Hochmittelalterliche Territorialstrukturen in Deutschland Und Italien (Schriften Des Italienisch-deutschen Historischen Instituts in Trient, 8) (German Edition) 342808683X, 9783428086832


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Hochmittelalterliche Territorialstrukturen in Deutschland Und Italien (Schriften Des Italienisch-deutschen Historischen Instituts in Trient, 8) (German Edition)
 342808683X, 9783428086832

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Hochmittelalterliche Territorialstrukturen in Deutschland und Italien

Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 8

Hochmittelalterliche Territorialstrukturen in Deutschland und Italien

Herausgegeben von

Giorgio Chittolini

Dietmar Willoweit

Duncker & Humblot · Berlin

Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient Hochmittelalterliche Territorialstrukturen in Deutschland und Italien 35. Studienwoche 7.-12. September 1992 Leiter der Studienwoche Giorgio Chittolini Dietmar Willoweit Italienische Ausgabe L'organizzazione del territorio in Italia e Germania: secoli XIII-XIV (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Quademo 37), il Mulino, Bologna 1994 Übersetzung der italienischen Texte Judith Elze Friederike C. O,ursin Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Istituto Storico Italo-Germanico (Trento): ... Studienwoche I Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient. - Berlin : Duncker und Humblot Früher Schriftenreihe NE: ... Studienwoche 35. Hochmittelalterliche Territorialstrukturen in Deutschland und Italien. - 1996 Hochmittelalterliche Territorialstrukturen in Deutschland und Italien : [7.- 12. September 1992] I [Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient. Übers. der ital. Texte Judith E1ze ; Friederike C. Oursin]. Hrsg. von Giorgio Chittolini ; Dietmar Willoweit.- Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (... Studienwoche I Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient ; 35) (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient ; Bd. 8) Einheitssacht.: L'organizzazione del territorio in Italia e Germania (dt.) ISBN 3-428-08683-X NE: Chittolini, Giorgio [Hrsg.]; EST; Istituto Storico Italo-Germanico (Trento): Schriften des Italienisch-Deutschen . .. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0939-0960 ISBN 3-428-08683-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 I§

Inhaltsverzeichnis

Giorgio Cbittolini Territoriale Organisation und Stadtbezirke im spätmittelalterlichen Italien . . • • • • • • • • • . • • • • • • • • • • . • • .

7

Dietmar Willoweit Spätmittelalterliche Staatsbildung im Vergleich. Zur Erforschung der deutschen hoch- und spätmittelalterlichen Territorialstrukturen. • • • • • • . . • • • • • • • • . . . •

23

Wilbelm Brauneder Die Territorialstrukturen im süddeutsch-österreichischen Raum. . . . . . . • . . • • . • . . • • • . . • . . • • . • • • . . . •

31

Paolo Cammarosano Die Organisation der territorialen Mächte in den Alpen. • . . • • • . . . . • • • • . • • . • • . • • • • • • • . • • • . • . • .

53

Guido Castelnuovo Regionale Fürstentümer und territoriale Organisation in den Westalpen: Savoyen (frühes 13. bis frühes 15. Jahrhundert). . . . • • • • • • • . • • . • • • • • • • • • • •

61

Wilbelm janssen Territorialbildung und Territorialorganisation niederrheinisch-westfälischer Grafschaften bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . • • • • . • . . • .

71

Gian Maria Varanini Die Organisation des städtischen Bezirks in der Poebene im 13. und 14. Jahrhundert (Mark Treviso, Lombardei, Emilia) • • • • . • • • • • • • . • • • . . • • • • • • • • . . •

97

Ganter Christ Kräfte und Formen geistlicher Territorialität im Hoch- und Spätmittelalter (am Beispiel des Erzstifts Mainz) • . • • . . • • • • • . • . • • • . . . . • . . . . • • • . . • • . • . • 173 Andrea Zorzi Die Organisation des Territoriums im florenUnisehen Gebiet im 13. und 14. Jahrhundert • • . . • • • • • • . • • 203

6

Inhaltsverzeichnis

Rudolf Endres Der Territorialaufbau und -ausbau in den Fürstentümern Ansbach und Bayreuth. • . • • • • . • . • . • . • • • • • • • 257 Bruno Figliuolo Historischer Abriß über die territoriale Struktur im mittelalterlichen Süditalien . . . • . . • . • . . . • • . . . . . . . . •

271

Pietro Corrao und Vincenzo D'Alessandro Verwaltungsgeographie und territoriale Macht im spätmittelaterlichen Sizilien (13.-14. Jahrhundert)

287

Thomas Klein Die Bildung der Territorialstaaten in den Gebieten zwischen Eibe/Saale und Oder: Meißen/Sachsen, Brandenhurg, Mecklenburg . . . . . . . . • . . . . . . . . . . • . . . 325 Cinzio Violante Schlußbemerkungen . . . . • . . • . • . . . • . . • . . . . . . . . . . . 359

Territoriale Organisation und Stadtbezirke im spätmittelalterlichen Italien Von Giorgio Chittolini•

Im Jahr 1989 galt die Studienwoche des Instituts dem Thema "Die Statuten der deutschen und italienischen Städte". Damals wurden in bezug auf die städtische Welt normative Entstehungs- und Erstellungsprozesse sowie Definierungsprozesse von Rechtsordnungen untersucht. Miteinbezogen in diese Analyse wurden oft jene Rechtsordnungen, die den umfassenderen Prozeß der politisch-territorialen Neuordnung betrafen und der nach dem Jahr 1000, entsprechend den neuen Grundzügen der europäischen Gesellschaft und dem im Entstehen begriffenen neuen System der wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen, Gestalt annahm. Diese Analyse hatte schon damals das Ausmaß und die territorialen Bereiche jener Prozesse berücksichtigt, und zwar sowohl im Hinblick auf die Behauptung der Städte als auch bezüglich ihrer Stellung innerhalb ausgedehnterer Komplexe: Die Akten der Studienwoche bekamen denn auch den Titel "Statuten, Städte und Territorien zwischen Mittelalter und Neuzeit in Italien und Deutschland 1 • Dieses Jahr soll im Rahmen desselben allgemeinen politischen Organisationsprozesses speziell die territoriale Dimension untersucht werden. Eines seiner einzigartigsten und bedeutsamsten Ergebnisse war in Italien bekanntermaßen die Entstehung städtischer Territorien ~>der ,Stadtstaaten', die schon in der vorausgegangenen Woche untersucht wurden (die in gewisser Weise Voraussetzung für das Seminar dieses Jahres ist) und auch diesmal behandelt werden sollen. Aber die städtische Organisation des Territoriums in all ihren Spielarten - ist nur eines der Ergebnisse eines allgemeineren Prozesses, der sich formell und chronologisch unterschiedlich in ganz Europa vollzieht (und der auch in verschiedenen Regionen Italiens, im Vergleich zu den Stadtstaaten, zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen führt). Diese umfassende politisch-territoriale Entwicklung sollte in verschiedenen Gebieten Italiens und Deutschlands untersucht werden, um die jeweiligen Träger, Mechanismen und Ergebnisse in den Blick zu bekommen. Und das in einem Zeitraum- um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert-, in dem diese Entwicklung wichtige Phasen durchmacht: und zwar die zunehmende VerDeutsch von Friederike C. Oursin. Berlin 1992; in der italienischen Ausgabe: Statuti, citta, territori in Italia e in Germania tra medioevo ed eta moderna, Bologna 1991.

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Giorgio Chittolini

wirklichung eines Territorialitätsprinzips2 in der politischen Organisation, was diese Phase von vorhergegangenen Ordnungen unterscheiden würde; der Beginn (wie des öfteren betont wurde) eines regelrechten Staatsbildungsprozesses auf territorialer Basis3 . 1. Die Grundzüge dieses Prozesses ließen sich vielleicht wie folgt darstellen: im Rahmen des Aufbruchs1 und unter dem Druck von damit einhergehenden, immer komplizierter werdenden sozialen und politischen Beziehungen (eine Intensivierung, wenn man so will 5) entsteht im Hinblick auf die alten und neuen Rechte und Interessen der verschiedenen Träger (signori, Bürger, Bauern) - sowohl im lokalen Bereich als auch in ausgedehnteren Dimensionen - die Notwendigkeit nach einheitlieberen politisch-territorialen Ordnungen. Diese Bedürfnisse fördern die Suche nach immer neuen Ordnungen. Und Ein Prozeß, der außerdem schon vorher, nach dem 10. Jahrhundert, auf lokaler Ebene angelaufen war, in einer Epoche .,qui ne cesse d'enqueter, de delimiter, de hierarchiser". Vgl. für Italien C. Violante, La signoria territoriale come quadro delle strutture organizzative del contado nella Lombardia del secolo XII, in: W Paravicini I K.F. Werner (Hrsg.), Histoire comparee de l'administration (IV-XVIIIe siede), [Beiheft der .,Francia", IX, 1980], München 1980, S. 333-344; ders., Le strutture organizzative della cura d'anime neUe campagne dell'Italia centro-settentrionale (secoli V-X), Sonderdruck von: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica neUe campagne dell'alto Medioevo: espansioni e resistenze [28. CISAM-Woche], Spoleto 1982, S. 963-1158, S. 1144 ff.; für Frankreich G. Duby, Le Moyen .Ä.ge, 987-1460, Paris 1987, S. 87 ff. (insbesondere zum Begriff des .,encellulement", das von R. Fossier aufgegriffen wurde). Für den deutschen Raum einige bibliographische Hinweise in: H. Jakobs, Kirchenreform und Hochmittelalter, 1046-1215, 2. Aufl., München 1988, S. 9, 155-156. Und das für den deutschen Raum hauptsächlich gleichzeitig mit der Behauptung der territorialen Fürstentümer (wenn auch in Etappen und Phasen): vgl. P. Fried, .,Modernstaatliche" Entwicklungstendenzen im bayerischen Ständestaat des Spätmittelalters. Ein methodischer Versuch, in: H. Patze (Hrsg.), Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, 1-2, Sigmaringen 1970-71, S. 301-341 (zu der Unterscheidung von 0 . Hintze .,Verdinglichung/Versachlichung"). 4 Vgl. K . Bosl, Europa im Aufbruch. Herrschaft, Gesellschaft, Kultur vom 10. bis zum 14. Jahrhundert, München 1980. Zum Aufbruch-Begriff, so wie ihn Bosl meint, siehe 0. Capitani in der Einleitung zur italienischen - nicht integralen - Version des obengenannten Werkes (0. Capitani, Introduzione all'edizione italiana, in: K. Bosl, II riseveglio dell'Europa: l'Italia dei comuni, Dologna 1985, S. IX-XXII). 5 F. Seibt, Von der Konsolidierung unserer Kultur zur Entfaltung Europas, in: Th. Schieder(Hrsg.), Handbuch der europäischen Geschichte, II (hrsg. von F. Seibt), Stuttgart 1979, insehesondere S. 59 ff., 89-95, 108-115, 160-173. Für ähnliche Begriffe vgl. auch R. Sprandel, Verfassung und Gesellschaft im Mittelalter, Paderborn 1975, S. 120 ff.; und zu den Überlegungen auf der politischen Ebene (die .,Herrschaftsintensität" Hintzes, oder die .,Steigerung der politischen Intensität und des staatlichen Bewuli\tseins" G. Oestreichs) vgl. P. Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter, 1250-1490, nerlin 1985; D. Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: K.G.A . feserieb I H. Pohl I G. -Ch . von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, I: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 66-143, S. 73 ff.; D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Von Frankreich bis zur Teilung Deutschlands, München 1990, S. 93 ff.

Territoriale Organisation und Stadtbezirke im spätmittelalterlichen Italien

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inmitten der starken Zersplitterung des 10. und 11. Jahrhunderts beginnt sich eine doppelte Tendenz abzuzeichnen: a) die Ausbildung genauer umrissener und festgefügterer lokaler, kirchlicher und weltlicher (herrschaftlicher, städtischer und ländlicher) Organismen, b) auf tendenziell breiterer Skala die Koordinierung dieser Territorien -gemäß politischer, steuerlicher und administrativer Rangordnungen - in größere regionale oder staatliche Strukturen (Fürstentümer und Königreiche). Auf dieser allgemeinen Betrachtungsebene ist dieser Prozeß ganz Westeuropa gemeinsam. Seine Träger sind auf dem Niveau der einfachsten territorialen Kernstücke und Zellen, einerseits die lokalen Herrschaften, die im Zuge intensiver Tätigkeit den schon zuvor angelaufenen Prozeß der Territorialisierung vorantreiben und danach trachten, ihre Hegemonie über relativ kompakte und untereinander besser koordinierte Gebiete auszubauen. Auf der anderen Seite stehen städtische, aber auch ländliche und Gebirgsgemeinschaften, die auch an der Bildung eines eigenen Territoriums arbeiten. Auf einem höheren Niveau, auf regionaler oder staatlicher Skala, zeigt sich dieselbe Tendenz zur Territorialisierung und zur Koordinierung im Handeln von höheren Gewalten: mächtigere Territorialherrschaften, Fürsten und Souveräne, die auf der breiteren Ebene der Königreiche und Fürstentümer vorgehen. Weiterhin - schematisch vereinfacht - lassen sich auch einige unter den meist verbreiteten Ergebnissen ausmachen: Ergebnisse, die von der geographischen Lage abhängen und von den Verhältnissen der vorausgegangenen Ordnung, von der unterschiedlichen Zusammensetzung der im Spiel befindlichen Kräfte und den verschiedenen Modellen territorialer Organisation (territoriale Zusammenfassung oder elastischere Gliederung6). Auf lokaler Ebene - und zwar als Fortsetzung schon zuvor angelaufener Prozesse - zeichnen sich relativ kompakte Territorien ab. Sie sind größer und in sich fester gefügt als zuvor und gruppieren sich um Herrschaften, städtische Zentren und ländliche Gemeinschaften. Dabei werden Grenzen festgelegt und gerichtliche, steuerliche, kirchliche usw. Zuständigkeiten präsiziert. Auf einer ausgedehnteren Skala - und diese interessiert uns hier am meisten - kommt es zu verschiedenen Formen der Koordinierung kleinerer Territorien. Dies kommt bisweilen auf im weiten Sinne föderalistische Weise zustande: auf Betreiben von städtischen oder, seltener, (auf einer tieferen Herrschaftsebene) ländlichen Genossenschaften: städtischen Bünden und Konföderationen, wie der schweizerischen7• Nur selten werden diese OrganisC. Violante, Per una storia degli ambici. La spazialica nella scoria, in: Studium, (1991), S. 861-879. Die .,genossenschaftliche Form" im Gegensatz zur .,herrschaftlichen Form", die beiden Arten der .,Staatsbildung", die Oestreich in der deutschen und europäischen Geschichte ausmacht: G. Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelaltersbis zum Ende des alten Reiches, in: B. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschich-

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Giorgio Chittolini

men zu ausgedehnten und geschlossenen Strukturen territorialer Organisationen: Es entstehen vielmehr Verbindungen von präexistenten Kernstücken, die große Autonomiesphären beibehalten. Was die Koordinierung betrifft, ist oft das Vorgehen der fürstlichen und königlichen Kräfte von größerer Effizienz; auch sind sie besser in der Lage, kleinere Territorien einzugliedern. Aber nicht einmal Fürsten und Souveränen gelingt es, eine wirklich durchdringende Homogenisierung und Zusammenfassung des Territoriums durchzuführen. Sie führen jedoch Instrumente ein (Lehensverträge, Herrschaftsverträge usw.), die die Koordinierung und Hierarchiesierung der (alten und neuen) kleineren territorialen Organismen leisten. Innerhalb dieser ausgedehnteren Kontexte versuchen sie außerdem ihre Vorherrschaft auf einem breiteren Niveau durchzusetzen, um sich Eingriffsmöglichkeiten zu sichern, um die untergeordneten Gewalten zu unterwandern und zurückzudrängen, um die nur unmittelbar beherrschten Territorien in eine Bezirksaufteilung nach Provinzen und Kreisen einzufügen, denen ihre Beamten vorstanden (mit dem Maß an Autorität, das sie von Fall zu Fall sich anzueignen vermögen). Es handelt sich um Verwaltungs- und Regierungsstrukturen, deren Festigkeit oft ganz gering ist, die aber im Stande sind, relativ ausgedehnte Territorien politisch und admistrativ einzuordnen. Das Vorgehen der Fürsten und Souveräne kann bisweilen zur Entstehung komplexer und ausgedehnter Körperschaften führen, innerhalb derer - wie in Frankreich oder England - relativ früh ein monarchischer Staatsbildungsprozeß einsetz~. In anderen Fällen bleibt die Tragweite dieser territorialen Organisation auf geringere, provinzielle und regionale, Dimensionen beschränkt, auf ,Fürstentümer' wie die deutschen oder jene, die sich an der Grenze der Kapetinger Monarchie in Frankreich befinden. An diesem Prozeß nimmt auch Italien teil, wo Territorien verschiedener Art nach unterschiedlichen Modellen entstehen. Im folgenden möchte ich eine Reihe zusammenfassender Überlegungen zum ,Stadtstaat' anstellen, der sich am ,modernen' Territorialstaatsprinzip ausrichtet und deshalb das vielleicht typischste und wichtigste Herrschaftsgebilde Mittel- und Norditaliens darstellt. Einleitend zu den Organischeren und detaillierteren Beiträgen der Referenten möchte ich hier einige Aspekte vorwegnehmen. 2. Die städtischen Territorien in Italien setzen sich, in ihrer charakteristischen Form als ,Stadtstaaten', bekanntermaßen im Po-Gebiet (Lombardei, Venetien, Emilia und besonders in der Poebene) und in der Toskana durch. te, hrsg. von H. Grundmann, 11, München 1974, S. 15. Zur föderativen und republikanischen Form als Alternative zu den territorialen Fürstentümern, vgl. F. Hartung, Der ständische Föderalismus der Neuzeit als Vorläufer des Bundestaats, Bern 1961. 8 Siehe die Beschreibung der politisch-territorialen Ordnungen Frankreichs zu Beginn des 14. Jahrhunderts von]. Strayer, The Reign of Philip the Fair, Princeton 1980, S. 100-236: eine Beschreibung, die die von der französischen Monarchie eingeführte Bezirksaufteilung untersucht.

Territoriale Organisation und Stadtbezirke im spätmittelalterlichen llalien

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Weitaus größer ist der Raum, in dem es zum Aufstieg der Städte kommt, das mehr oder weniger ganz Mittel-Norditalien umfaßt: Aufstieg der Städte in dem Sinne, daß die Städte sich als die wichtigsten sozialen und politischen Kräfte und als Angelpunkt der territorialen Organisation durchsetzen. Verschieden ist jedoch der Verwirklichungsgrad der Stadtstaaten und besonders eines Systems kompakter und dauerhafter Stadtstaaten. Nur im Po-Gebiet und in der Toskana kommt dieser Prozeß zu einem formellen Abschluß9 , so daß er sich deutlich von anderen Regionen (und anderen Entstehungsprozessen städtischer Territorien) in deutschen oder französischen Ländern abhebt. Es handelt sich hierbei um bekannte Merkmale. Wohlbekannt ist beispielsweise die Tatsache, daß die großen städtischen Territorien um Stadtgemeinden entstehen, die - wenn auch nicht ausnahmslos in allen Fällen - alten civitates und Bischofssitzen entsprechen. Bischofsstädte also, Zentren, die auf eine weit zurückreichende Tradition als territoriale, kirchliche und weltliche Hauptstädte zurückblicken können 10 und bereits im 12. Jahrhundert politische Vorherrschaft ausgeübt haben. Zentren, deren alte - besonders bischöfliche Bezirke sich als die Vorbilder für die contadi im kommunalen Zeitalter anbieten. Dieser Aspekt ist zum Verständnis des frühen Beginns und der ,Regelmäßigkeit' dieses Prozesses wichtig, und zwar im Hinblick auf die Unsicherheiten und Regelfallen 11 der analogen Entstehungsprozesse urbaner Territorien in Deutschland; auch weil dort viele Städte Neugründungen sind und somit keine territorialherrschaftlichen Traditionen besitzen. Von Bedeutung ist auch die Ausdehnung der Stadtbezirke. Im Herzen der Poebene, wie gesagt, -die mehr oder weniger das Quadrat zwischen Ivrea, Treviso, Bologna und Asti darstellt und die wichtigsten Zentren der Ebene umfaßt - entwickeln sich auf einer Fläche von vielleicht 50 000 km2 aus ca. 20 Stadtgemeinden Stadtstaaten. Die Ausdehnung ihrer Territorien ist unterschiedlich: von den ganz großen wie Mailand oder Bologna bis hin zu den 9 Für bibliographische Hinweise sei mir der Hinweis auf meine Arbeiten erlaubt: Städte und Regionalstaaten in Mittel- und Oberitalien zwischen spätem Mittelalter und Früher Neuzeit ("Der Staat", Beiheft 8), Berlin 1988, S. 179-200 und: Per una geografia dei contadi nell'Italia ,comunale', fra Medioevo ed Eta Moderna, in den Studien zu Ehren von D. Herlihy, im Druck. Für eine breite und informierte Erarbeitung des urbanen Phänomens in Italien, unter einer vorwiegend aber nicht ausschließlich demographischen Perspektive, vgl. M. Ginatempo I L. Sandri, L'Italia ·delle cittä. II popolamento urbano fra Medioevo e Rinascimento (secoli XIII-XVI), Firenze 1990. 10 Zu dieser Rolle der Stadt noch im vorkommunalen Zeitalter siehe die Beobachtungen von G. Tabacco, La citta vescovile nell'Alto Medioevo, und von R. Bordone, La citta comunale, in: P. Rossi (Hrsg.), Modelli di citta. Strutture e funzioni politiche, Torino 1987, bzw. S. 327-345 und 347-370. Vgl. auch A . Haverkamp, Die Städte im Herrschafts- und Sozialgefüge Reichsitaliens, in: F. Wittinghojf (Hrsg.), Stadt und Herrschaft: Römische Kaiserzeit und hohes Mittelalter (Historische Zeitschrift, Beiheft 7), München 1982, insbesondere S. 152-156, 170-171, 232-233. 11 H. Jsenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter, 1250-1500, Stuttgart 1988, S. 231 ff.; W Herbon, Reichsstädte, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, I, S. 659-679, S. 677 ff.

Giorgio Chinolini

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sehr viel kleineren wie Lodi und Alessandria. Die Ausdehnung ist jedoch im Durchschnitt relativ größer als die der Städte jenseits der Alpen, wo - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die durchschnittliche Größe von einigen Dutzend bis wenige hundert Quadratkilometer reicht. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Qualität und das Ausmaß der über diese Territorien ausgeübten Herrschaft Sie ist keineswegs das problematische Produkt einer .Konzentration von Herrschaftsbefugnissen" oder von .Rechten und Besitzungen" und stellt sich nicht als .Bündel von Einzelrechten" in den Händen eines Herren 12 dar; aus ihr ergibt sich vielmehr frühzeitig die Forderung nach voller und allgemeiner Souveränität, nach Zusammenfassung und Konzentration einzelner Herrschaftsrechte, nach einem Modell globaler Souveränität. Das geschah kraft weitreichender Hoheitsrechte, die vom Reich zugestanden oder usurpiert worden waren; Hoheitsrechte, die automatisch die Rechte der konkurrierenden territorialen Organismen aushöhlten und zurückstellten. Ziel war es, die mittelbaren und indirekten Herrschaftsformen auszuschalten und ein System kleinerer Bezirke mit Bürgern als Amtsträger an ihrer Spitze (Beamte: Podestä, Vikare usw.) zu schaffen, das Recht und das Gesetz - wie im vorausgegangenen Seminar deutlich geworden ist - sowie die Steuerund Rechtsordnung der Stadt auf das gesamte Territorium auszudehnen. Dieses Modell sollte sich konkret umsetzen; und - wie der in diesem Band enthaltene Beitrag Varaninis für die Lombardei, Venetien und die Emilia aufzeigt - wurde es besonders in der ausschlaggebenden Periode der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit unterschiedlicher Energie und relativ differenzierten Ergebnissen, in Folge auch der Unterschiedlichkeit der politischen Ordnungen und Gefüge, verfolgt und eingeführt Und weiter ließen, an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert, die herrschaftlichen und fürstlichen Ordnungen bisweilen alten und neuen Autonomiebestrebungen Raum, die die Gebirgszonen und die ,kleineren Zentren' der Ebene belebten; bisweilen wurden in Form von Lehen lokale Herrschaftsgewalten anerkannt und eine große Anzahl neuer Lehen vergeben13 . So konnten zwischen dem 14. und 15. 12

Von einer "Konzentration von Herrschaftsbefugnissen" spricht beispielsweise

W. ]anssen, Der Deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert. Zu einer Veröffentli-

chung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte, in: Der Staat, (1974), S. 415-426, S. 425-426; von einer "Konzentration von Rechten und Besitzungen" spricht H. Keller, Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont: Deutschland im Imperium der Salier und Staufer, 1024-1250, Berlin 1986, S. 344 ff.; von einem "Bündel von Einzelrechten in der Hand eines Herren" (Bündel, die erst in der Folge "eine neue Qualität" annehmen sollten) spricht P. Moraw in: Die Entfaltung der deutschen Territorien im 14. und 15. Jahhrunden, in: Landesherrliche Kanzleien im Spätmittelalter. Referate zum VI. Internationalen Kongress für Diplomatik, München 1983, München 1984, S. 61-108, S. 74. 13 Außer dem Beitrag von G.M . Varanini, L'organizzazione del distretto cittadino nell'Italia padana nei secoli XIII-XIV (Marca Trevigiana, Lombardia, Emilia), in diesem Band, vgl. für das lombardische Gebiet zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert, G. Cbittolini, Le .terre separate" nel ducato di Milano in eta sforzesca, in: Milano nell'etä di Ludovico il Moro. Atti del convegno internazionale, Milano 1983, I, S. 115-128,

Territoriale Organisation und Stadtbezirke im spätmittelalterlichen Italien

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Jahrhundert verschiedene terre und ,getrennte' Territorien mit Erfolg große Autonomiesphären gegenüber der Stadt behaupten. Diese Abtrennungen waren -was die ,kleineren Zentren' betraf- begrenzte Einsprengsel innerhalb der contadi; oder, im Fall von Gebirgsterritorien, auch ausgedehnte Gebiete, aber meist in peripherer und marginaler Lage; oder sie wurden im Fall der Feudalherrschaften zu einem guten Teil durch ansehnliche gerichtliche und steuerliche Vorrechte ausgeglichen, die von den Feudalherren den Magistraturen der Städte zugestanden wurden•~. Noch gelang es den nicht-städtischen Organismen, sich in jedem Fall als alternative Strukturen territorialer Organisation durchzusetzen 15: Sie blieben gegenüber einer städtezentrierten Ordnung Einzelfälle und Randerscheinungen. Tatsächlich scheint sich das Modell des ,Stadtstaates' zu einem Großteil durchgesetzt zu haben, besonders im Vergleich mit anderen städtischen Territorien Europas. Offensichtlich ist beispielsweise der Unterschied zu den Territorien jenseits der Alpen: Sie waren Mosaike kleiner Territorien, über die die Städte - in ,herrschaftlicher' Stellung - bestimmte Steuer- und Justizrechte ausübten, die in einigen Fällen vollständig durchgesetzt werden konnten, in anderen aber in Konkurrenz mit denjenigen anderer Herren standen. Und bloß indirekt war auch der Einfluß auf andere Territorien; er machte sich etwa über herrschaftliche Vorrechte von Familien oder städtischen kirchlichen Einrichtungen geltend. Und noch indirekter konnte er ausgeübt werden - bisweilen auch in relativ ausgedehnten und entfernten Bereichen - über Zugeständnisse von Rechten: Bürgerschaft, Handels-, Steuer- und Getreidemagazinierungsverträge, Kontrolle über einige Straßen und Wasserwege, Vorposten und Garnisonen, Marktrechte und das Monopol handwerklicher Produktion. und: Principe e comunita alpine in area lombarda alla fine del Medioevo, in: Le Alpi per l'Europa. Una proposta politica. Economia, territorio e societa. lstituzioni, politica e societa, redaktionelle Betreuung von E. Martinengo [Beiträge des zweiten Kongresses .,Le Alpi e l'Europa", Lugano, 14-16 März 19851. Milano 1988, S. 219-236. Zu den Lehensmerkmalen G. Cbittolini, lnfeudazioni e politica feudale nel ducato visconteo-sforzesco, jetzt in: La formazione dello stato regionale e le istituzioni del contado, Torino 1979, S. 36-100. Für das venetischeGebiet im kommunalen Zeitalter siehe die kürzlich erschienene klare Untersuchung von S. Borto/ami, Frontiere politiche e frontiere religiose nell'Italia comunale: il caso delle Venezie, in: Castrum 4: Frontiere et peuplement dans le monde mediterraneen au Moyen Age. Actes du colloque d'EriceTrapani, 18-25 septembre 1988, recueillis et presentes par ].-M. Poisson, Rome I Madrid 1993, S. 211-238. Einige Hinweise auch in: A . Ventttra, Nobilta e popolo nella societa veneta del Quattrocento e Cinquecento, 2. Aufl., Milano 1993, S. 111 ff. Zur Vergabe von Lehen im venezianischen ZeitalterS. Zamperetti, I piccoli principi. Signorie locali, feudi e comunita soggette nello Stato regionale veneto dall'espansione territoriale ai primi decenni del '600, Treviso I Venezia 1991. 14 Zu den Grenzen der Feudalisierung in diesem kommunalen Gebiet einige Hinweise in G. Cbittolini, Feudalherren und ländliche Gesellschaft in Nord- und Mittelitalien (15.-17. Jahrhundert), in: A. Ma~zak (Hrsg.), Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988, S. 243-260. 15 G. Politi, I dubbi dello sviluppo. Rilevanza e ruolo del mondo rurale in alcune opere recenti (secoli XV-XVII), in: Societa e Storia, V (1982), S. 367-389.

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Giorgio Chiuolini

Man sollte deshalb nicht so sehr von regelrechter Herrschaft, sondern von Stadtraum, Umland oder Hinterland sprechen 16 . Hierauf beruht die kompakte Struktur, die das städtische Territorium unserer Regionen aufweist: sei es wegen des großen Erfolges der ursprünglichen Forderungen nach voller Souveränität, sei es weil - wie wir oben gesehen haben - die Einheit und homogene Struktur des Territoriums durch die Qualität der Herrschaft weiter gefestigt wurde; aber auch durch die Tatsache, daß in dem Territorium Interessen, die der Stadt und den cives gemein waren, Form annahmen, Interessen, nach denen das Territorium organisiert wurde. Mit der territorialen und administrativen politischen Kontrolle ging eine wirtschaftliche Kontrolle einher, und zwar sowohl in Sachen Handels- und Handwerkspolitik, als auch bezüglich des Besitzes des Bodens (der contado war das natürliche Expansionsgebiet des städtischen Grundbesitzes: ein stark geschütztes Eigentum, das eine kontinuierliche Expansion erfuhr17) . Von daher stammt auch das frühe Bewußtsein des Stadtstaates, einen einheitlichen Organismus darzustellen: einen einzigen Körper, gemäß dem bekannten Bild, nach dem die Stadt das Haupt war und die organisch und untrennbar an sie gebundenen ländlichen Gebiete die Glieder. 3. Diese Gegebenheiten sowie etmge der daraus erwachsenden Folgen sind hinlänglich bekannt. So beispielsweise der Zusammenhalt und die Langlebigkeit dieser Territorien, straff und dauerhaft durchstrukturiert in ihren Grenzen, stabil organisiert unter der Oberherrschaft der Städte, als Expansionsgebiet städtischer Interessen. Dieser Zusammenhalt ließ für die Behauptung anderer territorialer Organisationsstrukturen wenig Raum. Die ,kleineren Zentren' besaßen weiterhin begrenzte Territorien und taten sich schwer, zu ,Städten' zu werden - d.h., gemäß dem italienischen Sprachgebrauch, territoriale Hauptstädte- und stiegen in der Regel erst im folgenden Zeitalter zu Städten im vollen Sinne auf18 • Die Stadtstaaten waren das Material für die Konstruktion der Regionalstaaten, die eben durch die Zusammenfassung der alten städtischen Territori16 Zu dem Zustand der Territorien unter städtischer Herrschaft in Europa vgl., außer E. Isenmann, Die deutsche Stadt, S. 236-243, G. Wunder, Reichsstädte als Landesherren, in: H. Meynen (Hrsg.) , Zentralität als Problem der mittelalterlichen Stadtgeschichtsforschung, Köln I Wien 1979, S. 79-91; H.K. Schulze(Hrsg.), Städtisches Umund Hinterland in vorindustrieller Zeit, Köln 1985; Citta e campagne in Europa, (Beiheft von: Storia della citta, 36 [1986), 4). Vgl. auch unten, Anm. 23. 17 Das Phänomen geht in Nord- und Mittelitalien eindeutig jenem allgemeineren Prozeß der ,Territorialisierung' der Stadt voraus, der betont worden ist von Y. Bare!, La ville medievale. Systeme social. Systeme urbaine, Grenoble 1977, S. 304 ff. 18 A.A. Settia, Da villaggio a cittii: lo sviluppo dei cemri minori nell'Italia del Nord, in: S. Bortalami (Hrsg.), Cittä murate nel Veneto, Milano 1988, S. 23-29; G. Chittolini, "Quasi - cittä". Borghi e terre in area lombarda nel tardo Medioevo, in: Societä e storia, XIII 0990), 47, S. 3-26.

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en entstanden waren 19• Der Einfluß der alten kommunalen Bezirksaufteilung blieb auch in den Fürstentümern (wie demjenigen der Visconti) sehr stark. Diese Fürstentümer waren in Italien städtischer Prägung, so wie schon die ,Signorien' städtischer Prägung gewesen waren: Ganz anders als die Landesherrschaften jenseits der Alpen, da sie Produkt der politischen Entwicklung der Stadtgemeinde und Ausdruck städtischer Instanzen waren (auch wenn sie teilweise mit der Hilfe von Kräften und Schichten ritterlicher Tradition durchgeführt wurden). In diesen Gebieten kam es tatsächlich weder zu anderen Formen von Territorienbildung noch zur herrschaftlichen Territorienbildung, die in Deutschland die wichtigste Ausprägung des Prozesses territorialer Organisation war. Entstehungsprozesse von Regionalstaaten im Zuge fürstlicher Initiative hin gab es nur am Rand des städtischen Raumes, beispielsweise in Savoien oder in Monferrato oder - allerdings mit anderen Merkmalen - in Montefeltro20 • Ein Mangel, der in der Poebene die Schwäche der herrschaftlichen Geschlechter widerspiegelt, die schon im vorkommunalen Zeitalter augenfällig gewesen war und durch den Aufstieg der Stadtgemeinden besiegelt worden war (im kommunalen Italien konnten sie nur in Randgebieten einige verstreute Herrschaftsrechte beibehalten). Und auch die kirchlichen Fürstentümer waren bekanntermaßen - nur auf periphere und reichsunmittelbare Zonen beschränkt21. Hierin wurzelt der unterschiedliche Charakter der Problematik Stadt-Land in Italien und in Europa (d.h. die Frage, wie die städtischen Zentren auf Probleme wie Lebensmittelvorräte, Rohmaterialien, Verkehrsfreiheit, Lebensmittelabsatz, Regulierung der konkurrierenden ländlichen Manufakturen, Schutz des Grundbesitzes der Städter usw. reagierten). In Italien war das Land hauptsächlich der contado, ein unterworfenes Territorium innerhalb eines einheit-

19 Die Geographie der kommunalen contadi bestimmte die Merkmale der aus ihnen im 14. und 15. Jahrhundert hervorgehenden Regionalstaaten stark: sowohl was deren äußere Grenzen als auch deren innere Verwaltungsordnung betrifft; einige Hinweise in: Per una geografia dei contadi nell'Italia ,comunale' fra Medioevo ed eta moderna. 20 In der Poebene hatten umgekehrt die Versuche von herrschaftlichen oder feudalen Gruppen, Staaten zu gründen, keinen Erfolg, obwohl einige von diesen im Verlauf des 15. Jahrhunderts sehr aktiv waren; G. Cbittolini, II particolarismo signorile e feudale in Emilia fra Quattrocento e Cinquecento, in: La formazione dello stato regionale, S. 101 ff. Für Montefeltro G. Cbittolini, Su aleuni aspetti dello stato di Federico, in: G. Cerboni Baiardi I G. Cbittolini I P. Floriani (Hrsg.), Federico di Montefeltro: lo stato, Je arti, Ia cultura, I: Lo stato, Roma 1986, S. 61-102 (auch für die Allianzen zwischen der Signoria Feitres und ~tädtischen Zentren, worauf der Erfolg der Dynastie gründete). 21 Vgl. C.G. Mor I H. Scbmidinger (Hrsg.), I poteri temporali dei vescovi in Italia e in Germania nel Medioevo, Bologna 1979. Zu den kirchlichen Fürstentümern auf französischem Gebiet vgl. 0 . Guyotjeannin, Episcopus et comes. Affirmation et declin de Ia seigneurie episcopale au nord du Royaume de France, Geneve 1987.

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Iichen staatlichen Organismus. Die wirtschaftlichen Probleme fanden eine politische und rechtliche Regelung, und mit großer Aufmerksamkeit gegenüber diesen politisch-institutionellen Aspekten werden sie zu einem Großteil in der Untersuchung der Beziehungen Stadt-contado angegangen (die Besitzer waren oft cives, diejenigen, die das Land bearbeiteten, waren die der Stadt untertänigen Bauern usw.). Dieses Verhältnis Stadt-Land ist relativ stark und straff, und hat Langzeitfolgen, die des öfteren hervorgehoben worden sind. Jenseits der Alpen handelte es sich hingegen um Beziehungen zwischen oft getrennten und unterschiedlichen territorialen Einheiten: die Stadt einerseits, und ein Territorium andererseits, das ihr gar nicht oder nur teilweise gehörte. Aus diesem Grunde mußte sie ihre Bedürfnisse über ein Netz ,externer' Organismen mit Abkommen, Verträgen oder Kriegen befriedigen. Die Klärung wirtschaftlicher Beziehungen und Gleichgewichte unter verschiedenen Gebieten geschieht entweder ,außenpolitisch' oder über die Zuhilfenahme von wirtschaftlichen Modellen der Art städtischer Poilländliches Umland, von Kategorien wie jener der Zentralität oder einer ,regionalen Geographie' der städtischen Zentren22 . 4. Wenn diese besonderen Merkmale und Ergebnisse des Prozesses der Territorienbildung im Italien der Stadtstaaten behandelt wurden, so geschah dies auch, um hervorzuheben, wie in diesen Gebieten - eben auf dem Niveau von Stadtstaaten - sehr früh einige Ziele erreicht wurden, die nicht nur für einen Bildungsprozeß von ,städtischen Territorien' für bedeutsam gehalten werden, sondern auch von Territorien an sich, also um Prozesse der Staatsbildung im weitesten Sinne, so wie im spätmittelalterlichen Deutschland. Man hat sogar den Eindruck, daß die Qualität der Kontrolle des Bezirks (und der ,Modernität' des Prozesses der Territorialisierung) in diesen Regionen Italiens des 13.-14. Jahrhunderts größer sind als in den deutschen Fürstentümern des 15. Jahrhunderts. Einheit und Unteilbarkeit des Territoriums, volle Souveränität, der staatsrechtliche Charakter der Herrschaft (ohne jenen Patrimonialcharakter, der von einer persönlichen und dynastischen Herrschaft herstammt: also dank der genossenschaftlichen Form des kommunalen Staates) die Regierung vermittels Beamten usw.: Dies alles setzt im Italien der Stadtstaaten früh und auf natürliche Weise ein. Auf das Gebiet der Poebene angewandt, würden diese und andere bekannte topoi in der Diskussion um die Entstehung von Territorien in Deutschland und um den Übergang von Formen der Landesherr22 Vgl. beispielsweise E. Ennen, Zur Typologie des Stand-Land Verhältnisses im Mittelalter, in: Studium generale, XVI (1963), S. 445-446; H. Meynen (Hrsg.), Zentralität als Problem der mittelalterlichen Stadtgeschichtsforschung; M. Mitterauer, Markt und Stadt im Mittelalter. Beiträge zur historischen Zemralitätsforschung, Stuttgart 1980; N. Bulst I ]. Hoock (Hrsg.), Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft: Stadt-Land-Beziehungen in Deutschland und Frankreich: 14. bis 19. Jahrhundert, Trier 1983; H.K. Schulze (Hrsg.), Städtisches Um- und Hinterland in vorindustrieller Zeit; E. Isenmann, Die deutsche Stadt, S. 231-235; j.C. Rttssel, Medieval Regionsand their Cities, Bloomington

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schaft zu einer richtiggehenden Landeshoheie3 Belege einer bemerkenswerten frühen Entwicklung und Innovationsfähigkeit liefern. Wenn hierauf aufmerksam gemacht wurde, dann nicht so sehr, um einen vorzeitigen "Prozeß der Staatenbildung" in Italien hervorzuheben, sondern vielmehr um zu betonen, daß jene Mechanismen und das Prinzip der Territorialisierung nicht automatisch und tout court als Hinweise für eine moderne Staatsbildung benutzt werden können. Sie haben je nach den Situationen, auf die sie angewendet werden, und je nach dem Ausmaß des Prozesses selbst andere Folgen und eine unterschiedliche Tragweite. Im kommunalen Italien kommt es zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert auf physiologischere und natürlichere Weise sowie auf einem relativ weiten Feld endgültig zur Überwindung der frühmittelalterlichen Zersplitterung. Jedoch erweisen sich die territorialen Strukturen, die damals Gestalt annahmen, dann als früh verhärtet, und jede Weiterentwicklung wird für lange Zeit unmöglich sein. Jene verfrühten Formen der Territorialisierung scheinen dann als ,Initiatoren' im Prozeß der modernen Staatsbildung an Bedeutung einzubüßen. In Deutschland ist der Territorialisierungsprozeß sehr viel weniger verfrüht und organisch; aber als er in den oben angedeuteten Formen auf breiterer Ebene und zwischen unterschiedlichen Organismen und unterschiedlichen wirtschaftlich-sozialen Strukturen einsetzt, scheint er direkter auf moderne Formen der politischen Organisation ausgerichtet. 5. Diese Fähigkeit der Stadt, sich - in dem Maß und mit den Merkmalen, auf die oben hingewiesen wurde -als vereinigende und organisierende Struktur des Territoriums zu etablieren, scheint dennoch nicht in ganz Mittel- und Norditalien gleichmäßig ausgeprägt. Andere Regionen weisen - wenn auch unter dem gemeinsamen Nenner der städtischen Vormacht - leicht unterschiedliche Grundzüge auf, die teilweise auf die unterschiedliche Dichte und Konsistenz des ursprünglichen, zwischen der Spätantike und dem Frühmittelalter entstandenen diözesanen und städtischen Netzes hinweisen und teilweise auf die kommunale Expansion 24 • In der Toskana, einer Region, die zwar von großen Zentren alten Ursprungs und alter kommunaler und diözesaner Tradition in ihrem nördlichen und zentralen Teil geprägt ist, scheint sich der territoriale Einigungs- und Organisations23 Was den Werdegang der Territorien betrifft, die Geschlossenheit derselben Territorien, die Legitimität der Landesteilung, die ,Souveränität' des Fürsten, die Einführung einer Amtsverfassung, die Entpersonalisierung der Regierung, der transpersonale Herrschaftsgedanke usw.: all dies sind Themen, die in die Analyse des Modernitätsgrades der territorialen Fürstentümer des 15. Jahrhunderts als ausschlaggebende Indikatoren für eine neue Staatsbildung eingeführt werden: vgl. beispielsweise D . Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft; W janssen, Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert; E. Meuthen, Das 15. Jahrhundert, München 1985, S. 135 ff. 24 Vgl. die schon erwähnte Arbeit von G.M. Varani ni, L'organizzazione del distretto cittadino neii'Italia padana.

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prozeß im Verhältnis zur Poebene weniger durchgreifend zu vollziehen und bei größerer Unsicherheit in der Ausrichtung - Lücken und Risse sowie unstabilere Ordnungen aufzuweisen. Zu diesen Ergebnissen trägt das Schwinden einiger Bischofssitze wie Luni und Fiesoie bei - in einem Gewebe aus sich anfänglich kaum von den padanischen unterscheidenden Kirchenbezirken - und auch die relative ,Schwäche' anderer Städte wie Volterra und, auf einer anderen Ebene, auch Lucca, denen es nicht gelingt, ihren contadi die Ausdehnung der alten Episkopate zu erhalten. Außerdem spielt sicherlich die politische Geschichte der Region eine Rolle, die weit mehr als in der Lombardei gekennzeichnet ist, die sich in ihren Strukturen früh auf eine gewisse Weise aus der Zeit der Herrschaft der Visconti diszipliniert und kristallisiert hat. Diese Unbestimmtheit dauerte bis zum 14. Jahrhundert. Dabei treten auch fremde Mächte und bisweilen das Reich auf den Plan: Sie sind, wenn auch bloß zeitweise, in der Lage, Ordnungen zu stören und den lokalen Kräften Macht und Anerkennung zu verleihen. Dies alles ermöglicht die Entstehung von Territorien nicht nur im Umkreis großer Stadtgemeinden, die schon Kommunen und Bischofssitze waren, sondern auch - wenn auch in geringerem Ausmaß - kleinerer oder neuer Zentren, die sich als weitgehend autonom präsentieren. Sie sollten zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert an Florenz fallen, wobei alle an ihrer Freiheitstradition und an ihren contadi festzuhalten und auch nach der Eingliederung in den Florentiner Staat eine eigenständige Physiognomie und ein abhängiges Territorium zu behalten vermochten (beispielsweise San Miniato oder Pescia im Episkopat Lucca; San Gimignano oder Colle in Volterra; die große terra von Prato vor den Toren von Florenz25). Das Gesamtbild ist also stark städtisch geprägt. Aber mit einer wandelbareren, Vielseitigereren und heterogeneren Geographie der contadi als in der Poebene. Als beschränkter und ,schwächer' erweist sich die territoriale Rolle der städtischen Zentren in Regionen, die außerhalb der Langobardia liegen 26. In den Marken erschwert beispielsweise das enger geflochtene Netz der Diözesen und der civitates die Errichtung großer contadi. Neben den civitates gibt es zahlreiche kleinere Zentren mit ihren kleinen Territorien: die terrae magnae, die terrae mediocres, die einfachen terrae parvae (gemäß der bekannten Unterscheidungen und Hierarchien der "Constitutiones marchiae anconitanae") und schließlich die demanialen und herrschaftlichen castra, von denen jedes - vielleicht mit einigen wenigen ankristallisierten ville - dennoch eine autonome und fest umrissene Einheit darstellt (von weitaus größerer Geschlossenheit beispielsweise als die entsprechenden ländlichen Gemeinden der 25 Reiche Informationen, besonders was den contado von Florenz betrifft, finden sich bei A. Zorzi, L'organizzazione del territorio in area fiorentina tra XIII e XIV secolo, in diesem ßand. 26 Zu den Unterschieden zwischen der Langobardia und der Romania, mit besonderen Hinweisen auf das Gebiet der Romagna, vgl. A . Castagnetti, L'organizzazione del territorio rurale nel Medioevo, Bologna 1982.

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Poebene) 27 • Das institutionelle Panorama im 13. Jahrhundert ist (wegen der Auswirkungen der geographischen Merkmale der Region, sowie im Zuge des römischen und frühmittelalterlichen Erbes und der gemeinsamen Entwicklung) zerstückelt und alles andere als einheitlich: kleine Stadtstaaten und signorile Herrschaften, Burg- und Dorfbezirke wechseln untereinander ab. An dieser Situation änderte später die päpstliche Regierung nichts. Sie war darum bemüht, zu ausgedehnte und dynamische territoriale Expansionsversuche zu bremsen, umgekehrt kleinere Autonomien zu unterstützen und die unruhige Welt der lokalen Kräfte zu disziplinieren; nicht so sehr durch starke provinzielle Regierungsstrukturen als vielmehr im Wege der gemeinsamen Abhängigkeit vom Apostolischen Stuhl. Noch geringer erscheint der Einfluß der Stadt in anderen Regionen, wie beispielsweise im Norden, in den Randgebieten Piemonts oder des Veneto, am Rand des Gebietes der großen Städte in der Poebene und in der Nähe des Alpenrandes 28 • Hier erscheint das Netz der civitates-Bischofssitze sowohl aufgrund seiner ursprünglichen Merkmale als auch in Folge der Lücken, die das Verschwinden einiger Zentren hervorrief, relativ ausgedehnt. Dieses Netz ähnelte im großen und ganzen demjenigen der anderen nördlichen Regionen, war aber weitmaschiger. Die civitates wiesen auch keine vergleichbare Energie und Aktionsfähigkeit auf und sie konnten sich nicht so frei bewegen wie die Zentren der Poebene. Umgekehrt waren sie in fürstliche Territorialstrukturen eingebaut (oder gingen später in ihnen auO. So ist ihre territoriale Ausdehnungsfähigkeit relativ beschränkt (wegen ihrer geringeren Stärke und gleichzeitig wegen der Macht der anderen konkurrierenden lokalen Mächte), und ihre Territorien erleiden die Disziplinierung der größeren Mächte, die sich die gesamte Region einzuverleiben suchen29 • Hier waren so tatsächlich in diesen 27 Zu den Marken vgl. B.G. Zenobi, I caratteri della distrettuazione di antico regime nella Marca pontifi.cia, in: E. Paci (Hrsg.), Scritti storici in memoria di Enzo Piscitelli [Universitä di Macerata, Pubblicazioni della Facoltii di Lettere e Filosofia, 10], Padova 1982, S. 61-106; F Bonasera, Le cittii delle Marche elencate nelle "Constitutiones Aegidianae" 0357). Contributo alla geografia storica delle Marche, in: Studia picena, XXVIII 0959), S. 93-104. Zu den Charakterzügen Umbriens vgl. H. Desplanqttes, Campagnes ombriennes. Contribution ii l'etude des paysages ruraux en Italie centrale, Paris 1966, insbesondere S. 99-111. 28 Zur geringeren territorialen Organisationsfähigkeit der Städte im Alpenraum siehe die Beiträge in diesem Band von P. Cammarosano und G. Castelnuovo. Vgl. auch G. V~ret, Les villes et les Alpes, in: Grandes villes et petites villes, Paris 1970, S. 541-547; G. Dematteis, Le cittä alpine, in: Atti del XXI congresso geografi.co italiano, 11/2, Novara 1974, S. 7-197; P.G. Gerosa, La cittii delle Alpi nella storiografia urbana recente, in: Le Alpi per I'Europa , S. 139-160. Auch im Apenninenraum stoßen die padanischen und toskanischen Städte auf Schwierigkeiten beim Ausdehnen ihrer Einflußgebiete: für einen früheren Zeitraum, aber mit allgemeingültigen Beobachtungen, vgl. Cj. Wickham, The Mountains and the City. The Tuscan Appennins in the Early Middle Ages, Oxford 1988. 29 Vgl. insbesondere für das Veneto S. Borto/ami, Frontiere politiche e frontiere religiose neii'Italia comunale: il caso delle Venezie. Vgl. auch die Arbeiten von A. Castagnetti, (darunter jüngst: Le cittii della Marca veronese, Verona 1991) und S.

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Jahrhunderten genauso wie jenseits der Alpen insbesondere die weltlichen und kirchlichen Fürsten die Träger der territorialen Organisation. Abseits stehen - und darauf muß kurz hingewiesen werden - die Küstenstädte wie Genua und Venedig: Ihre politische Macht s~eht in keinem Verhältnis zu ihrem Willen oder ihrer Fähigkeit zur Errichtung einer Territorialherrschaft Da sie von einer ausgeprägten merkantilen Physiognomie charakterisiert sind und auch geographisch am Rand des Systems der Stadtstaaten und der Staaten der Poebene liegen und umgekehrt in den Mittelmeer- und europäischen Handel einbezogen sind, verfolgen sie im kommunalen Zeitalter nicht die territoriale Eroberung der umliegenden Gebiete, sondern eine auf Handelsabkommen gegründete Außenpolitik, die hegemoniale Behauptung in Handel und Finanz; sofern es dabei zu territorialen Angliederungen kam, beschränkten sie sich auf die Schaffung von Kolonien und maritimen Stützpunkten in abgelegen Gebieten. Diese Zentren sind also weit weniger an das Land gebunden als jene der Poebene (von denen sie sich auch im Hinblick auf das Gewicht des starken Handelspatriziats und der gewichtigen korporativen Organismen abheben). Sie entbehren der territorialen Ausrichtung, die die italienische Kommune charakterisiert und sind hingegen den anderen großen Handelszentren des Mittelmeerraumes und Europas ähnlicher'0 • 6. Die Rolle der Städte bei der territorialen Organisation in den verschiedenen Gebieten bedürfte natürlich einer gründlicheren Untersuchung. Wenn Andeutungen gemacht worden sind, so geschah dies nur, um auf eine Vielfalt von Fällen und Situationen hinzuweisen, die den Hintergrund des Gesamtbilds darstellen, auch wenn es an dieser Stelle nicht möglich ist, mit spezifischen Beiträgen auf sie einzugehen. Und noch breiter gefächert müßte der Rahmen sein, wenn man sich nicht - so wie wir es hier getan haben - auf ,Territorien' städtischer Prägung beschränken, sondern auch andere Formen und Strukturen der territorialen Organisation miteinbeziehen würde, in denen die Rolle der Stadt weniger ausgeprägt ist und umgekehrt andere Kräfte im Vordergrund stehen: fürstliche, herrschaftliche und lokale ,Gemeinschaften'. Einige dieser Gebiete (der Alpenraum, der Süden) haben Beiträge zu diesem Seminar behandelt. Unberücksichtigt sind die Territorien der päpstlichen Herrschaft geblieben, obwohl sie aufgrund der Bortalami (Hrsg.), Cittä murale del Veneto; und insbesondere ders., Cittä e "terre murate" nel veneto medievale: le ragioni della storia e le ragioni di un libro, ebd., S. 13-22. Zum Gebiet Piemonts eine kürzlich erschienene Untersuchung in F. Panero, Autonomie urbane e rurali nel Piemonte comunale: aspetti e problemi, in den Akten der Tagung .La libertä di decidere. Libertä e parvenze di autonomie nella normativa locale del Medioevo", Cento, 6-8 maggio 1993. 30 Zu einigen Merkmalen der ,Küstenstädte' im Verhältnis zum Territorium finden sich einige Hinweise in R. Caggese, Classi e comuni rurali nel Medioeva italiano. Saggio di storia economica e giuridica, I, Firenze 1908, S. 9-12. Siehe auch die jüngsten Reflexionen von R. Romano, II Mediterraneo. Cittä costiere e cittä dell'interno, in: Civiltä del Mediterraneo, 2 (Juli-Dezember 1992), S. 33-42.

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Koexistenz verschiedener territorialer Strukturen - herrschaftlicher, städtischer, dörflicher - unter einer eigentümlichen und nicht durchgängig wirksamen monarchischen Autorität interessant sind. Es wird also nicht möglich sein, eine wenn auch schematische Geographie der italienischen ,Territorien' nachzuzeichnen. Es wird jedoch ein zufriedenstellendes Ergebnis sein, einige Modelle oder Prozesse herauszuarbeiten, die als Anhaltspunkte für zukünftige Forschungsprojekte dienen können.

Spätmittelalterliche Staatsbildung im Vergleich Zur Erforschung der deutschen hochund spätmittelalterlichen Territorialstrukturen Von Dietmar Willoweit

I. Staatsbildung als Problem der Forschung ,.Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes . . . das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich mit Erfolg beansprucht. Denn das der Gegenwart Spezifische ist, daß man allen anderen Verbänden oder Einzelpersonen das Recht zur physischen Gewaltsamkeit nur soweit zuschreibt, als der Staat sie von ihrer Seite zuläßt: Er gilt als alleinige Quelle des ,Rechts' auf Gewaltsamkeit". Mit diesen berühmt gewordenen Sätzen hat Max Weber1 den Staat überhaupt definieren wollen und dabei doch weniger die auf traditionaler oder charismatischer Herrschaft beruhenden Staatsgebilde als vielmehr den modernen Anstaltsstaat charakterisiert. Denn auf Dauer gelingt es nur ihm, ,.kraft ,Legalität', kraft des Glaubens an die Geltung legaler Satzung und der durch rational geschaffene Regeln begründeten sachlichen ,Kompetenz"' die ,.Enteignung" der neben den Fürsten stehenden "selbständigen, ,privaten' Träger von Verwaltungsmacht" zu betreiben. Staatsbildung als ein aus heutiger Perspektive unumkehrbarer Prozeß umfaßt notwendigerweise das Potential rationaler Herrschaftsmittel, das Max Weber so eindrucksvoll herausgearbeitet hat. Die Anfänge dieses modernen Staates, der zugleich Bedingung und Spezifikum der modernen Gesellschaft ist, reichen in das europäische Mittelalter zurück. Warum und wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist, warum - um mit Max Weber zu reden Rationalität Magie ablösen konnte und Gewalt sich monopolisieren ließ - dies sind Fragen, welche nach wie vor große Forschungsenergien in Bewegung zu setzen vermögen 2• So sicher wir zu wissen glauben, was den modernen wie auch schon den frühmodernen Staat ausmacht, so vielgestaltig ist das Bild der Entwicklungsprozesse, die zur Staatsbildung führen. Sehr unterschiedliche Voraussetzungen

M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auf!., Tübingen 1972, S. 822, 824.

Vgl. dazu die in Kürze zu erwartenden Publikationen des von der European Science Foundation, Straßburg, angeregten Forschungsprojekts "The Origins of the Modern State" und dazu die Arbeiten des vorbereitenden Kolloquiums, j.P. Genet (Hrsg.), L'Etat Moderne: Genese. 13ilans et Perspectives, Paris 1990 (ed. UNRS).

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und Faktoren bringen am Ende des Mittelalters und in der frühen Neuzeit ähnliche politische Verhältnisse heiVor. Die tiefgreifende Differenz zwischen der westeuropäischen und der mitteleuropäischen Entwicklung forderte seit jeher die Wissenschaft heraus, die sie vor allem unter dem Paradigma von Fortschritt und Rückständigkeit würdigte. Die in Deutschland während des ganzen 19. Jahrhunderts und darüber hinaus andauernde Klage über das angebliche Mißlingen deutscher Einheitsstaatlichkeit bis zur Reichsgründung durch Bismarck hat den Blick dafür verstellt, daß sich der frühmoderne Staat mit seinen charakteristischen Strukturen offenbar auch unter ungünstigen Bedingungen und in den verschiedenartigsten Formen durchsetzen konnte. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Staatsbildung in Europa bleibt fragwürdig, solange sie einen einzigen Prototyp, etwa die französische Monarchie, als Maßstab nimmt und daran andere Staatsbildungen unter Verteilung guter und schlechter Zensuren mißt. Der Versuch, die europäische Staatsbildung als ein Phänomen der Menschheitsgeschichte zu verstehen, wird nur dann methodischer Kritik standhalten und damit wissenschaftlichen Ansprüchen genügen können, wenn sie konsequent vergleichend vorgeht und gerade die Verschiedenartigkeit der Erscheinungsformen desselben historischen Prozesses berücksichtigt. Je größer die Divergenzen, um so spannender die Frage, warum am Ende überall rational durchorganisierte Verwaltungssysteme der Gesellschaft übergestülpt werden konnten. Ein Vergleich der Territorialstrukturen Italiens und Deutschlands ist im Rahmen des skizzierten Forschungszieles insofern von besonderem Interesse, als hier wie dort die sogenannte "Partikularstaatlichkeit" Triumphe gefeiert hat, dennoch aber der Gegensatz der politischen Herrschaftssysteme außerordentlich gewesen sein muß. Jacob Burckhardt, dessen Werk noch immer die Grundlage aller Studien zum Spätmittelalter Italiens in Deutschland bildet, sagt zu unserem Thema: Zwischen Kaiser und Papst seien in Italien .eine Menge politischer Gestaltungen - Städte und Gewaltherrscher - teils schon vorhanden, teils neu emporgekommen, deren Dasein rein tatsächlicher Art war. In ihnen erscheint der moderne europäische Staatsgeist zum ersten Mal frei seinen eigenen Antrieben hingegeben; sie zeigen oft genug die fessellose Selbstsucht in ihren furchtbarsten Zügen, jedes Recht verhöhnend, jede gesunde Bildung im Keim erstickend, aber wo diese Richtung überwunden oder irgendwie aufgewogen wird, da tritt ein neues Lebendiges in die Geschichte: der Staat als berechnete, bewußte Schöpfung, als Kunstwerk" 3. Wie anders haben wir uns dagegen die Verhältnisse in einer deutschen Landesherrschaft vorzustellen! Hier dominiert die Bindung an traditionale Rechtsstrukturen, wird das entstehende Geflecht der .wohlerworbenen Rechte" sorgfältig gehütet, durch Heirat, Kauf und Krieg auch vermehrt, niemals aber der Staat .als Kunstwerk" berechnet und bewußt neu geschaffen. Auch wenn die moderne Her3 ]. Bttrckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien (1. Auf!., 1860), 3. Auf!., 1877, S. 3 f. Diese erste von Ludwig Geiger besorgte Ausgabe ist bis 1901 noch fünfmal aufgelegt worden.

Spätmittelalterliche Staatsbildung im Vergleich

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meneutik die Vermutung nahelegt, daß Jacob Burckhardt in seiner Darstellung weniger die geschichtliche Realität Italiens im Spätmittelalter getroffen als sein eigenes, pessimistisches Staatsverständnis zu Papier gebracht hat, so ist doch die Verschiedenartigkeit der Wege, auf denen sich die Staatsbildung in Italien und Deutschland vollzog, nicht zu bezweifeln. Allein die in diesem Zusammenhang dominierende Rolle der städtischen Zentren Italiens - um nur einen besonders auffälligen Gesichtspunkt zu nennen - unterscheidet die italienische Entwicklung erheblich von der deutschen, wo die Entstehung und Stabilisierung fürstlicher Residenzen im Vordergrund steht; die Mittelpunkte von Handel und Gewerbe, nicht selten Reichsstädte mit kleinem Territorium, sind dagegen nicht in der Lage, wirkliche Staaten zu bilden. Um so näher liegt die Frage, ob trotz der so unterschiedlichen Ausgangslage die entstehenden Territorien alsbald ähnliche Strukturen aufweisen. Vergleichende Forschungen zu den italienischen und deutschen Territorialstrukturen gibt es bisher nicht. Ein erster Versuch dieser Art hat daher mit methodischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die deutsche historische Forschung hat sich seit der venichtenden Kritik Otto Brunners4 an dem modernen Instrumentarium der älteren staats- und rechtsgeschichtlichen Wissenschaft 5 einer induktiven, die Besonderheiten der jeweiligen Quellenlage beachtenden Methode zugewandt. Diese sogenannte "landesgeschichtliche" Forschung hat unbestreitbar zu einer außerordentlichen Bereicherung unserer Kenntnisse gerade auch über die Entstehung und Entwicklung der Landesherrschaften geführt. Die Fülle der dabei aufgedeckten Varianten ist bedrückend. Jeder Versuch, sie in großen Entwicklungslinien oder gar in Allgemeinbegriffen einzufangen, scheint aussichtslos. So kann das Lehenswesen herrschaftsstabilisierende Kraft haben oder aber für die Staatsbildung letztlich bedeutungslos bleiben. Die hohe Gerichtsbarkeit kann einmal das Grundgerüst der Territorialstruktur stellen, ein andermal aber als bloße Servitut auf einem fremden Territorium lasten. Entsprechend unterschiedliches Gewicht kann den mediaten Landstädten und dem niederen Adel zukommen. Seit mehreren Jahrzehnten haben sich in Deutschland ungezählte Tagungen mit dieser Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten befaßt und immer wieder die Besonderheiten einzelner Territorialbildungen hervorgehoben. Wie unter diesen Umständen deutsche Territorialstrukturen mit italienischen verglichen werden könnten, ist zunächst unklar. Es gibt "die" deutsche Territorialstruktur schlechthin nicht. Eine Summe von Besonderheiten aber eignet sich nicht zum Vergleich. Die Schwierigkeiten werden noch dadurch vermehrt, daß es in Deutschland erst relativ bescheidene Ansätze für eine vergleichende landesgeschichtliche Forschung gibt, die nur die deutschen Territorien zum 0. Brunner, Land und Herrschaft, 5. Auf!., Wien 1965, S. 111 ff. Am konsequentesten bekannte sich nicht ein Jurist, sondern der Historiker Georg von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, 1914, S. 107 ff. zur Unentbehrlichkeit des modernen Rechts, um uns die Verhältnisse der Vergangenheit "nahezubringen".

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Gegenstand hat6. Der angestrebte Vergleich mit Italien zwingt aber dazu, sich zunächst wieder auf die Gemeinsamkeiten der deutschen Territorialstaatsbildung zu besinnen und das Gewirr der deutschen Landesherrschaften strukturell und typologisch zu ordnen. Ein solches Unterfangen kann hier nur mit groben Vereinfachungen ins Werk gesetzt werden. Dem Leser dieses Bandes mag der folgende Abschnitt den Einstieg dennoch erleichtern.

ll. Faktoren der spätmittelalterlichen Staatsbildung in Deutschland 1. Strukturelle Gemeinsamkeiten der deutschen Landesherrschaften Die Bausteine, aus denen im Spätmittelalter der deutsche Territorialstaat gebildet wird, sind fast überall die gleichen oder doch sehr ähnlich. Sie werden aber immer wieder anders zusammengefügt, so daß die entstehenden Gebäude, in denen sich der Staat etabliert, ein recht verschiedenartiges Aussehen haben können, wenn sie auch stets den gleichen Funktionen dienen7 • Metaphorische Umschreibungen dieser Art sind in der deutschen Historiographie nicht zufällig häufiger anzutreffen. Sie versuchen einerseits die Determiniertheil der Territorialstaatsbildung zu veranschaulichen; andererseits wollen

Die folgende kleine Bibliographie klammert die sehr viel umfangreichere Literatur zur vergleichenden Städteforschung aus. - H. Spangenberg, Landesherrliche Verwaltung, Feudalismus und Ständeturn in den deutschen Territorien des 13. bis 15. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift, 103 (1909), S. 473 ff.; E. Bamberger, Die Finanzverwaltung in den deutschen Territorien des Mittelalters 1200-1500, in: ZStW, 77 (1922-23), S. 168 ff.; G. Theuerkauf, Zur Typologie der spätmittelalterlichen Territorialverwaltung in Deutschland, in: Annali della Fondazione italiana per Ia storia amministrativa, 2 (1965), S. 37 ff.; G. Droege, Die finanziellen Grundlagen des Territorialstaates in West- und Ostdeutschland an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 53 (1966), S. 145 ff.; H. Patze (Hrsg.), Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, 1-2 (Vorträge und Forschungen, 13-14), Sigmaringen 1970-71; ders., Die Bildung der landesherrlichen Residenzen im Reich währeqd des 14. Jahrhunderts, in: W Rausch (Hrsg.), Stadt und Stadtherr im 14. Jahrhundert, 1972, S. 1 ff. ; ders. , Die Herrschaftspraxis der deutschen Landesherren während des späten Mittelalters, in: Histoire comparee de l'administration (IVXVIIIe siede), (Beihefte der ,.Francia", 9), 1980, S. 363 ff.; G. Gudian, Die grundlegenden Institutionen der Länder, in: H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neuereneuropäischen Privatrechtsgeschichte, 1, München 1973, S. 403 ff.; D. Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: K. G.A. feserieb I H. Poh/ I G. -Ch. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, 1, Stuttgart 1983, S. 66 ff.; A. Ger/ich, Geschichtliche Landeskunde des Mittelalters. Genese und Probleme, Darmstadt 1986; C.-H. Hattptmeyer (Hrsg.), Landesgeschichte heute, Göttingen 1987; ebd. insbesondere F. Irsigler, Vergleichende Landesgeschichte; W Zieg/er, Territorium und Reformation, in: Historisches Jahrbuch, 110 (1990), S. 52 ff. Der folgende Text faßt zunächst die wichtigsten bei D. Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung, S. 66 ff. näher ausgeführten Punkte zusammen.

Spätmiuelalterliche Staatsbildung im Vergleich

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sie vermitteln, daß dieser Prozeß nicht nach überall in gleicher Weise gültigen Gesetzmäßigkeiten abgelaufen ist. Das Verständnis der Vorgänge wird indessen erleichtert durch die Tatsache, daß allen potentiellen Landesherren nur ein begrenztes ReseiVoir von Herrschaftsformen, mit deren Hilfe Flächenstaaten errichtet werden konnten, zur Verfügung stand. Im wesentlichen sind dies die adeligen und kirchlichen Grundherrschaften, die verschiedenen Formen der Gerichtsbarkeit, insbesondere die Vogtei über Kirchengut, und gewisse Regalien, wie etwa das Jagd-, Berg- und Geleitrecht Seit dem 13. Jahrhundert werden alle diese Herrschaftsrechte Gegenstand eines umfassenden Mobilisierungs- und Kommerzialisierungsprozesses. Sie werden verkauft und geschenkt, in Heirats- und Erbverträgen übertragen, verpfändet oder als Lehen ausgegeben. Insgesamt bilden sie noch kein notwendigerweise zusammengehöriges Substrat, das einer abstrakten Staatspersönlichkeit zugeordnet werden könnte. Es ist allein die Person des Landesherrn, die als Inhaber der einzelnen Rechte diese zusammenfaßt und ihre Handhabung organisiert. Dies geschieht so gut wie überall durch ein Netz lokaler "Ämter". Meist in einer Burg, zuweilen in einer kleineren Landstadt residiert ein Amtmann als Vertreter des Landesherrn mit der Aufgabe, die Einnahmen aus dessen eigenen Grundherrschaften, die Steuern aus Städten und kirchlichen Liegenschaften und sonstige Abgaben einzuziehen, das Gerichtswesen zu beaufsichtigen oder selbst Gericht zu halten, den militärischen Schutz der Region zu gewährleisten und im Ernstfall das bewaffnete Aufgebot zu führen. Mit dieser Amtsverfassung ist noch keineswegs die Enrstehung eines modernen Beamtenturns verbunden. Die Amtleute erhalten das Amt zuweilen auf Lebenszeit oder widerruflich, häufig aber auch als Lehen oder als Pfand. Überwiegend dem niederen Adel angehörend, verfolgen sie nicht selten eigene herrschaftliche oder zumindest massive finanzielle Interessen. In seiner Residenz steht dem Landesherrn nur ein sehr beschränkter Kreis von Helfern zur Verfügung: Notare und Kanzler in der Kanzlei; einige Inhaber alter Hofämter, vor allem der für die militärische Sicherheit der Hofhaltung verantwortliche Marschall, ein Kammermeister, der Geld und Wertsachen in seiner Obhut hat, vielleicht ein Küchenmeister, der für die Versorgung des Hofpersonals verantwortlich ist; schließlich entsteht in der engeren Umgebung des Landesherrn ein noch locker organisiertes Ratskollegium und die Funktion eines obersten Verwalters der Finanzen. Die Beziehungen zwischen der Residenz und den einzelnen Ämtern beschränken sich nicht selten nur darauf, die in der Provinz erwirtschafteten Überschüsse abzuschöpfen, notfalls auch defizitäre Ämter zu unterstützen. Vieles spricht dafür, daß sich die domini terrae des 13. Jahrhunderts in erster Linie als Eigentumsherren, weniger als Inhaber einer politischen Funktion verstanden8 .

R D. Willoweit, Rezeption und Staatsbildung im Mittelalter, in: D. Sirnon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Recht'ihistorikertages, Frankfurt am Main 1987, S. 19 ff., 30 ff.

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Seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert indessen mehren sich die Anzeichen für eine Verdichtung der Herrschaftsbeziehungen innerhalb der Landesherrschaften. Steigender Geldbedarf, vielfach ausgelöst durch kostspielige Streitigkeiten um einzelne Herrschaftsrechte, führt zu immer weiter gehenden Steuerforderungen, die ihrerseits einen zunehmenden politischen Einfluß der Steuerpflichtigen zur Folge haben. Es sind die Stände, also Klerus, Adel und Städ~ te, die erstmals ein Interesse an der Einheit des Territoriums artikulieren, weil Veräußerungsgeschäfte und ähnliche Aktivitäten des Landesherrn die Steuerlast der verbleibenden Untertanen erhöhen. Andererseits beginnt sich in bedeutenderen Herrscherfamilien die Einsicht durchzusetzen, daß der Fortbestand der Dynastie am besten durch Einführung der Primogenitur gesichert wird. Seit dem späten 14. und besonders im 15. Jahrhundert wachsen den Landesherren auch neue Aufgaben zu. Sie kümmern sich anstelle der Bischöfe, die fast alle als geistliche Reichsfürsten ihr Amt nun in erster Linie als ein politisches verstehen und mit den weltlichen Fürsten konkurrieren, um die kirchliche Disziplin bis in viele Details hinein. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts reglementieren die Fürsten dann auch mit einer rasch intensiver werdenden Gesetzgebung Leben und Wirtschaften ihrer Untertanen. Indem die Landesherren nunmehr deren Verhalten zu steuern versuchen, transformieren sie das alte mittelalterliche Herrschaftswesen in den frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, der schließlich auch mit Erfolg sein Gewaltmonopol durchsetzt9 .

2. Typen der Landesherrschaft in Deutschland Die Ähnlichkeit der strukturellen Entwicklung deutscher Landesherrschaften im Spätmittelalter darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen sehr unterschiedlich gewesen sind. Diese Tatsache ist in der deutschen landesgeschichtlichen Forschung, die gegenüber verallgemeinernden Charakterisierungen ein tiefes Mißtrauen entwickelt hat, vielleicht zuwenig beachtet worden. Schon der in der Forschungsliteratur allgegenwärtige, unentwegt benutzte Terminus "Landesherrschaft" täuscht eine Gleichartigkeit politischer Gebilde vor, die sich in Wahrheit, bei einigen Gemeinsamkeiten, sehr stark unterschieden. Dem modernen Beobachter ist vor allem der Sinn für die ständischen Schranken, welche die einzelnen Landesherren ganz verschiedenen politischen Welten zuordnen konnten, abhanden gekommen. Fürsten einerseits, Grafen und sonstige Herren andererseits waren zwar jeweils Landesherren, aber doch solche ganz verschiedenen Ranges. Ebenso unterscheiden sich die weltlichen und die geistlichen Fürsten jedenfalls solange fundamental, wie die Bischofssitze nicht von den fürstlichen Familien, sondern von der Ritterschaft besetzt werden. Schließlich gibt es Strukturunterschiede zwischen dem AltsiedeHand des Reiches und dem ostelbischen Kola9 Die Voraussetzungen dafür wurden endgültig durch den "Ewigen Landfrieden" von 1495 geschaffen; vgl. dazu mit weiteren NachweisenD. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., München 1992, § 15, S. 92 ff., 98.

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nisationsgebiet, auch zwischen dem großen fränkischen Rechtsraum, der sich etwa vom Niederrhein bis Thüringen und von dort nach Schwaben erstreckt, und den bayerisch-österreichischen Ländern im Süden und den sächsischen Ländern im Norden Deutschlands10. Wenig beachtet wurde in der Forschung bisher der besondere Rang der Fürstenwürde. Der princeps steht seit dem 12. Jahrhundert, in Einklang mit der gelehrten Rechtsliteratur, in seiner Region für den Kaiser. Weil er an dessen Legitimität teilhat, wird seine Autorität als Inhaber von Regalien, Gerichten und anderen Herrschaftsrechten anerkannt. Nur so wird auch verständlich, warum eine lange Reihe bedeutenderer Grafschaften im Laufe des späten Mittelalters die Fürstenwürde anstrebten und erhielten 11 • Landesherren geringeren Standes blieben politisch weitgehend einflußlos auch in der frühen Neuzeit und waren gezwungen, sich an die Fürsten ihrer Region anzulehnen. Aus allen diesen Gründen mußte für einen Vergleich deutscher und italienischer Territorialstrukturen der Versuch gewagt werden, eine grobe Typologie deutscher Landesherrschaften zu entwerfen. Regionale Gesichtspunkte waren dabei ebenso zu berücksichtigen wie ständische in dem angedeuteten Sinne. So lassen sich sicher die Gruppen der weltlichen süddeutschen,.norddeutschen und ostelbischen Fürstentümer unterscheiden, von diesen wiederum die geistlichen Fürstentümer und die Grafschaften, letztere gleichfalls in regionalen Gruppen zusammengefaßt. Das so in Umrissen erkennbare Programm konnte auf der hier dokumentierten Tagung nicht in vollem Umfang verwirklicht werden. Der Leser wird es jedoch in den deutschen Beiträgen wiedererkennen und die Tragfähigkeit des Konzepts überprüfen können. Die Ergebnisse der Tagung sollen hier nicht vorweggenommen werden. Es sei jedoch erlaubt, auf einige Aspekte von zentraler Bedeutung hinzuweisen, aus denen sich mir die Fruchtbarkeit vergleichender Forschungen zweifelsfrei zu ergeben scheint. So darf ich hinweisen auf die virtuose Handhabung des Brunnersehen Paradigmas "Land" und "Herrschaft" durch Wilhelm Brauneder, das die süddeutsch-österreichischen Territorialverhältnisse ausgezeichnet erschließt; auf die Unterscheidung einer älteren und jüngeren Schicht von Territorien durch Wilhelm Janssen, die endlich einer differenzierteren Handhabung der Kategorie "Landesherrschaft" den Weg bereitet; auf die Bestätigung dieser Beobachtungen durch Rudolf Endres, der den Typus einer jüngeren, fast ex nihilo entstehenden Landesherrschaft schildert; auf die eigentümliche, 10 Nicht zu vergessen ist, daß sich im Reich die bedeutende soziale Gruppe der Reichsritter mit zahllosen Territorialsplittern dem Prozeß der Staatsbildung entzog; vgl. dazu die Arbeiten von Volker Press: zusammenfassend V. Press, Reichsritterschaft, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 4, Sp. 743 ff. mit weiteren Nachweisen. 11 So z.B. Hessen, Jülich, Mecklenburg, Luxemburg, Berg, Kleve, Württemberg; grundlegend dazu noch immer]. Ficker, Vom Reichsfürstenstande, 1, Innsbruck 1861; vgl. G. Tbeuerkauf, Reichsfürsten, -stand, -rat, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 4, Sp. 573 ff. mit weiteren Nachweisen.

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durch frühzeitige Rationalisierung gekennzeichnete Territorialität geistlicher Landesherrschaften, die Günter Christ herausarbeitet; schließlich auf die Sonderstellung eines starken, gleichwohl aber landsässigen Adels in den ostelbischen Territorien, die von Thomas Klein vergleichend vorgestellt werden. Ohne Zweifel werden auch die Bemühungen dieses Symposions den Eindruck hinterlassen, daß am Ende mehr Lücken sichtbar geworden sind, als Einsichten vermittelt werden konnten. Doch scheinen uns diese zu bestätigen, daß der Weg vergleichender Forschung in Zukunft stärker genutzt werden sollte, als bisher geschehen.

Die Territorialstrukturen

im süddeutsch-österreichischen Raum· Von Wilhelm Brauneder

I. Grundsätzlich-Typologisches

1. Territorien: Länder und Herrschaften Das Wort .Territorium" 1 wird hier in der Folge in einem neutralen Sinne für Gebietsherrschaften unterschiedlichster Art verstanden. Ihr gemeinsames Merkmal besteht darin, Herrschaftsebene unmittelbar unter dem Reich, sogenannter .Flächenstaat" zu sein oder sich dazu entwickeln zu wollen. Zu diesen Territorien zählen als spezifische Erscheinungsformen das Land in verschiedenen Ausgestaltungen sowie diverse Arten an Herrschaften. Im wesentlichen liegt dieser Unterscheidung die Otto Brunners in "Land und Herrschaft" zugrunde 2, modifiziert hier durch die Mehrzahlform .Länder und Herrschaften". Herrschaft kann, muß aber nicht mit dem Land identisch sein: Einerseits bilden mehrere Herrschaften ein Land, aber auch mehrere Länder eine Herrschaft. Da Land nicht Herrschaft ist und unser Augenmerk auch anderen als den gewohnten Ländern zu gelten hat, wird von Ländern die Rede sein, die bald verschwunden sind.

2. Länder-Typen a) Merkmale des Landes Das Land im vollen, ausgebildeten Sinn weist drei Hauptmerkmale auf. Es sind dies: Landesfürst, Landstände bzw. die Landsgemeinde als ihre Vorform Die in Anm. 1 als "jüngst erschienen" angeführte Literatur ist in diesem zuvor abgefaßten Text nicht berücksichtigt! Zum Folgenden K . Lechner, Die Bildung des Territoriums und die Durchsetzung der Territorialhoheit im Raum des östlichen Österreich, in: H. Patze (Hrsg.), Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert II (Vorträge und Forschungen XJV), Sigmaringen 1971 , S. 403. Jüngst erschienen: E. Riedenauer (Hrsg.), Landeshoheit (Studien zur bayerischen Vefassungs- und Sozialgeschichte, XVI), München 1994; Bericht über den 19. Österreichischen Historikertag (Veröffentlichungen des Verbandes österr. Historiker und Geschichtsvereine, 28), Wien 1993, S. 11 ff., 105 ff. 0 . Brunner, Land und Herrschaft, 5. Auf!., Darmstadt 1981, S, 165 ff.

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und schließlich das Landesrecht3. Der Landesfürst4 ist zwar ein typisches, vor allem ein signifikantes Merkmal, aber nicht essentiell. So existieren Länder ohne Landesfürsten wie etwa die Kantone der schweizerischen Eidgenossenschaft, Territorien im (späteren) Land Vorarlberg wie etwa da~ "Land" des "Bregenzerwaldes" mit seinen "landlüt"5 und ähnliche Klein-Länder wie etwa das "Ischlland" im Österreichischen Salzkammergut. Diese Länder besitzen, modern gesprochen, kein Organ ,Landesfürst'. Andere Länder hingegen kennen dieses wohl, doch ist es faktisch nicht vorhanden, da das Land in Personalunion mit einem anderen steht und der gemeinsame Landesfürst von hier aus regiert: Dies ist beispielsweise der Fall im Land (Österreich) ob der Enns. Essentielles Element des Landes ist hingegen das Landesrecht6• Es stellt die unabdingbare institutionelle Verklammerung der Herrschaftsträger und Obrigkeiten wie Grund- und Stadtherrn im Lande dar, ohne dessen Existenz es kein Zusammenwirken aufgrund anerkannter Rechtsregeln, kein sozusagen alltägliches, allenfalls erzwingbares Zusammenleben gäbe. Vor allem in Zeiten gelebten - Gewohnheitsrechtes steht dieses Landesrecht in zwingendem Bedingungszusammenhang mit den es miterzeugenden und gleichzeitig ihm unterworfenen Rechtsgenossen. Zu ihnen zählt ausschließlich oder zumindest in erster Linie die adelige Bevölkerung und mit ihnen jedenfalls die Inhaber der diversen Herrschaften und Obrigkeiten im Land. Es ist dies die Gerichtsgemeinde des Landesrechts, mehr oder weniger identisch mit der Landsgemeinde7, den späteren Landständen. Sie sind daher gleichfalls ein essentielles Merkmal der Territorialform Land, doch ist ihr - späterer - Wegfall durchaus vorstellbar - was die essentielle Rolle des Landesrechts unterstreicht. Im Zusammenhang mit dem Landesrecht sowie seinen Erzeugern und gleichzeitig Adressaten steht weiters, daß das Land zusätzlich zu seinem Wesen als Landrechtsbezirk ein besonderer Rechtsbezirk sein kann, nämlich Landfriedensbezirk8. Wie sehr das Landesrecht übrigens als Essentiale des Landes angesehen wird, zeigt sich im 16. Jahrhundert darin, daß trotz länderübergreifender Herrschaft die Bemühungen um ein je eigenes Landrecht in Österreich unter der Enns sowie im Land ob der Enns energisch betrieben werden9 . 3 Zum Wesen des Landes: ebd., S. 180 ff., 231 ff. ; W Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 6. Aufl., Wien 1992, S. 23. 4 Zum Folgenden 0 . Brunner, Land und Herrschaft, S. 181, 207, 231 ff.; W Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 31 f. 5 B. Bilgeri, Geschichte Vorarlbergs II, Wien I Graz I Köln 1974, S. 98. 0. Brunner, Land und Herrschaft, S. 234 ff. Ebd., S. 194 f., 237 ff. ; W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 34 ff. 8 0 . Brunner, Land und Herrschaft, S. 183, 193, 197. Hierzu W. Brauneder, Zur Gesetzgebungsgeschichte der niederösterreichischen Länder, in: Festschrift Demelius, Wien 1973, S. 12 ff.

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b) Land mit bzw. ohne Landesfürsten Wir können somit zwei Haupttypen an Ländern unterscheiden: Länder mit institutionellem Landesfürsten einer- und Länder ohne die Institution ,Landesfürst' andererseits; ihnen ähnlich sind die Länder faktisch ohne Landesfürsten. In den beiden letztgenannten Fällen tritt naturgemäß die Landsgemeinde als einziger permanenter Repräsentant des Landes auf. In jedem Fall einigt das Land eine gemeinsame, allmählich herangewachsene Ordnung und im unabdingbaren Zusammenhang damit ihr Erzeuger- sowie gleichzeitiger Adressatenkreis als organisierter Personenverband: Landesrecht mit Landsgemeinde.

3. Herrschafts-Typen Anders als das Land ist Herrschaft10 unabhängig von den beiden eben erwähnten Elementen Landesrecht und Landsgemeinde, sie ist rechtlich fundierte Machtausübung durch einen reichsunmittelbaren Herrn, in der Regel eines Reichsfürsten. Während das Land durch die normative Ordnung des Landesrechts konstituiert wird, so Herrschaft durch einzelne, unterschiedliche Rechte in der Hand des Herrschafts-Herrn. Daraus versteht es sich auch, daß Herrschaft in verschiedenen Arten je nach der größeren oder kleineren, lockereren oder dichteren Summe derartiger Rechte in Erscheinung tritt. a) Land als Herrschaft Herrschaftsbereich kann natürlich auch das Land sein, nämlich aus der Sicht des Landesherrn 11 , wenn sein Herrschaftsbereich mit dem Land zusammenfällt. Es ist dies dann als Landes-Herrschaft eine Form beschränkter Herrschaft, beschränkt durch das Landesrecht und die Landstände, in die der Landesfürst eingebunden ist. Hier soll nun in der Folge von - bloßer - Herrschaft nur dann gesprochen werden, wenn diese nicht mit dem Territorialtypus Land zusammenfällt, von ihm also verschieden ist. b) Landähnliche Herrschaft Schematisch besehen, fehlt dieser Form der Herrschaft eines der essentiellen Landesmerkmale, vor allem das Landesrecht und allenfalls zusätzlich noch die Landsgemeinde. In diesem Sinne kann Herrschaft Vorform zum später voll entwickelten Land sein oder "unvollständiges Land" bleiben, damit die Landesbildung verfehlen. Beispiele für "werdende Länder" bieten in der Folge diese 0. Brunner, Land und Herrschaft, S. 165 ff., 170 ff., 180 ff. 0. Stolz, Zur Entstehung und Bedeutung des Landesfürstentums im Raume Bayern - Österreich - Tirol, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte - Germanistische Abteilung, 71 (1954), S. 344; 0. Bntnner, Land und Herrschaft, S. 197. 10 11

3 Chiuulini I Willuwcil

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selbst. Unvollständig gebliebenes Land ist beispielsweise das Titularherzogtum Meranien12, die Herrschaft des (Titular-) Herzogs von Meranien, in der es zu keiner Ausbildung eines Landesrechts kommt, die Adelsversammlung bildet auch keine Korporation. Was hier nicht beabsichtigt war, eine spätere Entwicklung aber hätte bringen können, gehört im Falle der Erhebung der Herrschaft der Grafen von Cilli 13 in den Reichsfürstenstand 1436 zum bewußten Plan einer Landesbildung. Er blieb durch das Aussterben der Grafen von Cilli schon 1456 unrealisiert, die Landesbildung, sichtbar im Landgericht zu Cilli, fand nicht statt. c) Klein-Herrschaft Darunter werden kleinräumige, aber dennoch reichsunmittelbare Herrschaftsgebiete verstanden, in denen es, eben aufgrund der Kleinräumigkeit, nicht zur Ausbildung einer Landsgemeinde und eines Landrechts kommt. Hierher zählen etwa die Reichsgrafschaften Deosendorf oder Hardegg nördlich des Herzogtums Österreich an der Grenze zu Böhmen oder vor allem die Gebiete der Reichsritterschaft im Südwesten des Reiches14 • d) Land mit "partes annexae" Hier handelt es sich um eine Herrschaft, die ihr Zentrum in einem Land besitzt, darüber aber in angefügten Teilen hinausgeht: In diesen gilt nicht das Landesrecht, sie beschicken nicht die Landsgemeinde. Dies ist der Fall bezüglich des Herrschaftssprengels der Herzöge von Österreich15 wie auch von Steiermark, wo die Ausübung der Herzogsgewalt in einem größeren Territorium als bloß im Land erfolgt, nämlich überdies noch in einem "membrum ducatui austrie annexum" 16 . Typisch hiefür ist auch die Herrschaft des Erzbischofs von Salzburg, die sich neben dem geschlossenen Gebiet nördlich des Alpenhauptkammes auf den südlich angrenzenden Lungau sowie Exklaven südlicher davon erstreckt17: Die erstgenannten Gebiete entwickeln sich zum Land, die Exkla-

12 Ebd. , S. 214; W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 23; K. Lechner, Österreich, in: G. W . Sante (Hrsg.), Geschichte der deutschen Länder. "Terri-

torien-Ploetz" 1, Würzburg 1964, S. 693, 707, 730. 13 0. Brunner, Land und Herrschaft, S. 197; M. Mitterauer, Ständegliederung und Ländertypen, in: Herrschaftsstruktur und Ständebildung 3, München 1973, 162; K. Lechner, Österreich, S. 683 f., 709. 14 0. Brunner, Land und Herrschaft, S. 197; K. Lechner, Die Bildung des Territoriums, S. 437 ff. ; V. Press, Reichsritterschaften, in: K.G.A. feserieb u.a. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte I, Stuttgart 1983, S. 679 ff. 15 Etwa solche "intra fines Hungariae": 0. Brtmner, Land und Herrschaft, S. 198. 16 K. Lechner, Die Bildung des Territoriums, S. 438. 17 Zum Folgenden 0. Brunner, Land und Herrschaft, S. 223 ff.

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ven verbleiben bloß im Herrschaftsbereich außerhalb desselben: In ihnen gilt nicht Salzburger Landesrecht, sie beschicken nicht den Salzburger Landtag.

Partes annexae besitzen auch landesfürstenlose Länder wie die (modern gesprochen) Schweizer Kantone in den "Untertanengebieten", die von der Obrigkeit des Kantons regiert werden, ohne aber diesem anzugehören. Manche Untertanengebiete unterstehen als "Gemeine Herrschaften" mehreren Kantonen als gemeinsam verwaltetes Kondominium18 . e) Länderverbindungen Herrschaft kann auch darin bestehen, daß mehrere Länder zumindest in Personalunion verbunden sind. Auch hierzu können partes annexae treten. Derartige großräumige Herrschaften entstehen im westlichen Ostalpenraum durch die Erwerbungen des Hauses Görz, die das Dominium Goritiae, sowie östlich davon durch das Haus Habsburg, die das Dominium Austriae bilden. Beide Dynastien 19 teilen ihren Herrschaftskomplex auf unterschiedliche und wechselnde Weise. Im Hause Habsburg etabliert vor allem 1379 der Neuherger Vertrag die Ländergruppen-Herrschaft der leopoldinischen Linie einerseits und die der albertinischen Linie andererseits20• Beide umfassen jeweils mehrere Länder mit partes annexae. Die Länderverbindung als Herrschaft hebt sich vom jeweiligen Land insbesondere dadurch ab, daß die Politik des oder der Herrschaftsinhaber überwiegend auf den Herrschaftskomplex bezogen ist, während die Länder ihre eigene Politik betreiben, da in diesem Falle fast allein durch die Landstände regiert. Sie repräsentieren das Land, insbesondere jene faktisch ohne Landesfürsten, die Dynastie steht für die Länderverbindung und ihre partes annexae als Herrschaft. Ländergruppen-Herrschaft entsteht aber auch anders als durch fürstlichdynastische Unionen, nämlich bei Territorien ohne Territorialfürsten. Anders als dort können die nicht-fürstlichen Regenten freilich keine dynastisch-familiären Bindungen eingehen, sondern Bündnisse mit spezifischen Sachinhalten. Es sind dies die Eidgenossenschaften wie vor allem die in der Schweiz. Die "confoederatio" umfaßt hier die (modern gesprochen) Kantone als landesfürstenlose Länder sowie mit deren "Untertanengebieten" auch partes annexae in vielfältigen und komplizierten Formen21 • K.H. Peyer, Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich 1978, S. 58, 60, 36 ff. W. Brattneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 49 ff.; zur Gleichung "Stände" = "Land" bzw. "Dynastie" = "Herrschaft": H. Sturmberger, Kaiser Maximilian 1., in: ders., Land ob der Enns und Österreich. Aufsätze und Vorträge (Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs, Ergänzungsband 3), Linz 1979, S. 141. 20 Hierzu eingehend: H. Hantsch, Geschichte Österreichs I, Graz I Wien I Köln 1953, S. 167, 176 ff., 196 ff. sowie E.C. Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 2. Auf!., Wien I New York 1974, S. 69 ff.; im Überblick: W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 49 ff. 21 K.H. Peyer, Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, S. 31 ff., 36 ff. 18

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11. Einzelne Territorien Als Beispiel für die zum Teil höchst unterschiedliche Art der Territorienbildung und damit des Territoriencharakters seien einige süddeutsch-österreichische Territorien in ihrer mittelalterlichen Entwicklung kurz vorgeführt, und zwar beginnend im Osten.

1. Österreich (unter der Enns) Im Jahre 1156 wird die Mark Österreich22 zum Herzogtum erhoben und damit von Bayern losgelöst. In diesem 12. Jahrhundert existiert ein Landesrecht, das Landesbewußtsein schlägt sich auch in der konkreten Bezeichnung "Osterlant" nieder, die genauer als das unscharfe .Ostarrichi" ist. Dessen Wortteil "riche" (Reich) bezeichnet bloß irgendeinen Herrschaftsbereich ohne Landescharakter, wie etwa "Poigreich" die Herrschaft des Grafen von Poigen-Rebenau um Horn. So steht "Ostarrichi" ursprünglich unpräzise für einen Herrschaftsbereich im· östlichen Grenzraum des Reiches wie 998 "regio Ostarrichi" und allein "Ostarrichi", nachträglich um etwa 1000 in eine Urkunde von 996 eingesetzr23. Noch vor 1156 ist vom Landesfürstentum (principatus) die Rede, bald darauf 1177 vom princeps terrae und sodann 1192 vom dominus terrae. Das Herzogtum stellt jedoch keineswegs ein geschlossenes Territorium unter alleiniger herzoglicher Obergewalt dar. Es sind die einzelnen Herrschaften nämlich grundsätzlich "die eigentlichen Strukturelemente des Landes Österreich" 24 • Zu ihnen zählen neben jenen des Herzogs als ehemaligen Markgrafen "Bezirke, für die sich Ansätze eines eigenen Land- und Territorialrechtes finden" 25 , nämlich reichsunmittelbare Herrschaften, Herrschaften auswärtiger Reichsfürsten in den feuda extra curtem, die erst allmählich an den Herzog fallen und in das Land inkorporiert werden, was sich darin zeigt, daß der Herzog weiterhin auch die Titel dieser Gebiete führt wie etwa "Markgraf von Drosendorf" 26.

