Milch- und Käsegenossenschaften belegt. Die durchschnittlich von jedem Mitglie