2 . Land (Österreich) ob der Enns Hier27 erfolgt eine besonders interessante Landesbildung. Aus Herrschaften mit dem Charakter von partes annexae zu den Ländern Steiermark und Öster22 Zum Folgenden: K . Lecbner, Österreich, S. 623 f., 627 ff.; 0. Stolz, Zur Entstehung und Bedeutung des Landesfürstentums, S. 344 f.; W Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 26; 0. Brunner, Land und Herrschaft, S. 200 ff. 23 K. Lecbner, Die Bildung des Territoriums, S. 409; 0. Brunner, Land und Herrschaft, S. 201 f. 24 K. Lecbner, Die Bildung des Territoriums, S. 459. 25 Ebd., S. 437. 26 Ebd., S. 437 ff. 27 Zum Folgenden: K. Lecbner, Österreich, S. 658 ff., 661, 663 f.; W Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 27; 0 . Brunner, Land und Herrschaft, S. 205

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reich, aus Klein-Herrschaften sowie Klein-Ländern wächst das Land einerseits durch den Herzog von Österreich zusammen, andererseits aber bilden sich eine eigene Landsgemeinde und schließlich eigene, von Österreich (unter der Enns) unabhängige Landstände. Dem Herzog von Österreich gelingt es also nicht, diese Herrschaften in sein Land Österreich zu inkorporieren! Zwar gilt es 1254 als "provincia" und sogar 1358 noch als "marchia" des Herzogtums Österreich, aber eben als abgesonderter Teil, 1437 dann als eigenes Fürstentum. Denn schon im 13. Jahrhundert besitzt das Land ob der Enns einen eigenen Landrichter, ein eigenes Landesrecht sowie eine eigene Gerichtsgemeinde. Ähnlich wie in Österreich existieren noch landähnliche Herrschaften, etwa das Ischlland oder das Gebiet der Grafen von Schaunberg. Da das Land ob der Enns vom Landesfürsten eines anderen Landes mitgeformt wird, gibt es ein typisches Beispiel für ein Land faktisch ohne Landesfürsten ab: Nur von 1457 bis 1462 besitzt es in Albrecht VI. einen eigenen Landesfürsten, ansonsten regiert der Landesfürst infolge Personalunion von einem der anderen habsburgischen Länder aus. Deutlich wird dies übrigens insoferne, als das Land ob der Enns kein eigenes Reichslehen bildet, sondern als Österreich schlechthin ein solches gemeinsam mit dem Land unter der Enns, so daß etwa 1373 vom "Herzogtum unter und ob der Enns" die Rede ist. Reichs- bzw. lehenrechtlich existiert somit kein eigener obderennsischer Reichsfürst! Den - auswärtigen - Landesfürsten repräsentierte der für ihn amtierende Landeshauptmann. Zeitweilig war dieses Amt nahezu erblich, weitere Ämter vom Landeshauptmann abhängig. Allerdings unterstand ihm das ganze Land erst im 15. Jahrhundert, nunmehr war es fast voll als eigener Rechtsbezirk ausgebildet. Typisch dafür ist die Einteilung des Landes in vier Viertel als Verwaltungssprengel 1478, und 1490 die Nennung einer Stadt, Linz/Donau, als Hauptstadt.

3. Steiermark Die Landesbildung28 erfolgt ähnlich wie in Österreich, wird jedoch stärker vom (späteren) Landesfürsten bestimmt, und zwar mangels anderer Herrschaften im Land. Dies manifestiert sich auch darin, daß die Dynastie der Herren von Steyr dem Land den Namen gibt und nicht umgekehrt die Dynastie den Namen des Landes annimmt wie im Falle Österreichs. Wie hier geht allerdings ff.; 0. Hageneder, Territoriale Entwicklung, Verfassung und Verwaltung im 15. Jahrhundert, in: TausendJahre Oberösterreich, Linz 1983, S. 53 ff.; ders., Land ob der Enns und die Herrschaft Freistadt im späten Mittelalter, in: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereins, 27 (1982), S. 55 ff. 28 Zum Folgenden: K. Lecbner, Österreich, S. 675 ff., 678; 0. Stolz, Zur Entstehung und Bedeutung des Landesfürstentums, S. 345; W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 26 f.; 0 . Bn.mner, Land und Herrschaft, S. 207 ff. ; K . Lecbner, Die Bildung des Territoriums, S. 406 f.; A. Mell, Grundriß der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des Landes Steiermark, Graz I Wien I Leipzig 1929, S. 141 f.

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die Herrschaft des Herzogs über das Land hinaus, sein .Herzogtum" umfaßt auch Gebiete im Land Kärnten. Herrschaften auswärtiger Landesfürsten wie vor allem Salzburgs zählen zum Land, dies trotz eigener Hochgerichtsbarkeit 1180 wird die Mark zum Territorialherzogtum erhoben; jedoch war bereits 1158 vom princeps de styre die Rede, 1160 von der terra29 .

4. Kärnten Das Land Kärnten30 entsteht durch einen Reduktionsprozeß im Bereich des alten gleichnamigen Amtsherzogtums, das mit seinen Marken bis nach Oberitalien, z.B. Verona, ausgriff. Das Herzogtum ist anfänglich auch hier größer als das Land, doch reduziert es sich schließlich auf das letztere. In bezug auf diese terra (1228) gilt 1239 der Herzog als prlnceps terrae. Die Reduktion des Herzogtums zum Land erfolgt durch die Ausbildung von landähnlichen Herrschaften zu Ländern wie etwa im Falle der "Karantanischen Mark" zum Land Steiermark sowie Krains und der Vorderen Grafschaft Görz, des heutigen Osttirol. Ähnlich kann Salzburg den Lungau in seine Landesbildung einbeziehen. Die salzburgischen wie auch die bambergischen Exklaven, diese mit dem Mittelpunkt Villach, machen die Landesbildung mit, bewahren jedoch bis in die Neuzeit einen hohen Grad an Selbständigkeit31 .

5. Krain handelt es sich um eine der Landesbildungen im Bereich des Amtsherzogtums Kärnten. Dieses langsame Herauswachsen wird darin deutlich, daß zwar noch 1261 der Herzog von Kärnten als "dominus Carniolae et Marchiae" bezeichnet wird, diese aber als abgehobene Gebiete erscheinen. Die Landesbildung erfolgt denn auch dadurch, daß diese zwei Klein-Länder zu einem Lande verschmelzen, nämlich (Alt-)Krain mit der Windischen Mark, die trotz Verschmelzung weiterhin zwei Reichslehen bleiben, aber etwa 1284 gemeinsam als "terra Carniolae et Marchia Slavonice" gelten. Dazu werden später auch andere Herrschaften z.B. in lstrien angefügt. Innerhalb des Landes liegen freilich Immunitäten von Brixen und Freising mit besonderen Gerichtsständen. Hier~ 2

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K. Lechner, Die Bildung des Territoriums, S. 407.

Zum Folgenden: K. Lechner, Österreich, S. 689 ff., 696; 0. Stolz, Zur Entstehung und Bedeutung des Landesfürstentums, S. 345; W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 25 f.; 0. Bnmner, Land und Herrschaft, S. 209 f., 211 , 212 f. 31 K. Lechner, Die Bildung des Territoriums, S. 435 f. 32 Zum Folgenden: K. Lechner, Österreich, S. 706 ff., 708 f.; 0. Bnmner, Land und Herrschaft, S. 213 f. 30

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6. Görz Beim33 Dominium Goritiae (1271) der Grafen mit Sitz auf der Burg Görz handelt es sich insgesamt um eine Herrschaft, die aus Ländern, Herrschaften und sonstigen Gebieten besteht und zudem keine räumliche Geschlossenheit aufweist. Zum dominium gehören neben Herrschaften etwa in Istrien auch die zuvor erwähnte Windische Mark und als eigenes Land die "Vordere Grafschaft Görz", das spätere Osttirol, sowie die (eigentliche) "Grafschaft Görz" mit dieser Stadt als Stammland. 7. Bayern

Ähnlich34 wie Kärnten entwickelt sich Bayern dadurch zum Land, daß, wie dort das Amtsherzogtum, hier das Stammesherzogtum einen Reduktionsprozeß durchläuft: Es sind vor allem geistliche Fürsten wie der Bischof von Passau, der Erzbischof von Salzburg und der Propst von Berchtesgaden, dann die Grafen von Tirol, die aus ihren Herrschaften Länder entwickeln, die schließlich eigenberechtigt neben das Land Bayern treten. Der Herrschaftsbereich des Herzogs von Bayern, das Herzogtum, ist ebenso wie in den Fällen Österreich und Steiermark größer als das Land, er umfaßt etwa auch das Mondseeund Wolfgangseegebiet, welche die bayerische Landesbildung nicht mitmachen, ferner die bayerischen Lehen im Land Österreich. Im Land besteht, neben den diversen Grundherrschaften, Vogteien etc. der wittelsbachischen Herzöge, auch Dynastenbesitz. Wie im Dominium Goritiae bzw. Austriae die Fürsten ihren Herrschaftskomplex, so teilen die bayerischen Herzöge das Land Bayern. Zwischen 1255 und 1506 existieren mit Ober- und Niederbayern zumindest je zwei eigene Länder mit partes annexae, jedoch mit einheitlichem Landesrecht und besonders daher unter Wahrung der Idee eines einheitlichen .,land zu Bayern", das nahezu identisch ist mit der fürstlich-dynastischen Herrschaft als "Haus zu Bayern" 35 .

33 Zum Folgenden: K. Lecbner, Österreich, S. 731; 0. Stolz, Zur Entstehung und Bedeutung des Landesfürstentums, S. 345 f. ; 0. Bnmner, Land und Herrschaft, s. 218 ff. 34 Zum Folgenden: A . Kratts, Geschichte Bayerns, München 1988, S. 126 ff.; B. Httbensteiner, Bayern, in: G. W . Sante (Hrsg.), Geschichte der deutschen Länder, S. 326 ff., 329 ff., 332 f. ; 0. Bnmner, Land und Herrschaft, S. 220 ff.; P. Fried, "Modernstaatliche" Entwicklungstendenzen im bayerischen Ständestaat des Spätmittelalters. Ein methodischer Versuch, in: H. Patze (Hrsg.), Der deutsche Territorialstaat, S. 301 ff.; K . Bosl, Stände und Territorialstaat in Bayern im 14. Jahrhundert, S. 343 ff. -~ 5 A. Kratts, Geschichte Bayerns, S. 120 f., 162 ff.; 0. Bnmner, Land und Herrschaft, S. 222; Tb. Strattb, Bayern im Zeichen der Teilungen und der Teilherzogtümer 0347-1450), in: M. Spind/er (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte li, München 1966, S. 254 ff.

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8. Bercbtesgaden

Das Land des Propstes von Berchtesgaden36 besteht im Kern aus einer seit 1194 mit Immunität ausgestatteten Grundherrschaft, die 100 Jahre danach auch den Blutbann erwerben kann. Ab dem 16. Jahrhundert ist der Propst überdies Reichsfürst Die Holden der Grundherrschaft besitzen allerdings, anders als ansonsten in einer Grundherrschaft, ihre Erblehen nach Landrecht, sind zu Kriegsdienst verpflichtet, so daß die weiteren Elemente eines Landes, nämlich Landesrecht und Landsgemeinde, vorhanden sind. 9 . Salzburg

Hier wird die Duplizität von Herrschaft und Land besonders deutlich37. Die Herrschaft des Erzbischofs von Salzburg setzt sich aus diversen Grafschaftsund Vogteirechten zusammen, wobei sich nur ein Teil dieser Herrschaft zum Land entwickelt. Dies geschieht auf Kosten älterer Territorien, in welchen diese Herrschaft gelegen ist, nämlich Kärnten und Bayern. Als Vorstufe hebt sich zuerst "in" diesen Ländern das "Gebiet", die "Herrschaft der Lande und Gerichte" des Erzbischofs ab, im 13. Jahrhundert zeigen derartige Mehrzahlformen noch das Fehlen einer (Landes-)Einheit an. Im 14. Jahrhundert wird der Verdichtungsprozeß deutlich; 1328 erläßt der Erzbischof "saecze" für "unser herrschaft", also ein als Einheit verstandenes Gebiet, 1331 ist von "des Iandes recht" die Rede, dann, 1342, vom .Land", 1403 vom .Land des Erzbistums zu Salzburg", 1497 etwa vom "Stift-Salzburgischen Land". In dieser, auf den Herrschaftsträger bezogenen Umschreibung lebt die Herkunft des Landes aus der Herrschaft fort. Dies auch im Titel des Landesfürsten: Er nennt stets bloß den Herrschaftsträger, nämlich den Erzbischof von Salzburg, ohne Hinzutreten einer weltlichen Würde, während beispielsweise der Bischof von Würzburg auch den Titel "Herzog von Franken" führt - freilich zurückgehend auf 1168 und damit die ältere Territorienbildung. Aus der Phase des werdenden Landes neben dem ebenso entstehenden Land Tirol ergibt sich durch die Verzahnung verschiedener Herrschaftsrechte der Streit um die Zugehörigkeit des Zillertales38: Hohe Gerichtsbarkeit, Forst36 Zum Folgenden: 0 . Stolz, Zur Entstehung und Bedeutung des Landesfürstentums, S. 348; 0 . Brunner, Land und Herrschaft, S. 226. Jüngst H. Dopscb, in: Bericht über den 19. Österreichischen Historikertag, S. 112 f. 37 Zum Folgenden: K. Lecbner, Österreich, S. 716 ff., 720 f.; 0. Stolz, Zur Entstehung und Bedeutung des Landesfürstentums, S. 347; W Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 28; 0. Bnmner, Land und Herrschaft, S. 223 ff.; H. Dopscb, Die Entstehung des Territoriums, in: H. Dopscb I H. Spatzenegger (Hrsg.), Geschichte Salzburgs 1/ 1, Salzburg 1981, S. 337 ff.; F. Koller, Die innere Entwickung, S. 594 ff.; ebd., 1/2: H. Dopsch, Recht und Verwaltung, S. 887 f.; ders., 650 Jahre "Land" Salzburg, in: Österreich in Geschichte und Gegenwart, 36 0992), S. 264 ff. Jüngst besonders fundiert U. Zaisberger, in: E. Riedenauer (Hrsg.), Landeshoheit, S. 213 ff. 38 0 . Stolz, Zur Entstehung und Bedeutung des Landesfürstentums, S. 347.

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und Bergregal stehen den Grafen von Tirol zu, Grundherrschaft, Niedergerichtsbarkeit und Steuerhoheit dem Salzburger Erzbischof. Mit der Ausbildung des .Landes des Erzbischofs von Salzburg" geht dessen Herrschaft über dieses Land hinaus, nämlich mit Besitzungen in anderen Ländern wie etwa in Österreich, in der Steiermark und in Kärnten.

10. Tirol Ebenso wie in Salzburg entsteht das Land Tirol39 allmählich durch die Ausdehnung und Verdichtung von Herrschaft vor allem im Stammesherzogtum Bayern. Noch 1271 gelten die diversen terrae und provinciae als Dominium Tirolis, also als Herrschaft der Grafen von Tirol, dann 1282 diese ihrerseits als terra. Nunmehr existieren bereits Landesrecht und Landsgemeinde. Auch hier wird, ähnlich wie bei Salzburg, bis Anfang des 15. Jahrhunderts die Landesherkunft aus einer Herrschaft in Mehrzahl-Bezeichnungen wachgehalten wie etwa .Grafschaft Tirol und die (übrigen) Herrschaften", was deutlich die besondere Landesstruktur schon ins zeitgenössische Bewußtsein hebt, und zwar als empfundenen Unterschied zu den geschlosseneren Ländern Österreich oder Steiermark. Auch nach der Landesbildung geht der Herrschaftsbereich des Tiroler Landesfürsten über das Land hinaus40 • Nicht zum Land gehören anfangs die von Bayern erworbenen Gebiete insbesondere im Unterinntal, wo bis 1532 noch bayerisches Recht gilt. Allmählich werden derartige Gebiete jedoch dem Lande inkorporiert. Eine faktische Inkorporation erfaßt selbst die Reichsfürstentümer der Bischöfe von Trient und von Brixen, die jedoch rechtlich dem Lande Tirol bloß .ratione foederis" verbunden sind.

11. Schwaben Mit41 Schwaben betreten wir einen ganz anderen Territorien-Typus. Das Charakteristikum gegenüber den sonstigen süddeutsch-österreichischen Territorien besteht im ersatzlosen Fortfall des Stammesherzogtums. Die ihm unterstellten Herrschaftsträger werden dadurch reichsunmittelbar, ihre Territorien 39 Zum Folgenden: K. Lecbner, Österreich, S. 218, 730 ff., 733; 0. Stolz, Zur Entstehung und Bedeutung des Landesfürstentums, S. 346 f., 348; W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 28; 0. Brunner, Land und Herrschaft, s. 227 ff. 40 Zum Folgenden: B. Hubensteiner, Bayern, S. 332, 335; K. Lecbner, Österreich, s. 730, 732. 41 Zum Folgenden: P. Blick/eI R. Blickle (Hrsg.), Schwaben von 1268 bis 1803 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, hrsg. von K. Bosl, 11/4), München 1979, S. 2R ff. ; E. Gönner I W. Zorn, Schwaben, in: G. W. Sante (Hrsg.), Geschichte der deutschen Länder, S. 293 ff.

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zu Herrschaften und eventuell auch Ländern42 . Die Folge davon ist die, daß besonders das Gebiet im Dreieck zwischen Bodensee-Donau-Lech in seiner "äußersten territorialen Zersplitterung beispielhaft für derartige Erscheinungen geworden (ist). Hier versagt jeder Versuch einer Ordnung" 43 • So finden wir denn hier auch Territorien unterschiedlichster Art, nämlich solche von Reichsfürsten, Reichsstädten, Reichsklöstern, Reichsrittern und sogar Reichsdörfern im Elsaß sowie Gerichtsgemeinden44 • Diese Territorien bilden einerseits Länder unterschiedlichster Art, andererseits Herrschaften in verschiedenartigsten Varianten. Dazu kommen Versuche überterritorialer Herrschaftsbildung wie oftmals durch die Habsburger mit der Absicht der Wiederherstellung des Herzogtums Schwaben45. Erfolg beschieden ist jedoch schließlich allein Württemberg, das sich zu einer derartigen überterritorialen Herrschaft und schließlich zum Land entwickelt46. Nicht gelingt dies den Habsburgern mit ihrer überterritorialen Herrschaft Vorderösterreich. Dieses bleibt stets Herrschaft über mehrere Länder mit je eigenen Landständen wie etwa Schwäbisch-Österreich im Donauraum mit insbesondere Burgau, Vorderösterreich im engeren Sinne im Rheingebiet um Freiburg/Breisgau 47 und schließlich Vorarlberg. 12. Werdendes Vorar/berg

Das Gebiet zwischen Bodensee und dem Arien (Arlberg) zerfällt bis in das 16. Jahrhundert hinein in einzelne Herrschaften und Klein-Länder. Der Großteil von ihnen tritt zueinander in Verbindung einmal durch Eidgenossenschaften ähnlich wie in der Schweiz sowie durch Personalunionen der Habsburger. Dieser Prozeß gleicht der Landesbildung ob der Enns: Zum Zusammenschluß der Herrschaften tritt die verbindende Wirkung der Personalunion des Landesherrn - von auswärts! Wie dort inkorporiert er wegen der Ausbildung der Landsgemeinde auch hier seine Erwerbungen nicht mit dem Nachbarland, nämlich Tirol. So formen Landesherr und Herrschaften gemeinsam ein neues Land. Dieses, vorerst als "Land" schlechthin (1412), dann als "Land im Walgau" bezeichnet (1444), kann seine Herkunft aus mehreren Herrschaften nicht so bald abstreifen: Noch 1474 ist beispielsweise die Rede von den "vier Herrschaften enhalb des Arien", sie bilden "die vorderen Lande", noch 1525 nennt sich der Bregenzerwald "Land", das "dem Hause Österreich ohne Mittel" zugehörig sei. 1541 tritt der erste Landtag des "Walgau", also Vorarlbergs, zusam0. Stolz, Zur Entstehung und Bedeutung des Landesfürstentums, S. 348. W Scbtesinger, Die deutschen Territorien, in: Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl., München 1979, 13, S. 168. 44 P. Blickte IR. Blickte, Schwaben von 1268 bis 1803, S. 39. 45 F. Ubtborn I H. Scbtesinger, Die deutschen Territorien, S. 173 f. 46 Ebd., S. 173 f. 47 H.E. Feine, Entstehung und Schicksal der vorderösterreichischen Lande; F. Httter, Vorderösterreich und Österreich. Von ihren mittelalterlichen Beziehungen, jeweils in: F. Metz (Hrsg.), Vorderösterreich, 2. Aufl., Freiburg 1967, S. 47 ff. 42

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men. An diesem Prozeß nehmen die Klein-Länder Vaduz und Schellenberg nicht teil; sie bilden zusammen die ländergruppenähnliche Herrschaft der Brandis, die um 1700 die Liechtensteins erwerben, die sie 1719 zu einem eigenen Land, Liechtenstein, zusammenfügen 48 •

Iß. Bedingungen der inneren Territorialstruktur Die innere Struktur der Territorien, Länder wie Herrschaften, hängt von mehreren Faktoren ab, die aber sämtliche im Verhältnis der einzelnen Herrschaftsträger und Obrigkeiten zueinander wurzeln. Einen Faktor bildet die Stellung des Territorialherrn zum übrigen Adel (unten A.), einen anderen die Zusammensetzung der Territorial-, der Ständeversammlung (unten B.), schließlich einen weiteren das Verhältnis dieser beiden Faktoren zueinander, womit aber der grundsätzliche Faktor der Existenz bzw. Nicht-Existenz eines Territorialherrn verbunden ist (unten C.). 1. Territorialherr und Adel a) Die Stellung des Territorialherrn jeder Reichsfürst49 ist zwar Territorialherr, es muß aber nicht jeder Territorialherr Reichsfürst, sondern er kann auch reichsunmittelbarer Graf oder Freiherr sein wie besonders die Reichsritter. Im erstgenannten Fall besitzt der Territorialherr als Reichsfürst einen besonderen rechtlichen Vorrang gegenüber dem sonstigen Adel in seinem Territorium. Es ist dies die ältere Situation wie sie das Statutum und die Sententia von 1232 festschreiben: Die "domini terrae" werden hier überwiegend "principes" genanm50 • Als solche sind sie dem übrigen Territorialadel anerkanntermaßen vor- und übergeordnet. Die zweitgenannte Situation der nicht-reichsfürstlichen Territorialherrn ist das Ergebnis einer jüngeren Entwicklung, in der Regel eines Kampf~s mit 48 Zum Folgenden: K. Lecbner, Österreich, S. 743 ff., 751; W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 29; 0. Brunner, Land und Herrschaft, S. 231 ; B. Bilgeri, Geschichte Vorarlbergs, S. 314 ff.; ders., Vorarlberger Demokratie vor 1861, in: Landstände und Landtag in Vorarlberg, Bregenz 1961 , S. 19; A. Niederstätter, Beiträge zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Vorarlbergs (14. bis 16. Jahrhundert), in: Montfort, 39 (1987), S. 53 ff.; 0 . Stolz, Verfassungsgeschichte des Landes Vorarlberg, in: Montfort, 5 (1950), S. 23 ff. Zu Liechtenstein: P. Raton, Liechtenstein, Staat und Geschichte, Vaduz 1969, S. 16 ff. sowie D. Stievermann, Geschichte der Herrschaften Vaduz und Schellenberg zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: V. Press I D. Willoweit (Hrsg.), Liechtenstein - Fürstliches Haus und staatliche Ordnung, München I Wien 1987, S. 87 ff. 49 Hierzu 0. Stolz, Zur Entstehung und Bedeutung des Landesfürstentums, S. 348 ff.; W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 31 ff. 50 D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., München 1992, S. 59, 73 ff.

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ursprünglich gleichrangigen Konkurrenten, Grafen und Freiherrn, von denen einem die Territorialbildung gelingt - zu Lasten der anderen. Damit korrespondiert, daß ihre Territorien zersplittert oder kleinräumig, erstere hingegen größer und geschlossen sind51 . b) Allodialbesitz der Territorialherrn Allodial- bzw. Urbarialbesitz gibt politisch-wirtschaftliche Macht, er verschafft dem Territorialherrn zwar nicht rechtliche, so doch politische Dominanz über den Territorialadel52. Besonders dominierend tritt derartiger Besitz in der Steiermark entgegen. So wird denn auch 1180 der größte Allodialherr der Mark zum Herzog erhoben, typisch auch noch 1411 die Bezeichnung "Landesfürst und Erbherr". Weniger stark, aber dennoch bedeutsam ist Allodialbesitz des Landesfürsten in Bayern und Österreich; er schafft hier ein Gleichgewicht zu den Landständen. Unbedeutend hingegen ist er in Kärnten, demnach ist hier auch die landesfürstliche Gewalt schwach entwickelt53 .

2. Zusammensetzung der Territorialversammlung a) Ältere Länder Es 54 sind dies jene Länder, die aus einer bereits vorgegebenen Einheit entstehen wie Kärnten aus einem Amtsherzogtum, Bayern aus einem Stammesherzogtum, Österreich sowie die Steiermark aus Marken. Der hohe Adel ist hier kraft rechtlicher Fixierung Partner des höherrangigen Landesfürsten und bildet schließlich den Herrenstand. Weitere Gruppen steigen zur Landsrandschaft dadurch auf, daß sie sich von den adeligen Herrenrechten dieser Herren emanzipieren. Dies gelingt in den genannten Ländern den Bauern nicht. Die Landsgemeinde besteht hier schließlich aus den Ständen der Herren, Ritter, Prälaten und Städtevertreter. b) Jüngere Länder Sie55 entstehen nicht aus einer vorgegebenen Einheit, sondern wachsen allmählich zu einer Einheit zusammen wie etwa Tirol, Salzburg und VorarlH. Bo/dt, Deutsche Verfassungsgeschichte I, München 1984, S. 198. 0. Stolz, Zur Entstehung und Bedeutung des Landesfürstentums, S. 349 f. 53 Hierzu ebd., S. 344 f.; W Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 33. 54 Hierzu M. Mitterauer, Ständegliederung und Ländertypen, S. 115 ff. , 199 f. ; W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 25; 0. Brunner, Land und Herrschaft, S. 195 f. 55 M . Mitterauer, Ständegliederung und Ländertypen; W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 27 f. 51

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berg. Hier sind die Herren Konkurrenten des auch ihnen zugehörigen potentiellen Landesherrn, der seine Stellung erst durch das Ausschalten dieser Konkurrenten erreicht. Hier kommt es weniger zu einer Emanzipation von fortbestehenden Herrenrechten, als vielmehr zu deren Wegfall, was auch den Aufstieg der Bauern zur Landstandschaft ermöglicht. So besteht die Landsgemeinde in Tirol aus Adel, Prälaten, Städtevertretern und Vertretern der ländlichen Gerichtsgemeinden, ähnlich in Salzburg, wo letztere allerdings späterhin wegfallen. Gänzlich am Adel und auch an Prälaten mangelt es in Vorarlberg: Der Landtag besteht demnach nur aus Vertretern der Städte und der ländlichen Gerichtsgemeinden. c) Einfache Herrschaften Die innere Struktur ist hier dadurch gekennzeichnet, daß sich keine institutionalisierte Versammlung der Obrigkeiten im Territorium bildet wie etwa im Herzogtum Meranien oder im Lande der Grafen von Cilli56. d) Ländergruppen-Herrschaften Hier57 wiederholt sich auf einer höheren Ebene die Landesstruktur insoferne, als neben den gemeinsamen Landesfürsten Ausschuß- oder gar Generallandtage treten; es ist dies eine Entwicklung vor allem in den habsburgischen Ländern, die erst zum Ende des 15. Jahrhunderts beginnt58. Eine Ausbildung von Generalständen wie etwa in den nördlichen Niederlanden verhindert aber schließlich nicht etwa die Stärke der Länder als etablierte Territorialeinheiten, sondern der monarchische Absolutismus durch seinen Sieg nach Beginn des Dreißigjährigen Krieges.

3. Territorien ohne Territorialherrn a) Rechtliche Nichtexistenz eines Territorialherrn Dies ist der Fall in den Schweizer Kantonen, in manchen Klein-Ländern Vorderösterreichs wie beispielsweise im Gebiete Vorarlbergs. Die Landesverfassung kennt hier keinen Landesherrn59• 56 M. Mitterauer, Ständegliederung und Ländertypen, S. 162; W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 23; 0 . Brunner, Land und Herrschaft, S. 217 f. 57 Hierzu W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 49 ff., insbesondere S. 54 sowie S. 69 ff., inSbesondere S. 73. 58 Zur Situation im 16. Jahrhundert: W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 62, 64 f., 69 ff., 73 ff. 59 0. Brunner, Land und Herrschaft, S. 233.

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b) Faktische Nichtexistenz eines Territorialherrn Dieses Phänomen scheint in der Literatur bisher zuwenig gewürdigt60 . Es ist vor allem bei Ländergruppen-Herrschaften oder bei Herrschaften, die aus Ländern mit partes annexae bestehen, anzutreffen. Der gemeinsame Landesfürst derartiger Personalunionen residiert in und aus einem Land über seine mehrländrige Herrschaft, in den übrigen Ländern ist er faktisch nicht existent. Dies trifft insbesondere dort zu, wo der an der Landesbildung beteiligte Landesfürst nicht aus dem späteren Land kommt, sondern diese von auswärts betreibt wie im Falle des Landes ob der Enns und Vorarlbergs. Bei diesen Ländern zeigt sich dies naturgemäß am fehlenden Titel: Titulaturmäßig existiert hier kein eigenes Organ Landesfürst, sondern nur ein "Erzherzog von Österreich" gemeinsam mit dem Land unter der Enns bzw. in Vorarlberg wieder nur ein "Herr" oder "Graf" der einzelnen Teile wie z.B. Feldkirchs. Andere Personalunionen sind jene, wo bereits vorhandene Länder vereinigt werden und es demnach sowohl einen Herzog von Steiermark wie einen solchen von Kärnten gibt. Die erstgenannten Länder besitzen nie einen eigenen Landesfürsten, von allen niederösterreichischen Ländern im Zeitraum 1350 bis 1500 einen "eigenen" Herzog nur die Steiermark, und auch dies nur von 1406 bis 1411. Ansonsten regiert jeder Herzog mindestens zwei Länder - von einem aus! c) Folgen Aus dieser Situation versteht es sich denn hauptsächlich wohl auch, daß Otto Brunner, eben aufgrund jener Länder, für das Spätmittelalter folgert: "Die Stände sind das Land". Dies trifft tatsächlich zu, denn der Landesfürst ist sozusagen "mindestens zwei Länder" 61 ! Bei faktischer Nichtexistenz eines Landesherrn entwickeln sich die Stände zu besonders mächtigen Herrschaftsträgern. Dies ist im Bereich der stets mehrländrigen habsburgischen Personalunionen besonders der Fall, hier wieder in den "residenzlosen" Ländern Kärnten, Vorarlberg und dem Land ob der Enns. Während beispielsweise im 16. Jahrhundert der stets nur einem Land verbundene geistliche Salzburger Landesfürst schon absolut regieren kann, nehmen die Stände der niederösterreichischen Länder bei Abwesenheit des Landesfürsten die alleinige Landesgewalt in Anspruch und in diesem Sinne versuchen die obderennsischen Stände noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts ihre Rechte festzuschreiben. Dies folgt nicht zuletzt auch aus der mittelalterlichen Verfassungssituation: Tatsächlich hatten hier die Stände vorrangig vor dem - abwesenden - (Nominal-)Landesfürsten das Land regiert, über diesen die Vormundschaft geführt, darüber auch Kaiser Maximilian 1., S. 141. 0. Bnmner, Land und Herrschaft, S. 438; vgl. auch W. Brauneder, Der ständische Anteil am Gemeinwesen in den östlichen Österreichischen Ländern, in: Zeitschrift für Historische Forschung (in Druck). 60 H. Sturmberger, 61

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schiedsrichterlich entschieden und ihn sogar eingesetzt - gleichsam in Auswahl aus der länderübergreifenden Herrschaftsdynastie.

IV. Tendenzen 1. Herrschaftsverdichtung a) Faktoren Für den Prozeß der Bildung der Länder aus Herrschaften und sodann der Verdichtung der Länder sind mehrere Faktoren maßgeblich. Zum ersten sind steigende "Staats"-Aufgaben zu verzeichnen, welche die einzelnen Herrschaftsträger im Territorium allein nicht oder nicht sinnvoll bewältigen können. Sie alle oder einige von ihnen schließen sich zu unterschiedlichsten lokalen Bündnissen zusammen und werden überdies, so bereits ein ihnen übergeordneter Landesfürst vorhanden, aufgrund der Basisverpflichtung zu "Rat und Hilfe" von diesem vermehrt herangezogen62 . Es entspricht dies durchaus einer gesamteuropäischen Tendenz, den einzelnen Notfall zu perpetuieren, was schließlich mit den Begriffen der necessitas in actu und jener in habitu auch gelehrtinstitutionellerfaßt wurde63. Aus Rechtsbeziehungen zwischen einzelnen Rechtsträgern entsteht allmählich die Institution des Landtags unter Einschluß des Landesherrn. Dazu treten, zur Bewältigung der steigenden Aufgaben, Behörden der jeweiligen Herrschaftsträger: in den Landesherrn-Iasen Territorien etwa der Schweizer Kantone die Vögte des Stadtrates, im Land ob der Enns Behörden allein der Landstände, im (werdenden) Vorartberg diese sogar zeit- und teilweise für den abwesenden Landesherrn64 einerseits; andererseits in den fürstlich-dualistischen Ländern gleichfalls Behörden der Stände und, in oft geringer Intensität, neben ihnen die des Landesherrn65 . In Wechselwirkung mit den "Staats"-Aufgaben steht der gelebne Einfluß der Juristen. In zunehmendem Maße werden sie zum Regieren benötigt und forcieren dieses aufgrund ihrer Ausbildung66 . 62 0. Bntnner, Land und Herrschaft, S. 426 ff., 437 ff.; W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 31. 63 E.H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, München 1990, S. 289 ff. 64 K.-H. Burmeister, Geschichte Vorarlbergs, Wien 1980, S. 82. 65 H. Wiesflecker, Die Entwicklung der landständischen Verfassung in den Österreichischen Ländern von den Anfängen bis auf Maximilian 1., in: Die Entstehung der Verfassung Österreichs vom Miuelalter bis zur Gegenwart, Graz 1963, S. 18 f.; A. Luscbin-Ebengreutb, Grundriß der Österreichischen Reichsgeschichte, 2. Aufl., Wien 1918, S. 101 ff.; E.C. Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, s. 114. 66 H. Ducbbardt, Deutsche Verfassungsgeschichte 1495-1806 (Kohlhammer-Urban-Taschenbücher 417), Stutegart I Berlin I Köln 1991, S. 56; D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 79. R. Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Berlin 1986.

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b) Ergebnisse In Herrschaften ohne Landescharakter führt der Verdichtungsprozeß zur Landesbildung. Im Raum Liechtenstein-Vorarlberg entstehen überwiegend aus Bündnissen und durch habsburgischen bzw. später Hechtensteinischen Erwerb der vorherigen Klein-Länder und Herrschaften die Länder Vorarlberg und Liechtenstein, anderswo ist allein die Initiative des späteren Landesherrn maßgeblich wie in Tirol, Salzburg und durch den Bischof von Passau. In Schwaben insgesamt fehlt es an beiden Faktoren, die Zersplitterung bleibt bestehen. Die Verdichtung von Herrschaften zum Land bewirkt die "jüngere" zweite Welle an Landesbildungen, nämlich auf Kosten schon bestehender Länder wie bei Tirol, Salzburg, Berchtesgaden und Passau zu Lasten Bayerns, bei der Vorderen Grafschaft Görz zu Lasten Kärntens und beim Land ob der Enns zu Lasten Österreichs. Nicht immer ist dieser zweiten Welle Erfolg beschieden wie im Falle Cillis und ähnlich auch bei allen bayerischen Teil-Herzogtümern. In schon etablierten Ländern führt die Verdichtung dazu, außerhalb des Landesverbandes stehende Herrschaften zu inkorporieren. Bei räumlicher Nähe geht die Tendenz dahin, partes annexae sowie angrenzende Klein-Herrschaften in das Land einzufügen. Bei identischem Herrschaftsträger wie dem Erzbischof von Salzburg macht dies der Lungau, da vom übrigen Land Salzburg durch den Tauernkamm abgetrennt, besonders deutlich. Bei unterschiedlichen Herrschaftsträgern wie den reichsunmittelbaren Klein-Herrschaften an der Nordgrenze Österreichs erwirbt sie dessen Herzog, um sie schließlich dem Land einzufügen. Ebenso werden Enklaven allmählich dem Land inkorporiert, ein Prozeß, der sich allerdings oft bis in die Neuzeit hinzieht wie im Falle der Brandenburger Lehen in Österreich unter der Enns oder des Baroberger Besitzes in Kärnten. Insgesamt entwickeln sich die Länder durch Verdichtung zum "institutionellen Flächenstaat" bei noch sehr unterschiedlicher Ausformung.

2. Herrschaftsausweitung: Länder- und Herrschaftsverbindungen Besonders das fürstlich-dynastische Ziel besteht primär in der "Expansion und Konsolidierung der gewonnenen Macht", nicht so sehr zielt sie ab auf eine "politische Lenkung der Untertanen" 67. Ein Ergebnis der territorialherrlichen Expansion ist die Schaffung von Länder- und Herrschaftsverbindungen68 . So entsteht das Dominium Goritiae aus den Ländern Görz und Tirol sowie diversen Herrschaften. Insbesondere entsteht das Dominium Austriae mit gleichfalls mehreren Ländern und Herrschaften. Es sind dies die prägnantesten Beispiele im süddeutsch-österreichischen Raum für die Herrschaft einer Dynastie über einen Großraum durch Personal67

Ebd., S. 74.

W Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 49 f., 52 ff.; H. Sturmberger, Kaiser Maximilian 1. , S. 141. 68

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unionen, Dynastieunionen mit oder ohne Linientrennung, auch durch wechselweise Vormundschaftsführung. Die schon erwähnte Folge ist die, daß einzelne Länder faktisch keinen eigenen Landesfürsten besitzen! Das fürstliche Interesse gilt hier klar, was Heirats- und Erbpolitik unterstreichen, dem Herrschaftsraum, nicht dem einzelnen Land. Die Tendenz zu Verbindungen besteht aber auch bei Ländern und Herrschaften, die rechtlich oder faktisch keinen Territorialherrn besitzen. Dies ist etwa der Fall bei der .Eidgenossenschaft des Bundes ob dem See" von 1406/07 bzw. dem .Kampfhund der Stände" von 1436 in Vorarlberg69.

3. Herrschaftserhöhung: Königs- und Kaiserwürde Zur skizzierten fürstlichen Herrschaftsausweitung tritt das Bemühen um rangmäßige Herrschaftserhöhung durch eine auf Erlangung einer Königs- oder der Kaiserwürde abzielende Politik. Neben den Bestrebungen um die deutsche Königswürde mit der Steigerung in der römischen Kaiserwürde durch vor allem Luxemburger und Habsburger zählen hieher auch die Bemühungen um die Würde eines Königs von Böhmen oder von Ungarn nicht nur durch die eben genannten Dynastien, sondern auch durch die Görzer: Als Rangerhöhung bedeutet die bloße Würde auch ohne tatsächliche Macht wie im Falle der Görzer Könige von Böhmen Gewinn für die dynastische Herrschaft70 • Kaiserund Königswürden unterstreichen sichtbar für den Zeitgenossen wie den nachvollziehenden Historiker den Primat der überterritorialen Herrschaft vor dem Land, das zu einem neben mehreren Herrschaftsbereichen herabgestuft und für militärische und politische Aktionen in oft ganz anderen Herrschaftsgebieten herangezogen wird. V. Der Zustand um 1500

1. Abgeschlossene Landesbildung Gegen 150071 ist die Verfestigung der meisten Territorien als Länder abgeschlossen oder nahezu beendet. In Österreich unter der Enns, im Land ob der Enns und in Kärnten stehen dem Landesfürsten starke Landstände gegenüber. Das Land zerfällt teils in landständische, teils in landesfürstliche Grundherrschaften. Die Landes69

B. Bilgeri, Die Bildung des Territoriums, S. 140 ff., 195 ff.

K. Lecbner, Die Bildung des Territoriums, S. 422 ff., 432 f. Z.B. in Salzburg auch bloß eine derartige Verwandtschaft: U. Zaisberger, in: E. Riedenatter (Hrsg.), Landeshoheit, S. 217 f., 220. 71 Zum Folgenden W . Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 36 f., 61 f., 64 f.; K . Gutkas, Die Stände Österreichs im 16. Jahrhundert, in: Renaissance in Österreich, Schallaburg 1974, S. 385, 393. 70

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verwaltung ist hier hauptsächlich Angelegenheit der Landstände, signifikant veranschaulicht in ihrer Residenz, dem Landhaus. Vor allem in den beiden erstgenannten Ländern treten die Landstände dem Landesfürsten höchst selbstbewußt gegenüber. Die Ursache für diese Entwicklung liegt offenbar einmal darin begründet, ältere Länder mit einem Herrenstand zu sein72. Dazu kommt vor allem der weitere Umstand, daß diese Länder oftmals faktisch keinen eigenen Landesfürsten besitzen: Eine ,.Hofburg" gibt es hier nur in Wien, im Land ob der Enns regierte praktisch und in Kärnten überhaupt nie ein eigener Landesfürst: "Die Stände sind das Land" 73. In Tirol, Salzburg und Steiermark finden wir nur mäßig starke Landstände, dafür überwiegend landesfürstliche Grundherrschaften und eine sowohllandständische wie aber auch eine landesfürstliche Landesverwaltung. Dies gründet einmal darauf, daß in der Steiermark kein starker, in Tirol und Salzburg überhaupt kein Herrenstand besteht. Tirol und Salzburg sind überdies jüngere Länder, wo der Landesfürst den Landesausbau gegen den übrigen Hochadel allein vorangetrieben hat. So besitzen denn auch Graz und Innsbruck ihre "Hofburgen" und die Stadt Salzburg ihre "Residenz". In Vorarlberg, obwohl gleichfalls ein "jüngeres" Land, sehen wir auf eine andere Entwicklung: Hier erfolgte, anders als in den gleichfalls ,.jüngeren" Ländern Tirol und Salzburg, die Landesbildung nicht durch eine im Land ansässige Dynastie. Das adelige Wirken kam von außen, Vorarlberg besaß nie einen eigenen, und daher im Lande residierenden Landesfürsten; die "Hofburg" liegt mit Innsbruck jenseits des Arlbergs. Die maßgebliche Kraft im Land stellen daher die Landstände dar - zu denen übrigens weder Adel noch Prälaten gehörten. Bayern zählt zwar zu den älteren Ländern, "jünger" macht es aber der Umstand der langen Landesteilung, so daß sich die Teil-Landesfürsten intensiv um den Ausbau der Teil-Herzogtümer als neue, "jüngere" Länder kümmern konnten 74 .

2. Herrschaften Zahlreiche75 reichsunmittelbare Territorien haben sich gegen 1500 nicht bis zum Land fortentwickelt. Dies ist vor allem in Schwaben der Fall, wo Teile 0 . Brunner, Land und Herrschaft, S. 231, 233 f. Ebd., S. 423. 74 K. Bosl, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft im deutschen Mittelalter, in: Handbuch der deutschen Geschichte, 5. Auf!., München 1980, 7, S. 225 f.; ders., Die Geschichte der Repräsentation in Bayern, München 1974, S. 54. 75 P. Blickte IR. Blickte, Schwaben von 1268 bis 1803, S. 32 ff.; 0 . Stolz, Zur Entstehung und Bedeutung des Landesfürstentums, S. 348; 0. Brunner, Land und Herrschaft, S. 223. 72

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Die Territorialstrukturen im süddeutsch-österreichischen Raum

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Vorderösterreichs Herrschaften geblieben sind. Herrschaftscharakter weisen auch die Territorien von Berchtesgaden und Passau auf, der dominierende Territorialherr ist praktisch ein Groß-Grundherr mit einer nur schwachen landständeähnlichen Versammlung neben sich.

3. Länderverbindungs-Herrschaften Das Dominium Goritiae ist gegen 1500 verschwunden, da sukzessive im Erbwege an die Habsburger gefallen 76• So bleibt das Dominium Austriae. Eine ähnliche Entwicklung hat zwar auch in Bayern stattgefunden, doch ist hier durch das Zusammenfügen der Teil-Herzogtümer das alte Land wieder entstanden, nicht eine länderübergreifende Herrschaft: Anders als in der habsburgischen Herrschaft, wo die Stände pro Land getrennt bleiben, wachsen sie hier wieder zu gesamtbayerischen Ständen zusammen77 • Das Dominium Austriae verfestigt Maximilian 1. 78 durch Behörden, die er nicht für einzelne Länder errichtet, sondern für Ländergruppen. Den länderübergreifenden Herrschaftscharakter betont weiters der Umstand, daß sie zum Teil auch Reichskompetenzen wahrzunehmen haben79 • Die Ausweitung von Herrschaft durch Länderverbindungen sowie ihre Erhöhung durch die höchstrangigen und sogar länderübergreifenden Würden der deutschen Königs- sowie vor allem römischen Kaiserkrone fällt hier zusammen. Diese Tendenzen führen aber erst in der Neuzei[ zur Kqnsolidierung neuer Situationen80 . Mit ihrer Länderverbindung in der verfestigten Form der Monarchischen Union überwinden die Habsburger durch großräumige Herrschaft schließlich das Länderkonglomerat Erst dessen Nivellierung, nämlich der Landstände und dann des Landrechts, ermöglicht eine gefestigte absolutistische Herrschaft. Diese Herrschaft tritt an die Stelle der Länder und wird schließlich zum Staat. Gemeinsam damit entwickelt sich in der Monarchia austriaca eine Aufgabenverteilung, nämlich die der übergreifenden Herrschaftskompetenzen einerseits und die der Landeskompetenzen andererseits, womit die Wurzeln einer föderalistischen Struktur grundgelegt sind81 •

W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 35, 36 f., 52 f. A. Kraus, Geschichte Bayerns, S. 195 f. 78 H. Wiesjlecker, Kaiser Maximilian 1., II, Wien 1975, S. 185 ff., 196 ff., 242, 407; III, Wien 1977, S. 231 ff., 239 ff.; IV, Wien 1981, S. 292 ff.; V, Wien 1986, S. 205 ff., 208, 210 ff. 79 W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, S. 74, 77. RO Ebd.' s. 58. Hl Ehd., s. 35, 54. 76 77

4•

Die Organisation der territorialen Mächte in den Alpen Von Paolo Cammarosano•

Die Veranstalter dieser Begegnung und ihr Publikum werden sich hoffentlich bei dem begrenzten Raum meines Beitrages nicht eine -womöglich regional gleichmäßig verteilte- Übersicht über alle Organisationsformen territorialer Macht erwarten, die in den Alpenregionen vorkamen. Im übrigen berichten uns hier Wilhelm Brauneder und Guido Castelnuovo über einige dieser Formationen mit wesentlich größerer Sachkenntnis, als ich sie zu bieten hätte. Ich möchte hingegen versuchen, zu einer Reflexion über einige sehr allgemeine Vergleichsmomente anzuregen, die gerade dieser so ausgedehnte Raum nabelegt. In der Geschichte der Organisation der territorialen Mächte im Spätmittelalter ist der alpine Bereich durch keinerlei gemeinsamen Zug, keinerlei Besonderheit oder Homogenität gekennzeichnet. Einerseits sind die sozialen und institutionellen Komponenten, die die Organisation der territorialen Mächte beeinflußten, dieselben wie im Rest Europas, d .h. eine Mischung aus gegliedert und bruchstückhaft, eine Auswahl aus den Hunderten von Möglichkeiten, aber zugleich auf einige wenige wesentliche Typologien zurückführbar: die Kronen und an erster Stelle die Reichskrone, die Kirchenfürsten, einige große weltliche Fürsten an der Spitze von Fürstentümern, Markgrafschaften und Grafschaften, weitere die Aristokratie betreffende Komponenten, die wir nach verschiedenen Parametern unterscheiden (in Freie oder Ministeriale, Eingliederung in ein Feudalsystem oder nicht, Burgen im Familienbesitz oder nicht), dann die kirchlichen Eliten in der üblichen Triade der Episkopate, Kathedralkapitel und Klöster (denen wir einige Propsteien hinzufügen werden) und schließlich Komponenten in der Art von Kommunen wie Städte (die meist außerhalb der Alpen lagen, aber hier aus größerer oder kleinerer Entfernung wirkten), große Ortschaften, sowie Dorf- und Talgemeinden. Diese Komponenten der Territorialpolitik des europäischen Spätmittelalters sind alle im Alpenraum vorhanden. Ebenso gab es überall in Europa territoriales Wirwarr und eine Diskontinuität der Herrschaften. Ein Beispiel aus unserem geographischen Bereich möge genügen: Die in Breguzzo ansässigen Bürger, einer Gemeinde der Valli Giudicarie, waren weder vom Fürstbischof in Trient noch vom Grafen von Tirol, sondern vom Kathedralkapitel Veronas abhängig 1• Deutsch von Judith Elze. Der Fall der dem Kapitel von Verona unterworfenen Giudicarie ist unter reichhaltiger Dokumentenauswahl beschrieben worden von]. von Ficker, Forschungen zur

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Betrachten wir andererseits die verschiedenen Aktions- und Interaktionsformen zwischen diesen unterschiedlichen Machteinheiten im alpinen Raum während des 13. und 14. Jahrhunderts, so stellen wir fest, daß sie ganz unterschiedlichen Wegen folgten. Wir können sogar sagen, daß das Interessante an der globalen Betrachtung dieses so weiten Gebietes gerade in der Tatsache liegt, daß sich hier einige verschiedene Evolutionsmodelle von der Zersplitterung der lokalen Mächte bis hin zur Bildung territorialer Fürstentümer finden. Nach einer langen Anlaufzeit mit einer entscheidenden Entwicklungsphase zur Zeit des Investiturstreits hatten sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts im östlichen Teil der Alpen bereits große territoriale Strukturen gegliedert und gefestigt, die zum Großteil auf die Initiative der deutschen Kaiser zurückgingen und sich in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts unter die große staufisehe Konstruktion des Kaiserreichs einordneten, die durch die friderizianischen Verträge und Konstitutionen der Jahre 1220 und 1232 sanktioniert wurde2 . Die größten territorialen Herrschaftsgebiete in den Ostalpen waren das Fürstentum von Kärnten, die kirchlichen Fürstentümer Trient, Brixen und Aquileia und die Grafschaften Tirol und Görz. Hier waren die Präsenz und die staatsrechtliche Rolle der Kirchen besonders stark, so daß die kirchliche Immunität oft den Weg zu territorialer Macht ebnen konnte. So gab es auch vom Trentino bis nach Friaul besonders viele Immunitätsenklaven, die die territorialen Kontinuitäten aufhoben' . Trotz dieser durch die kirchliche Immunität entstandenen Verwicklungen und trotz anderer Formen territorialer Diskontinuität hatte das sehr grobflächige Mosaik, das sich vom 11. bis zum 13. Jahrhundert in den Ostalpen zusammengesetzt hatte, eine beachtliche Stabilität, für deren Beurteilung man mindestens zwei Faktoren berücksichtigen muß. Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens, 4 Bde. (1874), anastatischer Druck, Aalen 1961 (man vgl. besonders in Bd. IV, Urkunden, die Nr. 231, 233, 264, 274, 362-366, 378, 383, 413), und dann von H. von Voltelini, Immunität, grund-und leibherrliche Gerichtsbarkeit in Südtirol, Wien 1907. Den falschen Eindruck, den die üblichen historischen Atlanten vermitteln, deren sich auf das Mittelalter beziehende Karten das Gewirr und die Überschneidungen der Mächte nicht ausreichend berücksichtigen, haben viele benannt, didaktisch besonders einschneidend H. Boockmann, Einführung in die Geschichte des Mittelalters (1978), 5. Aufl., München 1992, S. 100-101. Wir lesen sie in: Constitutiones et acta publica imperatorum et regum inde ab a.MCXCVIII usque ad a.MCCLXXII 0198-1272), (1896), hrsg. von L. Weiland, anastatischer Druck, Hannover 1963 (MGH, Legum sectio IV, II), S. 86, Anm. 73, und S. 211 , Anm. 171 (letzterer Text ahmt bekanntlich die frühere Konstitution des Königs Heinrich vom 1. Mai 1231 nach: ebd., S. 418, Anm. 304). Hinsichtlich der kirchlichen Fürstentümer der Ostalpen beschränke ich mich darauf, auf die wichtigen Beiträge hinzuweisen, die enthalten sind in C.G. Mor I H. Schmidinger(Hrsg.), I poteri temporali dei vescovi in ltalia e Germania nel Medioevo. Atti della settimana di studio 13-18 settembre 1976 (Annali dell'Istituto storico italogermanico. Quademo 3), Bologna 1979. Für die von den Patriarchen von Aquileia beherrschten Gebiete nenne ich P. Cammarosano I F de Vitt I D. Degrassi, II medioevo, hrsg. von P. Cammarosano (Storia della societa friulana, geleitet von G. Miccoli, 1), Udine 1988.

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Zunächst sind die sich immer wieder neu herstellenden Beziehungen zwischen den Machtgipfeln der verschiedenen Komponenten des Mosaiks zu beachten. In einer friihen Phase hatte es sich vor allem um ein Gewebe von verwandtschaftlichen und dynastischen Beziehungen gehandelt. Besonders in den Jahren des Investiturstreits war dies so gewesen, als einem einzigen, mit dem Kaiser eng verbundenen Geschlecht, nämlich den Eppensteins, das Fürstentum Kärnten und das Kirchenfürstentum Aquileia gehört hatten. Dann hatte es eine Entwicklung auf eher institutionellem Gebiet gegeben, die sich zum Teil in Feudalbeziehungen und zum Teil in der Dynastisierung der Vögte ausdrückte. So waren zur Zeit Friedrichs II. den Grafen von Tirol die Kirchenvogteien von Trient und Brixen und den Grafen von Görz diejenigen Aquileias dauerhaft anvertraut worden. Daraufhin unternahmen die Görzer nachhaltige Versuche, die Grafschaft Tirol und sogar das Fürstentum Kärnten einzunehmen, bis dieser Politik von Rudolf von Habsburg Einhalt geboten wurde, der seinerseits eine territoriale Ordnung förderte, die auf dynastischen und verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen den Fürstentümern der Ostalpen beruhte4• An zweiter Stelle muß man die relative Zerbrechlichkeit der Machtstrukturen - und zwar vor allem des weltlichen Adels - in Betracht ziehen, die innerhalb der Territorien selbst neben dem territorialen Fürstentum existierten. Die Familien, die durch Vererbung Befugnisse über Burgen und die entsprechenden Kreise innehatten, setzten sich in den Ostalpen erst spät durch; vor dem 12. Jahrhundert gab es keine nennenswerten Formen lokaler Herrschaft. Das heißt, die lokale und territoriale Verwurzelung des Adels erfolgte im Rahmen von bereits gefestigten Fürstentümern, der Adel bildete sich zum Teil in direkter Abhängigkeit von letzteren in Form von Ministerialität o. a. Im Gebiet Aquileias läßt sich ähnliches in Bezug auf Kapitel und Klöster feststellen, die alle auf verschiedene Weise in fürstliche Herrschaftsgebiete eingegliedert waren, während die Entwicklung von Kommunen im gesamten ostalpinen Raum nur schwach war. Große Burgen und kleine Städte entwickelten sich innerhalb der Fürstentümer, die territoriale Selbständigkeit der unzähligen Dorfgemeinden beschränkte sich auf die Verwaltung öffentlicher Güter. Im westlichen Teil der Alpen sieht das Bild völlig anders aus. Hier hatten sich zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert die karolingische Ordnung und danach die großen Territorialordnungen aufgelöst, die zunächst darauf gefolgt waren - das Reich Burgund, die arduinische Mark und ihre Grafschaften. Noch zu Beginn des 13. Jahrhunderts, d.h. zu einer Zeit, als die Herrschaft der Markgrafen von Monferrato und der Grafen von Savoyen bereits konsolidiert war, waren vor allem die italienische Seite der Westalpen, aber auch das von

Einen guten Überblick über diese Entwicklungen des 13. Jahrhunderts sowie eine mit seltener Sorgfalt durchgeführte Untersuchung über die politischen Ereignisse der Ostalpen im späten Mittelalter verdanken wir F Cttsin, Il confine orientale d'Italia nella politica europea del XIV e XV secolo 0937), 2. Auf!., Trieste 177.

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Castelnuovo untersuchte Vauds nach den klassischen Formen der Territorialmächte aufgebaut, geprägt von Episkopaten, Klöstern, Burgadelsherrschaften sowohl über größere Gebiete als auch lokal, von städtischen Gemeinden oder Gemeinden städtischer Art. Im Spätmittelalter fand in diesem Gebiet unter den Grafen Savoyens eine dynamischere Entwicklung statt. Die steuerlichen, administrativen und legislativen Machtsysteme, die sich häufig in schon viel vollständigerer Weise um die vom 10. bis zum 12. Jahrhundert entstandenen Machtzentren organisiert hatten, wurden langsam und umfassend neu strukturiert. Zum Teil war es gerade die Konkurrenz zwischen diesen engmaschig angelegten Machtzentren, die Furcht der einen, von den anderen unterworfen zu werden, die den Savoyern - als Garanten für Steuerbefreiungen, Freiheit der Gemeinden gegenüber Übergriffen seitens der Mächtigen, als Garanten für gutes Recht im Gemeinland .und als Garanten für die Möglichkeit der Überquerung der Alpenpässe usw. - die Möglichkeit zum Eingriff gab, während den Adeligen über die Verleihung von baliaggi und castellanie freigestellt wurde, sich in den Rahmen des Fürstentums einzugliedern. Für die Anerkennung der savoyischen Herrschaft von seiten der Städte und Adeligen wurde formal häufig auf feudale Strukturen zuri.ickgegriffen6 • Lenken wir den Blick zurück auf die Ostalpen und ihre Entwicklung im 13. und 14. Jahrhundert, so stellen wir fest, daß sich die Frühzeitigkeit, mit der sich hier die Fürstentümer gebildet hatten, und ihre Starre in Schwächefaktoren verwandelten, die bereits in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts deutlich erkennbar waren. Die Vogtei, die die Grafen von Tirol an die Bischöfe von Trient und die Grafen von Görz an die Patriarchen von Aquileia band, wurde bald zu einem Gegenstand des Machtkampfes. Dieser organische Konflikt zwischen den fürstlichen Kirchen und ihren Advokaten war im übrigen ein zu Beginn des 13. Jahrhunderts allgemein verbreitetes Phänomen, man findet es immer wieder verschleiert in der friderizianischen Konstitution von 1220 zu Gunsren der Kirchenfürsten7• Die zentrale Rolle der dynastischen Verbindungen auf höchster Ebene bedeutete auch , daß die territorialpolitische Entwicklung von den Gegebenheiten der Fürstenfamilien abhing, so vom Aussterben und Niedergang von Protagonisten ersten Ranges wie den Babenbergern, dann den Andechsern und schließlich den Grafen von Görz. Vielleicht noch wichtiger als die Ereignisse auf höchster Machtebene, die die aus der Vergangenheit ererbten territorialpolitischen Strukturen nicht unbedingt veränderten, waren die Ereignisse, die mit den vielen mittleren und G. Castelnttovo, L'aristocrazia del Vaud fino alla conquista sabauda (inizio XI meta XIII secolo) (Deputazione subalpina di storia patria, Biblioteca storica subalpina, CCVII), Torino 1990. Eine gut ausgewählte Bibliographie findet sich bei A.M. Nada Patrone, 11 Medioevo in Piemonte. Potere, societii e cultura materiale (Storia d'Italia, geleitet von G. Galasso, V), Torino 1986, S. 331-362. Man lese auf den Seiten 89-90 der oben zitierten Ausgabe (vgl. Anm. 2) die Einleitung und die Kapitel 4 und 9.

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unteren Adelskreisen in Zusammenhang standen und von den Historikern nicht immer gebührend berücksichtigt worden sind. Durch ihr spätes Aufkommen standen diese Adeligen - häufig in Form von Ministerialität - in einem sehr direkten Verhältnis zum Fürsten. In einigen Gebieten jedoch wie im Fürstentum Aquileia verlor die Unterscheidung in Freie und Ministeriale mit der Zeit ihr Gewicht, und auch im restlichen Teil der östlichen Alpen entwickelte sich eine Vereinheitlichung und die Anerkennung des Adels als Stand. Dieser war also weitgehend in den Fürstenstaat eingegliedert war, hatte aber durch die Institutionen des Parlaments auch eine entscheidende Rolle inne, die gegenüber Fürsten, welche sich in Schwierigkeiten befanden, sehr viel antagonistischer war als ähnliche Institutionen, welche sich innerhalb der savoyischen Herrschaft gebildet hatten. Als besonders durchsetzungsfähig zeigten sich im Laufe der Zeit die Adeligen im Patriarchenstaat Aquileia. Die großen Adelsfamilien, die keine lokale Herrschaft ausübten, waren über das gesamte Territorium verteilt und bildeten einen in die fürstliche Bürokratie nicht leicht integrierbaren Stand. Zu diesem gab es in den lokalen Gemeinden keine wirklichen Alternativen, da letztere mitunter sogar wie im Fall von Udine geneigt waren, die Interessen der großen Familien zu unterstützen. Der Feudalismus stellte zwar eine politische Verbindung zwischen Fürst und Adeligen her, bedingte aber auch den Verzicht des Fürsten auf den Besitz von landwirtschafltich genutzten Ländereien und Betrieben, die er als Lehen abtreten mußte, und sollte ihm schließlich in jeder wichtigen militärischen und steuerlichen Notlage von den Adeligen abhängig machen. Trotzdem wurden im Laufe des 14. Jahrhunderts auf breiter Ebene Feudalbesitz anerkannt und Herrschaftsgebiete allgemeinen rechtsprechenden Charakters eingeführt. Insgesamt aber befand sich das Fürstentum mancherorts in Schwierigkeiten und in der Defensive gegenüber den sozialen Kräften also dem Adel und den Gemeinden -, die in seinem Inneren gereift und gewachsen waren8 . Was das deutsche Gebiet betrifft, so bildeten sich hier - zum Teil mit einer gewissen Kontinuität (zum Beispiel zwischen Tirol und Trentino) - Formen lokalen Adels, die später die weltlichen Fürsten, Vögte des Kirchenfürsten, unterstützen sollten; zum Teil (auf österreichischem Gebiet) gab es große Diskontinuitäten sowie Bewegungen bei der Herausbildung des Adels, wenn dieser die öffentliche Ordnung gewaltsam verletzte. Das haue eine starke Entwicklung der fürstlichen Gerichtsbarkeit zur Folge. Zudem machte sich die fürstliche und dann königliche Autorität vor allem den Frieden zur Aufgabe mit dem Erfolg, daß eine neue kaiserliche Dynastie entstand, welche die Friedensrechtsprechung der Staufer fortführte, während Literaten und Dichter

R Hinsichtlich der Physiognomie des friulanischen Adels und ihr Verhältnis zum Kirchenfürsten erlaube ich mir, hinzuweisen auf P. Cammarosano, L'alto medioevo: verso Ia formazione -regionale, in: P. Cammarosano I F. De Vitt I D. Degrassi, II medioevo, S. 9-155, auf den Seiten 129-130 und 141-154.

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ideologische Unterstützung boten und die Macht der Gerechtigkeit und der königlichen Richter gegenüber den Raubrittern feierten: "Slüege ein Diep al eine ein Her, gein dem Schergen hat er keine Wer: als er den von verren sihtzehant erlischet im daz Lieht, sin rötiu Varwe wirt im gel"9 .

Seit sich Otto Brunners Interpretation über die Bildung der territorialpolitischen Einheiten des Spätmittelalters durchgesetzt hat, sind wir gegen die rhethorische, literarische Tendenz, Raub und Gewalttätigkeit dem Adel als Eigenschaft zuzuschreiben, gut gefeit10• Dennoch muß man feststellen, daß von seiten des Adels lokale Gewalt ausgeübt wurde und daß es einen spezifischen Typus von Adeligen gab, der seine bescheidenen Ansprüche auf Territorium (in Form von lokaler öffentlicher Herrschaft über Burgterritorien) mit einem Waffengebrauch durchsetzte, der in keinem Verhältnis zu den Verteidigungs- und Schutzmöglichkeiten der Ansässigen stand. Ebenso muß man die Tatsache bedenken, daß die Organisation der territorialen Macht der Fürsten im ostalpinen Raum in weitem Maße über den Landesfrieden entstand, während ihr typischster Ausdruck im Westen die Anerkennung der Steuerbefreiungen und der lokalen rechtlichen Privilegien im Rahmen einer überlegenen politischen Herrschaft und legislativen Autorität war. Alles in allem hatte keine der territorialen Entwicklungen des westlichen Raums eine expansive Rolle inne, sondern wurde ihrerseits in die großen Staatsg€:bilde der Neuzeit eingegliedert (Venedig, Habsburg - hier in der Zwischenphase des späten 13. Jahrhunderts mit einem neuen Versuch familiärer Verbindungen zwischen Kärnten, Tirol und Görz). In Savoyen, Vaud und Piemont dagegen ging die von Wirren geplagte und mühsame, von einer Adelsfamilie durchgeführte Koordinierung der Vielzahl von bereits existierenden Machtzentren in eine Struktur von großer Beweglichkeit mit starken jurisdiktionalen Einigungstendenzen über, wie Guido Castelnuovo hier erläutert. Die vorliegende Zusammenfassung ist sehr schematisch und läßt viele Bereiche ganz außer acht: die Markgrafschaft von Monferrato, in der sich ein dauerhaftes Gleichgewicht zwischen dem Fürsten, dem - teils lehnsartigen und teils freien - Adel und den lokalen Gemeinden entwickelte (mit lokal, aber nur vereinzelt auftretendem, toleriertem Ungehorsam in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts), und vor allem weitere große Alpengebiete, besonders in ihrem zentralen Teil. Regionen wie das Engadin oder Veltlin gehörten nicht zu den Gebieten mit den beschriebenen Mechanismen und wurden in weitem Maße durch die politische Expansion der Stadtstaaten absorbiert. Noch wichtiger unter dem Gesichtspunkt des Vergleichs ist die EntwickWerner der Gartenaere, Helmbrecht, hrsg. von F. Panzer (altdeutsche Textbibliothek, 11), 9. Aufl., Tübingen 1974, S. 66, Vers 1641-1645. 10 0 . Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 4. Aufl., Wien 1959, besonders einprägsam auf den Seiten 4-11.

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Jung der schweizerischen Eidgenossenschaft, wo es eine starke territoriale Herrschaft ohne Fürstentum gab. Hieran waren, wie man weiß, auch wichtige herrschaftliche Machtkerne beteiligt, aber die dörflichen und städtischen Gemeinden waren zu stark, als daß die großen Territorialfürsten, an die diese im Westen und Osten angrenzten, ihren Machtbereich hätten ausweiten könnenn. Die Schweizer Entwicklung ist nicht nur an sich interessant, sondern weist auch auf die Bedeutung hin, welche die grundlegenden Gemeindestrukturen für das Schicksal der territorialen Strukturierung der neuzeitlichen europäischen Staaten hatte, also auf die Notwendigkeit, die durch die spätmittelalterliche Dokumentation gegebenen Schwierigkeiten zu überwinden und diesen Strukturen eine ebenso große Aufmerksamkeit zu widmen, wie sie den Adelsund Fürstenstrukturen gewidmet worden ist. Zu den selbstverständlicheren Überlegungen, die unser Versuch eines groben Vergleichs nahelegt, gehört aber wohl die enorme Rolle des Zufalls bei der Bildung der europäischen Territorialstaaten (kein Wunder bei den Entwicklungen der Dynastien, die sich auf keinerlei strukturelles Moment zurückführen lassen und dennoch für die Erfolge oder Mißerfolge vieler politischer Entwicklungen entscheidend waren) und -ein Punkt, für den der alpine Raum sich als besonders erhellend erweist - die relative Gleichgültigkeit der "nationalen" Faktoren bei der Bildung der verschiedenen politischen Strukturen des Spätmittelalters.

11 Ideologisch interessant ist die Randbedeutung, die 0 . Brunner, Land und Herrschaft, S. 233, der Schweizer Erfahrung beinlißt. Unter anderem Zeichen steht die Beurteilung der Schweiz als eines Staates, "gleichrangig mit den übrigen National- und Territorialstaaten Europas", die man in der schönen Übersicht liest von R. Sprandel, Verfassung und Gesellschaft im Mittelalter 0975), 4. Aufl., Paderborn 1991, S. 207.

Regionale Fürstentümer und territoriale Organisation in den Westalpen: Savoyen (frühes 13. bis frühes 15. Jahrhundert) Von Guido Castelnuovo·

Für die institutionellen Strukturen des nord-westlichen Alpenraums war das 13. ein Jahrhundert der politischen Umgestaltung und institutionellen Erneuerung. Es kann jedoch nicht von einer plötzlichen Metamorphose die Rede sein, sondern es handelte sich um einen langsamen Übergang von einer auf lokal verwurzelter, signorHer Macht fußenden Ordnung zu einer politischen Neuordnung auf überregionaler Basis. In dieser neuen sozialen Ordnung stieß die Vielfalt der lokalen Verfassungsmodelle auf die Verbindungs- und E.inverleibungssfähigkeiten, die von der gräflichen Autorität anerkannt und wahrgemacht worden waren. Vom Aostatal zur Waadt, von der Tarentaise zum Wallis, von Chambery nach Turin bemühten sich die Savoyer, ihre Herrschaft über ein kompaktes Territorium und über die Gesamtheit der Einwohner geltend zu machen: Die um 1266 von Peter II. erlassenen Statuten betrafen alle Menschen, adelig oder nicht, Kleriker und Religiöse, .rustici et agricolae", die in .tocius comitatus Sabaudie" lebten. Unter dem normativen Aspekt beabsichtigen der Graf und seine Entourage also, die dynastischen Dominien als einen konkreten Organismus zu betrachten1• Welche waren die Instrumente und die Symptome dieser Veränderungen? Auf welchen Wegen verwandelte sich diese .Nahtstelle der Westalpen" 2, zwischen dem Mont-Cenis, dem Genfer See und dem Sankt Bernhard von einem Gebiet des Aufeinandertreffens institutioneller Modelle, die aus der Auflösung der öffentlichen Ordnungen karolingischer Matrix hervorgegangen waren, zu Deutsch von Friederike C. Oursin. Zit. von C. Nani, Statuti di Pietro II di Savoia, in: Memorie della Reale Accademia delle Scienze di Torino, scienze morali, 33 (1881), S. 73-124. Für eine allgemeine Interpretation siehe G. Tabacco, Forme medievali di dominazione nelle Alpi Occidentali, in: Bollettino Storico-Bibliografico Subalpino [von nun an BSBS], 60 (1962), S. 327354, bes. S. 352 f. Vgl. jüngst P. Cancian, Notai e cancellerie: circolazione di esperienze sui due versanti alpini da! secolo XII ad Amedeo VIII, in: La Frontiere. Necessite ou artifice? Actes du Xllle colloque franco-italien d'etudes alpines, Grenoble 1987, S. 4351, bes. S. 45. G. Sergi, Incontro fra modelli istituzionali sul primo fronte dell'espansione sabauda: principato e comuni, in: G. Coppola I P. Scbiera (Hrsg.), Lo spazio alpino: area di civiltä, regione cerniera (Quaderni del GISEM, 5), Napoli 1991, S. 135-146, zit. aufS. 136.

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einem Land uneingeschränkter fürstlicher Oberherrschaft? Welchen Einfluß hatten diese Veränderungen auf die Organisation des Territoriums? Bis zu diesem Zeitpunkt fußte diese auf einer unsicheren Konkurrenz und einem instabilen Zusammenleben von Fürstbistümern deutschen Zuschnitts (in Turin und Lausanne, in Sion und MoGtiers), territorialen Fürstentümern französischen Einschlags (wie jenem der Albon im zukünftigen Dauphine, jenem der Savoyer zwischen Moriana, Aosta und Belly und jenem der Genfee Grafen an den Ufern des Genfee Sees) und zuletzt, zahlreichen, solide verflochtenen, ländlichen Signorien mit kommunaler Herrschaft im piemontesischen Raum3. Eine Untersuchung dieses Wandels wird noch interessanter durch eine Charakteristik des savoyischen Fürstentums, nämlich die interregionale Oberherrschaft, deren Ambitionen "umfassend alpin [waren), mit unterschiedsloser Aufmerksamkeit für beide Seiten" 4 • Die savoyische Expansion bevorzugte das Zirkulieren von institutionellen Modellen und die Gegenüberstellung von territorialen Organisationsformen, die Kulturformen sehr unterschiedlichen Ursprungs geltend machten: notarielle Kultur und Kanzleibräuche, Gebiete mit römischem Recht und Regionen mit Gewohnheitsrecht wie die Waadt und das Die Pluralität der Machtformen im Alpenraum zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert ist schon in dem Kolloquium von Reichenau im Jahr 1965 an den Tag getreten: Die Alpen in der europäischen Geschichte des Mittelalters (Vorträge und Forschungen, X), Stuttgart 1965: für die Westalpen siehe den Beitrag von B. Bligny, Le Dauphine medieval: quelques problemes, S. 221-231, und bes. denjenigen von G. Tabacco, La formazione della potenza sabauda come dominazione alpina, S. 233-243. Vgl. auch den Beitrag von Paolo Cammarosano in diesem Band. Zur unterschiedlichen Entwicklung der politischen Ordnungen in dem Raum, der mit dem 13. Jahrhundert zum savoyischen Machtbereich wird: G. Sergi, Potere e territorio Iunge Ia strada di Francia, Napoli 1981 (für die Moriana, das Susatal und das Gebiet um Turin); A. Barbero, Conte e vescovo in val d'Aosta (sec. XI-XIII), in: BSBS, 86 (1988), S. 39-75 (für das Aostatal); R. Brondy I B. Demotz I ].P. Leguay, La Savoie de l'an mil a Ia Reforme, Xle-debut XVIe siede, Rennes 1984 (für Savoyen an sich); G. Castelnuovo, L'aristocrazia del Vaud fino alla conquista sabauda, Torino 1990 (für das Gebiet nördlich des Genfee Sees); P. Duparc, Le comte de Geneve, Xle-XVe siede, Geneve 1955 (für GenO; P. Dubuis, Le Valais savoyard (XIIe-XVe siecles). Une esquisse, in: A. Paravicini Bagliani I ].Fr. Poudret (Hrsg.), La Maisonde Savoie et Je Pays de Vaud, Lausanne 1989, S. 105115 (für das Wallis), sowie]. Roubert, La seigneurie des archeveques-comtes de Tarentaise, in: Memoires de l'Academie de Savoie, 6. Folge, 5 (1961), S. 33-235 (für das Erzbistum von Moutiers). Zu einigen SignoriJen Entwicklungen im südlichen Alpenraum an der Grenze des savoyischen Einflußgebietes: G. Morello, Dal custos castri Plociasci alla consorteria signorile di Piossasco e Scalenghe, in: BSBS, 71 (1973), S. 587; G. Sergi, Vatichi alpini minori e poteri signorili: l'esempio del Piemonte meridionale nei secoli XIII-XV, in: BSBS, 74 (1976), S. 67-75; ders., Un'area del Novarese dall'inquadramento pubblico alla signoria vescovile: Orta fino al principio del XIII secolo, in: BSBS, 86 (1988), S. 171-193; P. Guglielmotti, I signori di Morozzo nei secoli X-XIV: un percorso politico del Piemonte meridionale, Torino 1990; L. Provero, Dai marchesi del Vasto ai primi marchesi di Saluzzo (secoli XI e XII), Torino 1992. Eine jüngste historiegraphische Einordnung in: R. Bordone, Le aristocrazie militari e politiche tra Piemonte e Lombardia nella letteratura storica recente sul Medioevo, in: G. Coppola I P. Scbiera (Hrsg.), Lo spazio alpino, S. 115-131. 4 G. Sergi, lncontro, S. 136.

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Aostata1 5, zentrale städtische Siedlungsstruktur und Macht der ruralen signorilen Gewalten. Auf diese Situation der kulturellen Bruchstückhaftigkeit und der auf Macht bedachten einzelnen Gemeinschaftsverbundenheilen antworteten die Savoyer, indem sie sich bemühten, mit den vorher existierenden politischen Bereichen konform zu gehen, wobei ihnen auf diese Art und Weise großzügige Autonomiesphären überlassen wurden, und indem sie versuchten, die Physiognomie des Territoriums selbst zu verändern. Zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert kam es also zu wichtigen Veränderungen in den Strukturen der territorialen Kontrolle und in den institutionellen Konturen der Machthaber. Die Neuzusammensetzung der spätmittelalterlichen alpinen Gesellschaft führte gleichwohl nicht zu einer endgültigen Homogenisierung der verschiedenen Gebiete des Herrschaftsbereiches der Savoyer. Freilich wirkte das Fürstentum, dieser politisch tendenziell einheitliche ,Deckmantel', immer ausgeprägter auf die institutionellen Entwicklungen ein, und dennoch blieb deren grundlegende Heterogenität sehr stark: dies bezeugen in der Mitte des 15. Jahrhunderts die Statuten Amedees VIII., die mit großer Aufmerksamkeit demonstrativ auf den regionalen Spezifika der herzöglichen Ordnungen bestehen. Eine grundlegende Zeitspanne beim Zustandekommen der überregionalen Hegemonie der Savoyer war das 13. Jahrhundert: an erster Stelle ein Moment der Koordinierung, des Zusammenlebens und der Komplementarität von lokalen Mächten und gräflicher Autorität. Aber dort gibt es auch die ersten Anzeichen für eine neue hierarchische und kodifizierte Struktur der politischen Obergewalt Diese mehrstufige Veränderung wird von den Modifizierungen des urkundlichen corpus bestens bezeugt: indem sie neben den im 12. Jahrhundert vorherrschenden diplomatischen Quellen aus dem religiösen Bereich (bischöfliche Archivbestände und Klosterdokumente) hervortreten, beginnen die Akten gräflicher Matrix im 13. Jahrhundert das dokumentarische Proszenium und die Pluralität der Strategien savoyischer Herrschaft einzunehmen6 . 5 L. Chevail/er, Recherehes sur Ia reception du droit romain en Savoie des origines ä 1789, Annecy 1953; P. Duparc, La penetration du droit romain en Savoie (premiere moitie du XIIIe siede), in: Revue historique du droit fran\;ais et etranger, 43 (1965), S. 22-86; G.G. Fissore, Pluralitä di forme e unitä autenticatoria nelle cancellerie del medioevo subalpino (secoli X-XIII), in: Piemonte medievale. Studi in onore di Giovanni Tabacco, Torino 1985, S. 145-167; P. Cancian, Notai e monasteri in Val di Susa: primi sondaggi, in: Esperienze monastiche nella val di Susa medievale, Susa 1985, S. 161167; U. Gherner, Un ·professionista-funzionario del Duecento: Broco, notaio di Avigliana, in: BSBS, 85 (1987), S. 387-443; P. Rück, Die Anfänge des öffentlichen Notariats in der Schweiz (12.-14. Jahrhundert), in: Achiv für Diplomatik, 36 0990), S. 93-123, bes. 107115. Zu einem Vergleich mit der Situation im Dauphine, der Provence und der FrancheComte: G. Giordanengo, Le droit feodal dans les pays de droit ecrit. L'exemple de Ia Provence et du Dauphine, Xlle-debut XIIIe siede, Roma 1988; M .T. Allemand-Gay, Le pouvoir des comtes de Bourgogne au XIIIe siede, Besan~on 1988. 6 Zu den Beziehungen von dokumentarischem Corpus und politischen Strukturen: P. Cammarosano, Italia medievale. Struttura e geografia delle fonti scritte, Firenze 1991. Die Beziehung von Interpretation der institutionellen Veränderungen und dem

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Die zahlreichen feudalen recognitiones belegen den täglichen Rückgriff der Grafen auf feudal-vassalische Instrumente als Formen politischer Verbindung. Exemplarisch ist der Fall der Landschaft Waadt, wo es Peter - noch bevor er Graf von Savoyen wurde- gelingt, zwischen 1244 und 1250 Fuß zu fassen, indem er einen Großteil der regionalen Aristokratie in die eigene Lehensgefolgschaft aufnimme. Außerdem treten die ersten fiskalischen und administrativen Quellen auf den Plan: die ,.conti di castellania". An diesen Schriftrollen läßt sich eine dreifache politisch-territoriale Veränderung ablesen: die Entstehung der fürstlichen Verwaltung, die Umwandlung der lokalen Siedlungsstruktur und die Erneuerung der regionalen sozialen Hierarchien. Es gibt keinen Zweifel daran, daß die savoyische Verwaltung als Verwaltung des und über das Territorium entsteht (zuerst einzelne Kastellaneien, dann die Gründung von regionalen Koordinierungen, die Bajulate, und zuletzt das Definieren embryonaler Anzeichen zentraler Apparate8). An zweiter Stelle verändert, manchmal radikal, die politische Eingliederung des Netzes der Kastellaneien das Siedlungsbild. Dies bezeugt beispielsweise die Politik der Gründung von vii/es franches und vi/les neuves, welche die Savoyer und ihre Verwandten im Piemont - die Achala - realisierten9 . Auch die Funktion der Burgen wandelt sich: Aus Kernstücken politischer Einverleibung, dem Symbol und Symptom der Macht der zur Verfügung stehenden Quellenmaterial wird auch untersucht vori: D. Bartbelemy, La societe dans le comte de Vendöme de l'an mil au XIVe siede, Paris 1993 der, in der Diskussion über den doppelten Übergang von der königlichen zür signorilen Ordnung (10.-11. Jahrhundert) und von dieser letzten zur fürstlichen (12.-13. Jahrhundert), davor warnt, die dokumentarischen Wandlungen als Anzeichen für tiefgreifende soziale und institutionelle Veränderungen zu betrachten. B. Andenmatten, La noblesse vaudoise face a Ia Maison de Savoie au XIIIe siede, in: La Maison de Savoie, S. 35-50 und ders., La noblesse vaudoise dans l'orbite savoyarde (1250-1350), in: A. Paravicini Bagliani (Hrsg.), Le Pays de Vaud vers 1300. öffentlicher Kurs, Lausanne 1992, S. 27-38. 8 Vgl. E. Dullin, Les chätelains dans les domaines de Ia Maison de Savoie en de~a des Alpes, Grenoble 1911; B. Demotz, La geographie administrative medievale: L'exemple du comte de Savoie; debut XIIIe - debut XVe siede, in: Le Moyen Age, 1972, S. 261-300; Cbr. Guillere I j.L. Gau/in, Des rouleaux et des hommes: premieres recherches sur les comptes de chätellenie savoyards, in: Etudes Savoisiennes, I (1992), s. 51-108. H. Amman, Über das waadtländische Städtewesen im Mittelalter und über landschaftliches Städtewesen im Allgemeinen, in: Revue d'Histoire Suisse, 4 0954), S. 1-87; R. Mariotte-Löber, Ville et seigneurie. Les chartes de franchise des comtes de Savoie, fin XIIIe siede-1343, Annecy 1973;].P. Leguay, Un reseau urbain medieval: les villes du comte, puis duche de Savoie, in: Les villes en Savoie et en Piemontau moyen äge (Bulletin du Centre d'etudes franco-italien, 4. Juni 1979), Chambery I Turin 1979; R. Comba, Rifondazioni di villaggi e borghi nuovi nel Piemonte sabaudo: le villenove di Filippo d'Acaia (1985), jetzt in: R. Comba, Contadini, signori e mercanti nel Piemonte medievale, Roma I Bari 1988; ders., Le villenove del principe. Consolidamento istituzionale e iniziative di popolamento fra i secoli XIII e XIV nel Piemonte sabaudo, in: Piemonte Medievale, S. 121-141; F. Panero, C01nuni e borghi franchi nel Piemonte medievale, Bologna 1988 und jüngst in P. Guglielmotti, Le origini del comune di Mondovl: progettualita politica e dinamiche sociali fino agli inizi del Trecento, in: BSBS, 90 0992), S. 5-79; R. Comba I AA. Settia (Hrsg.), I borghi nuovi. Secoli XII-XIV, Cuneo 1993.

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ruralen Bannherrschaft, werden wirtschaftliche, administrative oder militärische Zentren, deren lokale Autonomie immer mehr von den engen Bindungen zu den politischen Zentren des Fürstentums aufgewogen wird 10. Zuletzt verstärkte die Entstehung des Beamtenturns wenigstens potentiell die gräflichen Interventionsmöglichkeiten im Bereich der Zusammensetzung der regionalen und lokalen Eliten und lieferte den Savoyern so ein Instrument zur sozialen Kontrolle und politischen Einmischung, das im Verlauf der darauffolgenden Jahrhunderte systematisch angewandt werden wird. Feudale, militärische und rechtlich-administrative Strategien - diese letzten wurden in Savoyen von einer ersten Kodifizierung aus dem 13. Jahrhundert geliefert, den Statuten von Peter II., einem richtiggehenden "Gründungstext" der legislativen Aktivität des Fürsten 11 - waren also die Grundlage der Schaffung von interregionalen politischen Organismen in den nord-westlichen Alpen. Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts kann man von einem Wettstreit homologer Fürstentümer sprechen: Savoyen, Dauphine und Monferrato beispielsweise. Dennoch ist ihre Physiognomie weiterhin noch unausgeprägt und einige für spätmittelalterliche Fürstentümer typische Wesensmerkmale fehlen. Im westlichen Alpenraum sollte die Integration der dominatus loci in die politischen Strukturen der Fürstentümer erst im Verlauf des 14. Jahrhunderts zustande kommen; und zwar sowohl über die interregionalen Entwicklungen der feudal-vassalischen Achsen als auch -und dies ganz besonders -über die Festigung der inneren und äußeren politischen Grenzen und die Regelung der zentralen und lokalen Verwaltungsorgane. Zur Festigung der Grenzen zwischen Savoyen und seinen mächtigen Nachbarn kam es im Verlauf der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, zwischen 1310 (Abkommen mit den Habsburgern) und 1355 (Abkommen von Paris mit einem Dauphine, das inzwischen unter französischer Kontrolle war)12 • Im We10 Beispiele in B. Demotz I A. Perret, Chäteaux forts de Savoie, Chambery 1982; B. Demotz, La noblesse et ses residences en Savoie (du debut du XIIIe au debut du XVe siede), in: Revue Savoisienne, 122 (1982), S. 129-141; G. Castelnuovo, Castelli nelle Alpi, in: Gli uomini e Je Alpi, Tagung CO.TR.AO. Oktober 1989, Torino 1991, S. 136-148 (mit Bibliographie). Ein alpiner Vergleich in: P. Cammarosano I F. De Vitt I D. Degrassi, Storia della societa friulana . II medioevo, Udine 1988. Ein allgemeines Bild in: A.A. Settia, Castelli e villaggi neii'Italia padana. Popolamento, potere e sicurezza fra IX e XII secolo, Napoli 1984. 11 Vgl. Anm. 1 und G. Giordanengo, Le pouvoir legislatif du Roi de France (XIeXIIIe siedes): Travaux recents et hypotheses de recherches, in: Bibliotheque de I'Ecole des Chartes, 147 (1989), S. 285-310, bes. S. 306. 12 Zu den Beziehungen zwischen Savoyen und Habsburg: G. Tabacco, II trattato matrimoniale sabaudo-austriaco e il suo significato politico, in: BSBS, 49 0951), S. 562; B. Andenmatten, La Maison de Savoie et l'aristocratie vaudoise au XIIIe siede: les limites d'une expansion, in: Savoie et region alpine, Actes du 116e Congres national des Societes savantes, Chambery, Mai 1991, Paris 1994, S. 85-96;J.D. Morerod, L'eveque de Lausanne et Ia Maisonde Savoie: Je temps de Ia rupture (1273-1316), in: A . Paravicini Bagliani (Hrsg.), Le Pays de Vaud, S. 71-91. Zu den Abkommen von Paris: ]. Cordey, Les comtes de Savoie et les rois de France pendant Ia guerre de Cent Ans (1329-1391),

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sten und im Norden konsolidierten sich so die Grenzgebiete mit den französischen und habsburgischen (später schweizerischen) Herrschaftsgebieten. Diesseits der Alpen verlief die Entwicklung analog, wenn auch vermittels der Präsenz des Fürstentums von Achala (dessen terrae 1418 wieder dem Hauptzweig angegliedert werden)i 3. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts werden die in die fürstliche Einflußsphäre eingefügten Signorien zum erklärten Ziel der savoyischen Expansionsbestrebungen. So kommt der deutliche Wille zum Ausdruck, die interne politische Struktur des Fürstentums zu definieren, um auf diesem Wege den geographischen Umriß kohärent und kompakt zu gestalten. Der Hauptweg zur Ausdehnung des gräflichen Aktionsradius' wird über eine progressive - mitunter vermittels rein feudaler Verbindungen erreichte - Einverleihung dieser signorilen Partikularismen verlaufen. Als erstes sollten, mit wechselndem Erfolg, die bischöflichen bedroht sein, vom Belley bis zur Tarentaise, von Lausanne bis nach Aosta und Sion14 ; folgen werden die Signorien weltlicher Matrix, von Gex in der Grafschaft Genf, vom deifinalen Faucigny (einer richtiggehenden Enklave in den savoyischen Territorien) bis hin zu den Baronien von Beaujeu, von Thoire und Villars 15• Diese Bemühungen um politisch-geographische Rationalisierung sollten die Physiognomie des Bezirksnetzes verändern und deren Festigung bewirken. Dies führte dazu, daß die Stärkung der Verwaltunsgsstrukturen des Territoriums, welche die Wichtigkeit der noch in den Händen von wenigen führenden Signorien verbliebenen Rechte der niederen und mittleren Gerichtsbarkeit verringerte, parallel zur Entstehung eines zentralen Beamtenturns verlaufen sollte. Die erste Erwähnung eines gräflichen Schatzmeisters geht auf den Beginn des 14. Jahrhunderts zurück; 1329 wird der in Chambery residierende Rat eingerichtet, ausschließlich mit Funktionen als Gerichtshof; mindestens seit 1330 ist ein Kanzler mit seinen Sekretären aktiv; und zuletzt - immer noch in Paris 1911. Zur allgemeiner Entwicklung der savoyischen Grenzen: B. Dematz, La frontiere au Moyen Age, d'apres l'exemple du comte de Savoie, in: Les principautes au Moyen Age, Bordeaux 1979, S. 95-116 (Bordeaux 1973) und jetzt G. Castelnuava, Fra territorio e istituzioni: Ia frontiera nell'arco alpino occidentale. Giura e Vaud daii'VIII al XV secolo, in: E. Riedenauer (Hrsg.), Landeshoheit, München 1994, S. 236-251. 13 Bis zum Erscheinen der ,.Storia di Torino", hrsg. von der ,.Accademia delle Scienze", siehe auch zur savoyischen Ausdehnung diesseits der Alpen am Übergang zwischen 14. und 15. Jahrhundert die alten Untersuchungen von F. Gabatta, Lo Stato Sabaudo da Amedeo VIII a Emanuele Filiberto, 3 Bde., Torino I Roma 1892-95 und von Fr. Cagnassa, Amedeo VIII, 2 Bde., Torino 1930. H Vgl.]. Raubert, La seigneurie des archeveques-comtes; G. Sergi, Potere e territorio; A. Barbera, Conte e vescovo; R. Brandy I B . Dematz I ] .P. Leguay, La Savoie de !'an mil, (mit Bibliographie); B . Tnif.fer, Das Wallis zur Zeit Bischof Eduards von Savoyen-Acha"ia (1375-1386), Fribourg 1971; R. Walpen, Studien zur Geschichte des Wallis im Mittelalter (9. bis 15. Jahrhundert), Bern I Frankfurt I New York 1983. 15 Eine umfassende Darstellung in: E.L. Cax, The Green Count of Savoy. Amedeus VI and Transalpine Savoy in the Fourteenth Century, Princeton 1967 und B. Dematz, La politique internationale du Comte de Savoie durant deux siedes environ (XIIIeXVe), in: Cahiers d'Histoire, 19 (1974), S. 29-64.

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Chambery - sollte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein Rechnungshof als oberste Instanz der Verwaltungskontrolle eingerichtet werden 16• Die Entwicklung der zentralen Organe sowie die Stärkung der lokalen Verwaltung veränderten das soziale Gefüge und das Siedlungsbild der transalpinen Seite des Fürstentums aufs entschiedenste. Wenn in einem Gebiet, das - und hierauf muß mit Nachdruck verwiesen werden - nie von städtischen Zentren mit hauptsächlich regionalen Funktionen hegemonisch beherrscht worden war (Lausanne und Genf, Sion und Lyon unterstanden nie der direkten savoyischen Kontrolle), und die Errichtung von Kastellaneien und Bajulaten mit der Gründung neuer urbaner Zentren und der Schaffung von regionalen Hauptstädten (Sitze der Bajulate) einherging, so führte die Einrichtung eines zentralisierten Apparates zur Entstehung einer Hauptstadt. Chambery (im 15. Jahrhundert gefolgt von Turin) war inzwischen ständiger Sitz der fürstlichen Verwaltung17 • Die administrative Konsolidierung des Zentrums und des Territoriums zog eine weitere Veränderung des sozialen und politischen Gleichgewichts nach sich. Die Wahl der Beamten bot dem Fürsten die Möglichkeit, die Zusammensetzung der regionalen Eliten- wie im Waadtland 18 - auch drastisch zu verändern. Umgekehrt, vom Gesichtspunkt der Verwalter betrachtet, konnte die Beamtenlaufbahn sowohl das Instrument zum Aufrechterhalten einer sozialen Überlegenheit im regionalen Bereich sein (wie für die Challant im AostataP 9) als auch eine maßgebliche Strategie, um in die herrschenden Schichten eines jeden Bajulats aufzusteigen 20 • Dieser markante Austausch der Eliten wirkte sich auf zwei komplementäre Aspekte des territorialen Profils der Savoyer aus. Auf der lokalen Ebene erleichterte er die Erneuerung der signorilen Machtgrundlagen: Zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert läßt sich tatsächlich ein immer 16 Die spätmittelalterliche Entwicklung der savoyischen zentralen und lokalen Verwaltung ist ein Hauptthema in: G. Castelnttouo, Ufficiali e gemiluomini. La societä politica sabauda nel tardo medioevo, Milano 1994. Zum Rechnungshof: P. Cancian, Documenti e sigilli come veicoli di cultura 'minore' di corte, in: E. CastelntlOl'O I G. Romano (Hrsg.), Giacomo Jaquerio, S. 106-115 und dies., La cancelleria di Amedeo VIII, in: A. Paravicini Bagliani I ].-Fr. Poudret (Hrsg.), Amedee VIII-Felix V, premier duc de Savoie et pape (1383-1451) (Akten der Tagung von Ripaille 1990), Lausanne 1992, s. 143-166. 17 Zu Chambery: R. Brandy, Chambery, histoire d'une capitale. Vers 1350-1560, Lyon 1988; zu Annecy, Hauptstadt der Grafschaft (dann Bajulat) des Gebiets um Genf: P. Duparc, La formation d'une ville. Annecy jusqu'au debut du XVIe siede, Annecy 1973. Zu Turin im 15. Jahrhundert: A . Barbero, II mutamento dei rapporti fra Torino e Je altre comunitä del Piemonte nel nuovo assetto del ducato sabaudo, in: Storia di Torino, in Druck. 18 G. Castelnttol'O, L'aristocratie vaudoise et )'Etat savoyard au debut du XVe siede, in: A. Paravicini Bagliani I ].Fr. Poudret (Hrsg.), Amedee VIII-Felix V, S. 265-277. 19 A. Barbero, Principe e nobiltä negli stati sabaudi: gli Challant in Valle d'Aosta tra XIV e XVI secolo, in: C. Mozzarelli (Hrsg.), 'Familia' del principe e famiglia aristocratica, Roma 1988, S. 245-276. 20 Vgl. fünf waadtländische Fallstudien in: G. Castelnuouo, Ufficiali e gentiluomini, Kap. 10.3.

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häufigerer Wechsel von Besitz und Besitzern beobachten, der zu tiefgreifenden Veränderungen in der Physiognomie der signorilen Gruppe führt 21 • Gleichzeitig läßt sich beobachten, wie sehr das administrative Wachstum das Zirkulieren von institutionellen Modellen vorantreibt und dem Entstehen einer einheitlichen politischen Elite mit internationalem Aktionsradius den Weg bahnt. In den einzelnen Territorien der Grafschaft Savoyen gilt also eine dualistische Artikulierung der Macht und des Raums: dominii und Beamten, Kastellaneien und Signorien, Fürst und lokale Körperschaften22• Politische Vorherrschaft und territoriale Verwurzelung bleiben weiterhin korrelativ. Die Kontrolle über signorile Güter bleibt ein essentielles Requisit jeder öffentlichen Überlegenheit. Das Fürstentum Savoyen hat im Mittelalter kein Zentrum, das in der Lage wäre, sich eine Vielzahl von Peripherien unterzuordnen und sie zu kontrollieren. Es ist das unsichere und veränderliche Ergebnis der nach und nach in den Machtbeziehungen zwischen mehreren (administrativen, politischen und höfischen) Zentren und einer Vielzahl an Territorien erreichten Gleichgewichte, von denen jedes eine eigene regionale Identität hatte. Diese Identität"war manchmal kodifiziert (wie im Falle der Audienzen des Aastatals und der Versammlungen der waadtländischen Staaten, die beispielhaft für die gemeinschaftlichen lokalen Widerstände und die Widerstände ganzer Täler gegenüber der politischen Autorität des Fürsten sind23) und jederzeit fähig, eine gleichzeitig in loco und in der gesamten Grafschaft agierende Elite hervorzubringen. Die Tatsache, daß sich die savoyischen Territorien zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert von einer Fülle von Dominien in Familienbesitz zu einem überregionalen Fürstentum mauserten, erleidet dadurch keinen Abbruch. Die21 Vgl. das Beispiel der kleinen Herrschaft von Vuissens, in der Nähe von Freiburg, untersucht von K. und E. Tremp, Herrschaft und Stand in Vuissens im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Freiburger Geschichtsblätter, 62 (1979/80), S. 7-84. 22 Siehe das vor fast 20 Jahren vorgeschlagene Interpretationsmodell von Giorgio Chittolini ( G. Cbittolini, Aleune considerazioni sulla storia politico-istituzionale del tardo Medioevo: alle origini degli stati regionali, in: Annali dell'istituto storico italogermanico in Trento, 2 [1976). S. 401-419) und das er des öfteren neu bearbeitet und wieder aufgenommen hat, beispielsweise in: Signorie rurali e feudi alla fine del medioevo, in: Comuni e signorie. Istituzioni, societä e lotte per l'egemonia (Storia d'ltalia, IV), Torino 1981, S. 591-676; Principe e comunitä alpine in area lombarda alla fine del medioevo, in: Le Alpi per l'Europa. Una proposta politica (Tagung Lugano, 1985), Milano 1988, S. 219-235; Stati padani, 'Stato del Rinascimento': problemi di ricerca, in: G. Tocci (Hrsg.), Persistenze feudali e autonomie comunitative negli stati padani fra Cinque e Settecento, Bologna 1988, S. 9-29. 23 Für das Aostatal: A. Lange (Hrsg.), Le Udienze dei conti e duchi di Savoia nella Valle d'Aosta, 1337-1351, Paris I Torino 1956 und A . Barbero, Principe e nobiltä. Für das Waadtland: D. Tappy, Les Etats de Vaud, Lausanne 1988. Für Piemont: H.G. Königsberger, The Parliament of Piedmont during the Renaissance, 1460-1560, in: H.G. Königsberger, Estates and Revolutions, New York 1971, S. 19-79. Die Regesten dieser Versammlungen sind veröffentlicht worden von A . Tallone (Hrsg.), Parlamento Sabaudo, 13 Bde., Bologna 1928-1946.

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ser Übergang vollzog sich dank der Fähigkeiten des Fürsten und seiner Entourage innerhalb eines immer besser definierten öffentlichen Organismus, eine Vielzahl lokaler Partikularismen zu vereinigen und zu koordinieren. Um dieses Ergebnis zu erreichen und zu rechtfertigen konnte der Fürst auf äußerst differenzierte Techniken und Instrumente zählen, seien diese nun rechtliche Heer, Turniere, Ritterorden - , oder administrative: gerichtliche, finanzielle Instrumente oder Kontrollapparate24 • Dank dieser gelang es dem Fürsten in Savoyen und anderswo, sich wenn nicht als einzigen Kontrolleur der legitimen Gewalt darzustellen, so doch wenigstens als oberster Inhaber der öffentlichen Autorität, Vergeber von Gefallen und Beförderungen sowie Schiedsrichter in den inneren Kontroversen der Sozialpolitik. Er konnte als feudaler senior handeln, der so - bisweilen auch drastisch - zur Transformation der signorilen Geographie innerhalb seiner Herrschaften beitrug; er konnte zusammen mit seinen consilia als territorialer dominus eingreifen, um in privaten Streitigkeiten zu vermitteln und sie zu schlichten; letztendlich konnte er als oberste regionale Autorität, Verhalten, die für den öffentlichen Frieden als abträglich erachtet wurden, maßregeln25 • Im Verlauf der Jahrhunderte veränderte der Gebrauch dieser militärischen oder finanziellen, feudalen oder administrativen Instrumente die Organisation aller savoyischen Territorien aufs radikalste: die Konsolidierung des Fürstentums zog die Entstehung einer neuen politischen Gesellschaft nach sich. Und nichtsdestoweniger, noch im Jahr 1430 - einem der Höhepunkte der fürstlichen Macht - sah sich Amedee VIII. gezwungen, im Vorwort seiner "Decreta Sabaudie Ducalia" daran zu erinnern, daß die "bonae et laudabilis consuetudines nostrorum ducatus Auguste et patrie Vuaudi... nec non rationabiles capitula 24 Zu den feudalen Strategien der Savoyer: G. Tabacco, Lo stato sabaudo nel Sacro Romano Impero, Torino 1939. Ein allgemeines Bild der verschiedenen Mittel fürstlicher Kontrolle über die regionalen Eliten in: G. Castelnuovo, Ufficiali e gentiluomini, Kap. 2.5. 25 Ein Beispiel gräflichen Eingreifens, das erfolgreich darauf ausgerichtet war, die regionalen juristischen Sitten zu verändern, befindet sich in: D. Tappy, Amedee VIII et les coutumes vaudoises: l'abrogation de Ia mauvaise coutume du droit de guerre privee, in: A. Paravicini Bagliani I ].Fr. Pottdret (Hrsg.), Amedee VIII-Felix V, S. 299316. Das Verschwinden des Konzepts der Majestätsbeleidigung im savoyischen Raum wird bezeugt von der Affäre jehan II. Lageret, einem Juristen in Chambery, lange Zeit gräflicher Offizier und der Zauberei und Verschwörung gegen den eigenen Fürsten bezichtigt, der 1415 geköpft wurde. Dieses Urteil galt als exemplari1'ch von den Zeitgenossen, auch außerhalb der savoyischen Grenzen; der Rechtsgelehrte Gui Pape aus dem Dauphine erinnert in seinen Ratschlägen für das Parlament von Grenoble daran: "et ita de tempore meo fuit observatum in patria Sabaudiae, in personam domini Joannis Lagireti, legum doctoris, qui propter conspirationem per eum factam in personam domini Amedei Ducis Sabaudiae, fuit decapitatus et sua bona confiscata": Gui Pape, Decisiones Parlamenti Delphinatus, Lione 1562, questio 344, n. 2., zit. in]. Cbif.foleau, Amedee VIII ou Ia Majeste impossible?, in: A . Paravicini Bagliani I ] .Fr. Poudret (Hrsg.), Amedee VIII-Felix V, S. 19-49, bes. S. 41 f. Vgl. M. Sbriccoli, Crimen laesae maiestatis, Milano 1974.

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nostrarum Italie, Pedemontium et Provinice" 26 davon ausgeschlossen waren: So akzeptierte man die Tatsache, daß in einem Großteil der herzöglichen Länder die fürstlichen Statuten nicht den geringsten Wert hatten. Die Grundlagen der savoyischen Macht fußten also weiterhin nicht auf der Opposition, sondern auf dem Zusammenleben von Fürsten und territorialen Kräften, von Beamten und Gemeinden, in das die Verwaltung immer öfter vermittelnd eingriff.

26 Decreta Sabaudiae Ducalia, Glashütten I Taunus 1973, anastatischer Druck einer Ausgabe aus dem Jahr 1477, f. 10.

Territorialbildung und Territorialorganisation niederrheinisch-westfa.Jischer Grafschaften bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts Von Wilhelm Janssen

In einem über fast anderthalb Jahrhunderte (ca. 1150-1290) sich erstrekkenden Emanzipationsprozeß ist es den am Niederrhein und im südlichen Westfalen, also in der weitausgedehnten Erzdiözese Köln, ansässigen und begüterten Grafen- und Herrscherfamilien gelungen, die von den Kölner Erzbischöfen in ihrem geistlichen Amtssprengel beanspruchte und ausgeübte Herzogsgewalt abzuschütteln und ein unmittelbares Verhältnis zu König und Reich zu gewinnen. Der ducatus der Kölner Erzbischöfe war seinem Wesen nach eine auf die Landfriedenswahrung ausgerichtete Geleitsherrschaft, mit der eine außerordentliche Friedensgerichtsbarkeit und andere friedenssichernde, zugleich aber herrschaftsbegründende Rechte verbunden waren. Die kölnische Herzogsgewalt hatte sich mediatisierend zwischen den König und die weltlichen Magnaten in ihrem Geltungsbereich geschoben und diese in die Gefahr gebracht, ihre eigenständigen - sei es autogenen, sei es auf dem Lehenswege oder durch Usurpation erworbenen - Herrschafespositionen an ein kölnisches Gebietsherzogtum zu verlieren, das sich bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts in immer kräftigeren und deutlicheren Konturen aus der dukalen Suprematie der Erzbischöfe zu entwickeln begann. Dadurch, daß sich die weltlichen magnates in der Kölner Diözese der Integration in dieses sich abzeichnende Gebietsherzogtum zu entziehen vermochten, ist die Territorialisierung des kölnischen ducatus allerdings mißlungen1 • Voraussetzung und Grund dafür waren, daß es den weltlichen - allem voran den gräflichen - Dynasten gelang, ihre verstreuten grundherrliehen und (vor allem) gerichtsherrliehen Rechte auszudehnen, mit Regalien und Berechtigungen anderer Art anzureichern und dieses Agglomerat unterschiedlicher Besitz-, Rechts- und Herrschaftstitel zu einem als Einheit begriffenen und (seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts) als terra bezeichneten Herrschaftskomplex räumlich zu verdichten2• Das Auftauchen und die Verwendung des G. Droege, Landrecht und Lehnrecht im hohen Mittelalter, Bonn 1969, S. 142162; 0. Engels, Die Stauferzeit, in: F. Petri I G. Droege (Hrsg.), Rheinische Geschichte I 3, Düsseldorf 1983, bes. S. 4-11. G. Droege, Lehnrecht und Landrecht am Niederrhein und das Problem der Territorialbildung im 12. und 13. Jahrhundert, in: Aus Geschichte und Landeskunde.

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Terminus terra, in dem der neue flächenbezogene Typ der Herrschaftsbildung auf den Begriff gebracht ist, bietet ein Indiz dafür, wie weit diese moderne Form politischer Organisation in Erscheinung und als solche auch ins Bewußtsein getreten ist. Als unspezifischer und in Bezug auf die historische Herkunft und den inhaltlichen Charakter der überkommenen Herrschaftstitel neutraler Begriff war terra besser als die ihm zugeordneten oder mit ihm im Austausch gebrauchten Begriffe dominiumoder comitatuslcometia geeignet, .,Land" und .,Landesherrschaft" zu bezeichnen; dominium wie comitatus nämlich verwiesen implizit oder auch explizit auf spezifische herrschaftsbegründende Rechte, die allenfalls einen Anteil, wenn auch vielleicht den größten, zum Aufbau der modernen Landesherrschaft beisteuerten. Als Definitionsbegriffe für die neue Realität .,Land" taugten sie nicht; es sei denn, man interpretierte sie selbst neu, und zwar vom Verständnis der terra her, so daß z.B. der comitatus im ausgehenden 13. Jahrhundert nicht mehr das Ensemble gräflicher Aufgaben, Funktionen und Kompetenzen, sondern schlichtweg die Landesherrschaft, das Territorium eines Grafen bezeichnete3.

Terra aber war insofern ein Integrationsbegriff, weil er die unterschiedlichen, in Umfang und Intensität abgestuften Besitz- und Herrschaftsrechte, Machtressourcen, Schutzfunktionen und politischen Konzeptionen, die in die .,Landesherrschaft" einflossen, miteinander verwob und überdeckte. Er charakterisiert damit zugleich die Grundtendenz der inneren politischen Entwicklung in Deutschland während des hohen und späten Mittelalters, eben die Territorialisierung. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts bestimmte dieser auf eine Konzentration, auf ein Maximum an räumlicher und systematischer Geschlossenheit, auf eine weitgehende Angleichung und Vereinheitlichung von Besitzund Herrschaftsrechten zielende Trend die politische Entwicklung ausschließlich. Erst als um 1300 die gräflichen bzw. herrschaftlichen Territorien oder territorialisierten Grafschaften bzw. Herrschaften (comitatus und dominia) sich zu relativ konsistenten Landesherrschaften verfestigt hatten, deren politisch eigenständige und unabhängige Existenz prinzipiell (d.h. beim Vorliegen familialer Kontinuität und hinreichender Wirtschafts- und Machtressourcen) gesichert war, setzte in den größeren Territorien - von den Bedürfnissen und Notwendigkeilen der praktischen, als Verwaltung realisierten Herrschaftsausübung stimuliert- die Untergliederung der Territorien in VerwaltungsbezirFestschrift Franz Steinbach, Bonn 1960, S. 297 ff.; P. Moraw, Die Entfaltung der deutschen Territorien im 14. und 15. Jahrhundert, in: Landesherrliche Kanzleien im Spätmittelalter. Referate zum VI. Internationalen Kongreg für Diplomatik, München 1983 (Münchener Beiträge zur Mediävistik, 35), München 1984, bes. S. 77-81, 92 ff. ; W . janssen, Niederrheinische Territorialbildung. Voraussetzungen, Wege, Probleme, in: E. Ennen I K. Flink (Hrsg.), Soziale und wirtschaftliche Bindungen im Mittelalter am Niederrhein, Kleve 1981, S. 95-113; ders. , .,Quod deinceps liberi essent ab archiepiscopo Coloniensi". Der Tag von Worringen und die Grafen von Berg und von der Mark, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 124 (1988), bes. S. 410 f. , 424 f. E. Wadle, Grafschaft (seit Mitte des 11. Jh.), in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, I, 1964-71 , Sp. 1788; M. Borgolte, Grafschaft, in: Lexikon des Mittelalters, 4, 1987-1989, Sp. 1635 f.

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ke ein. Diese Einteilung erfolgte also erst zu einem Zeitpunkt, als die Gefahr gebannt war, daß die Aufgliederung des Territoriums zu seiner Auflösung führen könnte, und sie erfolgte nach Prinzipien, die eine solche Gefahr ausschlossen. Mit Ausnahme der räumlich überschaubaren und 1368 in das Erzstift Köln inkorporierten kleinen Grafschaft Arnsberg im westfälischen Sauerland4 sind alle niederrheinisch-südwestfälischen Grafschaften in "Ämter" (o.fficia) untergliedert worden. In diesen Ämtern waren die ihrer historischen Herkunft und verfassungsrechtlichen Begründung nach differenten, in der Hand des Landesherrn vereinigten Gerechtsame und Besitzungen auf kleinräumiger territorialer Basis zusammengefaßt und einem - zur Rechenschaft verpflichteten, der Kontrolle unterworfenen, absetz- und austauschbaren - landesherrlichen Amtsträger (o.fficia/is, o.fficiatus, amptman) anvertraut5. Das o.fficium = ampt im Sinne des territorialen Verwaltungsbezirks entsprach also nach seiner Struktur, Genese und Funktion genau derterraals Inbegriff des dynastischen Gesamtherrschaftskomplexes: des Territoriums. Nicht von ungefähr konnten deshalb in Quellenzeugnissen des 14. und 15. Jahrhunderts o.fficium und terra, ampt und /ant zu austauschbaren bedeutungsgleichen Bezeichnungen für den territorialen Verwaltungssprengel werden6; besonders häufig begegnet die additive Formel "stat (burch), ampt und lant van N.", die- abgesehen von einer Stufenfolge von Herrschaftsintensität - die innere Zuordnung von ampt und /ant anzeigrl. Zeitlich ging im Rahmen der Territorialverwaltung die Bestellung von o.fficia/es bzw. o.fficiati der Umschreibung von o.fficia = Amtsbezirken, d.h. Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter VII (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, 21), Düsseldorf 1982, Nr. 821, 892; vgl. W: Ehbrecbt, Territorialwirtschaft und städtische Freiheit in der Grafschaft Arnsberg, in: E. Meynen (Hrsg.), Zentralität als Problem der mittelalterlichen Stadtgeschichtsforschung, Köln I Wien 1979, bes. S. 125-132. 5 W. janssen, Landesherrliche Verwaltung und landständische Vertretung in den niederrheinischen Territorien 1250-1350, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, 173 (1971), S. 85-122; D. Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: K. feserieb I H. Poh/1 G.-Chr. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte I, Stuttgart 1983, S. 81-102; U. Wolter, Amt und Officium in mittelalterlichen Quellen vom 13. bis 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte (Kanonistische Abteilung), 105 (1988), S. 246-280, bes. S. 268-278. 6 Etwa R. Schotten, Das Cistercienserinnen-Kloster Grafenthai oder Vallis comitis in Asperden, Kleve 1899, Nr. 101 : "iudex domini comitis Gelrensis in officio Kriekenbekensi" (1305), Nr. 186: "amptman in den lande van Krieckenbeeck" (1348); H. Domsta, Rheinische Weistümer IV: Die Weistümer der jülichen Ämter Düren und Nörvenich (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, 18), Düsseldorf 1983, S. 91 (1351); Tb . I/gen, Quellen zur inneren Geschichte der rheinischen Territorien. Herzogtum Kleve, II 1 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, 38), Bonn 1925, Neudruck Düsseldorf 1978, Nr. 169: "onse ampt end land in der Hettert" (1378); Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins Ill, Düsseldorf 1853, Nr. 1032: "dat ... alinge land end ampt van Wyndeggen" 0397); vgl. auch W. janssen, Landesherrliche Verwaltung, S. 104. Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins Ill, Nr. 166, 322, 585, 621, 811, 1000; IV, Düsseldorf 1858, Nr. 4, 55, 78, 93; Tb. I/gen, Herzogtum Kleve, II 1, Nr. 213.

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aber: die Durchsetzung des Amtsprinzips dem des Flächenprinzips voraus8 • Beide Prinzipien aber waren schlechthin konstitutiv für den Territorialstaat des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit im Westen des Reiches. Die Ausbildung der auf dem Amts- und Flächenprinzip basierenden sogenannten "Ämterverfassung" in unserem Gebiet erstreckte sich über ein halbes Jahrhundert und schritt dabei von West (Geldern um 12909 , Kleve um 1320/ 3010, Kurköln um 133011 , Jülich um 135012) nach Ost (Berg13 und Mark14 um 1360) fort. Auch innerhalb der Territorien erfolgte die Ämterbildung sukzessive, teils von der Peripherie zum Zentrum fortschreitend (Jülich), teils vom Kern der Herrschaft ausgehend (Mark). In jedem der von uns betrachteten Territorien hat es nahezu 100 Jahre und mehr gebraucht, um vom ersten Erscheinen landesherrlicher officiales im allgemeinen Sinne von Landes- und nicht Hofbeamten über das Auftreten von officiales!officiati als lokaler bzw. regionaler Verwaltungsfunktionäre bis hin zu den ersten auf Vollständigkeit bedachten Auflistungen landesherrlicher Ämter 8 H. Aubin, Die Entstehung der Landeshoheit nach niederrheinischen Quellen. Studien über Grafschaft, Immunität und Vogtei, Bonn 1920, Neudruck 1961, S. 415. 9 L.S. Meibuizen, De rekening betreffende het graafschap Gelre 1294/ 95 (Werken Gelre, 26), Arnheim 1953; W ]anssen, Landesherrliche Verwaltung, S. 115-118;]. Kuys, De ambtman in het kwartier von Nijmegen (ca. 1250-1543), Nimwegen 1987, S. 17-25. 10 Im ganzen bietet Kleve vor der Mitte des 14. Jahrhunderts allerdings ein etwas diffuses Bild; vgl. etwa Tb. IIgen, Quellen zur inneren Geschichte der rheinischen Territorien. Herzogtum Kleve, I, Bonn 1921, S. 15 ff., 220 ff., 248 f., 333, 379 ff. 11 W. ]anssen, Zur Verwaltung des Erzstifts Köln unter Erzbischof Walram von Jülich, in: Aus kölnischer und rheinischer Geschichte. Festschrift A. Güttsches, Köln 1969, s. 1-40. 12 W janssen, Landesherrliche Verwaltung, S. 118-121; Hj. Domsta, Rheinische Weistümer IV, S. 25 ff. 13 A. Koernicke, Entstehung und Entwicklung der bergischen Amtsverfassung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Bonn 1892; W ]anssen, Landesherrliche Verwaltung, S. 113 ff.; W Melsbeimer, Burgen und Ämter im Bergischen Land. Zur Entwicklung der bergischen Amtsbezirke im Spätmittelalter, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins, 89 (1980/ 81), S. 1-24. H M . Frisch, Die Grafschaft Mark. Der Aufbau und die innere Gliederung des Gebietes besonders nördlich der Ruhr (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, XXII 1), München 1937, S. 64-82; U. Vabrenbold-Huland, Grundlagen und Entstehung des Territoriums der Grafschaft Mark (Monographien des Historischen Vereins für Dortmund und die Grafschaft Mark, 1), Dortmund 1968, S. 171177;]. Kloosterbuis, Fürsten, Räte, Untertanen. Die Grafschaft Mark, ihre lokalen Verwaltungsorgane und die Regierung zu Kleve. 1. Teil, in: Der Märker, 35 (1986), bes. S. 3-8. Mit dem sauerländischen Teil der Grafschaft befassen sich insbesondere: ]. Goebel, Die Gerichtsverfassung des Märkischen Südedandes von der Entstehung der Grafschaft Mark bis zu den Reformen von 1753, Diss. Bonn, Witten 1962; W. Simons, Die mittelalterliche Amtsverfassung im Süderland, in: Der Märker, 24 0975), S. 6-9; D. Stievermann, Städtewesen in Südwestfalen. Die Städte des Märkischen Sauerlandes im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1978, S. 193-198.

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oder Amtleute fortzuschreiten. Erst solche Zusammenstellungen machen die Ämterverfassung als durchgängige Gliederungsstruktur der Territorien sichtbar und signalisieren den grundsätzlichen Abschluß der Ämterbildung, wenngleich im einzelnen an der Anzahl und der Abgrenzung der Amtsbezirke bis weit in die Neuzeit hinein herumgemodelt worden ist. Listen der beschriebenen Art liegen für Geldern - von allerdings weit fortgeschrittenen Vorstufen aus den Jahren 1294/95 und 1340 abgesehen 15 - erst für 1359 vor16; dasselbe gilt für Kleve 17. Sie zählen 8 Ämter in Kleve auf, 13 in den Quartieren Nimwegen und Roermond des Herzogtums Geldern, in welche Quartiere die Erzdiözese Köln noch hineinreichte. Jülicher Ämter- bzw. Amtleutelisten gibt ·es aus den Jahren 1356 und 136918; sie weisen für diese Zeit 13 Ämter nach. Die hergisehe Amtsverfassung (9 Ämter) hat in einer landesherrlichen Schuldverschreibung von 1363 ihre früheste eindrucksvolle Fixierung gefunden19• Vereinzelte Spuren oder auch deutliche Anzeichen einer zur Amtsbildung tendierenden regionalen Differenzierung der Territorien lassen sich freilich erheblich früher belegen: in Geldern und Berg seit den 50er Jahren20, in Kleve und Mark seit den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts~ 1 ; in Jülich seit etwa 130022 • 15 L.S. Meibttizen, Rekening, und I.A. Nijboff Gedenkwaardigheden uit des geschiedenis van Gelderland, I, Arnheim 1830, Bijl. S. CXXVII-CXXXIV. 16 I.A. Nijboff Gedenkwaardigheden, li, Arnheim 1833, Nr. 89. 17 Ebd. 18 W. Kaemmerer, Urkundenbuch der Stadt Düren 11, Düren 1971, Nr. 107; Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch Ill, Nr. 693. 19 Tb]. Lacomblet, Archiv für die Geschichte des Niederrheins, IV, Düsseldorf 1862, s. 147 ff. 20 Geldern: 1252 "officialis comitis Gelrensis" (L.A.]. W. Baron Sloet, Oorkondenboek der graafschappen Gelre en Zutfen tot ... 1288, 's Gravenhage 1872, Nr. 741 bis); 1254 "officialibus seu iusticiariis" (Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch II, Düsseldorf 1846, Nr. 407). Berg: 1249 "ab officialibus eiusdem comitis" (Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch li, Nr. 357); 1257 "officialis noster in Munheim" (ebd., Nr. 445); 1267 "sine contradictione comitis vel sui officialis" [in Wipperfürth) (ebd., Nr. 575). 21 Kleve: 1263 "officiatus noster" [in Dorsten) (Westfälisches Urkundenbu.:h VII, Münster 1908, Nr. 1129); 1277 "officiali nostro" (Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch li, Nr. 258 Anm.); 1283 "officiati comitis Clivensis" (ebd., Nr. 783). Mark: 1274 "officialis ... in Gumersbreht" (Westfälisches Urkundenbuch VII, Nr. 1492); 1291, 1292 märkischer "officialis" bzw . •officiatus'' in Vogtei und Gericht Essen (ebd., Nr. 2194, 1217; 1298 "nostri officiati neque nos" (ebd., Nr. 2453); 1300 "Franconi dido Fryse officiali [o. officiato) suo in Buren" (ebd., Nr. 2626); 1301 "ßertoldum de Tunen officiatum in Hamone"; 1342 "miles et officiatus tune temporis in Buchem" (F. Darpe, Geschichte der Stadt ßochum III = Urkundenbuch, Bochum 1889, Nr. 6). Als 1298 der Graf von der Mark "consilio amicorum et officialium nostrorum" zugunsten der "cives in Buchem" verfügte (ebd. , Nr. 1), dürfte es sich um die Inhaber von Hofämtern gehandelt haben, und zwar ebenso wie bei dem am frühesten (1258) bezeugten märkischen .,officialis" Bernhard Bitter (Westfälisches Urkundenbuch VII, Nr. 978). 22 1300: .,sin amthman" [in Zülpich) ( Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch, li, Nr. 1064); 1305: "presentibus ... officiato domini comitis Iuliacensis" (P. Weiler, Urkundenbuch des Stiftes Xanten, Bonn 1935, Nr. 377); 1314 .,Conradi dicti Hoyckinc officiati in Brucke domini comitis Juliacensis" (R. Schalten, Grafenthal, Nr. 122).

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Es ist also für das Jahrhundert zwischen 1250 und 1350 innerhalb der Territorien mit Gebieten zu rechnen, die bereits amtsförmig verfaßt, und solchen, die noch nach herkömmlichen Ordnungsstrukturen organisiert waren. Ein Schreiben des Grafen von Berg, das er 1268 "universis officialibus suis" zukommen ließ, nämlich: "dapiferis, advocatis, scultetis necnon ceteris officiatis, qui per districtus sui territorii successione perpetua fuerunt constituti"23, macht in seiner Adressenliste die angesprochene Übergangssituation, die ungemein lange Entstehungsphase der territorialen Ämterverfassung ebenso deutlich wie die Unschärfe und Mehrdeutigkeit des Begriffs o.f.ficialis/o.f.ficiatus, der über ein ganzes Jahrhundert brauchte, um sich von der Verwendung vornehmlich für die Inhaber der ministerialischen Hofämter über die allgemeine Bezeichnung für den "Beamten" schlechthin (im Gegensatz zum bene.ficiatus, dem Belehnten bzw. Bepfründeten) zum präzisen Titel für den Stellvertreter des Landesherrn in einem fest umgrenzten Verwaltungssprengel zu entwickeln24 • Das gilt jedenfalls für o.f.ficiatus = amptman, während o.f.ficialis gegen Ende des 13. Jahrhunderts aus dem Sprachgebrauch der weltlichen Verwaltung verschwand und seitdem ausschließlich den Leuten vorbehalten blieb, die die bischöfliche oder archidiakonale Jurisdiktion stellvertretend ausübten25 • Ganz entsprechend verlief die Entwicklung von o.f.ficium = ampt. Es begegnet zunächst als Abstraktum, und zwar als begriffliche Zusammenfassung aller einem "Beamten" übertragenen Pflichten und Kompetenzen, verbindet sich dann mit Aufgabenbereichen, die in irgendeiner Weise räumlich umschrieben sind, um sich schließlich zur Bedeutung "Verwaltungsbezirk" territorial zu verengen26. Es hat im übrigen einige Zeit gedauert, bis sich "Amt" und "Amtmann", begrifflich aufs engste einander zugeordnet, auch in der Sache so zueinander gefunden hatten, daß einem "Amtmann" als Verwaltungsbezirk durchweg ein "Amt" zugewiesen und umgekehrt einem "Amt" als oberster Verwaltungsfunktionär stets ein "Amtmann" vorgesetzt war. Erst diese Gleichschaltung und Eindeutigkeit in der Begriffsverwendung schuf jene Quellenlage, die die Ämterverfassung in den einzelnen Territorien durchsichtig und analysierbar macht. Zumindest was den "Amtmann" betrifft, ist dieser später wiederum häufig Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 586. W. janssen, Landesherrliche Verwaltung, S. 89 ff. 25 F. Gescber, Das Offizialat der Erzbischöfe von Köln im 13. Jahrhundert, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, 115 (1929), S. 136-166: W. Trusen, Offizialat, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 111, 1983, Sp. 1214 ff.; U. Wolter, Amt und Officium, S. 256-260. 26 Vgl. etwa P. Weiler, Urkundenbuch Xanten, Nr. 264: " ... iudice non requisito, sub cuius officio iniuria vel violentia fit .. ." (1282); Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch III, Nr. 357: "districtus et officii" (1340); Germ. Nationalmuseum, Perg. Urk. 1348 XII 13: "gelegen in den bisdom van Collen in dem ampte van Leghenich"; G. Rottboj, Urkundenbuch der Stadt und des Amtes Verdingen, Krefeld 1968, Nr. 177: "nemus .. . intra officia nostra ßerka et Urdinga situatum" (1347); vgl. dazu u.a. Tb. IIgen, Herzogtum Kleve, I, S. 487; U. Wolter, Amt und Officium, S. 273 f. 23

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durch den vornehm altertümlichen Titel dapifer = Drost (Truchseß) ersetzt worden 27; und anfangs zogen es einzelne Amtleute vor, statt dieser farblosen, lediglich auf ihren .Beamten"-Status verweisenden Benennung hergebrachte substantielle Titulaturen wie "Gograf" (gogravius)28 oder iusticiarius o .ä.29 zu verwenden. Das hing nun freilich nicht allein mit wechselnden Geschmacksrichtungen hinsichtlich des Titelgebrauchs zusammen, sondern stellt ein Zeugnis für die Genese der Landesverwaltung aus der Hofverwaltung dar. Im 13. Jahrhundert war der aus der Ministerialität genommene dapifer des gräflichen Landesherrn dessen "Geschäftsführer" und Stellvertreter für das ganze Land30 . Als dieses dann untergliedert wurde, bestellte man für die neuen regionalen oder lokalen Bezirke Amtsträger, die nach dem Vorbild des dapifer geschnitzt waren und sich deshalb wechselweise Drost (dapifer) oder Amtmann (ofjiciatus) nannten31 . In der Grafschaft Kleve ist der historische Zusammenhang beson27 Einige Beispiele für die Austauschbarkeit der Begriffe officiatus-dapifer-iudex: K. Rübe/, Dortmunder Urkundenbuch I, Dortmund 1881 , Nr. 284 (1302); Tb . Iigen, Herzogtum Kleve, II 1, Nr. 53: .Everwine van Sevenaer amptman des greven van Cleve" (1338), Nr. 55: .Everwijn van Zevenaer drossate des greven van Cleve" (1339); I.A. Nijboff, Gedenkwaardigheden, II, Nr. 82: Ernennung zum .drossaet", .amptman ende richter tot Gelren" 0357); Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 823: .drosset zu Blankenberg" (1378), Nr. 844; .amptman zu Blanckenberg" (1380); H. Flebbe, Quellen und Urkunden zur Geschichte der Stadt Altena I, Altena 1967, Nr. 31: .wenemar Dukere ... unsen amptman ... van Ludenschede" (1392), Nr. 39: .W.D. unssme droste to Ludenschede"; G. Aders, Quellen zur Geschichte der Stadt Bergneustadt und des Amtes Neustadt von 1109-1630, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins, 71 (1951), S. 79 f.: .,Rutger de Nuvenhoyve officiatus zor Nuerstat" (1412); .R. de Nova Curia drossis in Nova Civitate" (1413). Interessant ist ein zweisprachiger Vertrag zwischen Kurköln und Jülich von 1255, in dem .,dapifer" mit .,amptman" übersetzt ist (Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 376). Nicht in diesen Zusammenhang gehört der Wechsel zwischen dapifer und ojficialis, bezogen auf dieselbe Person, wie wir ihn in einigen märkischen und arnsbergischen Urkunden aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts beobachten: Westfälisches Urkundenbuch VII, Nr. 978, 1080, 1122, 1155, 1729, 1815, 2353 . .,Officialis" bezeichnet hier ohne Zweifel den Inhaber eines Hofamtes. 28 Levold von Nortbof, Chronik der Grafen von der Mark, ed. F. Zschaeck (MG SSrG NS 6), Hannover 1929, S. 57 f.: .per Bertoldum de Tunen officiatum in Hamone et castellanos de Marka" (1301); Westfälisches Urkundenbuch VIII, Münster 1913, Nr. 126: .presentibus ... Bertoldo de Tunen iudice in Hammone" (1303); H. Flebbe, Altena, Nr. 49: .de amptman und de richtere, den wy dan setten in dat ... ampt van Iserenlon" (1935); R. Lüdicke, Die Stadtrechte der Grafschaft Mark: Unna (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen. Westfälische Stadtrechte, I 3), Münster 1930, Nr. 36: •.. . voir uwen gogreven ind amptman ontfaengen ... " (1415); vgl. auch unten Anm. 89. 29 Vgl. unten Anm. 86. 3 Fj. Schmale, Zur Ministerialität der Grafen von Berg und der Grafen von der Mark, in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark, 73 (1981), S. 157-161; W janssen, Landesherrliche Verwaltung, S. 94-97. 31 Beispiele zur Austauschbarkeit der Begriffe .Drost" und .Amtmann": Westfälisches Urkundenbuch VII, Nr. 978, 1080 (1258, 1261); Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch

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ders deutlich bewahrt, insofern hier bei der Ämtergliederung der Gesamtkomplex der Grafschaft vor 1250 (mit Ausnahme des entlegenen Orsoy) als Landdeostarnt Kleve dem Landdrosten als Amtmann anvertraut wurde32 , neben dem es dann zunächst einen weiteren Drosten für das rechtsrheinische Kleve gab33 , bevor dieser Titel dann inflationär für die Amtleute in all jenen Gebieten gebraucht wurde3\ um die sich die Grafschaft bzw. das Herzogtum Kleve später erweiterte. Die Größe der beiden ursprünglichen Drostämter (rechts und links des Rheins) machte ihrerseits deren Unterteilung in Gerichtsbezirke, sogar Richterämter, notwendig, wobei de jacto die gerichtsherrliehen von den Verwaltungs-, Schutz- und Verteidigungsaufgaben getrennt wurden. Die klevische Ämterorganisation als solche basierte letztendlich aber auf den Richter-, nicht den Drostämtern35 . Dabei ist anzumerken, daß die Mehrzahl der späteren kleinen Drostämter mit den entsprechenden Richterämtern identisch ist. In den anderen Territorien ist die sachliche Verbindung zwischen Drost und Amtmann zwar nicht mehr in dieser Weise erkennbar, doch werden sie im 14. und 15. Jahrhundert auch hier zu austauschbaren Titeln36. Vergleichbare Beobachtungen lassen sich bei den o.fficia machen, die hin und wieder als vesteoder unter einem verwandten Begriff in den Quellen erscheinen37 • Solche Befunde provozieren zwangsläufig die Frage nach einer .Ämtereinteilung" avant Ia lettre, lassen nach vorausliegenden und nachwirkenden vorterritorialen oder territorialen Ordnungsstrukturen suchen. Eine solche historische Spurensuche ist freilich nicht nur mühsam, sondern der Gefahr spekulativer Verirrungen ausgesetzt. Denn die Funktion des .Amtes" in eben angedeutetem Sinne ist es ja gerade, die historisch gewachsenen, einzeln dingfest zu machenden und spezifisch zu benennenden Herrschaftsrechte des dominus terrae innerhalb dieses Sprengels zugunsten einer als superloriras definierten allgemeinen Landesherrschaft begrifflich zu verdecken und real einzuschmelzen. Das erschwert die Ermittlung der Grundlagen und Grundsätze, auf und nach denen die Aufteilung des Landes in Ämter durchgeführt worden ist; denn diese o.fficia - und das ist eben ihre ratio essendi! -verstellen den Blick auf jene politischen und sozialen Organisationsformen, die ihnen und der Territorialbildung überhaupt voraufgingen und die die Bausteine dafür geliefert haben. Nach dem märkischen Chronisten Levold von Northof (t 1359) bestanden terra et dominium bzw. -an anderer Stelle bedeutungsgleich damit gebraucht - der comitatus der Grafen von der Mark aus castra, municiones/iuredicciones 111, Nr. 228 (1292); K. Rübe/, Dortlnunder Urkundenbuch I, Nr. 284 (1302); I.A. Nijbo.f(. Gedenkwaardigheden I, Nr. 178 (1318); Tb. IIgen, Herzogtum Kleve, ll 1, Nr. 53, 55 0338, 1339). 32 Tb. IIgen, Herzogtum Kleve, I, S. 15-24. 33 Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch lll, Nr. 297. 34 Tb . IIgen, Herzogtum Kleve, I, S. 490-495. 35 Ebd., S. 515. 36 Vgl. Arun. 31. 37 Siehe unten Anm. 69-70.

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et possessiones oder, in leichter Variation, aus castra, opida et muntctones, iuredicciones et districtus und- davon qualitativ abgesetzt- bona et redditu$8• Damit sind die Konstruktionselemente der Territorialbildung im allgemeinen wie die der spiegelbildlich dazu verlaufenden Ämtergliederung im besonderen hinlänglich genau und vollständig umschrieben. Allerdings wird man rückblickend in der historischen Reihung und inhaltlichen Gewichtung, also in der Rangfolge, dieser Elemente eine Umstellung vornehmen und die iuredicciones et districtus vor die castra et opida setzen. Damit sind wir bereits inmitten einer bis in unsere Tage hinein ausgetragenen Kontroverse über die Art und Weise sowie die gestaltenden Kräfte der Ämterbildung in den westdeutschen Territorien. Es stehen sich da gegenüber die Verfechter der These, die den Ausgangspunkt und Kern der Amtsentstehung in der landesherrlichen Burg sieht und das Amt mit dem Burgbannbezirk gleichsetzt, innerhalb dessen die im Gravitationsfeld der Burg als herrschaftsbildenden Machtzentrums liegenden Herrschaftsrechte zugunsten des Landesherrn aufgesogen und fixiert worden sind39, und jene Forscher, für die die Gerichtsorganisation die Grundlage für die Formierung der Ämter abgegeben hat40. Diejenigen, die das Amt als Annex einer Burg betrachten, können für sich in Anspruch nehmen, daß sie mit den Vorstellungen der Zeitgenossen und den Formulierungen der einschlägigen Zeugnisse des 14. und 15. Jahrhunderts übereinstimmen; ihre Gegenspieler jedoch - das hat eine eindringliche Quellenanalyse mehr und mehr erhärtet - haben mit der Zurückführung der Ämter auf iurisdictiones und districtus, also auf Gerichtsbezirke, die besseren Argumente für sich. Landesherrschaft im ganzen wie in ihren Teilen beruhte vorwiegend auf der Gerichtsherrschaft Darin ist sich die Forschung mit der Masse der Quellenzeugnisse weitgehend einig. Nicht umsonst steht in den niederrheinisch-westfälischen Urkunden des 13. Jahrhunderts iurisdictio häufig als Kennzeichnung für den Herrschaftsbereich eines dominus schlechthin und als parspro toto für Begriffe wie terra oder dominium, mit denen iurisdictio als bedeutungsgleich abwechseln kann41 .

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Levold von Nortbqf, Chronik der Grafen von der Mark, S. 5, 12.

.w A. Koernicke, Bergische Amtsverfassung; zustimmend übernommen und ver-

allgemeinert von H. Spangenberg, Landesherrliche Verwaltung, Feudalismus und Ständetum in den deutschen Territorien des 13.-15. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift, 103 0909), S. 481 ; von dort aus fand die These Eingang in die gängigen Lehrbücher der Deutschen Rechtsgeschichte bis hin zu H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, 1: Frühzeit und Mittelalter, Karlsruhe 1954, S. 434 f. 40 Wie Anm. 48 und 49. 41 Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 357: •.. . subditos suos sub sua iurisdictione existentes ... ; in ipsius comitis terram seu dominium venientes ..." (1249); I.A . Nijboff, Gedenkwaardigheden I, Nr. 65: ,.iurisdictio et dominium quod in vulgari wiltban dicitur" (1299); ].S. Seibertz, Urkundenbuch zur Landes- und Rechtsgeschichte des Herzogtbums Westfalen II, Arnsberg 1843, Nr. 734: ,.in onsme gerichte ind lande" (1354).

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Aber mit welcher Art und welchem Typ von iurisdictio42 haben wir es dabei zu tun? Mit einer Grafen- oder grafengleichen Vogteigerichtsbarkeit, deren Wurzeln bis in die Karolingerzeit zurückreichen und somit eine zwar mannigfach gebrochene, insgesamt aber noch deutlich erkennbare institutionelle Kontinuität von der fränkischen Königsherrschaft des 9. bis zur territorialen Grafenherrschaft des 13. Jahrhunderts sichtbar macht? So will es Albert Hömberg43 im Hinblick auf die westfälischen Grafschaften Arnsberg und Mark. Oder ist die in Hoch- und Niedergerichtsbarkeit geteilte, in die Grafschaftsorganisation eingebaute karolingische Gerichtsverfassung so deformiert und durch immer zahlreichere Immunitäten so ausgehöhlt worden, daß schließlich davon nur noch räumlich zerstückelte Scherben von Hoch- und Niedergerichtsresten blieben, die die späteren territorialen Herrschaftsbildner wiederum zusammenfügen und zu einem neuen Typus von Gericht, dem Landgericht, umformen mußten, welcher Umformungsprozeß von einer Verschiebung in der Definition der Hochgerichtsbarkeit begleitet und angeregt war? Denn das altum bzw. "altius iudicium, quod vulgariter hoigericht dicitur" 44 , hatte nicht mehr viel gemein mit den Verhandlungen über Eigen und Erbe und der strafrechtlichen Kompositionengerichtsbarkeit der alten Grafendinge45 ; vielmehr ging es dabei - wie es plastisch hieß - um die "effusio sanguinis et furum suspensio"46 , um dasjenige, "dat aen een lyf drecht", um die geweltliken zaken47 • Kennzeichnendes Merkmal der Hochgerichtsbarkeit wurde die Blutgerichtsbarkeit. Das ist das Bild der Entwicklung, das Theodor IIgen im Rahmen einer Untersuchung über die Amts- und Gerichtsorganisation im Herzog42 So richtig die Feststellung ist, daß im Mittelalter - wie im Sprachgebrauch der katholischen Kirche bis heute - die iurisdictio über die Rechtsprechung hinausgeht und Verwaltungsaufgaben in modernem Sinne einbegreift, so kann andererseits doch nicht bezweifelt werden, daß die richterliche Gewalt der eigentliche Kern der iurisdictio ist und bleibt. lurisdictionem exercere heißt primär, Recht sprechen: vgl. Thj. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 891: "iurisdictio quam exercere consuevimus de causis criminalibus et civilibus" (1290); Th.J. Lacomblet", Urkundenbuch III, Nr. 244: .iudicare seu iurisdictionem exercere" (1329). 43 A.K. Hömberg, Grafschaft- Freigrafschaft- Gografschaft, Münster 1949; ders., Die Entstehung der westfälischen Freigrafschaften als Problem der mittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte, Münster 1953; ders., Die Veme in ihrer zeitlichen und räumlichen Entwicklung, in: Der Raum Westfalen II 1, Münster 1955, S. 141-170; ders., Kirchliche und weltliche Landesorganisation des südlichen Westfalen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XII 10), Münster 1965. 44 M. Dicks, Die Abtei Camp am Niederrhein. Geschichte des ersten Cistercienserklosters in Deutschland, Kempen 1913, S. 203 Anm. 75-76. 45 E. Wadle, Grafschaft, Sp. 1790. 46 Wie Anm. 44; unter das .•hoghe richte" fielen "doetslach, moert, duyft, verretenisse" (Tb. IIgen, Herzogtum Kleve, II 2, S. 296); "omnia suprema iudicia ... quae tangerent ad necationem, peremptionem seu mortem corporis ... " (L.Aj. W Baron Sloet, Oorkondenboek, Nr. 647). 47 Thj. Lacomblet, Urkundenbuch III, Nr. 366; Tb. IIgen, Herzogtum Kleve, II 2, s. 298.

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turn Kleve entwirft48 - ein Bild, das es zwar nicht erlaubt, in den hoch- und spätmittelalterlichen Gerichtsstrukturen frühmittelalterliche Verhältnisse aufzuspüren, das aber einen Zusammenhang zwischen beiden prinzipiell nicht leugnet. Es ist dasselbe Bild, das auch Hermann Aubin in seiner Arbeit über die Entstehung der Landeshoheit zeichnet49; er bleibt allerdings stärker als IIgen bemüht, Zeugnisse und Relikte der von ihm postulierten bzw. vorausgesetzten alten Grafschaftsverfassung aufzuspüren. Trotz dieses Bestrebens aber gewinnen bei ihm die erschlossenen karolingisch-frühmittelalterlichen Gerichtsverhältnisse keine überzeugenden Konturen, werden vielmehr durch die "neuen" Land- und Ortsgerichte bis zur Unkenntlichkeit zugedeckt und bleiben damit dem forschenden Blick entzogen. Radikaler noch als vermittelnde Positionen dieser Art bricht mit der lange herrschenden und von Albert Hömberg wiederbelebten Lehrmeinung die vor allem von Kar! Kroeschell vertretene Theorie, die seit dem 12. Jahrhundert bezeugten westfälischen Gagerichte - die begrifflich wie sachlich den niederrheinischen Landgerichten entsprechen5°- seien in dieser Zeit auch erst entstanden, und zwar im Zusammenhang mit der Landfriedensbewegung, entwickelt aus einer auf den Schutz und die friedliche Regelung des nachbarschaftliehen Zusammenlebens zielenden und zu diesem Zweck das blutige Unfreienstrafrecht adaptierenden Institution 51 • Die hoch- und spätmittelalterliche Hochgerichtsbarkeit, auf der die Landesherrschaft in wesentlichen Teilen aufgebaut ist, stelle demnach ein zeitlich relativ junges Phänomen, eine Neuschöpfung des 12. Jahrhunderts dar, die die ältere Grafen- und Vogteigerichtsbarkeit teils ersetzt, teils (wie die westfälische Freigerichtsbarkeit) in periphere Bereiche des politischen und sozialen Lebens abgedrängt habe. Wir wollen diese wissenschaftliche Diskussion zunächst auf sich beruhen lassen und vorab die Quellen befragen. Sie geben durch alle in Frage stehenden Territorien hindurch relativ gleichförmige und eindeutige Antworten. Hinter den iurisdictiones und iudicia, die seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts urkundlich begegnen, verbergen sich, sofern diese Begriffe mit der Gerichtsherrschaft zugleich deren Kompetenzbereich meinen, die soeben genannten Go- und Landgerichte. Eingeflossen sind in diese hogerichte, wie sie beide auch benannt sind52 , zum ersten die in der Grafen- und Vogteigewalt begrün48 Tb . I/gen, Herzogtum Kleve, I; dazu die Ilgens Ergebnisse prägnant profilierende Rezension von K. Beyerle, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, 43 (1922), S. 442459. 49 H. Attbin, Entstehung der Landeshoheit. 50 G. Landwehr, Go, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte I, Sp. 1722; E. Scbmeken, Die sächsische Gogerichtsbarkeit im Raum zwischen Rhein und Weser, Diss. Münster 1961;]. Goebel, Gerichtsverfassung. 51 K. Kroeschell, Zur Entstehung der sächsischen Gogerichte, in: Festschrift für K.G. Hugelmann I, Aalen 1960, S. 295-313. 52 Vgl. E. Scbmeken, Gogerichtsbarkeit, S. 242 f.

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deten gerichtsherrliehen Rechte. 1216 spricht der Graf von Berg in diesem Sinne von seinen "comitatus et advocatiae" 53; 1222 ist von der "petitio" und dem "servicium racione advocacie sive comecie" die Rede54 . Überhaupt nimmt der Terminus comecta jetzt verstärkt die Bedeutung ,Grafengewalt' an, ohne freilich als Bezeichnung für den territorialen Herrschaftskomplex einer gräflichen Familie zu verschwinden. Der präzise Sinn dieses Begriffs variiert zwischen beiden Polen von Quellenzeugnis zu Quellenzeugnis. In Westfalen allerdings legt er sich im Fortgang der Zeit immer bestimmter auf die Bedeutung "Freigrafschaft" fest55 und stellt sich damit neben das iudictum. 1243 z.B. gibt es in Bochum comitia, iudicium et curtis nebeneinander56, und 1298/1304 erscheinen in ein und demselben Gebiet parallel zwei iudicia und die libera cometia des Grafen von Arnsberg57 • Die Grafschaft hat sich in Westfalen mithin zur Freigrafschaft gewandelt, ist begrifflich nicht in der von den Gogerichten repräsentierten Landgerichtsbarkeit aufgegangen, sondern zu einem gerichtlichen Sondertypus am Rande der allgemeinen Entwicklung umgebildet worden58. Wie weit freilich ursprünglich gräfliche Kompetenzen an die Gogerichte abgegeben worden oder (als die Grafen die Herrschaft über die Gogerichte ihres Machtbereichs an sich zogen) auf sie übertragen worden sind, steht dahin. Mehr noch als die Grafen- dürfte im übrigen die Vogteigewalt bei der Konstituierung der iurisdictiones eine Rolle gespielt haben, weil die advocatia anders als die cometia Herrschafts- und Jurisdiktionsrechte über die minderund unfreie Bevölkerung zum Inhalt hatte; die häufig begegnenden "homines ad ... advocatias pertinentes" belegen das hinlänglich59. Freilich war der Umfang dieser Rechte in jedem Fall zwischen Vogt und bevogtetem Grundherrn strittig und mußte in langen Auseinandersetzungen konkret bestimmt werden. In den allermeisten Fällen waren es kirchliche Grundherrschaften, die der Vogteigewalt unterworfen waren; daneben kamen Vogteien über Reichsgut vor. Es gab allerdings auch weltliche Grundherrschaften, die von der gräflichen Gerichtsbarkeit eximiert und insofern den geistlichen Immunitäten gleichgestellt waren. 1185 stellte Erzbischof Philipp von Köln fest, daß der Seisterhof

H. Master, Urkundenbuch der Abtei Altenberg I, Sonn 1912, Nr. 77. H. Kelleter, Urkundenbuch des Stifts Kaiserswerth, Bonn 1904, Nr. 32. 55 Vgl. etwa Westfälisches Urkundenbuch VII, Nr. 809, Nr. 1537, 2353. 56 Westfälisches Urkundenbuch VII, Nr. 546; noch 1272 sind "comitatus et iudicium de Bocheim" als zwei verschiedene Dinge aufgelistet (ebd., Nr. 1433). 57 Westfälisches Urkundenbuch VII, Nr. 2441. 58 Zum Problem der westfälischen Freigrafschaften vgl. D. Willoweit, Freigrafschaft, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte I, Sp. 1226; W. ]anssen, A.K. Hömbergs Deutung vom Ursprung und Entwicklung der Veme in Westfalen, in: Der Raum Westfalen VI 1, Münster 1989, S. 188-214 mit der dort angegebenen Literatur. 59 Etwa Tbj. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 265; Westfälisches Urkundenbuch VII, Nr. 546, Nr. 752. 53

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des Klosters Meer "quondam, dum seculari dominio subiacebat, nullis comitis legibus vel exactionibus vel ad tribunal vocationibus obnoxia erat" 60• In einer solchen allodialen Adelsherrschaft war der adelige dominus Immunitätsherr, Grundherr und Vogt in einer Person; diese Situation mußte eine Verschmelzung von ..hoher" vogteilieber und "niederer" grundherrlicher (hofesgebundener) Gerichtsbarkeit begünstigen. Eine durch zahlreiche Immunitäten aufgesplitterte Grafengerichtsbarkeit und die auf grundherrschaftlich organisierte Personenverbände bezogene Immunitätsgerichtsbarkeit vogteiliehen oder allodialen Charakters bewirkten eine heillose räumliche Kompetenzverschachtelung und -verwirrung, die zwangsläufig permanente Streitigkeiten nach sich zog. Dieses Durcheinander wurde durch die Tatsache, daß die westdeutsche Grundherrschaft in der Regel als Streugrundherrschaft mit allenfalls halbwegs kompakten Besitzkernen begegnet, noch um einiges unübersichtlicher und mußte sich lähmend auf das soziale Leben auswirken. Eine Territorialisierung der Gerichtsbarkeit, die Umwandlung einer auf Personengruppen bezogenen durch eine flächenmäßig abgrenzbare, konkurrierende Jurisdiktionsansprüche innerhalb dieser Grenzen aufsaugende oder eliminierende richterliche Gewalt war deshalb das Gebot der historischen Stunde. Die Ausbildung solcher Bannbezirke mit eindeutiger Jurisdiktionskompetenz muß wenigstens schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts begonnen haben, denn bereits das Kölner Dienstrecht aus der Zeit um 1770 kennt "nobiles ... , qui iurisdictionem in Iodset terminis suis habent": Edelherren also, die über geschlossene Gerichtsbezirke verfügten61 . Diese durch Bannbildung entstandenen Gerichtsbezirke sind fast durchweg gemeint, wenn in den Quellen des 13. Jahrhunderts von den landesherrlichen iurisdictiones und iudicia gesprochen wird, in denen Güter gelegen und Menschen zu Hause sind62 • Soll derselbe Tatbestand unter besonderer Hervorhebung der Bannherrschaft zum Ausdruck kommen, wird vorzugsweise mit dem Begriff districtus operiert, der im übrigen mit iurisdictio, sogar in derselben Urkunde, austauschbar ist63 . Gemeint sind damit allemal die Sprengel von Gerichten eben jenes Typs, in

Thj. Lacomblet, Urkundenbuch I, Düsseldorf 1840, Nr. 496. F. Frensdorjj, Das Recht der Dienstmannen des Erzbischofs von Köln, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, 2 (1883), S. 8. 62 Westfälisches Urkundenbuch VII, Nr. 1201: .. homines et mansus memorate advocatie ... in iudicio Mulheim" (1265); Thj. Lacomblet, Urkundenbuch Il, Nr. 578: .,bona sita ... in iudicio de Beke et de Meyderich" (1268); ebd., Nr. 840: ..... domini de Bruke, in cuius iurisdictione dicte terre consistunt" (1288); ebd., Nr. 848: Hof Ykeken liegt in iurisdictione des Grafen von Moers (1288); K. Rübe/, Dortmunder Urkundenbuch, Ergänzungsband I, Dortmund 1910, Nr. 836: .,habitantes in iudiciis infrascri ptis .. ." (1346). 63 Vgl. etwa Westfälisches Urkundenbuch IV, Münster 1877-94, Nr. 844 und VIII, Nr. 1160. 60

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denen - um es noch einmal zu wiederholen - Reste alter Grafengerichtsbarkeit mit Elementen einer durch die Landfriedensbewegung des 11./12. Jahrhunderts angestoßenen Umformung und Aufwertung grundherrlicher Nieder- und Hofesgerichtsbarkeit sowie mit Bestandteilen vogteilieber Jurisdiktionsrechte verschiedener Art zusammengeschmolzen waren. Im Rheinland stellten diese Gerichte als Landgerichte (lantgericbt, iudicium terre)64 das Rückgrat der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Gerichtsverfassung dar. In Anbetracht dessen, daß die soziale und politische Entwicklung im südlichen Westfalen mit Grafschaften, Villikationen, Immunitäten usw. nicht grundsätzlich anders als am Niederrhein verlaufen ist, steht sehr zu vermuten, daß auch die Gagerichte in den westfälischen Grafschaften Mark und Arnsberg von gleicher Genese und Struktur gewesen sind, sich zumindest dieser Art von Gerichten im Laufe des 12./13. Jahrhunderts bis zur Ununterscheidbarkeit angeglichen haben. Es ist jedenfalls bemerkenswert, daß für beide Gerichte, Landgericht und Gogericht, auf welche die in den lateinischen Quellen schlichtweg und ohne nähere Erläuterung gebrauchten Vokalen iudicium und iurisdictto fast durchweg zu beziehen sind, im Gebiet rechts des Rheins die Bezeichnung .Vest" oder "Veste" aufkommt65; sie hat sich in einem Fall (Vest Recklinghausen) als Landschaftsname bis heute gehalten. Dem entspricht, daß der dem Gericht vorsitzende Landrichter oder Gograf ungemein häufig mit dem zwar farblosen, aber gemeinsamen Titel iudex, gelegentlich auch etwas gespreizter als iusticiarius, erscheint66. In diesen Titel muß er sich seit dem Aufkommen der Territorialstädte in den 30er Jahren des 13. Jahrhunderts al64 H. Aubin, Entstehung der Landeshoheit, S. 196 f.; Tb . IIgen, Herzogtum Kleve, I, S. 307, 457; F. Merzbacber, Landgericht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte II, 1978, Sp. 1495-1501; H. Drüppel, Landgericht, in: Lexikon des Mittelalters 5, 1990/91 , Sp. 1660 f. Belege: Deutsches Rechtswörterbuch 8, 1984-1991, Sp. 410416. - Beispiele aus dem Untersuchungsraum: Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 790: "coram iudice terre et scabinis" (1284); ebd., Nr. 976: "testimonio .. . iudicis et hominum terre" (1297); Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv, Kloster Meer, Urk. 91: "iudicium generale, quod vulgariter lantgedinge appellatur" (1314); Tb . I/gen, Herzogtum Kleve, II 1, Nr. 39: .iudicium seculare" (1327); ebd., Nr. 47: "... iudicio presidente ... secundum terre ius et consuetudinem" 0336); ebd., Nr. 86: "secundum exigentiam iusticie et iudicii ... communisque terre iura" (1354); Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv, Kloster Kamp, Urk. 444 und 531: "iudicium seculare" bzw. "iudicium publicum". Zur Gleichsetzung von "homines iudiciales = gerichtslude = lantmanne" vgl. Tb. IIgen, Herzogtum Kleve, I, S. 307. 65 Vgl. unten, Anm. 69-70, 73, 110; 1292 untersuchte der "dapifer et officiatus" des Erzbischofs von Köln in Wede ( = Amt Altenwied) einen Rechtsstreit zunächst "coram parrochia in Lyns", dann "coram quinque parrochiis et septem iudicibus, quorum universitas veste vulgariter nuncupatur" (Tb}. Lacomblet, Urkundenbuch III, Nr. 228); 1428 ist von den "dorffer(n) ind vesten Hattenyngen und Westhoeuen" die Rede (Tb}. Lacomblet, Urkundenbuch IV, Nr. 184). 66 Etwa L.A.j. W. Baron S/oet, Oorkondenboek, Nr. 1050; I .A. Nijboff, Gedenkwaardigheden I, Nr. 219; R. Schalten, Grafenthal, Nr. 44, 72, 87; Tb}. Lacomb/et, Urkundenbuch II, Nr. 769; Westfälisches Urkundenbuch VII, Nr. 1998, 2553; Westfälisches Urkundenbuch VIII, Nr. 126; F. Datpe, Bochum III, Nr. 1, 6.

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lenfalls noch mit den Richtern an den Stadtgerichten teilen, wobei Land- und Stadtrichter nicht selten personengleich sind67 . Diese hier vorgestellten iudicia bzw. iurisdictiones und dieser hier vorgestellte iudex sind es, auf die die Begriffe officium und officialis/officiatus zuerst angewendet werden, als man in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts daran ging, die mit dem Amtsbegriff verbundene Terminologie in einer territorial, regional oder lokal bezogenen Bedeutung in die Verwaltungssprache einzuführen. Das geschah, was die Objekte solcher Benennungen betraf, zunächst zwar noch unsicher und experimentierend, begann gleichwohl mit einem Beleg, wie man ihn sich überzeugender nicht wünschen kann: In einer Urkunde des Jahres 1271 ist von dem iudicium sive officium de Burlevelt die Rede68• Es handelte sich dabei um das bis um 1800 bestehende hergisehe Amt Bornefeld. Auch bei anderen bergischen Ämtern begegnet später diese erläuternd gemeinte Zwillingsformel, und zwar in der deutschsprachigen Version amt und veste69 . Häufiger noch war der Wechsel zwischen officium und iudicium, ampt und veste zu verschiedener Zeit und in verschiedenen Dokumenten70, und dieser Begriffsaustausch beschränkte sich keineswegs auf die Ämter der Grafschaft bzw. des Herzogtums Berg. Er ist vielmehr ebenso in der Grafschaft Mark belegt, wo etwa 1374 von dem "dorpe ind ampte" von Bochum71, 1349 dann "van dem dorpe, van deme gerichte ind van der hoicheit" zu Bochum die Rede ist72 ; 1392 finden wir die uns schon bekannte Wortkombination "ampt ind vest" als Bezeichnung für das Amt Lüdenscheid73. Diese sich wechselseitig identifizierende Begriffsverbindung ist gleichermaßen links des Rheins nachweisbar, wo z.B. 1365 der Graf von Kleve die Formulierung "onse ampt end gerichte in der alinger Hettere" (es handelt sich um das klevi67 R. Lüdicke, Unna, S. 41 f. 68

Historisches Archiv d. Stadt Köln, Groß St. Martin, Rep. u. Hs. 3 BI. 55b; vgl.

H. Aubin, Landeshoheit, S. 377. 69 H. Flebbe, Altena, Nr. 31: "in unsen alinghen ampte und veste van Ludensche-

de ... " (1392); Tbj. Lacomblet, Urkundenbuch Ill, Nr. 1033: "onsse stat Wipperfurde mit der vesten van Steynbech ind onsse stat Lenepe mit der vesten van Birnfelt, also as die slosse mit den ampten ... gelegen synt" (1397); R. Lüdicke, Unna, Nr. 27: "van dem ampte und gerichte Unna und Camen" (1397); Tbj. Lacomblet, Urkundenbuch IV, Nr. 71: "in syn ampte und vest van Portze" (1412). 70 1363 "officium de Byrnveld" (wie Anm. 19), 1397 "veste van Birnfelt" (wie Anm. 69); 1363 "officium de Stheinbech" (wie Anm. 19), 1397 "veste van Steynbech" (wie Anm. 69), 1373 "amptmann in der veste von Steynbeke" (Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv, Berg, Urk. 429); 1392 "in den ampten zo Portze, zo Berenkop" (Tbj. Lacomblet, Urkundenbuch III, Nr. 960), 1363 .,unser vest van Berenkubbe" (ebd., Nr. 644), 1397 "onsme ampte van Portze" (ebd., Nr. 1033); 1405 ., ... mit dergantzen vesten van Portze" (Tbj. Lacomblet, Urkundenbuch IV, Nr. 38), 1411 "in den ampte van Portze" (ebd., Nr. 68). 71 j.S. Seibertz, Urkundenbuch II, Nr. 708. 72

Ebd., Nr. 714.

73

H. Flebbe, Altena, Nr. 31.

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sehe Drostamt Heuer) gebraucht'4. Belege für den Wechsel zwischen "Gericht" und "Amt" liegen dort schon aus früherer Zeit vor75 • Das beweist mit erwünschter Evidenz, daß die Gleichsetzung von Amt und Gerichtsbezirk keine besondere Erscheinung in einzelnen Grafschaften, sondern ein gemeinsames Strukturmerkmal der Amtsverfassung in allen hier zur Diskussion stehenden Territorien ist. Dazu noch ein letztes Beispiel, das zugleich darauf hinweisen soll, daß anfänglich auch Gerichtsbezirke kleinen Umfangs, Absplisse oder Unterteilungen der größeren Land- bzw. Gogerichtssprengel, als o.fficia charakterisiert werden konnten. Um 1300 beklagte sich der Kölner Erzbischof, der Graf von der Mark versuche das altum o.fficium in Meinerzhagen zu usurpieren, obwohl doch allein ihm, dem Erzbischof, dort das "iudicium altum et bassum" zustehe76. Meinerzhagen hat es nie bis zum Rang eines landesherrlichen Amtes gebracht, sondern ist als Kirchspiel Untergliederungseinheit eines Amtes geblieben. Vor 1300 können auch Kirchspiele und Dörfer als o.fficia bezeichnet werden. Nicht wenige Beispiele dafür bieten etwa die Rechnung der Grafschaft Geldern von 1294/95 und das Klever Urbar von 131977 . Das ist ein Zeugnis dafür, daß sich um diese Zeit die Landgerichte in einzelne Ortsgerichte mit eigenen Schöffen, doch einem gemeinsamen Landrichter zerlegt haben. Als Grundlage für diese Ortsgerichte konnten vereinzelt die aus Kernen alter Villikationen entwickelten Dörfer (villae), in unserem Gebiet der vorherrschenden Einzelhof- und Weilersiedlung jedoch mehr noch und in der Regel die Kirchspiele (parrochiae) dienen. "Kirchspiel und Gericht", kirspei ind dinckmael, wurde zu einer seit dem 13. Jahrhundert immer häufiger anzutreffenden, gängigen Formel, die zwar keineswegs immer eine räumliche Identität beider Größen anzeigt, doch auf die prinzipielle und tendenzielle Zuordnung von parrochia und iudicium hinweist'8 . Im Rahmen der Niedergerichtsbarkeit, des sogenannten "täglichen Gerichts", das über "Schuld und Schaden" urteilte 74 75

Th. IIgen, Herzogtum Kleve, II 1, Nr. 132. F.W Oediger, Das Einkünfteverzeichnis des Grafen Dietrich IX. von Kleve von

1319 ... (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, 38) I: Text, Düsseldorf 1982, S. 202: "in deen ampte van Byerten", S. 215: "in den gericht te ßyrten" (1319); ebd., S. 252: "in den ampte te Hamwinkel" 0319); Tb . IIgen, Herzogtum Kleve, II 1, Nr. 63: "in figura iudicii Hamwinkele" 0344). 76 j.S. Seibertz, Urkundenbuch, I, Arnsberg 1839, S. 605: "archiepiscopus habet in Meynartzhagen iudicium altum et bassum, quod omnes predecessores nunc domini archiepiscopi habuerunt ... usque ad adventum nunc domini archiepiscopi de curia romana. Tune comes de Marca de alto officio se imromisit et tenet violenter". 77 Z.B. L.S. Meihuizen, Rekening, S. 26, 32, 62; F. W Oediger, Einkünfteverzeichnis I, S. 168, 202, 215, 240, 249, 252 u .ö . 78 Vgl. dazu Tb. IIgen, Herzogtum Kleve, I, S. 560-564; H. Aubin, Landeshoheit, S. 279; M. Frisch, Grafschaft Mark, S. 61 ff.; F. W. Oediger, Einkünfterverzeichnis, S. 29; ]. Kuys, Ambtmann, S. 29. Vgl. auch F. Steinbach, Ursprung und Wesen der Landgemeinde nach rheinischen Quellen, in: F. Petri I G. Droege (Hrsg.), Collectanea Franz Steinbach, Bonn 1967, S. 488-594, wo die Theorie entwickelt ist, nach der sich die Landgemeinde wesentlich als Gerichtsgemeinde konstituiert hat. Gegen seine Meinung, die räumliche Grundlage der Landgemeinde sei die Honschaft, nicht das Kirchspiel gewesen, spricht allerdings die erdrückende Masse der Quellenzeugnisse.

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- wie eine zeitgenössische sachliche Zuständigkeitsdefinition lautef9 -, nahmen diese Kirchspielsgerichte eine eigenständige Funktion wahr, hinsichtlich der Hochgerichtsbarkeit waren sie nichts anderes als Teile des einen Landgerichts, in dessen Sprengel sie lagen. In einem genauen "Organisationsschema" der Grafschaft Berg aus dem Jahre 1363 kommt der Zusammenhang von Amtsverfassung und lokaler Untergliederung sehr plastisch zum Ausdruck: Der comitatus bzw. die terra Montensis ist aufgeteilt in 9 officia, die ihrerseits jeweils 3-10 villae et parrocbiae erfassen, welche villae et parrochiae als sedes iudiciales gekennzeichnet sind80• Aber nicht nur die Kirchspielsgerichte in diesem Sinne konnten gelegentlich und anfänglich als officia gelten; der Terminus wurde anscheinend auch für Hofgerichtsbezirke oder -verbände gebraucht, wie das officium der Rinbere (Rhynern 1302)81 und die officia Schwelm und Hagen (1275, 1302, 1333)82 bezeugen, wenn im letzten Falle tatsächlich die Villikationen und nicht etwa die gleichnamigen Gogerichte gemeint sind. Dies alles bestätigt jedenfalls die Beobachtung, daß die "Amtsterminologie" im Bereich des Gerichtswesens aufgekommen und dort zuerst angewandt worden ist. Letztendlich jedoch blieb der Begriff des officium, des Amtsbezirks, am Land- und Gogerichtssprengel haften und griff, je stärker in der Herrschaftsausübung militärische und administrative Aufgaben die richterlichen zurücktreten ließen, auch darüber hinaus, so daß das Amt als territorialer Verwaltungsbezirk gelegentlich mehrere Gerichtsbezirke umfassen konnte. In der Grafschaft Kleve ist, wie bereits dargestellt, die Unterteilung in große Drostämter und- diesen eingefügte- kleinere Richterämter sogar zum territorialen Organisationsprinzip erhoben worden. Das alles aber bestätigt nur den von den Quellen zwingend nahegelegten Befund, daß die Gerichtsorganisation die Basis für die ursprüngliche Ämtereinteilung abgegeben hat. Das wird noch evidenter, wenn man das nicht am Begriff des officium, sondern an dem des officiatus, de!' Amtsträgers, demonstriert. Aus der frappanten Fülle der Belege dafür, daß sich der landesherrliche Amtmann aus dem landesherrlichen Richter entwickelt hat, nur wenige Beispiele: 1282 wird der "schulthetus in Goch" als .officiatus comitis Gelrensis" vorgestellt83, in der Betuwe waren 1327 Amtmann und Richter identisch84 , im 79 Tb. IIgen, Herzogtum Kleve, II 2, S. 298; nach einer anderen Aufzeichnung (ebd., S. 296) hat es das "deghelikes ghericht" u.a. mit "vechtliken saken" und "scheldeworten" zu tun. 80 Wie Anm. 19; das gleiche Schema ist mit einigen leichten Anpassungen und Korrekturen in einer Urkunde vom 11. April 1390 noch einmal wiederholt worden: Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv, Berg Urk. 710. 81 Westfälisches Urkundenbuch VIII, Nr. 82. 82 Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 689; Regesten der Erzbischöfe von Köln III, Donn 1913, Nr. 3896, V, Köln I Bonn 1973, Nr. 112. 83 R. Schalten, Grafenthal, Nr. 44. 84 I.A . Nijbo.ff, Gedenkwaardigheden I, Nr. 219.

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geldrischen Amt Maas und Waal erscheint der häufig belegte gräfliche iudex, 1343 richterende dikegreve, erst 1359 als amptman85 . Noch im 14. Jahrhundert bezeugen in Kleve Doppeltitulaturen wie _iudex et officiatus", ,.amptman ende richter" den inneren - sachlichen wie genetischen - Zusammenhang beider Funktionen86. Der seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in den Quellen erscheinende gogravius oder iudex in Unna87, einem der märkischen Kernämter, verwandelte sich von 1331 an in einen ammethmarf8 , gab aber auf der Siegelpressel jener Urkunde, in deren Text er zum ersten Mal als ,.Amtmann" erscheint, seine Herkunft zu erkennen, insofern er dort als gogravius notiert ist89. Daß es die Hochgerichtsbarkeit war, auf der die Landeshoheit im allgemeinen und die Ämterverfassung im besonderen beruhten, erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß es die iurisdictio gewesen ist, mit der jenseits der richterlichen Gewalt im engeren Sinne andere herrschaftsbegründende und -stabilisierende Rechte sachlich wie begrifflich verbunden waren bzw. der solche Rechte als Pertinenzien zugeordnet wurden: das Geleit, das die Grafen von der Mark den Einwohnern der Städte Büren und Dortmund 1260 bzw. 1264 "in terminis nostre iurisdictionis" bzw. "nostri districtus" gewährten90; das Rodungsrecht, das der Graf von Geldern schon 1213/16 mit der Behauptung beanspruchte, daß die "loca paluStria et silvosa ... in iurisdictione sua .. . excoli non possint nisi de licencia ipsius et consensu"91 ; das Befestigungsrecht, das um 1300 der Graf von Arnsberg für den Bereich seines iudicium92 und das schon 85 R. Schotten, Grafenthal, Nr. 72, 95, 104, 106, 113, 125, 131, 134; Weiler Urkundenbuch Xanten, Nr. 726; l.A . Nijhoff, Gedenkwaardigheden II, Nr. 89. 86 1254 "vel suis officialibus seu iusticiariis" (Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 407), 1292 "seu eius officiato sive iusticiario" (ebd., Nr. 933); 1328 "iudex et officiatus ... comitis Clevensis in den Houwe", 1354 "iusticiarium Superiorem in Walsheim et officiatum communis terre Dynslacensis", 1356 "amptman end richtere ... to Embric", 1361 "amptman to Ringenberge ... alse eyn richter [to Haemwinckell" (Tb. IIgen, Herzogtum Kleve, II 1, Nr. 40, 86, 90, 108); 1361 "onsen amptman ende richter in Ouerbetuwe" (I.A. Nijhqf(. Gedenkwaardigheden II, Nr. 115). 87 M . Frisch, Mark, S. 70 f.; E. Scbmeken, Gogerichtsbarkeit, S. 209 f.; U. Vabrenbold-Httland, Mark, S. 82. 88 A. Overmann, Die Stadtrechte der Grafschaft Mark: Hamm (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen. Westfälische Stadtrechte, I 2), Münster 1903, Nr. 5, 6; R. Lüdicke, Unna, Nr. 11: "officiatus in Unna" (1347). 89 A . Overmann, Hamm Nr. 5: "... Hermanne van Wickede unde Gerloghe van Summeren, knapen, unse ammetlude tho Unha unde thom Hamme .. ."; auf der Siegelpressel: "Hermannus de Wickede gogravius de Unha". 90 Westfälisches Urkundenbuch IV, Nr. 844 und VII, Nr. 1160. - Es verdient vermerkt zu werden, daß schon 1255 von der "iurisdictio cum pertinentiis ville Juliacensis" die Rede ist (Thj. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 410). 91 L.Aj. W Baron Sloet, Oorkondenboek, Nr. 435; 1234 bewilligte Graf Wilhelm IV. von Jülich den Prämonstratensern in Knechtsteden, "ut in sylvis sui allodii ... , ubicunque in nostra iurisdictione sitis, quandocunque vel quantumcunque novare voluerint, liberam habeant facultatem" (F. Ehlen, Die Prämonstratenser-Abtei Knechtsteden. Geschichte und Urkundenbuch, Köln 1904, S. 31, Nr. 36). 92 Westfälisches Urkundenbuch VII, Nr. 2441.

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1255 wie noch 1364 der Graf von Kleve als Gerichtsherr für sich in Anspruch nahm93; das Gebots- und Verbotsrecht, welches so eng mit der Jurisdiktionsgewalt verwoben war, daß schon in einer bereits zitierten Urkunde von 1185 die comitis Ieges wie selbstverständlich zusammen mit seinen "exactiones vel iusticia vel ad tribunal vocationes" aufgezählt werden9\ und schließlich, aber nicht zum geringsten das Besteuerungsrecht, für das die soeben zitierte Urkunde von 1185 ebenso wie jene oben herangezogene Urkunde von 1222 einsteht, in der von "petitio et servicium ... racione advocacie et comecie" die Rede ist95 , und das z.B. auch jenes aus dem Jülicher Gebiet stammende Dokument von 1291 bezeugt, in dem die Erhebung von exactio und petitio an den herrschaftlichen districtus gebunden erscheint96. Bei dieser Bedeutung der ein ganzes Bündel von Herrschaftsrechten implizierenden oder an sich ziehenden iurisdictio für die Ausbildung der Landeshoheit kann es nicht wundernehmen, daß sich nach ihr auch die territorialen Untergliederungen, die Ämter, ausgerichtet haben. Allerdings waren die Gerichtssprengel nicht überall so großräumig und günstig geschnitten, daß sie in jedem Fall die räumliche Abmessung für die späteren Ämter liefern konnten. Eine direkte Umwandlung von Gerichtsbezirken in Ämter finden wir aber in großen Teilen der Grafschaft Mark, wo die Gleichung (ursprüngliche) Gografschaft = Amt gilt, wir finden sie in den bergischen Ämtern auf Landgerichtsbasis, wir finden sie in vielen geldrischen, klevischen und jülichschen Ämtern, in denen sich die räumliche Identität zweifelsfrei nachweisen läßt. Sie mag wahrscheinlich auch hier oder dort noch gegeben sein, wo sie nicht mehr mit Sicherheit erkennbar ist. Daneben aber gab es Regionen, wo die Gerichtsrechte so zersplittert waren und der Bannbildung solche Hindernisse in den Weg legten, daß es nicht auf dem Wege eines gleichsam immanenten Entwicklungsprozesses zu einer großräumigen Distriktbildung gekommen ist. Hier konnte dann nur der betonte Einsatz und die sichtbare Demonstration von Macht zu dem angestrebten Ziel führen. Das war die Aufgabe der Burgen und Städte bzw. festen Plätze (municiones), von denen bei dem Chronisten Levold von Northof an den Stellen, an denen er die tragenden Strukturelemente des comitatus bzw. der terra aufzählt, noch vor den iurisdictiones et districtus die Rede ist97. Zunächst in Parenthese ein Wort zum Verhältnis von Stadt und Territorium bzw. Stadt und Amt: Die Herrschaftsbildung in den Grafschaften und Herr93

Tb. IIgen, Herzogtum Kleve, II 1, Nr. 11; Tbj. Lacomblet, Urkundenbuch III,

Nr. 619.

94 Wie Anm. 60. Noch 1531 gelten mit dem Hochgericht verbunden: "kloickensclach, kerckengerucht ind spraeke, gebot ind verbot, wynt ind water, buyrgelt ind dergelicken onraetzpennynge so setten, oick den anfanck ind alle hoege herlicheyt" (Tb. IIgen, Herzogtum Kleve, II 2, S. 303). 95 Wie Anm. 54. 96 Tbj. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 915. 97 Wie Anm. 38.

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schaften unseres Gebietes ist durchweg von der hochmittelalterlichen terra inculta, dem wenig oder gar nicht besiedelten Land, oder von der Randzone zwischen Altsiedeiland und Wildnis ausgegangen. Die terra war also im Normalfall vor der Stadt da; diese ist im Regelfall vom dominus terrae "gegründet" worden, selten auf grüner Wiese, zumeist in Anknüpfung an einen schon bestehenden Ort, der als kirchliches und wirtschaftliches Zentrum bereits gewisse präurbane Merkmale aufwies. Diese zentralörtliche Funktion mancher späterer Städte schon in ihrer vorstädtischen Zeit muß in Anschlag gebracht werden, wenn über Burgen und Städte als Amtsmittelpunkte gesprochen wird; denn das, was diese oder jene Stadt zur Distriktbildung befähigte, lag vereinzelt in ihrer vorstädtischen Entwicklung und weniger in ihrem spezifischen Stadtcharakter begründet. Gleichwohl gewann ein solcher Ort mit der Erhebung zur Stadt und mit seiner Befestigung eine neue Qualität. Burgen und Städte gaben zum einen der auf der Gerichtsverfassung basierenden Ämterorganisation das stabile herrschaftliche Rückgrat, wirkten zum anderen (vor allem) in Regionen erheblicher Machtkonkurrenz selbst distriktbildend, indem sie weitgehend zertrümmerte grund- und gerichtsherrliche Strukturen von sich aus und auf sich selbst hin neu organisierten. Das Ergebnis solcher Ordnungs- und Konzentrationsprozesse kommt in Wendungen zum Ausdruck wie "bona ... pertinentia ad dominium castri de Monte" (1225)98, "castrum (Bergheim) cum redditu 200 mr. adiacente ipsi castro" (1249)99 , "castrum (Liedberg) cum dominio et bonis eiusdem" (1299)100, "districtus ad castrum nostrum (Angermund) pertinens" (1341)101 • Levold von Northof hat uns die Bildung eines Amtes auf eine Burg hin am Beispiel des märkischen Amtes Neuenrade102 anschaulich geschildert: "Gerardus autem de Pletteberch dapifer predictus ... castrum in Rode cum opido adiacente funditus construxit et firmavit et multa ibidem circumcirca bona acquisivit ad usum castri predicti". Es gab also ganz ohne Zweifel Ämter, für deren Entstehung die Existenz einer landesherrlichen Burg oder Stadt, die in dieser Hinsicht eine burgengleiche Funktion als befestigtes Machtzentrum erfüllte, eine konstitutive Bedeutung hatte. Als beliebige Beispiele seien das hergisehe Amt Angermund, das geldcisehe Amt Montford, die klevischen Ämter Huissen und Orsoy, die jülichschen Ämter Wilhelmstein, Kaster und Brüggen sowie die märkischen Ämter Neuenrade, Wetter und Hörde genannt. Für einen Teil der genannten und eine Anzahl weiterer Ämter aber gilt, daß die Burgen, nach denen sie benannt sind, nicht innerhalb des bestehenden gräflichen Territoriums, sondern bereits in vorterritorialer Zeit herrschaftsbildend gewirkt haben, übrigens auch in dem Sinne, daß sie parzellierte Gerichtsrechte zu einem einheitlichen 98 99 100 101 102

Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 126. Ebd., II, Nr. 342. Ebd., II, Nr. 1036. Ebd., lll, Nr. 369. Levold von Nortbo.f, Chronik der Grafen von der Mark, S. 7.

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Landgerichtsbezirk, einem districtus, neu zusammenfügten. Als fenige, zu einem Bannbezirk eingeebnete Adelsherrschaften sind sie dann im Lauf des 13. bis 15. Jahrhunderts den größeren Territorien zugefallen, die solche Herrschaften unverändert als Ämter ihrem Land anfügen bzw. eingliedern konnten. Als besonders charakteristisches Beispiel für ein solches Amt, das aus einer burgbenannten, gleichwohl auf landgerichtlicher Grundlage beruhenden autogenen Herrschaft hervorgegangen ist, kann etwa das 1243 an die Grafschaft Geldern gefallene Krickenheck gelten103• Ähnlicher Herkunft waren u .a. die bergischen Ämter Hückeswagen, Blankenberg und Löwenberg sowie die klevischen Ämter Wachtendonk, Gennep und Ringenberg, um es bei diesen Beispielen zu belassen. Das alles kann angesichts der Rolle, die Burgen und Städte bei der Territorialisierung von Herrschaft spielten, nicht überraschen. "Comes sum, castra fortia habens et terram", so stellte sich 1225 Graf Friedrich von Isenburg aus dem Hause Altena-Mark vorHM, der Mörder des Kölner Erzbischofs Engelbert I. von Köln; und 1246 wurde die im Erzstift Köln aufgegangene Grafschaft Hochstaden als "comicia et castra attinentia" beschrieben 105 . Vor allem die Grafen von der Mark und von Arnsberg organisierten ihre Ministerialität, mit deren Hilfe sie ihre Herrschafts- und Besitzrechte wahrnahmen, in Burgmannschaften. Insbesondere in der Grafschaft Arnsberg scheinen während des 13. Jahrhunderts ministeriales und castellani fast dasselbe gewesen zu sein 106• Die Anhindung der Ministerialität an die Burgen des Landesherrn war auch in der Grafschaft Mark ein während dieser Zeit beobachtetes Leitprinzip für die innere Ordnung des Landes 107 . Als 1247 die Grafschaft Berg unter dem Junggrafen Adolf IV. und seiner verwitweten Mutter aufgeteilt werden sollte, orientierte man sich an den vier Hauptburgen des Landes (Angermund, Burg a.d. Wupper, Bensberg und WindeckY 08 , zum einen, weil eine Ämtergliederung noch fehlte, an der sich spätere Teilungsprojekte ausrichten konnten, zum anderen und vor allem aber, weil nach zeitgenössischer Vorstellung das Territorium an diesen Burgen als haltenden Stützen gleichsam aufgehängt erschien. 10-~ P. Norrenberg, Geschichte der Herrlichkeit Grefrath. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des geideisehen Amtes Krickenbeck, Viersen 1875; W ]anssen, Grefrath, Geschichte einer geldrischen Gemeinde (Schriftenreihe des Kreises Viersen, 19), Kempen 1968, S. 12-20, 34, 86 f. 104 Caesarius von Heisterbach, Vita Engelberti ... , ed. F. Zschaeck, in: Die Wundergeschichten des Caesarius von Heisterbach (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, 43), Bonn 1937, S. 251. 105 Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 297. 106 Vgl. etwa Westfälisches Urkundenbuch VII, Nr. 274, 887, 1001, 1130, 1220, 1291, 1929, 2170, 2172, 2590. 107 Vgl. etwa H . Flebbe, Altena, Nr. 8; Westfälisches Urkundenbuch VII, Nr. 438, 785, 1321, 1573, 1708, 1724, 1989, 2173, 2267a; dazu Fj. Schmale, Ministerialität, S. 164 f. 108 Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 312.

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Trotzdem: Burgen und Städte fundierten und symbolisierten Machtpositionen, sie schufen aber keine herrschaftsbegründenden Rechtsgrundlagen. Bei näherem Zusehen gaben auch in der Mehrzahl jener Ämter, die nach Burgen und Städten (die sich z.T. erst im Anschluß an Burgen entwickelt haben) benannt und von dort aus organisiert worden waren, landesherrliche Jurisdiktionsrechte und -bezirke die eigentliche räumliche Basis und Begrenzung ab. Das läßt sich überzeugend an jenen Ämtern demonstrieren, deren Bezeichnungen zwischen Burg und Gerichtsort schwankten. Einige Beispiele: Das märkische Amt Blankenstein trug seinen Namen von der 1226 errichteten Burg und war auf dem Gogericht Hattingen aufgebaut, so daß um 1400 die Bezeichnungen ampt Blankenstein und ampt Hattingen abwechseln konnten109; der 1351 bezeugte Amtmann des Vests Gummersbach benannte sich in der Folge stets nach der um 1300 angelegten Burgstadt (Berg-) Neustadt110; die noch 1302 bzw. 1333 als officia firmierenden Gogerichte Hagen und Schwelm gingen im Amt Wetter auf111 ; das 1319 im Klever Urbar verzeichnete ampt Hamminkeln112 übernahm den Namen der Burg Ringenberg, als die darum entstandene kleine Herrschaft in klevischen Besitz kam113. Besonders interessant ist die Entwicklung des 1363 zuerst belegten Amtes Bensberg, das bis zum Ende des Jahrhunderts unter diesem Namen nachzuweisen ist 114, dann aber nach Landgerichtsbezirken geteilt wurde, deren Hauptorte den Nachfolgeämtern ihren Namen gaben. Den südlichen Teil des Amtes bildete die .veste van Berenskubbe"IIS, den nördlichen Teil die "veste van Portze"116 • Beide erscheinen 1392 als "ampte zo Portze und zo Berenkop" 109 Westfälisches Urkundenbuch III, Münster 1871 , Nr. 1607; K. Rübe/, Dortmunder Urkundenbuch Erg.-Bd. I, Nr. 848; H. Flebbe, Altena, Nr. 22; vgl. M. Frisch, Mark, S. 52, 76; E. Scbmeken, Gogerichtsbarkeit, S. 220 f.; A.K. Hömberg, Landesorganisation, S. 68. 110 G. Aders, Bergneustadt, S. 65 f., 70; H. Flebbe, Altena, Nr. 47; G. Aders, Bergneustadt, S. 73-82; vgl. ]. Goebel, Gerichtsverfassung, S. 22; U. Vabrenbold-Huland, Mark s. 175. 111 H. Flebbe, Altena, Nr. 22; M. Frisch, Mark, S. 82; E. Scbmeken, Gogerichtsbarkeit, S. 217 f.; U. Vabrenbold-Huland, Mark, S. 172. Gleichermaßen nahm der 1350 bezeugte .drost des greven van der Mark" im Gogericht Eicklinghofen (K. Rübel, Dortmunder Urkundebuch Erg.-Bd. I, Nr. 896) später seinen Amtssitz auf der Burg Hörde, nach der das Amt benannt wurde: 1376 "territorium et castrum in Hoyrde cum suburbio eiusdem atque iurisdictionem in Eykelinchoven et curiam in Brakele" (K. Rübe/, Dortmunder Urkundenbuch II, Dortmund 1890, Nr. 58). 112 F. W Oediger, Einkünfteverzeichnis, S. 252. 113 I.A. Nijboff, Gedenkwaardigheden II Nr. 89; Tb . Ilgen, Herzogtum Kleve, I, S. 329 ff. 114 Tb]. Lacomblet, Archiv IV, S. 148 (1363): "in officio de Bainsbure"; NordrheinWestfälisches Hauptstaatsarchiv, Berg, Urk. 710 (1390): .,in officio de Baensbuer"; Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch III, Nr. 972 (1392): "officiati nostri in Baensbuer"; Regesten der Erzbischöfe von Köln X, Düsseldorf 1987, Nr. 1691 (1398): "amptlude van Beensbergh". 115 Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch III, Nr. 644. 116 Wie Anm. 69-70.

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gleichgewichtig neben dem alten Amt "zo Meseloe" 117• Während das Amt "Berenkop" sich als solches nicht hat behaupten können und aus den Quellen wieder verschwunden ist, hat sich der dörfliche Gerichtsort Porz namengebend durchgesetzt und Bensberg verdrängt. Das ist um so bemerkenswerter, weil ein solcher Verdrängungsvorgang üblicherweise in genau entgegengesetzter Richtung verlaufen ist. In diesem Fall aber haben seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts bis zum Ende des Ancien Regime "ampt ind veste van Portze" 118 das "officium de Bainsbure" 119 abgelöst - ein später, aber umso eindrucksvollerer Beleg dafür, daß in unseren Landen die Amtsverfassung im wesentlichen auf der Gerichtsorganisation aufbaute, was in dem Moment, als die gefestigte landesherrliche Gewalt herrschaftsbekräftigender und -demonstrierender Burgen entraten konnte, auch wieder transparent gemacht wurde. Allerdings hatten sich um 1550 vom Amt Porz drei sedes iudiciales zu einem eigenen Amt Lülsdorf abgespalten120 • Wir haben es dabei mit einem Zeugnis für die umgestaltende Kraft der landesherrlichen Verwaltung zu tun, die, je mehr sich die verschiedenen Herrschaftstitel zu einer einheitlichen Landesherrschaft verwischten, kräftig in die überkommenen Gerichts- und Jurisdiktionsstrukturen eingriff und sie nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten umbaute. Vereinzelt schon im 14. Jahrhundert, in größerem Maße dann seit dem 15. Jahrhundert sind Ämter aufgeteilt und zusammengelegt worden. Noch weiter gingen die Veränderungen auf der darunter liegenden Ebene der Ortsgerichte. Hier war wohl einer der leitenden Gesichtspunkte, Kirchspiels- und Gerichtsgemeinde in irgendeiner Weise miteinander in Einklang zu bringen; denn die ländliche Gemeinde in unserem Gebiet konstituierte sich als Kirchspiels- und Gerichtsgemeinde zugleich 121 • Die Quellenbefunde aus späterer Zeit schließen aus, daß die Grenzen beider Bezirke ("kirspel und dinckmael") von Anfang an und überall die gleichen gewesen sind; sie mußten allmählich aufeinander abgestimmt werden. Die Frage, ob sich die Gerichts- den pfarrsprengeln oder die Pfarr- den Gerichtssprengeln angeschlossen haben, läßt sich generell nicht beantworten. Hier wird es je nach der Genese von Pfarrund Gerichtsorganisation im Rahmen von Siedlungsbewegung und sozialer Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch III, Nr. 960. Ebd., IV, Nr. 71. 119 Wie Anm. 114. 120 W Harleß, Die Erkundigung über die Gerichtsverfassung im Herzogtum Berg vom Jahre 1555, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins, 20 (1884), S. 127 ff. Den Vorsitz an den Dingstühlen dieses Amts führt weiterhin der Schultheiß zu Porz. 121 Wie Anm. 78. Einige Quellenbeispiele: P. Weiler, Urkundenbuch Xanten, Nr. 588: "infra parrochiam et limites districtus nostri in Wenkendunk" (1327); Tb j. Lacomblet, Urkundenbuch III, Nr. 366: "van den geeichte des kirspeis ende des dorps van Hunxe" 0341); ebd., Nr. 876: ,; ... 7 scheffenen ind ganzten gemeynden des kirspeltz van Vetwys" 0383); ebd., Nr. 1056: "synen dorperen und geeichten .. . bynnen dem land van Blanckenberg" 0398); R. Lüdicke, Unna, Nr. 39: "in dem kyrspell ind geeichte van Unna" (1427); Tb]. Lacomblet, Archiv, VI 1, Düsseldorf 1867, S. 231: "in dem kirspell und dynckmaell van Eschwylre" 0515). 117

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Ordnung wechselseitige Beeinflussungen gegeben haben. Da die Verhältnisse, wie sie um die Jahrtausendwende bestanden haben, während der folgenden 500 Jahre permanenten Veränderungen ausgesetzt gewesen sind- wovon vielfach die Rede war-, läßt das Ergebnis dieser Änderungsprozesse, wie wir es um 1500 vorliegen haben, keine verläßlichen Rückschlüsse darauf zu, wie die "kleinen Ordnungen des täglichen Lebens" Jahrhunderte vorher ausgesehen haben. Allerdings wecken jene landesherrlichen Eingriffe in die territoriale Verwaltungsorganisation, wie sie seit dem 15. Jahrhundert bezeugt sind, den Verdacht, bei der Einrichtung der Ämterverfassung im 13./14. Jahrhundert sei die frei disponierende Entscheidung des dominus terrae doch vielleicht höher anzuschlagen, als es eine retrospektive Betrachtungsweise wahrhaben will, die darauf aus ist, in den jeweiligen Gegebenheiten historisch gewachsene Ordnungsstrukturen als Richtschnur und Vorbedingung wiederzuerkennen, die also traditionellen Bindungen mehr zutraut als innovativen Kräften. Zumindest für einige geldcisehe Ämter wird man mit einer landesherrlichen Neuschöpfung des 13. Jahrhunderts ohne engere Anknüpfung an schon bestehende Ordnungen rechnen müssen. Das hat seinen Grund nicht zuletzt darin, daß es dabei um spät besiedelte Regionen geht. Die geldrischen Ämter Maas und Waal, Tieler- und Bommelwaarden, wahrscheinlich auch Nieder- und Oberbetuwe waren ämtermäßig verfaßte Siedlungsräume relativ junger Entstehung122• Begrenzt wurden sie durch die Stromläufe im großen Rheindelta. Nicht umsonst mußten ihnen im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts eigene Landrechte gegeben werden, um aus diesen Siedlungsverbänden Rechtsgemeinschaften zu machen 123. Sie verdankten ihre Entstehung existentiellen Bedürfnissen, d.h. der Sicherung des der bruchigen Niederung abgerungenen Lebensraums durch großangelegte, auf genossenschaftlicher Grundlage allein nicht mehr tragbare Deichbauten und ihre Unterhaltung. Der landesherrliche Amtmann war dort Richter und Deichgraf in einem124 • Das geldcisehe Amt Maas und Waal dient aber nicht nur als Beleg für administrative Neuerungen im eben angedeuteten Sinne; es ist zugleich ein weiteres Zeugnis für die nivellierende Tendenz und Absicht der territorialen Ämterbildung. Denn in ihm wurden Gebiete unter-

Kuys, Ambtman, S. 294. Vgl. etwa Groot Gelders Placaet-Boeck ... Il, uytgegeven door W. van Loon, 1703, Appendix Sp. 27-30, 71-77; I.A. Nijboff, Gedenkwaardigheden I, Nr. 215; Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch III, Nr. 655. 124 Das galt gleichermaßen für das niederrheinische Kleve. Etwa L.Aj. W Baron Sloet, Oorkondenboek Nr. 978: .presentibus ... Gerardo de Rottem ... iudice domini comitis Ghelrensis ac visitatore aggerum" (1276); Tb]. Lacomblet, Urkundenbuch III, Nr. 229 (Vertrag Geldern/Kleve): "ende onse amptlude doen toe schouwen opten dyken ende opter weteringen" (1328); P. Weiler, Urkundenbuch Xanten, Nr. 726: "Godert van Mekern richter ende dikegreve tusschen Maze ende Wael" (1343); Tb. IIgen, Herzogtum Kleve, II 1, Nr. 105: "onsen amptman end diecgreven in Lymersch" (1360); vgl. ]. Kttys, Ambtman, S. 123-148. 122 ].

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schiedlicher Rechtsstellung, solche der Grafschaft Geldern und solche aus Reichsgut, zusammengebunden und durch ein spezifisches regionales Landrecht vereinheitlicht125• Das Wechselspiel von landesherrlicher Dispositionsfreiheit und Traditionssteuerung wird nicht zuletzt deutlich an dem systematischen Ausbau einer lokalen Wirtschaftsverwaltung neben der Amtsverwaltung seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Notwendigkeiten und Fortschritte der Verwaltungstechnik hatten eine solche Differenzierung erzwungen. Zunächst hatte der Amtmann in seiner Person den Typus der Einheitsverwaltung verkörpert: d.h. er repräsentierte den Landesherrn in allen seinen Rechten und Pflichten 126• Er sorgte für die Landesverteidigung und den inneren Frieden, war für die Rechtsprechung verantwortlich und kümmerte sich um die Eintreibung und Verwendung der landesherrlichen Einkünfte. Damit war der - durchwegs adelige - Amtmann auf die Dauer überfordert, und das um so mehr, je mehr die Schriftlichkeil in die Verwaltungsabläufe eindrang. Als erstes wurden die Einnahmen aus dem domanium des Landesherren - seinen Besitzungen und Rechten grundherrlichen, gräflichen oder vogteiliehen Ursprungs aus vorterritorialer Zeit - der Zuständigkeit des Amtmanns entzogen und einem besonderen Beamten übertragen, der den Titel Kellner (cellerarius), Schlüter (claviger) oder Rentmeister (reddituarius) führte. In einem zweiten Schritt dehnten sich dessen Kompetenzen dann auf die Einnahmen aus dem landesherrlichen dominium - Gerichtsgefälle und Steuern-, mithin auf die gesamte Wirtschaftsverwaltung aus. Kellner und Schlüter stammten ihrer Funktion nach aus der Verwaltung der landesherrlichen Burgen und Höfe (curtes). Entscheidend war, daß jetzt in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Wirtschaftsverwaltung der Amtsstruktur angepaßt wurde, zwar nicht in dem Sinne, daß Amtsbezirk und Rent- bzw. Schlüteramtsbezirk stets genau identisch gewesen wären, doch auf jeden Fall so, daß bei manchen Abweichungen im einzelnen Renteien und Ämter grundsätzlich miteinander harmonierten, etwa in der Weise, daß mehrere Ämter in die Zuständigkeit eines Rentmeisters oder Kellners fielen 127 . Das bedeutet aber, daß im Hinblick auf die regionale Kompetenzverteilung sich auch die Wirtschaftsverwaltung an der Ämtergliederung, letztlich also an der Gerichtsorganisation, orientierte. 125 Groot Gelders Placaet-Boeck ... II, Appendix Sp. 8-27; dazu L.S. Meibuizen, Rekening, S. 94-105, 118-130. 126 Die eingehendste Schilderung der Amtmannstätigkeit bei]. Kuys, Ambtman; zu den Pflichten und Kompetenzen des Amtmanns auch D. Willoweit, Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, S. 100 ff.; U. Wolter, Officium, S. 274-278. 127 E. Bamberger, Die Finanzverwaltung in den deutschen Territorien des Mittelalters (1200-1500), in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 77 (1922/23), S. 168-225; G. Droege, Die Ausbildung der mittelalterlichen territorialen Finanzverwaltung, in: H. Patze (Hrsg.), Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert I (Vorträge und Forschungen 13), Sigmaringen 1970, S. 325-345; D. Willoweit, Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, S. 102 ff. Im besonderen etwa L.S. Meibuizen, Rekening, S. 149; R. Lüdicke, Unna, S. 40 f.

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Resümierend läßt sich feststellen: In allen von uns behandelten Grafschaften basierte die um 1250 eingeführte und 100 Jahre später in den Grundzügen abgeschlossene Ämterverfassung auf der Gerichtsorganisation. Das für die Ausbildung der Landesherrschaft zentrale Recht, die hohe Gerichtsbarkeit, hat sachlich wie räumlich auch für die territoriale Gliederung, die Ämterumschreibung, die Raster geliefert, wobei gestaltenden Eingriffen des Landesherrn von Anfang an ein gewisser Spielraum offen stand, der sich im Laufe der Zeit erweiterte. Mit der iurisdictio alta war implizit oder akzessorisch eine Anzahl von Berechtigungen verbunden, die für die Landesherrschaft konstitutiv waren. Da die herrschaftlichen Jurisdiktionsbezirke auf dem Wege der Bannbildung zustandegekommen waren, also durch territoriale Verdichtung eigener und konsequente Eliminierung fremder Rechte, bedurfte es dazu des Einsatzes und der Demonstration von Macht. Dafür waren Burgen und feste Plätze die zeitgegebenen Instrumente, die schützend, stabilisierend und bei unübersichtlicher Zersplitterung von Gerechtsamen auch organisierend wirkten, der Landesherrschaft freilich niemals die fehlende Rechtsgrundlage schaffen oder ersetzen konnten. Nur mit dieser Einschränkung kann man den Burgen und Städten eine wichtige Funktion bei der Ämtergliederung zuerkennen. Immerhin ergibt sich daraus, daß die Rückführung der Amtsverfassung einerseits auf die Gerichtsorganisation, andererseits auf Burgenbannbezirke nicht zu Thesen führen muß, die einander ausschließen. Beide Positionen haben keinen alternativen, sondern einen komplementären Charakter. Daß es außer iurisdictio und castrumlopidum auch andere zur Amtsbildung treibende Kräfte geben konnte, belegen die geldrischen Ämter an Rhein und Waal; hier war es die lebenspraktische Notwendigkeit zur Errichtung herrschaftlich kontrollierter und gelenkter großräumiger Deichverbände, die die Ämterbildung angestoßen hat. Eine Anlehnung der weltlichen Landesorganisation an ältere kirchliche Verwaltungssprengel läßt sich seit dem Ende des 13. Jahrhunderts nur auf der unterhalb der Ämter liegenden Ebene der Ortsgerichte, Nachbarschaftsgemeinden und Kirchspiele beobachten. Zwischen Dekanats- und Archidiakonatbezirken und irgendwelchen territorialen Organisationseinheiten sind dagegen keine Zusammenhänge zu erkennen. Im Blick auf den spätmittelalterlichen Territorialstaat in Deutschland überhaupt darf man nach unseren Beobachtungen behaupten, daß die Kräfte und Erscheinungen, denen er seine Entstehung verdankte: die iurisdictio als vornehmliebste Rechtsgrundlage, Burgen und Städte als wirksamste Machtinstrumente, Landerschließungs- und Subsistenzsicherungsmaßnahmen als Legitimation für die Territorialbildung, auch für die Untergliederung des Territoriums in Ämter maßgeblich geworden sind. Das Amt war ein Territorium im kleinen, nur daß an seiner Spitze kein Fürst, sondern ein Beamter stand.

Die Organisation des städtischen Bezirks

in der Poebene im 13. und 14. Jahrhundert

(Mark Treviso, Lombardei, Emllia) Von Gian Maria Varanini"

I. Einführung Die Organisation des städtischen Bezirks im kommunalen und post-kommunalen Zeitalter steht seit jeher im Mittelpunkt der Forschung zum italienischen Spätmittelalter1 • Die älteren und neueren Untersuchungen zu diesem Thema lassen sich im Grunde genommen in zwei Kategorien einteilen: Zum einen existiert eine große Anzahl monographischer Analysen zu einzelnen Städten; und zum anderen gibt es umfassende Synthesen des gesamten regnum Ita/ie, welche zwangsläufig dazu neigen, eher sehr allgemeine "Entwicklungsanalogien"2, als regionale oder territoriale Spezifika zu betonen.

Deutsch von Friederike C. Oursin. Es ist erst 15 Jahre her, daß F. Bocchi auf einer vom Italienisch-Deutschen Historischen Institut in Trient organisierten Studientagung zu einem analogen Thema einen Vortrag hielt: Die Stadt und die Organisation des Territoriums im Mittelalter, in: R. Elze I G. Fasoli (Hrsg.), Le citta in Italia e in Germania nel Medioevo: cultura, istituzioni, vita religiosa, Bologna 1981, S. 51-80 (dann nachgedruckt im Sammelband derselben Autorin: Auraverso le citta italiane del medioevo (Attraverso le citta italiane, 11, Casalecchio di Reno 1987, S. 7-22, mit dem Titel: La citta e l'organizzazione del territorio). Der Aufsatz hat als terminus ad quem das Ende des 13. Jahrhunderts. 2 Das Urteil sowie der im Text zitierte Ausdruck stammen von P. Cammarosano, Citta e campagna: rapporti politici ed economici, in: Societa e istituzioni nell'Italia comunale: l'esempio di Perugia (secoli XII-XIV). Perugia 6-9 novembre 1985, Perugia 1988, I, S. 303. Zu einer breitgefächerten Synthese, vgl. A.l. Pini, Da! comune citta stato al comune ente amministrativo, in: "Storia d'Italia UTET", IV, Torino 1981 und erneut veröffentlicht, deren Bibliographie bis 1985 auf dem letzten Stand ist, in: Citta, comuni e corporazioni del medioevo italiano (Biblioteca di storia urbana medioevale, 1), Bologna 1986, S. 57-218. Für einen schnellen Gesamtüberblick zu diesem Thema, verschiedentlich artikuliert, vgl. auch P. Brezzi, Le relazioni tra Ia citta e il contado nei comuni italiani, in: Quaderni catanesi di studi classici e medievali, 5 (1983), S. 201234 (dann in: Paesaggi urbani e spirituali dell'uomo medioevale [Nuovo medioevo, 29), Napoli 1986); j.C. Maire Vigueur, Les rapports ville-campagne dans I'Italie communale: pour une revision des problemes, in: N. Bttlst I ].Pb. Genet (Hrsg.), La ville, Ia bourgeoisie et Ia genese de l'etat moderne (Xlle-XVIIIe siede). Actes du colloque de Bietefeld (29 novembre-1er decembre 1985), Paris 1988, S. 21-34 (mit einem kurzen historiographischen aper(:tt und unter Hervorhebung zweier wichtiger Themen, 7 Chiunlini I Willnwcil

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Es handelt sich hierbei um eine Sachlage, die tief verwurzelte und keineswegs oberflächliche Hintergründe hat3. Diese Arbeit erhebt nicht den Anspruch, in dieser Angelegenheit Abhilfe zu schaffen, genau wie sie a priori darauf verzichtet, sich auch nur irgendeinen Vergleich mit den Gebieten jenseits der Alpen anzumaßen4• Auf der Grundlage der relativ intensiven monographischen Forschung, die auch in den letzten Jahren durchgeführt wurde, setze ich mir das weniger weitgesteckte Ziel, in der Entwicklung der von mir in Betracht gezogenen regionalen Gebiete einige grundsätzliche Linien herauszuarbeiten, die mir für das 13.-14. Jahrhundert zu gelten scheinen. Ich möchte insbesondere einige vergleichende Überlegungen für die Mark Treviso (auf die sich meine eigene Forschungsarbeit beschränkt), die Lombardei und die Emilia vorlegen, mit einzelnen Hinweisen auf den piemontesischen Raum. Innerhalb dieser Regionen begründet ein Faktorenkomplex, der zum Teil von geographischen Bedingungen und von extensiven strukturellen Charakteristika der Beziehung Stadt/Territorium abhängig ist und zum Teil mit der lokalen und allgemeinen politisch-institutionellen Entwicklung stark verbunden erscheint, von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts an, und zunehmend im folgenden Jahrhundert, bedeutsame Unterschiede im Hinblick auf die Fähigkeit der städtischen Gemeinden, den eigenen Bezirk zu regieren. In des Fiskus und des Getreideamts). Vgl. auch H. Keller, Veränderungen des bäuerlichen Wirtschaftens und Lebens in Oberitalien während des 12. und 13. Jahrhunderts. Bevölkerungswachstum und Gesellschaftsorganisation im europäischen Hochmittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien, 25 (1991), S. 340-372, mit ausgiebigen bibliographischen Hinweisen. 3 Siehe hierzu P. Toubert, "Citta" et "contado" dans l'Italie medievale. L'emergence d'un theme historiographique entre Renaissance et Romantisme, in: La cultura, XXII (1984), S. 219-248 (auch in dem Sammelband: Histoire du haut Moyen Age et de l'Italie medievale, London 1987). Was den deutschen Raum anbelangt, ergeben sich aus anderen Beiträgen in diesem Band Komponenten, die in diese Richtung gehen. Für einige erneuerte Vorschläge, in enger Synthese, der wesentlichen Ausdrücke dieses Vergleichs, verweise ich auf einige neuere Sammelbände (La ville, Ia bourgeoisie et Ja genese de l'etat moderne; die monographische Ausgabe 1989 von "Theory and society", 18 [1989) [= C. Til~y I W. Blockmans [Hrsg.), Cities and States in Europe, 1000-1800, bes. für den Beitrag von G. Chittolini, Cities, .City-States" and Regional States in North-Central Italy, S. 689-706; vgl. außerdem R. Bordone, La cittä comunale, und G. Chittolini, La citta europea tra medioevo e rinascimento, in: P. Rossi [Hrsg.J, Modelli di cittä [Biblioteca di cultura storica, 1651. Torino 1987 respektiveS. 347-370 und 371-393). Das Hervorheben einiger gut bekannter struktureller Bedingungen - für Italien und die Poebene typisch - in Zusammenhang mit dem weitläufigen Problem der Organisation des städtischen Territoriums, versteht sich von selbst (die geringe Anzahl bischöflicher Städte im untersuchten geographischen Raum, die beachtliche Ausdehnung der weltlichen und kirchlichen Bezirke, die durchschnittlich hohe demographische Konsistenz: vgl. zu diesem letzten Aspekt die Daten in: M. Ginatempo I L. Sandri, L'Italia delle cittä. Il popolamento urbano tra Medioevo e Rinascimento [secoli XIII-XVI) [Le vie della storia), Firenze 1990).

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einigen Städten führte so die städtische politische Autorität in ungebrochener Kontinuität die gerichtliche und fiskalische Eingliederung des Territoriums fort, die in den vorausgehenden Jahrzehnten ausgestaltet worden war. Anderwärts hingegen (besonders in der Lombardei und der Emilia) wurde der Prozeß, der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts begonnen hatte, eindeutig abgeschwächt, er ,ging aus dem Leim' und stellenweise sogar ausgesprochen auf Gegenkurs. Diese Unterschiedlichkeiten, die für die Ordnung der ,Regionalstaaten' nicht ohne Folgen sein werden, und die sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und im 15. konsolidieren sollten, zu beschreiben und zu ihrer Klärung beizutragen, ist also das Ziel dieser Arbeit. Folglich werde ich mich für die Anfangsphase (zwischen 12. und 13. Jahrhundert) darauf beschränken, die Hauptprobleme mit einigen Beispielen (II) versehen ins Feld zu führen und werde dann dem folgenden Teil (III) der Untersuchung einen analytischeren Charakter geben. Anschließend möchte ich, wie oben angedeutet, versuchen, einige Vergleiche anzustellen, die sowohl die geopolitischen Faktoren als auch die eventuelle Belastung der institutionellen Form (kommunale und signorile Herrschaftsformen) abwägen. Dieser analytische Charakter mag die Ausführungen erschweren, er ist aber unumgänglich, will man zur Überwindung jener schon erwähnten ,sehr allgemeinen Analogien' beitragen; dies rechtfertigt wenigstens teilweise die Tatsache, daß einige Gebiete der Poebene, besonders des Piemonts5, und die besondere ,Typologie' der romagnolischen Gemeinden (zwei Gebiete, denen jüngst intensive Forschungsprojekte gewidmet wurden)6 ausgeklammert werden.

5 Für Hinweise auf das piemontesische Gebiet, mit Verweisen auf die Arbeiten von R. Bordone und anderen, vgl. unten, Anm. 18 und 25. 6 Für die Romagna vgl. insbesondere die zusammenfassenden Arbeiten von A. Vasina, II mondo emiliano-romagnolo nel periodo delle signorie, in: A . Berselli (Hrsg.), Storia della Emilia Romagna, Bologna 1975, S. 675-748, sowie: L'area emiliana e romagnola, in G. Cracco I A. Castagnetti I A . Vasina I M. Luzzati, Comuni e signorie neii'Italia nordorientale e centrale: Veneto, Emilia-Romagna, Toscana (Storia d'Italia unt. Leit. v. G. Galasso, VII/1), Torino 1987 (auch getrennt veröffentlicht unter dem Titel: Comuni e signorie in Emilia e in Romagna. Da! secolo XI al secolo XV, Torino 1986), bes. S. 424-429 und 486-494 für den Entstehungsprozeß des contado. Es muß aber besonders erinnert werden an verschiedene Rekonstruktionen neuesten Datums der Probleme der einzelnen urbanen Zentren: z.B. A . Vasina, La cittä e il territorio prima e dopo il Mille, in: Storia di Cesena, II: II medioevo, 1: Secoli VI-XIV, Rimini 1983, S. 180 ff. ; Storia di Ravenna, III: Da! Mille alla fine della signoria polentana, Venezia 1993 (für die Beiträge von A.l. Pini und A. Vasina); Storia di Forli, II: II Medioevo, hrsg. von A . Vasina, Forll1990 (die Arbeiten von C. Dolcini und A. Vasina). Zu einem spezifischen Punkt siehe auch G. De Vergottini, Concezione papale e concezione comunale del rapporto di comitatinanza in conflitto in Romagna al principio del secolo XIV, in: Atti e memorie della Deputazione di storia patria per Je provincie di Romagna, V 0953-54), S. 105-114; und zu den kleineren romagnolischen Städten vgl. auch E. Angiolini, Gli stretti margini di libertä delle comunita romagnole, in R. Dondarini (Hrsg.), La libertä di decidere. Realta e parvenze di autonomia nella normativa locale nel Medioevo. Atti del convegno di Cento (6-7 maggio 1993), in Druck.

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n. Auf der Höhe des kommunalen Zeitalters (ca. 1180-1250) Es ist einleitend notwendig, einige allgemeine Betrachtungen vorauszuschicken, vielleicht Selbstverständlichkeiten, aber keineswegs Überflüssiges. Auch allein auf das Italien der Poebene bezogen, ist die ,kommunale Geographie'' des 12. Jahrhunderts sehr vielfältig; verschiedenartig die sozialen und institutionellen Gleichgewichte, die die Entwicklung der städtischen Autonomien im frühen kommunalen Zeitalter tragen8 . Der Stadtadel (wo der Anteil der kaufmännischen Komponente bekanntermaßen unbeständig und anfangs von geringer Bedeutung ist) und der Landadel pflegten sehr unterschiedliche Kontakte zu den Bischöfen: Bischöfe, die weiterhin eine beachtliche territoriale Verwurzelung haben (im Gegensatz zu so mancher, auch wichtigen, Stadt Umbriens und der Toskana), welche steten, aber höchst unausgewogenen Veränderungen unterworfen ist. Die Verallgemeinerung des von Keller vorgeschlagenen lombardo-maHändischen Modells wurde einer aufmerksamen Diskussion unterzogen9. Unterschiedlich ist auch der Einfluß, den im Verlauf des 12. Jahrhunderts der Hochadel ausübt, der anfälligere Kontakte mit den Städten hat und natürlich dem Versuch des Kaisers, die Machtausübung kohärenter zu gestalten, empfindlich ausgesetzt ist. Es ist zuletzt auch eine unumstößliche Tatsache, daß die normalen italienischen Bürger sich in einem äußerst komplexen Umfeld bewegen, als sie - unter Berufung auf eine alte Tradition städtischer Zentralität - eine territoriale Umbildung und die Umkehrung der immer engmaschigeren Organisierung und Zergliederung der öffentlichen Prärogativen (und insbesondere der Ausübung des districus auf dem Land durch eine große Zahl signorHer Autoritäten) in Angriff nehmen und daß sie keineswegs einen exklusiven Anspruch auf diesen Prozeß haben. Aber auch andere institutionelle Subjekte (Bischöfe, Domkapitel, große Klöster, Adelige und milites) üben diese Gewalten aus und die Neuorganisation findet im Umkreis derselben Subjekte statt, die zunächst Hauptdarsteller der Fragmentierung waren. Es ist offensichtlich, daß vor diesen Entschlüssen und diesen Durchführungen jene ununterbrochene Beziehung zwischen der Stadt und dem Territorium wirksam ist, die Mittel- und Norditalien vom frühen Mittelalter an charakteri-

s. 303.

Vgl. auch P. Cammarosano, Cittä e campagna: rapporti politici ed economici,

8 A . Haverkamp, Die Städte im Herrschafts- und Sozialgefüge Reichsitaliens, in: F. Wittingbof(Hrsg.), Stadt und Herrschaft: Römische Kaiserzeit und Hohes Mittelalter (Historische Zeitschrift, Beiheft 7), München 1982, S. 149-245; R. Bordone, Nascita e

sviluppo delle autonomie cittadine, in: La storia. I grandi problemi dal medioevo all'eta contemporanea, unt. Leit. v. N. Tranfaglia IM. Firpo, 11/2: II medioevo. Popoli e strutture politiche, Torino 1986, S. 425-458. 9 R. Bordone, Tema cittadino e ,ritorno alla terra' nella storiografia comunale recente, in: Quaderni storici, XVIII (1983), 52, S. 255-277, und vgl. von demselben Autor die Rezension zu H. Keller, Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien (9.-12. Jahrhundert), Tübingen 1979, in: Bollettino storico-bibliografico subalpino, LXXX (1982), S. 279-281.

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siert, sowie ein langer Inkubations- und Evolutionsprozeß des städtischen Bewußtseins: eine strukturelle Gegebenheit, die hier nur angedeutet werden soll 10.

1. Die Behauptung der städtischen Autorität zwischen dem Ende des 12. und den ersten fahrzehnten des 13. Jahrhunderts a) Die Definierung der städtischen territorialen Bereiche und die Listen der untergebenen "ville" Ausgehend von diesen verschiedenen (und alles andere als unwichtigen) Prämissen und unter Zuhilfenahme von juristischen und politischen Instrumenten, deren Vielfalt wohl bekannt ist11 , versuchen alle städtischen Gemeinden im Verlauf des 12. Jahrhunderts die direkte Beziehung zu brechen zwischen dem Besitz einer Burg und der Ausübung der öffentlichen Gewalt in möglichst ausgedehnten territorialen Bereichen. Die Kriege der Städte, die diese Bereiche klären sollten, verdichteten sich von den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts an unmittelbar nach und gleichzeitig mit dem Auftreten der kommunalen Einrichtung selbst12 und hielten Schritt mit dem Anspruch auf die gerichtlichen Vorrechte über das Territorium, dem contado karolingischer Tradition und/ oder der Diözese13 . Die vielen Unausgewogenheiten zwischen der kirchlichen und der weltlichen Aufteilung des Territoriums gaben genügend Anlaß zu solchen Auseinandersetzungen und für die daraus erfolgenden Versuche, in der Vergangenheit eine Legitimation für die oft mit Gewalt hervorgebrachten territorialen Ordnungen zu finden. Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts blieb aber auf beeindruckende Weise die territoriale Aufteilung selbst in vielen Gebieten der Poebene fließend, mit ausgedehnten Gebieten sich dekkender und angefochtener Herrschaftsgewalt In diesen luftleeren Räumen können sich neue Aggregationspole behaupten. Im Verlauf weniger Jahrzehnte, im staufiseben Zeitalter, kann so (abgesehen vom Fall Alessandrias, der sich so großer Beliebtheit erfreut) der districtus cremensis- im Jahr 1210 mit einem Diplom von Otto IV. als solcher anerkannt, aber schon seit 1190 eingerichtet - im Verlauf des Kampfes gegen Cremona entstehen. Dies ist das Ergebnis der rasanten politischen Entfaltung eines Zentrums, das 1082 zum ersten Mal 10 Vgl. R. Bordone, La societa cittadina del regno d'Italia. Formazione e sviluppo delle caratteristiche urbane nei secoli XI e XII (Deputazione subalpina di storia patria, Biblioteca storica subalpina, CCII), Torino 1987, bes. S. 27-141. 11 Hierzu vgl. unten, Text der Anm. 28-35. 12 Zwischen Mailand und Como, zwischen ßrescia und Bergamo (die Grenzländer im Gebiet um den Iseosee), zwischen Cremona und ßrescia, zwischen Bologna und Imola, zwischen den Städten der Mark Treviso, usw. 13 "Et quod episcopatus Regii subiaceat civitati bona fide operam dabo", schworen in ihren cittadinatici die Herren aus Reggio Calabria und die Konsuln der Gemeinden des Bezirks 1197 und 1198: F.S. Gatta (Hrsg.), "Liber grossus et antiquus communis Regii", I, Reggio 1944, S. 153 und ff., passim. Vgl. auch 0 . Rombaldi, II comune di Reggio Emilia e i feudatari nel secolo XII, in: Studi matildici, Modena 1963.

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dokumentarisch erwähnt wird 1 ~ . Noch handelte es sich um das einzige Zentrum, das sich - obwohl es keine Tradition als Hauptstadt eines contado oder als bischöflicher Sitz hatte - zwischen dem 12. und dem 13. Jahrhundert ein eigenes politisches Territorium schafft und beispielsweise mit Chieri im Piemont (oder, außerhalb des hier vorgegebenen Untersuchungsgebietes, mit Prato in der Toskana) vergleichbar ist. Außerdem können bevölkerungsreiche und an wichtigen Verbindungsstellen gelegene Burgen versuchen, sich einen eigenen Bezirk zu schaffen. Dies sollte ihnen jedoch trotz der Unterstützung mächtiger signorHer Kräfte nur zum Teil gelingen. Sie mußten daher zwangsläufig ein Fremdkörper in den Bezirken der wichtigsten Städte bleiben: Dies ist beispielsweise der Fall von Conegliano und Bassano in der Mark Treviso, beide an der Grenze zwischen verschiedenen Bezirken und Diözesen gelegen (jeweils zwischen Treviso und Ceneda und zwischen Vicenza, Padua und Treviso)15 ; und in unterschiedlichen Formen, von anderen Gemeinden, die traditionell große Autonomie besitzen, wie Tortona im Vergleich zu Pavia. Aber natürlich betrifft der größte Teil der Streitigkeiten die Beziehungen der bischöflichen Städte älterer Tradition, die nicht selten auf der ganzen Linie heftige Auseinandersetzungen mit allen oder fast allen Nachbarn hatten 16• Es ist relativ selten, daß die interstädtischen Streitfälle mittels bilateraler Absprachen oder Transaktionen aus der Welt geschaffen werden (so geschah es beispielsweise 1184 - mit einem doppelten Treueid - in der jahrhundertealten Kontroverse zwischen der Gemeinde Mantua und der Gemeinde Reggio um die regula Padi, einem Bezirk am Ufer des Pos, der Suzzara, Pegognaga und die beiden Bondeni umfaßte und seit 1168 Zankapfel war, als "mantuani petunt iuramenta ab hominibus insule Suzare que nunquam consuerunt facere"). Zwischen dem 12. und dem 13. Jahrhundert sind die zwischenstädtischen Abkommen sicherlich zahlreich, vermittelt von den Rektoren der Lega /ombarda oder anderen Schiedsrichtern, die seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten offene territoriale Fragen mehr oder weniger endgültig beilegten: zwischen Bergamo und Brescia, zwischen Verona und Mantua, zwischen Padua und Treviso, 11 G. Albini, Crema dali'Xl al XIII secolo: il processo di formazione del territorio, in: Crema 1185. Una contrastata autonomia politica e territoriale (Centro culturale S. Agostino, Heft Nr. 5), Crema 1988, S. 47-49. IS Zu ßassano vgl. S. Bortolami, La difficile "liberta di decidere". Bassano tra Vicenza e Padova nei secoli XII-XIII, in: Giornata di studi bassanesi in memoria di Gina Fasoli, in Druck [Bassano 1994); zu Conegliano vgl. in Kürze D. Rando, Per una storia di Conegliano in eta medioevale, in: S. Borto/ami (Hrsg.), Citta murate del Veneto, Cinisello Balsamo 198H, S. 140-146, mit Bibliographie. 16 Vgl. hierzu das Beispiel von Pavia, dessen Streitigkeiten mit Mailand, mit Alessandria, mit Tortona und den Malaspina und mit Piacenza bekannt sind, und weniger bekannt diejenigen mit Novara, Vercelli und Lodi: A.A . Settia, ll distretto pavese nell'eta comunale: Ia creazione di un territorio, in: Storia di Pavia, II: L'eta comunale, Pavia 1992, S. 130-131. Dieser Beitrag ragt definitiv über die demselben Territorium gewidmeten Untersuchungen eines Vorläufers der Studien zur ,Territorialität' hinaus (P. Vaccari, La formazione del territorio municipale pavese ed il suo governo nei secoli XII e XIII, in: Atti e memorie del secondo congresso storico lombardo. Bergamo 18-1920 maggio 1937-XV, Milano 1938, S. 225-35).

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zwischen Bologna und Modena, zwischen Mailand und Corno usw. Nicht selten werden in diesem Prozeß auf dem Terrain materiell Grenzmarken angebracht17 • Aber mindestens genauso oft, wenn nicht öfter, kommt es vor, daß weiterhin zu den Waffen gegriffen wird und daß die Streitigkeiten und Auseinandersetzungen noch jahrelang unentschieden bleiben. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts können zwei dokumentarische Typologien als Leitfaden in der Analyse dieses tendenziellen, umstrittenen Festigungsprozesses der territorialen Bereiche der civitates dienen: civitates, die vor ihren eigenen äußeren Feinden - dem Kaiser oder konkurrierenden Gemeinden - ein solidarisches Bild präsentieren. Die erste Typologie besteht aus den von Friedrich Barbarossa (beispielsweise der Gemeinde Asti, 115918) oder Heinrich VI. erlassenen kaiserlichen Diplomen: Besonders dieser letzte erläßt im letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts für verschiedene Städte substanzhaltige Diplome, welche die Herrschaftsbereiche anerkennen oder festlegen. Und es sind Städte, die oft sofort ach dem Frieden von Konstanz oder davor in den librl iurlum auftauchen. Das Diplom für die Gemeinde Brescia aus dem Jahr 1192 listet beispielsweise die "loci qui distringuntur vel distringebantur" seitens dieser Gemeinde auf; im Jahr zuvor hatte ein analoges Diplom die Ordnung des Bezirks von Pavia festgehalten. Natürlich war die in den kaiserlichen Diplernen festgehaltene Situation dazu angetan, aus kriegerischen und/oder politischen Gründen auch wichtige Veränderungen hinnehmen zu müssen: Aber die Wichtigkeit dieser Sanktionierungen bleibt evident. Hier ist für uns nun ein anderer Dokumenttyp noch wichtiger, um die gedanklichen und objektiven Schemata zu klären, welche die Politik der verschiedenen Städte bestimmten: die Listen der untergebenen vi/le, die von den Gemeinden selbst aufgesetzt wurden. Vom dokumentarischen Gesichtspunkt aus ist die ideale Situation natürlich diejenige, die in einem gewissen zeitlichen Abstand einen Vergleich zwischen zwei Listen erlaubt - mögen diese nun homogen sein oder nicht. Für den zitierten Fall Pavias (dessen Forderungen auf der Ausdehnung des Territoriums der Diözese und der Grafschaften Pavia und Lomello gründeten) ist es beispielsweise möglich, das Diplom Friedrichs I. von 1164 mit demjenigen Heinrichs VI. aus dem Jahr 1191 zu vergleichen; außerdem kann anband eines analogen Privilegs Friedrichs II. und der Schätzung der Dörfer des contado 17 Die Praxis, die Verwaltungsbezirke mit Hilfe von Grenzmarkierungen zu unterscheiden war eine alte: vgl. z.B. D. Bullougb, An Unnoticed Medieval Italian Staf(Oile, "post, esp. boundary post", and the Significance of the Place Names "Staffalo, Staffira" etc., in: Zeitschrift für romanische Philologie, 80 (1964), S. 469-474, zit. von A .A . Settia, Il distretto pavese nell'etä comunale, S. 118 Anm. 4. 18 R. Bordone, La citta eil suo "districtus" dall'egemonia vescovile alla formazione del comune di Asti, in: Bollettino storico-bibliografico subalpino, LXXV (1977), S. 603609. Zur folgenden Entwicklung der Organisation des Territoriums von Asti, vgl. ders., Assestamenti del territorio suburbano: le "diminutiones villarum veterum" del comune di Asti, ebd., LXXVIII (1980), S. 133 ff. (bes. Teil 2: .,1 modi dell'organizzazione territoriale di Asti").

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aus dem Jahr 1250 die progressive Konsolidierung jener Gegenüberstellung von drei geographisch und historisch unterschiedlichen Größen (das Territorium Pavias im eigentlichen Sinne, die Lomellina und der Oltrepo) verfolgt werden, die den mittelalterlichen (und heutigen) Bezirk Pavias ausmachen19. Nur selten hat man die Möglichkeit, aufgrund eines solchen dokumentarischen Reichtums einen Gesamtüberblick zu erlangen. Isoliert etwa, wenn auch nicht weniger eloquent, in der Dokumentation Pavias, ist der Akt, mit dem die Gemeinde Verona 1184 (ein Jahr nach Konstanz) ihr "liber iurium, in qua omnia acta et ordinaria civitatis Verone continentur" eröffnet: eine Auflistung der 280 vil/e "que distringuntur et ex antiquo distringuebantur per Veronam" 20 . Hierin läßt sich, wenn- wie es scheint- die Aufstellung (obwohl es sich um eine sehr späte Kopie handelt) echt ist, der wissentliche Verweis in einem unterschiedlichen und vorausgehenden institutionellen Kontext auf eine hypothetische volle, von der Stadt in der Vergangenheit ausgeübten Gerichtsbarkeit ausmachen; und es wird die Überwindung der aktuellen politischen Situation vorweggenommen. Es werden so nicht nur zahlreiche vil/e in die Liste aufgenommen, die immer noch der signorilen Autorität (der wichtigsten städtischen kirchlichen Einrichtungen) unterstanden, sondern es werden auch wissentlich und programmatisch die Grenzen sowohl des Bezirks als auch der Diözese übertreten, bis hin zur Vereinnahmung von Ortschaften des Lagarina-Tals, oder des contado und der Diözese von Vicenza (wie Lonigo). Eine Auflistung wie diese präsentiert sich also wie ein Manifest, ein zu verfolgendes politisches Programm, und das in denselben Jahren in denen die Gemeinde eine aufmerksame Vermögenspolitik verfolgt (indem sie Besitzansprüche auf die unbestellten Landstriche im Gebirge, die "silva comunis Verone" sowie die Campanea communis geltend machtY1• Diese findet jedoch in der darauffolgenden loka19 A.A. Settia, II distretto pavese nell'etä comunale, S. 154, und die im Anhang veröffentlichten Tabellen (S. 155-171). 20 Die Auflistung wurde auf der Grundlage einer Kopie aus dem 16. Jahrhundert veröffentlicht von C. Cipolla, Verona e Ia guerra contro Federico Barbarossa (1894), in: Scritti di Carlo Cipolla, hrsg. von C.G. Mor(Biblioteca di studi storici veronesi, 12), li: Studi federiciani, Verona 1978, S. 360-363, Anm. 118 (zu einer späteren Ausgabe vgl. unten, Anm. 22). Vgl. auch G. Sandri, Nuove notizie sull'antico cartulario del comune di Verona, in: Scritti, hrsg. von G. Sancassani (Biblioteca di studi storici veronesi, 7), Verona 1969, S. 9-25 (1946-47 schon einmal veröffentlicht). Zu dieser dokumentarischen Typologie ist es von Nutzen eine aktuelle Untersuchung hauptsächlich zur kirchlichen Bezirkseinteilung als Vergleichsgröße anzugeben: j. W Busch, Oberitalienische Diözesan- und Contado-Verzeichnisse. Beobachtungen zur schriftlichen Erfassung von Verwaltungsstrukturen im 13. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien, 26 (1992), S. 368-388. 21 Vgl. hierzu A. Castagnetti, La "Campanea" e i beni c01nuni delle cittä, in: L'ambiente vegetale nell'alto medioevo (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull'alto medioevo, XXXVII), Spoleto 1989, S. 160-161 . Zu einer allgemeinen Hervorhebung der grof~en Wichtigkeit im Hinblick auf die territoriale Neudefinierung der Kontrolle und der Ausbeutung der kommunalen Güter in der Politik der Stadtgemeinden des 12. und 13. Jahrhunderts vgl. j.C. Maire Vigueur, Les rapports villecampagne, S. 32-33, mit besonderem Verweis auf seine Studien zu Perugia; und vgl. von demselben Autor das Vorwort zu dem Sammelband: I beni comuni nell'Italia

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Jen Dokumentation keine zuverlässigen Vergleichsgrößen: Das nächste Gesamtbild der vil/e, die Teil des Veroneser Bezirks sind, ist eine Liste des extimum larium, die zwei Jahrhunderte später aufgesetzt wurde (1396) 22 • In anderen nicht seltenen Fällen gibt es keine umfassenden Listen vor der Mitte des 13. Jahrhunderts, wie in Vicenza, wo die "ville Vicentini (districtus) scripte per quarteria", die zum Zeitpunkt der Abfassung nur zum Teil wirklich dem districtus der Gemeinde unterstehen, am Ende von zwei gleichermaßen wichtigen Dokumenten mit starkem symbolischem Wert auftauchen, dem Regestum der kommunalen Besitztümer, im Jahr 1262 kurz nach dem Ende der Herrschaft der Ezzelino aufgesetzt, und der ersten Niederlegung der Statuten zwei Jahre später3 . Den Listen der untergebenen ville entspricht das Gebot des iuramentum sequiminis an die ländlichen Gemeinden. In Fällen wie dem oben angeführten der Stadt Mantua der regula Padi, reihte es sich ein in einen Kontext der Beanspruchung umstrittener Rechte; aus seiner Pflichtgemäßheit heraus läßt sich in der Zeit zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert der ideale und geradezu programmatische Wert der Anerkennung und Behauptung der städtischen Autorität über das gesamte Territorium entnehmen. Dies beweist der jährliche dem Bürgermeister von Bergamo ("sacramentum omnium locorum", .sacramentum locorum virtutis") und demjenigen von Reggio Emilia geleistete, Treueid der verschiedenen Gemeinden des contado, die jeweils schon vor 1215 und 1221 verbreitet waren. Dokumente und Praktiken dieser Art interessieren an dieser Stelle hauptsächlich wegen der gedanklichen Schemata, die sie aufweisen - insbesondere im Fall der Listen handelt es sich nicht um eine einfache Anhäufung oder Aufzählung aller Rechte über eine Reihe von Ortschaften, sondern um die wissentliche Forderung globaler Souveränität. Sie manifestieren eine Fähigkeit, das städtische Territorium in komplexer Manier zu begreifen, und unter diesem Gesichtspunkt können ihnen die Initiativen zur Gründung von freien Ortschaften (burgi franeO und geplanten Siedlungen im allgemeinen zur Seite gestellt werden: Initiativen die - und dies ist wahr und wurde auch jüngst hervorgehoben- chronologisch das gesamte 12. Jahrhundert abdecken und sich weit vor dem Frieden von Konstanz verbreiten. Ihre "akute Phase" liegt comunale: fonti e studi, in: Melanges de l'Ecole fran~aise de Rome. Moyen Age Temps modernes, 99 (1987), S. 553-554. 22 C. h>rrari, L'estimo generate del territorio veronese dalla fine del sec. XIV al principio del XV, in: Atti e memorie dell'Accademia di agricoltura, scienze e lettere di Verona, VII (1907), 4. F., S. 57-59 ff. 23 F. Lomastro, Spazio urbano e potere politico ·a Vicenza nel XIII secolo. Dal .,Regestum possessionum comunis" del 1262, Vicenza 1981, S. 95-101 (.,Item comune Vincencie habet omnes infrascriplas villas"); Statuti del comune di Vicenza. MCCLXIV (Monumenti storici pubblicati dalla regia Deputazione veneta di storia patria. 2. Folge, Statuti, I), hrsg. von F. Lampertico, Venezia 1886, S. 254-257. Die beiden Listen sind fast deckungsgleich; ein Vergleich mit den Listen am Ende der statutarischen Abfassungen aus den Jahren 1311 und 1339 erweist sich als interessant, aber eher in punkto Siedlungsgeschichte als im Hinblick auf die politisch-institutionelle Ebene.

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dennoch mit den dreißig Gründungen im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts, um dann im 13. Jahrhundert weiterverfolgt zu werden24 • (Es gilt gegebenenfalls die im Gebiet der Poebene äußerst unregelmäßige geographische Verteilung dieser Gründungen, denen so viele Untersuchungen gewidmet wurden, mit größerer Aufmerksamkeit zu bewerten25). Unter dem Gesichtspunkt eines immer reiferen Bewußtseins um die Notwendigkeit, den territorialen Bereich genauer anzugeben, kann hier en passant eine ideologisch und propagandistisch eindeutige Quelle wie die legende der kommunalen Siegel angeführt werden, die Benzo d'Alessandria zu Beginn des 14. Jahrhunderts sammelte. In einigen Fällen können sie auf diese Epoche datiert werden und sie beziehen sich gelegentlich - bei ihren Definierungsversuchen - auf geographisch vernachlässigenswerte Objekte wie - um nur ein Beispiel anzuführen - den Fluß Musone, einen winzigen Wasserlauf, der dazu bestimmt war, die Grenze zwischen dem Bezirk Padua und dem von Treviso zu repräsentieren 26• b) Über den Entstehungsprozeß der Bezirksorganisation Bei der Untersuchung dessen, was wir - aus historiographischer Tradition und in Angedenken an eine grundlegende Untersuchung von De Vergottini weiterhin den .,processo di comitatinanza"27 (Entstehungsprozeß der Bezirks24 A.A. Settia, Le pedine e Ia scacchiera: iniziative di popolamento nel secolo XII, in: R. Comba I A.A. Settia (Hrsg.), I borghi nuovi. Secoli XII-XIV (Da Cuneo all'Europa, 2), Cuneo 1993, S. 63-64 (auch für das Zitat). 25 Auf die Notwendigkeit zwischen .,den ,entschlossensten' Gemeinden und denjenigen, die weniger systematisch einen Willen zur Veränderung der Bevölkerungsordnung zum Ausdruck brachten" zu unterscheiden, hat die Aufmerksamkeit gelenkt P. Cammarosano, Citta e campagna: rapporti politici ed economici, S. 327-328. Hier wird offensichtlich die erste grundlegende Unterscheidung zwischen dem Piemont (vgl. hierzu die Studien von F. Panero, in: Comuni e borghi franchi nel Piemonte medievale [Biblioteca di storia urbana medioevale, 21, Bologna 1988, und ders., Villenove e villefranche in Piemonte: Ia condizione giuridica e socio-economica degli abitanti, nella citata miscellanea I borghi nuovi, S. 195-217; außerdem, auch wenn es sich auf eine spätere Epoche bezieht, R. Comba, Le villenove del principe. Consolidamento istituzionale e iniziative di popolamento fra i secoli XIII e XIV nel Piemonte sabaudo, in: Piemonte medievale. Forme del potere e della societa. Studi per Giovanni Tabacco, Torino 1985, S. 123)- wo sich sowohl in Asti als auch in Alba und in Vercelli eine territoriale Politik abzeichnet, die stark von diesen Initiativen gekennzeichnet ist, gefördert von einer relativen Unterbevölkerung und einer starken städtischen und signorilen Konkurrenz, in der Lage mit Waffengewalt zu antworten - und dem Veneto und der Lombardei, und im großen und ganzen auch dem Gebiet der Emilia, wo die Gründungsinitiativen zwar von großer Bedeutung aber weniger zahlreich sind (man denke an die Gemeinden der Mark Treviso, von denen jede nur ein paar vorweisen kann). 26 G.B. Cervellini, I leonini delle citta italiane, in: Studi medievali, XII (1933), 2. Folge: VI, S. 239 ff. (S. 249-250 für Treviso). 27 G. De Vergottini, Origine e sviluppo storico della comitatinanza, in: G. De Vergottini, Scritti di storia del diritto italiano, hrsg. von P. Rossi, Milano 1977, I, S. 5122; der Aufsatz stammt aus dem Jahr 1929.

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Organisation) nennen, also der Prozeß der Behauptung von Souveränität in den entstehenden territorialen Bereichen, scheinen mir verschiedene Konzepte und Begriffe inzwischen allgemein anerkannt, angefangen mit den eindeutigen Grenzen der erreichten Ergebnisse. Ich beschränke mich hier also auf einige kurze Hinweise. Es wird so beispielsweise eine mangelnde Unterscheidungsfähigkeit der geographischen Expansionsbereiche anerkannt, vielleicht mit Ausnahme des Vorranges, der Gebieten zugestanden wird, welche die für Handelsverbindungen wichtigen Straßennetze kontrollieren; während sich in abseits gelegenen und wirtschaftlich weniger wichtigen Gebieten die Behauptung der städtischen Souveränität wenigstens anfänglich weniger bemerkbar macht. Im Falle Piacenzas ist jedoch die differierende Wichtigkeit offensichtlich, welche die Stadtgemeinde im Verlauf des 12. Jahrhunderts einerseits den Abkommen mit den Malaspina, die den caminus Ianue im TrebbiaTal kontrollieren, zukommen läßt und der Haltung, die die Gemeinde gegenüber dem Nure-Tal oder dem Ceno-Tal einnimmt28. Die abgegriffene Redensart von der großen Vielfalt der politisch-juristischen Instrumente mittels derer sich die Behauptung der städtischen Souveränität vollziehe (patti dt cittadinatico - einseitige Verträge mit signorilen Familien und Gemeinden, das Erlangen von öffentlichen Rechten - oft von kirchlichen Einrichtungen in der Stadt oder auf dem Territorium-, das Definieren feudal-vasallischer Beziehungen oder von für den Ordensstand bestimmte Lehen, wie auch immer man sie nennen will), umfaßt dann ein noch nicht ausreichend genaues und artikuliertes Wissen der ,Geographie' dieser unterschiedlichen Formen. Das Instrument des patto di ctttadinatico kannte beispielsweise äußerst unterschiedliche Modalitäten und Anwendungen, sowie eine große Verbreitung besonders in den emilianischen Gemeinden29 , im Piemont30, in einigen Fällen in der Romagna31 und in gewissen Gebieten der Lombardei; während es in der östlichen Poebene weniger angewandt wurde, in Mantua, in Ferrara (eindeutigerweise, da es keinen alteingesessenen Schloßadel gab)32 , in Venetien mit der Ausnahme von Treviso33 . Sein Glück (aber auch seine Grenzen) hinsichtlich der Kontrolle 28 P. Racine, Plaisance du Xe ä Ia fin du Xllle siede: essai d'histoire urbaine, Lilie I Paris 1979, S. 276-837, S. 924-926. 29 Die Auflistung im "Liber grossus et antiquus comunis Regii" ist wahrscheinlich eine der vollständigsten und reichhaltigsten, ausgehend vom Jahr 1147; sie betrifft unter anderem nicht selten Familien und Gemeinden die außerhalb des Bistums gestellt waren. 30 Als Beispiel reicht hier für Asti der Verweis auf R. Bordone, Assestamenti del territorio suburbano, S. 141-142 (sowohl für die patti di cittadinatici von signorilen Familien, als auch für jene ,kollektiven', bezüglich der ländlichen Gemeinden). 31 Z.ß., zu den Anweisungen der Gemeinde von Cesena an die Bewohner der erzbischöflichen Länder, "zeitweilig oder endgültig nach Cesena überzusiedeln und dort die Bürgerschaft anzunehmen", vgl. A . Vasina, La citta e il territorio, S. 148. 32 Vgl. unten, Anm. 153 und ff. und entsprechender Text. 33 A. Castagnetti, Le citta della Marca Veronese, Verona 1991, S. 221-226; D. Rando, Dall'etä del particolarismo al comune, in: Storia di Treviso, II: II medioevo, hrsg. von D. Rando I G.M. Varanini, Venezia 1991 , S. 69-70. Für die Erforschung der

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seitens der Stadtgemeinde beruht offensichtlich auf seiner Anpassungsfähigkeit, auf der Möglichkeit für die Kontrahenten, ihre gegenseitigen Verpflichtungen zu dosieren, indem sie zu einem Großteil, auch ausdrücklich, die an die Grundherrschaft gebundenen Prärogativen respektierten und der Stadtgemeinde nur die bedeutsamsten Tile der iurisdictio entzogen, wie die Verwaltung der Kriminaljustiz, einige Steuern und zuweilen die militärische Kontrolle über das Territorium. Gut dokumentiert ist unter diesem Gesichtspunkt durch das 12. Jahrhundert hindurch der Fall Bolognas, wo cittadinatici nicht oft auferlegt werden, aber dennoch der Adel des contado angezogen und mit dem Jahr 1123 eine lange Reihe von Unterwerfungsabkommen getroffen wird (mit dörflichen Gemeinden, städtischen Gemeinden, kirchlichen Einrichtungen und natürlich auch mit signorilen Familien34). In anderen Fällen, wie es beispielsweise oft in Verona35 oder auch in Bergamo geschah, bevorzugt und garantiert die Stadtgemeinde (unter Vermittlung seiner Konsuln oder sogar mit Gelddarlehen) die Praxis der ländlichen Gemeinden, die Rechte der Gerichtsbarkeit von den Herren zurückzuerwerben (besonders wenn es sich um städtische kirchliche Einrichtungen handelt): Auf die Befreiung aus der Unterjochung unter die dominifolgt nicht selten eine formale Unterwerfung unter die Stadtgemeinde.

2. Gliederung des städtischen Bezirks und Steuerordnung a) Eine neue Verwaltungsgeographie Gleichzeitig und in Zusammenhang mit der Anerkennung der politischen und juristischen superioritas beginnt man damit, -in einem relativ ausgedehnten Zeitraum zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert- eine neue Verwaltungsund Steuergeographie der entstehenden städtischen Bezirke zu definieren, über die Gründung von - den Prärogativen der Stadtgemeinde zweckdienlichen - mittleren territorialen Gefügen, in einer Größenordnung zwischen dem Bezirk als solchem und den einzelnen Dörfern oder Burgen. Gängig ist die Unterteilung des Territoriums auf der Grundlage der fortschreitenden urbanen Gliederung (in Viertel oder squadre oder fagie) oder das Abstecken homogeDaten und die Klarheit der Analyse bleiben weiterhin maßgeblich die Untersuchungen von G. Biscaro, II comune di Treviso e i suoi antichi statuti fino al1218, in: Nuovo archivio veneto, NF, I (1901), 2, S. 95-130; II (1902), 3, S. 107-146; III (1903), 5, S. 128160. 34 Hier genügt ein Verweis auf F. Boccbi, II comune di Bologna e i signori del contado, in: Atti e memorie della Deputazione di storia patria per le province di Romagna, NF, XXXII (1982), S. 79-94 (und vgl. den Beitrag derselben Autorin, der auch unten angeführt wird, Anm. 59); A. Hesse/, Storia della cittä di Bologna da! 1116 al 1280, Bologna 1975, S. 29-46 ff. (die Arbeit datiert aus dem Jahr 1910). 35 Zu den Voraussetzungen im 12. Jahrhundert, vgl. A. Castagnetti, Le cittä della Marca Veronese, S. 186 ff., aber insbesondere: ders., Le comunitä rurali dalla soggezione signorile alla giurisdizione del comune cittadino, Verona 1983, S. 42-45, mit Verweis auf vorausgehende Untersuchungen.

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ner Gebiete auf der Grundlage geographischer Charakteristika, beispielsweise mit Verweis auf die Hydrographie des Territoriums (wie die sieben colonelli des Veroneser Bezirks oder die sechs Teilstücke, in die das Territorium Piacenzas aufgeteilt ist). Es handelt sich hierbei um eine äußerst schwerwiegende Innovation: Diesen territorialen Strukturen ist weit über den Fall der städtischen politischen Autonomie hinaus ein sehr langes Leben vorbestimmt. Sogar in der Neuzeit, im 15. und 16. Jahrhundert, wird sich die Organisation der territorialen Einrichtungen - also jener rep~äsentativen Institutionen, die im Bereich des lombardischen oder ventianischen Regionalstaates dazu ausersehen waren, die steuerlichen und administrativen Beziehungen mit der Provinzhauptstadt zu leiten - auf diese Verwaltungsbezirke stützen (in Bergamo, in Verona, in Pavia, in Vicenza, in Brescia). Ausdrückliche Hinweise auf die Teilung der Gemeinde des Bezirks nach Toren gibt es für Cremona, im Jahr 116936; es folgt die Einführung von Vierteln, welche die Gemeinde Treviso vor 1185 vollzog37 und ähnliche Initiativen anderer Gemeinden vor dem Ende der dreißiger Jahre des folgenden Jahrhunderts. In Reggio Emilia existiert eine Vierteilung nach Toren schon vor 1204, mit einer attestierten Auflistung der foci fumantes auch schon einige Jahre vorher; in Bologna wurde 1223 der Bezirk in Viertel aufgeteilt, wie ·schon einige Jahre zuvor die Stadt38; die Aufteilung des Bezirks Bergamo geht (in direktem Zusammenhang mit der Volksregierung) auf die Jahre 1230-1233 zurück39• Es ist nützlich, darauf zu verweisen, daß Formen der Unterteilung des untergebenen Territoriums auch von semi-urbanen Zentren angewandt werden (wie die beiden ,quasi-Städte' der Mark Treviso: Conegliano, die nicht später als 1261 ihr Territorium in centenari aufteilt40 , und Bassano del Grappa). Beispiele solcher Art ließen sich noch viele anfügen, auch wenn es nicht möglich ist, die Einrichtung dieser Kreise genau zu datieren. Sie läßt sich folglich nicht selten nur der allgemeinen notariellen Praxis entnehmen. Für den Veroneser Bezirk erfolgt beispielsweise die ausdrückliche Erwähnung der colonel/i oder contrate, der Teile, in die sich der Bezirk (auf geographischer 36 .,Codex diplomaticus Cremonae", hrsg. von L. Astegiano, I, Augustae Taurinorum 1895, S. 444 (., ... de qua porta ille locus est"). 37 A. Castagnetti, L'ordinamento del territorio trevigiano nei secoli XII-XIV, in: Tomaso da Modena e il suo tempo. Atti del convegno internazianale di studi per il 6° centenario della morte (Treviso, 31 agosto-3 settembre 1979), Treviso 1981, S. 79-87. 38 A.I. Pini, Le ripartizioni territoriali urbane di Bologna medievale. Quartiere, contrada, borgo, morello e quartirolo (Quaderni culturali bolognesi, 1), Bologna 1977, s. 10. 39 A. Mazzi, Le vicinie di Bergamo, Bergamo 1887, S. 110; ders., I confini dei c01nuni del contado. Materiali per un atlante storico del Bergamasco, in: Bollettino della Civica Biblioteca di Bergamo, XVI (1922), S. 3. Ein ähnliches Beispiel, wenn auch ein wenig später, vgl. M. Calzolari, Un documento delle lotte per l'egemonia nel contado della tarda eta comunale: i .,confines totius episcopatus Mutine", in: Atti della Deputazione di storia patria perle province modenesi, 11. Folge, V (1982), S. 77-114. 40 A . Vital, Origini di Conegliano edel suo comune (Ricerche), in: Archivio veneto, 5. Folge, XI (1936), S. 67-69.

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Grundlage) organisatorisch gestaltet, relativ spät41 • Aber die Auswertung der privaten Dokumentation aus dem 12. Jahrhundert verweist auf das entschiedene Eingreifen der Stadtgemeinde: Aufgabe der Bezeichn\lngfines, iudicaria, comitatus gardensis, die vom Frühmittelalter an regelmäßig angewandt wurde, und generelle Anwendung der Bezeichnung Gardesana für den Kreis, den die Gemeinde Verona 1193 vom Reich erwarb12 ; Annahme der Bezeichnung Fiumenuovo für den östlichen Teil des Bezirks, der in einem Krieg um die Mitte des 12. Jahrhunderts teilweise der Grafschaft Vicenza entrissen worden war43; Annahme der Bezeichnung Valpolicella für einen neuen Kreis, der zwei vorher existierende Talbezirke frühmittelalterlicher Tradition ersetztH. Weniger oft, aber keineswegs selten, kommt es hingegen zur Annahme der territorialen Unterstützung der kirchlichen Kreise zum Zweck der weltlichen Verwaltung, die dieselben Ziele vervolgte, nämlich die Schaffung von mittleren Rahmenstrukturen. Aufgrund ihrer Dimensionen konnte sich die ländliche Pfarrei als dazu geeignet erweisen, als ,Brücke' zwischen dem Viertel und der einzelnen villa zu dienen: so geschehen in Treviso, wo vom Anfang des 13. Jahrhunderts an innerhalb der Viertel eine Unterteilung in regule und Pfarreien vorgenommen wird. Dort sind die Beamten der jeweiligen ländlichen Gemeinden dem meriga der villa unterstellt, der caput piebis ist und die Abgaben unter den verschiedenen regule des Kreises der Pfarrei verteilt; sie haften selbstschuldnerisch gegenüber der Stadtgemeinde für Schäden und sind fÜr das Ausführen öffentlicher Arbeiten und die Rekrutierung verantwortlich45 . Gut bekannt ist dann (dank Violante) der Fall des Mailänder contado, wo in den 40er Jahren des 13. Jahrhunderts der Ausdruck capitaneaticus im Sinne eines wirtschaftlichen Kreises verwendet wird, der einer Pfarre entsprach, und 41 Sie finden, soweit ich feststellen kann, im "Liber iuris civilis urbis Veronae" aus dem Jahr 1228 keine Erwähnung (siehe die Ausgabe hrsg. von B. Campagnola, Verona 1728). Zum Gebrauch von contrata, vgl.: Gli statuti veronesi del1276 colle correzioni e Je aggiunte fino al 1323 (cod. Campostrini, Bibi. Civica di Verona), hrsg. von G. Sandri (Monumenti storici pubblicati dalla regia Deputazione di storia patria per Je Venezie, NF, lll), Venezia 1940, I, S. 109 (I. I, st. CXXVII). 42 A. Castagnetti, Distretti fiscali autonomi o sottocircoscrizioni della contea cittadina? La Gardesana veronese in epoca carolingia, in: Rivista storica italiana, LXXXII (1970), S. 736-743; ders., Le comunita della regione gardense fra potere centrale, governi cittadini e autonomie nel medioevo (secoli VIII-XIV), in: G. Borelli (Hrsg.), Un lago, una civilta: il Garda, Verona 1983, I, S. 65-71 (Abschnitt 8: "Dal comitato di Garda alla Gardesana"). 43 A. Castagnetti, La pieve rurale neli'Italia padana. Territorio, organizzazione patrimoniale e vicende della pieve veronese di S. Pietro di "Tillida" dall'alto medioevo al secolo XIII (ltalia sacra. Studi e documenti di storia ecdesiastica, 23), Roma 1976, S. 33-34. 14 A. Castagnetti, La Valpolicella dall'alto medioevo all'eta comunale, Verona 1984, S. 121-124 ("La Valpolicella, creazione del comune cittadino"). 45 A. Castagnetti, L'ordinamento del territorio trevigiano, S. 80-85; G. Del Torre, II Trevigiano nei secoli XV e XVI. L'assetto amministrativo e il sistema fiscale (Fondazione Benetton. Studi veneti), Venezia 1990, S. 23.

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wo ein "institutionell kirchlicher Bereich"46 zu weltlichen Verwaltungszwecken wiederverwendet wird. Neben dieser Ausführung - auf einem elementareren Niveau - läßt sich auch feststellen, daß in einigen Fällen der Bezug auf den kirchlichen Kreis nur in der Übergangsphase zu einer endgültigen Verwaltungsordnung städtischer Prägung vorkommt: Als Anhaltspunkte signorHer Gewalten nicht länger vorhanden waren, wendet man sich der Terminologie kirchlicher Prägung zu. Genau die Aufgabe von Bezeichnungen wie "in plebatu", ,.in territorio plebis" und anderer mehr zu Gunsten rigider Formulierungen, absolut standardisiert in der notariellen Praxis eines einzelnen Bezirks (.,in pertinentia", .in curia et pertinentia"), ist ein wichtiges Indiz für die erzielte Uniformität47 • In dieselbe Richtung zielt das Erstellen komplexer Instrumente zum Verständnis und zur ,Regierung des Territoriums': Erinnert sei an das "liber instrumenterum confinium territorii Pergamensis" aus dem Jahr 1234, in dem die ländlichen Gemeinden "distinguant ac dividant ac definiant ac terminent sua territoria ab aliis territoriis cum quibus confiniant .. . distinguendo territoria" 48 . Mazzi beschäftigte sich mit diesen so ausschlaggebenden Jahren in der Geschichte des Bergamasker Bezirks, und zwar unter dem Gesichtspunkt von parallel laufenden Vorkehrungen (insbesondere die Kontrolle der Magistratswahl in deri ländlichen Gemeinden und die Kontrolle über den Verkauf von Gütern des Gemeingebrauchs) und kam zu einer Schlußfolgerung, der heute niemand mehr zustimmen würde: Er schrieb, daß 1222 "die volle und einheitliche Gerichtsbarkeit des kommunalen Bergamo über sein Territorium wirklich hergestellt scheint". Ohne Zweifel eine voreilige Schlußfolgerung: Sie geht aber in diesem, wie in anderen Fällen, von wichtigen administrativen Vorkehrungen mit starkem Symbolgehalt aus, welche auf ein sehr genaues Wissen und einen geziehen Willen hindeuten, auch wenn sie gerade nicht zu endgültigen Resultaten führten. Ein anderer Wegweiser, den es im Auge zu behalten gilt, weil er Zeugnis ablegt über neue Elemente des Abstrahierens und das Ziel, den Bezirk allein in seiner physischen Dimension des Territoriums zu ,denken', ist der Verzicht auf jenes reine ,Anhängen' an die geographisch-territoriale Gegebenheit, das zu Beginn bei der Gliederung in Viertel dominiert. Dies kann in Como49 aus46 Hier genügt ein Verweis auf C. Violante, Pievi e parrocchie nell'Italia centrosettentrionale durante i secoli XI e XII, in: ders., Ricerche sulle istituzioni ecclesiastiche dell'Italia centro-settentrionale nel Medioevo, Palermo 1986, S. 421-422. Die Arbeit geht auf das Jahr 1977 zurück. 47 Dies wird nur auf der Grundlage mikroanalytischer Untersuchungen ersichtlich; zum (Veroneser) Beispiel, auf das man sich im Text bezieht, vgl. G.M. Varanini, La Valpolicella dal Duecento al Quattrocento, Verona 1985, S. 92-94. 48 A. Mazzi, I confini dei comuni del contado, S. 6-8. 49 Wo seit 1198, zum Zweck der Verwaltung der Zivilgerichtsbarkeit, das Territorium der Stadtgemeinde in drei Bereiche geteilt worden war, über welche die Rechtsprechung der Konsuln jeweils abnehmend ausgeübt wurde (L. Prosdocimi, Problemi sulla formazione e sull'ordinamento del territorio di Como, in: Atti e memorie del secondo congresso storico lombardo, S. 244).

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gemacht werden, wo 1240 die Teilung des Bezirks in vier Viertel belegt wird: Mehr noch als das nicht selten vorkommende Einsetzen der Pfarreistruktur als Basiselement, ist es von Bedeutung, daß die ländlichen Gemeinden in mehreren Fällen nicht in die eigentlich territorial zuständigen Viertel eingegliedert werden und so ein Kriterium der territorialen Nähe zu Gunsten eines Kriteriums der steuerlichen Angleichung aufgegeben wird50. Ähnlich wird in Bergamo zu Beginn des 13. Jahrhunderts vorgegangen, "solomodo tarnen in fodris et oneribus imponendis in futurum per comune". b) Die steuerliche Einstufung des Bezirks Die Teilung in Viertel setzt im allgemeinen die Anwendung oder die Regelung von Schätzungsprozeduren voraus oder ist eine ihrer Begleiterscheinungen, die ihrerseits wieder die Einführung des Prinzips der gesamtschuldnerischen Verantwortung der ländlichen Gemeinde für die Steuerbelastung mit sich bringen (und auch für die dem Grundbesitz der Bürger zugefügten Schäden)51. Wenn die Dokumentation des 12. Jahrhunderts systematisch gesichtet wird, kommen oft neue Daten zu Zeiten und Verfahrensweisen zum Vorschein, mit denen die Stadtregierungen die lokalen Signorien bei der Erhebung des Futterzinses ersetzten. Es läßt sich so eindeutig die Einführung gängiger Prozeduren vorwegnehmen. Dies beweist der Fall Pavias: Laut Bezeugungen aus dem Jahr 1184, trieb die Stadtgemeinde beispielsweise 1159-1160 den Futterzins in der Ortschaft S. Marziano "unum .. . per libram et alium per estimationem" ein, und 1168 schritten die Konsuln Pavias in der Ortschaft Parpanese zur Erhebung des Futterzinses per libram52 ; noch fehlt es an weiteren Daten für die darauffolgenden Jahrzehnte (1181 und 1193)53, bis hin zu den schon erwähnten Listen der Mitte des 13. Jahrhunderts54 . Auch in Verona beruhte 1184 die Aufnahme verschiedener kleinster Siedlungen (besonders des Hügellandes mit seinen verstreuten Siedlungen) in die Liste der dem districtus der Gemeinde untergebenen t'ille auf einer - wenn auch nicht ausdrücklich erklärten - steuerlichen Motivationsgrundlage55; und die Statuten 50 Ebd., S. 245; vgl. auch E. Besta, Per Ia storia del comune di Como, in: Archivio storico lombardo, LVIII 0931), S. 413. 51 Die Wichtigkeit genau dieses Punktes betont beispielsweise A.l. Pint, Cittä, comuni e corporazioni, S. 104-105. 52 E. Barbiert, Gli estimi pavesi del secolo XIII, in: Ricerche medievali, XIII-XIV (1980), S. 68 (Anm. 23). Diese Arbeit reicht über die vorausgehende Untersuchung Sorigas hinaus (Documenti pavesi sull'estimo del secolo XIII, in: Bollettino della societä pavese di storia patria, XIII [19131, S. 103-118). 53 Ebd.; vgl. außerdem C.M. Cipolla, Popolazione e proprietari delle campagne attraverso un ruolo di contribuenti del sec. XII, in: Bollettino della societä pavese di storia patria, NF, XLVI (1946), S. 85-93. 54 Kürzlich neu veröffentlicht und hrsg. von C.M. Cantil in: A .A . Settia, Il distretto pavese nell'etä comunale, S. 155-164 (Anhang). 55 C. Cipolla, Verona e Ia guerra, S. 361-362.

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des frühen 13. Jahrhunderts bestätigen ausdrücklich die Erhebung der datia larium56 . In Asti existierte- vielleicht schon seit dem Ende des 12. Jahrhunderts - "eine richtiggehende Schätzung der vil/e veteres', derjenigen also, die am direktesten und eisernsten von der Stadtgemeinde kontrolliert wurden57 . In Reggio Emilia erinnert man 1221 an die "prestatio colte et bovaterie et cavamenti et omnium aHarum prestationum et factionum", mit der Verpflichtung zur Beteiligung am allgemeinen Heer und der Zahlung von 3 Saldi "de unoquoque foco fumante" . In Treviso, wo Schätzungsprozeduren seit 1181 im Bezirk angewendet werden (aus Anlaß der Unterwerfung der da Camino58), wird 1222 die collecta im Bezirk "pro podere, secundum magnitudinem divitiarum et personarum" verteilt, nach Quoten, die von den merighi und den Geschworenen auf die einzelnen Bewohner der Pfarrei und der ville festgesetzt wurden; und zuletzt für Vercelli sei 1240 (aber vielleicht schon mit einer Vorgeschichte) an das "liber consignamentorum comunis Vercellarum in quibus cives nobiles ac castellani ac burgi, ville ac loca civitatis et districtus Vercellarum consignaverunt sua bona mobilia et immobilia" erinnert. Die Verteilung der Lasten wird im allgemeinen dem Gutdünken der ländlichen Gemeinde überlassen, wobei aber die groben Einkommensabstufungen der boateria überholt schienen, die (wie wir aus einigen Abkommen der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zwischen Stadtgemeinden und Herren entnehmen können) nur zwischen Abgaben pro pario boum und pro bracante differenzieren konnte. Die wohlbekannte Besteuerung Bolognas aus dem Jahr 1235 (die auch das Territorium von Imola betraO ist die erste, deren Ergebnisse in einem amtlichen Archiv aufbewahrt sind, und sie gestattet so Einblicke in den Reifungsprozeß dieses Steuersystems. Diese Besteuerung überließ die Schätzungen eigenen impositores collectarum des contado, folgte objektiven Bewertungskriterien, wie der Zahl der Feuerstellen und versuchte die Exemptione des Adels zu verringern; wenigstens seit 1245 war ein Amt vorgesehen, das über die Position der exempti von den ländlichen Kontributionen wachte, Gemeinschaften oder Einzelne (die außerdem auch in Brescia, Parma und anderswo in eigenen Registern geführt werden)59. Diese Besteuerung erfordert also eine möglichst organische Annähherung an das Problem der steuerlichen Einordnung des Landes, das für diese Epoche anderswo nicht mit gleicher Genauigkeit dokumentiert ist. Es existieren andere Aspekte der steuerlichen Eingriffe der Stadtgemeinden im frühen 13. Jahrhundert, und es wäre interessant, deren Geographie und Chronologie in Übereinstimmung mit der dokumentarischen Situation genauer Vgl. beispielsweise: Liber iuris civilis urbis Veronae, st. CXC, S. 144-145. R. Bordone, Assestamenti del territorio suburbano, S. 160. SA D . Rando, Dall'etä del particolarismo al comune, S. 77. 59 F. Bocchi, I debiti dei contadini (1235). Note sulla piccola proprietä terriera bolognese nella crisi del feudalesimo, in: Studi in memoria di Luigi Da! Pane, Bologna 1981, bes. S. 172. Für ein Gesamtbild der Steuerpolitik der Gemeinde Bolognas vgl. auch: dies., Le imposte dirette a Bologna nei secoli XII e XIII, in: Nuova rivista storica, LVII (1973), S. 273-312. 56

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zu definieren. Ein relativ vernachlässigtes Gebiet ist beispielsweise jenes der nicht monetären Fiskalität, also der Reglementierung der öffentlichen Arbeiten. In verschiedenen Kontexten existiert die dokumentierte Verpflichtung für die Inhaber von Burgen und für die Untertanen, die ,.factiones antique" nachzuweisen ("ostendere per cartas" oder über Zeugnisablegungen), "alicui castello" ausgeführt oder "alicui homini pro castello" zustehend, und relativ früh entstehen neue spezialisierte Gemeindeämter: ein Anzeichen für die unbestrittene Wichtigkeit der Angelegenheit und für Organisationsfähigkeit. Auch in diesem Fall ist die Haltung der Gemeinde mit Sicherheit extrem zurückhaltend. In Bergamo ist beispielsweise um das Jahr 1220- wenn es um Befestigungsarbeiten von castri et loci geht - ein Bescheid der lokalen Gemeinde mit qualifizierter Mehrheit unabdingbar. Relativ früh kommt es jedoch zum Versuch einiger Städte, neue spezialisierte kommunale Ämter zu schaffen; in Padua existiert 1234 schon ein relativ artikuliertes System, mit 12 "divisores Iaboreriorom villarum" zuständig für eine Aufteilung der "laboreria universa secundum consignationes scriptas in volumine starutorum" unter den verschiedenen ville, mit einer Koppelung zwischen den ville des Bezirks und der urbanen territorialen Aufteilung. Auch in Bologna sind die "suprastantes stratis et aquis", die für den gesamten Bezirk zuständig sind, ab 1233 attestiert60 .

3. Die Kontrolle über das Territorium mit Hilfe von Verlretern: "podesterie" und dezentralisiene justtzbeh6rden Im Vergleich zu den bisher gestreiften Thematiken, ist dem Thema der Dislokation von Vertretern der Stadtgemeinde in den städtischen Bezirk, wo diese auf militärischem und rechtsprecherischem Gebiet aktiv waren, auch in der jüngsten Geschichtsforschung ein eher geringes Interesse zuteil geworden. Dies lag zum Teil an dokumentarischen Beweggründen: Kommunalen Archiven, die eher die iura als die allgemeine Dokumentation aufbewahrten, konnte leicht die Nachricht entgehen, daß ein ländlicher Podestä existierte, und die Statuten der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts liefern keineswegs jene systematischen Rahmen der gerichtlichen Sitze und der Schlösser, die wir dann - wenn auch nicht häufig - in den späteren Niederschriften finden. Beispielsweise wird eine so wichtige Information wie die Existenz eines potestas Montanee, der von der Gemeinde Parma in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in den Apennin geschickt worden war (..que banna possint diminui arbitrio potestatis in tota terra que regitur per potestatem Montanee"), von den Statuten nur nebenbei erwähnt. Ihrerseits bewahren die Archive der kirchlichen Behörden wahrscheinlich eher Indizien zur Steuerbelastung als über Vikare oder Podestä auf. 60 A. Hesse!, Storia della cittä di Bologna, S. 165 und Anm. 237. ·Im allgemeinen muß die Errichtung eines für den Straßenbau zuständigen Amtes etwas später anberaumt werden ( T. Szab6, Comuni e politica stradale in Toscana e in ltalia nel Medioeva [ßiblioteca di storia urbana medioevale, 6), Bologna 1992, S. 87-88).

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Aber abgesehen von der immer notwendigen Aufmerksamkeit für die lokalen Eigenheiten der "Quellengeographie"61 muß auch die Tatsache betont werden, daß die Anwesenheit von eigenen Vertretern in der Peripherie nicht notwendigerweise eines der Hauptanliegen der Stadtgemeinde ist, solange der exklusive Anspruch der städtischen Gerichte in cives betreffenden Fällen gesichert ist. Die ,Territorialität' der signorilen Macht ist bekanntermaßen nicht selten von den städtischen Einrichtungen selbst anerkannt - mal erlitten, mal verteidigt-, auch wenn sich der kommunale Schutz besonders auf die Formen der Grundherrschaft richtet62 . Maßnahmen gegen die Autonomiebestrebungen von ländlichen Gemeinden zur Verteidigung signorHer Vorrechte sind keine Seltenheit. Im Gebiet um Bergamo präzisieren beispielsweise die Statuten des frühen 13. Jahrhunderts nicht nur, wie in zahlreichen anderen Kontexten, daß "districtales iurisdictionis Pergarni possint et debeant facere rationem sub dominis suis inter se", aber 1216-1219 werden die ländlichen Gemeinden von der Stadtgemeinde bestraft, da .presumpserant eligere electores pro potestate eligendo", zum Nachteil der anspruchsberechtigten kirchlichen Einrichtung. Bekannt ist, daß die Eide der signorilen Podestä oft die bewußte Unterordnung der Autorität des dominus loci unter die höheren Instanzen der Stadtgemeinde und deren Gesetze zum Ausdruck bringen, denen gemäß ("Ieges, rationes et boni mores") die die Rechtsprechung im einzelnen gehandhabt werden wird63 . Es ist also logisch, daß man in diesen Fällen keinen kommunalen Podestä oder Vikar durchsetzen möchte, der nicht für ,notwendig' erachtet wird. Die Regel lautet Unplanmäßigkeit: Gegenüber einer kleinen An61 Der Ausdruck stammt von P. Cammarosano, ltalia medievale. Struttura e geografia delle fonti scritte (Studi superiori NIS/109, Storia), Roma 1991. 62 Vgl., beispielsweise, die reichhaltige Dokumentation in C. Stortt Storcht, Diritto e istituzioni a Bergamo da! comune alla signoria (Universitä degli studi di Milano, Facolta di Giurisprudenza. Pubblicazioni dell'Istituto di Storia del diritto italiano, 10), Milano 1985, z.B. S. 259: "credo quod dominus episcopus et episcopatus habeat districtum et honorem in ipsa valle ... tamen dico quod comune Pergami est dominus super omnibus hominibus illius vallis, et sum andatus exigere banna pro comuni in ipsa et per ipsam vallem et non inveni aliquem hominem qui vitaret attendere observare precepta que voluissem sibi facere pro comuni". Vgl. hierzu das gesamte Kapitel ("Aspetti giuridici della signoria comunale sulterritorio rurale", S. 245-271, mit reichhaltiger Bibliographie). 6·' Als eines unter vielen möglichen Beispielen gebe ich hier die klare Formulierung wieder, die Olderico Visconti aus Verona; Podesta von Pahl di Trevenzuolo, einer otlla des Veroneser Bezirks und dem Kloster von S. Giorgio in Braida bei Verona unterstand, 1226 gebrauchte: ",uro ego ad sancta Dei ewangelia quod bona fide sine fraude, ut vicarius vicecomes potestas et nuncius domini Viviani prioris ecclesie Sancti Georgii in Braida, pro ecclesia Sancti Georgii in Braida regam comunitatem et singularitatem ville Paludis, honor et iurisdictio generalis cuius ad predictam ecclesiam spectat, et rationem inter ipsos homines et etiam aliis de ipsis hominibus conquerentibus faciam secundum Ieges et racionem et bonos mores et secundum statutum civitatis Verone; et sententias latas per dominum priorem vel eius nuncios aut potestatem vel vicarios hic retro a quibus non fuerit appellatum et si fuerit appellatum quod fuerint confirmate vel appellationi remisse attendi faciam, et rationes et iura ecclesie Sancti Georgii in terra et curte et pertinentia Paludis manutenebo donec in regimine fuero" (Archivio Segreto Vaticano, Nunziatura Veneta, S. Giorgio in Braida, perg. 9207).

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zahl Amtmänner, die von der Autorität der Stadtgemeinde bestellt sind, kann es andere geben, die auf Verlangen der untergebenen Gemeinden bestellt werden. Das Ersetzen des Podestä der ländlichen Gemeinde mit dem aus der Stadt entsandten Amtmann und unmißverständlichem Vertreter der Stadtgemeinde ist oft alles andere als klar durchschaubar. Ein gemeinsamer Zug ist auf jeden Fall die in verschiedenen Bezirken bereits sehr früh auftretende Verbreitung von anfänglich militärischen und dann zivilen Magistraten mit relativ breitgefächerten Prärogativen in den Randgebieten des Bezirks (in den Bergen, an den Grenzen), die erst kürzlich erobert oder unterworfen worden waren und deren Führung sich aus verschiedenen Gründen (auch die Möglichkeit, daß diese Burgen Sitz von Exilanten werden) delikat oder problematisch anläßt. Abgesehen vom schon zitierten Bezirk Parma, haben wir so im Bezirk Bologna ab 1205 drei potestates Montanee, in Casio und dann in Belvedere und Scaricalasino; und ein wenig später einen Beamten mit ähnlichen Prärogativen in den ehemaligen Mathildischen Gütern und zwei weitere im contado von Imola, der in jeder Hinsicht den terre comitatus Bononiensis gleichgestellt ist. Gemeinden wie Piacenza, Parma und Corno unternehmen gezielte Anstrengungen in diese Richtung, auch weil die Berge des Apennin oder die Alpen die Schwachstelle der Handelswege zu Lande darstellen. Im piacentinischen Raum sind zwischen 1218 und 1244 im Trebbia-Tal64 , im Nure-Tal und im Ceno-Tal städtische Podestä dokumentiert; sie kontrollieren die lokalen ländlichen Gemeinden und erhalten die sacramenta sequiminis. In Parma, das 1221 ein wichtiges Abkommen mit dem Bischof abschließt und so alldessen Gerichtsbezirke aufkauft, "illud quod faciunt in aliis terris que ad episcopatum non pertinent", zeichnet sich unter den von der Stadtgemeinde gesandten und ad brevia gewählten Podestä, jener von Berceto aus, der besondere Prärogativen besitzt. Die Statuten aus dem Jahr 1225 erwähnen sodann acht Sitze von Beamten, meist an den Grenzen gelegen, unter ihnen - mit besonderer Skepsis umgeben - jener von Borgo San Donnino; aber sie erwähnen auch die Podestä, die auf Ersuchen der untergebenen vil/e gesandt wurden, mit Respekt für die signorilen Kreise: "Si potestas sit alicuius castri, quod possit esse potestas tocius curie", wenn es die Mehrheit wünscht. Die Gemeinde Corno setzte ab 1205 potestates in die vorher bischöflichen castra, wie Chiavenna im Valtellin (abgesehen von Treviso und Bellagio; potestates Cumarum treffen wir dann auch in anderen wichtigen Ortschaften an, aber der Großteil der loci blieb unter eigenen Dekanen65). Hinzukommt, daß ähnlich wie die besonderen Regimes, die den Randgebieten des städtischen Bezirks zugeschrieben werden, auch die Einrichtung von jenen ,Respektzonen' zu sehen ist, die Comarche oder Capita Marchie oder ähnlich genannt wurden, innerhalb welcher für die Veräußerung von 64 6s

P. Racine, Plaisance du Xe a Ia fin du Xllle siede, S. 931-932. E. Besta, Per Ia storia del comune di Como, S. 420.

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Grundbesitz und öffentlichen Rechten an (weltliche oder geistliche) Bürger der nahen Städte strengere Normen gelten. In einigen dieser comarcbe (dokumentiert in den Territorien von Parma, Pavia und Novara) wird sogar ein Podestä mit dem - ausdrücklich oder nicht - erklärten Ziel gewählt, für Sicherheit zu sorgen66. Aber diese Bemühungen erstrecken sich sicher nicht auf den ganzen Bezirk. Wie langsam die Aussicht auf eine systematische und punktuelle Kontrolle des Territoriums durch eigene Beamten in die Geisteshaltung der herrschenden kommunalen Schicht des 13. Jahrhunderts eindringt, und wie verwurzelt hingegen das, was wir die Geisteshaltung der cittadinatici nennen können, ist, beweist ein anderes Beispiel aus Parma: Wenn eine herrschaftliche Familie die Verfügbarkeit der Burg - ausgerüstet oder nicht- garantiert, soll der Podestä nicht gesandt werden, "et propterea non gravetur commune Parme de potestate ibi eligendo"67 . Das Entsenden wurde also wie ein gravamen empfunden, nicht wie das Ausüben eines Vorrechts. Auch in Piacenza beschränkt ein Statut aus den mittleren Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts die Anwesenheit der kommunalen Podestä abgesehen von den Tälern des Taro und des Ceno auf Castel S. Giovanni und Bobbio; "et cetere alie potestarie vallium et plani episcopatus Placentie sint casse"68. Es ist auch in Bologna selbstverständlich, daß jährlich alle potestates gewählt werden ("Si in consilio firmabitue de ipsis elligendis"). So ist also nicht verwunderlich, daß es auch in den Städten, die schon zuvor die städtische Autorität bejaht hatten, nicht notwendigerweise besondere Emsigkeit oder Methodik beim Versenden von Vertretern in den Bezirk aufkam. In den Statuten Veronas aus dem Jahr 1228 bestellt die Stadtgemeinde zwar einerseits die Ämter ausschließlich für die Veroneser Bürger ("ne exteri potestarias villarum Veronae percipiant"), legt die Normen für die Wahl des Podestä zu den ville fest (übertragen an drei im Rat durch Los ermittelte cives) und regelte das Syndikat, setzt aber andererseits in der Tat nur einen einzigen Podestä fest. Dieser hatte in einem für die Sicherheit des Handels und die strategische Kontrolle des Wasserweges der Etsch (Badia Polesine) neuralgischen Punkt (der außerdem nicht einmal im wahren Sinne zum Stadtbezirk gehörte) zu residieren: Er hat ein mercator Verone zu sein69• Immer noch auf Veroneser Gebiet, in Cerea - in einer großen Burg unter der Herrschaft des Domkapitels - wird der Podestä weiterhin, vor und nach dem .Freikauf der richterlichen Befugnisse durch die Gemeinde und der Unterwerfung unter die 66 Auf diesen Ausdruck und diese territorialen ,Strukturen' hat jüngst die Aufmerksamkeit gelenkt: A.A. Settia, Il distretto pavese nell'eta comunale, S. 152-154. 67 Statuta communis Parme digesta anno MCCLV, Parma 1856, S. 22 Oahrgang 1859; es handelt sich um die Burg von Bargone). 68 Statuta antiqua comunis Placentie, Parma 1855, S. 246 (st. LXXIV von Buch I). 69 Liber iuris civilis urbis Veronae, st. CXCIV, S. 148 (und zu der strikten Kontrolle, die in diesen Jahren über dieses Gebiet ausgeübt wurde, vgl. auch A. Rigon, "Franchavilla mercatorum". Mercanti veronesi, abbazia della Vangadizza e un'impresa di bonifica del primo Duecento, in: Archivio veneto, CXVI [1985), S. 5-32). Die anderen zitierten Statuten sind CLXXXI und CXCVIII.

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Stadtgemeinde, unter den führenden städtischen milites gewählt, da es sich um eine .,bona terra bonis militibus habitata" 70 handelt. Im bergigen Hinterland, das fest in der Hand der Stadt war, wählen die Gemeinden, die kürzlich für den Freikauf der richterlichen Befugnisse vom eigenen Grundherren die Bürgschaftsleistung der Stadtgemeinde in Anspruch genommen hatten, erst in den 40er Jahren des 13. Jahrhunderts allein einen civis veronesis als Podestä71 • Bestätigung der Souveränität und beabsichtigte territoriale Definition der Grenzen des Bezirks, beinahe systematische Einführung von im Sinne der Steuererhebung funktionaler territorialer Aufteilungen, diskontinuierliche und unregelmäßige Anwesenheit von Richtern und militärischer Besatzung: Dies sind die Problemfelder, deren Lösung im Verlauf der ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts alle größeren und kleineren Stadtgemeinden in Angriff nehmen. Die Phase ist reich an Veränderungen, folgenschwer und fließend zugleich. Auf seinem Höhepunkt ist das Regime der Podestä überdies ein ausschlaggebendes Moment des Zirkulierens von politischen und kulturellen Modellen, der Schaffung eines homogenen Wertekomplexes und einer politischen koine12 • Auch wenn es interessant wäre, einige Aspekte dieses Zirkulierens, soweit dies möglich ist, detaillierter zu betrachten, wie das regimen districtus und das regimen civitatis, so wäre es nicht weniger interessant, die Umstände näher zu präzisieren, mit denen das Bewußtsein, die eigene Kontrolle über den Bezirk definitiv ausgebaut zu haben, im 13. Jahrhundert ein spezifisches Element der kommunalen Ideologie wird, so wie dies in Bologna geschah73 • Nun stellt sich das Problem, in der folgenden Phase Homogenität und Abweichungen ins Gleichgewicht zu bringen, wobei man grob gesagt von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts (der terminuspost quem ist aber natürlich äußerst variabel) ausgehen kann. Auch da, wo der Disziplinierungs- und Organisationsprozeß des Stadtbezirks uns voll ausgereift erscheint, geschieht dies mit wesentlichen chronologischen decalages und je nach Gebiet unterschiedlich. Diesem Versuch soll der zweite Teil dieser Ausführungen auf der Grundlage einer - eingangs angedeuteten - vergleichenden Bewertung gewidmet sein, die eine Verbindung zwischen geo-politischen Elementen und institutionellen Dynamiken herstellt. 70 Vgl. G.M. Varanini, Tramonto di una signoria rurale. II castello di Cerea fra XII e XIII secolo, Trento 1994. 71 Vgl. G.M. Varanini, II comune di Verona, Ia societa cittadina ed Ezzelino III da Romano (1239-1259), in: G. Cracco (Hrsg.), Nuovi studi ezzeliniani (Nuovi studi storici, 21•), Roma 1992, I, S. 115-165. 72 Vgl. hier E'. Artifoni, Tensioni sociali e istituzioni nel mondo comunale, in: La storia. I grandi problemi, li 2: Popoli e strutture politiche, S. 461-470 (ßibliographie S. 487-488). 7·' Ganz zu schweigen von dem falschen theodosianischen Privileg, das dank der willkommenen Anführung der prekären Eroberung des Feignano von Modena datierbar ist; so ist es eben kein Zufall, dag in der italienischen Ausgabe der Lebensgeschichte des Hl. Petronius die Vergröl~erung des der Stadt untergebenen Territoriums zu den ßitten zählt, die der Bischof an Kaiser Theodosius gerichtet hätte (.,perche ella non ae de contado se no trea miglia, de torno in torno").

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ID. Die Bezirke Venetiens, der Lombardei und der Emllia von der zweiten Hälfte des 13. bis ans Ende des 14. Jahrhunderts: Modellvielfalt, Schwierigkeiten, Erfolge und Rückschläge des territorialen Organisationsprozesses

1. Der kleinste gemeinsame administrative Nenner Im komplexen historiegraphischen Urteil zu den Beziehungen von Stadt und contado in Mittel- und Norditalien ab der Mitte des 13. Jahrhunderts, war viel die Rede vom ,.Untergang des Systems der Stadtstaaten", vom ,.Zusammenbruch der Stadtstaaten", von der ,.Krise der kommunalen Freiheiten", der ,.schwachen und unsicheren Kontrolle der Stadt über den contado in vielen Gebieten der Halbinsel seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts" 74 , andere sprachen von der ,.Auflösung des contado"75 ; im Vordergrund stand also die Idee einer Krise, das Schwinden einer Ordnung, die irgendwie ihr Gleichgewicht gefunden hatte. Für viele Städte sind die Schwierigkeiten der kommunalen Einrichtungen in der Kontrolle des Bezirks zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert offensichtlich, und zwar als Folge der Faktionskämpfe, des Exils und der erneuerten Zunahme der herrschaftlichen Macht (die in manchen Gebieten nie zerronnen war oder sich gar erst im Verlauf des 13. Jahrhunderts entwickelt hatte). Hierzu in Kürze mehr. Es sei jedoch einleitend auf ein Faktum von primärer Wichtigkeit hingewiesen. Die oft betonte Instabilität der politischen Einrichtungen in der langen und beschwerlichen Phase der städtischen und zwischenstädtischen Faktionskämpfe darf aber die Analyse jener Einrichtungen, jener Beziehungen und jener Prozeduren nicht in den Hintergrund rücken, die - und seien sie auch bar politischer Bedeutung - dennoch die städtischen Bezirke begrenzen und für Jahrhunderte weiterhin begrenzen werden. Zwischen Politik und Verwaltung zu unterscheiden und den Einrichtungen des 13. Jahrhunderts die Klarheit moderner Kategorien zu unterstellen, wäre eine Verzerrung. Dennoch muß man in den einzelnen Städten gewidmeten Untersuchungen der Tatsache gerecht werden, daß die Ordnungen, die die Städte der Poebene zu Beginn des 13. Jahrhunderts in ihren Bezirken durchgesetzt haben, jeweils eine eigene Dynamik besitzen, eine Schwerfälligkeit, die weiterhin in gewissem Maße (und sei es auch unterschiedlich schnell in den verschiedenen Gebieten) während und nach der ,.Krise der kommunalen Freiheiten" mit dem grundlegenden Konsensus der städtischen Bevölkerung auftritt: Abgesehen von den Charakteristika des politischen Regimes (bürgerlich, oligarchisch, tyrannisch-signoril), das sich 71 G. Cbittolini, Introduzione, in: G. Cbittolini (Hrsg.), La crisi degli ordinamenti comunali e Je origini dello stato del Rinascimento Ostituzioni e societa nella storia d'Italia, II), Bologna 1980, S. 9. Vgl. auch ders., La crisi delle libertä comunali e le origini dello stato territoriale, in seiner Studiensammlung: La formazione dello stato regionale e le istituzioni del contado. Secoli XIV e XV (Piccola Biblioteca Einaudi, 375), Torino 1979, S. 10-11. Der Beitrag stammt aus dem Jahr 1970. 75 A.l. Pini, Cittä, comuni e corporazioni, p . 113.

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durchsetzen wird76 . Kompetenzen und Strukturen in Getreide- oder SteuerangeIegenheiten, von der Gemeinde geforderte Arbeitsleistungen und anderes mehr können sich weiterhin in dem effektiv von der Stadt kontrollierten Teil des Bezirks entwickeln und sind zur Hand, um auch in den anderen Gebieten eingesetzt zu werden, falls diese in den Faktionskämpfen und den damit verbundenen politisch-militärischen Machenschaften erneut an die städtische Souveränität fallen sollten. Mit anderen Worten gesagt, ist es zu vermeiden, mechanisch und allenthalben jene Parameter der Instabilität .auf alle Sektoren des städtischen Lebens anzuwenden, die in allgemeiner Übereinstimmung Interpretationselemente der politisch-institutionellen Zusammenhänge sind, obwohl die Überschneidungen zwischen den beiden Ebenen offensichtlich und selbstverständlich sind. Auch in der jüngsten Forschung hat es nicht an wohlüberlegten Anregungen und allgemeinen Verweisen in diese Richtung gefehlt. Einzelnen Themenkreisen sind wichtige Analysen gewidmet worden: beispielsweise der Getreidepolitik77, die- ausgehend von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts- einige konkrete Vergleiche über die Anwendung der strengen protektionistischen Normen ermöglicht, die die Statuten seit der ersten Hälfte des Jahrhunderts vorsehen (Einrichtung von Magistraten domini bladi, Gebrauch von scripture publice, um den Getreidehandel zu dokumentieren; auch wenn in einigen Fällen impositiones blave seit dem Ende des 12. Jahrhunderts und gleich darauf 1207 ein ufficium blave8 dokumentiert sind). Auch andere Gebiete ließen sich gewinnbringend unter dem fiskalischen Gesichtspunkt untersuchen. Es wäre folglich wichtig, mehr über die Entwicklung der Salzsteuer zu erfahren. Ihre Verbreitung nimmt zu, normalerweise ohne begrenzte Immunitäten und völlige Befreiungen (es wurde höchstens die Zahlung einer Pauschalquote genehmigt), und trägt so zusammen mit den ,.descriptiones bladorum et vini" und mit allgemeinen Schätzungen zur Kenntnis und zur analytischen Kontrolle des Bezirks bei, auch bei einer Lockerung der Einheit der Gerichtsbarkeit. Die ersten Bezeugungen ihrer Anwendung, nach Gemeinden und noch nicht nach Köpfen, gibt es jedoch erst relativ spät, nicht vor der zweiten Hälfte des 76 Außer A./. Pini, Citta, comuni e corporazioni, S. 133-134, 140-180, vgl. insbesondere die kursorischen, aber schlüssigen Beobachtungen von R. Bordone, La societa urbana nell'Italia comunale (secoli XI-XIV) (Documenti della storia, 40), Torino 1984,

s. 209-211 .

77 Sowohl für die regionalen Gebiete, deren Entwicklung sich nicht leicht verallgemeinern läßt (S. Collodo, 11 sistema annonario delle citta venete: da pubblica utilita a servizio sociale [secoli XIII-XVI], in: Citta e servizi sociali nell'Italia dei secoli XII-XV. Dodicesimo convegno di studi [Pistoia 9-12 ottobre 19871, Pistoia 1990, S. 383-415; F. Bocchi, La politica annonaria delle citta emiliane, in: F. Bocchi, Auraverso Je citta italiane nel medioevo, S. 125-142), als auch sehr allgemein (C.M. De Ia Roncü!re, L'approvisionnement des villes italiennes au Moyen Age, in: L'approvisionnement des villes de l'Europe occidentale au Moyen Age et aux temps modernes, Auch 1985, S.

33-51).

7R Diese Hinweise auf den Fall Mailand sind zitiert aus: H. Keller, Veränderungen des bäuerlichen Wirtschaftens, S. 352, Anm. 37.

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13. Jahrhunderts79• Es gilt dann noch allgemein auf den Versuch hinzuweisen, der Allgemeinheit der vi/Je des Bezirks die freien Ortschaften anzugleichen, die jedoch in vielen Fällen ihre Trennungsvorrechte und Privilegien einbüßen. Weitere Beispiele ließen sich anführen; es gibt noch ein breites Gebiet, das besonders mit monographischen Analysen abzudecken wäre80 . Aber nun muß untersucht werden, in welchem Maße die wachsende (aber weder einheitliche noch allgemeine) Instabilität der städtisch-kommunalen politischen Einrichtungen, die ihrerseits von der allgemeinen politischen Entwicklung der zweiten Hälfte des 13. und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts verschiedentlich beeinflußt werden, auf dieses widerstandsfähige continuum der allgemeinen Verwaltung einwirkt. In jedem der drei hier behandelten ,regionalen' Gebiete werden die inneren Parteikämpfe und die mehr oder weniger einschneidende Aktion der territorialen Fürstentümer unterschiedlich als Variablen kombiniert und lassen so Stadt für Stadt die Merkmale hervortreten, die originären Charakterzüge jeden Kontaktes von Stadt und Territorium. Sei es auch unter der weder oberflächlichen noch einflußlosen Patina der Konstruktion des Stadtbezirks im 13. Jahrhundert81 . Als Alternative zur schemenhaften städtischen Ordnung- die Grundherrschaften, die Talgemeinden usw.: nicht notwendigerweise residuale Organisationsformen - leben also diese Organisationsformen des ländlichen Territoriums gemäß verschiedener Modalitäten und Abstufungen mit dieser Ordnung zusammen: steuerlich und rechtsprecherisch mehr oder weniger autonom, in einigen Bezirken einer mehr oder weniger langsamen Erosion ausgesetzt, andernorts voller Vitalität. Das städtische Bezirksnetz wird also mehr oder weniger schnell ausgebaut und mit unterschiedlicher Prägnanz; manchmal geschieht dies auch überhaupt nicht. 79 In Mailand hat man 1272 Kenntnis von der Verteilung der Salzquoten an die ländlichen Gemeinden; auch in Piacenza und Parma, wo noch 1249 Uberto Pallavicini von Friedrich II. mit den Salzgruben von Salso belehnt worden war, die Errichtung des Monopols durch diegemeindeist Ende des 13. Jahrhunderts anzusetzen (P. Castignoli, II monopolio del sale e Ia finanza dei comuni di Parma e di Piacenza, in: Bollettino storico piacentino, LXII, [1967), S. 20-25). Vgl. allgemein j. Le Gof/. La fiscalite du sei dans les finances des communes italiennes du Moyen Age, in: XIe congres des sdences historiques, Stockholm 1960;].C. Hocquet, Le seiet Je pouvoir de l'an Mil a Ia Revolution franr;:aise, Paris 1985). Die Untersuchungen, wenigstens was die meersalzsteuerpflichtigen Städte betrifft, sind im allgemeinen der Produktion und dem Handel gegenüber aufgeschlossener, als dem fiskalischen Gebrauch der Mittel, und wir sind noch relativ weit von einem vollständigen Bild entfernt. · 80 Nützliche Beiträge liefern bisweilen die dem Mittelalter gewidmeten Kapitel von Städtegeschichten, ein ,historiographisches Genre', das sich jüngst großer Beliebtheit erfreut: zu den Zentren, für die wissenschaftlich bedeutsame verlegerische Vorhaben in Vorbereitung (oder abgeschlossen) sind, sei an Pavia, Vicenza, Treviso, Piacenza erinnert, abgesehen von den in Anm. 6 angeführten romagnolischen Städten. 81 Wie in der Tat in jüngster Zeit dargestellt worden ist, bleibt nun einmal .,der Einfluß, den die verschiedenen Physiognomien und ,Wurzeln' der Beziehungen StadtTerritorien auf die Vorgänge des 13. und 14. Jahrhunderts ausgeübt haben können", eines der für die Geschichte der Beziehungen zwischen Stadt und Territorium in Mittel- und Norditalien - von Fall zu Fall zu klärenden - .,grundlegenden Probleme": P. Cammarosano, Citta e campagna: rapporti politici ed economici, S. 316.

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2. Die Mark Treviso im 13.-14. Jahrhundert: Erfolge und Rücleschläge bei der Durchführung der Bezirksorganisatiorf2 a) Die territoriale Ordnung der Mark in Abwesenheit von überlokalen Mächten (1260-1311) Die territoriale Neuorganisation Friedeichs II. in den 30er und 40er Jahren mit der Ernennung kaiserlicher Vikare in der Lombardei und in der Mark Treviso konnte nicht von langer Dauer sein83. Was die überstädtische Herrschaft Ezzelinos III. da Rarnano in den folgenden zwei Jahrzehnte (1239-1259 ca.) über Padua, Vicenza und Verona betrifft, haben jüngste Studien die traditionelle antiurbane Interpretation der ,Revanche' der ländlichen Kräfte über die Stadt zum Teil abgeschwächt8•. Wie Rolandino da Padova berichtet, wußte da Rarnano nur zu gut, wie wichtig es war "in werris et in discordiis habere communia civitatum" sowie die Stadtgemeinden und ihren Steuer- und Militärapparat zu kontrollieren. Die Gemeinde Verona macht beispielsweise in den 40er Jahren große Fortschritte in der Kontrolle des Bezirks; und laut Bortalami .macht sich die paduanische Gemeinde die Zentralisierungspraxis des ansonsten kritisierten Ezzelino zunutze". Schon diese Beobachtungen lassen einen annehmen, daß die Dynamik der Beziehungen zwischen Stadt und Bezirk nicht einmal in den mittleren Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts unterbrochen wird. Nach Ende der Herrschaft Ezzelinos 111. macht sich dann in der Mark Treviso besonders die Abwesenheit von auf regionaler Ebene handlungsfähigen Kräften bemerkbar. Venedig spielt in dieser Phase die Rolle eines reinen Friedensstifters und Garanten für die Stadtgemeinden, die sich erneut a popolo regieren. Das Reich ist abwesend, und die Auswirkungen des Kampfes zwischen Alfons von Kastilien und Rudolf von Habsburg in den 70er Jahren, die im Piemont, in der Lombardei und im Friaul deutlich verspürt werden, gehen an Venetien spurlos vorüber. Außerdem wurden die Möglichkeiten der großen Adelsgeschlechter mit vielen Schlössern 82 Die folgenden Seiten entwickeln einige Themen, die ich schon zusammenfassend behandelt habe (G.M. Varanini, Istituzioni, societa e politica nel Veneto da! comune alla signoria [secolo XIII-1329), in: A. Castagnetti I G.M. Varanini [Hrsg.J, II Veneto nel medioevo. Dai comuni cittadini al predominio scaligero nella Marca, Verona 1991, S. 263-422). Vgl. auch A . Castagnetti, La Marca Veronese-Trevigiana (secoli XI-XIV), in: Comuni e signorie neii'Italia nordorientale e centrale, S. 317-324 (die Arbeit datiert aus dem Jahr 1983). 83 Einige Hinweise in: G.M . Varanini, Federico II e le citta della Marca Trevigiana, in: ].C. Maire Viguezt I A . Paravicini Bagliani (Hrsg.), Frederick the Second and the Italian cities (International Seminar on Frederick II, 111 Sem. [Ettore Majorana Center for Scientific Culture, Erice 22-29 settembre 1991)), Palermo 1994, S. 46-62. 84 Hierin, sowie in Richtung einer Einschränkung der ,tyrrannischen' Dimension der Ezzelinischen Herrschaft auf die 50er Jahre, einig, scheinen mir die Untersuchungen über Padua, Verona und Vicenza, in: G. Cracco (Hrsg.), Nuovi studi ezzeliniani, und respektive zurückgehend aufS. Bortolami, G.M. Varanini (vgl. oben, Anm. 71) und A. Morsoletto.

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und reich an faktiöser Solidarität, auf überstädtischer Ebene einzugreifen, drastisch und endgültig reduziert, die ,.clare et excellentes domus" (so nannte sie Rolandino da Padova) der Mark Treviso: Nach dem Aussterben der da Romano (deren terre, Schlösser, Vasallen und masnaden sich die Stadtgemeinden nach 1259 untereinander aufteilten), nach der Vertreibung der Sambonifacio und der Beschränkung der Einflußsphäre der da Camino auf Treviso allein, begann sich besonders auf das paduanische Gebiet allein die (mehr patrimoniale als politische) Anwesenheit der Marchese von Este zu beschränken. Paradoxerweise haben Ereignisse, die außerhalb des Territoriums der Mark geschahen (wie die Eroberung Ferraras durch die Este 1240 und dann die Verherrschaftlichung Modenas 1264 mit der Verlegung des politischen Schwerpunktes der Familie in die Poebene), die politisch-territoriale Entwicklung in nicht zu unterschätzender Art und Weise gekennzeichnet85. Die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts ist so für Treviso, Verona, Padua und Vicenza ein ausschlaggebendes Moment der Ordnung der territorialen Gebiete. Das Schwinden der weltlichen Macht der Bischöfe entschärft an erster Stelle die komplexe Situation im östlichen Teil der Mark, wo im Verlauf von weltlicher und kirchlicher Bezirksbildung sehr starke Gleichgewichtsstörungen eingetreten waren86. Auch die verbleibenden Adelsfamilien, die gebiets- und nicht punktweise herrschaftliche Konstellationen kontrollierten87, und die sich oft eines ,stellungsbezogenen Einkommens' erfreut hatten, da sie an der Grenze zwischen zwei Grafschaften oder zwei Bistümern Wurzeln geschlagen hatten, werden nun dazu gebracht, endgültig und exklusiv nur mit einer einzigen Stadt zu sympathisieren und sind ,.leicht der städtischen Hegemonie einzuverleiben". Was Salimbene über einen Zweig der Pallavicino schreibt, der zwischen Parma und Vicenza zwei Eisen im Feuer hat (,.isti marchiones sunt, et elegerunt sibi duarum civitatum ad habitandum confinia") und das, was Galvano Fiamma über den großen Marchese Uberto in Erinnerung ruft (,.licet nullius urbis esset civis naturalis, sicut est mos nobilium, fuit tarnen civis adoptivus" von Bobbio, Parma, Cremona und Mailand88), läßt sich nun nicht mehr so einfach von den herrschaftlichen Familien Venetiens sagen. Das gleiche trifft auch für die Camposampiero zu, 85 Vgl. zum Thema die prägnanten Darlegungen von T Dean, Gli Estensi e Venezia come poli di attrazione nella Marca tra Due e Trecento, in: G. Ortal/i IM. Knapton (Hrsg.), lstituzioni societa e potere nella Marca trevigiana e veronese (secoli XIII-XIV). Sulle tracce di G.B. Verci. Atti del convegno, Treviso 25-27 settembre 1986 (Studi storici, fase. 199-200), Roma 1988, S. 369-376. 86 Das Territorium des Bistums Vicenza deckte sich zu einem Großteil mit der Grafschaft Padua; und der gebirgige Teil des Bistums Padua seinerseits mit der Grafschaft Vicenza. Nicht weniger komplex war die Situation in Treviso mit mehreren bischöflichen Sitzen auf dem Territorium. 117 Ich übernehme diese nützliche Unterscheidung von P. Cammarosano, La nobiltä del Senese da! secolo VIII agli inizi del secolo XII, in: Bullettino senese di storia patria, LXXXVI (1979), S. 16 ff. H11 Chronicon extravagans et Chronicon maius auctore Galvaneo Flamma ordinis praedicatorum scriptore mediolanensi, ab A. Ceruti nunc primum edita, in: Miscellanea di storia italiana, 7 (1869), S. 757.

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die nach Padua tendieren, für die Tempesta (Anwälte des Bischofs von Treviso) und in einem gewissen Sinn für die da Camino selbst, bezüglich auf Treviso; ähnliches läßt sich über die weniger wichtigen Familien sagen, wie die capitanei da Lendinara, die Verona verlassen und für Padua optieren und ihre herrschaftlichen Rechte abtreten89, oder auch für die noch einfacheren da Cresignaga, an der Grenze von Padua und Treviso beheimatet, die in Padua den Namen Alvarotti annehmen und so den Bezug zum Schloß verlieren90. Ein weiterer potentieller Störfaktor - also das politische Exil - ist alles in allem in Treviso, Vicenza und Verona relativ selten und in Padua bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts inexistent. All dies führt zu erneuten zwischenstädtischen Spannungen, die besonders von der starken Expansionsfähigkeit der Gemeinde Padua bestimmt sind (Unterwerfung von Vicenza, Aufnahme eines kleinen Zentrums von großer Bedeutung wie Bassano in den paduanischen contado, Krieg gegen Verona - beispielsweise um das Gebiet von Cologna Veneta, an der Grenze zwischen den Grafschaften Verona, Vicenza und Padua -, territoriale Expansion in Richtung auf das Gebiet des Podeltas mit dem Erwerb von Lendinara und Badia Polesine und in Richtung Verona mit dem Bau von Castelbaldo): Diese Kontraste polarisieren sich um den politischen aber auch kulturellen Dualismus zwischen dem ,guelfischen' Padua und dem ,ghibellinischen' Verona. Natürlich fehlt es auch nicht an anderen Expansionsversuchen, auch armata manu (man denke nur an die Beziehungen zwischen Treviso und dem Gebiet des Patriarchs oder an die Einfälle Paduas und Veronas in das Trentiner Territorium über das Sugana- und das Etschtal). Aber ist erst einmal die operative Fähigkeit der überstädtischen partes erschöpft oder hat deutlich und rapide abgenommen, bleibt den vier Stadtgemeinden die Möglichkeit, den Organisationsprozeß des eigenen Bezirks mit der beachtlichen Intensivierung der politisch-rechtsprecherischen und fiskalischen Aktion voran zu treiben. Erst nach 1311, in Folge des immer komplizierter werdenden politischen Kampfes auf europäischer Ebene (mit dem Einfall Heinrichs VII. von Luxemburg in Italien und dem guelfisch-päpstlichen hegemonischen Projekt), werden äußere politische Kräfte erneut erfolgreich auf dem Territorium der Mark agieren und die weiterhin latenten Kontraste zwischen Verona und Padua intensivieren, was zu der 30 Jahre währenden Krise 1310-1339 führt, mit dem prekären Erfolg und der schnellen Krise der Hegemonie der Scala über die Mark: Diese Kräfte sind einerseits die ghibellinischen politischen Exilanten, die sich um Cangrande I. gruppierte und dann in ganz anderer Form in den frühen 30er Jahren um Mastino II. della Scala, und andererseits die alpinen 89 Ein Hinweis in G.M. Varanini, La chiesa veronese nella prima eta scaligera. Bonincontro arciprete del Capitolo (1273-1295) e vescovo (1296-1298), Padova 1988, S. 139-148, mit Verweis auf die Untersuchungen von Hyde (insbesondere j.K. Hyde, Lendinara, Vangadizza e le relazioni fra gli Estensie il comune di Padova [1250-1320), in: Bollettino del Museo Civico di Padova, LII [1963], S. 3-36). 90 E. Cristiani, La consorteria da Crespignaga e l'origine degli Alvarotti di Padova, in: Annali deli'Istituto italiano per gli studi storici, I (1967-1968), S. 179 ff.

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Mächte (Friedrich der Schöne von Habsburg, Heinrich von Kärnten-Tirol)91 und zuletzt die Republik Venedig. Im großen und ganzen aber wird die im Gange befindliche Dynamik des Entstehungsprozesses des contado der Städte Venetiens zwar beeinflußt, verzerrt oder auch verlangsamt, aber nicht radikal in Unordnung versetzt. b) Verschiedene Wege zur Bezirksorganisation: Verona, Padua und Vicenza

Verona. In den verschiedenen Städten ist in Abwesenheit schwerer äußerer Störungen, also unter günstigen Bedingungen, auf die schon hingewiesen worden ist, der Organisationsprozeß des Bezirks erneut stark von inneren Faktoren geprägt worden, eben von den Dynamiken Stadt-contado, die im kommunalen Zeitalter zum Vorschein gekommen waren. In Verona ging es in den 70er Jahren unter der Volksregierung von Mastino I. nur darum, den Verwirklichungsprozeß der Oberhoheit der Stadtgemeinde zu krönen, der wie die Statuten von 1228 zeigen- um die 30er Jahre92 schon relativ ausgereift war, und der - wie schon angedeutet - unter der Herrschaft von Ezzelino weiter fortschreiten sollte93 . Das zeitliche Zusammenfallen der weltlichen und kirchlichen Bezirksbildung, das Fehlen von demographisch konsistenten und dem urbanen Zentrum gegenüber oppositionsfähigen Ansiedlungen im Bezirk, die Abhängigkeit eines Großteils der herrschaftlichen Gerichtsbarkeiten von städtischen kirchlichen Einrichtungen (Episkopat, Domkapitel und große Klöster), mit denen sie die großen Adelsfamilien oft auch kaufmännischer Herkunft seit dem frühen kommunalen Zeitalter belehnt hatten, hatten seit dem frühen 13. Jahrhundert zur verfrühten und rapiden Liquidierung der geistlichen Herrschaften geführt. Sie wurden in toto fast ohne Blutvergießen an die Stadtgemeinde abgetreten (im allgemeinen per Rückkauf von Rechten der Gerichtsbarkeit durch die Gemein91 Zu den im zweiten und dritten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts sehr wichtigen Aktionen dieser beiden, vgl. ]. Riedmann, L'area trevigiana e i poteri alpini, in: Storia di Treviso, S. 253-263, und G. Tabacco, La politica italiana di Federico il Bello re dei Romani, in: Archivio storico italiano, CVIII 0950), S. 3-77. 92 Es ist interessant, zu beobachten, daß die Rekonstruktion des Behauptungsprozesses der Autorität der Gemeinde von Verona auf dem Territorium, von L. Simeoni in einem Artikel aus den frühen 20er Jahren, der heute noch Gültigkeit hat (L. Simeoni, II comune veronese sino ad Ezzelino e il suo primo statuto, in dem Sammelband von demselben Autor: Studi su Verona nel medioevo, hrsg. von V. Cavallari, II [Studi storici veronesi Luigi Simeoni, X, 1960, Verona 19611, Stoff für die Überlegungen von Federico Chabod lieferte (der 1924 in einem bekannten historiographischenÜberblick darauf einging). Die Besonderheiten des ,Falls Verona', der im Italien der Poebene in Sachen Frühreife kaum andere Vergleichsgrößen hat, spielten meiner Meinung nach eine gewisse Rolle in einigen verallgemeinernden Verzerrungen Chabods, und sie führten ihn dazu, die volle städtische Behauptung im contado ein wenig vorzuverlegen. 93 G.M . Varanini, II comune di Verona, Ia societä cittadina ed Ezzelino III da Romano, S. 115-165.

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de, mit der Bürgschaft oder der Finanzierung der Stadtgemeinde). Ab 1207 wird beispielsweise der Bischof von Verona nur noch zwei der rund 20 Burgen haben, die er im 12. Jahrhundert besessen hatte; die herrschaftlichen Rechte des Klosters von S. Zeno werden für lange Zeit im 13. Jahrhundert, seit dem ezzelinischen Zeitalter, von der Gemeinde kontrolliert und werden dann - praktisch ohne Unterbrechung - unter die Kontrolle der Scala fallen. Die starke industrielle Entwicklung der Stadt9\ die beachtliche demographische Dichte95 sowie die radikalen Veränderungen der städtischen Gesellschaft im 13. Jahrhundert, die die Grundlagen der herrschaftlichen Wirtschaft selbst untergruben, gaben den Rest. Kurz gesagt: Abgesehen von dem politischen Regime des Ezzelino hielt das kulturelle Leben unter der Herrschaft des Mastino della Scala (1259-1277) und dessen Sohn Alberto della Scala (1277-1297) im großen und ganzen mit der allgemeinen Entwicklung Schritt. Im 13. Jahrhundert zeichnet sich folglich ein lineares Wachstum der Organisation des Stadtbezirks ab, ein Wachstum, das in den 70er Jahren (nach der Verdrängung der guelfischen politischen Opposition und der Konsolidierung der Macht der Scaliger) zur Reife gelangt. Zu den wichtigsten Aspekten dieser Situation gehören das städtische Alleinrecht der Kontrolle über die Burgen (das dann an die Scala fiel), die Verleihung der podesterie des Bezirks "ad brevia in consilio maiori", die Sicherheit an den Grenzen zu Mantua (auf Grund der so engen Allianz mit dem Mantua der Bonacolsi seit 1272) und dem Trentino (kraft der Signori ,di strada' der Alliierten Castelbarco im Etschtal96 , aber auch kraft eigener direkter Vertreter97), die endgültige Irrelevanz des guelfischen Exils98 sowie die engste politische Kontrolle der kirchlichen Einrichtungen und ihrer herrschaftlichen Rechte. Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, daß das Hügel- und Bergland, das in allen Bezirken des Voralpenraumes Unterschlupf und Nährboden für herrschaftliche und antistädtische Unruhen und Rebellionen darstellt, im Veroneser Bezirk des 13. Jahrhunderts fest in den städtischen territorialen Rahmen eingefügt ist und sogar im Gegen94 A. Castagnetti, Mercanti, societa e politica nella Marca Veronese-Trevigiana (secoli XI-XIV), Verona 1990, bes. S. 61 ff. 95 Zu einer neuen Untersuchung der Dokumentation vgl. G.M. Varanini, La popolazione di Verona, Vicenza e Padova nel Duecento e Trecento: fonti e problemi, in Druck (Atti del convegno di Cuneo, aprile 1994). 96 G.M. Varanini, I Castelbarco dal Duecento al Quattrocento. Punti fermi, e problemi aperti, in: E. Caste/nuovo (Hrsg.) , Castellum Ava. II castello di Avio e Ia sua decorazione pittorica, Trento 1987, S. 17-39. 97 1297 ist Tanduro Fidenzi, Mitglied einer Familie althergebrachter kommunaler Tradition, "vicarius in valle Lagari pro nobili et potenti milite domino Alberto de Ia Scala generali capitaney (sie) populi et comunis Verone", mit Sitz in der Burg Paldo bei Brentonico (Archivio Capitolare di Trento, b. 14, 28; 1297 aprile 10). 98 Bekannt ist das von Salimbene überlieferte Bild Ludovico Sambonifacios, Graf von Verona, der in den 80er Jahren des Jahrhunderts "ibat solus per mundum ... ", stolz, aber politisch impotent; und genauso bekannt ist, daß auch anläßlich der Italienreise Heinrichs VII. die Veroneser Welfen absolut keine Rolle spielten.

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teil in Sachen Steuer- und Getreideeinnahmen Sicherheit bietet99. Die Kontrolle Veronas über den Bezirk ist Ende des 13. Jahrhunderts so solide, daß jener partielle Zersetzungsprozeß, jenes Auseinanderfallen, das einige Entschlüsse der Herrschaft der Scala im Verlauf des 14. Jahrhunderts bedingen, ohne große Traumata ausgestanden werden können: die Schaffung einiger Grundherrschaften für ein Mitglied der Familie der Scala und später für einige Familien von Kollaborateuren 100, die begonnen wurden, ohne der Kompaktheit des Bezirks irreparable Schäden zuzufügen 101 ; die Politik der Steuerexemptionen für das riesige Vermögen (zum Großteil kirchlicher Herkunft), das sich in den Händen der herrschaftlichen fattoria angesammelt hatte. Andererseits macht das Dahinschmelzen der Privilegien der freien ville (wie eben Villafranca oder Palu) diese Entwicklung zum Teil wieder wett. Dies war der Auftakt zu einer neuen Phase tendenzieller Disziplinierung unter den letzten Scaligerherrschern (mit der Einrichtung von capitaniati, Gerichtsbarkeiten von Hauptleuten) und unter der Herrschaft der Visconti (1387-1404)1°2 • Sicherlich weist die Lage im Veroneser Bezirk Ende des 14. Jahrhunderts auf eine weniger feste Kontrolle 99 Zwei helVorstechende Beispiele hierfür finden sich in: G.M. Varanini, La Valpolicella da! Duecento al Quattrocento, S. 90 ff.; und ders., Note di storia medioevale (secoli IX-XIII), in: E. Tttrri (Hrsg.), Grezzana e Ia Valpantena, Verona 1991, S. 120-130. 100 Aus der eindeutigen Notwendigkeit, sich den Konsens der jüngst eingewanderten oder anerkannten militärischen Eliten zu bewahren, in der Phase großer militärischer Aggressivität die sich mit der 20-jährigen Herrschaft Cangrande I. della Scala und mit der ersten Phase der Herrschaft Mastino Il. della Scala deckt, bis zur Krise und der endgültigen territorialen Schrumpfung der Herrschaftsgebiete der Scala 1338. Die bekanntesten Beispiele sind die Schaffung der Grafschaft Valpolicella für Federico della Scala (ein Kapitel, in dem außerdem auch die direkten Beziehungen zwischen diesem einflußreichen mi/es und Heinrich VII. eine Rolle spielten: vgl. L. Simeoni, Federico della Scala conte di Valpolicella, in dem Sammelband desselben Autors: Studi su Verona nel medioevo, III [Studi storici Luigi Simeoni, XII, 1961), Verona 1962, S. 231-246; die Arbeit datiert aus den Jahren 1903-4), die Anerkennung der Vormacht der da Nogarole in dem Gebiet an der Grenze zu Mantua (vgl. G.M. Varanini, La .,curia" di Nogarole nella pianura veronese fra Tre e Quattrocento. Paesaggio, amministrazione, economia e societä, in: Studi di storia medioevale e di diplomatica, IV [19791. S. 45 ff.) und die Konzession der Rechtsprechung über die Burg an die Bevilacqua, die nach ihnen benannt war (G. Maroso, I Bevilacqua: da radaroli a milites, in: G.M. Varanini [Hrsg.). Gli Scaligeri 1277-1387. Saggi e schede raccolti in occasione della mostra storico-documentaria, Verona 1988, S. 135-142). 101 In dieser Hinsicht ist es sicher kein Zufall, daß Cangrande I. dem mächtigen Marquis Spinetta Malaspina in Vighizzolo, im Gebiet Paduas, herrschaftliche Rechte zugesteht und nicht im Veroneser Territorium (L. Castellazzi, Spineua Malaspina [1281 c.-1352) e i Malaspina di Verona nel Trecento, S. 125-134, mit Verweis auf die Untersuchungen von Dorini; A . Bartoli Langeli, Diplomi scaligeri, S. 77, beide in: G.M . Varanini [Hrsg.), Gli Scaligeri). 102 Zu diesen Themen sei mir der Verweis auf eine ältere und keineswegs mustergültige Arbeit von mir erlaubt: II distretto veronese nel Quattrocento. Vicariati del comune di Verona e vicariati privati, Verona 1980. Weiterhin von Nutzen ist eine der ersten Arbeiten von L. Simeoni, L'amministrazione del distretto veronese sotto gli Scaligeri. Note e documenti, im Sammelband desselben Autors: Studi su Verona nel medioevo, III, pp. 183-209 (schon einmal 1904 herausgegeben).

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hin, als man es angesichts der überstürzten und radikalen Veränderungen des 13. Jahrhunderts hätte erwarten können: Im 15. Jahrhundert werden (meistens in der Hand von Veroneser Patriziern, die solche iura von der Regierung Venedigs erworben hatten, oder von einigen in Verona ansässigen Condottieri) die privaten Vikariate zahlreicher, mit Rechten beschränkter Gerichtsbarkeit in Zivilsachen, die von der herrschaftlichen fattoria gehandhabt worden waren: Es überlebten auch einige geistliche Gerichtsbarkeiten und die ländlichen Grundherrschaften, die im 14. Jahrhundert für die Familien der Scala-Anhänger gegründet worden waren, die in einigen Fällen (wie Sanguinetto, eine Herrschaft der Da! Verme) mit der Siedlerischen und landwirtschaftlichen Aufwertung der niederen Ebene an Bedeutung zunehmen sollten. Es werden auch, obwohl sie langsam an Konsistenz einbüßen, wenigstens noch im 15. Jahrhundert einige Steuerprivilegien für die Berggemeinden, die Gemeinden der Valpolicella und der Gardesana überleben 103 . Es sollte aber nicht in jedem Fall die Substanz der über das Territorium ausgeübten städtischen Kontrolle insgesamt aufs Spiel gesetzt werden: So läßt sich der anscheinend paradoxe Ausgang erklären, der sich im späten Zeitalter Venetiens ergeben wird, als (im 17. und 18. Jahrhundert) das Veroneser Territorium - ein Territorium, und darauf ist immer wieder hingewiesen worden, das relativ früh von der Stadtgemeinde ,eingegliedert' worden ist - innerhalb des Staates der Terraferma zusammen mit dem Friaul weitaus das reichste an ,feudalen' Gerichtsbezirken zu sein scheint 1 o-~ .

Padua. Um vieles geradliniger verläuft auf lange Zeit gesehen die Entwicklung des paduanischen Bezirks. Seit 1200, wie es in einer Chronik heißt, .,iurisdictiones seu dominationes magnatum Padue accepte fuerunt per populares ipsius civitatis" und im Jahr 1204 wird bekräftigt, "accepte fuerunt pro comune Padue" 105 . Es ist nicht einfach, diese Entwicklung in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts nachzuvollziehen, auch wenn die progressive Eingliederung der schon den Este unterworfenen Territorien, wie Scodosia di Montagnana, in den Bezirk Paduas bestens bekannt ist, auch wenn die Anhaltspunkte über ,Handhabung' sowie die Fortschritte der Stadtgemeinde bei der Kontrolle im 103 G.M. Varanini, II distretto veronese, passim; und jetzt S. Zamperetti, I piccoli principi. Signorie locali, feudi e comunita soggette nello Stato regionale veneto dall'espansione territoriale ai primi decenni del '600 (Fondazione Benetton, Studi veneti), Venezia 1991, S. 121-148 (wo die Dokumentation aus den venezianischen Archiven in meine Untersuchung eingegliedert wird). 104 Vgl. G. Gullino, I patrizi veneziani di fronte alla proprieta feudale, in: Quaderni storici, XV (1980), 43, pp. 162-93; ders., Un problema aperto: Venezia di fronte al tardo feudalesimo, in: Studi veneziani, NF, VII (1983), S. 183-196. 105 Zum Erwerb der Kontrolle der herrschaftlichen Gerichtsbarkeilen in den Jahren 1200 und 1205 durch das populus paduamts, und zu einem politisch-institutionellen Gesamttableau der Gemeinde Padua in diesen Jahrzehnten, vgl. S. Bortolami, Fra "alte domus" e "populares homines": il comune di Padova e il suo sviluppo prima di Ezzelino, in: Storia e cultura a Padova nell'eta di sant'Antonio. Convegno internazionale di studi (1-4 ottobre 1981, Padova-Monselice) (Fonti e ricerche di storia ecclesiastica padovana, XVI), Padova 1985, S. 3-73.

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Bezirk in den mittleren Jahrzehnten des Jahrhunderts während der Herrschaft der Ezzelino einigermaßen erforscht ist: Das beweist unter anderem die Berufung eines städtischen Podestä nach Abano106, einige Maßnahmen Ezzelinos zugunsten der Zugehörigkeit von Grenzburgen zum Territorium von Padua, das Erlangen der Kontrolle über Monselice, camera imperii107 • Dennoch kam es erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit der Schaffung eines Netzes von Podesterien und Vikariaten und einer aufmerksamen Gesetzgebung gegen das Magnatenturn zu einer endgültigen Eingliederung. Die 1271 verabschiedeten Gesetzesnormen beschränken die Kompetenzen der "potestates vicarii et rectores locorum paduani districtus subiecti iurisdictioni comunis Padue" auf Schäden und Zivilprozeßsachen unter den Untertanen (bis zu 10 Lire). Eine Ausnahme hiervon bilden die Podestä von Bassano und Montagnana sowie andere, die wohl Sonderprivilegien genießen 108. 1276 wird das Wahlsystem perfektioniert und die Podestä werden ad brevia benannt, indem die brevia der wichtigsten Podesterien (Este, Conselve, Lonigo, Montagnana, Arquä, Rovolon, Monselice, Piove di Sacco 109) denjenigen reserviert werden, deren geschätzter Besitz mehr als 500 Lire beträgt, im Verhältnis zu den kleineren Podesterien (Corte, Campolongo Maggiore, Legnaro, Campagnalupia, Polverara, Camponogara usw.). Im ganzen gab es 27 kleinere Gerichtsbezirke. Ein Bild, das somit die stolze Behauptung der städtischen Statuten zu bestätigen scheint, wonach ,.die Stadt mit niemand anderem die ihr zustehende Oberherrschaft teilen kann", das auch auf die zu jener Zeit erfolgreich erzielte Abschaffung der rechtsprecherischen Vorrechte des paduanischen Episkopats verweist110 und das zuletzt auch auf den endgültigen (auf 1294 datierbaren) Erwerb der im südlichen Teil des Territoriums gelegenen Gerichtsbarkeiten der Este hin106 S. Bortolami, Per Abano medievale, in: Per una storia di Abano Terme, 1. Teil: Dall'eta preromana al medioevo, Abano Terme 1983, S. 169. Es handelte sich außerdem um einen engen Mitarbeiter Ezzelinos. 107 S. Bortolami, ,Honor civitatis': societa comunale ed esperienze di governo signorile nella Padova ezzeliniana, in: G. Cracco (Hrsg.), Nuovi studi ezzeliniani, S. 209 (zur umstrittenen Burg von Campreto), S. 228 (Monselice). 108 S. Collodo, II ceto dominante padovano, dal comune alla signoria (secoli XIIXIV), in: G. Ortalli I M. Knapton (Hrsg.), Istituzioni societa e potere nella Marca trevigiana e veronese, S. 25-39; und S. Collodo, Una societa in trasformazione. Padova tra Xe XV secolo (Miscellanea erudita, XLIX), Padova 1990, S. 137-147, mit großangelegter Bibliographie. Immer noch nützlich das Gesamttableau von j.K. Hyde, Padova nell'eta di Dante. Storia sociale di una citta stato italiana, Trieste 1985 (1. Aufl. 1966). 109 Den Podesterien von Monselice und Piove di Sacco, die je zwei Podesta haben, können sich nach ausdrücklichem Ersuchen weitere kleinere Gemeinden unterwerfen. 110 Hinweise zu den Beziehungen zwischen Gemeinde und Episkopat was die gerichtliche Rechte betrifft, in: P. Sambtn, Aspetti dell'organizzazione e della politica comunale nel territorio e nella citta di Padova tra il XII e il XIII secolo, in: Archivio veneto, LXXXV (1956), S. 1-5. Zu einigen äußerst beschränkten Überbleibseln von bischöflichen Vorrechten (die Bestätigung der Wahl der Gemeindebeamten) in einer nicht weit von der Stadt entfernten Gemeinde, vgl. S. Bortolami, Per Abano medioevale, s. 168. 9 Chiuulini I Willuwcil

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deutetl 11 . In Wirklichkeit haben die jüngsten Untersuchungen sowohl die noch starke signorile Präsenz im paduanischen contado als auch die nicht seltene Ausübung ländlicher und in einigen Fällen sogar territorialer Herrschaft aufgezeigt. Eine jüngste Untersuchung ist soweit gegangen, die Bewertung der gegen die Magnaten gewandten Gesetzgebung komplett umzustürzen, welche von der paduanischen Gemeinde unter Betonung der immer noch breiten Kompatibilität von Stadtgemeinde und Grundherren ausgearbeitet worden war, denen (1278) wichtige Kompetenzen in Sachen Festnahme von Banditen usw. übergeben worden waren112• Und tatsächlich war die Vitalität dieser herrschaftlichen Kräfte noch während der Krise der paduanischen Gemeinde zu Beginn des 14. Jahrhunderts sichtbar113• Aber der institutionelle Rahmen, den die Gemeinde in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts aufgesetzt hatte, sollte sich endgültig in den zentralen Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts unter der Herrschaft der Carrara füllen, als die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt114 von innen heraus die Gebiete herrschaftlichen Widerstandes sozial und wirtschaftlich erstickte (beispielsweise in den Euganeischen Hügeln). Ungefähr seit 1340 werden die Zuständigkeitsgebiete der Podestä und Vikare festgelegt115 und durch eine besondere Auswahl unter den Sitzen der Gerichtsbarkeiren des contado nimmt jene geordnete Aufspaltung in Podesterien und Vikariate Gestalt an, die uns die Quellen des späten signorilen Zeitalters präsentieren und die 111 In den vorausgegangenen Jahrzehnten waren die Rechte der Este im Grunde genommen anerkannt worden von der Stadtgemeinde, die bis zum Ende des 13. Jahrhundert dem Marquis alliiert war; die Konflikte entsprangen dem expansiven Herrschaftsdrang Paduas im Süden des Territoriums. Den Este verblieben jedoch umfangreiche Besitzungen: vgl. A.L. Trombetti Bttdriesi, Beni estensi nel Padovano (da un codice di Albertino Mussato del 1293), in: Studi medievali, 3. Folge, XXI (1980), S. 141-217. 112 S. Collodo, II ceto dominante padovano, dal comune alla signoria, S. 29. Per aleuni spunti di discussione su questo problema, vgl. G.M. Varanini, Istituzioni, societä e politica, S. 352-353. 113 S. Collodo, Una societä in trasformazione, S. 169-191 (Kap. VI: "Padova e gli Scaligeri", schon 1988 veröffentlicht). Die Rechtsprechung über Camposampiero (dann 1340 von Ubertino da Carrara übernommen) wurde beispielsweise seither an von der gleichnamigen Familie ausgeübt (S. 190, Anm. 45). 114 Ebd., S. 329-403 (Kap. X: "Signore e mercanti: storia di un'alleanza", schon 1987 veröffentlicht). 115 Als 1339 aus Anlaß einer ausgiebigen Revision der Materie unter der Podesterie von Marino Falier auch vorhergehende Normen (1305) wieder aufgegriffen werden (es handelt sich um wichtige Jahre, was die endgültige Konsolidierung der herrschaftlichen Vorrangstellung anbelangt), wird bestätigt, daß der Podestä der Gemeinde Padua die Kompetenz hat, die Arbeitsweise von Podestä und Vikaren des Bezirks zu prüfen, "dummodo non possit uti prohibere" von der ihnen vom dominus Carraras zugestandenen Jurisdiktion. Bei dieser Gelegenheit wird festgelegt eine Obergrenze von 3 Lire für den Großteil der Rechtsprecher des contado, von 5 Lire für jene von Este und Monselice und von 25 Lire für jene von Bassano und Montagnana festgelegt. Die Verfügung wird zitiert von: M .A. Zorzi, L'ordinamento comunale padovano nella seconda meta del secolo XIII. Studio storico con documenti inediti, in: Miscellanea di storia veneta edita per cura della regia Deputazione veneta di storia patria, 4. Folge, V, Venezia 1931, S. 98, der es jedoch fälschlicherweise auf 1359 datiert.

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die venetische Herrschaft zu Beginn des 15. Jahrhunderts erben wird. Auch die Überbleibsel der ekklesiastischen Herrschaften werden inzwischen ganz und gar von den domini kontrolliert116• Eine Wortwendung, die in den Stadtstatuten auftaucht, auf zwischen 1366 und 1374 datierbar, zeigt diesen Prozeß als inzwischen fast abgeschlossen. Ein Dekret von Francesco il Vecchio, das die Zuständigkeiten der Richter des Bezirks auf eine gewisse Anzahl von Bereichen beschränkt und andere Verhaltensnormen festlegt, ist an die Podestä von Piove di Sacco, Montagnana, Cittadella, Monselice, Este und an die Vikare von Teolo, Arquä, Colseve und Castelbaldo gerichtet117 : Es handelt sich im Grunde genommen um die Stellen, die (jeweils von venezianischen Podestä und paduanischen Vikaren) durch das gesamte venezianische Zeitalter hindurch (ab 1406) besetzt werden, und das Netz der Gerichtsbarkeiten erscheint 1397 beinahe vollständig (fünf Podesterien, sieben Vikariate)118• Es gilt auch festzustellen, daß in Padua jene Gegentendenz zur Schaffung oder Anerkennung privilegierter Spielräume (neue Grundherrschaften, Steuerfreiheit für den herrschaftlichen Besitz) nicht lautstark zum Ausdruck kommt, die für das Verona der Skala gerade so gut dokumentiert ist. Die Exponenten der herrschaftlichen Entourage werden hier an die Spitze von Grundherrschaften in peripheren Gebieten des carraresischen Einflußgebietes gesetzt (wie die Lupi di Soragna in das Territorium von Primiero in der Diözese von Feltre, an der Grenze zum Trentino). Wenig und von geringer Bedeutung werden die vulnera sein, die dieser Ordnung im venezianischen Zeitalter zugefügt werden119; die Unterscheidung zwischen von Venezianern besetzten Podesterien und Vikariaten wird unverändert bleiben. 116 Vgl. beispielsweise V. Lazzarini, Due documenti per Ia storia della Rocca edel Castello di Pendice, in: Nuovo archivio veneto, NF, XXXI (1916), S. 376-377 Oahr 1350: es handelt sich um eine bischöfliche Burg lacopo und lacopino da Carrara anvertraut). 117 D. Gallo, L'epoca delle signorie. Scaligeri e Carraresi 0317-1405), in: A. Rigon (Hrsg.), Monselice. Storia, cultura e arte di un centro ,minore' del Veneto, Treviso 1994; der Text entspricht den Anm. 27 und 28; vgl. auch V. Lazzarini, Due sigilli di Francesco Novello da Carrara, nella sua raccolta di saggi Scritti di paleografia e diplomatica, a cura di colleghi, discepoli, ammiratori, Venezia 1938, S. 241, (2. Auf!. 1969). 118 Sitz von Podestä sind Piove di Sacco, Monselice, Este, Montagnana, Cittadella; Sitz von Vikaren Mirano, Camposampiero, Oriago, Carrara, Conselve, Arquä, Teolo (S. Collodo, Padova nel Trecento, in: Padua sidus preclarum. I Dondi dali'Orologio e Ia Padova dei Carraresi, Padova 1989, S. 152). Im 15. Jahrhundert werden Castelbaldo und Camposampiero Sitz einer Podesterie (besetzt von Venezianern) und auch Anguillara wird Sitz eines Vikariats, während Carrara verschwindet (also sieben Podesterien und sechs Vikariate; vgl. auch A. Gloria, Dell'agricoltura nel Padovano. Leggi e cenni storici, II, Teil II, Padova 1855, S. CCCLXII-CCCLXIV). 119 Es läßt sich beispielsweise die ,Wiedergeburt' der ehemaligen Jurisdiktion der Este in der unteren Poebene verzeichnen, die von der venezianischen Familie der Pisani 1468 erworben wurde (R. Gallo, Una famiglia patrizia. I Pisani ed i palazzi di S. Stefano e di Stra, in: Archivio veneto, LXXIV [1945), S. 72; G. Gullino, I Pisani dal Banco e Moretta. Storia di due famiglie veneziane in etä moderna e delle loro vicende patrimoniali tra 1705 e 1836 Utalia e Europa. Cultura, economia e stato), Roma 1984, S. 70-72).

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Vicenza. Unter vielen Aspekten ist die vom vicentinischen Bezirk beschriebene Parabel der des paduanischen ähnlich. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts war die hauptsächlich vom Adel kontrollierte Stadtgemeinde nicht in der Lage gewesen, die Schwierigkeiten des Bischofs, des hegemonialen Herren, zu ihrem Vorteil auszunutzen120• Die Schwäche der Stadtgemeinde war auch in den 60er Jahren des 13. Jahrhunderts augenscheinlich geworden, als sie nach wenigen Jahren politischer Unabhängigkeit (zwischen 1259 und 1267) der Gemeinde Padua unterworfen wurde und ihr Bezirk den gewichtigen Verlust von Bassano hinnehmen mußte, das mit allen steuerlichen und rechtlichen Folgen dem paduanischen Bezirk zugeschlagen wurde121 . Andererseits war die altüberlieferte Machtgrundlage der da Romano- wenngleich seit 1175 der Gemeinde Vicenza unterworfen und wenngleich im Prinzip in die Liste der 222 ville des vicentinischen Bezirks enthalten 122 - in Wirklichkeit nie von Vicenza abhängig gewesen. Trotzdem erscheint ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Behauptung der Stadtgemeinde im Bezirk zwar langsam und angefochten, gleichwohl aber relativ zielstrebig. Sie wurde in der kurzen Zeitspanne politischer Autonomie mit der Abfassung des Regestum possessionum communis Vicentie (1262) und gleich darauf der Stadtstatuten (1264) besiegelt. Beide Texte enthalten, nach Quartieren organisiert, die Liste der geforderten ville, auf die der districtus der Stadt Anspruch erhob und die nur sehr bruchstückhaft wirklich unter dessen Kontrolle waren. Sie stellen wie anderswo ein Ziel der politischen Aktion der Gemeinde dar, einen Ausgangspunkt eher als ein erreichtes Ziel. Nach wohlbekannten Klischees fährt die vicentinische Gemeinde in den folgenden Jahrzehnten fort, herrschaftliche Machtsphären - und sei es auch in differenzierter Art und Weise - zu respektieren, aber sie höhlt progressiv einige dieser Aspekte aus; besonders im erbitterten Streit um die Kontrolle der zahlreichen Gerichtsbarkeiren des Episkopats123• Die Methoden gehören zu den verzweifeltsten (Burgen wie Piovene und Montecchio werden "de bonis confiscatis ratione heretice pravitatis"; Güter werden von den da Romano zuürckerlangt; Geldkäufe usw.)124 . Die progressive Be120 G. Cracco, Da comune di famiglie a ,citta satellite', in: Storia di Vicenza, li: II medioevo, hrsg. von G. Cracco, Vicenza 1988, S. 84-85. 121 Vgl. S. Bortolami, La difficile ,liberta di decidere' . II comune di Bassano. 122 Vgl. oben, Anm. 23. 123 Zu Beginn des 14. Jahrhunderts waren dem Episkopat nur wenige Burgen verblieben (Barbarano, Brendola), genau wie in anderen paduanischen Diözesen (wo die Bischöfe noch lange, auch im 14., 15. Jahrhundert, einige ,repräsentative' herrschaftliche Gerichtsbarkeiten behalten): G. Fasoli, Le temporalita episcopali, in: G. De Sandre Gasparini I A . Rigon I F.G.B. Trolese I G.M. Varanini (Hrsg.), Vescovi e diocesi in Italia da! secolo XIV alla meta del secolo XVI. Atti del VII convegno di storia della chiesa in Italia (Brescia, 21-25 settembre 1987) (Italia sacra. Studi e documenti di storia ecclesiastica, 44), II, Roma 1990, S. 768-769. 124 Hierzu N. Carlotto, La citta custodita. Politica e finanza a Vicenza dalla caduta di Ezzelino al vicariato imperiale (1259-1312) (Gli Studi, 3), Milano 1993, S. 17-101 ("La sovranita cittadina e il dominio del distretto"; vgl. außerdem die topographische Karte auf den S. 220-221, "Sopravvivenza di diritti signorili nel distretto vicentino [seconda meta del XIII secolo]").

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hauptung der Stadtgemeinde in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts betrifft dennoch hauptsächlich die Ebene und die Colli Berici: In den voralpinen Tälern Vicenzas bleiben die herrschaftlichen Familien (die Arzignani im Chiampo-Tal, die Trissino im Agno-Tal, die Maltraversi im Leogra-Tal und die Velo im Astico-Tal) fest im Sattel und kontrollieren masnade und Burgen, die sie in die Lage versetzten, noch in der delikaten Phase des Krieges zwischen Verona und Padua von 1311-1329 eine aktive Rolle in der Politik zu spielen (und in einigen Fällen im Krieg gegen die Scala von 1336-1339). Im Verlauf des von den Scala geprägten 14. Jahrhunderts (Vicenza ist 1312 an Verona gefallen) bildet sich langsam ohne systematisches Programm Fall für Fall und Ortschaft für Ortschaft das Netz der Vikariate und Podesterien heraus (offensichtlich um die bevölkerungsreichsten Zentren konzentriert), die zuerst von Beamten der Scala und dann von vicentinischen cives besetzt werden125. Dieser Prozeß wird auch indirekt von den Vorschriften der Scala gefördert, die (wenigstens theoretisch) die Zerstörung der herrschaftlichen Burgen anordnen126; aber in der Hauptsache ist er mit dem Zusammenbruch der herrschaftlichen Ordnung des Hügellandes und der vicentinischen Berge verbunden. Die ländliche Wirtschaft des Hügellandes steht im Wandel; es beginnt die Ausrichtung der Adelsfamilien in Richtung Stadt. So ist es natürlich, daß sich die städtisch administrativen und steuerlichen Einrichtungen konsolidieren und die öffentlichen Bezirke definiert werden. Unter privater Rechtsprechung bleiben im vicentinischen Territorium nur einige kleine Vikariate von vernachlässigenswerter Bedeutung127• Von größerer Bedeutung sollten hingegen auch im 15. Jahrhundert die Spannungen zwischen der Gemeinde Vicenza und den von Mauern umgebenen Zentren werden, die Sitz von Podesterien (Lonigo und Marostica) waren, die von venetianischen Patriziern verwaltet werden sollten. Der Fall Vicenzas ist also derjenige einer Stadtgemeinde, die sich die eigene Autorität in einem Bezirk aufbaut, der politisch einer äußeren Autorität untersteht. Zu den Gründen, die die vicentinische Oberschicht dazu führen, diesen Abhängigkeitsstatus zu akzeptieren, gehört der Respekt der städtischen Prärogativen über den contado. In Vicenza herrscht mit anderen Worten verfrüht das ungeschriebene Abkommen, das die Beziehungen zwischen herrschender und beherrschter Stadt in den Regionalstaaten des 15. Jahrhunderts regeln wird. Die jüngsten Untersuchungen, die sich mit dem 15. und 16. Jahrhundert befassen, bestätigen voll und ganz die Reife und Unumstößlichkeit der Orga125 G.M. Varanini, Vicenza nel Trecento. Istituzioni, classe dirigente, economia (1312-1404), in: Storia di Vicenza, II: Ilmedioevo, S. 172-181 ("II processo formativo

dei vicariati vicentini"). Für eine Analyse dieses Prozesses auch am Fall einer einzelnen Gemeinde (Altavilla Vicentina), vgl. auch A. Morsoletto, Pieve e castelli, c01nuni e vassalli allimitare della coltura urbana di Vicenza, Vicenza 1990, S. 171-176. 126 A. Castagnettt, La Marca Veronese-Trevigiana, S. 163. 127 Eines hiervon ist Bagnolo bei Lonigo, kaiserliches Lehen von Alvise Dal Verme (1387), das im 15. Jahrhundert an den vicentinischen Zweig der Nogarole überging und im folgenden Jahrhundert an die Pisani aus Venedig ( G. Gullino, I Pisani dal Banco e Moretta. Storia di due famiglie veneziane, S. 30-33).

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nisation, die im Verlauf des 14. Jahrhunderts von den paduanischen und vicentinischen Bezirken erreicht worden war, abgesehen von einigen ganz und gar nebensächlichen Episoden, .sporadischen und bisweilen vorübergehenden Ausnahmen" im Zusammenhang mit einigen Investituren Friedeichs III. im Vicentino oder mit den Zugeständnissen der venetischen Regierung an seine Hauptleute (wie 1483 die Belehnung von Roberto Sanseverino mit Cittadella). Es ist von großer Bedeutung, daß für die führende Schicht Trevisos im 15. Jahrhundert die Organsiation der Bezirke Padua und Vicenza Modellcharakter besitzt128. Und es ist sicherlich kein Zufall, daß eine der wenigen auf dem Territorium Paduas in der Neuzeit überlebenden privaten Gerichtsbarkeiten, jene der venezianischen Familie der Pisani in Solesino und Boara Pisani, auf der Erneuerung alter, mit der Gerichtsbarkeit der Este verbundener Vorrechte gründet 129. Es ist zuletzt alles andere als überflüssig, hier daran zu erinnern, daß im Fall von Vicenza (und von Verona) - im Unterschied zu dem was in Padua geschieht, dessen Territorium (zusammen mit Treviso) seit Jahrhunderten aus augenfälligen geographischen Motiven eine der bevorzugten Zielscheiben der venezianischen Lehensanhäufung war und es im 15. Jahrhundert nach der politischen Unterwerfung130 immer mehr sein wird - der Stadtbezirk auch das privilegierte Expansionsgebiet der auf Grundbesitz gerichteten Interessen der städtischen Oberschichten bleibe 31 . Vgl. unten, Anm. 143. S. Zamperetti, I piccoli principi, S. 93-108 für den Bezirk Vicenza und 109-121 für den Bezirk Padua (S. 109 für das Zitat). 130 L. Ling, La presenza fondiaria veneziana nel Padovano (secoli XIII-XIV), in: G. Ortalli I M. Knapton (Hrsg.), Istituzioni, societa e potere nella Marca trevigiana e veronese, S. 305-320. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts sollte über ein Drittel der terre des Bezirks Padua den Venezianern gehören, wie Grubb in der in der folgenden Anm. angeführten Untersuchung betont. Die grundherrschaftlich venezianische Ausdehnung, mehr noch als der Verlust der Kontrolle über die Podesteeiern des Bezirks, sollte die Beziehungen zwischen Padua und Venedig für immer vergiften (an dieser Stelle genügt es, noch für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts anzuführen, M. Berengo, Padova e Venezia alla vigilia di Lepanto, in: Tra latino e volgare. Per Carlo Dionisotti [Medioevo e umanesimo, 17], Padova 1974, S. 27 ff.). 131 Für Verona liegt eine Wende dieses Prozesses Beginn des 15. Jahrhunderts im Verkauf des enormen schon von der signorilen fattoria verwalteten Grundbesitzes (der Scala und Visconti), der fast vollstandig von Veroneser Patriziern erworben wird: vgl. G. Sancassani, I beni della ,fattoria scaligera' e Ia loro liquidazione ad opera della repubblica di Venezia (1406-1417), Verona 196o. Die außerordentliche Wichtigkeit dieses Komplexes und seiner Auflösung für die Geschichte dieser Stadt war schon in einer vergessenen Seite eines großen Kenners der Geschichte der paduanischen Herrschaften des 14. Jahrhunderts aufgezeigt worden: F. Cognasso, Le origini della signoria lombarda, in: Archivio storico lombardo, LXXXIII (1956), S. 14. Was Vicenza betrifft, wird die Beschränkung der venezianisch-grundherrschaftliehen Durchdringung im 15. Jahrhundert bestätigt von]. Gntbb, Firstborn in Venice. Vicenza in the Early Renaissance State (The John Hopkins University Studies in Historical and Political Science, 106th Series, 3), Daltimore I London 1988, S. 169; zum Gesamtproblem der Ausdehnung des venezianischen Besitzes, das nicht ohne Gegenschläge ausgehen konnte auf die Ver128

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c) Der Zusammenbruch Trevisos Auf verschiedenen Wegen, in unterschiedlichen Zeiten und mit zum Teil unterschiedlichen Ausgängen erlangen so drei der wichtigsten Städte der Mark bis zum Ende des 14. Jahrhunderts eine relativ feste Kontrolle über den eigenen Bezirk unter dem rechtsprechenden und steuerlichen Gesichtspunkt, auch über die tiefgreifenden sozialen Umwälzungen auf dem Land 132. Eindeutig verschieden präsentiert sich im selben Zeitraum die Parabel des Bezirks Treviso. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts hatte diese Gemeinde, ausgehend von einer festen Übereinstimmung des Land- und Stadtadels mit dem Episkopat, eine weise Politik der cittadinatici (bewundernswert festgehalten in ihrem liber iurium) verfolgt: feudale Zusammenschlüsse mit dem Adel des friaulischvenetischen Gebiets und militärische Aggression in Richtung der Gebiete von Feltre und Belluno sowie des Friaul ohne städtische Hegemonie. Wie aber treffend bemerkt wurde 133, war die Herrschaft der Gemeinde Treviso ein Riese mit tönernen Füßen, und darin ist die Lage derjenigen gewisser emilianischer Städte wie Reggio und Modena vergleichbar. In ihrem Bezirk, dem Bezirk einer demographisch unbedeutenden und wirtschaftlich wenig dynamischen Stadt, bleiben die Grundlagen der herrschaftlichen Gewalt, die in den Statuten respektierten Burgen und masnad€P\ im 13. Jahrhundert intakt. Dies gilt nicht nur für die Anwalts- oder Grafenfamilien, denen die komplexe Verflechtung zwischen weltlicher und kirchlicher Bezirksorganisation des östlichen Venetien, mit der Einmischung mehrerer Diözesanterritorien (Padua, Vicenza, Ceneda, Belluno abgesehen von Treviso) in den Bezirk Treviso, mehrfache Treuebeziehungen erlaubt und ausgezeichnete Chancen bietet, sondern auch für eine Unmenge kleiner Geschlechter. Deshalb kann die Stadtgemeinde, in der der Landadel noch eine hegemoniale Rolle spielt, sehr wohl in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts während des glücklichen Vierteljahrhunderts nach der Herrschaft der da Romano (von 1259 bis 1283 als sich die Herrschaft des "buon Gherardo" da Camino durchsetzt), sichtbare Erfolge verzeichnen, indem sie ohne Waffengewalt die Kontrolle waltung der Bezirke, besonders in Steuersachen, sei es mir jedoch erlaubt zu verweisen, auf meinen Beitrag in dem in Druck befindlichen Band über das 15. Jahrhundert in: "Storia di Venezia" (hrsg. von U. Tucci und A. Tenenti). 132 Aus den vicentinischen, veronesischen und paduanischenQuellen des 14. und 15. Jahrhunderts, verschwinden die Ausdrücke gentilitas, Landadel, und die Gegenüberstellung von nobiles und rttstici in den ländlichen Gemeinden ganz. 133 G. Biscaro, II comune di Treviso e i suoi piu antichi statuti fino al1218, 0903); der Expansionsprozeß der Gemeinde Treviso wird unter neuem Licht betrachtet von: D. Rando, Dall'eta del particolarismo al comune, S. 72 ff., und im selben Band (Storia di Treviso, II: II medioevo) den Beitrag von R. Härte/, II comune di Treviso e l'area patriarchina (secoli XII-XIV), S. 213-241 zur Expansion in Richtung des Friauls. 134 Ein vielsagendes Beispiel wird angeführt in: P. Cammarosano, Le campagne nell'eta comunale (meta sec. XI - meta sec. XIV) (Documenti della storia, 7), Torino 1974, S. 53-55 ("1 diritti signorili nello Statuto del comune di Treviso").

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über die zahlreichen Burgen des Episkopats erlangt, dessen komplexer feudal-vasallischer Apparat schnell zusammenfälltm. Sie kann sehr wohl eine moderate, gegen die Magnaten gerichtete Gesetzgebung einführen, kann das Netz der Garnisonen und die legislative Eingliederung perfektionieren"6. Und sie kann schließlich bedeutende Verbesserungen in Steuersachen einführen. Aber sie führt keine Politik, die die Grundlagen der institutionellen und sozialen Organisation im contado umstürzt, und kann dies auch gar nicht. Dies wird auch in den folgenden Jahrzehnten die Herrschaft der da Camino nicht tun. Es handelt sich hierbei um eine der bedeutendsten herrschaftlichen Familien der Region, die die eigene Autorität über ein ausgedehntes Gebiet vom Cadore bis zur Adria ausdehnte, über Gebirgsgemeinden 137, über mehrere Bischofsstädte (Treviso, Feltre, Belluno und Ceneda) und halbstädtische Zentren (Conegliano). Als "typisches Produkt eines auf ländliche Burgen gestützten Landadels"B8 , errichten sie in Treviso eine Herrschaft, die nicht wirklich als städtisch definiert werden kann, so daß die wichtigsten und qualifizierendsten Grundlagen ihrer Macht ganz und gar nicht in Treviso liegen139• Gherardo und später Rizzardo da Camino können keine kohärente antisignorile Politik entwickeln, da die Grundlagen ihrer Macht die Burgen des Hügel- und Berglandes sowie die Lehensbeziehungen sind, die sie weiterhin mit den herrschaftlichen Familien der venerischen und friaulischen Voralpen unterhalten; auch ist ihre Weltanschauung im allgemeinen nicht städtisch sondern aristokratisch-herrschaftlich 140• 135 G.M. Varanini [in Zusammenarb. mit A. Micbielin], Istituzioni, societa e potere a Treviso tra comune, signoria e poteri regionali (1259-1339), in: Storia di Treviso, II: II medioevo, S. 144-146; G. Biscaro, Le temporalita del vescovo di Treviso dal secolo IX al XIII, in: Archivio veneto, 5. Folge, LXVI (1936), S. 66-67, 71-72 und passim. 136 Zur Liste der von der Gemeinde Treviso besetzten 16 Burgen und der 4 Pässe Ende des 13. und Beginn des 14. Jahrhunderts (in einem prekären Gleichgewicht zwischen den Kompetenzen der Stadtgemeinde und jenen von Gherardo da Camino, dem Herren der Stadt) vgl. die Anmerkungen von A. Michielin in der vorausgehend angefühnen Untersuchung, in: Storia di Treviso, II: II medioevo, S. 174-175; bedeutende Dokumente in: A. Marcbesan, Treviso medievale. Istituzioni, usi, costumi, aneddoti, religiosita, Treviso 1924 (anast. Druck Bologna 1977, hrsg. von L. Gargan), S. 401-402, 408-410. 137 S. Collodo, II Cadore medievale verso Ia formazione di un'identita di regione, in: Archivio storico italiano, CXLVI (1987), S. 360 ff., 372 ff. 138 G. Tabacco, L'Italia delle signorie, in: Signorie in Umbria tra Medioevo e Rinascimento: l'esperienza dei Trinci (Congresso storico internazionale, Foligno 10-13 dicembre 1986), Perugia 1989, S. 19-20. 139 Es ist kein Zufall, daß schon Picotti, im Titel seiner Monographie, einen allgemeinen Ausdruck (,ihre Herrschaft in Treviso') vorzog und nicht von ,städtischer Herrschaft' sprach ( G.B. Picotti, I Caminesi e Ia loro signoria in Treviso. Appunti storici, Livorno 1905 [anast. Druck hrsg. von G. Netto, Roma 1975]). 110 Zur Politik der da Camino zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert, abgesehen von den in Anm. 133 und 135 angeführten Untersuchungen, vgl. R. Härte/, II comune di Treviso e l'area patriarchina, bes. S. 227-234.

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Wir stehen hier also vor einer fehlgeschlagenen Entwicklung. Die intime, strukturelle Schwäche der territorialen Konstruktion Trevisos wird in den ersten Jahren des 14. Jahrhunderts augenscheinlich, als nach dem Fall der Signoria der da Camino (1313) in der endgültigen Krise der kommunalen Einrichtungen nicht nur die Konsolidierung der bedeutendsten Grundherrschaften (beispielsweise die gräfliche Familie der dei Collalto) zustande kommt, sondern auch die ,territorialen' Ambitionen vieler herrschaftlicher Familien voll zum Tragen kommen. Es gelingt ihnen noch exercitus zu mobilisieren und sicher kontrollieren sie die ihnen - paradoxerweise - von der Stadtgemeinde zur Verteidigung anvertrauten Burgen, welche diese exercitus mit verräterischer Haltung "ad sua castra" schickt ("sua castra", wohlgemerkt, wie vor hundert Jahren!). So verwundert es also nicht, daß die Gemeinde Treviso in dem Moment, wo sie endgültig ihre politische Unabhängigkeit verliert•~•, sehr leicht der Kontrolle über den eigenen Bezirk beraubt werden kann. Die Ergebnisse des späten 14. Jahrhunderts sind in dieser Hinsicht vielsagend. Die venezianische Regieru:1g wird 1338 nach der Eroberung der Stadt die wichtigsten Burgen des Territoriums von Treviso (Asolo, Castelfranco, Noale, Mestre, Serravalle, Conegliano, Oderzo, Motta di Livenza und Portabuffole) mit eigenen Podestä besetzen, die alle gegenüber der Stadt mit großer Autonomie ausgestattet sind, und wird die Bezirksaufteilung in Viertel zugunsten einer anderen in acht Regionen aufgeben 142. Ein im 15. Jahrhundert unternommener Versuch, das Territorium der Podesterien von Treviso neu zu strukturieren, indem diese in Vikariate aufgeteilt wurden, die ihrerseits Bürgern Trevisos unterstehen sollten, wird ohne Folgen bleiben143• Außerdem wird die Republik im Gebiet des Piave die Grundherrschaften zu einem Großteil bestehen lassen, zuvorderst jene der Collalto144 , die lange (seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts) eher recommendati als Untergebene waren, und jene (die sie außerdem über die Investitur des Bischofs von Ceneda 1337 erworben hatte) von Serravalle, Cordignano, Valmareno (diese letzte hatte im 14./15.Jahrhundert Marino Falier in der Hand, Ercole da Camino und zuletzt der Hauptmann des venezianischen Heeres Tiberio Brandolini 111 Die Stadt war in den 20er Jahren unter der Kontrolle Heinrichs von KärntenTirol, und von 1329 bis 1337 der Scala; seit 1339, der Republik Venedig (mit den kurzen Unterbrechungen der Habsburger Herrschaft zwischen 1381 und 1384 und jener Carraras zwischen 1384 und 1388). 142 A . Castagnetti, La Marca Veronese-Trevigiana, p. 324; G. Dei Torre, II Trevigiano nei secoli XV e XVI, S. 35-42, auch für die anfängliche Stabilisierungsphase. 143 Man hat vor, Vikare zu wählen, "sicut sunt in villis paduani et vicentini territorii qui redderent ius a libris decem infra": vgl. Archivio di Stato di Treviso, Comune, b. 46, reg. A (Extraordinariontm), f. 42r Oahrgang 1439), sowie G. Dei Torre, II Trevigiano nei secoli XV e XVI, S. 27-33. 111 P.A . Passolungbi, I Collalto. Linee, documenti, genealogie per una storia del casato, Treviso 1987; ders., Da conti di Treviso a conti di Collalto e S. Salvatore: presenza politica e impegno religioso della piu antica famiglia nobiliare trevigiana, in: Atti e memorie deli'Ateneo di Treviso, I (1983-84), S. 22-24 ff.

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d'Adda, dessen Familie sie bis ins 18. Jahrhundert kontrollierte). Für einige Zeit behielten auch in Noale, in der Ebene, die Tempesta (ein altes ruhmreiches Geschlecht bischöflicher Anwälte) die eigenen Vorrechte. Noch fehlte es im Grenzgebiet zwischen dem Trevigiano und dem Bellunese (Cesana, Zumelle)145 an herrschaftlichen Gerichtsbarkeiten in Händen des lokalen Adels oder venetischen Patrizier. Das 14. Jahrhundert ratifiziert und sanktioniert also die tiefgreifenden und unüberwindliche Differenzierung einerseits zwischen dem, was wir als die ,kommunale' Mark bezeichnen können, und dem Gebiet Treviso (besonders im Teil jenseits des Piave) und dem Friaul andererseits146. Das Paradigma Trevisos als der schwachen Stadt ist - wie schon erwähnt - unter gewissen Aspekten mit einigen emilianischen Gegebenheiten vergleichbar und liefert sehr interessante Anstöße hinsichtlich des zähen Weiterlebens der Gesamtheit der mit der Grundherrschaft verbundenen Werte - sowohl in der Mentalität als auch in den Strukturen. In den Zeugenaussagen beim Prozeß über die Gerichtsbarkeit über Oderza Ende des 13. Jahrhunderts147 gibt es vielsagende Spuren der Zuneigung, des "amor illorum de contrata versus illos de Camino", die die Menschen des oberen Trevigiano hegen: die andächtigen Besuche in der Burg von Camino, um dem Erben zu huldigen, das Festhalten an der guelfischen Familientradition, die die "homines de masnata" dazu bringt, einen Aufstand anzudrohen, als Biaquino sich aus taktischen Gründen (die aber für diejenigen unverständlich waren, die blind an den honor des domus glaubten) mit Ezzelino da Rarnano verbündet, dem capitalis inimicus des Geschlechts . . . Diese Daten erklären das verbissene Fortbestehen gewisser Solidaritäten, und die fortdauernde Solidität dieser, wie auch vieler anderer herrschaftlicher Autoritäten besser als viele Dokumente; und intensivere Untersuchungen dieser Art von Dokumentation sind meiner Meinung nach äußerst wünschenswert. Aus den "Signorie di Romagna" von John Larner könnte wirklich auch für die da Camino jenes berühmte Zitat aus dem 121. Psalm gelten, das der Herr Galeazzo Manfredi den Statuten des Lamane-Tals vorangestellt hatte; er wußtesehr gut, welche die wirklichen Grundlagen seiner Autorität waren: "levavi oculos ad montes, unde veniet auxilium meum" 148 • Anders liegt es auch nicht hinsichtlich der unerschütterlichen Treue der masnade des apenninischen Lehenswesens, das eher zu den emilianischen Städten hinneigte: masnade, die sich zwischen dem 13 .. und 14. Jahrhundert einem Ubertino Landi, den

145 Vgl. allgemein S. Zamperetti, I piccoli principi, S. 51-93; für Cesana: F. Vergerio, Storia dell'antica contea di Cesana, Alassio 1931. 146 Für ein Gesamttableau vgl. S. Zamperetti, I piccoli principi, mit ausführlicher Bibliographie. 147 Z.Zt. in Druck in der Reihe "Fonti per Ia storia della Terraferma veneta", hrsg. von R. Canzian. 148 Zitiert von G. Cbittolini, Citta e contado nella tarda eta comunale (a proposito di studi recenti), in: Nuova rivista storica, LII (1969), S. 711.

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Scotti, den Fogliano 149 oder den Herren der Romagna 150 zuwenden, auch wenn die Gegenpartei aus demographisch und politisch sehr unbedeutenden und wirtschaftlich wenig dynamischen Städten besteht. Und so ist nur zu gut verständlich, daß Persönlichkeiten dieser Art es unverträglich fanden, von irgendeinem Bürger oder sogar von einem Landmann durch einen Gerichtsdiener mit der infu/a am Arm vor einen städtischen Richter geladen zu werden151 •

3. Städte mit herrschaftlichem Regime und Bezirksorganisation: Ferrara und Mantua In allen bis jetzt angeführten Fällen (Scala, da Camino, Carrara) unterstützt das herrschaftliche Regime des 13./14. Jahrhunderts im Grunde genommen jene Dynamik der Beziehungen zwischen Städten und Bezirken, und auf diese Dynamik gingen die Geographie und die Geschichte zu: Es ist diese Dynamik, die in letzter Instanz den Erfolg oder Mißerfolg des Prozesses ausmacht. Sicher, die Befehlseinheit, die das herrschaftliche arbitrium sicherstellt, die auschließliche Kontrolle über die Grenzburgen, die Zuteilung der Ämter an Mitarbeiter oder Beamten können nicht zu vernachlässigende Elemente in Richtung einer abgeschlossenen Entwicklung der Bezirksordnung sein, aber dem Regime kann kein entschiedener Druck in diese Richtung nachgesagt werden152 . Auch im Fall von zwei anderen Städten mit signorHer Regierung in der östlichen Poebene, Perrara und Mantua, scheint bei der Ausrichtung der Dynamik der Beziehungen Stadt-Bezirk in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhun149 Hinweise zu den fidelitates der Gebirgsbewohner, zur Mobilisierungsfähigkeit, zur Konsistenz der masnade, die in den Testamenten immer dem Empfänger des politischen Erbes vermacht werden, und zum Netz der vasallischen Solidarität, lassen sich, um nur ein Beispiel zu nennen, aus den Testamenten dieser großen Herren entnehmen. Unter seinen fideles hat Uberto Pallavicino beispielsweise eine Vorliebe für die Einwohner der Val Mozzola, .,illi de Vulle Mozula quos inter alios multum caros habemus". Ubertino Landi verpflichtet seinerseits die Erben zur Verteidigung und .,toto posse manutenere", und dazu, .,prestare auxilium conscilium et iuvamen sicut semper feci in vita mea" seiner Vasallität: E. Nasa/li Rocca, I testamenti di Ubertino Landi, in: Archivio storico per Je province parmensi, 4. Folge, XIV (1964), S. 82 ff.; P. Castignoli, Ubertino Landi e l'ultima resistenza filoimperiale sulla montagna piacentina (12671271), in: Archivio storico per Je province parmensi, 4. Folge, XXIV (1974), S. 241-252. ISO Heraufbeschworen in der zit. Monographie von]. Larner, Signorie di Romagna, Bologna 1971. · ISI .,Cum esset nobilis et magnifici cordis, dedignabatur et egre ferebat quod quilibet popularis homo, burgensis atque ruralis, misso nuncio cum infula rubea trahebat eum ad communis palatium ubi eum poterat in iuditio convenire": der vielsagende Passus, zu Guido Pallavicino, Marchesopulo genannt, wird zitiert von R. Greci, Parma medievale. Economia e societä nel Parmense da! Tre al Quattrocento (Studi e materiali per Ia storia di Parma, 1), Parma 1992, S. 18. 1s2 Wenn schon, dann kann in der Verstärkung der im Bezirk reisenden Polizeikräfte, der capitani del divieto und ähnlicher Beamten ein spezifisches Charakteristikum des herrschaftlichen Eingriffs in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gesehen werden, bedingt durch eine Tendenz, die außerdem allen Regimen gemein ist. Vgl. hierzu unten, Anm. 245 und den dazugehörenden Text.

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derts und im 14. Jahrhundert (also in der Phase nach der Behauptung des Regimes) eindeutig die vorherige Konditionierung das Feld zu beherrschen, eine strukturelle Gegebenheit, die in das präkommunale und kommunale Zeitalter zurückreicht Im Territorium (in beiden Fällen ebenes Gelände, dem Handel geöffnet, von nicht allzu großer Ausdehnung) dieser beiden Städte gibt es keine wirklich soliden Grundherrschaften, die in der Lage gewesen wären, sich der städtischen Hegemonie auf längere Zeit erfolgreich zu widersetzen. Im Bezirk Ferrara gibt es seit dem kommunalen Zeitalter keine bedeutenden herrschaftlichen Gerichtsbarkeiren als direkte Folge der Beziehungen Stadtcontado, die sich auf der Höhe des Mittelalters definiert hatten (ohne Befestigung und mit dem ausschließlichen Bezug der Oberschicht auf die Stadt153). Zur Bestätigung dessen - abgesehen von einigen Ortschaften, die Pomposa untertan waren, von den bischöflichen Gerichtsbarkeiren der südlichen Poebene um Ferrara (Trecenta, Bergamino Bariano und Melara), die mit dem "merum et mixturn imperium" ausgestattet waren - ist der einzige Ausnahmefall dieser Ordnung ein Herrschaftskomplex, der sich spät, zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert, in einer Randzone des Bezirks an der Grenze zur Langobardia herausgebildet hatte; dort hatte die kanossische Durchdringung am nachhaltigsten gewirkt154. Im Zeitalter der Este übt der Podestä oder Vizegraf in einigen der kleineren Zentren des Territoriums (wie Adria, Lendinara und Rovigo) rechtsprecherische und militärische Funktionen aus, während der Rest des Territoriums in Podesterien unterteilt ist, deren Kompetenzen sowohl in Zivilals auch in Strafsachen sehr beschränkt sind155 • Auch im 14. Jahrhundert honoriert die Regierung der Este diese Situation vollständig und vermeidet auf jeden Fall Neuregelungen156. Trevor Dean hat in seinen Untersuchungen mei153 A. Castagnetti, Societä e politica a Ferrara dall'etä postcarolingia alla signoria estense (secoli X-XIII) (II mondo medievale. Sezione di storia della societä, dell'economia e della politica, 7), Bologna 1985, insbesondere S. 216-217; A.L. Trombetti Budriesi, La signoria estense dalle origini ai primi del Trecento: forme di potere e strutture economico-sociali, in: Storia di Ferrara, V: II basso medioevo, XII-XIV secolo, hrsg. von A. Vasina, Ferrara 1987, S. 160-161 ff.; T. Dean, Commune and Despot: The Commune of Ferrara under Este Rule, 1300-1450, in: T. Dean I C. Wiekharn (Hrsg.), City and Countryside in late Medieval and Renaissance Italy. Essays presented to Philip ]ones, London I Ronceverte 1990, S. 186 ("the weakness of the Ferrarese nobility, which lacked rural strongholds from which resist the Este"). 15~ A. Francescbini, Giurisdizione episcopale e comunitä rurali altopolesane. BerganUno Melara Bariano Trecenta (sec. X-XIV), I, Bologna 1986; II, Bologna 1991. 155 Einige Hinweise hierzu in: A. Vasina, Comune, vescovo e signoria estense dal XII al XIV secolo, in: Storia di Ferrara, V, S. 108. 156 Es ist von großer Bedeutung, daß Ercole I. auch im 15. Jahrhundert die Schlagfertigkeit besaß, in S. Martino in Rio und in Montecchio neue kleine Markgrafschaften zu schaffen, um die Abkömmlinge der Nebenlinien zu versorgen, also in jenem nicht zu vernachlässigenden Teilgebiet der Dominien der Este - Reggio Emilia - , der Tummelplatz zahlreicher großer und kleiner Grundherrschaften war (E. Sestan, Gli Estensi e il loro stato al tempo deii'Ariosto, in: ders. , Italia comunale e signorile [Scritti vari, III, Firenze 1989, S. 286), oder im Gebiet von Modena, allerdings ohne das Territorium Ferraras zuberühren.

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ner Meinung nach außerdem diesen prägnant höfischen, absolut nicht herrschaftlich-territorialen und wirtschaftlich rein agrarisch und rentenbezogenen Aspekt des Feudalismus der Este eindeutig herausgearbeitetm. In Mantua gestaltet sich die Dynamik wegen der nicht unbeträchtlichen InteiVentionen herrschaftlicher Familien gräflicher Tradition aus Brescia (wie die Grafen von Casaloldi) an den Randgebieten des mantuanischen Territoriums ein wenig komplexer; wie sehr auch Torelli die "Kümmerlichkeit der Herrschaftsgeschlechter [Mantuas) im Mathildischen Zeitalter" 158 hervorgekehrt haben mag. Im großen und ganzen aber hatte die Gemeinde sich nicht sehr anstrengen müssen, um die Kontrolle über die bischöflichen terre (Solferino, Quistello, Goito, Revere und Sermide) zu erlangen. Mit einer Reihe auch militärischer Initiativen in den 70er und 80er Jahren war der Streitfall mit der Gemeinde von Reggio Emilia in Sachen Rechtsprechung über insula Padi, mit der Einnahme von Suzzara (einem historisches Ziel für die Gemeinde von Mantua, für das die Bonacolsi eintraten) und mit der endgültigen Kontrolle über Gonzaga und Pegognaga, beigelegt worden; im südlichen Bereich des Territoriums war sogar eine städtische Hegemonie entstanden (Volta, Cavriana, Ceresara und Goito). Die Ergebnisse dieses Prozesses werden im Zeitalter der Bonacolsi (die Signoria bestätigt sich zu Beginn der 70er Jahre) sichtbar. Aus dem Jahr 1275 stammt die erste bisher bekannte Erwähnung des liber extimi villarum; in denselben Jahren bestätigen die Abkommen mit den angrenzenden Städten -Verona (1272), Cremona (1288) -diese Stabilisierungstendenz und sie sind alle im liber privilegiorum der Gemeinde enthalten, das wahrscheinlich auf Wunsch der Bonacolsi zusammen mit den Abkommen mit dem Bischof in den 90er Jahren des 13. Jahrhunderts aufgestellt wurde. In der Unsicherheit ToreHis zur herrschaftlichen oder kommunalen Provenienz der Auftraggeber dieses grundlegenden Dokuments liegt der Beweis, daß die Herren bei der Unterwerfung des Bezirks die Anliegen der Stadt insgesamt perfekt vertraten und bei der Verfolgung ,traditioneller' Ziele auch nicht vor Urkundenfälschung159 zurückschreckten. Auch die größeren Zentren wie Sermide und 157 T. Dean, Land and Power in Late Medieval Ferrara: the Rule of the Este, 1350-

1450, Cambridge 1987.

158 Zu einigen Hinweisen über den Bezirk Mantuas im 13. Jahrhundert, vgl. abgesehen von dem brauchbaren Background über das frühe kommunale Zeitalter in den Untersuchungen von Torelli (P. Tore/li, Un comune cittadino in un territorio ad economia agricola, I, Mantova 1930; li, Milano 1952), die fundierte Untersuchung von: M. Vaini, Dal comune alla signoria. Mantova dal 1200 al 1328 (Collana di fonti e studi dell'Istituto di storia economica dell'Universita "L. Bocconi"), Milano 1986, S. 144-147,

316-322.

159 Es ist höchst wahrscheinlich, daß unter diesen Umständen die Interpolation in der kaiserlichen Urkunde für das Episkopat Mantua aus dem Jahr 997 vorgenommen wird, mit der Einfügung desjenigen Passus, welcher der Kirche von Mantua Suzzara zuspricht. Ich hoffe, in einer kommenden Untersuchung beweisen zu können, wie in denselben Jahren die Interpolation in Urkunden aus dem 10. Jahrhundert (dieses Mal zum Vorteil des Klosters von S. Zeno) auch für die Scala aus Verona ein wichtiges Instrument zur Konsolidierung der eigenen Macht gewesen ist.

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Luzzara, die sich mit eigenen Statuten regieren, berufen sich gewissermaßen seit der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert auf die Statuten Mantuas. In den folgenden Jahrzehnten und besonders nach der Wachablösung von Bonacolsi und Gonzaga (1329) scheint die signorile Regierung sich praktisch in alle vier Himmelsrichtungen auszudehnen: in Richtung Cremona (Piadena, Casalmaggiore, Dosolo und Pomponesco), Reggio, Brescia (Solferino, Castelgoffredo, Asola, Carpenedolo, Castiglione delle Stiviere und Montichiari), und Parma. Somit wird die chronische Instabilität des Gebiets der mittleren Poebene in diesem Zeitraum bestätigt; aber die innere Verwaltungsordnung wird inzwischen mit der Investitur der ehemals bischöflichen terre (Solferino, Goito, Revere, Sermide, Quistello, Reggiolo, Luzzara) und insbesondere dem progressiven Ausbau des Netzes der Vikariate (zu den ersten gehören Ceresara, Sermide, Revere, Reggiolo) und Podesterien, die immer öfter in den herrschaftlichen Urkunden Erwähnung finden, konsolidiert. Mit den 40er Jahren konsolidiert sich dann die Anwesenheit von Beamten mit auch (beschränkten) richterlichen Kompetenzen - abgesehen von den verwaltungstechnischen - im Bezirk, die von den urbanen und höfischen Gesellschaftskreisen abhängen160. Die bisweilen wichtigen Zentren, die bis zum Ende des Jahrhunderts dem Staat der Gonzaga einverleibt wurden (Viadana, das seine eigenen Statuten hatte161 , Asola, Canneto162 usw.), werden in den meisten Fällen Sitze von Podesterien. Als es mit dem Beginn des 15. Jahrhunderts unter Gianfrancesco, dem ersten Marchese, zur regelmäßigen Abfassung der Ernennungsurkunden von Bezirksrichtern kam, scheint das System endgültig ausgereift und gefestigt: Es werden fünf Podesterien (Ostiglia, Sermide, Viadana, Asola und Luzzara) und fünfzehn Vikariate zugewiesen; und den Podestä und Vikaren werden - natürlich mit anderen Zuständigkeiten - Kastellane zur Seite gestellt. Zeiten und Charakteristika der ,Organisation' des mantuanischen Bezirks scheinen sich in der Substanz von denjenigen im Padua der Carrara kaum zu unterscheiden. Der Reifungsprozeß dieser Ordnung im 14. Jahrhundert ist irreversibel und definitiv. Unter den Getreuen der Gonzaga sollte es nur den Ippoliti in Gazoldo 160 I. Lazzarini, Tra continuitä e innovazione: trasformazioni e persistenze istituzionali a Mantova nel Quattrocento, in: Societä e storia, in Druck; von ders. vgl. den Band: Fra un principe e altri stati. Relazioni di potere e forme di servizio a Mantova nell'etä di Ludovico Gonzaga (1444-1478) (provisorischer Titel], Kap. I (La struttura formale: Je fonti normative). Ich danke Isabella Lazzarini für die Erlaubnis, ihre so wichtigen Recherchen zu lesen und zu zitieren. 161 "Liber statutorum comunis Vitelianae (saec. XIV)" (Corpus Statutorum, 1), hrsg. von G. Solazzi, Milano 1952; U. Gualazzini I G. Solazzi I A. Cavalcab6, Gli statuti di Cremona del MCCCXXXIX e di Viadana del secolo XIV. Contributi alla teoria generale degli statuti, II, Milano 1954. 162 1391 von Visconti erworben und zum Vikariat ausgebaut: vgl. G. Arcari, La guarnigione di Canneto negli anni di Federico I Gonzaga, in: C.M. Belfanti I F. Fantini D'Onofrio I D . Ferrari (Hrsg.), Guerre stati e cittii. Mantova e I'Italia padana dal secolo XIII al XIX, Mantova 1988, S. 259-262 (Erwähnung finden auch die Podestii von Asola und Ostiglia).

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und den Cavriani in Sacchetca gelingen, Grundherrschaften zu errichten, die außerdem von geringer Konsistenz waren. Unter den Aussagen, die Gianfrancesco Gonzaga von der (als referendumdes Jahres 1430 bekannten) Elite mantuanischer Bürger einforderte, kommen - was die Bezirksordnung anbelangt - seitens der befragten cives mantuani im Unterschied zu anderen Bereichen des öffentlichen Lebens (beispielsweise der Justizverwaltung) keine Klagen auf, nur eine ganz allgemeine Sorge um den Schutz des städtischen Privilegs163 • Die Aufteilung des städtischen Bezirks unterliegt mit der Schaffung neuer kleiner Markgrafenschaften beim Tode Ludovico Gonzagas (1478) einer ganz anderen Logik dynastischer Motive auf dem Höhepunkt des 15. Jahrhunderts. Mit Sicherheit handelt es sich um einen Zerstörerischen Eingriff in die im kommunalen und frühsignorilen Zeitalter erreichte verwaltungstechnische Einheit. Die grundlegende Vorherrschaft der Stadt wird jedoch nicht in Frage gestellt. In der Mitte des 15. Jahrhunderts wird Mantua in einer bekannten Bittschrift, welche die Gemeinde Modena an Lionello d'Este richtet, auch unter den nachahmenswerten ,Modellen' angeführt: Für die Modenaer ist die "obedientia generalis" des Bezirks der Stadt gegenüber, .prout fit Ferrarie, Bononie, Mantue et ceteris civitatibus se bene regentibus" eine unerreichbare Fatä Morgana (und natürlich auch grundlegender und qualifizierender Teil des "se bene regere"). Gibt es eine ,spezifisch signorile Eigenschaft', irgendein Element, das die Vertrautheit mit der Verwirklichung der Bezirksorganisation, welche die ,tyrannischen' Regimes des späten 13. und 14. Jahrhunderts abwikkelten, etikettiert? Auf der Ebene der operativen Wahlen, der ,Organisationsmodelle' des Territoriums, ließe sich vielleicht ein kleinster gemeinsamer Nenner unter diesen Situationen (inklusive jener der Scala) in dem Fehlen einer ausdrücklich rationalisierenden Orientierurig finden: Als die Disziplinierung des städtischen Bezirks von einem inzwischen konsolidierten herrschaftlichen Regime abgeschlossen wird, ist man oft nicht darauf aus, die Kreise neu zu zeichnen, sondern es wird eher die unordentliche Proliferation von Vikaren oder Podestä fortgesetzt, eine Intensivierung der physischen Präsenz der Vertreter der urbanen Sphäre, und zwar so sehr, daß zu guter Letzt die Verwaltungsgeographie von der demographischen und wirtschaftlichen Hierarchie der verschiedenen Zentren des Bezirks regiert wird. Aber das ausschlaggebende Element ist meiner Meinung nach ein anderes und es hilft die oben gestellte Frage überwinden, indem diese entschärft wird. Ausschlaggebend ist so das Klima grundlegenden Einverständnisses und die Fähigkeit zur Identifikation von Herrschaft und städtischem Bewußtsein, die diesen Erfahrungen oft unterliegt (die sicherlich Faktionskämpfen entspringen, sie aber auch in gewisser Weise überschreiten). Männer großen politischen Gespürs und großen Charismas wie Pinamonte Bonacolsi, Alberto I. della Scala, auch - trotz des fehlge163 M.A. Grlgnant I A.M. Lorenzont I A. Mortart I C. Mazzareilt (Hrsg.), Mantova 1430. Pareri a Gianfrancesco Gonzagaper il governo (Fonti per Ia storia di Mantova, 1), Mantova 1990.

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schlageneo Entstehungsprozesses von gräflichen VeiWaltungsbezirken Gherardo da Camino und ein wenig später Francesco il Vecchio da Carrara, werden nicht dazu gedrängt, neue territoriale Regierungsstrukturen zu schaffen, sondern eher dazu, die Entwicklung der institutionellen Ordnung kommunaler Prägung zu unterstützen. Daß die Burgen von cives besetzt und kontrolliert werden, entspricht dem allgemeinen Interesse der Stadt: Vom bürgerlichen Bewußtsein wird es nicht notwendigerweise als vulnus betrachtet, daß diese cives vom capitano generale, dem Inhaber des arbitrium, bestimmt werden. Die herrschaftlichen Regimes, besonders bei ,Stadtstaaten' 16\ behalten so auch im 14. Jahrhundert oft die Fähigkeit, die ,öffentlichen' Interessen, die Interessen der Stadt insgesamt (wie sich an Hand der Beispiele von Mantua, von Verona 165 , von Padua166 verdeutlichen läßt) zu vertreten und vor diesem Hintergrund sind ihre Eingriffe in die Bezirksorganisation zu interpretieren. All dies muß hervorgehoben werden, auch wenn es als Gegenströmung im 14. Jahrhundert sicherlich nicht an Entscheidungen in Sachen Bezirksorganisation gefehlt hat, die von einer patrimonialstaatlichen Konzeption vom Staat bestimmt waren, oder auf eine Politik der Steuerbefreiungen für die herrschaftlichen terre hinarbeiteten: Aber im großen und ganzen berühren nicht einmal diese Entscheidungen (in Verona - wie wir gesehen haben - im 14. Jahrhundert, und nicht ohne Folgen für die Bezirksordnung; in Mantua im 15. Jahrhundert) die wesentliche Übereinstimmung von Interessen zwischen Stadt und herrschaftlicher Dynastie.

4. Bezirksorganisation und ,bürgerliche' Gemeinde: der Fall Bologna Die Gemeinde Bologna - lange Zeit von einem ,bürgerlichen' Regime regiert - setzt trotz starker politischer und sozialer Kontraste mit Erfolg in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ihr Projekt der Bezirksorganisation in die Tat um, das zu einer endgültigen Ausklammerung der Grundherrschaften führt 164 Dieser Punkt der ,Stadtstaaten' ist es wert, aufmerksam untersucht zu werden: Capa hat in der unten zitierten Untersuchung, Anm. 166, verdienstvollerweise gezeigt, wie in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die paduanischen Chronisten einen gewissen Vertrauensbruch in der Beziehung zwischen Francesco il Vecchio und der Stadt selbst mit dem Moment zusammenfallen lassen, als der dominus eine aggressive (auf Eroberungen abzielende) und nicht mehr am bonttm civitatis inspirierte Politik in die Wege leitete. Von nun an kann er nicht mehr unter das Klischee des pater patrie fallen, nicht länger die Kleider tragen, die das specu/um principis Petrarchas ihm auf den Leib geschneidert hatte. 165 Es soll daran erinnert werden, wie der Chronist des Vizegrafen, Pietro Azario, in der Mitte des 14. Jahrhunderts festhält, daß .,omnes de Verona sunt de Ia Scala", da er andere bittere politische Kontraste in den lombardischen Städten und Bezirken seiner Epoche vor Augen hatte. 166 S. Collodo, Introduzione. Identitä e coscienza politica di una societä urbana, im Sammelband von ders., Una societa in trasformazione , S. LXVIII; G. Arnaldi I L. Capo, I cronisti di Venezia e della Marca Trevigiana, in: Storia della cultura veneta, Il: Il Trecento, Vicenza 1976, S. 311-337 (L. Capo, I cronisti dei Carraresi).

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und auf Grund seiner radikalen und umfassenden Natur im Italien der Poebene so früh wenig Gleichwertiges findetl 67 . Es ist das Wissen um diesen geradlinigen Prozeß, das wahrscheinlich einem berühmten Passus des "De regno Italiae" von Carlo Sigonio zugrunde liegt und von Toubert168 hervorgehoben wird; darin wird zum ersten Mal das Historische an der Eroberung des contado durch die Stadt als herausragendes Phänomen deutlich herausgestellt. Die Zahl der städtischer Richter nimmt zu, und in den mittleren Jahrzehnten des Jahrhunderts wird mit der Errichtung der ersten fünf Podesterien um 1250169 herum die Unterscheidung der Funktionen von ländlichen Podesta und rectores castri präzisiert: die zeitweilige Unterstützung (1265 und danach) der ländlichen Podestä durch einen Hauptmann aus Gründen der öffentlichen Ordnung (in Zusammenhang mit beginnenden oder fortwährenden Faktionskämpfen), bis zur Reform des Jahres 1288, die 10 Podesterien de bandiera vorsieht (in den folgenden Jahren auf 13 aufgestockt)170, mit genauer Definition des Aufgabenbereiches des Podestä (in Zivilsachen relativ weitreichende rechtsprechende Kompetenzen; Untersuchungsfunktionen in Kriminalsachen; Kontrolle der öffentlichen Ordnung; Zusammensetzung und Charakteristika des Mitarbeiterstabes, dem ein Richter und ein Notar angehören) sowie an die fünfzig Podesterien de sacco für jedes Viertel des Bezirks (mit Kompetenzen in Zivilsachen bis zu 20 Bolognini sowie ein von jeder Feuerstelle der Podesterie in Naturalien bezahltes Gehalt). Nach einer langen Phase der Stabilität ohne politische Unruhen171 wurde die Ordnung des Territoriums von Bologna anläßlich der Eroberung durch die Visconti (1351) verändert, aber nicht in grund167 Es handelt sich um ein "bemerkenswertes Vorhaben, das keiner anderen Stadt der [emilianischen] Region vollständig gelingt" (G. Cbittolini, II particolarismo signorile e feudale in Emilia fra Quattro e Cinquecento, in dem Sammelband: La formazione dello stato regionale, S. 255; die Arbeit datiert aus dem Jahr 1977). Einen systematischen Rahmen für alles, was folgt, liefert die viele Jahrzehnte nach der Abfassung veröffentlichte und informationsreiche Untersuchung von L. Casini, II contado bolognese durante il periodo comunale (secoli XII-XV), Bologna 1910 [aber 1991]. Für die Listen der Gerichtsbezirke vom Ende des 13. Jahrhunderts vgl., G. Fasoli I P Sella (Hrsg.), Statuti di Bologna dell'anno 1288, Cittä del Vaticano 1937, I, S. 53-56 (Podesterien "de sacho") und S. 97-103 (Podesterien "de banderia"). Vgl. auch kurz A. Hesse/, Storia della cittä di Bologna, S. 164-166 und selbstverständlich auch die bekannten Untersuchungen von Palmieri. 168 P. Toubert, "Cittä" et "contado" dans l'Italie medievale, S. 223-225. 169 Die Bologneser Chroniken setzen - auch wenn der Bezug nicht ganz klar ist - die Befreiung der Leibeigenen des Jahres 1256 mit der Einrichtung der "podesterie da sacho ehe vano ä brevi" in Zusammenhang. 17 Castelfranco, Castel di Casio, Castelleone e Belvedere, Scaricalasino, Serravalle, Galliera, Altedo, Castel San Paolo, S. Giovanni in Persiceto, Crevalcore, S. Agata e Medicina, und 1291 Budrio: Ortschaften also, die sowohl im Gebirge als auch in der Ebene liegen. 171 Als die Kryptaherrschaft der Pepoli: M . Giansante, Patrimonio familiare e potere nel periodo tardocomunale. II progetto signorile di Romeo Pepoli banchiere bolognese (1250 c.-1322) (Dipartimento di Paleografia e Medievistica, Sezione di ricerca "Societä economia territorio". Fonti e saggi di storia regionale, Quademo 1), Bologna 1991.

°

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legender Weise. Bei der Wiedererlangung der Unabhängigkeit (1376) wurde wie damals allgemein üblich die Zahl der städtischen Vertreter im contado verstärkt: Die Vikariate stiegen von 9 auf 21 (und 1454, bei dem Erlaß der neuen Statuten, wegen jenes in demokratischen Ordnungen so gezielten Strebens nach Ämtern172, bis auf 32), und urnfaßten nun auch eine Vielzahl von unmittelbar an die Vororte angrenzenden Gemeinden, die vorher in keine Podesteeie eingefügt gewesen waren und nun ,auf das contado reduziert' wurden. Dieses geordnete Netz Bologneser Gerichtsbarkeilen - nicht zufällig das einzige, dem es gelang, im 13. Jahrhundert in der Poebene die administrativjurisdiktioneHe Geographie und die Steuergeographie genau deckungsgleich zu gestalten (also die Podesterien und die Vikariate nach dem Muster der Aufteilung in Viertel zu modellieren) - kann sicherlich, ich wiederhole, als Modell nicht verallgemeinert werden; es ist kein Zufall, daß diese Gemeinde zu den ersten gehört, die sogar in den hagiographischenQuellen-bewußtdie Ausweitung und Organisation des Bezirks als konstitutives Element der städtischen Ideologie postulierte (wie aus einigen, schon zitierten, Fassungen des Lebens des Heiligen Petronius hervorgeht).

5. Die Bezirke der Lombardei vom 13. bis zum Ende des 14. Jahrhunderts a) Die ,originellen Grundzüge' der Lombardei Die beträchtlichen Beschränkungen der städtischen Hegemonie über das Territorium im Regionalstaat der Lombardei des ausgehenden 14. und besonders des 15. Jahrhunderts sind wiederholt betont worden. Es handelt sich um einen Zeitraum, dem Dank der Forschungen Chittolinis173 sehr viel intensivere Untersuchungen gewidmet worden sind als der vorausgehenden Phase (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts- erste Hälfte des 14. )ahrhunderts)17\ bei der wir hier kurz verweilen müssen. Dieser Stand der Dinge wurde im Grunde genommen von drei Faktoren bestimmt: 1. die offensichtliche und zeitlich weit zurückreichende Fähigkeit der Mailänder Macht, sich in der ganzen Lombardei in die Beziehungen zwischen den Stadtgemeinden und ihren Bezirken einzumischen 175; 2. die besondere Bedeutung innerhalb der einzelnen Bezirke 172 Die Podesterien werden so an erster Stelle als Gewinn für den Bürger gesehen: es gilt ein Rotationskriterium, demzufolge die "pmestarie que ibunt ad brevia", die also im Losverfahren ermittelt werden, in einem bestimmten Viertel, in der folgenden Wahl "ibunt ad brevia" in einem anderen Viertel. 173 Schon oben zit. (Anm. 74); andere Beiträge werden in der Folge angeführt werden. 17~ Es fehlen tatsächlich neuere Untersuchungen zu verschiedenen Städten und Territorien von größter Wichtigkeit, wie Brescia, Bergamo, Corno und Cremona selbst. 175 Für einen synthetischen Verweis auf die "Größenordnung des politischen Eingriffs, der Herren Mailands Ende des präkommunalen Zeitalters und danach der antimperialen Kriegen der Gemeinde, die den legbe Iombarde vorstanden, und der Treue der della Torre gegenüber ihrer Klientel in Lodi, Bergamo, Corno und Novara"

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der beiden an Siedlungsstruktur und -geographie des Territoriums der Lombardei gebundenen Faktoren: also der besonders starke Hang zur Trennung zahlreicher kleiner halbstädtischer Zentren oder .Quasi-Städte"176 vom urbanen Zentrum; und 3. die prekäre Einfügung der Gemeinden und Territorien der Voralpen und Alpen in die Stadtbezirke177• Diese Elemente, gepaart mit starken politischen Spannungen in den einzelnen Stadtgemeinden, die so die beachtliche und andauernde Kraft der innerstädtischen Parteien ausmachen, führen zur verfehlten oder ungenügenden Entwicklung jenes Koordinierungsprozesses .verschiedener und wirrer Elemente" 178. Die Symptome dieser Situation werden schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sichtbar, als sich ein äußerst brisanter politischer Rahmen abzeichnet, der durch eine sehr starke innere Unausgeglichenheit und wachsende Schwierigkeiten der Stadtgemeinden der Lombardei bei der Kontrolle des eigenen Bezirks gekennzeichnet wird. Bevor wir die drei oben angedeuteten Punkte näher betrachten, ist es nützlich, hinsichtlich der allgemeinen politischen Entwicklung einen Vergleich anzustellen. Wenn die Situation der Lombardei mit jener der Mark Treviso verglichen wird, kann leicht festgestellt werden, daß sich nach dem Tod Friedrichs II. (und insbesondere nach 1260) die Politik des Papstes und dann der Anjou sowie (später, in den 70er Jahren) die Folgen der Kontroversen um die Kaiserkrone in der Lombardei sehr viel direkter bemerkbar machen, während sie in Venetien abgeschwächt werden und an Bedeutung verlieren179• Gerade ruhmreiche Hauptleute und mächtige Dynastien der mittleren und westlichen Poebene sind mehr noch als zuvor in der Lage, auf regionaler Ebene zu agieren und sich als Koordinierungselemente von Städten und herrschaftlichen vgl. G. Tabacco, La storia politica e sociale. Dal tramonto dell'impero alle prime formazioni degli stati regionali, in: Storia d'Italia, II: Dalla caduta dell'impero romano al secolo XVIII, 1, Torino 1974, S. 262 (dann in: Egemonie sociali e strutture di potere nel medioevo italiano, Torino 1979). Vgl. allgemein auch die Studie von A. Haverkamp, Die Städte im Herrschafts- und Sozialgefüge Reichsitaliens. 176 G. Cbittolini, ..Quasi citta". Borghi e terre in area lombarda nel tardo medioevo, in: Societa e storia, XIII (1988), 47, S. 3-26; ders., Terre, borghi e citta in Lombardia alla fine del Medioevo, in: G. Cbitto/ini (Hrsg.), Metamorfosi di un borgo. Vigevano in eta visconteo-sforzesca (Studi e ricerche storiche, 153). Milano 1992, S. 7-30. 177 Für einen Gesamtüberblick mit reichhaltiger Bibliographie vgl. (auch wenn in der Hauptsache dem 15. Jahrhundert gewidmet) G. Cbittolini, Principe e comunita alpine in area lombarda alla fine del medioevo, in: Le Alpi per I'Europa. Una proposta politica. Economia, territorio e societa. Istituzioni, politica e societa. Contributi presentati al secondo convegno .,Le Alpi e I'Europa" (Lugano 14-16 marzo 1985), Milano 1988, s. 219-235. 178 G. Volpe, Comuni cittadini e contado, in seinem Sammelband: Medioevo italiano, Firenze 1971, S. 246. 179 .,Die Zukunft halb Europas wurde in der Lombardei entschieden": für den Zeitraum 1250-1270 ca. scheint mir heute immer noch hilfreich die auf chronikalischen Quellen gegründete Rekonstruktion von G. Ga//avresi, La riscossa dei guelfi in Lombardia dopo il 1260 e Ia politica di Filippo della Torre, in: Archivio storico lombardo, XXXIII 0906), S. 5-67, 391-453.

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Kräften zu etablieren, wie es seit 1259 Ezzelino III. da Romano in der Mark gemacht hatte 180• An dieser Stelle ist es natürlich nicht angebracht, die Charakteristika des Regiments Uberto Pallavicinos und die Umstände seiner Integration in die Politik der Stadt Mailand (hier war er bekanntermaßen während der Herrschaft der della Torre capitano generale 81 ) zu untersuchen. Ich beschränke mich nur darauf, daran zu erinnern, daß die komplexe Verflechtung von Exilwesen und Unterwerfungen von Städten (Pavia, Piacenza, Cremona, Tortona und Alessandria an Pallavicino; Corno, Novara, Vercelli, Lodi und Bergamo an die della Torre), die Treue gegenüber Parteien und Faktionsführern, die von weither stammten, sicherlich nicht ohne Auswirkungen auf die administrative Machtausübung im Inneren der einzelnen Bezirke blieb. Um nur ein Beispiel zu nennen, auch in den 70er Jahren haben "illi de Pellavicino ... sequaces tarn in Martesana quam et in Vallesina et in Leuco et Riperia quam eciam in Vallesaxina", also mitten im Herzen des Mailänder Territoriums. Genausowenig ist es möglich, hier bei der Politik Guglielmos VIII. di Monferrate zu verweilen, der ein lautstarker Befürworter der ghibellinischen Seite in der Lombardei und in Mailar.1d selbst war182; oder auch, zwar auf einem niedrigeren Niveau aber insgesamt nicht von geringerer Bedeutung, die Aufstellungs- und Lagerwechsel zu präzisieren und zählen, die die Anjou - um auch hier nur ein Beispiel zu nennen - in der Gruppe der herrschaftlichen Familien und Alliierten Ubertino Landis des piacentinischen Gebirges provozierte183. Ganz allgemein läßt sich jedoch sagen, daß in der Lombardei aus verschiedenen Gründen jene spontane Konzentration auf städtische Zentren unter der Herrschaft einzelner Familien, die (mehr noch im Apennin, aber auch in den Voralpen) mit Machtzentren und militärischen Kräften ausgestattet waren, nicht zustandekommt; sie können auch anderswo eigene politische Referenten finden, außerhalb der Stadt und gegen die Stadt. Wenn wir nun zu den halbstädtischen Ortschaften der Ebene der Lombardei kommen, muß gesagt werden, daß die demographische Konsistenz und die geographische Lage an den Grenzen des Bezirks oder in anderen Diözesen als G. Tabacco, La storia politica e sociale, S. 258. Zu Pallavicino, abgesehen von der klaren nochmaligen Interpretation seiner Herrschaft durch Tabacco, ebd., vgl. die Aufsätze in: Archivio storico lombardo, LXXXIII 0956): F. Cognasso, Le origini della signoria lombarda, S. 10; U. Gualazzini, Aspetti giuridici della Signoria di Uberto Pelavicino su Cremona, S. 20-28; E. Nasalli Rocca, La signoria di Uberto Pallavicino nella formulazione dei suoi atti di governo, S. 29-43. Zur Familie und ihrer Rolle in der Geschichte der Poebene vgl. auch E. Nasalli Rocca, La posizione strategica dei Pallavicino dall'etä dei comuni a quella delle signorie, in: Archivio storico per Je province parmensi, 4. Folge, XX (1968), S. 65-114. 182 G. Tabacco, La storia politica e sociale, S. 218-219, 259; A. Bozzola, Un capitano di guerra e signore subalpine: Guglielmo VII di Monferrate (1254-1292). Per Ia storia dei comuni e delle signorie, in: Miscellanea di storia italiana, 3. Folge, XIX (1920), S. 261-439. 183 Vgl. die Dokumentation zit. von E. Nasalli Rocca, I ,testamenti' di Ubertino Landi, S. 82. 180 181

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d,er Hauptstadt die Beziehungen zu den wichtigen herrschaftlichen Familien des Gebiets sowie die Beziehungen zu Mailand die Voraussetzungen dafür sind, einer festen Eingliederung in den Bereich des Stadtbezirks zu entfliehen - was nicht eben selten vorkommt. Es kann sich um Zentren handeln, die sich seit dem 12. Jahrhundert im eigenen Stadtbezirk einer privilegierten Stellung erfreuen. Dies ist beispielsweise der Fall von Vigevano, Streitapfel zwischen Mailand und Pavia, dem von Pavia 1198 der Rang eines burgus zugestanden wird ("prenominatus locus Veglevani deinceps sit burgus civitatis Papie")18\ von Voghera, das schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts von Pavia, das mit Mailand in Konflikt stand, einige Zugeständnisse erlangt, aber erst im Staat der Visconti des 14. Jahrhunderts einen seinen Bestrebungen angemessenen Autonomiestatuts erlangen sollte 185• Dies gilt auch für Treviglio, zwischen Mailand und Bergamo, das in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts von der Gemeinde Mailand die Bezeichnung burgus erhält (.locus de Trivillio de cetero nuncupetur burgus ... et homines Trivillii per comune Mediolani de cetero debeantur haberi et teneri et tractari sicut burgenses et ut tractant et habent alia burga supposita comuni Mediolani", mit Marktrecht) und dann eine beachtliche Serie von Privilegien von Heinrich VII., Friedrich von Habsburg, Ludwig von Bayern und Johann von Böhmen vorzeigen kann, die Treviglio das merum et mixturn imperium zuerkennt, und auch in den folgenden Jahrzehnten eine immediata subiectio gegenüber der Mailänder Regierung beibehalten kann; für Soncino, das sich um die Mitte des 13. Jahrhunderts gegen das städtische Zentrum mit dem ghibellinischen mi/es Cremonas Buoso da Dovara zusammentat186; oder auch für Romano und Martinengo, in der Ebene Bergamos usw. Es ist verhältnismäßig vielsagend, daß es zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert keinem halbstädtischen Zentrum der venetischen Ebene, mit der Ausnahme von Conegliano gelingt, kaiserliche Diplome zu erhalten, während oft zu Beginn des 14. Jahrhunderts- verschiedene Gemeinden der Lombardei, wie Treviglio, Soncino oder Monza, dieses Ziel (oder jenes, ein päpstliches Privileg zu ergattern) verfolgen. Diese ganze Entwicklung wird durch die zahlreichen Verwicklungen gefördert, in die die Lombardei während der Streitigkeiten zwischen den Guelfen und den Ghibellinen im 13. und 14. Jahrhundert einbezogen ist. Das andere Element möglicher Schwäche der kommunalen Einrichtungen in der Lombardei des 13. Jahrhunderts, auf das vielleicht 184 Zu Vigevano siehe jetzt E. Occbipinti, Le relazioni tra Vigevano e Milano nel corso del Trecento, in: G. Cbittolini (Hrsg.), Metamorfosi di un borgo, S. 31-42. 185 L. De Angelis Cappabianca, "Vogheria oppidum nunc opulentissimum". Per Ia storia di Voghera dal X alla fine del XIV secolo, in: L. Cbiappa Mauri I L. De Angelis Cappabianca I P. Mainoni (Hrsg.), L'eta dei Visconti. II dominio di Milano fra XIII e XV secolo (Gii studi, 2), Milano 1993, S. 136-150 ("Da castrum a burgus a terrct'). 186 Zu diesem Hauptdarsteller des politischen Lebens der Lombardei in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts - auch er in der Lage permanent vor einem Hintergrund mehrerer Städte zu agieren - vgl. E. Voltmer, Dovara, Duoso da, in: Dizionario biografico degli italiani, XLI, Roma 1992, S. 566-568.

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nicht zu genüge eingegangen worden ist187, ist die Beziehung zwischen Gebirge und Ebene, zwischen der Lehensgesellschaft der Alpen- und Voralpentälern und den städtischen Einrichtungen und Parteien. Für die beiden führenden Familien der Mailänder Parteien, die Visconti und die della Torre (Torriani), die sich natürlich auf die städtischen Kräfte stützen, erweist sich die militärische Stärke der fideles aus dem Gebirge und die Verfügbarkeie der Burgen des Voralpenraumes in mehreren Fällen als ausschlaggebend. 1227, in einem entscheidenden Moment der Geschichte der Familie (und der Stadt), flüchtet Ottone Visconti jenseits des Lago Maggiare nach Giornico; 1287 aber fallen die Getreuen der Viscon-ti - der Visconti ..valde nobiles et antiqui (qui) habuerunt vassallis et concesserunt feuda diversis parentelis" - aus dem OssolaTal die Burg Castelseprio und zerstören sie. Andererseits haben auch die Torriani starke Verbündete, nicht nur im Mailänder contado (Montorfano), sondern auch in Novara und den bergamaskischen Tälern, wie beispielsweise die Geschehnisse des Jahres 1302 zeigen. Und dies gilt nicht nur für das Territorium von Mailand. Die Geographie zeigt uns, daß die Bedeutung der Gebirgsgebiete im Zusammenhang mit den städtischen Bezirken von Brescia, Bergamo, Corno, Novara und Pavia selbst nur schwerlich überbewertet werden kann: In diesen gebirgigen Zonen wird die Autorität der Stadtgemeinde sicherlich anerkannt, aber die sozialen und wirlc;chaftlichen Wurzeln der Grundherrschaft, die .ftdelitates gegenüber den Herren, die Kontrolle der Burgen und Pässe, sind sicherlich intakt. In Pavia ist noch in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein Großteil des Territoriums des Oltrepo in den Händen kirchlicher und weltlicher Herrschaften. Im Territorium Brescias bleibt die Macht der Ugoni und anderer herrschaftlicher Familien des Küstenstreifens der westlichen Gardesana um die Burgen von Gardone beachtlich, auch wenn das große Geschlecht nicht ohne Kontakte zu der Stadt ist. Die piacentinischen Chroniken des 13. (und des 14.) Jahrhunderts sind voller Notizen über Anzahl, Stärke und Mut (.,... servientes probi et fortes") der servientes oder allgemeiner der rustici der Gebirgstäler (Ceno, Taro, Tidone), welche die Landi, die Pallavicino, die Luxardo, die Granelli, die Anguissola, die Malaspina di Bobbio und die Fontana in ihren defensiven und offensiven Aktionen gegen die Stadt unterstützen. Wenige hundert Landmänner können im Apennin weitaus stattlichere Heere städtischer Infanterie und Kavallerie in Schach halten, wie uns das .,Chronicon guelfo-ghibellinum" lehrt; aber es ist für sie auch ein Leichtes, in der Ebene oder der Stadt so vorzugehen. 187 Heute noch sind Untersuchungen relativ selten, die sich auf ein weltliches herrschaftliches Archiv stützen und versuchen die politisch-istitutionellen Angelegenheiten mit einem vertieften Wissen der grundlegenden wirtschaftlich-sozialen Dynamiken in Einklang zu bringen. Es ist eindeutig, daß solange die schleichende Krise der herrschaftlichen Wirtschaft das Terrain unter den domini nicht aushöhlt, eine wirkliche Kontrolle des Territoriums, eine effektive Ausübung der Souveränität, das Monopol der Gewaltanwendung und die Umgestaltung der Burgen zu reinen Garnisonssitzen, größere Schwierigkeiten hat, sich seitens der städtischen Gewalt durchzusetzen. Zu einem Beispiel aus der Val Camonica (die Federid), vgl. unten, Anm. 190 und den entsprechenden Text.

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Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich diese Situationen zu einem Großteil zurückführen lassen, ist also die beständige Resistenz vieler signorHer Familien: besonders in den hügeligen und gebirgigen Gebieten der einzelnen Bezirke, aber auch in den Ebenen. Außerdem war- wie jüngst betont worden ist - die herrschaftliche Tradition im Mailänder Adel so verwurzelt, daß sich sogar die Torriani, obwohl sie ausdrücklich auf die städtischen Einrichtungen setzen, Ende des 13. Jahrhunderts ex novo in Turbigo, im westlichen Gebiet des Mailänder Bezirks, eine neue Grundherrschaft schaffen188• Auf diesem Situationenkomplex fußt (wie gesagt, als direktes Erbe der hegemonischen Funktion der regionalen Zentralität Mailands, die schon im 12. Jahrhundert vom Valtellin bis zur tiefen Ebene agierte) die Fähigkeit von Mailänder Einrichtungen und Parteien, auf regionaler Ebene zu handeln, und sich so nicht nur in innerstädtische Fragen einzumischen, sondern auch in die bipolare Beziehung zwischen der Stadt und den eigenen contadi (es versteht sich von selbst, daß dieser modus operandi etwas ganz anderes· ist als die physiologischen Versuche, die eigene Überlegenheit in den unmittelbar an den Mailand angrenzenden Bezirken zu behaupten 18~ . Die Einmischung der Gemeinde Mailand, ihrer Podestä und Richter, kann alte, schon im frühen kommunalen Zeitalter praktizierte Formen annehmen und so in schiedsrichterlicher Funktion auftreten; aber sie kann auch Schutz lokaler, nach ihr verlangender Interessen sein; oder sie kann einfach von Faktionsbeziehungen abhängen. Einige Beispiele sind hier vonnöten. Der Schiedsspruch 1291 zwischen Brescia und den Federici, einer wichtigen herrschaftlichen Familien des Camonica-Tals, bewirkt, daß der Podestä das Tal im Namen von Matteo Visconti regiert, daß die abgelegene Burg von Montecchio von 1292 bis 1289 von einer viskontinischen Einheit besetzt wird und daß es der Mailänder Herr ist, der bestimmt, daß einige Adelige des Camonica-Tals ("de nobilibus tantum dicte vallis et non de paesanis") Mitglieder des Stadtrates von Brescia werden 190• Einige Jahre später, 1299, erklärt Matteo Visconti bereits (und stellt dabei schon nahezu eine These zur Überwindung der Beziehung zwischen Bezirk und Stadt auO gegenüber den Botschaftern von Lodi, die den Besitz des Schlosses von S. Colombano einklagen, daß im Prinzip die Unterwerfung einer Ortschaft 188 Der Umstand wurde aufgezeigt von P. Cammarosano, Cittä e campagna: rapporti politici ed economici, S. 316-317, auf der Grundlage der Arbeit von: F. De Vttt, La signoria dei Della Torre in Turbigo, in: Bollettino storico-bibliografico subalpino, LXXV (1977), s. 627-654. 189 Hier genügt, nur als Beispiel, der Verweis auf die wiederholten Divergenzen der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wegen der loca dtscordie zwischen Milano und Pavia ("comitatus mediolanensis, episcopatus papiensis"), jüngst Gegenstand einer detaillierten Untersuchung (A.A. Settia, II distretto pavese nell'etä comunale, S. 145-146, mit Verweis auf ein vorheriges Schema von G. Molteni, "Loca discordie" o zone grigie nelle relazioni diplomatiche fra Milano e Pavia, in: Archivio storico lombardo, L [19231, S. 233-235). 190 I. Valettt Bonini, Le comunitä di valle in epoca signorile. L'evoluzione della comunitä di Valcamonica durante Ia dominazione viscontea (secc. XIV-XV), Milano 1976, S. 60-65.

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unter das Hauptzentrum des Territoriums, innerhalb dessen Grenzen diese sich befindet, nicht notwendig sei und führt das Beispiel von Vigevano im Verhältnis zu Pavia an: Vigevano hatte sich 1277 wenige Tage nach der Schlacht von Desio ein für allemal Mailand unterworfen. Was die Faktionswahl betraf, so gab es nur die Qual der Wahl im Spiel der Austritte und Allianzen zwischen den Grundherrschaften, den in der Stadt verwurzelten Adelsfamilien und den wichtigsten politischen Vereinigungen Mailands. In Bergamo verschärfen sich bekanntermaßen gegen Ende des 13. Jahrhunderts in Folge der Verbindung Suradi-Visconti und Rivola-Torriani die Gegensätze unter den Parteien; und wegen ihrer gewalttätigen Exzesse beeindrucken sie auch einige Jahre später noch auswärtige Beobachter wie den Chronisten Albertino Mussato aus Padua (der aufgrund eigener Erfahrungen sehr wohl etwas von innerstädtischen Zwisten verstand). Auch in Corno sind in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Kämpfe zwischen den Vittani und Rusconi aufs engste mit denen der Torriani-Visconti verflochten191 • Zusammenfassend, und ohne weitere Beispiele und Hinweise kann man sage, daß die unterschiedlichen Kombinationen dieser Elemente und potentiellen Komplikationen natürlich großen Einfluß auf die - homogene aber zerbrechliche, angeordnete aber nur teilweise ausgeführte- territoriale Organisation haben, die man auch in der Lombardei in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts anpeilte. Der Disziplinierungs- und Gestaltungsprozeß geht etappenweise vonstatten, er wird unterbrochen, bleibt leere Hülle, wird in den Statuten niedergelegt, aber in der Steuer- und Gerichtspraxis nicht konkretisiert; wenn er nicht sogar bisweilen regressiv ist. Das Phänomen ist in seinen allgemeinen Linien und seinen Ergebnissen wohlbekannt; aber was die monographischen Untersuchungen anbelangt, so gibt es noch einiges zu tun. So könnte man tatsächlich sagen, daß der ,historiographische Silberblick' noch nicht endgültig ausgeheilt ist, der in den letzten Jahrzehnten die Recherchen zu den Beziehungen zwischen Stadt und Territorium in der Lombardei am Ende des 13. und im 14. Jahrhundert beeinträchtigt hat. Dank älterer Untersuchungen der ,ghibellinischen' Geschichtsschreibung, die den Zentralismus, die einheitliche und verstaatlichende Tendenz der Viscontinischen Signoria (Romano, Tagliabue, Capasso, Cognasso, Barni usw.) betonen, haben wir minutiöse Informationen über die Modalitäten der von Mailand durch die domini betriebenen ,regionalen' Politik: in bezug auf die Beschränkung und die Bestimmung der Prärogativen der Stadtgemeinden192 191

Vgl. die .,Ordinationes partis Vitanorum edite anno MCCXCII", hrsg. von F

Fossati in: Periodico della societa storica per Ia provincia e l'antica diocesi di Como,

I (1878), S. 17-20.

192 Bibliographische Hinweise im Anhang von G. Chittolini (Hrsg.), La crisi degli ordinamenti comunali, S. 358, und in: A.l. Pini, Citta, comuni e corporazioni, S. 196 und S. 201 (Stand 1986); aber vgl. jetzt die Hinweise in den Aufsätzen in: L. Chiappa Mauri I L. De Angelis Cappahianca I P. Mainoni (Hrsg.), L'eta dei Visconti. Il dominio di Milano fra XIII e XV secolo (insbesondere die Untersuchungen der Herausgeberinnen und G. Battionis). Auf einem anderen Niveau soll wenigstens an den systemati-

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und der herrschaftlichen Kräfte 193• Dank jüngerer Untersuchungen haben wir eine klare Einsicht in die Fähigkeit der Regierung der Visconti, an alle im Territorium anwesenden Kräfte anzuknüpfen - die Orte, die getrennten terre, die Grundherrschaften 19\ Gebirgsgemeinden . . . Man könnte mithin sagen, daß für die Lombardei die Problematiken besser bekannt sind, die im Bereich der städtischen Bezirke einen besonderen statusgenießen oder mit diesen nur in loser Verbindung stehen, als diejenigen, die direkt von den Stadtgemeinden abhingen: Meines Wissens haben wir beispielsweise für keinen der städtischen Bezirke im 14. Jahrhundert eine vollständige Karte der gerichtlichen Sitze des contado195 und beim heutigen Stand der Untersuchungen ist es sehr schwer, sich eine genaue Vorstellung hierüber zu machen. Die Punkte der folgenden Abschnitte dürfen so nur als ein Anfang und eine Anregung zu einer noch zu vertiefenden Untersuchung verstanden werden. b) Unsicherheiten und Schwierigkeiten bei der Kontrolle des Bezirks im 14. Jahrhundert: drei lombardische Beispiele

Bergamo. Der augenscheinlichste und letzten Endes auch der bekannteste Fall einer Stadtgemeinde, die Schwierigkeiten hatte, den Bezirk erfolgreich zu sehen und gezielten Eingriff der Regierung der Visconti in die Statuten der abhängigen Städte erinnert werden (vgl. kurz C. Stortt Storcht, Aspetti generali della legislazione statutaria lombarda in etä viscontea, in: Legislazione e societä nell'ltalia medievale. Per il VII centenario degli statuti di Albenga [1288]. Atti del convegno [Albenga, 1821 onobre 1988) [Collana storico-archeologica della Liguria occidentale, XXV), Bordighera 1990, S. 75-83). 193 Ich beschränke mich darauf, die Legislation der Visconti in Sachen Burgen herrschaftlicher Familien zu erwähnen, die deren Zerstörung oder Entwaffnung vorsieht oder deren Konstruktion beziehungsweise Wiederaufbau verbietet, mit Verweis auf die Territorien von Cremona, Milano, Novara, Lodi, Asti und Alessandria; analoge Beobachtungen lassen sich auch für Bergamo, Brescia, Corno und Pavia anstellen. 194 Auch mittels feudaler Verbindungen, besonders in den allerletzten Jahren des 14. Jahrhunderts, in Verbindung mit dem Erlangen des herzöglichen Titels: hier versteht sich der Verweis auf die wohlbekannten Untersuchungen von G. Chittolini von selbst, insbesondere: Infeudazioni e politica feudale nel ducato visconteo-sforzesco, in dem Sammelband: La formazione dello stato regionale, S. 36-100 (der Aufsatz datiert 1972). Für weitere Informationen, vgl. unten, Anm. 246-248 sowie den dazugehörigen Text. 195 Außerdem, scheinen auch für das frühe 15. Jahrhundert nur in einzelnen Fällen systematische oder ausreichende Daten zur Verfügung zu stehen: für den Bezirk Cornos im Jahr 1426, vgl. beispielsweise E. Motta, Lettere ducali dell'epoca viscontea, in: Periodico della societä storica comense, XII, (1897), doc. 673, zit. auch von C. Santoro, Gli offici del comune di Milano edel dominio visconteo-sforzesco (1216-1215) (Archivio della Fondazione italiana per Ia storia amministrativa, 7), Milano 1968, S. 199, Anm. 6: es handelt sich um das capitaniato des Comersees, die Vikariate von Menaggio und Bellagio, die Podesterien von Gravedona und Teglio, Bormio und Chiavenna, und das capitaniato im Valtellin; von diesen Amtsbezirken gehören allein die Vikariate von Menaggio und Bellagio sowie die Podesterien von Gravedona und Teglio zur Gemeinde Corno.

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kontrollieren, ist wahrscheinlich derjenige Bergamos. Ein Vergleich zwischen den Statuten aus dem Jahr 1248 und 1331 zeigt, daß die Gemeinde im Prinzip natürlich weiterhin fortfuhr, die eigene Souveränität über das gesamte Territorium auszuüben 196• Allerdings entwickelt sich (auch wenn die Verwaltungsordnung Bergamos in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nicht hinreichend bekannt ist) die tatsächlich Situation in eine ganz andere Richtung. An dieser Stelle ist es von geringer Bedeutung, auf die Ursprünge der städtischen Faktionskämpfe im 13. Jahrhundert einzugehen, die bekanntermaßen in den Jahren 1296-97 eine starke Zunahme erleben. Es ist eine Tatsache, daß sie zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Bezirk fruchtbaren Boden finden, wo die Machtgrundlagen (inklusive Burgen) und die politischen Beziehungen vieler Familien mit den lokalen politischen Vereinigungen relativ solide bleiben. Vergebens sind die Unterdrückungsversuche der Stadtgemeinde mittels der capitani der Täler, die in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts mehrmals erwähnt wurden. Zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert bemächtigt sich beispielsweise eine Familie wie die Bonghi .solider Positionen in den Tälern, und baut auf wachsenden Reichtum (verzinste Darlehen, Viehzucht) upd auf die Kontrolle der Menschen (Vasallen, Posten als Podestä, Darlehen an die Gemeinden)"; sie hat eine Burg (in Castione della Presolana), wo sich die Gemeinde (1275) darauf beschränkt hatte, eine Garnison aufzustellen; und gibt die Podesterie von Almenno nur alle Jubeljahre aus der Hand197 . Es besteht kein Zweifel daran, daß eine Weiterentwicklung der prosopagraphischen Untersuchungen einzelner Familien zu einer Anreicherung der Kasuistik führen wird und den schon aus den Chroniken und den öffentlichen Quellen durchscheinenden befund abrunden wird: Zahlreiche Burgen und Festungen bleiben im Besitz des Adels, und auch sehr nahe an Städten gelegene Ortschaften sind in mehreren Fällen in Unruhen verwickelt und entziehen sich der Kontrolle der Gemeinde. Von Bedeutung für eine stark degenerierte Lage in der Bezirksverwaltung ist beispielsweise 1333 bei der Machtübernahme der Visconti die Unterdrükkung von "potestarie que in districtu Pergarni usitabantur retroactis temporibus ad tirampnidem et opressionem districtus". In Wirklichkeit hält sich der Steuerapparat relativ gut und macht sogar Fortschritte: Um ihn aber funktionsfähig zu halten, muß man unter manchen Umständen bis zur im Prinzip nicht annehmbaren Bestimmung von gemischten Kommissionen von welfischen und ghibellinischen Steuereintreibern gehen. Ohne mechanische Beziehungen von Ursache und Wirkung geht daraus somit unweigerlich eine neue Verwaltungsordnung hervor, mit einer grundlegenden Beschränkung der Prärogativen der Stadtgemeinde, besonders was die Täler der Voralpen betrifft. Dies geschieht C. Storti Storcbi, Diritto e istituzioni a Bergamo, S. 337 ff. (cap. VII). Vgl. die prägnanten Hinweise von F. Menant, Come si forma una leggenda familiare: l'esempio dei Bonghi, in: F. Menant, Lombardia feudale. Studi sull'aristocrazia padana nei secoli X-XIII (Cultura e storia, 7), Milano 1992, S. 224-225; und außerdem die in der folgenden Anm. angeführte unveröffentlichte Doktorarbeit von G. Battioni. 196

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unter einer fortschreitenden Intensivierung der Präsenz viscontinischer Vikare, die abwechselnd den einen oder anderen Kreis - manchmal auch gekoppelt - verwalten. Schon 1338, sofort nach der Eroberung durch die Visconti, werden das Brembana-Tal und das Seriana-Tal von Vikaren verwaltet, die von den lokalen Gemeinden bezahlten und später (in der Zeit von Bernabo) aus einer von ihnen präsentierten Gruppe von Anwärtern gewählt werden; 1359 beispielsweise wird ein einziger Vikar das Brembana-Tal, dasS. Martino-Tal und das Imagna-Tal verwalten. 1396 gibt es 5 Vikariate im Gebirgsraum, 4 im hügeligen und ebenen Gelände und 2 große Podesterien im Flachland (Romano und Martinengo), die ihrerseits mit Privilegien ausgestattet sind, die sie in die Nähe der valli esenti [steuerfreie Täler) rücken, wie man sie zu nennen beginnt. Es darf sodann auch nicht vergessen werden, daß noch abgelegenere Gebirgsgebiete wie das Scalve-Tal, das Averara-Tal und das Taleggio-Tal ganz unabhängig von der Stadt waren. In diesem Zusammenhang werden in den 60er und 70er Jahren ein Großteil der Statuten der Täler erlassen, die als Verfassungsordnung bis ans Ende des Ancien regime Gültigkeit haben sollten. Noch zu Beginn des 15. Jahrhunderts kontrollierten die Faktionen physisch ausgedehnte Teile des Territoriums ("partes Gibelinorum") und haben eine eigene Steuerorganisation ("texaurarius partis guelfe et gibelline de Nimbro"Y 98; offensichtlich nahmen diese erbitterten Feindseligkeiten kein Ende, da sich der Venezianer Pietro Barozzi, Bischof von Bergamo, noch Ende des 15. Jahrhunderts nach seinem Aufenthalt in dieser Stadt herausgefordert sah, den Traktat

198 Hierzu vgl. (außer B. Belottt, Storia di Bergamo e dei bergamaschi, III, Bergamo 1989, S. 31 (für die Vikariate des 14. Jahrhunderts) und II, passim; zu den Jahren Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts: G. Locatellt, Lo statuto della societa delle armi di S. Maria Maggiore di Bergamo, in: Bollettino della Civica Biblioteca di Bergamo, XVIII (1924), S. 1-18; A. Mazzi, Le postille allo statuto del 1289 della societa militare del popolo, ebd., S. 19 ff.; A. Mazzi, Aspetti di vita religiosa e civile nel secolo XIII a Bergamo, ebd., XVl, 1922, S. 247-248 ff., und die neue Untersuchung von G. Battioni, Tra Bergamo e Romano nell'autunno del 1321 , in: L. Cbiappa Mauri I L. De Ange/is Cappabtanca I P. Mainoni (Hrsg.), L'eta dei Visconti, pp. 365-391 (mit weiterer Bibliographie, und mit der Herausgabe eines beispielhaften Dokuments versuchter Aussöhnung seitens der Gemeinde, aus dem die weitreichenden Folgen der Faktionskämpfe auf das Funktionieren des Steuer- und Gerichtssystems hervorgehen; von demselben Autor vgl. die bislang unveröffentlichte prosapographische Untersuchung, die einer der wichtigsten Familien gewidmet ist ["Per Ia storia della societa bergamasca fra Duecento e Trecento: Ia famiglia Bonghi", Doktorarbeit in mittelalterlicher Geschichte, Universita degli Studi di Milano)); und zur Entwicklung im 14. Jahrhundert, in der erschöpfenden Bibliographie, C. Capasso, Guelfi e ghibellini a Bergamo, in: Bollettino della Civica Biblioteca di Bergamo, XV (1921), Heft 3, S. 1-44 (S. 36-44 für die ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts); A. Mazzt, Zogno divisa fra guelfi e ghibellini, in: Dollettino della Civica Biblioteca di Bergamo, XI (1917), S. 22-24 (auch für das 15. Jahrhundert); M. Tagliabue, Come si e costituita Ia "communitas" di Val S. Martino, in: Atti e memorie del secondo congresso, S. 73-93; A. Mazzi, Sul Diario di Castellus de Castello, Bergamo 1925. Zu den Statuten vgl. zuletzt G. Cbittolini, Legislazione statutaria e autonomia nella pianura bergamasca, in: M. Cortesi (Hrsg.), Statuti rurali e statuti di valle. La provincia di Bergamo nei secoli XIII-XVIII. Atti del Convegno, Bergamo 1984.

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"De factionibus extinguendis" zu schreiben199 . Die inhärente These, die dem Werk des Venezianers Barozzi zugrunde liegt, gilt auch für den historiographischen Blickwinkel: Wer die politische und soziale Lage des Bezirks von Bergamo im 14. (und 15.) Jahrhundert untersucht und sie- beispielsweise- mit jener in einigen anderen Bezirken Venetiens vergleicht, erhält den Eindruck tiefer und grundlegender Unterschiedlichkeit. Sicherlich fehlt es auch in der Gesellschaft Vicenzas, Paduas oder Veronas, abgesehen von den äußeren Kriegen, nicht an Fehden, latenter Gewalt und Faktionen unter den Patriziern (Patrizier, die außerdem inzwischen eher in Palazzi als in Burgen leben): Aber mit Sicherheit fehlen im Bezirk diese Auswirkungen andauernder Mobilisierung, konsolidierter Aufstellungen, erbitterter Feindseligkeiten und offenen Krieges. Diese relative Ruhe steht so in starkem Gegensatz zur leidgeprüften Geschichte der lombardischen Bezirke: "das unablässige, fieberhafte Streben nach Frieden" 200 , das im gesamten Italien des 14. Jahrhunderts verbreitet war, sollte hier besonders stark gespürt werden, intus et in cute. Como. Der Bezirk Corno präsentiert aus offensichtlichen geographischen Gründen und wegen des starken Einflusses Mailands eine ausnehmend komplexe Situation. Wie bekanntlich ist das lokale politische Leben in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts von den lokalen Faktionskämpfen gekennzeichnet, die von den Rusconi und den Vittani abhingen, bei denen die Mailänder Exilanten mit im Spiel sind, die häufig mit den herrschaftlichen Familien des Valtellins in Verbindung stehen 201 • An dieser Stelle ist es nicht möglich, diesen komplexen Angelegenheiten nachzugehen: Es soll genügen, daran zu erinnern, wie die Schreiber des Vorworts des Statuts von 1335 diese inzwischen alten Probleme zur Kenntnis nehmen, als sie die Schwierigkeit betonen, den "indivisibile quodammodo corpus" 202 zusammenzuhalten. Das Valtellin wurde nie vollständig in den Bezirk 199 Vgl. die von F. Gaeta, Venezia I Roma 1961, herausgegebene Ausgabe. Nachklänge der Kontroversen zwischen gelpbi und gibelini Bergamos finden sich noch 1519 in venezianischen Ratssitzungen (M. Sanuto, I diarii, XXVII, Venezia 1890 [anast. Druck Bologna 1969], Sp. 420, 530 usw.). 200 R. Manselli, Petrarca nella politica delle signorie italiane alla meta del Trecento, in: G. Padoan (Hrsg.), Petrarca, Venezia e il Veneto (Civilta veneziana. Saggi, 21), Firenze 1976, S. 15. Ganz allgemein zum Thema ist es überflüssig auf die Akten der Tagung von Todi, aus dem Jahr 1974, hinzuweisen. 201 Zu den Beziehungen zwischen Simone da Locarno und Corrado da Venosta in den 60er Jahren, vgl. E. Besta, Storia della Valtellina e della Valchiavenna, Milano 1955, I. Historische Untersuchungen zum ,alpinen' Adel der Lombardei sind im Grunde genommen nicht über die Untersuchungen von Besta (in den folgenden Anm. zitiert) hinausgegangen und deutlich im Hintertreffen, wie auch jüngst hervorgehoben wurde (R. Bordone, Le aristocrazie militari e politiche tra Piemonte e Lombardia nella letteratura storica recente sul Medioevo, in: G. Coppola I P. Scbiera [Hrsg.], Lo spazio alpino: area di civilta, regione cerniera [Europa mediterranea. Quaderni, 6], Napoli 1991, s. 130-131). 202 .,Statuti di Como del 1335. Volumen magnum", hrsg. von G. Manganelli, Milano 1936, S. 17.

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von Corno eingegliedert203 und strebte eine progressive Autonomie an. Es hing zwar in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhundert in gewissen Perioden (mit Poschiave und Bormio) steuerpolitisch von der Stadt ab, stellte aber eine eigene direkte Beziehung zu Mailand her und lehnte sich mehrmals auf. Diese unentschiedene Haltung des Valtellins, die Behauptung der Grundherrschaften, wie jene der Sacco in den Bergtälern, die erworbene Autonomie der gewerbetreibenden Ortschaft Torno, die wenn auch geringen Privilegien, die die Küstengemeinden erhalten hatten, sie alle sind Indizien für die zunehmenden Schwierigkeiten. Die Lebenskraft der herrschaftlichen Welt ist noch ungebrochen, als Galeazzo Visconti 1357 mit einem Dekret beschließt, daß "nule fortilicie fiant in districtu nostro Cumarum per aliquos cives vel districtuales" 204 • Das gilt besonders für die Familien des Valtellin: 1369 erhebt sich der contado von Corno angeführt von Tebaldo, einem der capitanei von Sondrio, gegen Galeazzo Visconti. Und die Lage sollte sich auch nicht so bald verändern: Laut Besta war es beispielsweise eine Unterbewertung der "Unerbittlichkeit der Parteikämpfe im Tal" 205, die die ausbleibende Konsolidierung der venezianischen Präsenz im Valtellin gebot, die sich in den 30er und 40er Jahren des 15. Jahrhunderts als konkrete Perspektive anbot206 . Schon zuvor hatte ja das Übereinkommen von Filippo Maria Visconti mit den Rusconi die Rechtsprechung Cornos aufs stärkste eingeschränkt und so das Gebiet Luganos aus der Abhängigkeit der Stadt befreit207 •

Brescia. Auch im Fall von Brescia kann man von einem Mißerfolg oder einer starken Verlangsamung des Organisations- und Disziplinierungsprozesses des städtischen Bezirks sprechen. Durch das gesamte 13. Jahrhundert hindurch hatte die Gemeinde Brescia große Anstrengungen unternommen, um den Widerstand der einflußreichen Familien gräflicher Tradition zu überwinden, so die Casaloldi und "illi de domo comitis Ugonis", die sowohl im Flachland als auch im hügeligen Gebiet ansässig waren. Im Flachland waren grundlegende Erfolge erzielt worden; viele Herrschaften, die vorher dem Bistum und anderen kirchlichen Einrichtungen gehört hatten, waren erworben worden. Aber anders präsentierte sich die Situation im späten 13. und frühen 14. 203 Insbesondere Bormio und Poschiavo stehen oft unter dem Einfluß des Bischofs von Coira und dessen Rechtsanwälten, den Matsch-Venosta (L. Prosdocimi, Problemi sulla formazione e sull'ordinamento del territorio di Corno, S. 246, mit Verweis auf die Recherchen von Besta). Für einige Hinweise zu Überbleibseln bischöflicher Autorität im Valtellin in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, vgl. jetzt L. Martinel/i Perelli, Abbondiolo de Axinago notaio in Corno. I cartulari di un professionista della prima meta del Trecento, in: L. Cbiappa Mauri I L. De Angelis Cappabianca I P. Mainoni (Hrsg.), L'eta dei Visconti, S. 400. 204 ,.Statuti di Corno", st. CCXXVIII, S. 245-246 (Statuten "de officio malefitiorum"). 205 E. Besta, Venezia e Ia Valtellina nel secolo XV, in: Archivio storico lombardo, LV (1928), S. 124. 206 E. Besta, I capitanei sondriesi, in: Miscellanea di studi storici in onore di Antonio Manno, Torino 1912, li, S. 259-287. 207 L. Prosdocimi, Problemi sulla formazione e sull'ordinamento del territorio di Corno, S. 248.

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Jahrhundert in den hügeligen und gebirgigen Gebieten. Laut einem außenstehenden Beobachter wie dem Autor des "Chronicon placentinum guelfo-ghibellinum", im Jahr 1269, hält der äußere Teil zu Brescia .quasi totum episcopatum contra illos de civitate, et Vall[em] Camonicam et cetera loca, exceptis quatuor vel quinque castris que illi de civitate tenent": vielleicht eine überspitzte Bewertung, aber sicherlich Ausdruck einer realen Situation. Anziehende Tendenzen sind beispielsweise in dem Camonica-Tal offensichtlich. Die in der Viscontinischen Vermittlung vom Ende des 13. Jahrhunderts impliziten Vorbedingungen208 werden in den folgenden Jahrzehnten nicht ohne Einmischung der Scala weiterentwickelt. Im langsamen Verfall der wirtschaftlichen Macht des Episkopats ("cum non inveniretur aliquis qui confiteretur se manentern episcopatus", bekennen die Notare des durchaus energischen Bischofs Berardo Maggi, der zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert aktiv war), finden die Talgemeinden so Raum für wichtige Schritte in Richtung einer Definierung von Strukturen und Instrumenten zur Selbstregierung: 1311 erhalten sie einen eigenen kaiserlichen Vikar, entwickeln die Kodifizierung, bauen einen Talrat auf und geben sich einen Kanzleiapparat209• Nicht weniger wichtig, auch wegen der nicht zu vernachlässigenden wirtschaftlichen Bedeutung dieses Territoriums, sind die politisch-institutionellen Entwicklungen der westlichen Gardesana, die nutzbringend mit dem grundverschiedenen (und geographisch und wirtschaftlich homogenen) Veroneser Küstenstrich konfrontiert werden kann. Die Veroneser Gardesana, obwohl sie - man bedenke - eine lange Tradition von Autonomie und Angliederung an das Reich hinter sich hatte, jüngst unter den Staufern wiederbelebt, ist seit 1193 der Stadtgemeinde dezidiert untergeordnet (und genießt -wenn überhaupt -geringe Steuerbefreiungen, die ausgehend vom 14. Jahrhundert von den Unkosten abhängen, die mit der Überwachung des Gardasees verbunden sind), und zwar so sehr, daß sie ihre territoriale Einheit verliert und in verschiedene Vikariate aufgeteilt wird, die von Veroneser Bürgern verwaltet werden. In der Gardesana Brescias hingegen war die von der Gemeinde Brescia ausgeübte Souveränität seit Anfang des 13. Jahrhunderts Teil eines lebendigen Mischgewebes herrschaftlicher und gemeinschaftlicher Prägung, von Zeit zu Zeit auch lokal von Faktionskämpfen durchwirkt210 • Hervorhebenswert war unter anderem die herrschaftliche Präsenz des Episkopats in Toscolano, Maderno und Vobarno; und vor allen Dingen blieb im Verlauf des 13. Jahrhunderts die Macht der herrschaftlichen Familien wie der Ugoni (in Salö und Gardone ansässig) solide; sie greifen immer wieder in die Streitigkeiten zwischen den Herren und der Gemeinschaft ein, obwohl ihnen regelmäßig von den Gemeinden Schranken gesetzt werden. Es verwundert daher nicht, daß der Küstenstrich in den 60er Jahren den Brescianer Exilanten Unterkunft ge208

Vgl. oben, Anm. 190 und den dazugehörenden Text.

209 / .

Valetti Bonini, Le comunitä di valle, S. 73 und ff.

° Für einen Hinweis zu den in Desenzano organisierten partes (eine

villa, die zur Diözese Veronas gehörte) vgl. _F. Odorici, Codice diplomatico bresciano, ßrescia 1856 (VIII), S. 26. 21

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währte, die Konradin wohlgesonnen waren. Die Abordnung von Hauptleuten, die für das gesamte Territorium und für einzelne Burgen verantwortlich waren, konnte mit Sicherheit den Stand der Dinge in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nicht verändern. Daher lagen zu Beginn des 14. Jahrhunderts ,.in der Schwäche der Gemeinde von Brescia, in der Zuflucht, die den unterliegenden Faktionen der benachbarten und mächtigen Gemeinden angeboten wurde, ... die Grundlagen für die Behauptung einer lokalen Autonomie, wenn die allgemeinen Bedingungen dies erst einmal erlauben sollten und die Seegemeinden ihre partikularistischen Positionen überwunden haben sollten" 211 • So kam es zu einer endgültigen Wende nach der Herrschaft des Johann von Böhmen (als dieses Territorium einem Castelbarco aus dem Trentino anvertraut wird) und der kurzen Herrschaft der Scala (1332-1336): Mit dem ausdrücklichen Schutz der Republik Venedig konsolidiert die Riperia lacus Garde Brixiensis somit die eigenen Strukturen zur Selbstregierung (Podestä, abbates, Rat) und distanziert sich auch formell von der Gemeinde Brescia; und im Jahrzehnt von 1339-1351 wird sie von venetianischen Podestä regiert. Auch in den folgenden Jahrzehnten, unter Bernabo Visconti und Regina della Scala, gelang es der Riviera, sich Raum für eine endgültige Konsolidierung als ,.universitas per se . . . omnimodo separata et nihil respondens nec summissa in aliquo comuni Brixie" zu schaffen; und das sogar in dem Viscontinischen Staatsgefüge, das später von Giangaleazzo (1385) vereint wurde. In Brescia haben wir also eindeutig einen unvollständigen Bezirk, in dem auf die Behauptung der Überlegenheit im 13. Jahrhundert keine völlige Unterwerfung folgt. Erst nach der venezianischen Eroberung im 15. Jahrhundert wird die Gemeinde Brescia hinsichtlich der Kontrolle des Territoriums einen gewissen Fortschritt machen und in einem ungewöhnlichen Prozeß versuchen, die administrativ-gerichtliche Geographie der Steuergeographie anzupassen, also die Vikariate nach dem Muster der squadre zu gestalten, in die der Bezirk - wenigstens in der Niederung - seit Jahrhunderten aufgeteilt war212 . Aber auch nach dem Jahr 1440 behalten einige bedeutende Familien von ,.domini iurisdictionem separatam habentes" wie die Avogadro, die Martinengo und die Gambara ihre Rechte bei213• A. Castagnetti, Le comuniti della regione gardense, S. 90-98 (S. 95-96 für das Zitat). Von Bedeutung ist das Privileg, das die Stadtgemeinde - nach der Belagerung des viscontinischen Heeres im Jahre 1439-1440 erwirbt. Es wurde beschlossen, einen städtischen Vikar in jeden Hauptort einer squadra zu entsenden, jedoch blieb die Lage in den folgenden Jahren relativ unproblematisch, selbst im Rahmen einer der Stadt relativ wohlgesonnenen Ausrichtung Venedigs. Nicht klar definiert scheint die Situation in den städtenahen Tälern (Valtrompia, Valsabbia), während die Riviera zum Teil erneut kontrolliert wird; die herrschaftlichen Amtsbezirke der Gambara (Pralboino), der Avogadro (Lumezzane) sowie der Martinengo (Urago d'Oglio) blieben allerdings intakt. Für eine knappe aber präzise Skizze des Territoriums von Brescia zu Beginn der venezianischen Herrschaft, vgl. D. Parzani, II Territorio di ßrescia intorno alla metä del Quattrocento, in: Studi bresciani, IV (1983), Heft 12, bes. S. 55-57. 213 Ein breitgefächertes Gesamttableau liefert S. Zamperetti, I piccoli principi, S. 149-187, mit Bibliographie. 211

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c) Der Mailänder Bezirk Dies ist natürlich nicht die richtige Stelle, um die politisch-institutionelle Geschichte Mailands in den mittleren Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts, ausgehend von der Behauptung der Hegemonie der della Torre, nachzuvollziehen. Sie betrieben bekanntermaßen eine "bewußte Zerstörungspolitik der Burgen und Festungen des contado", und zwar so intensiv, daß die Eideserklärung aus dem Jahr 1272 den Podesta dazu verpflichtete, die herrschaftlichen Gerichtsbarkeilen im Umkreis von 10 Meilen um die Stadt abzuschaffen214. Dennoch war das Mailänder Territorium, das aus den Territorien der Bazzana und der Martesana, sowie den ländlichen contadi des Seprio, der Bulgaria bestand (abgesehen von den contadi Stazzona und Lecco, die formell dem Erzbischof unterstanden) auch in dieser Phase nicht Gegenstand einer territorialen Neuordnung. Die angeführten Kreise werden in mehreren Fällen zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert direkt von Vertretern der machthabenden Familien regiert (Francesco della Torre, 1266 Herr des Seprio, 1270 der Bulgaria; Lodrisio Visconti und Marco Visconti 1311 und 1329 Herren des Seprio), und innerhalb ihrer Grenzen kommt es nicht zu organischen Neuordnungen. Auch der contado von Lecco bleibt genau wie Angera bis zum Ende des 14. Jahrhunderts beim Erzbischof von Mailand. Generell ist die Haltung der signorilen Regierungen Mailands gegenüber den kirchlichen Gerichtsbarkeiten, deren territoriale Ausdehnung im Verlauf des 13. und 14. Jahrhunderts aus physiologischer Abnützung langsam zur Neige geht, nicht zerstörerisch215 • Erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nimmt eine Entpersonalisierung der Herrschaften ihren Anfang, und es wird mit neuen Strukturen experimentiert. Nach einer Tendenz, die sich in allen werdenden Territorialstaaten manifestiert216, führten Luchino und Giovanni Visconti tatsächlich eine Polizeibehörde ein, einen potestas, der für den gesamten Mailänder contado zuständig war und mit großzügigen Vorrechten ausgestattet war. Aber besonders in den folgenden Jahren begann man, Richter mit genau umrissenen Kompetenzen zu benennen, und sei dies auch auf der Grundlage der alten Bezirke. 1355 sind zwei Vikariate im Seprio bestätigt, in Varese und Gallarate, und zwei in der Bulgaria, in Magenta und in Saronno; außerdem werden in zahlreichen anderen Zentren (so in Rosate, Vimercate, Melzo, Treviglio, Melegnano und Cantu) periodisch Vikare bestätigt217 • Dies geschieht infolge einer eher empirischen Logik der Ausweitung der Zentralgewalt, die sich spontan auf einige Ortschaften richtet, die besonders nördlich der Städte eine demographisch 214 Kürzlich ist Violante in der Einführung zum Nachdruck eines wichtigen Aufsatzes dem Problem nachgegangen (C. Violante, Presentazione, in: R. Romeo, II comune rurale di Origgio nel secolo XIII, Milano 1992, S. X-XI, auch für das Zitat; die Untersuchung Romeos datiert aus dem Jahr 1957). 215 Ebd., S. XVII. 216 Vgl. unten, Anm. 245 und den dazugehörenden Text. 217 E. Riboldi, I contadi rurali del Milanese (sec. IX-XII), in: Archivio storico lombardo, XXXI (1904), S. 74 (Seprio und Bulgaria).

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und wirtschaftlich beachtliche Konsistenz angenommen hatten218 • Einige Jahrzehnte später (1385) macht Giangaleazzo eine Kehrtwendung und konzentriert von Neuern die rechtsprechenden Kompetenzen auf die beiden Hauptleute, denen die vier ländlichen contadi (Bazzana und Martesana, Seprio und Bulgaria respektive) unterstanden, während die Siedlungen in einem Umkreis von 10 Meilen um die Stadt von neuem dem städtischen Podestä unterstellt wurden. Aber das Hin und Her war noch nicht vorbei: Wenigstens in den nächsten fünfzig Jahre bis zur endgültigen Verankerung der ländlichen Podesterien um 1450, folgen vereinzelte Nachweise von Vikaren und Vorkehrungen gegenteiligen Vorzeichens aufeinander (mal Zentralisierung, mal Lokalisierung der geringeren rechtsprechenden Funktionen219). Dies ist mehr als alles andere der Beweis für die Schwierigkeiten bei der Entwicklung einer effektiven Kontrolle, der Beweis für eine Gleichgültigkeit gegenüber den Instrumenten, mit denen diese Kontrolle sich konkretisiert, und der Beweis für das Fehlen einer in denselben Jahren von der Florentiner Regierung bewiesenen Rationalität im verwaltungstechnischen Organisieren des Territoriums in der forma mentis der Regierungsschicht der Visconti220.

6. Die Grenzen der städtischen Kontrolle in den emi/ianischen Stadtbezirken Für die emilianischen Städte kann man sich kürzer fassen, nicht so sehr weil die Probleme nicht komplex und diversifiziert wären, sondern weil wenigstens für einige dieser Bezirke neuere bibliographische Hinweise zum ,.herrschaftlichen und feudalen Partikularismus" 221 existieren, der sie umfassend charakterisiert: also zum Überleben von politisch, territorial und auch wirtschaftlich auffallenden herrschaftlichen Phänomenen nicht nur in den abgelegen und gebirgigen Gebieten, sondern auch im Flach- und Hügelland im 14. Jahrhundert. Auf die alternativen Fragestellungen Chittolinis, ob die Koexistenz des herrschaftlichen Phänomens in diesem Gebiet auf einer ,.konstitutionellen Schwäche der Stadtgemeinde zwischen dem Apennin und dem Po" beruht, 218 L. Cbiappa Mauri, Gerarchie insediative e distrettuazione rurale nella Lombardia del secolo XIV, in: L. Cbiappa Mauri I L. De Angelis Cappabianca I P. Mainoni (Hrsg.), L'eta dei Visconti, S. 298-299. 219 Ebd., S. 299-301 und Karte aufS. 300. 220 Außer der Untersuchung von A. Zorzi, in diesem Band, und der dort angeführten Bibliographie, vgl. G. Chitto/ini, Ricerche sull'ordinamento territorialedel dominio fiorentino agli inizi del secolo XV, im Sammelband desselben Autors: La formazione dello stato regionale, S. 292-293 ff. 221 Der zitierte Ausdruck stammt aus der bekannten Arbeit von G. Cbittolini, II particolarismo signorile e feudale; im Band .,La formazione dello stato regionale" sind auch andere Untersuchungen zu den Grundherrschaften in Parma und Piacenza enthalten (I! luogo di Mercato, il comune di Parma, i marchesi Pallavicini di J>ellegrino, S. 101-180 [1973]; La .,signoria" degli Anguissola su Riva, Grazzano e Montesanto fra Tre e Quattrocento, S. 181-253 [1974]). Zu Pam1a vgl. dann die Untersuchungen von Greci im angeführten Band oben, Anm. 151, und verwendet unten (Anm. 225 und 226).

II Chillnlini I Willnwcil

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"die von Anfang an unfähig war, ein ausgedehntes und sicheres Dominium auf dem Territorium des Episkopats zu gründen", oder ob sie einem "Bruch im Gleichgewicht, der zeitlich später anzusiedeln ist, und zwar im Zeitpunkt des umsichgreifenden zwischenstädtischen Kampfes und der Krise des Stadtstaates" zuzuschreiben sei, ist vielleicht eine Antwort möglich, wenn man sich auf die jüngsten Untersuchungen über Parma und Piacenza beruft. Alles in allem scheint der Standard des 13. Jahrhunderts, den Modena oder Reggio oder Parma oder Piacenza in Sachen steuerlicher und rechtsprechender Organisation erreichen, nicht so unähnlich gegenüber dem von Brescia oder Bergamo oder Padua und Vicenza. Die Anerkennung der superioritas, das Aufbürden partieller steuerlicher, militärischer Verpflichtungen und in manchen Fällen auch Verpflichtungen in bezug auf die ,Annona', sind im Gegenteil die RegeJ222; gemeinsam ist ihnen auch die tendenzielle Erosion der kirchlichen Herrschaften, besonders der bischöflichen. Aber genauso konstant ist die starke Widerstandskraft der apenninischen Feudalität: Es ist auf das piacentinische Gebirge hingewiesen worden223, und ähnliches ließe sich auch über Parma, Reggio und Modena sagen. Seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stellt sich beispielsweise der Gemeinde Parma das Problem einer festeren Eingliederung der herrschaftlichen Kräfte. 1255 sieht das Stadtstatut eine vollständige Identifizierung der bestehenden Burgen vor und die mögliche (dann teilweise ausgeführte) Zerstörung jener nicht zu Verteidigungszwecken geeigneten; aber 60 Jahre später, nach stürmischen Jahrzehnten, in denen die wichtigen signorilen Familien sowohl aus Städten oder Burgen, an den kommunalen Einrichtungen interessiert, aber immer mit einem Fuß in der Stadt und mit dem anderen im Territorium stehend - die Protagonisten gewesen waren, hat die Stadtgemeinde in Sachen einer größeren Disziplinierung fast keinen Fortschritt gemacht. Im Statut aus dem Jahr 1316 ist dem capitano del popolo theoretisch die Möglichkeit vorbehalten, sich - falls er dies für nötig erachteten sollte - alle Befestigungen pro bono pacis übergeben zu lassen und Wächter sowie Garnisonen einzusetzen; und man orientiert sich daran, jeden "locus, terra, castrum et collegium" zu "compellere", um "solvere coltas". Dennoch können die domini castrorum sich darauf beschränken, eine Bürgschaft als Garantie ihrer (unsicheren) Treue bei der Stadtgemeinde zu hinterlegen, und andererseits sieht das Statut selbst ausdrücklich vor, daß "quamplures nobiles et potentes recusant et recusaverunt solvere coltas, mutua et onera eis imposita propter eorum potenciam et superbiam". Sie müssen zwar aufgelistet sein, müssen einen popularis als Garanten haben und, wenn zahlungsunfähig, verbannt werden; aber das Funk222 Eine in diesen Fällen übliche Kompromißlösung ist jene, die die Gemeinde 1220 trifft und mit dem Bischof übereinkommt: die Stadt verpflichtet sich dazu, die bischöflichen Prärogativen über ca. 15 Durgen zu respektieren (unter ihnen Derceto und Colorno), aber erhält im Gegenzug die Verpflichtung, die Mindeststeuern zu zahlen und den Respekt der Annona; und ähnliche Grenzen werden anderen Herren gesetzt. 223 Vgl. oben, Anm. 149 sowie den entsprechenden Text.

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tionieren des Steuersystems selbst ist von der .potencia et superbia" des Adels stark beeinträchtigt224 . Diesem Stand der Dinge konnte mangels eines charismatischen Anführers, der als Bezugspunkt für die Interessen der civitas hätte fungieren können - letzten Endes auch wegen der sozialen und wirtschaftlichen Schwäche der städtischen Schichten225 - keine endgültige Abhilfe geschaffen werden. Noch konnten die extralokalen politischen Autoritäten, die ab 1329 Parma regieren sollten, daran interessiert sein, eine radikale Stärkung der städtischen Prärogativen zu erzwingen226. In anderen umliegenden Städten ist die Lage kaum anders. Auch im Bezirk Piacenza blieb das Gebirge zum Großteil von der städtischen Macht unberührt, die zweifelsohne durch die Machtentfaltung der Pallavicino und der Landi im Verlauf des 13. Jahrhunderts geschwächt worden war; "reduit ä affirmer son contröle sur !es zones de passage" im Taro- und im Trebbia-Tal227 • In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts kann Uberto Lande28 als Prototyp eines "schlecht unterworfenen und vom contado halbwegs selbständigen Landadeligen" gesehen werden, und das Abtreten von jurisdiktionellen Rechten über Bardi und andere Ortschaften des Taro- und des Ceno-Tals an ihn, ist für die Gemeinde ein eindeutiger Verlust. Was die persönliche Herrschaft Alberto Scottis, des Herren von Piacenza, betrifft, so kann diese nur in der ersten Phase seiner ,signoria' für die Stadtgemeinde als nicht destabilisierend gesehen werden229• Und dies waren nicht die einzigen herrschaftlichen Behauptungen des 14. Jahrhunderts: so zum Beispiel die erste herrschaftliche Konsolidie224 Außerdem genügt es den Rossi angesichts der Möglichkeit einer strengeren, gegen die Magnaten gerichteten Gesetzgebung und von Eingriffen in Steuersachen, sich in ,ihre' Orte und ,ihre' Burgen zurückzuziehen, die als solche bezeichnet werden, wie das "Chronicon parmense" berichtet ("iverunt cum omnibus suis familiis ad loca et vilas eorum": vgl. den in der folgenden Anm. zitierten Aufsatz, S. 24). 225 R. Greci, Parma medievale, S. 15-27 (Kap. I: "II contado di fronte alla citta: castelli signorili e piccoli stati autonomi nel Parmense"; die Untersuchung datiert aus dem Jahr 1981). 226 Die Herrschaft der Scala "verschärfte [obendrein] das Loslösen des contado, in einem Gebiet wo der Entstehungspozeß der contadi zumindest schwach und unvollständig gewesen war" (ebd., S. 65, Kap. II: "Una svolta verso Ia definitiva perdita d'autonomia: Ia dominazione scaligera"; die Untersuchung datiert aus dem Jahr 1988). 227 P. Racine, Plaisance du Xe a Ia fin du Xllle siede, S. 924. 228 P. Castignoli, Ubertino Landi e l'ultima resistenza; die zitierte Definition stammt aus: P. Racine, Ville et contado dans l'Italie communale. L'exemple de Plaisance, in: Nuova rivista storica, LXI (1977), S. 283. 229 Einige der von Scotti kontrollierten Ortschaften, wie Zavattarello und Fombio, sind tatsächlich für die Kontrolle der Handelsstragen nach Genua und Mailand wichtig; auch die Gründung von Castel S. Giovanni (E. Nasa/li Rocca, Consoli e pubblici officiali nelle comunita rurali, in: Bollettino storico piacentino, 25 [1930], S. 97) entspricht dem allgemeinen Interesse der Stadt. Eine andere, eindeutig antistädtische Bedeutung wird hingegen in den folgenden Jahrzehnten die Kontrolle über Fiorenzuola und Casteii'Arquato haben (E. Nasa/li Rocca, II testamento di un "signore" del sec. XIII. Alberto Scotti signore di Piacenza, in: Archivio storico lombardo, LXXVII [1950], s. 267-268).

tt•

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rung eines anderen handeltreibenden Geschlechts zu Beginn des Jahrhunderts, das sich in den folgenden Jahrzehnten konsolidieren sollte, die Anguissola230. Im Zeitalter der Visconti wird der Bezirk Piacenza also nur teilweise von der Stadt verwaltet, vermittels der fünf Podesterien des Taro-Tals und des Ceno-Tals, von Fiorenzuola, Castel S. Giovanni und Bobbio231 . Einige Gebiete, wie das Nure-Tal, sind gegen Ende des 14. Jahrhunderts anscheinend noch ohne dauerhafte administrative und rechtsprechende Organisation städtischer Emanation 232. Zuletzt verwundert es nicht, daß man für Reggio, das - "in magno flore" im Zeitalter Dantes - nicht später als 1371 zum Zeitpunkt der Eroberung durch die Visconti im Sterben liegt, ohne eigenen contado, aufgeteilt unter den signorilen Herrschaften233 , seine Bürger über die ganze Welt verstreut23~, einen prägnanten Blick für die Schwierigkeiten hat, auf die der Konsolidierungsprozeß der Bezirksorganisation im Verlauf des 14. Jahrhunderts gestoßen war.

7. Die Regierung der Visconti und die emilianischen und lombardischen Bezirke in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts In keiner der emilianischen Städte ist im 14. Jahrhundert mitten in den Auseinandersetzungen, in denen sich die herrschaftlichen Familien im Territorium und in den städtischen Einrichtungen als Herren aufspielen, der Sinn für das allgemeine Interesse, das bonum publicum, verloschen; noch fehlt aber die Forderung nach einer abgeschlossenen Steuer- und Rechtshoheit In Parma erwirbt die Gemeinde Mitte des 14. Jahrhunderts das merum et mixturn imperium über das Cavalieri-Tal235 , und das sofort nach der Übergabe der Stadt an die Visconti erlassene Stadtstatut aus dem Jahr 1347 erinnert an die "pressure, iniurie et violencie magnatum et nobilium" in den ville des contado und betont die Verpflichtung zu Bürgschaften .de assicurando stractas et viilas 230 G. Chittolini, La "signoria" degli Anguissola, S. 184. 231 T. Zerbi, La banca nell'ordinamento finanziario visconteo. Dai mastri del banco Giussano, gestore della tesoreria di Piacenza: 1356-58, Como 1935. 232 D. Andreozzi, Nascita di un disordine. Una famiglia signorile e una valle piacentina tra XV e XVI secolo (Early Modern. Studi di storia europea protomoderna, 2), Milano 1993, S. 40. 233 Das Urteil stammt von Benvenuto Rambaldi da Imola; es erinnert daran G. Monteccbi, I conflitti fra le signorie. Reggio fra XIV e XV secolo, in: M . Festanti I G. Gberpelli (Hrsg.), Storia illustrata di Reggio Emilia, Bologna 1990, S. 149. Zur Herrschaft der Visconti in Reggio vgl. N. Grimaldi, La signoria di Bernabo Visconti e di Regina della Scala in Reggio (1371-1385), Reggio Emilia 1921. 23 ~ Bekanntermaßen machen einige Familien im Venetodes 14. Jahrhunderts ihr Glück, wie die da Sesso aus Reggio in Vicenza und Verona ( G.M. Varanini, Vicenza nel Trecento, S. 191-193) und die Lupi di Soragna aus Parma, für eine gewisse Zeit, in Padua (vgl. hier oben, Text der Anm. 119), bevor sie nach Mantua übersiedelten: typische Migrationen dieser Familien von milites, teilweise deracinees. 235 R. Greci, Parma medievale, S. 22.

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et loca in quibus sunt seu habitant". Als Reggio Emilia 1371 in die Hände von Bernabö Visconti und Regina della Scala fällt, kontrolliert die Stadtgemeinde effektiv nur einen geringen Teil des Stadtbezirks: "die Dallo, die Bismantova, die Vallisnera, die da Palude sind in den Burgen der Berge fest im Sattel, die Fogliano, die Canossa, die Manfredi kontrollieren die Linie der Hügel, und in der Ebene - im Osten und im Norden der Stadt - vervollständigen die äußerst soliden (und bekannten) Herrschaften der Pico, der Pio, der Correggeschi und der Ganzaga die Umzingelung". In Anbetracht dieser Situation ist die Regierung der Visconti gegenüber den Fragen der Gemeinde nicht taub, die seit den capitoli di dedizione (den Unterwerfungsverträgen) die Wiederherstellung der städtischen Vormacht über den Bezirk verlangt hatte und eine nicht indifferente Stärkung der städtischen Prärogativen fördert: Das von den Manfredi abgetretene Albinea, Correggio, ein Teil der mehr als 20 den Fogliano unterstehenden Burgen sowie einige den Canossa untergebenen Ortschaften werden wiedererlangt, so daß wieder einmal die Grundherrschaft auf den Apennin beschränkt ist. Die Verteidigung der städtischen Vorrechte fügt sich in einen relativ organischen Bezugsrahmen von Initiativen (statutarische Reform, Überholung der Zölle, Übernahme der Ernennung der Richter der Außenbezirke und der Burgherren durch den domus sowie Teilnahme am Gemeinderat werden gefordert), die die Mailänder Regierung in verschiedenen städtischen Kontexten übernimmt. Man konnte vom Staat der Visconti im Zeitalter von Giangaleazzo sagen, daß er "ganz auf die von der alten kommunalen Organisation ererbten Ordnung konzentriert war" 236 . Die durchdachten Maßnahmen der herrschaftlichen Regierung zur Neuorganisation des städtischen Territoriums in Asti und in Venetien (Verona, Vicenza, Belluno) bestätigen dies. In der piemontesischen Stadt kommt es zur dauerhaften Unterscheidung zwischen iurisdictio oder districtus civitatis (die seit dem 12. Jahrhundert den Großteil der der Gemeinde unterstellten ville umfaßte) und iurisdictio capitaneatus (die außerdem- wenn auch mit vielen Veränderungen- die der Stadt unterworfenen oder im Verlauf des 13. und frühen 14. Jahrhunderts ex novo geschaffenen loca nova umfaßte)237 . In denpartesultra Mincium, wie in der Verwaltungsterminologie der Visconti die drei Bezirke der Mark Treviso unter Mailänder Herrschaft bezeichnet werden, gibt es spezifische Interventionen für die Bestimmung von Aufgaben und Kompetenzen der Vertreter der Stadtgemeinden auf dem Territorium (in Verona wird die Fassung der ordines vicariorum bestätigt), auch wenn man gegenüber Autonomieforderungen einiger geringerer Zentren (Lonigo, Legnago) nicht unempfindlich isc238.

236 G. Cbittolini, II luogo di Mercato, il comune di Parma e i marchesi Pallavicini di Pellegrino, S. 102. 237 R. Bordone, Assestamenti del territorio suburbano, S. 146-152, bes. S. 147 (und die Tabelle im Anhang, S. 174-175). 238 An dieser Stelle genügen die Hinweise in GM. Varanini, II distretto veronese, S. 34-44, und ders., Vicenza nel Trecento, S. 238-243, respektive auch für die beiden angeführten Burgen.

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Wie das Beispiel zeigt, erweisen sich diese Entschlüsse aber im Staat der Visconti des 14. Jahrhunderts für einige soeben erworbene Städte und Bezirke, welche außerhalb der eigentlichen Lombardei liegen und der direkten Hegemonie Mailands nicht untertan sind, als besonders evident: Für diese Städte ist das - wenn auch emphatische - Urteil des Chronisten aus Reggio, nach dem die Regierung der Visconti "civitates extraxit de inferno et reduxit ad paradisum" nicht ganz ungerechtfertigt. Diese Entscheidungen werden hauptsächlich aus Steuergründen getroffen, wegen der unvermeidlichen Benutzung der Erhebungsstrukturen der Stadtgemeinde, wessen sich die Regierung der Visconti voll und ganz bewußt ist239 . Bekannt ist außerdem die Entstehung eines Bezirksfinanzapparates, der mit den referendarii die Oberaufsicht über die lokalen Finanzen führen sollte, dessen Kompetenzen auch dort beibehalten werden, wo Autonomien anerkannt werden240. Dies ist zu betonen, auch wenn ein wirklich radikaler Entschluß zugunsten der kommunalen Prärogativen nie gefällt wird, und dies wäre auch gar nicht möglich gewesen. Die Haltung gegenüber der Steuerimmunität von Körperschaften, Gemeinden und Familien ist tatsächlich schwankend und gegensätzlich, angesichts der Tatsache, daß die Zentralregierung den Konsens des kommunalen Lehens- und Steuerwesens benötigt. In diesem Zusammenhang kann noch ein Beispiel aus Reggio angeführt werden: 1387-88, anläßlich der Erhebung von mehr als 900.000 Florin in wenigen Monaten (in zwei Ansätzen) für die Aussteuer von Valentina Visconti, zeigt sich eine Übereinstimmung zwischen der Gemeinde Reggio und den lokalen Beamten der Visconti, auch die nahegelegenen immunen Lehen, besonders diejenigen der da Correggio, die einfache Anhänger der Visconti waren, als Subjekte der Stadt zu betrachten und sie somit dazu zu verpflichten, einen Teil der Lasten zu tragen241 • So wurde ein struktureller Eingriff möglich, da die Gemeinde Correggio 1338 "se submisit officio dicti domini potestatis Regii et iurisdictioni comunis Regii", wie ausdrücklich anerkannt wird: Aber die Gelegenheit wird von Giangaleazzo nicht beim Schopfe genommen, obwohl er weiß, daß "districtuales Regii... nostro videre (sie) multum oprimitis".

239 Um die Mitte des 14. Jahrhunderts (als auch in den folgenden Jahrzehnten), werden das (inzwischen regelmäßig erhobene) salarium domini und die Einkünfte aus Zöllen weiterhin von Gemeindebeamten einkassiert (vgl. P. Mainoni, Un bilancio di Giovanni Visconti, arcivescovo e signore di Milano, in: L. Chiappa Mauri I L. De Angelis Cappabianca I P. Mainoni !Hrsg.J, L'eta dei Visconti, S. 3-26, mit bibliographischen Verweisen: unter anderem, T. Zerbi, La banca nell'ordinamento finanziario, und G. Tagliabue, La politica finanziaria nel governo di Gian Galeazzo Visconti, in: Bollettino della societa pavese di storia patria, XV [1915), S. 19-75). 240 So bleiben beispielsweise das Valtellin, Poschiavo und Bormio in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die zwar gerichtlich unabhängig waren, steuerlich von Como abhängig. 241 F.H. Comani, I denari per Ia dote di Valentina Visconti, in: Archivio storico lombardo, XXVIII (1901), S. 37 ff. (sowie die aufS. 75-82 veröffentlichten Dokumente).

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Eine von abweichenden Schattierungen gekennzeichnete Schilderung kann vielleicht für die Grenzstädte und -bezirke Mailands (Pavia, Corno und Lodi) gemacht werden, die der auch wirtschaftlichen Hegemonie der großen Stadt unmittelbarer unterstanden. Beachtenswert ist beispielsweise, daß begriffliche und normative Instrumente zur Überwindung der kommunalen Schemata in Steuersachen seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts vorgesehen waren. Bekannt ist in diesem Zusammenhang das Dekret von Luchino und Giovanni Visconti aus dem Jahr 1345, das eine interessante Kasuistik in Sachen zwischenbezirklieber Schätzung entwickelt, in der im Fall von Besitzern, die in anderen Bezirken ansässig sind als in jenem, in denen sich ihr Patrimonium befindet. Hierbei wird dem Wohnort mehr Gewicht beigemessen, als der juristischen Tatsache der Bürgerschaft242 • Dieses Prinzip wurde aber nicht systematisch angewendet; und das Dekret, das in den 80er Jahren von Giangaleazzo wieder in Kraft gesetzt wurde, wurde dann in seinem Appell an den Konsens der betroffenen Gemeinden nachgeordnet, ohne so formell deren Steuerkompetenzen einzuschränken (1389: "nisi fuerint de comuni beneplacito et voluntate mediolanensium, cumanorum et laudensium"). In dieser Angelegenheit bleiben also die städtischen Vorherrschaften weit angelegt; und man schreitet anscheinend nicht einmal offiziell bei der Aufteilung der Steuerlast zwischen Stadt und Bezirk ein, wo beispielsweise in Pavia zu Beginn des 15. Jahrhunderts (Pavia war "privata membris suis pro maiori parte") ca. 60010 dem contado zufallen und 40% der Stadt. Auch in dieser Stadt fällt so letzten Endes auf die alten, wenn auch noch funktionellen, Strukturen des kommunalen Fiskus das schwere Joch der verschwenderischen Politik zuerst von Bernabo und dann von Giangaleazzo243 . Wenn auch nichts zum wirklichen Schaden der kommunalen Prärogativen unternommen wurde, so ist jedoch auch sicher, daß sich in der allgemeinen 242 G. Barni, La formazione interna dello stato visconteo, in: Archivio storico lombardo, LXXXVIII (1941), S. 56. Auch im Zeitalter von Bernabo Visconti schickt ein Podestä von Brescia dem Kollegen in Cremona ein "decretum Bernabovis de Vicecomitibus de denunciatione bonorum civium", als Bestätigung eines Versuches gekreuzter Schätzungen und daher der Überwindung der städtischen Organisation in dieser Angelegenheit (veröffentlich am Ende des st. LV des 3. Buches der Cremoneser Statuten aus dem Jahr 1339). Zu den Eingriffen in das Schätzungsverfahren, vgl. einen Hinweis in: GM. Varanini, Dal comune allo stato regionale, in: La storia. I grandi problemi dal medioevo all'etä contemporanea, II: Popoli e strutture politiche, S. 715-716. 243 Eine andere Richtung sollte hingegen der lombardische Staat in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts einschlagen, als die Politik der Sforza zum Teil abbaute, über zahlreiche Übertragungen (besonders der Zölle), die Steuerstrukturen die sich auf die städtischen Bezirke stützte (während in der venetischen Terraferma noch andere Entschlüsse gefaßt wurden: für einen vergleichenden Hinweis, vgl. G.M. Varanini, Comuni cittadini e stato regionale, S. 101, mit Verweis auf die jüngste Bibliographie [Knapton, Pezzolo]): vgl. zu diesen Problemen: F. Leverotti, La crisi finanziaria del ducato di Milano alla fine del Quattrocento, in: Milano nell'eta di Ludovico il Moro. Atti del convegno internazionale (28. Februar-4. März 1983), Milano 1983, S. 585-632.

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Verwaltung der den Gemeinden untergebenen Bezirksteile die Bestrebungen in Richtung einer tatsächlichen Beschränkung der lokalen Kompetenzen auch in den folgenden Jahrzehnten manifestieren. Ein Brief von Galeazzo II. an die Gemeinde Pavia aus dem Jahr 1360 unterstellt beispielsweise die Bewertung der probitas und virtuoxitas der städtischen Kandidaten für die Ämter der bezirkliehen Vikare und Podestä dem Urteil des Herren und setzt so eine Kontrolle dieser Ämter durch den dominus voraus2~~. Es ist legitim anzunehmen, daß die von Bussolari betriebene Episode kommunalen Widerstandes in jenen Jahren in gewisser Weise auch auf die zunehmende Einmischung der Regierung der Visconti in die lokale Regierung und auf den Ausschluß der regierenden Schicht Pavias von jenen Funktionen, die sie als ihre eigenen betrachteten, zurückzuführen ist. Es gilt auch daran zu erinnern, daß mehr oder weniger in genau diesen Jahren, Ende des 14. Jahrhunderts, sowohl die Regierung der Visconti als auch die Stadtgemeinden eine Stärkung der wandernden Polizeimagistraturen (wie die capitani de/ dtvieto) wollten, genauso wie auch die anderen Territorialstaaten245 • Der Erwerb des Herzogstitels versetzte Giangaleazzo Visconti Ende des 14. Jahrhunderts in die Lage, die Grundherrschaft vermittels der vielen Familien zugestandenen Belehnungen einzugliedern und zu diziplinieren, wie die wohlbekannten Untersuchungen von Chittolini gezeigt haben246 . So wurde die Bedeutung des Instruments zur Kontrolle des Territoriums, das sich die Stadtgemeinden aufgebaut hatten, teilweise abgeschwächt, da die herzögliche Macht jetzt auch eine andere Strategie - eben die Belehnung -verfolgen konnte, um sich mit den im Territorium verwurzelten Kräften zu verkoppeln: Eine Strategie, die den Forderungen und der Mentalität des noch widerstandsfähigen Landadels entsprach. Dieses Instrument wurde bekannterweise in der Hauptsache (aber nicht nur) in den Randgebieten des Staates angewandt: Daraus ergab sich im 15. Jahrhundert eine weitere Erschwerung der Beziehungen unter den Stadtgemeinden, den lokalen Brennpunkten der Macht der Viskonti (Podestä,

G. Barni, La formaziane interna dello stato viscontea, S. 63. Vgl. E. Verga, La giurisdizione del podesta di Milano e i capitani dei contadi rurali, in: Rendieanti del r. Istituto lombardo di scienze, !euere ed arti, II, XXXIV (1906), S. 1243-1258. Zu einem Vergleich mit den Initiativen der Tascana vgl. A. Zorzi, La stato territoriale fiorentino: aspeui giurisdizianali, in: Societa e storia, XIII (1990), S. 799-825, sowie G. Pinto, Cantrollo politico e ardine pubblico nei primi vicariati fiorentini. Gli .,atti criminali degli ufficiali forensi", in: Quaderni starici, XVII (1982), Anm. 49, S. 226-241; für einen Hinweis zu den Hauptleuten der Scala, vgl. oben, Text der Anm. 102. 216 Vgl. G. Cbittolini, Infeudazioni e politica feudale, S. 36-100; ders., Signorie rurali e feudi alla fine del medioevo, in: 0 . Capitani I R. Manse/li I G. Cberubini I A.l. Pini I G. Cbittolini, Comuni e Signorie: istituzioni, societa e lotte per l'egemonia (Storia d'Italia, unt. Leit. v. G. Galasso, IV), Torino 1981 , S. 589-676, mit ausführlichen Hinweisen auf das Gebiet der Visconti. 244

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referendarli, Kommissare usw.) sowie der kleinen herrschaftlichen ,Staaten'247, die sich außerdem aus politischen und dynastischen Gründen kontinuierlich weiterentwickelten248• Aber dies ist nun eine andere Geschichte. IV. Nachwort

Ende des 14. Jahrhunderts präsentiert sich der Organisationsprozeß der Stadtbezirke der Poebene, der nach dem Frieden von Konstanz immer deutlichere Konturen angenommen hatte, - auch innerhalb des hier vorgelegten unvollständigen und kurzgefaßten Panoramas - relativ vielgestaltig, obwohl er überall den unverwüstlichen und einheitlichen Grundzug aufweist, den der kommunale Umbau des institutionellen Rahmens hinterlassen hatte. Die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts erweist sich in den untersuchten regionalen Gebieten als einschneidendes Moment der Spreizung und Auszeichnung: Hier nehmen Prozesse ihren Anfang (oder lösen sich auf), die sich im folgenden Jahrhundert entfalten sollten. So kcmmt es in einigen Regionen zur Ausgrenzung (in keinem oder fast keinem Ort zur vollständigen Tilgung) verschiedener territorialer Organisationsformen, die aber nicht notwendigerweise vollkommen gegenläufig zu der städtischen Organisationsform oder mit ihr unvereinbar waren, wie etwa die Grundherrschaft. Weitgehend kommt es zur Beschleunigung oder im Gegenteil zur Verzögerung der Intensivierung, der vollendeten und organischen Konkretisierung der Autorität der Stadtgemeinde in all jenen Sektoren (nicht nur der politischen und gerichtlichen, sondern auch lato sensu der administrativen Kontrolle: der Steuern, der Annona usw.), die seit Beginn des 13. Jahrhunderts im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der städtischen Führungsschichten gewesen waren. Diese Unterschiede scheinen gleichwohl mehr von einem langfristig gesehen, erneuerten Einfluß durch die Beziehungen Stadt-Territorium des präund protokommunalen Zeitalters motiviert als von den durch herrschaftliche Regime oder kommunale Oli-garchien getroffenen Entscheidungen. Die Este, die Gonzaga, die Carraresi interpretieren sicherlich die vielfältigen Bedürfnisse der Stadt, wenn sie die Organisation des Bezirks von Ferrara, Manuta oder Padua befürworten und fördern, aber ihre virtus kann sich nur in Gegenwart 247 Zu jüngsten Ausführungen zu zwei Bezirken ,der Viscon~i' des 15. Jahrhunderts, vgl. R. Greci, Parma medievale, S. 195-226 (Kap. V: "II travaglio quattrocentesco e l'esplosione del disagio"; die Arbeit datiert aus dem Jahr 1986); D. Andreozzi, Nascita di un disordine. Una famiglia signorile e una valle piacentina, S. 38-70 und passim (zu den gro8en Schwierigkeiten der Gemeinde Piacenza die Val Nure zu kontrollieren). 24R Es genügt an die wichtige Neuheit zu erinnern, die die Behauptung des ,Stato vermesco' in den Apenninen Piacenzas darstellt (und es sei mir diesbezüglich erlaubt der Verweis auf eine reichhaltige Dokumentation erlaubt, die in einem Archiv ,der Peripherie' aufbewahrt wird: G.M. Varanini, Materiali per Ia storia della feudalita piacentina in archivi veronesi: l'archivio Zileri-Dal Verme e Ia signoria vermesca nella Val Tidone, in: Studi storici Luigi Simeoni, XXXVI (1986], S. 99-102).

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einer herrschaftlichen Ordnung entfalten, die in ihrem Inneren schon von einer schwelenden und nicht mehr rückgängig zu machenden Krise ausgehöhlt ist. Wie dem auch sei und obwohl zugegebenermaßen viele (vielleicht zu viele) lokale Situationen noch aufmerksamer und präziser monographischer Untersuchungen bedürfen, die über lange chronologische Zeiträume hinweg zu führen sind (vom Hochmittelalter bis zum 15. Jahrhundert), so scheint das Erbe, das den beiden ,Regionalstaaten' (Venetien und der Lombardei), die sich auf einem Großteil des hier behandelten Gebietes behaupten - und dies muß betont werden - ,vermacht' wird, nicht homogen. Weiterhin beeinflußt dieses Erbe zutiefst die Regierungsphilosophien, die sich in Venedig und Mailand im Verlauf des 15. Jahrhunderts abzeichnen werden. Es versteht sich von selbst, daß weder im einen noch im anderen Gebiet die Bedingungen existieren - es fehlt die forma mentis im Hintergrund -, damit sich jene administrative Innovationsfähigkeit und Erfindungskraft entfalten kann, die in der Toskana dazu führt, die Stadtbezirke neu zu modellieren, indem sie auf den Kopf gestellt werden: Es entstehen - was Namen und Kompetenzen betrifft - neue territoriale Gruppierungen (pleberie, legbe, capitaniatt), Strukturen zwischen der vorherrschende Gemeinde und den ländlichen Gemeinden, die die Vermittlung der Stadtgemeinden übergehen2~9 • In der allgemeinen Langlebigkeit, wenigstens als idealer und geistiger Bezugspunkt, des städtischen ,Bezirksmodells' sind die Unterschiede, besonders was die im Verlauf des 14. Jahrhunderts erlangte Solidität einiger venetischer Stadtbezirke betrifft, relativ sichtbar. Diese Erbschaften erweisen sich nur über sehr lange Zeiträume hinweg als veränderbar. Zwei wichtige Elemente struktureller Evolution sind beispielsweise in dem von uns untersuchten Gebiet allein im 16. Jahrhundert hervorhebenswert. Erstens die inzwischen irreparable Krise des herrschaftlichen ,Kleinstaates' im Appenin und in den emilianischen Stadtbezirken250 • Zweitens die inzwischen Bezirk für Bezirk abgeschlossene Organisation der ,territorialen Einheiten' (contadi in der Lombardei, territori in der venetischen Terraferma), die jüngst von der Geschichtsschreibung als Moment der Abschwächung oder zumindest der Neudefinition des städtischen ,Privilegs' gegenüber dem Bezirk 249 Außer G. Chittolint, Ricerche sull'ordinamento, S. 292-352, siehe den Aufsatz von A. Zorzi in diesem Band. Vgl. außerdem den Fall von Pisa, wo zu Beginn des 15. Jahrhunderts die von der Florentiner Regierung gewollte Neuordnung in die "unverhältnismäßige und vertrackte ... Zersplitterung", eine Erbschaft aus dem 14. Jahrhundert, eingreift: F. Leverotti, L'organizzazione amministrativa del contado pisano dalla fine del '200 alla dominazione fiorentina: spunti di ricerca, in: Bollettino storico pisano, LXI (1992), S. 78-82. Bekanntermaßen entging das unterschiedliche Verständnis der Regierung des contado, welches das Regime der Visconti und jenes der Florentiner an den Tag legten, den zeitgenössischen Beobachtern nicht. Die Florentiner Forderung nach libertas, "in deren Namen ihr die Völker des contado unter dem Joch einer unzumutbaren Sklaverei unterdrückt", diente als polemische Zielscheibe für die Invectiva von Antonio Loschi. 250 G. Chittolini, Infeudazioni e politica feudale, S. 74-77.

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ausgewertet wurde, und zwar auf das konvergierende Betreiben der sich entfaltenden Eliten der ländlichen Ortschaften und eines größeren Selbstbewußtseins der zentralen Regierungen hin 251 • Diese Feststellungen führen uns ins Zentrum des Problems der Beziehung zwischen städtisch-kommunalen Einrichtungen und ,Renaissancestaat", oder Staat des Ancien regime, wie auch immer. Und apropos bleiben andere Probleme, die an dieser Stelle nicht behandelt werden konnten, weiterhin offen: So gilt es beispielsweise - Stadt für Stadt - Zeiten und Methoden des Überlebens sowie der erneuerten Vorherrschaft des städtischen Patriziats auf dem Land und in den Bergen der Bezirke der Poebene der Neuzeit zu definieren, sowohl zu dem Zeitpunkt, als dieses Patriziat in die Institutionen drängt und in gewissem Maße alte Herrschaftstrukturen zu neuem Leben erweckt oder ex novo schafft (die ,Refeudalisierung'), als auch in dessen informellen Aspekten ,tatsächlicher' Macht252 • Aber solcherlei Probleme gehen eindeutig über die Grenzen dieser Arbeit hinaus; und es muß zum Abschluß genügen, auf eine absolut banale Wahrheit hinzuweisen, die aber deswegen keineswegs in Vergessenheit geraten sollte: Ein vertieftes Wissen - und besonders ein gegenüber den Verschiedenheiten der drei regionalen Gebiete und der einzelnen Städte aufmerksames Wissen, ohne vorgefaßte Typologien - in bezug auf die Artikulierung der Beziehung Stadt-contado vom kommunalen Zeitalter kann nicht länger im Besitz allein desjenigen sein, der sich für das 16. und 17. Jahrhundert mit diesen Fragen beschäftigt. 251 Für die venerische Terraferma vgl. M. Knapton, I! Territorio vicentino nello stato veneto del '500 e primo '600: nuovi equilibri politici e fiscali, in: G. Cracco IM. Knapton (Hrsg.), Dentro lo ,stado italico'. Venezia e Ia Terraferma fra Quattro e Seicento (Biblioteca .,Civis"), Trento 1984, S. 33-115, und S. Zamperetti, ", sinedri dolosi". Note sulla formazione e lo sviluppo dei Corpi territoriali nello stato regionale veneto tra '500 e '600, in: .,Rivista storica italiana", XCIX (1987), S. 51-101 (und vgl. auch allgemeiner zur tendenziellen überwindung einiger Aspekte des Partikularismus, L. Pezzolo, Nella repubblica veneta: il plurale e il singolare, in: Scudi veneziani, NF, XXI [1991), S. 247-268). Wie bekannt ist, wird dieser Prozeß in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu in den drei vorausgehenden Jahrhunderten unvorstellbaren Ergebnissen in Sachen Beziehung Stadt-contado führen. So führen die Repräsentanten des vicentinischen Territoriums in der Schätzung des Jahres 1563 eine alternative und gegensätzliche Schätzung der Häuser der ciues derjenigen durch, die die Bürger vorgelegt hatten (D. Battilotti, Vicenza al tempo di Andrea Palladio attraverso i libri dell'estimo del 1563-1564, Vicenza 1980, passim). Für die Lombardei vgl. G. Cbittolini, Contadi e territori: qualehe considerazione, in: Scudi bresciani, IV (1983), S. 35-48 und im selben Band, außer D. Parzani, I! territorio di Brescia, bes. S. 62-75, und A. Rossini, I! territorio bresciano dopo Ia riconquista veneziana del 1516, S. 77-96, zur ,venerischen' Lombardei, für den Staat der Sforza und der Spanier vgl. B. Molteni, I contadi dello stato di Milano fra XVI e XVII secolo. Note sulla formazione delle "amministrazioni provinciali" in eta spagnola, S. 115-135, und C. Porqueddu, Contrasei interni al patriziato nella contesa fra Pavia e il suo contado, S. 137-147. 252 Zu diesen Thematiken vgl. die Gedankengänge von G. Cbittolini, I! ,privato', il ,pubblico', lo Stato, in: G. Cbittolini I A . MolboI P Scbiera (Hrsg.), Origini dello Stato. Processi di formazione statale in Italia fra medioevo ed eta moderna (Annali dell'Istituto storico italo-germanico. Quaderno, 39), Bologna 1994, S. 553-590.

Kräfte und Formen geistlicher Territorialität im Hoch- und Spätmittelalter (am Beispiel des Erzstifts Mainz)" Von Günter Christ

Bevor man sich dem Thema .,Geistliche Territorialität'' nähert, scheint die Frage erlaubt, ob es .,das" geistliche Territorium als solches überhaupt gibt, ob sich für Gebilde, wie sie die geistlichen Territorien des alten Deutschen Reiches darstellen, übergreifende Strukturprinzipien überhaupt eruieren lassen. Angesichts der erheblichen Spannweite des im historischen Verlauf Realisierten - hier ist in erster Linie an den räumlichen Umfang, aber auch die daraus resultierende innere Struktur gedacht -wird man eine solche Frage nichf ohne weiteres bejahen können. Klein- und Kleinstterritorien wie den Hochstiften Konstanz, Worms, Regensburg oder Freising stehen relativ kompakte Einheiten gegenüber - hier wäre an die Erzstifte Salzburg und Trier, die Hochstifte Münster, Würzburg oder Bamberg zu denken 1. Bei umfangreicheren Territorialgebilden tritt das Problem großflächiger Binnengliederung hinzu, etwa in ein Ober- bzw. Niederstift - Beispiele sind Münster, Trier, auch der rheinische Teil des Kölner Erzstifts2; im Falle Kölns haben wir es darüber hinaus mit einer Art Doppelpoligkeit des Territoriums zu tun: hier das rheinische Erzstift (mit dem, räumlich abgesonderten, Vest Recklinghausen), dort das kurkölnische WestfaDie angegebenen Belege streben keineswegs Vollständigkeit an, sondern tragen vorwiegend exemplarischen Charakter. Nach Möglichkeit wurde neuerer Literatur der Vorzug gegeben. Primärquellen wurden nur in Ausnahmefällen herangezogen. Die Ortsnamen sind in heutiger Schreibweise wiedergegeben. Siglen: StAW = Bayerisches Staatsarchiv Würzburg; MJb = Mainzer Jurisdiktionalbücher. Vgl. die auch für das Spätmittelalter im wesentlichen repräsentativen kartographischen Übersichten in: H. jedin (Hrsg.), Atlas zur Kirchengeschichte. Die christlichen Kirchen in Geschichte und Gegenwart, Freiburg i.Br. I Basel I Rom I Wien (Aktualisierte Neuausgabe) 1987, Karte 82 (.,Die geistlichen Staaten im Zeitalter der Reformation") und 83 (.,Die geistlichen Staaten vom 17. Jh. bis zum Ende des Alten Reiches"). Vgl. für Trier und Köln H. Aubin I]. Niessen, Geschichtlicher Handatlas der Rheinprovinz, Köln I Bonn 1926, Karte 22-23 (Trier) und 19 (Köln). Zur Genese der kurkölnischen Territorialbildung vgl. auch F.-R. Erkens I W ]anssen, Das Erzstift Köln im geschichtlichen Überblick, in: Kurköln. Land unter dem Krummstab. Essays und Dokumente, hrsg. vom Nordrhein-.Westfälischen Hauptstaatsarchiv, Düsseldorf I Kreisarchiv Viersen I Arbeitskreis niederrheinischer Kommunalarchive, Kevelaer 1985, S. 1942. Zu Münster vgl.: Geschichtlicher Handatlas von Westfalen, hrsg. vom Provinzialinstitut für Westfälische Landes- und Volksforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Erste Lieferung Münster!W. 1975, Karte .,Politische und administrative Gliederung um 1590".

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len3 . In anderen Fällen bestehen weit entfernte Außenbesitzungen- prägnante Beispiele stellen die Kärntner Außenposten des Hochstifts Bamberg4 oder die, von der Grafschaft Werdenfels (im Grenzraum von Bayern und Tirol) bis weit in die habsburgischen Erblande (Krain, Niederösterreich) streuenden, Exklaven Freisings5• Einen anderen Fragenkreis bildet der Grad der Herrschaftsintensivierung; hier läßt uns die Grobkörnigkeit historischer Kartographie vielfach im Stich. Konkret ausgedruckt: inwieweit ist die weltliche Herrschaft des Bischofs bis auf die unterste Ebene, die der Niedergerichtsbarkeit, der Dorfherrschaft, durchgedrungen oder bloße Überformung weiter existierender fremdherrischer Strukturen geblieben? Damit steht vielfach das Phänomen der Durchsetzung des Territoriums mit fremdherrischen Enklaven, vor allem adeliger Herrschaftsträger, in enger Verbindung - mit der Folge horizontaler (in Form von Kondominaten), aber auch vertikaler Schichtung von Herrschaftsrechten - ein Beispiel hierfür bietet das Hochstift Bamberg6• In diesem Zusammenhang war es für die Konsistenz des Territoriums nicht ohne Belang, ob der ansässige Adel im Wege der Landsässigkeit integriert werden konnte oder aber, seit dem 16. Jahrhundert, sich im Rahmen der Reichsritterschaft emanzipieren konnte. Trier, Würzburg, Bamberg stehen für letztere, die nordwestdeutschen Hochstifte für die erstere Variante. Darüber hinaus ist es - damit ist freilich eine Binsenweisheit angesprochen - für die Entfaltung geistlicher Territorialität von nicht zu unterschätzender Bedeutung gewesen, in welchem machtpolitischen Kräftefeld das .,Staatsgebilde" angesiedelt war. Beispiele für den Einfluß übermächtiger Nachbarn sind etwa das Hochstift Speyer, das zur Kurpfalz in einem langjährigen Schutzverhältnis stand7, oder das Hochstift 3 Vgl. dazu allgemein P. Berghaus I S. Kesseme1er(Hrsg.), Köln I Westfalen 11801980. Landesgeschichte zwischen Rhein und Weser, im Auftrage des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, I: Beiträge, 2. Auf!., Münster 1981, hier bes. W ]anssen, Das Erzstift Köln in Westfalen, ebd. S. 136-146. Vgl. HJ. Wunsche/, Die Außenpolitk des Bischofs von Bamberg und Würzburg Peter Philipps von Dembach (Schriften des Zentralinstituts für fränkische Landeskunde und allgemeine Regionalforschung an der Universität Erlangen-Nürnberg 19), Neustadt I Aisch 1979, S. 9-19. Vgl. G. Schwaiger, Das Bistum Freising am Ende des Mittelalters, in: G. Schwaiger, Das Bistum Freising in der Neuzeit (Geschichte des Erzbistums München und Freising, 2), München 1989, S. 13-28, hier bes. S. 13-19; zur Grafschaft Werdenfels: D. Albrecht, Grafschaft Werdenfels (Hochstift Freising) (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, Heft 9), München 1955. 6 Zur bambergischen Territorialstruktur vgl. zusammenfassend M . Hofmann, Die Außenbehörden des Hochstifts Bamberg und der Markgrafschaft Bayreuth, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung, (1937), S. 52-96; ferner W. Neukam, Territorium und Staat der Bischöfe von Bamberg und seine Außenbehörden Qustiz-, Verwaltungs-, Finanzbehörden), in: Berichte des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg, 89 (1948149), S. 1-35. Für eine detaillierte Bestandsaufnahme in einem Teilbereich vgl. H. Weij3, Stadt- und Landkreis Bamberg (Historischer Atlas von Bayern, Teil Franken I, 21), München 1974. L.G. Duggan, Bishop and Chapter. The Governance of the Bishopric of Speyer to 1552 (Studies presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions LXII), New Brunswick 1978, S. 119-157.

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Freising, dessen Stammterritorium längs der Isar eher als eine Enklave im wittelsbachischen Territorium angesehen werden konnte und nicht ohne Grund bei den Wirtelsbachern als "unsere Pfarr" galt8; ähnliches ließe sich von Trient im Verhältnis zu Tirol sagen9 . Aber auch Herrschaftsgebilde mittleren oder kleineren Zuschnitts waren nicht selten Faktoren, die sich der Ausbildung geistlicher Staatlichkeil in den Weg stellten10. Brechen wir diese "tour d'horizon" ab und wenden wir uns dem Thema im engeren Sinne zu. Daß aus der Vielfalt geistlicher Territorien das Mainzer Erzstift herausgegriffen werden soll, hat eine Reihe von Gründen. Es ist einmal von persönlichen Forschungsinteressen des Verfassers bestimmt, nicht zuletzt infolge der Mitarbeit am Historischen Atlas von Bayern11 • Mehr noch sprechen jedoch sachliche Gründe für Mainz als exemplarisches Modell geistlicher Territorialität. Die - bei Fehlen ganz weit entlegenen Fernbesitzes - auch für die Verhältnisse des alten Reiches extrem breite Streuung des Territoriums ist geeignet, ein beachtliches Spektrum territorialer Organisationsmöglichkeiten vorzuführen, sind doch "Oberstift", Bergstraße, der Raum Mainz-Bingen-Rheingau, Hessen, Erfurt und das Eichsfeld, um die wichtigsten Territorialbestandteile zu nennen, jeweils in unterschiedliche Konstellationen eingebettet, die ihrerseits wieder die Gestaltung territorialer Organisation mitbedingt haben." Beim Mainzer Erzstift ist davon auszugehen - Meinrad Schaab hat auf diesen Umstand im Rahmen des "Historischen Atlas von Baden-Württemberg" aufmerksam gemacht -, daß aufgrund der Metropolitanstellung, aber auch der Erzkanzlerwürde des Erzbischofs, der Grunderwerb in Dimensionen erfolgte, die "den üblichen Rahmen eines Bistums" weit überschritten hätten 12 • Damit war, seitdem der Weg zu einem eigenständigen geistlichen Herrschaftsgebilde beschritten war, ein überaus großräumiger Rahmen territorialer Expansion gesetzt. Die Ausfüllung dieses Rahmens mit konkreter weltlicher Herrschaft (und nur um diese handelt es sich in unserem Zusammenhang) ist im Laufe der weiteren Entwicklung doch nur in unterschiedlichem Maße geglückt - stärker 8 H. Stahleder, Hochstift Freising (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, Heft 33), München 1974. Für den Begriff "unsere pfarr" vgl. B. Hubensteiner, Die geistliche Stadt. Welt und Leben des Johann Eckher von Kapfing und Liechteneck, Fürstbischofs von Freising, München o.]., S. 51. 9 H. von Voltelini, Ein Antrag des Bischofs von Trient auf Säkularisierung und Einverleibung seines Fürstentums in die Grafschaft Tirol vom Jahre 1781/82, in: Veröffentlichungen des Ferdinandeums, 16 (1936), S. 387-412. 10 Hier sei exemplarisch an die "Soester Fehde" 1444-49 erinnert, die einem weiteren Ausgreifen des Erzstifts Köln Schranken setzte, vgl. dazu G. Droege, Verfassung und Wirtschaft in Kurköln unter Dietrich von Moers (1414-1463) (Rheinisches Archiv, 50), ßonn 1957, S. 58-60 (mit weiterer Literatur S. 58, Anm. 233). 11 G. Christ, Aschaffenburg. Grundzüge der Verwaltung des Mainzer Oberstifts und des Dalbergstaates (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken I, 12), München 1963 (künftig zitiert: HAB Aschaffenburg). 12 M. Schaab, Entwicklung ausgewählter Territorien in Südwestdeutschland (Historischer Atlas von Baden-Württemberg, Erläuterungen VI, 8), S. 4.

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im Raum zwischen Kinzig-Nordspessart und Odenwald-Tauber-Jagst-Neckar, ebenso am Mittelrhein (Mainz, Bingen, Rheingau), jedoch nur unzureichend in Hessen wie auch in und um Erfurt13 . Wellen kraftvoller Entfaltung, repräsentiert von tatkräftigen Erzbischofsgestalten 1\ werden von retardierenden Tendenzen abgelöst. Rückschläge brachten die staufisehe Reichslandpolitik im 12. und 13. Jahrhundert 15 wie auch die Revindikationsbestrebungen der Reichsgewalt nach dem Interregnum 16 , schließlich die Stiftsfehden des 14. und 15. Jahrhunderts, von denen allein drei in den Zeitraum zwischen 1328 und 1381 fielen 17 und deren letzte, zwischen Diether von Isenburg und Adolf II. von Nassau (1461-63), das Erzstift noch einmal erschütterte18• Der hier zur Verfügung stehende zeitliche Rahmen erlaubt es leider nicht, auf die Genese der mainzischen Herrschaft im einzelnen näher einzugehen; wir müssen uns daher auf eine Skizzierung der Herrschaftsorganisation beschränken. Hier lassen sich verschiedene Schichten feststellen: eine älteste, repräsentiert durch die Vizedome; ihnen folgt eine jüngere, in Gestalt von Centen; schließlich die jüngste, die der Ämter und Kameralbezirke. I. Die Vitztumämter

Um 1120 wandelt der Erzbischof Adalbert I. das bisherige Hofamt des "vicedominus" in ein territoriales Amt um - ein Vorgang, der im Kontext einer umfassenderen, unter anderem durch Bau und Erwerb von Burgen gekennzeichneten Territorialpolitik zu sehen ist19. Die eine, schon im 9. Jahrhundert 13 Geschichtlicher Atlas von Hessen, hrsg. vom Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Marburg/ L. 1978, Karte 16 ("Die territoriale Entwicklung des Kurfürstentums Mainz"). 14 Hier sind vor allem zu nennen Willigis (975-1011), Adalbert I. von Saarbrücken (1110-1137), Werner (1259-84) und Gerhard II. von Eppstein (1289-1305), Peter von Aspelt (1305-20), im 15. Jahrhundert auch Diether von Isenburg (2. Pontifikat 1475-82) und Beethold von Henneberg (1484-1504). Vgl. dazu zusammenfassend F. j ürgensmeier, Das Bistum Mainz. Von der Römerzeit bis zum II. Vatikanischen Konzil (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, 2), Frankfurt am Main 1988, S. 65-70; S. 80-86; S. 110-112; S. 115-118; S. 121-126; S. 163-170 (mit umfangreichen weiteren Literaturangaben). 15 Vgl. dazu exemplarisch für das Gebiet um das südwestliche Mainviereck WHhelm Störmer, Miltenberg. Die Ämter Amorbach und Mittenberg des Mainzer Oberstifts als Modelle geistlicher Territorialität und Herrschaftsintensivierung (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken I, 25), München 1979, S. 50-58 (mit weiterer Literatur) (künftig zitiert: HAB Miltenberg). 16 So konnte das Erzstift erst 1308 frühere Erwerbungen wie den Iinksmainischen Bachgau und die Stadt Seligenstadt endgültig in seine Hand bringen; vgl. E. Penner, Die Erwerbspolitik des Erzbistums Mainz von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Marburg/ L. 1915, S. 68 f. 17 F. jürgensmeier, Mainz, S. 132-143. 18 Ebd., S. 159-163. 19 K.H. Scbmitt, Erzbischof Adalbert I. von Mainz als Territorialfürst (Arbeiten zur deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte II), ßerlin 1920, S. 63-75; M. Stimming,

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belegte, Hofcharge wird nun - und damit steht Mainz nicht vereinzelt da - in lokalbezogene Ämter aufgespalten, insgesamt vier, entsprechend den Schwerpunkten mainzischen Besitzes: je einen Vizedom für Mainz und das Gebiet am Mittelrhein, für Aschaffenburg, für Erfurt sowie für Hessen und das Eichsfeld. Eine Abgrenzung der Amtssprengel ist für diese frühe Phase kaum möglich, ebenso darf man sich die Trennungslinie zwischen einem Wirken im Interesse der erzstiftischen Politik im ganzen und lokalen Aufgaben nicht allzu scharf vorstellen, blieben doch "die Vitztume in der Folgezeit vielfach wichtige Mitglieder des Hofstaates" 20. Auch haben die einzelnen Vitztumämter, wie anschließend zu zeigen sein wird, eine durchaus unterschiedliche Entwicklung genommen. Beginnen wir mit dem auf den Kathedralsitz hingeordneten Vizedom, dem "vicedominus Moguntinus" 21 . In dieser Bezeichnung kommt er 1133 erstmalig vor; der Übergang vom Hof- zum Lokalamt läßt sich an Embricho II. von Geisenheim festmachen: 1108 schon als Vizedom (wohl noch im Sinne des herkömmlichen Hofamtes) belegt, begegnet er seit 1119 "fast nur noch in den rheinischen Gebieten" 22 • Offensichtlich leitet sich der für den Zentralraum um Mainz zuständige Vizedom neuer Art unmittelbar vom bisherigen Hofamt her. Als Amtsbereich dieses "vicedominus Moguntinus" dürfen die Stadt Mainz, deren Hinterland unter Einschluß des Rheingaus, seit dem Ende des 11. Jahrhunderts auch der mit diesem verbundene Besitz an der Nahe gelten, ebenso auch Besitzkomplexe in Hessen, in der Pfalz, im Gebiet südlich des Mains und bis in den Westerwald hinein23 . Die weitere Entwicklung führt zu einer zunehmenden Konzentration auf das Rechtsrheinische; seit 1211 ist von einem "vicedominus per Ringowe, de Ringowia und ähnlich" die Rede24 . Die Tendenzen der Stadt Mainz, sich von erzbischöflicher Herrschaft zu emanzipieren sie kulminierten bekanntlich in der Stadtfreiheit von 1244 25 - hatten zur Folge, daß sich die Vizedome immer mehr aus Mainz zurückzogen; das Amt eines Vizedoms in der Stadt Mainz wurde erst 1489, nach der Wiedererringung der erzbischöflichen Stadtherrschaft, neu geschaffen 26 . Im 14. und 15. Jahrhundert Die Entstehung des weltlichen Territoriums des Erzbistums Mainz (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte III), Darmstadt 1915, S. 53 f. 20 B. Witte, Herrschaft und Land im Rheingau (Mainzer Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte III), Meisenheim/ Glan 1959, S. 97. 21 Für diese frühe Phase vgl. zusammenfassend B. Witte, Rheingau, S. 97 f. 22 Ebd., S. 97. 23 Ebd. 24 M. Stimming, Territorium, S. 97. 25 Vgl. dazu im einzelnen D. Demandt, Stadtherrschaft und Stadtfreiheit in Mainz (Geschichtliche Landeskunde, XV), Wiesbaden 1977; für das Privileg von 1244 ebd., bes. S. 47-50. 26 H. Schrohe, Die Stadt Mainz unter kurfürstlicher Verwaltung (1462-1792) (Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz, 5), Mainz 1920, S. 30; zu den Kompetenzen des Vizedoms ebd., S. 30-34. 12 ChiUulini I Willuwcil

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verselbständigten sich verschiedene linksrheinische Ämter27 , 1438 kam Bingen endgültig in die Hand des Domkapitels28 • Einen Zugewinn bedeutete nur das gegenüber von Mainz gelegene Kastell, das Anfang des 14. Jahrhunderts aus Reichsbesitz an das Erzstift übergegangen war und dem Rheingauer Vizedom unterstellt wurde29• Mit dem Rheingau im engeren Sinne ist der Amtssprengel des Vizedoms allerdings nicht deckungsgleich gewesen; von hier aus wurden auch verstreute Rechte des Erzstifts in benachbarten Gebieten administriert. Seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wird zwischen "Land" und "Amt" denn auch deutlich unterschieden30• Das Amt des Vizedoms ist mit Recht als "eines der wichtigsten Elemente der Territorialpolitik" bezeichnet worden31 . Zu einem solchen konnte es vor allem deshalb werden, weil es dem Lehensrecht nicht unterworfen war und damit zum "Ansatzpunkt des modernen Verwaltungsstaates" werden konnte32. Die Rheingauer Vizedome entstammten, soweit bekannt, dem weltlichen Adel, vor allem im Rheingau ansässigen Geschlechtern. Die Bestellung des Vizedoms oblag dem Erzbischof; die anfänglich, 1342, belegte Mitwirkung des Domkapitels reduzierte sich, analog der Entwicklung des Wahlkapitulationswesens, auf einen Revers für den Fall von Gefangenschaft, Resignation oder Tod des Erzbischofs. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, als deren Bedeutung ihren Höhepunkt erreicht hatte, nahm auch die "Landschaft" des Rheingaus Einfluß auf die Bestellung des Vizedoms33 . Eine Gefahr für die Verfügungsgewalt des Erzbischofs über das Amt des Vizedoms bedeuteten die 1345 beginnenden, sich bis 1424 fortsetzenden Verpfändungen34 . Eine Folge des mit den Stiftsfehden steigenden Geldbedarfs, tendierten die Verpfändungen zur Erblichkeit des Amtes in bestimmten Familien. Seit der letzten Auslösung des Amtes im Jahre 1428 wurde dann der Amtscharakter in den Bestallungen festgeschrieben, 1455 auch die Residenzpflicht der Vizedome im Rheingau; ein fester Amtssitz wurde allerdings nicht vorgeschrieben35. Die Schlüsselrolle des Amtes des Vizedoms läßt sich auch an der zunehmenden Kumulierung von Amtsaufgaben ablesen. Vor der Installierung eines Vizedoms hatte es wahrscheinlich überhaupt keine Mittelinstanz zwischen den einzelnen Villikationen und dem erzbischöfli27 B. Witte, Herrschaft und Land, S. 101; es handelt sich zunächst um die Ämter Olm und Böckelheim, im Laufe des 15. Jahrhunderts auch Algesheim und Heimbach. 28 B. Witte, Herrschaft und Land, S. 101; I. Liebeberr, Der Besitz des Mainzer Domkapitels im Spätmittelalter (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 14), Mainz 1971, S. 56 f. und 80 f. 29 B . Witte, Herrschaft und Land, S. 102. 30 Ebd., S. 102 Anm. 49. 31 Ebd., S. 98. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 102 f. 34 Ebd., S. 103 f. 35 Ebd., S. 104 f.

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chen Hof gegeben36. Seit Anfang des 13. Jahrhunderts findet sich der Vizedom dann in richterlichen Funktionen - zunächst wohl nur in Form des Vorsitzes im Ortsgericht Die Blutgerichtsbarkeit konnte er 1279 in der Nachfolge der Rheingrafen an sich bringen37 • Die aus karolingischer Zeit überkommene Grafengerichtsbarkeit - der fränkische Rheingau darf als ,.ursprünglicher Amtsbezirk des Rheingrafen" gelten 3R - war, dies nur zur Abrundung des Bildes, schon durch die Gewinnung der hohen Immunität für den umfänglichen mainzischen Grundbesitz ausgehöhlt worden; diese war 975 Erzbischof Willigis von Kaiser Otto II. bestätigt worden39• Eine weitere wichtige Funktion des Rheingauer Vizedoms bestand in der Leitung des militärischen Aufgebots- zunächst aus adeligen Lehens- und Dienstmannen, seit dem 14. Jahrhundert dann der zu .Reis und Folge" verpflichteten bäuerlichen Mannschaft40. Noch im 14. Jahrhundert hatte der Vizedom auch Kameralaufgaben wahrzunehmen41; schon seit 1171 mehren sich die Belege für eine im ganzen Rheingau erhobene Steuer, die Bede; diese gilt bereits im ausgehenden 12. Jahrhundert als Indiz der Landesherrschaft42 • Schon vor der ,.Confoederatio cum principibus ecclesiasticis" von 1220 begegnet im Rheingau der Terminus "princeps terrae" für den Erzbischof43 . Seit den Verpfändungen des Amtes des ,.vicedominus" gehen die kameralen Kompetenzen an den Landschreiber über, der letzte Rest davon 142344 . Das Amt des, dem Vizedom ursprünglich unterstellten, Landschreibers wird dadurch erheblich aufgewertet- darauf wird in anderem Zusammenhang noch zurückzukommen sein. Der Tätigkeitsbereich des Vizedoms verlagerte sich auf die Wahrung der landesherrlichen Gerechtsame, Schutz und Schirm der Untertanen, Ausübung der Gerichtsbarkeit (in Vertretung des Erzbischofs) und Führung der folgepflichtigen "wehrhaften Mannschaft''. Darüber hinaus hatte er aber auch die Pflicht, alle im Land Gesessenen ,.bei ihren Freiheiten, Gewohnheiten, Rechten und Gesetzen zu erhalten" 45 • Er nimmt so eine Art Doppelstellung ein - einerseits als Organ der Herrschaft, so Ebd., S. 97. Ebd., S. 98 und 100. 38 Ebd., S. 25. ·~9 Ebd.; A. Ger/ich, Willigis und seine Zeit. Der Staatsmann, der Erzbischof und der Stadtherr, in: W. jung (Hrsg.), 1000 Jahre Mainzer Dom (975-1975). Werden und Wandel, Mainz 1975, S. 23-43, hier S. 38 (mit weiterführender Literatur). 40 B. Witte, Herrschaft und Land, S. 100 f. und 107; in der Funktion als ,.Hauptmann des Landes Rheingau" erscheint der Vizedom erstmals 1369. 41 Ebd., S. 105. 42 Ebd., S. 30. 43 Ebd., S. 30 f.; hier S. 31 als ,.Constitutio in favorem principum ecclesiasticorum" bezeichnet. 44 Ebd., S. 105; zum Amt des "Landschreibers" vgl. zusammenfassend ebd., S. 111-119. 45 Ebd., S. 106; dort auch die beiden Zitate. 36 37

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auch als Vorsitzender des Rheingauer Landtags, andererseits aber auch als .Sprecher des Landes" gegenüber dem Landesherrn 46 • Die herausragende Bedeutung des Amtes zeigt sich auch darin, daß Erzbischof Albrecht von Brandenburg den Rheingauer (wie auch den Aschaffenburger) Vizedom in den 1522 etablierten, wenn auch kurzlebigen, "beständigen Rat" aufnahm47 . Die Rheingauer Landordnung von 1527 bindet dann den Vizedom fest in das System des frühmodernen Landesstaates ein48 • Das Profil des Aschaffenburger Vizedoms weist zu dem des Rheingaues eine Reihe von Parallelen auf. Warmunt (1122) und Wiehand (1131) sind die ersten bekannten Namen49. In der Bezeichnung "vicedominus de Aschaffenburc" drückt sich freilich, anders als im Rheingau, wo der Bezug auf Mainz, aus bereits erwähnten Gründen, verschwindet, die Zuordnung auf einen bestimmten Ort aus: Aschaffenburg, seit etwa 982 in mainzischem Besitz50, von Erzbischof Adalbert 1., um die gleiche Zeit, in der dort das Amt des Vizedoms eingerichtet wurde, neu befestigt und auf dem Wege, eine der Residenzen der Mainzer Erzbischöfe zu werden51 . Im ganzen ist die Forschungslage für den Aschaffenburger Vizedom jedoch nicht so günstig wie für jenen des Rheingaus52, aber auch für jenen auf dem Rusteberg53, die beide Gegenstand eingehender Untersuchungen gewesen sind. Schon der räumliche Kompetenzbereich des Aschaffenburger Vizedoms ist mit "Unterfranken" mehr als vage umschrieben 54 • Fest steht lediglich, daß das Amt des Aschaffenburger Vizedoms den Kristallisationskern für das sich im 13. und 14. Jahrhundert herausformende Territorium um Main, Tauber, Spessart

Ebd., S. 108. Ebd., S. 109 (mit älterer Literatur); G. Christ, Albrecht von Brandenburg und das Mainzer Erzstift, in: F.jargensmeier(Hrsg.), Erzbischof Albrecht von Brandenburg (1490-1545). Ein Kirchen- und Reichsfürst der Frühen Neuzeit (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 3), Frankfurt am Main 1991, S. 223-256, hier S. 233 f. 48 B. Witte, Herrschaft und Land, S. 109 stellt fest, daß dadurch der "Charakter des Vitztumamts als Organ des Landesfürsten" besonders herausgestellt worden sei. Zur Rheingauer Landordnung von 1527 vgl. auch G. Christ, Albrecht von Brandenburg, S. 243 f. 49 K.H. Scbmitt, Adalbert 1., S. 69. 50 Vgl. dazu neuestens R. Fischer, Aschaffenburg im Mittelalter. Studien zur Geschichte der Stadt von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit (Veröffentlichungen des Geschichts- und Kunstvereins Aschaffenburg e.V., 32), Aschaffenburg 1989, S. 37 f. 51 K.H. Schmitt, Adalbert I., S. 38; ausführlicher R. Fischer, Aschaffenburg, S. 4347. Die kontroverse Frage der Lokalisierung dieser Befestigungsmaßnahmen soll hier ausgeklammert bleiben. 52 Vgl. oben Anm. 20. 53 H. Falk, Die Mainzer Behördenorganisation in Hessen und auf dem Eichsfelde bis zum Ende des 14. Jahrhunderts (Marburger Studien zur älteren deutschen Geschichte, 1/2), Marburg/L. 1930. 54 K.H. Schmitt, Erzbischof Adalbert I. von Mainz, S. 72. 46 47

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und Odenwald abgab55 • Noch um die Mitte des 14. Jahrhunderts war der Amtsbereich des Aschaffenburger Vizedoms weit gespannt: die .Neun Städte" des Mainzer Oberstifts (Aschaffenburg, Miltenberg, Dieburg, Seligenstadt, Amorbach, Buchen, Walldüm, Külsheim, Tauberbischofsheim), erstmals als Korporation in einem erzbischöflichen Privileg von 1346 genannt56, werden in einer Urkunde des folgenden Jahres, die Verpfändung von Walldürn und Buchen betreffend, als Bestandteil des Aschaffenburger Vizedomamts aufgeführt57• Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts ist freilich ein Schrumpfungsprozeß zu konstatieren. Die erste, anläßlich der Einhebung des .Gemeinen Pfennigs" im Jahre 1495 erstellte genauere räumliche Übersicht über den Wirkungsbereich des Aschaffenburger Vizedoms nennt, neben den vier Städten Aschaffenburg, Seligenstadt, Wörth und Obernburg als Kernbereich die "Landschaften" (Centen) "vorm Spechshart" und "zu Ostheym" (Bachgau), um die sich eine Reihe von kleinräumigeren "Gerichten" und ähnlichen Sprengeln gruppieren 58. Bei diesem räumlichen Umfang ist es dann, von kleineren Veränderungen abgesehen, bis zur großen Ämterreform von 1782 geblieben59 . Daß es zu einer derart erheblichen Reduzierung des Amtssprengels des Aschaffenburger Vizedoms gekommen ist, hängt zweifellos damit zusammen, daß - beginnend mit der Staufischen Reichslandpolitik in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts- vor allem im Süd- und Südwestspessart ursprüngliches mainzisches Herrschaftsgebiet über längere Zeiträume, manchmal über Jahrhunderte, entfremdet wurde und nach seiner Wiedererlangung in anderer Form organisiert wurde60• Nicht zuletzt wurde dadurch auch der räumliche Zusammenhang zu den mainzischen Territorien im Raum von Odenwald, Tauber, Jagst und Neckar zerrissen, mit 55 Als zusammenfassende Übersicht immer noch instruktiv: Tb. Humpert, Die territoriale Entwicklung von Kurmainz zwischen Main und Neckar, in: Archiv des Historischen Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg, 55 0913), S. 1-102. Auf eine Reihe von Korrekturen durch die bis heute rege Spezialforschung soll hier nicht eingegangen werden. 56 Vgl. dazu zusammenfassend N. Höbe/heinrich, Die .,9 Städte" des Mainzer Oberstifts, ihre verfassungsmäßige Entwicklung und ihre Beteiligung am Bauernkrieg. 13461527 (Zwischen Neckar und Main. Heimatblätter des Bezirksmuseums Buchen 18), Buchen 1939. 57 H. Otto (Bearb.), Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1289-1396, 1. Abt., 2.: 1328-1353, Darmstadt 1932-35 (Neudruck Aalen 1976), S. 562, Nr. 5597 (1347 VI 23). 58 HAB Aschaffenburg, S. 64. 59 HAB Aschaffenburg, S. 64 f. 60 Dazu als Beispiele das 1483 vom Deutschen Orden eingetauschte Amt (Stadt-)Prozelten; vgl. W. Störmer, Marktheidenfeld (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken 10), München 1962 (künftig zitiert: HAB Marktheidenfeld), S. 51 und das 1502/05 erworbene Amt Klingenberg; vgl. R. Wohner, Obernburg (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken I, 17), München 1968 (künftig zitiert: HAB Obernburg), S. 57 f.; für die gesamte Entwicklung des· Klingeoberger Herrschaftskomplexes vgl. neuestens D.M. Feineis, Überblick über die Geschichte der Herrschaft Klingenberg bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter, 54 0992), S. 153-174. Beide Amtsdistrikte wurden nach dem endgültigen Anfall an Mainz nicht mehr dem Vizedomamt Aschaffenburg eingegliedert.

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der Folge eigenständiger Organisation61 . Vor allem aber hatte der Aschaffenburger Vizedom bis zum Ende des 15. Jahrhunderts seine herausragende Stellung unter den mainzischen Amtsträgern eingebüßt und war auf den Status eines Amtmanns bzw. Oberamtmanns unter anderen herabgesunken62 . Es ist auch schwierig, einen Überblick über die sachliche Kompetenz des Aschaffenburger Vizedoms zu gewinnen. Vor allem aus den verschiedenen, bis 1374 reichenden Bänden der "Regesten der Erzbischöfe von Mainz" lassen sich kaleidoskopartig Angaben über von den Vizedomen wahrgenomme Funktionen zusammentragen. So begeg~en sie wiederholt als Zeugen bei Verkäufen63 oder Schlichtung von Streitigkeiten6\ auch als Bürgen bei Verbindlichkeiten des Erzbischofs6S, als Schiedsleute66, in richterlicher Funktion67, ebenso in militärischen Angelegenheiten68. Im 15. Jahrhundert wird der Schutz des Landes und seiner Einwohner stärker akzentuiert, was mit der Pflicht zur Haltung einer Anzahl von Bewaffneten verbunden ist69 • Auch mit finanziellen Belangen ist der Aschaffenburger Vizedom zunächst befaßt: so ist er an der Rechnungslegung vor dem Erzbischof beteiligr1°. Seit 1322, dem Zeitpunkt, als in Aschaffenburg zum ersten Mal ein Kameralbeamter (Keller) nachweisbar ist, dürfte er allerdings von Kameralaufgaben weitgehend entlastet gewesen sein und hatte dem Keller nur noch Amtshilfe zu leisten71 . Wenig Klarheit besteht über die Mitwirkung bei der Centgerichtsbarkeit; die gleichzeitige Wahrneh61 Vgl. dazu die einschlägigen Angaben in den seit 1740 in jährlicher Folge erschienenen Kurmainzischen Hof- und Staatskalendern. 62 HAB Aschaffenburg, S. 64. 63 So 1294 V 1 als Zeuge bei der Veräußerung von Burg und Stadt Walldürn samt der Cent Reinhardsachsen an das Erzstift, 1309 IX 4 beim Verkauf von Buchen und Götzingen an Mainz; vgl. E. Vogt (Bearb.), Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1289-1396. 1, Abt., 1.: 1289-1328, Leipzig 1913 (Neudruck Berlin 1970), S. 62, Nr. 352; ebd., S. 226, Nr. 1288. 64 So etwa 1322 VIII 12 als Zeuge bei der Schlichtung eines Streites zwischen dem Deutschen Orden in Marburg mit dem Ritter Dietrich gen. Schutzbar; vgl. E. Vogt (ßearb.), Regesten, S. 463 f., Nr. 2346. 65 So 1319 IV 18 beim Verkauf von Burg Schauenburg und anderer Objekte an Mainz; vgl. E. Vogt (Bearb.), Regesten, S. 406 f., Nr. 2095. 66 So 1330 X 15 in einem Streit des Abts von Seligenstadt mit Vogt, Schultheiß und Schöffen daselbst; vgl. H. Otto (Bearb.), Regesten, S. 51, Nr. 3316. 67 So 1308 XII 12 in einem zu Eltville stattfindenden Gericht über einen Streit, die Burg Scharfenstein betreffend; vgl. E. Vogt (Bearb.), Regesten, S. 217, Nr. 1236. 68 So 1358 II 2, als der Vizedom einen Edelknecht anweist, wie er seine .burgliche Hofstatt" zu einem "befestigten Hause" auszubauen habe; vgl. F. Vigener (Bearb.), Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1298-1396, 2. Abt. 0351-1396), 1. Bd.: 13541371, Leipzig 1913 (Neudruck Berlin 1970), S. 218, Nr. 972. 69 Vgl. dazu die Beispiele bei R. Fischer, Aschaffenburg, S. 154 f. 70 Z.B. Belege für die Mitwirkung bei der Rechnungslegung vor dem Erzbischof 1343 II 9 und 1349 XII 10; vgl. H. Otto (Bearb.), Regesten, S. 435 f., Nr. 4949 bzw. S. 602 f., Nr. 5809. 71 R. Fischer, Aschaffenburg, S. 155-157.

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mung des Centgrafenamtes, wie sie für 1354 belegt ist, dürfte wohl einen Ausnahmefall darstellen72 . Hier hat der Vizedom offenbar erst nach den Bauernkriegen eine dominierende Stellung errungen, wie die Stadtordnung Erzbischof Albrechts von Brandenburg für Aschaffenburg von 1526 erweist'3. Ob die weitgehende Verfügungsgewalt über erzstiftische Amtsträger, wie sie 1354 Heinrich Geypel zugestanden wurde, der normalen Amtsgewalt eines Vizedoms entsprang oder aber mit dessen Stellung als "oberster Amtmann" in Zusammenhang stand, muß dahingestellt bleiben74 • Erwähnenswert erscheint noch, daß der Aschaffenburger Vizedom wiederholt auch mit außerhalb seines Amtsdistrikts liegenden Aufgaben betraUl wurde75• Auch Ämterkumulationen lassen sich feststellen, so 1354 mit jenem des Forstmeisters im Spessart und den Centgrafenämtern "diesseits und jenseits des Mains" und in Seligenstadc76, wie überhaupt das Spessarter Forstmeisteramt wiederholt vom Vizedom in Personalunion mitverwaltet wurde77 • Ähnlich wie im Rheingau läßt sich auch hier pfandweise Amtsübernahme belegen78 • Ebenso stellt die relativ starke Position des Kellers gegenüber dem Vizedom, wie sie sich bis 1526 erkennen läßt79, eine gewisse Parallele zu den Verhältnissen im Rheingau dar. Eine andere Entwicklung nahm das Amt des Vizedoms auf dem Rusteberg. Die Zuordnung zu der westlich von Heiligenstadt/Eichsfeld gelegenen Burg Rusteberg ist erstmals 1139 belegt, doch ist anzunehmen, daß der Vizedom als erster erscheint 1122 ein gewisser Lambert - von Anfang an dort seinen Sitz gehabt hat80• Es spricht für die Bedeutung des Rustebergs, daß sich sowohl 72 Bei der Übertragung der Ämter des Vizedoms, Spessarter Forstmeisters sowie des Centgrafen "diesseits und jenseits des Mains und zu Seligenstadt . . . als obersten Amtmanne" an den Ritter Heinrich Geyling 1354 X 14 handelt es sich um eine Ämterkumulation, nicht jedoch um eine Umschreibung der regulären Amtsbefugnisse des Vizedoms; vgl. F. Vigener (Bearb.), Regesten, S. SO f., Nr. 202; ferner auch R. Fischer, Aschaffenburg, S. 153. 73 HAB Aschaffenburg, S. 76 f.; die eigentliche Führung des Kriminalprozesses wurde 1526 dem Aschaffenburger Stadtschultheißen übertragen. 74 Wie oben, Anm. 72. R. Fischer, Aschaffenburg, S. 153 bezieht diese Kompetenzen Heinrich Geylings offenbar auf den Vizedom generell. 75 So 1290 VII 1 als erzbischöflicher Vertreter bei einer Vermittlungsaktion zwischen dem Erzbischof und dem Herzog von Braunschweig; vgl. E. Vogt (Bearb.), Regesten, S. 23, Nr. 143. 76 Wie oben, Anm. 72. 77 Wie oben, Anm. 72. Weitere Beispiele für die Verbindung mit dem Spessarter Forstmeisteramt bei: H. Weber, Die Geschichte der Spessarter Forstorganisation. Ein Beitrag zur Deutschen Forstgeschichte, München 1954, S. 24 f. 78 So wird 1347 I 8 vereinbart, daß der Ritter Wilderich, aufgrund eines Darlehens von 1000 Mark, das Amt des Vizedoms bis zur Einlösung behalten darf; im Falle seines Todes treten dessen Frau bzw. deren Vormund in seine Rechte ein; vgl. H. Otto (Bearb.), Regesten, S. 550, Nr. 5533. 79 R. Fischer, Aschaffenburg, S. 155-157. K.H. Schmitt, Erzbischof Adalbert I. von Mainz, S. 70; H. Falk, Die Mainzer Behördenorganisation, S. 4.



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Erzbischof Adalbert I. wie auch sein Neffe und Nachfolger, Adalbert II., dort häufig aufgehalten haben81 . Der Zuständigkeitsbereich des Vizedoms umfaßte Hessen und das Eichsfeld; in hessischen Belangen ist er erstmals 1143 bezeugt82. Die Vorstellung eines räumlich zu fixierenden Amtssprengels begegnet 1241: hier ist vom "officium vicedominatus nostri Rusteberg" die Rede83 . Über die Amtspraxis im einzelnen unterrichtet uns ein Reglement aus dem Jahre 125284; aus dem davor liegenden Zeitraum gibt es nur einzelne, bruchstückhafte Angaben85 . Zu den Aufgaben des Vizedoms86 gehörte die Ausübung der hohen Gerichtsbarkeit auf dem Eichsfeld und in den mainzischen Besitzungen in Hessen, dies explizit in Vertretung des (persönlich nicht anwesenden) Erzbischofs. In den Städten seines Amtsbereichs durfte er Schultheißen, Zöllner und Münzmeister einsetzen, ebenso die "Beamten in den Marktflekken" - Voraussetzung war freilich, daß diese dem Erzbischof geeignet erschienen; in Abwesenheit des Erzbischofs ernannte Amtsträger konnte dieser jederzeit wieder ihres Dienstes entheben. Über die erzbischöflichen Güter durfte der Vizedom nicht nach seinem Ermessen verfügen, hatte aber die Hergabe der Güter gegen Zins, zusammen mit dem Prokurator, zu besorgen - eine Aufgabe, die später für die Karneralbeamten typisch ist. Die Einkünfte des Vizedoms setzten sich aus einer Reihe unterschiedlicher Positionen zusammen und spiegeln die Bandbreite seiner Amtspflichten widerB7 • Die Bekleidung des Vitz-tumamts war offensichtlich mit der anderer Chargen kompatibel, etwa des Schultheißenamts in Kirchgandern oder der Vogtei zu Fritzlar88• Die Verpflichtung zu Schutz von Gut und Untertanen des Erzbischofs schloß zweifellos militärische Befugnisse ein, doch waren diese begrenzt89• So behielt sich der Erzbischof die Einsetzung von Türmern, Wächtern und Pförtnern vor; auf jegliches "Eigentums- oder Lehensrecht an den Burgen" hatte der Vizedom ausdrücklich zu verzichten. Im ganzen läßt sich sagen, daß mit derartigen Bestimmungen der Amtscharakter des Vizedoms unterstrichen werden sollte, wobei dessen Funktion als Vertreter des Erzbischofs, dem Wortsinn von "vicedominus" gemäß, deutlich herausgestellt wurde90. Dennoch hat die Ent81 H. Patze (Hrsg.), Thüringen (Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands IX), Stuttgart 1968 (künftig zitiert: Historische Stätten IX), S. 365. 82 H. Falk, Die Mainzer llehördenorganisation, S. 3 f. 83 Ebd., S. 6. 84 Ebd., S. 6-8. 85 K.H. Schmitt, Erzbischof Adalbert I. von Mainz, S. 74 warnt davor, aus diesem "Weistum über die Rechte des Rusteberger Vitztums" von 1252 Rückschlüsse auf die Verhältnisse des 12. Jahrhunderts zu ziehen. 86 Vgl. dazu im einzelnen H . Falk, Die Mainzer Behördenorganisation, S. 7 f.; das Zitat ebd., S. 7. 87 Ebd., S. 9 f. 88 Ebd., S. 6- so nach Ausweis der "Mainzer Heberolle" des 13. Jahrhunderts. 89 Ebd., S. 8 f.; das Zitat ebd., S. 8. Daraus ist jedoch nicht zu schJiegen, dag dem Rusteberger Vitztum überhaupt keine militärischen Befugnisse zugestanden hätten. 90 Ebd., S. 9.

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wicklungeinen anderen Verlauf genommen. 1241 erhielt die Familie von Hanstein das Vizedomamt auf dem Rusteberg als erbliches Lehen; faktisch hatten die Hanstein bereits seit 1162 in ununterbrochener Folge die Vizedome gestellt91. Wohl kam es nicht soweit, daß der dauernde Besitz des Vizedomamts zur Grundlage eigener Herrschaftsbildung wurde - schon die eben behandelte Fixierung der Amtspflichten von 1252 wirkte dem entgegen -, doch konnte die Familie von Hanstein das Amt doch insoweit als ihr Eigentum betrachten, daß 1323 Heinrich von Hanstein das Amt dem Erzbischof in aller Form verkaufte92. Zum Ende des 13. Jahrhunderts hatte das Rusteberger Vizedomamt im übrigen bereits stark an Bedeutung verloren und war zu einer Sinekure geworden, bei der die finanzielle Nutzung im Vordergrund stand93. Zudem war dessen Kompetenzbereich zusätzlich dadurch ausgehöhlt worden, daß für die hessischen Besitzungen seit etwa 1273 eine eigene Oberamtsverwaltung etabliert wurde94 . Auf dem Eichsfeld wurde das Vizedomamt durch eine Landvogtei abgelöst95 . Damit gingen das Eichsfeld und die hessischen Herrschaftsgebiete des Erzstifts für die Zukunft getrennte Wege. Auch in Erfurt erscheinen unter Erzbischof Adalbert I. die ersten Vizedome: 1120 Giselbraht, 1123 Helfrich96 • Ähnlich wie im Eichsfeld kommt das Amt des

,.vicedominus" in die Hand eines einzigen Geschlechtes, hier der Herren von Apolda, einer mainzischen Ministerialenfamilie97 . 1123 wird vom Erzbischof der Dombezirk ummauert98 - Parallelen zu Aschaffenburg und Rusteberg liegen nahe. Die weitere Entwicklung des Erfurter Vizedomamts läuft in anderen Bahnen als bei den drei anderen Vizedomen. Bestimmender Faktor ist die zunehmende Emanzipation der wirtschaftlich-finanziell potenten Stadt Erfurt von der erzbischöflichen Herrschaft; diese macht sich sowohl gegenüber dem Mainzer Erzbischof als auch den Vögten, den Grafen von Tonna-Gleichen99, 91 92 93 94

Ebd., S. 5 f. Ebd. , S. 12. Ebd., S. 11. Ebd., S. 16-18. Auf Einzelheiten soll in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. 95 Ebd., S. 13-16; ebd., S. 13 wird diese Neuerung mit der Absicht begründet, ,.das Lehnsamt des Vitztums abzulösen". 96 K.H. Schmitt, Erzbischof Adalbert I. von Mainz, S. 69 f. 97 W. Mägdefrau I E. Langer, Die Entfaltung der Stadt von der Mitte des 11. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, in: W. Gutsehe (Hrsg.), Geschichte der Stadt Erfurt, 2. Auf!., Weimar 1989, S. 53-102, hier S. 54. 98 K.H. Schmitt, Erzbischof Adalbert I. von Mainz, S. 38; W. Mägdefrau I E. Langer, Die Entfaltung der Stadt, S. 58; ferner neuestens: U. We!ß, Sedis Moguntinae filia fidelis? Zur Herrschaft und Residenz des Mainzer Erzbischofs in Erfurt, in: V. Press (Hrsg.), Südwestdeutsche Bischofsresidenzen außerhalb der Kathedralstädte (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B. 116. Bd.), Stuttgart 1992, S. 99-131, hier S. 109. 99 W. Mägdefrau I E. Langer, Die Entfaltung der Stadt, S. 54; die erste Belehnung erfolgte ,.wahrscheinlich schon um 1104".

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geltend. Es besteht eine auffallende Parallelität: 1289 verpfändet Mainz zum ersten Mal Münze, Marktmeisteramt sowie die zwei Schultheißenämter an den Erfurter Rat100; ein Jahr später erwirbt die Stadt, wenn auch noch nicht endgültig- dies sollte 1299 der Fall sein- die Vogtei von den Grafen von Gleichen101 ; diese war bereits 1283 schon einmal an den Rat verpfändet worden102• Ein sprechendes Indiz für den Machtverlust beider Instanzen war der Umstand, daß Vizedom und Vogt im Stadtgericht nur noch als "schweigende Richter" fungierten103 . Das Erzstift hat auf diese Kräfteverschiebung um 1300 damit reagiert, daß es den Herren von Apolda das in ihrer Hand erbliche Amt des Vizedoms abkaufte und an der Stelle des Vizedoms einen Provisor einsetzte104 . Vorausblickend sei nur angemerkt, daß das Amt des Vizedoms erst 1664, nach der Unterwerfung der Stadt unter mainzische Herrschaft, kurzfristig wieder auflebte; seit 1675 wurde der "Erfurter Staat" (so der Terminus der Hof- und Staatskalender des 18. Jahrhunderts) von Statthaltern administrierrl 05 . II. Die Centen Stellten die Vizedomämter im ganzen eher eine grobmaschige, auf BündeJung verschiedenster Arten von Herrschaftsausübung ausgerichtete Organisationsform dar, tritt uns in den Centen der älteste, als Sprengelbildung faßbare Typ herrschaftsmäßiger Raumerfassung entgegen. Auf die Frage nach der Genese der Centen soll hier nicht näher eingegangen werden; sie scheint bis heute nicht gelöst und ist wohl, je nach den örtlichen Gegebenheiten, differenziert zu beantworten106• In unserem Zusammenhang kann nur soviel gesagt werden, daß für die Centen im mainzischen Herrschaftsbereich kaum Indizien vorliegen, daß diese auf ältere Wurzeln zurückgehen107• Ebd., S. 68; erneute Verpachtungen erfolgten 1291 und 1294. Ebd., S. 69. 102 H. Patze (Hrsg.), Historische Stätten, IX, S. 108; W. Mägdefrau I E. Langer, Die Entfaltung der Stadt, S. 68. 103 H. Patze (Hrsg.), Historische Stätten, IX, S. 107. 104 W. Mägdefrau I E. Langer, Die Entfaltung der Stadt, S. 78. 105 W. B/aba, Kurmainzische Herrschaft von 1664 bis 1789, in: W. Gtttscbe(Hrsg.), Geschichte der Stadt Erfurt, S. 145-180, hier S. 146. 106 Vgl. dazu M. Scbaab, Die Zent in Franken von der Karolingerzeit bis ins 19. Jahrhundert. Kontinuität und Wandel einer aus dem Frühmittelalter stammenden Organisationsform, in: W. Paravicini I K.F. Werner, Histoire Comparee de l'administration (IVe-XVIIIe siecles) (Beihefte der Francia 9), Zürich I München 1980, S. 345-362. Hier wird S. 361 f. festgestellt, daß "man schwerlich einen Zusammenhang zwischen der späten Zent in Franken und der ... centena des Frühmittelalters [wird) in Frage stellen können". 107 Für den Bereich des Main-Spessart-Gebiets stammen die ältesten Belege aus dem 13. Jahrhundert; vgl. HAB Aschaffenburg, S. 71 . Zur, weitgehend ungeklärten, Frage des Ursprungs der an das Mainviereck nach Süden anschließenden Centen Bürgstadt (-Miltenberg) und Amorbach vgl. HAB Miltenberg, S. 198. 100

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Cent ist nicht schlechthin mit Hochgerichtsbarkeit gleichzusetzen. Sie kann auch Elemente der Zivilgerichtsbarkeit ("bürgerliche Sachen"), ja sogar eine Art Aufsicht über das wirtschaftliche Geschehen (z.B. Kontrolle von Maß und Gewicht) beinhalten. Ein Kennzeichen ist ihr wehrhafter Charakter, wie er sich in der Folgepflicht der bäuerlichen Centgenossen im Falle "ehafter Not", aber auch in der bewaffneten Durchsetzung des Rechts (Erscheinen mit Waffen auf der Cent, "Nacheile") ausdrückt; der Bezug zur Landfriedenswahrung ist unübersehbar. Ein wesentliches Merkmal der Cent ist ihr flächenhafter Charakter; räumliche Zusammenhänge mit Markverbänden, aber auch alten Pfarrsprengeln lassen sich verschiedentlich feststellen 108. Vor allem beim Zerfall von Centen läßt sich ein Absinken von Kompetenzen auf die Ebene der Dorfgerichtsbarkeit beobachten 109, wie überhaupt das Centgericht gelegentlich die Funktion fehlender Ortsgerichte übernommen hat110• Seit dem frühen 16. Jahrhundert - hier sei an die Reformen Erzbischof Albrechts von Brandenburg erinnert - kommt es dann zu einer zunehmenden Integration in den Amtsorganismus, schließlich auch zu einer Zentralisierung der bedeutenderen Justizfälle beim Hofrat in Mainzm. In weniger gravierenden Fällen sind Centbefugnisse auf Landgerichte oder auch die Beamten randständiger Amtsdistrikte übergegangen, wie dies im Spessart der Fall war112• Die Centverfassung hat nicht das gesamte Erzstift erfaßt113; der Rheingau, die hessisch-thüringischen Gebiete wie auch das Eichsfeld haben für die Ausübung der hohen Gerichtsbarkeit andere Formen gefunden; von diesen war bereits die Rede gewesen. Die ältesten Centbelege stammen aus dem 13. Jahrhundert. Dies gilt für die im "Koppelfutter-Register" genannten drei Centen des Main-Spessart-Raumes114 (.,Centa Ascaffinburg", "Centa Trans Mogum", 108 HAB Miltenberg, S. 148 f.; G. Christ, Politisch-administrative und gesellschaftliche Strukturen des nordöstlichen Main-Spessart-Raumes in der Frühneuzeit, in: Glück und Glas. Zur Kulturgeschichte des Spessartglases (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 2/84), München 1984, S. 180-226, hier S. 195 f. 109 Dies läßt sich z.B. für die 1517 erloschene Cent Frammersbach im Nordostspessare beobachten; vgl. G. Christ, Politisch-administrative und gesellschaftliche Strukturen, S. 197 f. 110 M. Scbaab, Zenten an Rhein, Main, Neckar und Tauber um 1550 (Historischer Atlas von Baden-Wümemberg Erläuterungen IX, 2), S. 3 zeigt dies am Beispiel der Cent Tauberbischofsheim. · 11 1 HAB Aschaffenburg, S. 76 f. ; der Vorgang der Verlagerung der Kriminaljustiz an die Mainzer Zentralorgane bedarf im einzelnen noch näherer Untersuchung. 112 Ein Beispiel ist die Bezeichnung "Centgraf in delictis minoribus" für den Oberschultheißen des im Spessart gelegenen Amts Heimbuchenthal; vgl. HAB Aschaffenburg, S. 93. 113 Vgl. die Kartenskizze bei M . Schaab, Die Zent der Franken, S. 348. 114 HAB Aschaffenburg, S. 72-74; zur Datierung des "Koppelfutterregisters" auf die 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts ebd., S. 54 Anm. 144. Dieser zeitliche Ansatz ist allerdings nicht unbestritten; Datierung auf 1248 HAB Marktheidenfeld, S. 97; ferner HAB Miltenberg, S. 61 f. und 89.

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"Centa ad Quercum" [= zur Eich]), ferner Dieburg (1254) 115 und Amorbach (1272) 116. Weitere Centdistrikte sind im 14. Jahrhundert zum ersten Mal belegt, so Mudau (1303/14), Buchen (1309), Osterburken (1317/22), Ballenberg (1329), Walldürn (1343/47) und Tauberbischofsheim (1343/47) 117• Eine offene Frage ist, inwieweit die Formierung von Centbezirken auf das Erzstift selbst zurückgeht; die Erstbelege stammen teils aus der Zeit vor, teils nach der Übernahme durch Mainz. Sehr wahrscheinlich ist dies für zwei der Centen des "Koppelfutter-Verzeichnisses" (Aschaffenburg, zur Eich); auch die Cent Seligenstadt gilt als Schöpfung der mainzischen Territorialorganisation 118• Die .Centa Trans Mogum" des "Koppelfutter-Registers" freilich läßt sich auf eine ältere, vielleicht schon im 10. Jahrhundert konstituierte "comitia" zurückführen- 1024 als .comitatus Stoddenstadt" der Abtei Fulda belegt119; Zusammenhänge mit der, für diesen Raum nur trümmerhaft überlieferten, karolingisch-ottonischen Grafschaftsverfassung lassen sich nicht feststellen. Bereits präformierte Sprengel hat das Erzstift schließlich seit 1271 von den Herren bzw. Grafen von Dürn, beim stückweisen "Ausverkauf" von deren Herrschaftsbereich, übernommen; wiederholt sind Centen (so Amorbach, Mudau, Buchen) in den Kaufurkunden ausdrücklich erwähnt120. Ähnliches ist auch für eine Reihe später erworbener, ursprünglich wohl würzburgischer Centsprengel im Gebiet von Odenwald, Bauland und Tauber zu vermuten121 - war doch dem Würzburger Bischof in der "Güldenen Freiheit" von 1168 das Recht zugestanden worden, Centen einzurichten ("aliquas centurias faciat vel centgravios constituat")122• Eine offene Frage ist, inwieweit die Centherrschaft zur Konstituierung der Territorialhoheit beigetragen hat; sie wird, je nach den örtlichen Gegebenheiten, unterschiedlich beantwortet werden müssen. Positiv läßt sie sich für den Bachgau, die "Centa Trans Mogum" beantworten; hier hat sie zweifellos zur Überwölbung bzw. Integration anderweitiger mainzischer Herrschaftsrechte 115 G. Hoch, Aus der Geschichte des Bachgaues. Zur Bedeutung von paguscomitatus-comitia-Zent, in: Aschaffenburger Jahrbuch, 3 (1956), S. 80-90, hier S. 87. 116 HAB Miltenberg, S. 153-156. 117 Für die einzelnen Belege vgl. W Matzat, Die Zenten im östlichen Odenwald und angrenzenden Bauland und eine Bevölkerungsstatistik von 1496: in: Der Odenwald, 15 (1968), 3, S. 75-88. 118 M . Scbopp, Die weltliche Herrschaft der Abtei Seligenstadt 1478-1803, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde, NF, 29 (1965/66), 3/4, S. 187-401, hier S. 278. 119 G. Hoch, Aus der Geschichte des Bachgaues, S. 83-86. 120 Tb. Humpert, Die territoriale Entwicklung von Kurmainz, S. 34 f. und 42. 121 W Matzat, Die Zenten im östlichen Odenwald, nennt S. 79 f., 82 und 85 f. in diesem Zusammenhang die Centen Mudau, Walldürn, Königshofen/Tauber, Osterburken und Ballenberg. 122 Text: K. Zettmer (Bearb.), Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit. Erster Teil, 2. Aufl., Tübingen 1913, S. 1820; das Zitat ebd., S. 19.

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beigetragen123 . Ein krasses Gegenbeispiel stellt die benachbarte "Centa ad Quercum" dar124 • Sie ist dem Erzstift bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts weitgehend entglitten; die Herren von Bickenbach und die Grafen von Rieneck teilten sich in die Centhoheit12S, die Ausgliederung eines eigenen Centdistrikts für die neuformierte Deutschordenskommende Prozelten/ Main (1329) ist der erste Schritt zu einer weitergehenden Dismembrierung126• Teile dieser vormaligen "Großcent" konnte Mainz nur da zurückgewinnen, wo es eine stärkere Position als Grund- bzw. Niedergerichtsherr hatte127 oder aber durch Kauf bzw. Tausch geschlossene Bezirke in seine Hand gebracht harl 28 • Im ganzen läßt sich sagen, daß die Cent - eine "alte vorterritoriale Größe" 129 - bei der Festigung der Territorialherrschaft gegenüber anderen Faktoren nur eine begrenzte Rolle gespielt hat; auch das immer wieder zu beobachtende Auseinanderfallen von Amts- und Centsprengeln ist ein Indiz für einen relativ geringen Stellenwert bei der Organisation des Territoriums130.

m. Die Ämter Der Organisationstyp, dem die Zukunft gehören sollte, war das Amt. Die Ämter geben bis zum Ende des Kurstaats das tragende Gliederungsprinzip des Territoriums ab; noch die Angaben in den Hof- und Staatskalendern des 18. Jahrhunderts orientieren sich im wesentlichen an den bestehenden Oberämtern bzw. Ämtern. Der hier zur Verfügung stehende Rahmen verbietet es, auf die mainzischen Ämter in ihrer Gesamtheit einzugehen. Als Schwerpunkte sollen das Oberstift und der hessisch-eichsfeldische Raum herausgegriffen werden. 123 Es war dies freilich ein Prozeß, der bis ins 17. Jahrhundert hinein dauerte, wie die Angaben in StAW, MJb 3 (2.H. 16.]h.) und MJb 17 (1668) zeigen. Am Ende des 18. Jahrhunderts lassen sich keine fremden Niedergerichtsrechte mehr fassen; vgl. HAB Obernburg, S. 142 f. 124 Vgl. dazu zusammenfassend H. Ntckles, Herrschaft, Gericht und Genossenschaft in der ehemaligen Zent zur Eich. Ein Beitrag zur Verfassungs- und Sozialgeschichte des bayerischen Untermaingebietes, Phil. Diss., München 1970. 125 Ebd., S. 85 nennt 1329 als das erste zuverlässige Datum über die bickenbachrieneckische Gerichtsgemeinschaft 126 Ebd, S. 89; HAB Marktheidenfeld, S. 48. 127 Dies gilt für den kleinen Kleinwallstadter Amtssprengel im westlichen Spessart; vgl. HAB Aschaffenburg, S. 88 f. 128 So beim Erwerb der Deutschordensherrschaft Prozelten 1483; vgl. HAB Marktheidenfeld, S. 51, und der Herrschaft Klingenberg; vgl. HAB Obernburg, S. 57 f.; ferner D.M. Fetnets, Überblick über die Geschichte der Herrschaft Klingenberg, S. 171-173. 129 M. Schaab, Zenten am Rhein, S. 6. 130 Dies gilt vor allem da, wo sich unterhalb der Centebene fremde Orts- und Niedergerichtsherrschaft halten konnte, so im Raum von Odenwald und Bauland, vgl. dazu W. Matzat, Die Zenten im östlichen Odenwald, passim.

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In dem an das Mainviereck anschließenden Herrschaftskomplex stellen die Ämter Miltenberg und Amorbach - sie sollen in erster Linie als Exempel dienen - die ältesten mainzischen Bastionen dar. Die Position am Mainknie bei Miltenberg hatte sich Mainz im Kampf mit dem Pfalzgrafen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts errungen 131 ; Amorbach und sein weiteres Umland waren, in Raten, seit 1271 aus der Hand der Herren von Dürn erworben worden 132 . Beide Ämter sind als Bildungen des 14. Jahrhunderts anzusprechen; die Reihe der Amtleute beginnt für Amorbach 1319 und für Miltenberg 1349; sie tragen -in Amorbach bis 1400, in Miltenberg bis ins beginnende 16. Jahrhundertden Titel "Burggraf", gelegentlich auch "Burgvogt", Zeichen der Hinordnung des Amtes auf eine Burg (,.Mildenburg, Wildenberg") 133 . Das Amt Amorbach hatte dabei durch die, freilich noch nicht flächenhaft zu verstehende, Herrschaftsbildung der Herren von Dürn eine gewisse Vorprägung erfahren134 • Die Untergliederung von Ämtern stellt sich unterschiedlich dar: während das Amt Amorbach drei Kameralbezirke bzw. zwei Centen umfaßte135, zerfiel das (hier mit den Ämtern in eine Reihe zu stellende) Vizedomamt Aschaffenburg in eine Reihe um die beiden Centen bzw. "Landschaften" "vorm Spessart" und Bachgau gruppierter kleinerer Distrikte136; die "Landschaft vorm Spessart" ihrerseits läßt in ihrer Untergliederung in, teils als "Amt", teils als "Landschöffenbezirk" bezeichnete Kleinsträume, ältere grundherrliche Komplexe oder Vogteibezirke, vor allem des Aschaffenburger Kollegiatstifts und der Grafen von Rieneck, durchschimmern137 • Der Grundgedanke der Amtsverfassung - die enge, amtsweise Bindung an den Landesherrn -, wurde auch auf dieser Ebene immer wieder durch pfandweise Amtsauftragung geschwächt 138. Werfen wir schließlich noch einen Blick auf die Verhältnisse auf dem Eichsfeld und in HAB Miltenberg, S. 58-60; 79-81. HAB Miltenberg, S. 63 f. 133 HAB Miltenberg, S. 165-174 (Amorbach); S. 174-179 (Miltenberg). 134 H . Neumaier, Zwischen den Edelherren von Dürn und Kurmainz - 700 Jahre Stadt Buchen, in: R. Trunk I H. Broscb I K. Lehrer (Hrsg.), 700 Jahre Stadt Buchen. Beiträge zur Stadtgeschichte, Buchen I Odenwald 1980, S. 23-50; hier wird S. 40-42 die "Struktur der Herrschaft" näher erläutert. 135 Es sind dies die Kellereien Amorbach, Buchen und Walldürn - vgl. HAB Miltenberg, S. 167-171- bzw. die Centen Amorbach ("untere" Cent) und Mudau (,.obere" Cent)- vgl. ebd., S. 153-156; W. Matzat, Die Zenten im östlichen Odenwald, S. 79 f. 136 Erstmals Ende des 15. Jahrhunderts faßbar in: Stadtarchiv Frankfurt a. Main, Reichssachen Nachträge 2449/1, 3, wo sich um die beiden Centdistrikte die "Gerichte" Kleinwallstadt und Heimbuchenthal, die .Graveschafft" Seligenstadt, daneben die "dorff in die aptey gyn Seligenstat gehörig", ferner der Spessarter Forstmeistersitz Rotbenbuch und der Kammerflecken "Heyn" (das spätere Schweinheim) gruppieren. Dazu kommen die vier Städte Aschaffenburg, Seligenstadt, Wörth und Obernburg. 137 HAB Aschaffenburg, S. 87-90. 138 So beispielsweise 1354 für Wildenberg (=Amorbach); vgl. HAB Miltenberg, S. 165 f. 131

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Hessen! Hier müssen einige Streiflichter genügen. Der Amtmann dieses Raumes vereinigt in seiner Hand "militärische Gewalt, Gerichtsbarkeit und Zivilverwaltung", wobei ihm die Gerichtsbarkeit offenbar als letztes zugewachsen ist139. Im 14. Jahrhundert kommen Geleit, Landfriedenswahrung und "Schutz der Landesinsassen" hinzu 140• Für das Aufkommen von Ämtern unterhalb der Vizedomamtsebene hat, neben der Streulage der mainzischen Besitzungen, zweifellos auch die begrenzte Brauchbarkeit der Kategorie des Vizedoms für die mainzische Herrschaftspraxis eine Rolle gespielt141 • Um 1300 mehren sich die Belege für Amtleute14l, so 1307 in Amoeneburg, 1315 in Fritzlar und Hofgeismar. Entscheidend ist dabei, daß der Erzbischof unmittelbar, ohne den Vizedom als Mittelinstanz dazwischenzuschalten, die Einsetzung der Amtleute vornimmt143 • Doch war es bis zur vollen Verfügung über Amt und Amtsinhaber vielfach noch ein weiter Weg: erst in der Mitte des 14. Jahrhunderts verschwinden Belehnungen 1 ~ 4 ; dafür nehmen, angesichts der durch die Stiftsfehden gesteigerten Geldbedürfnisse, im 14. Jahrhundert pfandweise Amtsverleihungen erheblich zu, mit der Gefahr dauernder Entfremdung145 . Allein .die nach Amtsrecht übertragenen Ämter" sind in vollem Sinne als Elemente des Territorialaufbaus anzusehen 146. Soweit sie nicht zugleich Oberamtleute waren, ·rekrutierten sich die Amtleute in erster Linie aus der Ministerialität147 ; in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts begegnen (wenn auch selten) Bürgerliche, so zum ersten Mal 1362 in Neustadt/Hessen 148 - im ganzen allerdings tritt das bürgerliche Element dann erst mit den Kellern in den Vordergrund. Der sich ausformenden dualistischen Herrschaftsstruktur des Erzstifts entsprechend, suchte sich auch das Domkapitel zur Geltung zu bringen, wie die Wahlkapitulationen seit 1337 zeigen149. H. Fa/k, Die Mainzer Behördenorganisation, S. 32. Ebd., S. 33. 141 Siehe oben S. 179-188. 142 H. Falk, Die Mainzer Behördenorganisation, S. 35 und 39 f. 143 Ebd., S. 39 f. 144 Ebd., S. 39. 145 Ebd., S. 40 und 47. Vgl. auch die Aufstellung der Amtleute und Pfandinhaber ebd., S. 83-102. 146 Ebd., S. 41. 147 Ebd., S. 48 f.; Oberamtleute wurden in der Regel mit Angehörigen des Herrenstandes besetzt. Für eine Übersicht der Amtleute ebd., S. 83-102. 148 Ebd., S. 49-51; der erste bürgerliche Amtmann in Neustadt ist Tiele Spaet (136266). 149 Ebd., S. 46-48. Das in der Wahlkapitulation von 1337 anvisierte Maximalziel, nur "man, dienstmann oder burgmann des stiftesvon Mentze" bzw. Domkanoniker zu Amtleuten zu ernennen, ließ sich in der Folge freilich nicht realisieren, vgl. M . Stimming, Die Wahlkapitulationen der Erzbischöfe und Kurfürsten von Mainz (1233-1788), Göttingen 1909, S. 103 f.; das Zitat S. 104, Anm. 1. 139 140

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IV. Die Kameraldistrikte

Anfang des 14. Jahrhunderts erfolgte die Abtrennung der "Finanz- und Wirtschaftsverwaltung" von den übrigen Amtsaufgaben 150. Seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts häufen sich die Belege für "cellerarii" ("Keller", "Kellner" - der Begriff als solcher entstammt wohl der Wirtschaftsverwaltung von Klöstern und KirchenY 51 : 1310 Amoeneburg 152, 1322 Aschaffenburg153 und Starkenburg15\ 1326 Dieburg155 , 1337 Hofgeismar, relativ spät, erst 1358 Heiligenstadt und 1361 Duderstadt156 . Die neuen Karneralbeamten waren vorwiegend bürgerlicher Herkunft, häufig auch geistlichen Standes. So sind von den sieben ersten Kellern in Amoeneburg allein vier Kleriker157 ; auch der erste für Aschaffenburg bezeugte Keller, Heilmann Schwab, gehört als Kanoniker des dortigen Stifts zu dieser Gruppe158 . Mit diesem, stärker an den Landesherrn gebundenen, Typ eines Amtsträgers sollte zweifelsohne gegenüber den (vorwiegend adeligen) Amtleuten ein Gegengewicht geschaffen, der durch die häufigen Pfandamtmannschaften gelockerte Zugriff auf die Amtssprengel gefestigt werden. Dazu kommt freilich auch, daß die zunehmende Verschriftlichung der Amtsverwaltung 159 die Ansprüche steigerte - Ansprüche, denen die Amtleute wohl häufig nicht gewachsen waren. In Hessen und auf dem Eichsfeld haben sich die Erwartungen an die neue Aufteilung der Kompetenzen allerdings nur unzureichend erfüllt; lediglich dem Amoeneburger Keller ist es im 14. Jahrhundert gelungen, die Macht der Amtleute bzw. Landvögte einzudämmen160. Dagegen konnte der Aschaffenburger Keller bald in die Rolle einer 150 151 152 153

51. Ebd., S. 52 (mit verschiedenen Beispielen). Ebd., S. 51; es ist die erste Erwähnung eines mainzischen Kellers. Ebd., S. 53; HAB Aschaffenburg, S. 67 (dort versehentlich 1332). Nach R. Fischer, Aschaffenburg im Mittelalter, S. 155 stammt der erste Beleg für einen Aschaffenburger Keller aus dem Jahr 1328. Die abweichenden Daten erklären sich daraus, daß der bei E. Vogt (Bearb.), Regesten, S. 457, Nr. 2313 genannte Heilmann Schwab 1322 III 28 mit der Erhebung eines der Diözese auferlegten "subsidium maius" und damit einer geistlichen Abgabe beauftragt wurde, der nämliche jedoch erst 1328 V 13 mit der Abrechnung erzstiftischer (d.h. weltlicher) Einnahmen bzw. Ausgaben befaßt erscheint, vgl. ebd., S. 571, Nr. 2118. Dafür, daß um diese Zeit Keller für weltliche und geistliche Abgaben zugleich zuständig waren, zeugt die Amoeneburger Kellereirechnung von 1324; vgl. H . Falk, Die Mainzer Behördenorganisation, S. 55 f. 154 H. Falk, Die Mainzer Behördenorganisation, S. 53; HAB Aschaffenburg, S. 67 ist "1332" in "1322" zu berichtigen. 155 H. Falk, Die Mainzer Behördenorganisation" S. 53. 156 Ebd., S. 53. 157 Ebd., S. 104. 158 R. Fischer, Aschaffenburg, S. 156. 159 Für diese generelle Tendenz vgl. H. Patze, Neue Typen des Geschäftsschriftgutes im 14. Jahrhundert, in: H . Patze (Hrsg.), Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert I (Vorträge und Forschungen, Xlll), Sigmaringen 1970, S. 9-64. 160 H. Falk, Die Mainzer Behördenorganisation, S. 53. H. Falk, Die Mainzer Behördenorganisation, S.

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überörtlichen Koordinationsinstanz hineinwachsen. Schon in den 20er und 30er Jahren des 14. Jahrhunderts stellte die Aschaffenburger Kellerei eine Art Vermittlungsstelle zwischen Lokalinstanzen und Hof dar161 ; ihr kam auch in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, aufgrundder zeitweiligen Residenzfunktion Aschaffenburgs, eine herausgehobene Stellung zu 162 . Im Mainzer ..Oberstift" ging die Tendenz generell dahin - dies zeigen die aus den Amtsdistrikten Aschaffenburg 163, Amorbach 164 und Miltenberg 165 gewonnenen Ergebnisse -, die Befugnisse des Kellers gegenüber dem sein Amt wohl vielfach eher als Sinekure betrachtenden adeligen Amtmann auszuweiten, ihn zum dauernden Vertreter (und faktischen Inhaber der Amtsgewalt) des Amtmanns zu machen. Daß der Keller dabei auch in die Sphäre der Gerichtsbarkeit eindringen konnte, ist zweifellos auf die stark entwickelte fiskalische Komponente der zeitgenössischen Justizpflege zurückzuführen. Auf breiter, gesicherter Quellengrundlage läßt sich dieser Befund freilich erst für das 17. und 18. Jahrhundert belegen166. Einen Sonderfall stellt das Amt des Landschreibers im Rheingau dar167 • Der Mitte des 13. Jahrhunderts als ..scriptor Ringowie" quellenmäßig faßbare 168, seit etwa 1370 als ..Landschreiber" bezeichnete Amtsträger169 gewann infolge der langjährigen Verpfändung des Rheingauer Vizedomamts über die Besorgung reiner Kameralangelegenheiten hinaus an Gewicht; das Amt war, um es ..vor der Entfremdung durch Verpfändung oder Verlehnung zu bewahren", bis ins 15. Jahrhundert meist mit Klerikern besetzt170• Nach der Entstehung von Kellereibezirken - Eltville, Algesheim und Bingen -, deren Anfänge an die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert gesetzt werden, wenn sie auch erst im 14. Jahrhundert in das Licht der Überlieferung treten, erlangte infolge des zeitweiligen Residenzcharakters von Eltville der dortige Keller besondere Bedeutung 171 • Nach dem Ausscheiden der Kellereien Bingen (1440) und Algesheim (endgülEbd., S. 4 f. (1324); R. Fischer, Aschaffenburg, S. 157 (1338). I.H. Ringel, Studien zum Personal der Kanzlei des Mainzer Erzbischofs Dietrich von Erbach (1434-1459) (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 34), Mainz 1980, S. 227, Anm. 30. 163 R. Fischer, Aschaffenburg, S. 157 sieht (bis 1526) das Schwergewicht der Tätigkeit des Kellers in der Stadt Aschaffenburg, jener des Vizedoms auf dem flachen Land; für die Kompetenzen des Kellers vgl. HAB Aschaffenburg, S. 69 f. 164 HAB Miltenberg, S. 167 spricht sogar davon, daß bis zum 17. Jahrhundert die Kellerei zur .,fast allumfassenden Behörde ihres Bereichs geworden" sei. 165 HAB Miltenberg, S. 175. 166 HAB Aschaffenburg, S. 69 f. Mit der Ausweitung des Kompetenzbereichs des Kellers ist zweifellos auch die Ausgliederung von Kellereien (Bachgau 1669, Rotbenbuch 1686) aus dem Verband der bisher einzigen Aschaffenburger Vizedomamtskellerei in Zusammenhang zu bringen (ebd., S. 67 f.). 167 Zusammenfassend vgl. B. Witte, Herrschaft und Land im Rheingau, S. 111-119. 168 Ebd., S. 111. 169 Ebd., S. 112. 170 Ebd., S. 113; dort auch das Zitat. 171 Ebd., S. 114 f. 161

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tig 1481) aus dem Verband des Rheingaus und der Verlegung der Residenz nach Mainz wurden die Chargen des Eltviller Kellers und des Landschreibers schließlich zusammengelegt172 • Die weitere Entwicklung ging dahin, daß der Landschreiber im 15. und 16. Jahrhundert allmählich "zur Stellung des eigentlichen Verwaltungsbeamten im Rheingau emporstieg" 173.

V. Herrschaftsintensivierung Wir haben nun, mit einiger Ausführlichkeit, die Organisationsformen mainzischer Herrschaft, wie sie sich im Verlauf von zwei Jahrhunderten herausgebildet haben, betrachtet. Ihre Kenntnis sagt jedoch noch wenig aus über die Intensität der Herrschaftsausübung oder, unter chronologischem Aspekt, deren Intensivierung im Lauf der Jahrhunderte. Auch hier müssen wir uns auf Beispiele beschränken. Es stellt durchaus einen Unterschied dar, ob es sich um den -vielfach räumlich zunächst gar nicht klar abzugrenzenden - Zuständigkeitshereich eines Vizedoms, Landvogts oder .Obersten Amtmanns" handelt, mit dem Schwergewicht auf Schutz und Schirm bzw. Wahrung der erzstiftischen Gerechtsame, oder aber einen Gerichtssprengel, einen Amts- bzw. Karneraldistrikt Die Kernfrage ist stets, wie weit die Herrschaftsausübung bis in die unteren Schichten von Niedergerichtsbarkeit, Dorf- und Grundherrschaft durchgedrungen ist. Der Weg zu einer voll entwickelten Beherrschung von Land und Leuten ist generell von zwei Richtungen her beschritten worden: einmal von unten, von der (mit Gerichtsrechten ausgestatteten) Grundherrschaft, zum anderen von oben, durch langsame Zurückdrängung bzw. Aushöhlung von Befugnissen fremder Herrschaftsinstanzen. Das, freilich nicht durchgehend erreichte, Ideal voller erzstiftischer Herrschaft stellt sich wie folgt dar - das Beispiel stammt aus einer Quelle des letzten Viertels des 16. Jahrhunderts und aus einem beliebig aus dem Vizedomamt Aschaffenburg herausgegriffenen Dorf: .hat mein gnädigster Herr der Erzbischof und Kurfürst zu Mainz die hohe und niedere Obrigkeit, mit Gebot, Verbot, Atzung, Jagen, Hagen, Schatzung und andere Frondienste, Geschoß" 174 • Hier gibt es, neben der erzbischöflichen, keine konkurrierende Herrschaftsgewalt mehr. Dieser Befund stellt allerdings nur das eine Ende eines breiten Spektrums dar. Das andere Extrem findet sich, beispielsweise, bei zwei Dörfern im Südostspessart, wo Mainz gegenüber dem alle übrigen Hoheitsrechte ausübenden Hochstift Würzburg gerade noch die, in ihrem Umfang dazu noch bestrittene, Hochgerichtsbarkeit beanspruchen konnte175• Ebd., S. 115. Ebd., S. 118. 174 Dies ist, mit kleineren Varianten, die Standardformulierung in StAW, MJb, 3; das Beispiel stammt (ebd. fol. 18) von dem Dorf Oberhessenbach (Text modernisiert). 175 Es handelt sich um Esselbach und Oberndorf; vgl. HAB Aschaffenburg, S. 75 f. ; HAB Marktheidenfeld, S. 99, 127 und 136. 172

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Am Beispiel zweiergeistlicher Institutionen, der Abtei Seligenstadt und des Kollegiatstifts St. Peter und Alexander in Aschaffenburg, sollen einige zwischen diesen Extremen liegende Varianten vertikaler Herrschaftsteilung vorgeführt werden. Die Abtei Seligenstadt war 1063 in die Hand des Mainzer Erzbischofs gekommen 176• Dies bedeutete zunächst einmal einen weitgehenden Zugriff auf die Abtei als geistliche Institution. Von dem an ca. 40 Orten belegten Grundbesitz177 ist jedoch nur ein ganz kleiner Teil in die mainzische Territorienbildung eingegangen. Der Vorgang als solcher läßt sich in der lediglich aus fünf Dörfern bestehenden Cent Seligenstadt sowie einigen Orten des Amts Steinheim/Main genauer beobachten. Die Entwicklung lief nach dem folgenden Schema ab 178: zunächst traten neben die (möglicherweise ursprünglich sogar mit der Blutgerichtsbarkeit ausgestatteten) abteiliehen Vogteigerichte konkurrierende Instanzen mainzischer Zivilgerichtsbarkeit, die nach und nach die Untertanen der Zuständigkeit des Abtes entfremdeten. Im weiteren Verlauf wurde dann die abteiliehe Ziviljurisdiktion auf die Stufe bloßer grundherrlicher Gerichtsbarkeit herabgedrückt Besonders gut läßt sich die allmähliche Durchsetzung des mainzischen Herrschaftsanspruchs an den Besitzungen des Aschaffenburger Kollegiatstifts beobachten; dessen umfänglicher, weitausgreifender Besitz tritt uns in dem 1184 von Papst Ludus 111. ausgestellten Schutzprivileg entgegen179• Über einen Teil des Stiftsbesitzes hat Mainz möglicherweise bereits unter Erzbischof Willigis (975-1011) die Gerichtshoheit erlangt180, der Großteil dürfte zumindest im späteren 13. Jahrhundert unter mainzischer Centhoheit gestanden haben181 • Trotzdem haben sich in einer Reihe relativ geschlossener grundherrlicher Sprengel noch bis ins 16., ja in Relikten bis in das 17. und 18. Jahrhundert hinein, hubgerichtliche Rechte des Kollegiatstifts erhalten182; genauere Nachrichten vermitteln erstmals die Weistümer des 14. und 15. Jahrhunderts. Diese Rechte weisen, von Ort zu Ort, eine nicht unerhebliche Bandbreite auf und reichen, über zivilrechtliche Befugnisse, bis in den Bereich der Strafgerichtsbarkeit In der Formel vom Erzbischof als dem ..obersten Vogt und Beschirmer"

176 ]. Koch, Die Wirtschafts- und Rechtsverhältnisse der Abtei Seligenstadt im Mittelalter, Phi!. Diss., Gießen 1940 (Neudruck Heppenheim 1969), S. 153. 177 Ebd., S. 9; eine ausführliche tabellarische Übersicht der Besitz- und Rechtsverhältnisse ebd., S. 44-67. 178 M. Schopp, Die weltliche Herrschaft der Abtei Seligenstadt, S. 232 f. 179 M. Thiel, Das Privileg Papst Lucius' III. für das Stift Aschaffenburg von 1184 (Beihefte zum Aschaffenburger Jahrbuch, 1), Aschaffenburg 1984. 180 C. Cramer, Landeshoheit und Wildbann im Spessart, in: Aschaffenburger Jahrbuch 1 (1952), S. 51-123; hier S. 81. 181 Vgl. dazu das mainzische "Koppelfutter-Register" oben, S. 189. 182 Vgl. dazu zusammenfassend: G. Christ, Hubgerichte des Kollegiatstifts St. Peter und Alexander am Untermain, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 25 (1962), s. 111-162.

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des Gerichts bzw. der Mark 183 findet der für die Zukunft ausbaufähige Anspruch auf Oberherrschaft seinen Ausdruck. Schrittmacher für die Durchsetzung des mainzischen Herrschaftsanspruchs waren einmal die Auflösung der geschlossenen Hofkomplexe, die Auflockerung der Stiftischen Hübnerverbände durch Ansiedlung genuin erzstiftischer Untertanen, vom 16. Jahrhundert an auch das gewandelte, auf die Durchsetzung von Hoheitsrechten abzielende und zeitweise mit erheblichen Druckmitteln arbeitende Amtsverständnis der mainzischen Organe. Im späteren 18. Jahrhundert ist jedenfalls das Ziel eines homogenen mainzischen Untertanenverbandes weitgehend erreicht184 • Dagegen haben weltliche Herrschaftsträger eine bemerkenswerte Resistenz gegen diese Art vertikaler Aufsaugung von Herrschaftsrechten entwickelt. Für das Oberamt Amorbach wurde die aufschlußreiche Beobachtung gemacht, daß von Norden nach Süden die "geschlossene mainzische Territorialkompetenz" abnimmt, die Herrschaftskonkurrenz benachbarter Territorialherren (Kurpfalz, Würzburg), vor allem auch adeliger Herrschaftsinhaber dagegen beachtlich ist 185 • Verhältnismäßig gut haben sich adelige Herrschaftsrechte auch an den Ränoern des mainzischen Kernterritoriums halten können, so etwa am Nordrand des Spessarts186 oder im südlichen Mainviereck187; hier gelang die Einziehung von Lehen, und dies oft nur teilweise, vielfach erst nach dem Aussterben der belehnten Familien im 16. und 17. Jahrhundert188• Selbst in einem verhältnismäßig straff organisierten Distrikt wie dem Vizedomamt Aschaffenburg konnte sich eine Reihe adeliger, zumindest mit Niedergerichtsbarkeit ausgestatteter Enklaven halten; diese sind zum Teil aus mainzischen Forsthuben erwachsen, die sich zu Niederadelsherrschaften entwickelt hatten189 • In dem 183 ]. Grimm, Weisthümer. Sechster Teil, bearb. von R. Scbroeder, Neudruck Darmstadt 1957, S. 74-75 ("Weisthum der Doerfer Ossenheim, Dettingen und Asehaff in der Ossenheimer Mark", bestätigt 1394); hier S. 74 "der markoberster voit und beschirmer''. 184 Vgl. dazu die Ortsstatistiken der einschlägigen Bände des "Historischen Atlas von Bayern", z.B. HAB Aschaffenburg, S. 124-157. 185 HAB Miltenberg, S. 171. 186 Dies gilt vor allem für den Herrschaftsbereich der Grafen Schönborn im mittleren und oberen Kahltal; diese konnten sich sogar der mainzischen Cent- und Landeshoheit entziehen; vgl. ]. Fächer, Alzenau (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken I, 18), München 1968, (künftig zitiert: HAB Alzenau) S. 74-77, 85 f., 90 f., 99-101. 187 So etwa Feebenbach (Frh. von Reigersberg)- HAB Miltenberg, S. 307 -, Laudenbach (Frh. von Feebenbach - ebd., S. 310) oder Kleinheubach (Fürst LöwensteinWertheim-Rochefort), dieses auch mit eigener Landesherrschaft - ebd., S. 309. 188 So etwa durch die Einziehung der Lehen der Echter von Mespelbrunn in Mömbris (Nordspessart); vgl. HAB Aschaffenburg, S. 89. Beim Aussterben der Rüdt von Collenberg 1635 konnte das Erzstift lediglich den Heimfall der Burg Collenberg durchsetzen, nicht aber den anderer Rüdt'scher Besitzungen (Fechenbach, Reistenhausen); vgl. HAB Miltenberg, S. 145. 189 So Hobbach und Sommerau- vgl. HAB Obernburg, S. 101, 148 und 159-, ferner der Ingelheim'sche Herrschaftskomplex um Mespelbrunn - vgl. HAB Aschaffenburg, S. 134 und 143; HAB Obernburg, S. 161. Die nach dem Aussterben der Grafen von Rieneck 1559 an die Grafen von Erbach gelangte Enklave Eschau-Wildenstein konnte sich gänzlich der mainzischen Herrschaft entziehen; vgl. HAß Obernburg, S. 142 f.

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zwischen 1278 und 1308 erworbenen Iinksmainischen Bachgau wurden adelige Gerichtsrechte stellenweise bis in das 16. Jahrhundert ausgeübt190• Eine andere Form der Herrschaftsteilung soll wenigstens noch kurz berührt werden: das Kondominat. Es kann aus unterschiedlichen Wurzeln erwachsen sein. Einmal ergaben sich Kondominate aus dem Umstand, daß sich der Erwerb bestimmter Ämter, Gerichte etc. nur in Raten bewerkstelligen ließ, wie das beispielsweise bei der Herrschaft Klingenberg um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert der Fall war191 ; das gleiche gilt für Dieburg192, Amorbach193 und Buchen 194 im späten 13. bzw. frühen 14. Jahrhundert. In anderen Fällen, so beim ersten Zugriff auf das Erbe der Grafen von Rieneck nach 1333, konnte das Erzstift zunächst nur bescheidene Anteile gewinnen, so an dem kleinen Amt Partenstein im Nordspessart; mit dem hanauischen Partner mußte es sich dort die Herrschaft noch bis 1684/ 85, dem Zeitpunkt der endgültigen Auflösung der Gemeinschaftsherrschaft, teilen 195 . Ein Kondominat besonderer Art stellt das .Freigericht Willmundsheim vor der Hart" an der Nordflanke des Spessarts dar. Hier hatten das Erzstift wie auch die Grafen von Hanau den alten Markverband in zunehmendem Maße unterwandert, so daß Kaiser Maximilian I. im Jahre 1500 daraus ein eigenes Reichslehen schuf, dessen Inhaber Mainz und Hanau wurden. Hier bestand die, wie in dergleichen Fällen konfliktträchtige, Gesamtherrschaft sogar bis 1748196• VI. Die Städte

Bislang war immer nur von der Organisation des flachen Landes die Rede gewesen. Werfen wir nun noch einen kurzen Blick auf die Städte! 190 Seit dem 13. und 14. Jahrhundert besaßen vor allem die Herren von Breuberg sowie die Grafen von Erbach und Wertheim hier erheblichen Einfluß auf die Dorfherrschaft bzw. Niedergerichtsbarkeit in einer Reihe von Orten; vgl. HAB Obernburg, S. 63 f. und 120 f. In Mömlingen hatten die Grafen von Wertheim noch 1539 Anteil an Gerichtshaltung und Bußenaufkommen (StAW, MJb, 17); die Ulner von Dieburg unterhielten noch im späteren 16. Jahrhundert in Großostheim ein Landsiedelgericht (MJb, 3, fol. 201-203). 191 Siehe oben Anm. 60. 192 Dieburg war erst seit 1310 gänzlich in mainzischem Besitz; vgl. E. Fenner, Die Erwerbspolitik des Erzbistums Mainz, S. 71. 193 Ein letzter Anteil an Amorbach kam erst kurz nach 1290 aus der Hand der Dürn-Dilsberg an Mainz; vgl. H. Neumaier, Zwischen den Edelherren von Dürn und Kurmainz, S. 45 f. 194 Buchen ist seit 1309 ganz in mainzischer Hand; vgl. Tb. Humpert, Die territoriale Entwicklung von Kurmainz, S. 41 f. 195 G. Christ, Politisch-administrative und gesellschaftliche Strukturen, S. 188; ferner ders., Partenstein zwischen Hanau und Mainz, in: 750 Jahre Partenstein. Ein Dorf im Wandel der Zeiten o.O. 1985, S. 22-28, wo die Problematik gemeinsamer Herrschaftsausübung detailliert dargestellt wird. 196 HAB Alzenau, S. 55-61.

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Bei der Mehrzahl der Städte des mainzischen Herrschaftsbereichs handelt es sich um Kleinstädte. Eine Ausnahme bilden lediglich Mainz, Erfurt und mit erheblichem Abstand - Aschaffenburg. In den meisten Fällen sind die Städte bzw. Städtchen zugleich Amtssitze, Vororte von Ämtern, Centen und Kellereien, bestehen zwischen städtischen Leitungsorganen und territorialen Amtsträgern enge personelle Verflechtungen. Entscheidende Stadien der Stadtwerdung waren vielfach schon vor der Übernahme durch das Erzstift erreicht197 . Daneben stehen mainzische Städtegründungen, so zum Beispiel Amoeneburg (Anfang 13. JahrhundertY 98 oder Miltenberg (vor 1285Y99 • Mancher Ansatz zu Stadtgründungen versandete200 • Den Entwicklungsstadien zur Ratsverfassung soll hier nicht im einzelnen nachgegangen werden; diese vollzog sich im wesentlichen im 14. Jahrhundert. Anzeichen eines strafferen Anziehens der Zügellandesherrlicher Gewalt sind bereits unter Erzbischof Berthold von Henneberg gegen Ende des 15. Jahrhunderts zu konstatieren20\ die endgültige Einordnung der Städte in den frühneuzeitlichen Territorialstaat bezeichnen dann die seit 1526 erlassenen Stadtordnungen Erzbischof Albrechts von Brandenburg202. Überörtliche Bedeutung erlangte der Zusammenschluß der "Neun Städte" des Mainzer Oberstifts zwischen 1346 und 1525; diese konnten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, besonders aber in den letzten Dezennien vor den Bauernkriegen, eine quasi-landständische Stellung für das Oberstift einnehmen 203 . Landstände für das Gesamtterritorium - dies in Parenthese bestanden im Erzstift nicht; neben den "Neun Städten" gab es lediglich im Rheingau eine, ursprünglich aus Adel und Bürgern bzw. Bauern zusammengesetzte, "Landschaft" 201 sowie für das Eichsfeld eine vollausgebildete landständische Organisation205 • Richten wir unser Augenmerk noch einmal auf die drei größeren Städte des Erzstifts! 197 So Amorbach, das schon 1253 Stadtrecht erhielt, d.h. fast zwei Jahrzehnte vor dem Anfall an Mainz; vgl. HAB Miltenberg, S. 182 f. 198 G. W. Sante, Hessen (Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands, IV), Stuttgart 1960, S. 10. 199 HAB Miltenberg, S. 186 f. 200 So etwa bei Hasloch/Main, dessen Stadterhebung Kaiser Kar! IV. 1356 dem Mainzer Erzbischof zugestanden hatte; vgl. HAB Miltenberg, S. 65. Auch die Stadterhebung des Ortes Mönchberg im Südwestspessan 1367 hatte keine Entwicklung zu einer Stadt zur Folge; vgl. HAB Obernburg, S. 59. 201 Vgl. dazu allgemein: K. Bauermeister, Der Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg als Landesfürst (1484-1504), Straßburg 1913. Als ein Beispiel etwa die Aschaffenburger Stadtordnung von 1488, vgl. R. Fischer, Aschaffenburg im Mittelalter, s. 141-144. 202 Vgl. dazu zusammenfassend G. Christ, Albrecht von Brandenburg, S. 235-244. 203 N. Höbe/heinrich, Die ..9 Städte", S. 22-50. 201 B . Witte, Rheingau, S. 152-189. 205 ]. Wo(( I K. Lq[/ler, Politische Geschichte des Eichsfeldes. Duderstadt 1921, S. 207-219.

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Mainz entgleitet durch das bekannte Privileg Erzbischof Siegfrieds III. vom 13. November 1244 weitgehend der erzbischöflichen Verfügungsgewalt206 . Dies bedeutete zwar nicht, daß der Erzbischof in der Stadt sämtliche Rechte einbüßte, hatte aber unter anderem zur Folge, daß Kathedralstadt und Residenz künftig nicht mehr identisch waren, Eltville207 , dann zunehmend auch Aschaffenburg208, zeitweise auch Steinheim209 als Residenzorte fungierten. Erst 1462, endgültig dann 1476, kann der Erzbischof die volle Stadtherrschaft wieder erringen210. Erfurt geht den Weg zu städtischer Eigenständigkeil noch entschiedener begünstigt durch seine vergleichsweise abgelegene Lage, aber auch die zeitweilige Präsenz der Reichsgewalt und den Einfluß der Wettiner. Schon Erzbischof Siegfried Il. von Eppstein sah 1203 Grund zu Klagen, die Stadtbürger hätten seine Rechte geschmälert211 • 1289 beginnt, wie schon an anderer Stelle behandelt, die Reihe der Verpfändungen von Münze, Marktmeisteramt und Schultheißenämtern an den Erfurter Rat; dieser erwirbt etwa um die gleiche Zeit auch von den Grafen von Gleichen die Vogtei 212. Damit war der Weg zu einer weitgehenden Emanzipation der Stadt von der Herrschaft der Erzbischöfe beschritten213 . Aschaffenburg blieb hinter dieser Entwicklung weit zurück. Abgesehen von einem, ohnehin folgenlos gebliebenen, Bürgeraufstand von 133221 \ bleibt die Stadt eng in den mainzischen Herrschaftsorganismus eingebunden; die Stadtordnung Erzbischof Gerlachs von Nassau von 1360 mit der dominierenden Position des erzbischöflichen Kellers, nicht etwa des Vizedoms, ist in dieser Richtung wegweisend215 . Das übergeordnete Tagungsthema -vergleichende hochmittelalterliche Territorialstruktur in Deutschland und Italien - legt es nahe, schließlich auch nach städtischer Territorienbildung zu fragen. 206 S. oben, S. 179. 207 Für die Rolle von Eltville vgl. W. Martini, Der Lehnshof der Mainzer Erzbischö-

fe im späten Mittelalter, Düsseldorf 1971, S. X-XIX (Itinerar der Mainzer Erzbischöfe 1374-1419); L. Falck, Die erzbischöflichen Residenzen Eltville und Mainz, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, 45 (1993), S. 61-81. 208 Zur Residenzfunktion von Aschaffenburg vgl.: G. Christ, Die Mainzer Erzbischöfe und Aschaffenburg - Überlegungen zum Residenzproblem, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 45 0993), S. 83-113. 209 G. W. Sante, Hessen, S. 394. 210 A .Pb . Brück, Mainz vom Verlust der Stadtfreiheit bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges (1462-1648) (Geschichte der Stadt Mainz, V), Düsseldorf 1972, S. 1 f. und 7. 211 W. Mägdefrau I E. Langer, Die Entfaltung der Stadt, S. 62. 212 S. oben, S. 188. 213 Für eine Übersicht über die Entwicklung vgl. U. Weiß, Sedis Moguntinae, S. 112-131. 214 R. Fischer, Aschaffenburg, S. 81 f. 215 Ebd., S. 139-141; ferner S. 156.

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In Mainz war die Stadtmark216 , in älterer Zeit als "Stadtgrafschaft", ab dem 14. Jahrhundert "Burgbann" bezeichnet, und ab dieser Zeit durch eine, 1430 verstärkte .Landwehr" gesichert, auf das Linksrheinische beschränkt. Außer dem wohl im 13. Jahrhundert in die Mainzer Gemarkung und Ummauerung einbezogenen Selenhofen konnte die Stadt lediglich 1253/59 den Burgplatz Weisenau (die Burg war 1250 zerstört wordenY17 erwerben- 1294 kam noch Vilsbach hinzu. 1301 verlieh der Erzbischof den Vilsbachern die Rechte der Mainzer Bürger; der neue Stadtteil blieb jedoch außerhalb des städtischen Mauerberings und hatte seine eigene Befestigung. Eine vorübergehende Erscheinung blieb die, ohnehin zusammen u.a. mit Worms und Speyer 1356/ 67 von der Stadt ausgeübte, Reichspfandschaft über Oppenheim und eine Reihe weiterer Orte218; sie führte so wenig zur Ausbildung eines über den engsten Umkreis hinausgreifenden Territoriums wie der, in der Mainzer "Mauerbauordnung" aus ottonischer bzw. salischer Zeit überlieferte, Burgbannbezirk, der zahlreiche, zum Unterhalt der Mainzer Stadtmauer verpflichtete Orte anführt219 . Daß die Stadt kaum Chancen zur Gewinnung eines Landgebietes hatte, hing zweifellos mit ihrer bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts währenden Entfremdung gegenüber den Erzbischöfen zusammen. Es erscheint bezeichnend, daß das um die Mitte des 14. Jahrhunderts aus Reichspfandschaft erworbene Kastell, eine Art rechtsrheinischer Brückenkopf, dem Rheingau er Vizedom unterstellt wurde220• In Erfurt ist es dagegen zur Ausbildung eines regelrechten städtischen Territoriums gekommen. Den Grundstein legte der Erwerb von Burg und Dorf Stotternheim im Jahre 1269 durch den Erfurter Rat. Schon ein Jahr darauf verpfändete Landgraf Albrecht von Thüringen "für 160 Silbermark dem Erfurter Rat ... die ,mindere Grafschaft an der schmalen Gera"' 221 • Bei den weiteren Erwerbungen ging es vor allem auch darum, Gerichtsrechte in die Hand zu bekommen, mit dem Ziel, auf die bäuerliche Bevölkerung Marktzwang auszuüben222 • Das 1348 hinzugekommene, zu einer "wehrhaften Wasserburg" ausgebaute Kapellendorf wurde 1352 von Kaiser Kar! IV., zusammen mit zwei weiteren Dörfern, dem Erfurter Rat sogar als Reichslehen übertragen, mit der Folge der Reichsunmittelbarkeit22\ im 14. und 15. Jahrhun216 L. Fa/ck, Mainz in seiner Blütezeit als freie Stadt (1244 bis 1328) (Geschichte der Stadt Mainz, III), DUsseldorf 1973, S. 82-88; hier die folgenden Details. 217 Ebd., S. 3 f. 216 E. Kistoiese 1991), Porretta Terme 1992, S. 100 ff. 167 Vgl. R. Stopani, II contado, S. 19-20; und E. Conti, La formazione, III/2, S. 238 ff. 168 Vgl. M. Ginatempo, L'Italia delle citta, S. 197. 169 M. Ginatempo, Einleitung, S. 41. 170 Vgl. C. Violante, Le strutture organizzative della cura d'anime neUe campagne dell'Itaila centrosettentrionale (secoli V-X), in: Cristianizzazione e organizzazione ecclesiastica delle campagne nell'alto Medioeva (espansioni e resistenze). Atti della XXVIII settimana del Centro italiano di studi sull'alto Medioeva (Spoleto 1980), Spoleto 1982, S. 963-1158.

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tet war171 . Die Übernahme der kirchlichen Bezirke als Verwaltungs- und Steuerdistrikte - die in überwiegendem Maße daher rührte, daß die Kommune die Autorität und die weltliche Macht des Bischofs übernahm172 - , stellte tatsächlich kein zu verallgemeinerndes Phänomen dar173 . Jüngere Untersuchungen haben gezeigt, daß, wenn das Grundmodell der Territorialstruktur von Florenz, Arezzo und Cortona aus pievi und popoli bestand, das der Kreise von Pistoia, Siena und Pisa im Gegenteil vor allen Dingen aus Bezirken bestand, die sich direkt auf eine weltliche Bezeichnung bezogen (comunitates, comunia, terrae, villae und castra) 174 • In den mittleren Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts bildeten sich also die Verwaltungsstrukturen des florentinischen Contado auf der Grundlage der kirchlichen Bezirksaufteilung der plebati. Schon für die 40er Jahre haben wir Informationen über mit öffentlichen Funktionen versehene pievii7S, aber erst zur Zeit des regime di primo popolo in den 50er Jahren wurde das Territorium nach einem das Kirchennetz wiedergebenden weltlichen Netz in 96 pivieri unterteilt176• Die bekannten Untersuchungen von Plesner haben die von den pievi seit frühester Zeit bis zur kommunalen Blütezeit 171 Vgl. zu diesem Punkt /. Moretti, Espansione demografica, S. 65 ff. Die Pfarrstrukturen wurden dagegen allgemein zwischen dem 12. und dem frühen 14. Jahrhundert wieder ins Leben gerufen: Vgl. R. Stopani, II contado, S. 39-41. 172 Zu diesem Punkt vgl. C.E. Boyd, Tithes and Parishes in Medieval Italy. The Historical Roots of a Modern Problem, New York 1952, S. 178 ff.; und Tb. Szabo, Pievi, parrocchie e lavori pubblici nella Toscana dei secoli XII-XIV [1984], Bologna 1992, S. 283. Zur kirchlichen Territorialstruktur und den Fragen der Kontinuität mit der weltlichen städtischen Macht vgl. von den zahlreichen Beiträgen von C. Viatante zumindest: Le istituzioni ecclesiastiebe dell'Italia centrosettentrionale durante il medioevo: province, diocesi, sedi vescovili [1974], in: G. Rossetti (Hrsg.), Forme di potere e struttura sociale in Italia nel Medioevo, Bologna 1977, S. 83-111; ders., Pievi e parrocchie nell'Italia centrosettentrionale durante i secoli XI e XII, in: Le istituzioni della "societas christiana" dei secoli X e XII: diocesi, pievi e parrocchie, atti della VI settimana internazianale della Mendola (Mendola 1974), Milano 1977, S. 643-749; ders., Sistemi organizzativi della cura d'anime. in Italia tra Medioevo e Rinascimento, in: Pievi e parrocchie in Italia nel basso Medioevo (sec. XIII-XV). Atti del VI convegno di storia della Chiesa in Italia (Firenze 1981), Roma 1984; ders., L'organizzazione dello spazio nelle campagne medioevali e Je strutture ecclesiastiebe di cura d'anime. L'esempio dell'Italia settentrionale e centrale, in: C.D. Fonseca (Hrsg.), L'uomo e l'ambiente nel Medioevo. Atti del convegno di studi polacco-italiano (Nieborow 1981), Galatina 1986, S. 103-129; und ders., L'organizzazione ecclesiastica per Ia cura d'anime neli'Italia settentrionale, in: Pievi e parrocchie in Europa dal Medioevo all'eta contemporanea, Galatina 1990, s. 203-224. 173 Vgl. G. Cberubini, Parroco, parrocchie e popolo nelle campagne centro-settentrionali alla fine del Medioevo [1984] in: ders., L'Italia rurale del basso Medioevo, Roma I Bari 1984, S. 242, für Beispiele aus Venetien und Piemont. 174 Vgl. Tb. Szabo, Pievi, S. 271 ff.; und F. Leverotti, L'organizzazione amministrativa, S. 67 ff., der hervorhebt, daß die fehlende Übereinstimmung zwischen den kirchlichen und weltlichen Bezirken im pisanischen Territorium auf die Art und Weise der Bildung des floreminisehen Regionalstaats Einfluß nahm. I7S Vgl. die Beispiele in: Documenti, S. 321, Dok. Nr. 1;]. Plesner, Una rivoluzione, S. 13; und Tb . Szabo, Pievi, S. 273. 176 Vgl. Tb . Szabo, Pievi, S. 280.

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ausgeübte Funktion als Straßendistrikte hervorgehoben177 . Die tatsächlich größte Kontinuität mit der römischen Zeit gab es in Bezug auf die Instandhaltung des Straßennetzes, und es ist möglich, daß die popoli und pivieri eben gerade aus diesen Pflichten heraus eine immer breitere Palette administrativer Funktionen übernahmen, die ihnen nicht als ursprüngliche Aufgaben sondern in der neuen Qualität als kommunale Bezirke anvertraut wurden 178• Das erste Bild einer inzwischen konsolidierten Verwaltungsstruktur des Contado bietet die im zitierten Libro di Montaperti im Jahre 1260 verfaßte Übersicht über ihre steuerliche und militärische Gliederung179• Die Anlage der ]urisdiktionen der Landbezirke (sestieri ruralt) folgt darin tatsächlich einer "strahlenförmigen Aufteilung, die den damals üblichen Hauptstraßen entspricht"180 und die kirchliche Bezirksaufteilung genau wiedergibt außer in den Fällen der beiden südlichen pivieri von San Donato in Poggio und Panzano, die durch zwei verschiedene Landbezirke getrennt sind181 • Auf der anderen Seite trug die Erhebung des Zehnts dazu bei, den Taufkirchen- oder Pfarrbezirken klare Konturen zu geben, da zum Zwecke der Zahlung nun die Feststellung wesentliche Bedeutung erhielt, ob eine ländliche Kommune einer parrocchia zu dieser oder jener pieve gehörte182 • Die Aufteilung des Territoriums und die Verteilung der Bevölkerung waren aber dennoch nicht homogen. In einer zusammenfassenden Übersicht183 bildete der Bezirk von Oltrarno (dem anderen Arnoufer)- unterteilt in 11 plebati und 172 popoli - zum Beispiel das reichste und am dichtesten besiedelte Gebiet, das die Wohnorte Empoli, Castelfiorentino, Certaldo, Barberino und San Donato in Poggio beinhaltete; während der Bezirk von Borgo - in 16 plebati und 210 popoli unterteilt - zwar dicht besiedelt war und vom Val di Pesa bis zum oberen Valdarno-Tal reichte, es ihm aber außer San Casciano und Montelupo an großen Zentren fehlte. Der Bezirk von San Piero Scheraggio - in 15 plebati und 154 popoli unterteilt - besaß dagegen eine unterschiedliche Bevölkerungsdichte von den dicht besiedelten plebati des oberen ValdarnoTals (Figline, Cavriglia, Gaville, Montevarchi) zu den dünner besiedelten des Chianti; während der Bezirk von Porta San Piero- in 32 plebati und 324 popoli Vgl.]. Plesner, Una rivoluzione, S. 19 ff. und 68 ff.; und Tb. Szaho, Einleitung. Über die Kontinutität vgl.]. Plesner, Una rivoluzione, S. 84; und Tb . Szabo, Einleitung, S. VI ff. Zu den neuen Funktionen vgl. ders., Pievi, S. 271 ff. und 279. 179 II Libro di Montaperti. 180 ]. Plesner, Una rivoluzione, S. 77. 181 Vgl. II Libro di Montaperti, S. 110, 125 und 139. 182 Zu diesem Punkt vgl. C. Violante, Pievi e parrocchie, S. 749; und G. Cberubini, Parroco, S. 242. 183 Gestützt auf das zitierte: II Libro di Montaperti, und auf dessen Beschreibung in: R. Stopani, II contado, S. 20 ff. und 43-65 (und im Anhang eine kartographische Darstellung), der es sinnvollerweise mit den aus der anderen, für die genaue Struktur des Territoriums wesentlichen Quelle stammenden Daten verknüpft, nämlich P Guidi I M. Giusti (Hrsg.), Rationes Decimarum Italiae nei secoli XIII e XIV, Tuscia, 2 ßde., Citta del Vaticano 1932-1942, mit den Kollekten von 1274-1280 und 1295-1304. 177 178

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unterteilt - der ausgedehnteste Distrikt des Contado war und sich, wenn auch mit starken Unterschieden in der Besiedlungsdichte, vom Mugello bis zum Casentino im oberen Valdarno-Tal hinzog, war dagegen der Bezirk von Porta Duomo mit 24 plebati und 209 popoli, der vom florentinischen Tal über das hohe Val di Sieve und einen Teil des Mugello bis nach Santerno jenseits der apenninischen Wasserscheide reichte, der Bezirk mit der niedrigsten Bevölkerungsdichte, der sich nur durch die Ortschaft Borgo San Lorenzo hervortat. Der Bezirk von San Pancrazio schließlich - unterteilt in 3 plebati und 20 popoli - war der kleinste Distrikt, lag aber in der reichen, fruchtbaren florentinischen Ebene mit Campi und Signa als wichtigsten Zentren. Die reichsten und am dichtesten besiedelten Gebiete waren also vor allem die Täler des Valdelsa, Valdipesa, des oberen Valdarno, die florentinische Ebene und der Mugello, während der Chianti ein langsameres und bescheideneres demographisches und ökonomisches Wachstum erfuhr. Die wichtigsten urbanen Zentren waren dagegen auch infolge der Entwässerungsmaßnahmen für die Anlage neuer Verbindungswege, die strahlenförmig von der Stadt ausgingen, in der Talsohle entstanden181 . Auch wenn Florenz in einigen Gebieten - vor allem in den Bezirken von Porta Duomo und Porta San Piero- nicht vor der Mitte des 14. Jahrhunderts die volle Kontrolle erhielt, erstreckte sich das so definierte Gebiet des Contado inzwischen über ungefähr 3.900 km2 und war in etwa hundert pivieri und mehr als tausend popoli aufgeteilt185 . Volkszählungen, die sich auf die 30er Jahre des 14. Jahrhunderts beziehen, geben für den Contado 250.000 und für Florenz 100.000 Bewohner an186. Die Bevölkerung des Contado lebte also dicht gedrängt bei einem Anteil von durchschnittlich 64/65 Bewohnern pro km2, eine Schätzung, die zum Beispiel durch genaue Angaben über den piviere von Santa Maria Impruneta bestätigt wird187 • Das Verhältnis von Stadt- und Landbewohnern des Contado war dagegen 1 zu 2,5 - ein vom Durchschnitt anderer europäischer Regionen weit entferntes Verhältnis, das über den urbanen Charakter der in Florenz verwirklichten territorialen Struktur Bände spricht 188. 184 Vgl. G. Cberttbini IR. Francovicb, Forme e vicende degli insediamenti nella campagna toscana dei secoli XIII-XV [1973], in: G. Cberttbini, Signori, contadini, borghesi, S. 145-174. 185 Genauer gesagt 1089 popoli und 101 plebati (da zwei durch die Rechtsprechung von zwei Bezirken gespalten waren). Die Schätzung über die Ausdehnung des Contado um die Jahrhundertwende zwischen dem 13. und 14. Jahrhunden findet sich dagegen in G. Pinto, II libro, S. 73, Anm. 6. 186 Vgl. G. Pinto, La Toscana, S. 75; und Cb.M. De La Ronciere, Prix et salaires, S. 626 ff. 187 D. Her/ihy, Santa Maria lmpruneta: un comune rurale nel tardo Medioevo [1968], in: L'lmpruneta. Una pieve, una santuario, un comune rurale, Monte Oriolo (Firenze) 1988, S. 14-15, hat hier für die ersten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts 62 Bewohner pro km 2 berechnet. IIIR Vgl. zu diesem Punkt G. Cberttbini, Le cittä italiane dell'etä di Dante, Pisa 1991 , S. 23 ff.

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3.2. Seit der Mine des 13. Jahrhunderts setzte sich eine immer systematischere Organisation des Contado durch, die die Gesamtheit der t~rritorialen Kreise mit der Anlage eines ersten Netzes städtischer Beamter koordinieren sollte. Analog zu anderen italienischen Kommunen förderten vor allem die Regierungen des popolo diese Politik 189. Sie strebten nach einer größeren Rationalisierung und Festigkeit der Verwaltungsstrukturen und nach der Isolierung und Ausgrenzung der anderen autonomen Machtzentren und vollendeten den Prozeß der comitatinantia, deren letztendliches Ergebnis - im Sinne einer bestimmten Formation und Modeliierung des Contado - in der jüngsten Geschichtsschreibung als jene Züge verstanden werden, welche für die historische Erfahrung der italienischen Städte kennzeichnend sind 190. Indem sich Florenz den Entwicklungen einiger Städte Venetiens und der Poebene wie Padua, Verona, Vicenza, Mantua und Perrara annäherte und von dem Großteil der Städte Emiliens und der Lombardei entfernte, deren Kontrolle über den Distrikt dagegen immer begrenzt blieb191 , kontrollierte es die verschiedenen Verwaltungssektoren der territorialen Ordnung durch die Weiterverfolgung der in der ersten Hälfte des Jahrhunderts begonnenen Entwicklungen auf eine stabilere und rationalere Weise. Die Ordnung, die das Steuersystem im Contado erhielt, ist noch gänzlich zu erforschen, obwohl bekannt ist, daß sich das System der Schätzung "ausbreitete, bis es in den Landdistrikten der Stadtbezirke in Kraft trat" 192 • Außerdem weiß man, daß die einzelnen popoli weiterhin die Funktionen der Steueraufteilung und der Instandhaltungskosten für die Straßennetze übernahmen, deren Erhebung den von den Kommunen gewählten rettori anvertraut war193 . Die Reparatur und Instandhaltung der Straßen, auf denen die Lebensmittel transportiert wurden, und besonders diejenigen, die durch den Mugello aus der Romagna herabkamen, blieb tatsächlich Aufgabe der lokalen Gemeinden. Zu verschiedenen Zeiten haben wir Beispiele von Gemeinden des Val di Sieve (und von Kommunen wie Legri und Carraia), die aufgefordert werden, Straßen und Brücken zu reparieren "ut conducentes frumenta et blada ad civitatem Florentie possint cum bestiis et sine incommodo pertransire" 194 . Zusammen mit der Einrichtung von Marktflecken in den Randgebieten des Contado mit dem Ziel, die überschüssige Produktion der nahegelegenen Gebiete anzuzie189 A.I. Pini, Dal comune cittä-stato, S. 102 ff., spricht zum Beispiel von einer wahrhaftigen "Ausbeutung" des Contado von seiten der Kommune des popolo. 190 Vgl. für alle E. Sestan, La ciua comunale italiana dei secoli XI-XIII nelle sue note caraueristiche rispetto al movimento comunale europeo [1960), in: Forme di potere, S. 191 und 193 ff.; und A . Bordone, La citta comunale, S. 362 ff. 191 Vgl. den Beitrag von G.M. Varanini im vorliegenden Band. 192 J. Plesner, L'emigrazione, S. 84; vgl. auch R. Davidsobn, Forschungen, IV, S. 299 ff. 193 R. Stopani, II contado, S. 19-20. Zu den Erhebungsaufgaben der rettori auf dem Lande vgl. Archivio di Stato di Firenze [ASF), Provvisioni, registri [ab jetzt PR), 24, c 19r-21r, 13. November 1327. 19 ~ Von G. Pinto, II libro, S. 107, Anm. 139, zitiertes Dokument.

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hen (erinnert sei hier nicht nur an die bereits genannten Orte wie Monteluco, Gaiole und Loro, sondern auch an die im frühen 14. Jahrhundert geschaffenen Orte wie Razzuolo, das an der Straße des Mugello in die Romagna lag195, und BorseiH an der Kreuzung der aus der Romagna und vom Casentino kommenden Straßen 196), war die Instandhaltung der Straßennetze tatsächlich die gewöhnliche Aktionslinie des Amtes der Sei de/ btado, das die Kommune seit den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts für die Lebensmittelpolitik eingerichtet hatte. In nicht seltenen Fällen mußten die popoli zudem Weizensteuern leisten wie zum Beispiel in den Jahren des Krieges gegen Siena, als alle Gemeinden des Contado das belagerte Montalcino versorgen mußten, indem sie, in Bezug zu der normalen Besteuerungshöhe gesetzte, zusätzliche Mengen beisteuerten, wie einige uns erhaltene Quellen der Lieferungen jeder einzelnen parrocchia anzeigen, die im "Libro di Montaperti" von 1260 enthalten sind197 . Die Bezirke des Contado mußten auch bestimmte Kontingente an Männern an das florentinische Heer liefern. Der Hauptteil der in Montaperti aufgestellten Bewaffneten stammte tatsächlich aus dem Contado - zum Beispiel kaum weniger als 4.000 Fußsoldaten und 1.000 Verwüster (guastaton') von 7.000 gezählten Individuen 198. Auch in diesem Fall handelte es sich um nicht seltene Verpflichtungen, wenn man überschlägt, daß Florenz im Laufe des 13. Jahrhunderts 40 von 100 Jahren in Kriegshandlungen verwickelt war. Das Netz der dörflichen popoli bildete auch den Kern für den Schutz der öffentlichen Ordnung. Die kollektive Verantwortung, die die Kommune von Florenz den lokalen Gemeinden bezüglich Steuerleistungen und öffentlichen Arbeiten auferlegte, war auf Fälle von parrocchie ausgeweitet, die ihrer Pflicht, Übeltäter zu verfolgen, nicht nachkamen oder Rebellen und publief /atrones Unterschlupf gewährten 199. Auf dieser Ebene läßt sich der Grad der Zustimmung der Bewohner des Contado (comitatim') gegenüber den ihnen von den städtischen Autoritäten auferlegten Pflichten besser messen. Wenn wir nämlich Nachricht über tatsächliche Mobilmachungen haben - wie jene, die zum Beispiel im Jahre 1268 im Valdarno-Tal die Festnahme einiger Mitglieder der ghibellinischen Familie der Uberti erlaubte, die .furon presi per Ii Samarianesi 195 196 197

43 ff.

Vgl. ASF, PR, 19, c. 38r, September 1322. G. Pinto, II libro, S. 107 und 300. Il Libro di Montaperti, S. 103-177; vgl. auch R. Stopani, il contado, S. 8 ff. und

198 Vgl. Il Libro di Montaperti, S. 5-6. Zum florentinischen Heer im 13. Jahrhundert vgl. D. Waley, The Army of Florentine Republic From the Twelfth to the Fourteenth Century, in: N. Rubinstein (Hrsg.), Florentine Studies. Politics and Society in Renaissance Florence, London 1968, S. 70-108; und M . Gittliani, L'organizzazione militare a Firenze fra XIII e XIV secolo. Forme di aggregazione e caratteri generali dell'esercito fiorentino, in: Guerre e assoldati, S. 37-49. 199 Vgl. ASF, PR 11, c. 132r-133v, 7. Mai 1302. Vgl. auch G. Salvemini, Magnati e popolani in Firenze dal1280 al1295 [18991, Torino 1960, S. 147, für eine entsprechende Rechtsprechung in anderen Kommunen.

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et per lo grido de' Valdarnesi, ehe Ii perseguitavano di Pianalberti, de Ia Vacchereccia et di Meleto in su I'Arno" ("von den Samarianesem und den Bewohnern des Valdarno gefangen genommen wurden, die sie von Pianalberti, Vacchereccia und Meleto aus den Arno hoch verfolgten")2°0 -, so sind auch Vermerke und Verurteilungen von dörflichen parroccbie bezeugt, die Flüchtige nicht verfolgt oder Rebellen Unterschlupf gewährt hatten201 • Andererseits waren die Bindungen der "latrones, crassatores, robatores et retemptores stratarum, malandrini, incarceratores mercatantium et aliarum personarum" an die zugehörigen Gemeinden meistens sehr eng, was die Stichhaltigkeit der florentinischen Bekanntmachungen bestätigt, die sich auf die kollektive Verantwortung beriefen und die Deckung beklagten, welche die popoli den Obengenannten boten202 • In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stellt man jedenfalls eine Anstrengung seitens der Kommune fest, die Funktionsfähigkeit der territorialen Strukturen zu stärken. Genauso wie sich in der Stadt die soziale Kontrolle und gerichtliche Maßnahmen auf der Grundlage der Pfarreien organisiert hatten 203 , wurde im Contado das Netz der popoli in dieselbe Richtung gelenkt. Die rettori auf dem Lande, die jeweils für ein Jahr aus der Zahl der parrocchiani gewählt wurden20~, mußten dem Richter am Gerichtshof des Podestä von Florenz, der für den Landbezirk zuständig war, zu dem die parrocchia gehörte, "omnia maleficia vel quasi commissa inter aliquos vel per aliquem in suis populis vellocis ex quo commissa fuerint" melden205 • Dieselben mußten auch die Güter der Verbannten und die Usurpatoren öffentlicher Güter melden, Schmuggel und Lebensmittelhinterziehungen unterbinden, die Landadeligen angeben, welche Garantien geben konnten ("sodare"), und den Zollbeamten bei der Schätzung der Grundbesitztümer beistehen206 • In den letzten Jahren 200 Paolino Pieri, Cronica delle cose d'Italia dall'anno 1080 all'anno 1305, hrsg. von A.F. Adami, Roma 1755, S. 34. 201 Beispiele finden sich jeweils in R. Davidsohn, Storia, IV, S. 790; M .B . Becker, Florence in Transition, Saltimore 1968, I, S. 24; und ASF, PR, 6, c. 33v-34r, 5. Juni 1296. 202 Vgl. A . Zorzi, Lo Stato territoriale, S. 805-8o6. Zum Untergang der vincoli di comunita, vgl. auch ders., Conteöle social, ordre public et repression judiciaire ä Florence a l'epoque communale: elements et problemes, in: Annales ESC, XLV 0990), S. 1173 ff.; und ders., Ordine pubblico, S. 428 ff. 203 Vgl. A. Zorzi, Contröle social, S. 1169-1174; und ders., La giustizia a Firenze in eta comunale (1250-1343). Pratiche sociali, sistemi giudiziari, configurazioni istituzionali. Tesi di dottorato di ricerca in storia medievale, Universita degli studi di Firenze 1992, S. 294-302. 204 ASF, PR, 9, c. 35v-36r, 20. Mai 1298; Statuto del podesta del 1325, I, r. XXII, S. 64-66. Informationen auch bei R. DatJidsohn, Storia, V, S. 355-357; und G. Masi, 11 popolo a Firenze alla fine del Dugento, in: Archivio giuridico, XCIX (1928), S. 163 ff. 205 Vgl. G. Rondoni (Hrsg.), I piu antichi frammenti del costituto fiorentino, Firenze 1882, S. 51 , r. XX; Statuto del podesta del 1325, I, r. XXII, S. 66. 206 Vgl. Le consulte, I. S. 238, 7. Juni 1285; ASF, PR, 2, c. 79v, 6. Juli 1288; PR, 12, c. 25r-28r, 24. Juli 1303; Statuto del podestä del 1325, I, r. XXII, S. 66; und PR, 20, c. 61r-65r, April 1324.

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des 13. Jahrhunderts erhielten die rettori auf dem Land auch Spielräume für niedere Gerichtsbarkeit in den Fällen, deren Wert 40 soldi nicht überschritr2°7• 3.3. Im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts bildete sich, wenn auch noch nicht in systematischer Weise, auf der Grundlage dieses lokalen Gewebes, das die Kontinuität der Ausübung der öffentlichen Funktionen garantiert hatte, ein erstes Netz territorialer florentinischer Beamter: der von den Landgemeinden in Florenz geforderten oder direkt von dort ausgesandten Podestä, der Vikare, denen die militärische Kontrolle größerer Gebiete oblag, der den Verteidigungsstrukturen vorangestellten castellani, der Straßenaufsichten und anderer Beamter mit verschiedenen Aufgaben. Man kann sagen, daß die Kommune von Florenz in dieser Phase eine erste Amts- und Kreisstruktur im Territorium schuf. Der Einzelaufteilung in popoli und plebati - die vor allem steuerlichen Erfordernissen gedient hatte und diente - ordnete die neue Bezirksaufteilung mit der Zeit immer mehr ein Netz von Landkreisen zum Teil mit Funktionen der Gerichtsbarkeit über, deren Bezugspunkte die Kommunen der borgbi und die kleinen Landgemeinden waren. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts handelte es sich um einen ungeordneten Aufbau und noch nicht um eine organische und rational organisierte Gesamtstruktur, da die Ämter meist provisorisch waren (besonders die castellanie, die an angrenzende politische Mächte verloren gingen und neu gewonnen werden mußten). Da die kommunale Dokumentationstätigkeit für das Territorium nur sehr bruchstückhaft und nicht in klaren Serien angeordnet war, ist es auch schwierig, eine Schätzung der Bevölkerung vorzunehmen. In jedem Falle handelte es sich von der florentinischen Seite um eine Tätigkeit, die empirisch, unter häufig episodischen oder zufälligen Umständen entstand wie anläßlich von lokalen Kriegen, Aufständen von Gemeinden oder aus der Notwendigkeit einer strategischen Kontrolle über das Territorium. Aber sie festigte deshalb nicht weniger die hegemonialen Tendenzen, die Florenz in den verschiedenen strategischen Bereichen des öffentlichen Lebens ausübte. Die systematische Struktur des Contado tendierte zu einem immer dichteren Verwaltungsapparat hin. Im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts wurden fast alle großen Landkommunen des Contado der direkten Kontrolle eines städtischen Podestä unterstellt. So gab es zum Beispiel jene Orte, die dem Bischof unterworfen gewesen waren, oder andere wie Impruneta, das schon im Jahre 1265 einen von der Florentiner Kommune ernannten (wenn auch noch von den einzelnen popoli bezahlten) Podestä besaß. Nach und nach standen dann alle anderen Orte, von San Casciano (wahrscheinlich seit 1278) bis zu Borgo San Lorenzo (seit 1293) und noch weiteren mehr unter der Kontrolle eines florentinischen Podestä208 . Deren ständige Präsenz weitete sich ASF, PR, 9, c. 74r-v, 31 . Juli 1298. Nachrichten über diese Unterwerfungen finden sich bei G. W. Dameron, Episcopal Power, S. 144-145; und R. Davidsobn, Storia, V, S. 354 und 358. 207

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von den wichtigsten Burgkommunen - Empoli, Figline, Certaldo, Montelupo, Pontormo usw. - auf Ortschaften von geringerer Bedeutung wie zum Beispiel Acone, Colognole, Pelago, Ristonchi u.a. im Valdisieve-Tal aus209 • Die Präsenz städtischer rettori auch in sehr kleinen Landkommunen kam der Notwendigkeit nach, die Aktivitäten der Kommunalorgane vor allem in so heiklen Bereichen wie der Steuereintreibung und der Instandhaltung der Straßen zu kontrollieren und koordinieren. In der frühen Zeit wurde, um den Autonomieverlust der lokalen Gemeinden weniger abrupt zu gestalten, von seiten der Landkommunen selbst ein formaler Antrag auf die Ernennung eines rettore an Florenz gestellt. Noch in den allerletzten Jahren des 13. Jahrhunderts war dies zum Beispiel bei Kommunen und popoli unterschiedlichster Größenordnung und Bedeutung der Fall: von Certaldo, Figline, Incisa oder Montevarchi bis zu kleineren popoli wie San Cipriano a Montemaggio, San Cristoforo a Lucolena und San Donnino a Brozz? 10• Der Antrag von unten verschleierte häufig gewaltsam vollzogene Unterwerfungen. Dies war zum Beispiel1294 bei den in den Chroniken erwähnten Unterwerfungen von "Poggibonizzi . . . et Garnbassi . . . et Cattignano et Pulicciano de gli Uberti" der Fall, "ehe catuna terra si reggea per se et catuna di queste quattro terre facea iustizia; et ancora Certaldo et Ricasoli, ehe si faceano et teneano esenti, ehe non rispondeano, se non Certaldo del sangue et un cero per San Giovanni, et Ricasoli un Marco d'ariento per anno et del sangue" ("da sich jedes Land selbst regierte und jedes dieser vier Länder eine eigene Rechtsprechung hatte; und außerdem Certaldo und Ricasoli, die frei waren und um ihre Freiheit kämpften, und erst nach blutigen Kämpfen stiftete Certaldo Johannes dem Täufer eine Kerze, während Ricasoli einen Silbertaler im Jahr bezahlte")211 • Nachdem es sie militärisch bezwungen hatte, sandte Florenz eigene Podesta dorthin und führte sie in den Untertanenverträgen als von den unterworfenen Kommunen angefordert auf212 • Zwischen Zeiten der Entwicklung und solchen des Rückschritts war das Ergebnis eine immer größere Verbreitung der direkten Präsenz städtischer Funktionäre in immer weiteren Gebieten des Contado. Eine Neuordnung und eine erste Konsolidierung der neuen Bezirksstruktur ergab sich erst in den 30er Jahren des 14. Jahrhunderts mit der Stabilisierung des Netzes der Bündnisse, Podesterien, Kapitanate und castellanie, die sich dem Vorhaben regionaler Expansion von Castruccio Castracani entgegengestellt hatten. Hier war 209 Die zum Beispiel untersucht wurden von A. Boglione, L'organizzazione feudale, S. 166-167. 210 Oder San Lorenzo a Volpaia, San Lorenzo a Campi, San Mariano di Valdarno, San Miniato a Celle, San Romolo a Tignano oder Santo Stefano a Monteficalli, um nur einige Ortsnamen zu nennen, die in den Listen vorkommen von ASF, PR, 7, c. 3r-4r, Februar 1296/97; PR, 9, c. 8v-9v, Juni 1298, und c. 161r-v, Februar 1298/99. Vgl. auch: Le consulte, I, S. 436, und II, S. 285, 288, 313 ff. 211 P. Pieri, Cronica, S. 57. 212 Vgl. ASF, PR, 4, c. 103r; und PR, 8, c. 144v.

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die Entwicklung anders als in Bologna, das schon im 13. Jahrhundert die Ordnung des Contado weitgehend neu strukturiert hatte213 . Es war also noch keine direkte Herrschaft sondern eine Hegemonie, die Florenz auch über den Kanal des Beamtenturns ausübte, das sehr bald auf die größten, an den Contado grenzenden Zentren ausgedehnt wurde. Diese Ereignisse waren bei der ersten Definition des Territorialstaates grundlegend. Typisch sind zum Beispiel die Fälle von Prato und San Gimignano, die seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts beinahe konstant unter den Einflußbereich von Florenz fielen und deren Podesta schon zum Großteil unter den Florentinern ausgewählt wurden, um sich schließlich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts untereinander noch lückenloser abzulösen214 • Auch in diesem Bereich wurde die lokale Autonomie über lange Zeit formal akzeptiert, und die Kommunen "baten" in Florenz um die Entsendung von Podesta215 • Andererseits bestand die Kontrolle über das Territorium noch mehr in einer Kontrolle über Linien und Punkte - d.h. über Straßen und Orte -als darin, Flächen, bzw. untereinander homogene Rechtsbereiche zu kontrollieren. Neben den Podesta war die Verteilung von castellani und Wachleuten entlang der Straßen von wesentlicher Bedeutung. Im letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts sind zum Beispiel Lohnzahlungen an florentinische castellani belegt, die mit kleinen Kontingenten Bewaffneter zur Bewachung von zumeist am Rande des Contado oder an den Hauptstraßen liegenden Orten wie Monteluco della Berardenga oder Tirli in der Romagna entsandt wurden 216 , während ab den 20er Jahren des folgenden Jahrhunderts auch Burgen und Burgfesten außerhalb des Contado wie Loro oder Fucecchio erscheinen 217 • Die strategische Bewachung der Festungen überkreuzte sich häufig mit den mehr oder weniger spontanen Unterwerfungen von Gemeinden auf der Suche nach Schutz wie zum Beispiel im Falle der Burg von Carmignano im Jahre 1306218 • Durch den Druck des Krieges strukturierte die Kommune von Florenz das Netz der Vgl. L. Casini, II contado bolognese durante il periodo comunale (secoli XII[1909], hrsg. von M. Fanti I A. Benati, Bologna 1991, S. 251 ff.; und den Beitrag von G.M. Varanini im vorliegenden Band. 214 Vgl. A. Zorzi, Lo Stato territoriale, S. 802; und ders., II funzionariato politico. 215 So zum Beispiel Colle und Castiglione aretino in den Jahren 1297 und 1298: Vgl. ASF, PR, 7, c. 200r-v, 21. März 1297/98; und PR, 8, c. 154v-155r, November 1297. 216 Aber auch nach Caposelvoli, Laterina, Leccio, Montecchio, Montecucceri in Valdera, Montegiogoli, Montegrossoli, Montelungo, Montemurlo, Montignoso, Ostina, Peccioli und Pietrasanta: vgl. ASF, PR, 3, c. 28r, März 1291/ 92, c. 37r-v, Dezember 1291 ; PR, 7, c. 63r, März 1296/ 97, c. llOr, März 1295/ 96, c. 210v, April 1298; PR, 8, c. 49v-50r, Mai 1297; und PR, 10, c. 79v, Juli 1299, und c. 276v-277r, September 1300. 217 Außer Cerreto, Lanciolina, Montopoli, S. Croce und Mangona: Vgl. ASF, PR, 18, c. 15r, September 1321; PR, 19, c. 50r-v, Dezember 1322; PR, 21, c. 23r, Juli 1324, c. 57v-58r, November 1324, c. 94r-v, März 1294/ 95; und PR 23, c. 35v-37r, Dezember 1326. 218 Vgl. ASF, PR, 13, c. 29v-30r, Oktober 1306. Vgl. auch ebd. , c. 62r-63v, März 1306/07. 213

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castellanie in den ersten Jahren des 14. Jahrhunderts straffer. Aus dem Jahre 1302 stammen zum Beispiel die ersten Verordnungen zur Instandhaltung und Bewaffnung der Burgen, die dem Besuch von Inspektoren unterstellt waren 219 , welche wiederum seit den 20er Jahren - den Jahren des Krieges gegen Castruccio - ihrerseits von einem eigens eingerichteten Zentralorgan, den "officiales castrorum" koordiniert wurden 220 • Um 1300 stabilisierte man auch die Kontrolle über die Straßen und Biiikken des Contado, indem man Beamte und Wachtposten mit Zeitaufträgen einsetzte221 • Aus dieser Zeit stammen schließlich die ersten Nachrichten über Vikare und territoriale capitani mit Aufgaben der Koordination und Führung von Fußsoldaten des Contado - die in den sogenannten "vicherie" organisiert waren222 - und mit Rechtsprechungsbefugnissen über Bereiche des Contado, die noch nicht in stabile Bezirke eingegliedert waren. Es waren also Beamte ohne festen Wohnsitz mit begrenztem Zeitauftrag und in variabler Zahl - in den Jahren 1300 und 1301 waren zum Beispiel sechs tätig223 , die nachweislich zum Schutz der öffentlichen Ordnung meist in Grenzgebieten wie zum Beispiel den "Gegenden" von Vinci, Mugello, Oltralpe, den plebati um Fiesoie oder dem Valdisieve-Tal und den umliegenden Gebieten eingesetzt wurden 224 . Insgesamt war Florenz bereits in diesen Jahren immer aktiver als zentraler Bezugspunkt für die lokalen Gemeinden präsent und arbeitete eine territoriale, auf die Erhaltung des Contado gerichtete Politik aus. Für 1297 haben wir zum Beispiel die Information, daß Beamte in die Gegend um Pistoia entsandt wurden, um die Grenzen der Horentinischen Rechtsprechung zu definieren. Für die folgenden Jahre wissen wir von einer intensiven Initiative des Priorats, die Grenzstreitigkeiten mit den angrenzenden Kommunen zu beheben. Nicht selten waren auch finanzielle Unterstützung und Steuererleichterungen zugunsten von überschuldeten Landgemeinden. Es handelte sich hierbei um Verordnungen, die entweder allgemein waren, wie zum Beispiel die im Dezember 1317 infolge des Krieges gegen Pisa bestimmte Erlassung der Schulden für Lire, Darlehen und Zölle für alle popoli und Kommunen des Contado, oder um Vgl. ASF, PR, 11, c. 149r-150r, 18. August 1302. Zu diesen vgl. P. Pirillo, L'organizzazione della difesa. I cantieri per le fortili.cazioni nel territorio della Repubblica fiorentina (sec. XIV), in: R. Comba I A.A. Settia (Hrsg.), Castelli. Storia e archeologia. Atti del convegno (Cuneo, 1981), Torino 1984, S. 274 ff. Vgl. auch als Beispiel für ihre Tätigkeit die Untersuchung ihrer Korrespondenz mit ihren Beamten im Valdisieve-Tal, in: P. Parenti, I documenti per Ia storia del territorio, in: Le antiehe leghe, S. 233-235. 221 Zeugnisse darüber gibt es zum Beispiel in: ASF, PR, 3, c. 108v, September 1292; PR, 15, c. 28r-v, Dezember 1316; vgl. auch P. Parenti, I documenti, S. 229. 222 Vgl. die Mobilmachungen, die beschrieben sind bei D. Compagni, La cronica, II, XV, S. 115; und bei G. Villani, Nuova cronica, Xlll, XXXIII, Bd. lll, S. 377. 223 Vgl. ASF, PR, 10, c. 266r-267v, 21. Juli 1300; und PR, 11, c. 20v, 20. Juli 1301. 224 Vgl. ASF, PR, 7, c. 174v, Februar 1297/98; PR, 9, c. 106v, November 1298; PR, 12, c. 91v-93r, Oktober 1304; und die Informationen von P. Parenti, I documenti, S. 230-231, die sich auf die Jahre 1312-1313 beziehen. 21 9

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Verordnungen spezieller Art, wie zum Beispiel die den kleinen Kommunen von Montelungo und Caposelvoli im Valdarno-Tal im Jahre 1308 vorbehaltenen Steuerbegünstigungen, die diesen die Bewachung und Verteidigung ihrer Burgen erleichtern sollte. Und schließlich gab es eine Sonderregelung für Gambassi, das aufgrunddes Krieges von 1317 unter Hunger und Verwahrlosung zu leiden hatte225• 4. Der Grundbesitz während des 13. und 14. Jahrhunderts 4.1. Die Krise der Gemeindeordnungen spitzte sich zu einer Zeit zu, in der es in fast allen größeren italienischen Städten zwischen den Faktionen Kämpfe gab, die weitverzweigte Bereiche des Contado in Bewegung setzten226. Das Territorium mit Dörfern und Burgen wurde zum Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen den Familien und den städtischen Verwandtschaften, wobei sich herrschaftliche Befestigungen bildeten227 . Florenz war bekanntlich unter den wenigen Kommunen, die es in dieser äußerst unruhigen Zeit schafften, vor allem dank des im Laufe des 13. Jahrhunderts verfolgten "gewagten Stadtprojekts für die Strukturierung des Territoriums" eine relativ starke und konstante Kontrolle beizubehalten228 • Durch die Polarisierung des Kampfes auf popolo und Adelige spitzte die tlorentinische Regierung nämlich analog zu anderen zeitgenössischen Kommunen229 die Verordnungen gegen die herrschaftlichen Rechtsprechungen auf dem Lande und gegen die militärischen und politischen Grundlagen der herrschaftlichen Macht zu. Der "popolo" wirkte in diesem sowie in anderen Bereichen als akzentuierende Kraft und als Protagonist einer sehr entschiedenen Politik. Die Präsenz von sozialen, an eine städtische Wirtschaft gebundenen Kräften und der größere Einfluß von Besitzern, die keine herrschaftlichen Rechte ausübten, auf das kommunale politische Leben gaben dem Kampf gegen die herrschaftliche Macht im Contado jene Eigenschaften eines allgemeineren Kampfes gegen das herrschaftliche Organisationssystem der Gesellschaft, die verhinderten, daß sich der städtische Distrikt vom Contado "ablöste"230. 225 Vgl. jeweils ASF, PR, 8, c. 138r-v, Oktober 1297; PR, 7, c. 161v, Januar 1297/ 98; PR, 15, c. 118v-119r; PR, 13, c. 170r-v und 177r, Januar 1307/08; und PR, 15, c. 115v, November 1317. 226 Vgl. E. Sestan, Le origini delle signorie cittadine: un problema storico esaurito? (1962), in: ders., Italia medievale, S. 209-210; und Ph.]ones, Economia e societa neii'Italia medievale: Ia leggenda della borghesia, in: Storia d'ltalia, Annali I: Dal feudalesimo al capitalismo, Torino 1978, S. 308-336. m Vgl. G. Chittoltni, Signorie rurali, S. 621-624. 228 Das immer mehr "zur Auflösung des ganzen Grundherrschaftssystems" führte, ebd., S. 595, sowie auf den Seiten 624 und 655-657. 229 Vgl. wieder ebd., S. 604. 230 Um einen Ausdruck von A.l. Pini, Dal comune citta-stato, S. 113, aufzugreifen.

16•

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In den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende zum 14. Jahrhundert wurde das florentinische Land tatsächlich von herrschaftlicher Willkür und einem oft mit Brigantenturn verbundenen Phänomen heimgesucht231 • Die Gewalttaten der Magnaten und die Exilierten, die militärische Störaktionen gegen die auf dem Territorium verteilten Beamten und Garnisonen der Kommune ausführten, konnten sich vor allem in bestimmten Randgebieten des Apennins auf die Unterstützung jener Adelsfamilien verlassen, die die städische Herrschaft noch nicht akzeptieren wollten, wie die Ubaldini im Mugello und die Ubertini oder die Pazzi im Valdarno-Tal. In dieser Zeit, wo sich Florenz praktisch kontinuierlich im Kriegszustand befand - zuerst mit Arezzo und Pistoia, dann mit Arrigo VII. und Castruccio232 -, hatte sich nun eine Situation hergestellt, in der, wie zum Beispiel die Prioren in einer diplomatischen Korrespondenz aus dem Jahre 1313 schreiben, "magnates quasi omnes, obmissa libertatis et civitatis defensione ... , predam sibi faciunt fructum et bonorum omnium impotentium; fiuntque cotidie hominum capture, cedes, rapine et nefanda omnia, ut narrare quodammodo sit impossibile ... Ex quo etiam evenit ut totus comitatus noster incultus est et inhabitatus maneat" 233 • Die Räte ihrerseits erklärten 1319 die "nonnulli homines male condictionis et fame et desperati [qui) veniunt in comitatum et districtum Florentie facientes robarias, violentias, oppressiones et homicidia, compellentes violenter homines districtus Florentie ad fadendas promissiones et obligationes iniquas et accomandigias nonnullis nobilibus et potentibus commorantibus in extremitatibus districtus Florentie, et se reducunt in territorio et fortilitia talium nobilum et potentum" 234 . Eine Wirklichkeit, die im übrigen nicht nur von der staatlichen Dokumentation, sondern auch von Chronistik beschrieben wird235 . 4.2. Die gegen die Adelsherrschaft gerichtete Politik brachte in jenen Jahren Verordnungen hervor, die die Interessengemeinschaften der Magnaten zerstören und die Oberherrschaft der Kommune wiederherstellen sollten. So 231 Zum Brigantenturn im floreminisehen Gebiet vgl. G. Cberubini, Qualehe considerazione, S. 110-111; ders., Appunti sul brigantaggio in Italia alla fine del medioevo, in: Studi di storia medievale e modernaper Ernesto Sestan, Firenze 1980, I, S. 103-133; G. Pinto, Vagabondaggio e criminalita neUe campagne: il caso di Sandro di Vanni detto Pescione [1974], in: ders., La Toscana, S. 399-419; und C. Caduff, I "publici latrones" nella citta e nel contado di Firenze a meta Trecento, in: Ricerche storiche, XVIII (1988), S. 497-521. 232 Vgl. M. Lttzzati, Firenze e Ia Toscana, S. 74 ff. und 83 ff. 233 Acta Henrici VIII rarnanorum imperatoris et monumenta quaedam alia suorum temporum historiam illustrantia, hrsg. von F. Bonaini, Firenze 1877, II, S. 272-273, Dok. Nr. CCCLVII: Brief der Prioren an den König Neapels Robert von Anjou vom 7. Juli 1313. 234 ASF, PR, 16, c. 127r-v, 20. November 1319. 235 Auf die ich ohne weitere Beispiele verweise: Vgl. G. Villani, Nuova cronica, IX, XLI, XLIX, LXXII, und X, CCXIV, Bd. II, S. 69, 77, 137 ff. und 397 ff.; M .C. Stejani, Cronaca fiorentina, r. CCXXI, S. 81-82; D . Compagnt, La cronica, III, X, S. 187 ff.; P. Pieri, Cronica, S. 51, 69, 72 und 73-75.

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verschärften zum Beispiel die gegen die Magnaten gerichteten Maßnahmen den Kampf gegen den Erwerb und die Erhaltung von Burgen und bewaffneten Interessengemeinschaften und gegen die Entstehung neuer vasallenartiger Bündnisse. Die Rechtsordnungen von 1295 bestimmten die Einrichtung von Truppen mit Fußsoldaten des Contado, die für die Mobilisierung im Gefolge des gonJaloniere di giustizia und der floreminisehen Prioren bereitstanden. In jedem Landbezirk wurden bewaffnete Trupps von tausend Fußsoldaten organisiert, denen weitere Abteilungen mit fünfhundert Männern in den fünf plebati San Giovanni di Firenze (im wesentlichen die Umgebung der Stadt), Ripoli, Fiesole, Santo Stefano in Pane und Giogoli zur Seite gestellt wurden236 • Ungefähr 8.500 Männer standen so also im Dienst der Kommune und wurden für die häufigen Belagerungen von Burgen eingesetzt, von denen aus Vertreter der großen Familien des Contado ihre Streifzüge zu unternehmen pflegten oder in denen sie sich als Rebellen verbarrikadierten. In den Sommern 1302 und 1304 erstürmten und zerstörten die bewaffneten Horentinischen Truppen zum Beispiel die Burgen der Ubaldini im Mugello, der Gherardini ,.a Montagliari, un castel di Val di Greve, ehe 'I teneano ... , et rubavano, et facean guerra, et aveano rotta Ia strada" ("in Montagliari, einer Burg im Val di Greve, die sie besetzt hielten und wo sie stahlen und Krieg führten und die Straße zerstört hatten"), und der Cavalcanti im Val di Pesa 237 • Wer eine Burg oder ein Stück Land gegen die Kommune aufhetzte oder die Lager des Feindes bevorzugte, wurde in eine offizielle Liste eingetragen und konnte von der Strafe nicht freigesprochen werden 238• Eine weitere eigens bestimmte Liste, die dann in die kommunalen Statuten aufgenommen wurde, zeigte außerdem die Herrschaftshäuser an, mit denen ein Florentiner Bürger keine eheliche Verbindung eingehen durfte239• Weitere Verfügungen drohten äußerst strenge Strafen für diejenigen an, die Banditen Unterkunft gewährten, und seit den 20er Jahren des 14. Jahrhunderts wurde eigens ein Beamter für ihre Gefangennahme eingesetzt240• In den Kriegsjahren verlagerte sich eine der Fronten des Konflikts an die Straßen und aufs Land. Zur gleichen Zeit wurde eine Rechtsprechung erlassen, die neue Ansiedlungen von Magnaten im Contado verbot. So wurde zum Beispiel im Jahre 1300 auf dem Territorium von Castelnuovo im Valdarno-Tal der Erwerb von Häusern, Türmen und anderen Gütern verboten241 ; dasselbe 236 Vgl. Gli Ordinamenti di giustizia del 6 luglio 1295, in: G. Salvemini, Magnati e popolani in Firenze da! 1280 al 1295, Firenze 1899, S. 420-421 , rr. XXXIX und XL. 237 P. Pieri, Cronica, S. 73 (das Zitat) und S. 81-82. 238 ASF, PR, 11, c. 132r-133v, 7. Mai 1302. 239 Statuto del capitano del 1322-25, V, r. LXXIX, S. 274-275. 240 Vgl. jeweils ASF, PR, 11, c. 132r-133v, 7. Mai 1302; PR, 18, c. 94v, 31. März 1322; und PR, 19, c. 22r-23r, 2. August 1322. 241 Und die Magnaten, welche bereits im Besitz von Türmen waren, wurden verpflichtet, sie unter einer Höhe von fünf Ellen zu halten: Vgl. ASF, PR, 10, c. 277r, 28. September 1300.

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geschah 1324 in Caposelvoli und 1328 in der lega von Castelfranco im oberen Valdarno-TaJ242 . Der wiederholte Erlaß der Verordnungen bezeugt ihre relative Wirksamkeit. Andererseits gab es nicht wenige Familien städtischen, kaufmännischen oder bürgerlichen Ursprungs, die in der späten kommunalen Zeit Burgen, Ländereien und Rechtsprechungen im Contado erwarben, um sich Machtgrundlagen und Stützen für ihre politische Tätigkeit zu schaffen243, und so die Unordnung nur noch vergrößerten. Daher beschränkte sich die Kommune nicht nur auf Zwangsmaßnahmen, sondern ging auch den Weg der Versöhnung und Amnestie. Um den Mugello zu befrieden, der im Sommer 1306 durch die Revolte der in der Burg von Monte Accianico vom florentinischen Heer belagerten Ubaldini aufgewiegelt worden war, wurde zum Beispiel für viele Zweige der Familie die Aufhebung der Urteile und Strafverordnungen mit dem Ziel verfügt, diese von den unbeugsamen Familienteilen zu trennen244 . Entsprechend handelte man gegenüber den Bewohnern der Burg von Loro, die sich in denselben Monaten gegeil Florenz aufgelehnt hatten245 • Bei wieder anderen Gelegenheiten gab man den castellani die Befugnis, die Übeltäter, die versucht hatten, sie gegen Florenz aufzuwiegeln, zu "beleidigen"246• Auch das bekannte Gesetz vom 6. August 1289, das in langer Forschungstradition vor allem in Bezug auf das Thema Leibeigenschaft und Befreiung von derselben untersucht und dabei mit den entsprechenden Verordungen von Vercelli aus dem Jahre 1243 und Bologna aus dem Jahre 1257 in Verbindung gesetzt 217 worden ist, war unter dem Vorwand der Konflikte zwischen der Kommune und der Familie der Ubaldini entstanden 218 • In Wirklichkeit gründete die Verfügung in der Notwendigkeit, einen Schwund der politischen Souveränität über das Territorium zu vermeiden, und in dem Willen, die Macht der großen Landadelsgeschlechter zu begrenzen. Die Möglichkeit, das Kapitel der Kathedrale von Florenz könne den Ubaldini einen beachtlichen Umfang von Ländereien, Bauern und den entsprechenden Rechten im Mugello verkaufen, brachte die kommunale Autorität dazu, eine Transaktion zu unterbinden, die die Macht der apenninischen Familie vergrößert hättez49 • 242 243

57-58.

Vgl. ASF, PR, 21, c. 50r, 5. Oktober 1324; und PR, 24, c. 51r-v, 12. April 1328. Vgl. G. Chentbini, Una comunita, S. 12; und H. Fiumi, Fioritura, S. 19, 53 und

214 Vgl. ASF, PR, 13, c. 15v-1Br, 29. Juli 1306. Entsprechende weitere Beispiele finden sich in: PR, 15, c. 200r-201v, 24. Juli 1318, und c. 227r-v, 7. September 1318. 215 Vgl. ASF, PR, 13, c. 36r-38r, 19. August 1306. 246 Wie im Falle der Männer der Kommune von Castelpiano di Travigna im Valdarno: ASF, PR, 19, c. 22r-23r, 2. August 1322. 217 Und von anderen Kommunen, dazu vgl. P. Cammarosano, Le campagne, S. 66-68; und A.I. Pini, Dal comune citta-stato, S. 105-106. 21H Diese Positionen sind dargestellt in: L. Magna, Gli Ubaldini, S. 57, Anm. 164; und A.I. Pini, Dal comune cittä-stato, S. 105-106. 249 Vgl. P. Cammarosano, Le campagne, S. 68-73, der eine ausführliche Untersuchung darüber bietet; und L. Magna, Gli Ubaldini, S. 55-58.

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Die Verordnung von 1289 verbot und erklärte jeden An- und Verkauf von "fideles", Bauern und Abhängigen egal welcher Art (oder von Rechten über ihre Person) ,.in civitate vel comitatu vel districtu Florentie" für nichtig, außer in Fällen, in denen der Verkauf zu Gunsten der Kommune getätigt wurde oder dem Bauern die Möglichkeit gegeben wurde, sich freizukaufen 250. Im Jahre 1290 tauschte die Kommune mit dem Domkapitel gegen andere Besitztümer im Wert von 3.000 Lire die genannten Ländereien, die sie den ansässigen Männern auf Abzahlung überließ251 • Das Gesetz wurde als Ausdruck des Anspruches der Kommune auf globale Souveränität fest iri den Statuten-co7pus eingegliedert252. In ihm wurde ausdrücklich jeder "Person, Institution oder Gemeinschaft, die nicht der Rechtsprechung der Kommune unterstellt war", verboten, Rechte über Personen zu erwerben mit der einzigen Ausnahme der weltlichen Personen, die man von kirchlichen Institutionen erworben hatte und aber vom Treuezwang befreien mußte. Mit dieser Gesetzgebung erreichte die kommunale Gewalt eine Reihe von Zielen. Sie verhinderte, daß die Ubaldini - und wie sie jedes andere große Adelsgeschlecht des Contado - die Herrschaft über Sklaven, Leibeigene und vor allem potentielle Bewaffnetenscharen erweitern konnten; sie stärkte die Umverteilung des Grundbesitzes und die Durchsetzung neuer Vertrags- und Nutzungsverhältnisse der Bauernarbeit; und sie schuf neue steuerpflichtige Bevölkerungsschichten253. 4.3. Die Stärkung der Souveränität der Kommune in neuen Gebieten des Contado wurde in einigen Fällen durch eine Neustrukturierung der Siedlungen zu erreichen versucht. Die Gründung von befestigten Orten - "neuen Orten" ("terre nuove") - bedeutete tatsächlich einen wichtigen Schritt nicht nur zum Nutzen der Kontrolle über das Territorium sondern auch zur wirtschaftlichen Entwicklung und Neuverteilung der Bevölkerung254 • Ihre territoriale Anordnung - am Fuße der Berge im oberen Valdarno-Tal, im hohen Mugello und mitten im Apennin - zeigt außerdem, daß sie nicht so sehr der Verteidigung gegen äußere Feinde dienten, auch wenn dies gegen Ende des 250 ASF, PR, 2, c. 23r-25r, und die anderen Verordnungen, gesammelt und veröffentlicht von P. Vaccari, Le affrancazioni collettive dei servi della gleba, Milano 1939, S. 58-76. 251 Vgl. L. Magna, Gli Ubaldini, S. 57-58; G. Cbentbini, Qualehe considerazione, S. 70-71. Zur Sicherstellung herrschaftlichen Besitzes von seiten der Kommune in diesen Jahren vgl. auch G. Sa/vemini, Magnati e popolani, S. 234 ff. 252 So finden wir es fast vollständig in der ersten überlieferten Zusammenstellung des Statuto del capitano del 1322-25, I, r. LVI, S. 59-61. 253 Vgl. P. Cammarosano, Le campagne, S. 72-74, und A.l. Pini, Dal comune cittastato, S. 106-107 (für das bolognesische Gesetz von 1257). 254 Zu den florentinischen "neuen Orten" vgl. /. Moretti, Le "terre nuove", mit Hinweisen auf die vorhandene Bibliographie. D. Friedman, Florentine New Towns. Urban Design in the Late Middle Ages, Cambridge Mass. 1988, konzentriert sich dagegen auf die Aspekte einer geplanten Urbanistik und der Militärtechnologie.

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14. Jahrhunderts wieder eine Rolle spielte255 , als vielmehr der Kontrolle über die großen Herrschaftsfamilien. Diese Aufgabe erklärt vielleicht auch die Verspätung der neuen florentinischen Gründungen gegenüber denen der Kommunen Oberitaliens seit dem Ende des 12. Jahrhunderts256 . Mag es auch stimmen, daß die Stadtpolitik in beiden Fällen in dem Sinne auf Bedürfnisse demographischer Art reagierte, in dem sie den urbanen Immigrationsfluß zu Gunsten einer Wiederbevölkerung des Contado hemmte257 , so steht doch außer Zweifel, daß unter all den ideologischen Motiven der florentinischen Machthaber der Kampf gegen die Herrschaftshäuser vorrangig war. Die neuen Orte des Mugello sollten zum Beispiel· "ad reprimendum effrenandi superbiam Ubaldinorum et aliorum de Mucello et de ultra Alpes qui communi et populo Florentie rebellaverunt" dienen 258 , und der Ort an der Straße der Consuma sollte dazu dienen, daß "Aretini et comites Guidones ghibellini et rebelies communis Florentie guerram facere non possent"259. Zu den militär-politischen Möglichkeiten gesellte sich bei den neuen Siedlungen die starke Anziehungskraft, die die Privilegien im Steuerbereich und bezüglich juristischer Freiheit auf die fideles der Adeligen ausübten260 • Die ersten Gründungen waren San Giovanni und Castelfranco im ValdarnoTal im Jahre 1299, gefolgt von Scarperia 1306, Firenzuola 1332 und Terra Santa Maria (heute Terranuova Bracciolini) 1337. Geplant, aber nicht verwirklicht blieben dagegen Tartagliese im oberen Valdarno-Tal im Jahre 1309, "Plano dell'Asentio" bei der Consuma 1329 und Giglio fiorentino im niederen Valdambra-Tal im Jahre 1350261 • Um die Bevölkerung anzuziehen, wurden im allgemeinen - begleitet von einem Siedlungsverhot für die Adeligen - zehnjährige Steuerbefreiungen und offene Märkte vereinbart, die von der strategischen Verteilung längs der großen Verbindungsstraßen des Apennins profitierten; das Scheitern des Projekts von dem befestigten Ort "Asentio" hing wahrscheinlich auch mit der Konkurrenz der angrenzenden Märkte zusammen 262 • I. Moretti, Le "terre nuove" , S. 13-14. Vgl. die erste Erhebung von G. fasoli, Ricerche sui borghi franchi dell'alta Italia, in: Rivista di storia del diritto italiano, XV 0942), S. 139-214; die vergleichenden Hinweise von A.l. Pini, Dal comune citta-stato, S. 93 ff.; und G. Pinto, La politica demografica ddle citta, in: R. Comha I G. Piccinni I G. Pinto (Hrsg.), Strutture familiari, epidemie, migrazioni neli'Italia medievale, Napoli 1984, S. 25 ff. 257 G. Pinto, La politica demografica, S. 27. 25R ASF, PR, 12, c. 206r, 29. April 1306. Auch der neue Ort Firenzuola sollte [dazu] dienen "accio ehe i detti Ubaldini piu non si potessono rubellare, e' distrittuali contadini di Firenze d'oltre !'alpe fossono liberi e franchi, eh' erano servi e fedeli de' detti Ubaldini" ("dag die genannten Ubaldini sich nicht mehr auflehnen könnten und die florentinischen Bauern jenseits der Alpen, die Knechte und Gefolgsleute der genannten Ubaldini waren, frei wären"), in: G. Villani, Nuova cronica, XI, CC, Bd. II, S. 763. 259 ASF, Capitoli, 32, c. 70, 11. Oktober 1329. 255 256

260

G. Fasoli, Ricerche, S. 200 ff.

Vgl. I. Moretti, Le "terre nuove", S. 25 ff., auch für einen allgemeinen Überblick. 262 Zu diesen Aspekten vgl. ebd., S. 20 ff. und 31 ff. ; und/. Moretti, Dall'organizzazione ecclesiastica all'organizzazione delle "leghe", in: Le antiehe leghe, S. 294. 261

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Als militärische Stützpunkte schließlich beteiligten sich die neuen Orte an den militärischen Repressionen gegen Aufstände und Desertionen, die Florenz im Laufe des 14. Jahrhunderts unternahm. Als Beispiele seien die energische antifeudale Aktion der 40er Jahre, die systematische Zerstörung der Burgen der Ubaldini in den 60ern und 70ern, die Rückeroberungsmanöver von Pratomagno und Casentino und die Ausbreitung des Herrschaftsgebietes in der Romagna genannt263 . Bei der Tatsache, daß die Neugründungen Teil eines von der Kommune ausgearbeiteten Planes der territorialen Neustrukturierung waren, ist schließlich die Wahl der Namen von Bedeutung, die ihnen gegeben wurden. Diese stehen mit den Namen der in der florentinischen Agiographie besonders wichtigen Heiligen - S. Giovanni Qohannes der Täufer), S. Maria und S. Barnaba (Scarperia) - oder mit dem Stadtsymbol - etwa dem Giglio fiorentino (florentinische Lilie) - in Verbindung oder beschwören direkt den Namen von Flound vorgeschlagen renz wie Firenzuola, das von Giovanni Villani gewählt wurde264 . In jedem Falle sollte die Schaffung von Siedlungen im Valdarno-Tal dazu dienen, ,.pro honore et iurisdictione communis Florentie amplianda et melius conservanda" 265 • 4.4. Eine stärkere und vielleicht entscheidendere Kontrolle über das Territorium wurde schließlich Florenz durch die neue Bezirksstruktur gewährleistet, die die Kommune sich vom ersten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts an gab und die dem Netz an /eghe (Bündnissen) im Contado Stabilität verlieh. Diese waren in den Zeiten geschaffen worden, als die Regierungen des popolo vorherrschten. Villani berichtet darüber zum Beispiel sowohl in Bezug auf das sogenannte regime di primo popolo im Jahre 1250, als man die 96 pivieri ,.in leghe" umstrukturiert, ,.acciö ehe l'una atasse I'altra, e venissero a cittä e in oste quando bisognasse" (damit eins dem anderen helfe und sie im Notfall in die Stadt und zu Gast kämen"), als auch bezüglich des zweiten popolo im Jahre 129Y66. Mit der vorherrschenden Aufgabe organisiert, sich zum Schutz der öffentlichen Ordnung zu mobilisieren, und im wesentlichen analog zu den entsprechenden städtischen Organismen der bewaffneten Truppen des 26·~ Zu diesen Entwicklungen vgl. E. Sestan, I conti Guidi, S. 361 ff.; M.B. Becker, The florentine territorial State and civic Humanism in The Early Renaissance, in: Florentine studies, S. 112 ff.; und G. Cben.tbini, Qualehe considerazione, S. 108 ff. 261 Der an der Exekutivkommission der Gründung teilnahm und diesen Namen vorschlug, weil "il Comune ne sara piu geloso e piu sollecito a Ia guardia" ("die Kommune stolzer darauf sein und es sorgfältiger bewachen wird"). G. Villani, Nuova cronica, XI, CC, Bd. II, S. 763-764. 265 ASF, PR, 9, c. 136r, 26. Januar 1298/99. 266 Vgl. jeweils G. Villani, Nuova cronica, VII, XXXIX, Bd. I, S. 329, und ebd., IX, I, Bd. II, S. 11: Dieser "ordine di gente d'arme per lo popolo e colla detta insegna s'ordinö in contado e distretto di Firenze, ehe essi chiamavano Je leghe del popolo" ("Verband von Bewaffneten für den popolo mit der genannten Weisung strukturierte sich im Contado und im Florentiner Bezirk und wurde legbe del popolo genannt").

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"popolo" 267 , erschienen die legbe aber erst seit den ersten Jahren des 14. Jahrhunderts als stabile Ordnungsinstitutionen des Contadd68. An dieser Stelle muß besonders betont werden, daß die legbe die erste wirkliche Bezirksstruktur der Kommune bildeten, die die vorher existierende territoriale Gliederung neu organisierte. Die Diskontinuität entstand nicht aufgrund der Tatsache, daß städtische Beamte als rettorl ständig in den Contado entsandt wurden, sondern aufgrund dessen, daß im Territorium neue Bezirke gebildet wurden, die den Landgemeinden und den lokalen Verwaltungsinstitutionen übergeordnet sein sollten. Die popoli und die plebati waren für die Bezirke weiterhin die Bezugspunkte, aber nicht immer stimmten die neuen Institutionen mit den kirchlichen überein, vielleicht auch, weil viele Dörfer verlassen wurden 269 • Auf jeden Fall schloß die neue Verwaltungseinteilung nicht mehr in toto an die Bezirke der plebati an 270 • Diepopolides piviere von Remoie wurden zum Beispiel zwischen der lega von Monteloro und der von Fiesoie aufgeteilt; jene des piviere von S. Cresci in Valcava zwischen den leghe von Vicchio und Borgo S. Lorenzo im Mugello; die des piviere von Sesto zwischen der lega von S. Piero a Sieve und der von Cercina; und dasselbe geschah in vielen weiteren Fällen271 . Nur im Gebiet des hohen Valdarno zwischen Porciano und Romena schaffte es die Kommune noch nicht, die Dörfer und Burgen der Herrschaft der Grafen Guidi zu beeinflussen. Der Rest des Contado war dagegen in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts bereits gut in ein dichtes Netz von 34 legbe gegliedert, an deren Spitze jeweils ein florentinischer capitano oder Notar stand272 • Ihre Hauptaufgabe war die Koordinierung der Truppen, die eine Bewachung des Territoriums und der Straßen gegen Banditen und Rebellen, die Festnahme von Übeltätern und den Schutz 267 Zu diesen vgl. A. Zorzi, Contröle social, S. 1176-1179; und ders., La giustizia a Firenze, S. 302-310. 268 Zu den legbe vgl. R. Davidsobn, Storia, II, S. 517-518, und V, S. 365-367; A. Boglione, Considerazioni sulle origini delle leghe di contado, in: Il gallo nero, I (1977), S. 21-28; P. Benigni, L'organizzazione territoriale dello stato fiorentino nel '300, in: La Toscana nel secolo XIV, S. 154-157; und A. Zorzi, L'organizzazione del territorio. 269 Diese Tatsache ist allerdings allgemein auf dokumentarischer Ebene nicht feststellbar. Vgl. D. Herlibi I Cb. Klapiscb-Zttber, Les Toseans et leurs familles. Une etude du catasto florentin de 1427, Paris 1978, S. 232 ff. 270 Während des 14. Jahrhunderts stimmte die bürgerliche Unterteilung des Contado in plebati in vielen Punkten nicht mehr mit dem parallelen Netz der kirchlichen piel'i überein, wie hervorgehoben haben: E. Fittmi, La demografia fiorentina nelle pagine di Giovanni Villani, in: Archivio storico italiano, CVIII (1950), S. 83 ff.; und E. Conti, La formazione, 111/ 2, S. 238 ff. Als dann im Jahre 1343 die Einteilung des Contado wie in der Stadt von der Teilung in Bezirke (quartien) in eine Teilung in Landbezirke (sestierz) überging, wurden von den ca. 90 ursprünglichen pievi nur 68 als Bezirke (häufig mit Eingliederungen) erhalten, während die anderen zerteilt wurden: Vgl. Tb. Szabo, Pievi, S. 282. 271 Weitere Beispiele in A . Zorzi, La formazione dello Stato; die Quelle ist ASF, Tratte, 995, c. 79r-98v, 1. Februar 1331/32. 272 Vgl. ebd.; und A . Zorzi, La formazione dello Stato.

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der popolani gegen die Überwältigung von seiten der Magnaten gewährleisteten. Es wurden auch lokale Einheiten von gonfalonieri, pennonieri, Beratern, Kammerherren und anderen Beamten gebildet, die unter den Männern der popoli ausgewählt wurden, welche die einzelnen leghe zusammensetzten273 • Bei manchen Gelegenheiten wurden die Fußsoldaten auch für Kriegsaktionen eingesetzt wie während der Operationen des Heeres gegen Lucca im Valdarno-Tal im Herbst 1320274 . Normalerweise aber waren die zitierten vicherie (auf Pfarrbasis) für die militärische Sicherheit des Herrschaftsgebietes zuständig, so sehr die Überschneidung und manchmal das Fehlen der Organe auch über lange Zeit die Verwaltungsstruktur des Territoriums charakterisierten275 . Um die .Belastungen" der Bewohner des Contado in der Kriegszeit zu begrenzen, beschloß man im Sommer 1321 zum Beispiel, das Amt der capitani delle leghe für zwei Jahre aufzuheben. Für die Gefangennahme von Banditen wurde in der Zwischenzeit ein eigens bestimmter Beamter entsandt, der für kurze Zeit im Amt blieb276• Die Wahl der capitani der leghe des Contado war in den meisten Fällen durch die Notwendigkeit begründet, den Raubzügen und Missetaten ein Ende zu setzen, die im Contado begangen wurden277 • Hierbei handelt es sich im wesentlichen um Florentiner Bürger, die auf der Grundlage von Listen ernannt wurden, welche die einzelnen Gemeinden vorlegten. Häufiger noch wurden sie direkt von den Prioren der Kommune ausgewählt. Die capitani übernahmen bald von den rettori dei popoli auch die Übrigbleibsei niederer Gerichtsbarkeit, die diese noch innehatten, und wurden mit der Überwachung der Verteilung und Erhebung der Steuern betrautZ78. Ebenso wie Florenz in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts gaben sich nun auch die anderen bedeutenden Städte der Toskana neue Territorialstrukturen, die dem lokalen Bezirksnetz übergeordnet waren: Lucca und Pisa führten zum Beispiel capitani des Contado ein, die in Sonderfällen in weiten territorialen Bereichen wirkten und für die öffentliche Ordnung sorgten; Siena dagegen unterteilte den Contado im Jahre 1310 in neun Vikariate, die als Grundlage für die militärische Rekrutierung dienen sollten; selbst San Gimi273 Vgl. Statuto del capitano del 1322-25, V, r. LXXX, S. 281-285; und die Reform vom 1. Februar 1331/32: ASF, Tratte, 995, c. 79r-98v. m Vgl. ASF, PR, c. 31r-34r, 5. November 1320. 275 Zu der Differenzierung der Funktionen zwischen legbe und Vikariaten vgl. auch A . Boglione, Considerazioni, S. 25 ff. Zur bleibenden Strukturierung des Militärs auf dem Lande in den Vikariaten vgl. ihre Mobilisierung in den innerhalb der Horentinischen Führungsschicht stattfindenden Kämpfen gegen Ende des 14. Jahrhunderts, aufgeführt in: A . Molbo I F. Sznura (Hrsg.), Alle bocche della piazza. Diario di anonimo fiorentino (1382-1401), Firenze 1986. 276 Vgl. jeweils ASF, PR, 17, c. 117r-119v, 22. Juni 1321; PR, 18, c. 94v, 31. März 1322; und PR, 19, c. 22r-23r; 2. August 1322. Die capitani wurden ab 1324 wieder ernannt: vgl. PR, 21, c. 43v, 17. September 1324. 277 Vgl. zum Beispiel ASF, PR, 16, c. 67r, 18. Mai 1319. 27H Vgl. StalUto del capitano del 1322-25, V, r. LXXX, S. 281-285; und ASF, Tratte, 995, c. 79r ff.

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gnano teilte im Jahre 1314 seinen Bezirk in vier legbe auf-79. Florenz ging weiter, indem es das Netz der leghe auch auf die angrenzenden Contadi ausweitete: Eine lega wurde in die aretinische Diözese um die pieve von Gropina aufgeteilt; eine weitere strukturierte das Territorium der Kommune von Poggibonsi; eine dritte streckte sich über das Val d'Elsa-Tal hinaus bis nach Garnbassi, Pulicciano und die Kommune von Montignoso ins Innere der Diözese von Volterra aus; wieder zwei andere schnitten den südlichen Teil des Contado Pistoias um die Kommune von Carmignano und die von Capraia und Cerreto aus; eine andere lega gruppierte die Kommunen von Santa Croce, Castelfranco und Montopoli im unteren Valdarno im Herzen der Diözese von Lucca um die Kommune von Fucecchio; während eine siebte lega schließlich ohne territorialen Anschluß eine Enklave im Valdinievole-Tal um die Kommunen von Montecatini, Monsummano und Montevettolini bildete. Die Reform, die im Jahre 1332 ihre Grenzen, Aufgaben und die Verteilung der Besteuerungshöhen neu definierte, bot ein Gesamtbild von 41 legb€?60 . In den mittleren Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts wurde die neue Bezirksstrukturierung auch in Prato, San Gimignano und San Miniato fortgeführt, wobei letzteres nach der Unterwerfung einen neuen Sitz einer lega bildete261 .

111. Schlußbemerkung: Die Entwicklung zu einer ausgedehntereD territorialen Herrschaft Die territoriale, durch die Schaffung des Systems der legbe eingerichtete Neuordnung traf mit der ersten Bezirksaufteilung außerhalb der Grenzen des Contado, d .h. mit der ersten Festlegung des sogenannten "districtus" zusammen262. Nachdem die von Castracani ausgegangene Bedrohung verschwunden war263 , konnte Florenz im vierten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts das Territo279 Vgl. jeweils F. Leverotti, L'organizzazione amministrativa, S. 34; R. Caggese, La Repubblica di Siena e il suo contado nel sec. XIII, Siena 1906, S. 102 ff.; M . Ascheri, Stato, territorio e cultura nel Trecento: qualehe spunto da Siena, in: La Toscana nel secolo XIV, S. 169 ff. (mit kartographischer Darstellung); und L. Pecori, Storia della terra di San Gimignano [18531, Roma 1975, S. 137, Dok. Nr. 28. Allgemeiner zur Strukturierung der legbevgl. A.l. Pini, Dal comune citta-stato, S. 114 ff., mit bibliographischen Hinweisen. 260 Vgl. ASF, Tratte, 995, c. 79r-98v, 1. Februar 1331/32. 261 281 Vgl. I Capitoli, S. 226 und 304; und die neue Liste in: Statuta Populi et Communis Florentiae publica auetorirate collecta castigata et praeposita, anno sal. MCCCCXV, Friburgi [aber Florenz) 1777-1781, V, IV, r. XCIV, Bd. III, S. 692-707. 262 Die Quellen scheinen zum Teil widersprüchlich, aber seit dieser Zeit stimmte im Großen und Ganzen der comitatus mit der Contado-Diözese überein, während man unter districtus das neu erworbene Territorium verstand. Vgl. auch E. Fasano Guarini, Lo Stato mediceo di Cosimo I, Firenze 1973, S. 13-14. 283 Zur Herrschaft des Castruccio in diesem Raum, wo er sich über einige Jahre ein territorial ausgedehntes Reich schaffen konnte, vgl. L. Green, Castruccio Castracani. A Study on the Origins and Character of a Fourteenth-Century Italian Despotism, Oxford 1986, S. 123 ff. und 201 ff (mit kartographischer Darstellung aufS. 249).

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rium festigen und ordnen, über das es seine Herrschaft auszuüben vorhatte. Der Konflikt mit der prokaiserlichen toskanischen, von Castruccio koordinierten Front bewegte nämlich die Florentiner dazu, sich eine stärkere Kontrolle über die Grenzgebiete zu sichern. Dies begründet die vorzeitige Besetzung der Burgen im Valdinievole, den Erwerb von Teilen des Contado von Pistoia und Arezzo und die direkte Übernahme der Bewachung der beiden Städte seit dem Beginn der 30er Jahre des 14. Jahrhunderts; auch über Colle und Poggibonsi im Valdelsa-Tal wurde, deutlich gegen Siena gerichtet, eine direkte Kontrolle ausgeübt, während die politische Herrschaft über Prato und San Gimignano inzwischen so gut wie unanfechtbar war284 . Die florentinische Expansion - die sich in den Aktionen gegen die Adelsund Magnatenfamilien innerhalb des Contado offensiv und zugleich nach außen gegenüber den kampflustigsten angrenzenden Kräften defensiv verhielt - stabilisierte in dieser Zeit den Kern dessen, was später die subregionale Herrschaft von Florenz ausmachen sollte285. Die Bildung des Distriktes begleitete die Festigung eines ersten, außerhalb des Contado gelegenen Ämternetzes. Auch für diese Ämter wurde das Wahlsystem der zufälligen Auslosung angewendet, das zu jener Zeit bei allen kommunalen Ämtern, auf die sich Bürger der Stadt bewarben, üblich war. Dieses hatte zur Folge, daß spezifische Dokumentationsserien verfaßt wurden, welche später im Archiv des Amtes der Tratte zusammenliefen286. Aus den wichtigsten der überlieferten Akten läßt sich nun ein glaubhaftes Bild über die Ausbreitung der politischen Kontrolle von Florenz in jener Zeit ableiten. In den an Lucca, Pisa und Arezzo grenzenden Gebieten wurden feste Burgen organisiert, während in der Richtung von Siena nur die Burg von Monteluco della Berardenga einen florentinischen Burgherren besaß, ein Zeichen dafür, daß die Florentiner den bereits lange andauernden Waffenstillstand mit der nahegelegenen guelfischen Stadt für nicht gefährlich hielten287 . Zur Kontrolle über die strategisch wichtigen Burgen des Territoriums kam die Kontrolle über die casseri [cassero = befestigter Mittelpunkt einer Stadt, Anm.d.Ü.] der wichtigsten Städte, was deren Schutz zu Gunsten der Kommune sicherte und durch die Präsenz Bewaffneter eventuelle Aufstände vermeiden sollte. So erwarb Florenz zum Beispiel im Jahre 1331 durch Pakt das Recht, den castellano des cassero von Pistoia zu ernennen und in der Stadt einen eigenen "capitaneus custodie et balie" einzusetzen, der, auch wenn er sich den rettori kommunaler Tradition, die die Pistoieser autonom weiter ernannten, zur Seite stellte, bald 284

Zu den politischen Entwicklungen dieser Expansion vgl. den Abriß von M.

Luzzati, Firenze e Ia Toscana, S. 94 ff. 285 Zu diesen Aspekten verweise ich auf die detailliertere Übersicht in: A. Zorzi,

La formazione dello Stato. 286 Vgl. P. Viti I R.M. Zaccaria, Einleitung zu: Archiviodelle Tratte, Inventar hrsg. von denselben, Roma 1989, S. 8 ff. 287 Vgl. die vollständigen Listen der castellanie in: ASF, Tratte, 995, c. 16r-S1r; und Tratte, 1056, c. 10r-22r.

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jede Aktivität der lokalen Regierung kontrollierte. Im selben Jahr sicherte sich Florenz die Ernennung vom castellano des cassero von Colle, sowie die des Podestä und des capitano. 1336 dagegen erwarb es von den Tarlati die Kontrolle über den cassero von Arezzo und die Befugnis, außer dem castellano auch einen eigenen Podestä zu ernennen. Wiederum im selben Jahr gewann Florenz schließlich die Kontrolle über die Kommune von San Miniato und ernannte dort über einige Jahre einen eigenen ,.esecutor custodie" 288 . Die von Florenz gestellten Podesterien waren dagegen auf Bereiche verteilt, in denen die öffentliche und militärische Ordnung von vorrangiger Bedeutung war. Die Sitze der Podesterien, die in dieser Zeit innerhalb des Contado eingerichtet wurden, befanden sich tatsächlich nur in Marktzentren und Zentren von strategischer Bedeutung289, während man einen Großteil der anderen in den neu festgelegten Grenzbereichen zu den Territorien von Lucca, Pisa, Pistoia und Arezzo einführte290 . In der zweiten Hälfte der 30er Jahre des 14. Jahrhunderts zählte der Apparat der immer beständiger von florentinischen Bürgern ausgeübten ,.Außen"Ämter 41 leghe, 32 Podesterien, 5 capitanati und 34 castel/anirl-91 -mehr als hundert Ämter also, die sich in den folgenden Jahrzehnten noch weiter vermehrten. In der Mitte der 70er Jahre zum Beispiel waren es schon etwa 150 Ämter292 • Mit der Expansion des Distrikts waren inzwischen nämlich bedeutende Zentren wie Colle, Prato, San Gimignano und San Miniato über Beziehungen immer engerer politischer Vorherrschaft in Form von Pakten unterworfen

288 Vgl. Tratte, 995, c. 78r; Tratte, 996, c. 1r-2v; Tratte, 1056, c. 19v-22r. Zu den Entwicklungen in Pistoia und Arezzo vgl. auch jeweils E. Altieri Magliozzi, Notizie sulla magistratura fiorentina del capitano di custodia, in: Bullettino storico pistoiese, LXXXII (1980), S. 109-113; M. Lttzzati, Firenze e Ia Toscana, S. 127 ff. 289 So zum Beispiel in Empoli, Castelfiorentino, Certaldo, S. Giovanni Valdarno, Montevarchi, Figline, Castelfranco di sopra oder Fiorenzuola. Vgl. die vollständigen Listen in: ASF, Tratte, 1056, c. 2r-9v; und Tratte, 995, c. 57r-77r. 290 Zum Deispiel in Pescia, Uzzano, ßuggiano und anderen Orten des Valdinievole, in Carmignano, Fucecchio, S. Croce und anderen Orten des unteren Valdarno und in ßucine, Laterina, Castiglione Aretino und anderen Orten des oberen Valdarno. Vgl. die vollständigen Listen in: Tratte, 1056, 2r-9v; und Tratte, 995, c. 57r-77r. 291 Zahlen, die ich abgeleitet habe aus Tratte, 995, c. 16r-51r, 57r-77r, 79r-98v usw. (die Jahre 1332 und 1336-1337); und ASF, Tratte, 1056, c. 2r-9v, 10r-22v usw. (die Jahre 1335-1339). 292 Von 44 leghe, denen zumindest zur Hälfte Podestä vorstanden, waren 11 obere ,.Außen"-Ämter, 28 Podesterien und 62 castellanie. Vgl. die Reform vom 22. Oktober 1376, die das Netz der leghe neuordnete, indem sie viele capitani durch Podestä ersetzte: ASF, Tratte, 1002, c. 27r-30v und 123r-124r; die Liste der leghe findet sich in den: Statuta .. . anno sal. MCCCCXV, V, IV, r. XCIV, Bd. III, S. 692-707; und die Listen der ,,Außen"-Beamten der Florentiner Kommune sind registriert in: Tratte, 892, c. 35r45r, c. 50r-68v und c. 73r-108r (für die Jahre 1374-376). Für weitere Informationen über die ,.Außen"-Ämter im 14. und 15. Jahrhundert vgl. A. Zorzi, L'amministrazione della giustizia penale nella Repubblica fiorentina. Aspetti e problemi, Firenze 1988, S. 31; ders., Giusdicenti, S. 518-520; und ders., Lo Stato territoriale.

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und schließlich endgültig rechtlich eingegliedert worden 293• Einige Vikariate hatten ein stabiles Bezirksgefüge angenommen, so zum Beispiel in den peripheren Bezirken des Valdambra, der Montagna di Pontignano und Pontenano und Bagnana, oder sie waren im Valdinievole-Tal, im oberen und unteren ValdarnoTal, im Valdelsa- und Valdisieve-Tal und im Mugello in neue Bereiche unterteilt worden 294 . Grundlinie der langen Expansion war es, aus dem territorialen Staat einen einzigen großen Contado zu bilden, indem man eine Politik der fortschreitenden "physiologischen" Ausbreitung verfolgte295• Die stadtzentrierte Anlage der florentinischen Toskana stellte Florenz tatsächlich vor die Notwendigkeit, sich bereits existierende, von den städtischen Zentren abhängige Bezirksstrukturen einzuverleiben. Zuerst wurde also das Netz der leghe auf die neuen unterworfenen Gebiete ausgeweitet, indem aus den Zentren die neuen Verwaltungsstützpunkte wurden. Bei der Vollziehung der Unterwerfung wurden diese im Block als "comitatus sive districtus Florentie" übernommen296 . Als es dann- seit der Unterwerfung von San Miniato im Jahre 1370 - die vorausgegangene Aufteilung der Contadi der Städte und der großen Zentren in Landespodesterien notwendig machte, auch diese Rechtsprechungen zu regieren, handelten die florentinischen Machthaber entschieden, sprengten das Band zwischen den Städten und Contadi und wählten somit eine Lösung, die in den anderen italienischen Regionalstaaten ihresgleichen sucht297. Indem die Contadi in der Rechtsprechung ausgegliedert und aus ihnen neue Bezirke gebildet wurden, die verwaltungstechnisch von der herrschenden Stadt abhängig waren, schuf Florenz zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert einen territorialen Staat, der "vielfältig, gegliedert, reich und in seinem Innern stark differenziert" war98 •

293 Entwicklungen, die ich eben untersucht habe in: A. Zorzi, Lo Stato territoriale, S. 800 ff.; ders. Ordine pubblico, S. 451 ff.; und ders., La formazione dello Stato. Zur Struktur des territorialen Staates im 14. Jahrhundert vgl. auch P. Benigni, L'organizzazione territoriale, S. 151-163; und G. Pinto, Alla periferia dello Stato fiorentino: organizzazione dei primi vicariati e resistenze locali (1345-1378) [1982-1983], in: ders., Toscana medievale, S. 51-65. 294 Vgl. jeweils Tratte, 995, c. 68r, 69r, 77r; Capitoli, 23, c. 122v-123r und 168r170v; und ASF, Tratte, 1035, c. 3v, 10v, 25v, 32r usw. Zu den ersten Vikariaten vgl. auch G. Chittolini, Ricerche, S. 299-302. 295 Um einen prägnanten Ausdruck von Chittolini zu verwenden - "physiologische Ausbreitung eines vorher existierenden Organismus" -in dem Beitrag: Aspetti dell'ordinamento territoriale della repubblica fiorentina, zu dem kürzlich gehaltenen Forschungsseminar über: La Toscana al tempo di Lorenzo il Magnifico. 296 Vgl. zum Beispiel: I Capitoli, S. 303 (San Gimignano 1353). 297 Über deren Entwicklungen vgl. G. Chittolini, Ricerche, S. 309 ff.; A.l. Ptnt, Dal comune citta-stato, S. 118 ff. ; GM. Varanini, Dal comune allo stato regionale, in: La storia, S. 706 ff.; A. Zorzi, Lo Stato territoriale, S. 802 ff. und 814 ff.; ders., Ordine pubblico, S. 462 ff.; und ders., La formazione dello Stato. 298 G. Chittolini, "Quasi-citta", S. 8-9.

Der Territorialaufbau und

~ausbau

in den Fürstentümern Ansbach und Bayreuth Von Rudolf Endres

I.

Die Zollern, die erstmals 1061 erwähnt werden, hatten ihren namengebenden Stammsitz in Schwaben am Südrand der Rauhen Alb, wo auf dem Hohenzollernbei Hechingen seit dem 11. Jahrhundert eine Burg stand 1 • Nach Franken kamen die schwäbischen Edelfreien durch eine Heirat. Friedeich von Zollern ehelichte Sophia, die Erbtochter der Grafen von Raabs, die neben reichem Besitz in Niederösterreich 2 auch das Nürnberger Burggrafenamt in die Ehe einbrachte. 1191 oder 1192 wurde Friedrich von Zollern dieses Burggrafenamt der staufischen Pfalz Nürnberg von Kaiser Heinrich VI. übertragen; denn erstmals erscheint dieser "Fridericus burggravius de Nurenberg" am 8. Juli 1192 in der Zeugenreihe einer Urkunde3 . In seiner Hand waren die schwäbischen Stammlande und die neuerworbenen fränkischen Besitzungen noch in Personalunion vereinigt, doch bald spalteten sich die Zollern in eine schwäbische und fränkische Linie, die getrennte Wege gingen4• Während die schwäbischen Zollern über eine regionale Bedeutung nicht hinausgelangten, erlebten ihre fränkischen Vettern eine beispiellose Karriere: von den Burggrafen von Nürnberg (1191/92) stiegen sie auf zu Reichsfürsten (1363), zu Markgrafen und Kurfürsten von Brandenburg (1415/ 17), zu Königen in und von Preußen (1701) und schließlich zu Kaisern des Deutschen Reiches (1871)5. Vgl. hierzu G. Schuhmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach. Eine Bilddokumentation zur Geschichte der Hohenzollern in Franken, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken, 90 (1990), S. 3. Siehe K. Lechner, Ursprung und erste Anfänge der burggräflich-nürnbergischen (später brandenburgischen) Lehen in Österreich, in: Festschrift für Walter Schlesinger (Mitteldeutsche Forschungen, 74/1), Köln I Wien 1973, S. 286-332. 3 G. Schuhmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, S. 3 f.; K. Bosl, Das staufisehe Nürnberg, Pfalzort und Königsstadt, in: G. Pfeiffer (Hrsg.), Nürnberg Geschichte einer europäischen Stadt, Nürnberg 1971, S. 16-29, bes. S. 20. 4 Vgl. R. Seige/, Die Entstehung der schwäbischen und der fränkischen Linie des Hauses Hohenzollern, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte, 5 0%9), S. 9-44. Noch immer grundlegend und gültig 0 . Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk, Berlin 1915. 17 Chillolini I Willowcil

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Rudolf Endres

Grundlage ihres Aufstiegs waren eine außergewöhnlich zielstrebige wie ebenso rücksichtslose Territorialpolitik und die Eigenschaft, alles, was sie einmal in ihren Besitz gebracht hatten, nicht mehr loszulassen. Die gezielte Erwerbspolitik begann schon mit der Übernahme des Nürnberger Burggrafenamtes und der damit verbundenen Güter sowie des Raabser und des Abenbergers Erbes. Drei große Güterzentren bildeten sich sogleich heraus: einmal um Neustadt-Windsheim, dann um Abenberg-Cadolzburg und schließlich um Pegnitz6. Das Burggrafenamt aber erwies sich bald als die günstige und zentral gelegene Ausgangsbasis für eine weitere territoriale Ausdehnung im fränkischen Raum7• Der nächste Schritt zur Expansion bot sich mit dem Erbe der Herzöge von Andechs-Meranien. Die überaus erfolgreiche Territorialpolitik der Herzöge von Andechs-Meranien war mit dem Tode Herzog Ottos 1248 abrupt abgebrochen, wonach ein blutiger, 12 Jahre dauernder Streit um das reiche Erbe entbrannte8 • Elisabeth, eine der drei Meranier-Schwestern, war mit Burggraf Friedeich III. von Nürnberg verheiratet, der sich einen Großteil der hinterlassenen Rechte und Güter sichern und gegen die Ansprüche des Bischofs von Bamberg erfolgreich behaupten konnte9 . Auch die Gebiete, die durch den Teilungsvertrag von 126010 zunächst an die Miterben, an die Truhendinger11 und an die Grafen von Orlamünde12 übergegangen waren, fielen aufgrund genealogischer Zufälle und der berechnenden Heiratspolitik noch im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts an die Zollern. So kamen diese zunächst an die Herrschaft Bayreuth13 und dann vor allem 1340 in den Besitz der Herrschaft Kulmbach mit der 6 Eingehend hierzu A. Scbwammberger, Die Erwerbspolitik der Burggrafen von Nürnberg in Franken bis 1361 (Erlanger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, 16), Erlangen 1932, S. 5-13. Vgl. H . Dannenbauer, Die Entstehung des Territoriums der Reichsstadt Nürnberg, in: Arbeiten zur deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte, 7 (1928), S. 6777. 8 Siehe J. Kist, Fürst- und Erzbistum Bamberg, 3. Aufl., 1962, S. 41-48; E. von Aujseß, Der Streit um die meranische Erbschaft in Franken, in: Bericht des Historischen Vereins Bamberg, 55 (1893), S. 1-56; F.-j. Schmale, Das staufisehe Jahrhundert in Franken, in: M . Spind/er (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, III/ 1, 2. Aufl., München 1979, S. 84-92. Vgl. A. Scbwammberger, Erwerbspolitik, S. 21-28; G. Zimmermann, Grundlagen und Wandlungen der politischen Landschaft, in: E. Rotb (Hrsg.), Oberfranken im Späunittelalter und zu Beginn der Neuzeit, 1979, S. 11-16. 10 E. 110n Aufseß, Der Streit um die meranische Erbschaft, Reg. 27. 11 Vgl. H. Ruß, Die Edelfreien und Grafen von Truhendingen (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe IX, 40), 1992, S. 45-53. 12 Siehe C.Cb. von Reitzenstein (Hrsg.), Regesten der Grafen von Orlamünde, 1871 . 13 K .P. Dietrich, Territoriale Entwicklung, Verfassung und Gerichtswesen im Gebiet um Bayreuth bis 1603 (Schriften des Instituts für Fränkische Landesforschung an der Universität Erlangen, 7), 1958, S. 65 f.

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mächtigen Plassenburg samt zahlreichen weiteren Burgen und Städten im Obermainland14 • Die aus der Meranier-Erbschaft stammenden Besitzungen in Burgund aber wurden von Friedrich III. verkauft, was für die Zollern reichen Gewinn bedeutete15. Der Zerfall des staufiseben Reichslandes mit der aufstrebenden Reichsstadt Nürnberg als Zentrum16 brachte den Burggrafen von Nürnberg, die sich sehr früh auf die Seite Rudolfs von Habsburg stellten, die wichtigen Reichslehen Creußen17 und Wunsiedel im Fichtelgebirge 18 sowie die Reichsvogtei Burgbernheim19. Vor allem aber verlieh König Rudolf von Habsburg 1273 Burggraf Friedrich als Dank für dessen Mitwirkung an der Königswahl die .comicia burggravie" mit dem Kaiserlichen Landgericht. Damit erfolgte die Umwandlung des Burggrafenamtes in eine Territorialgrafschaft, die künftig den Machtkern bei der Territorienbildung der Zollern in Franken bildete20. Einen weiteren Gewinn brachte die Zerschlagung der Herrschaft der Schlüsselberger. Diese Edelfreien hatten mit großem Erfolg am Aufbau eines Juraterritoriums mit den Zentren Waisebenfeld und Ebermannstadt gearbeitet21. Als Konrad von Schlüsselberg mit seinen Burgen Neideck und Streitberg die wichtige Fernhandelsstraße von Nürnberg nach Bayreuth und weiter nach Leipzig sperrte, schlossen sich die Burggrafen Albrecht und )ohann mit den Bischöfen von Bamberg und Würzburg zusammen und warfen 1347/48 die Herrschaft des Schlüsselhergers militärisch nieder. Bei der Aufteilung der schlüsselbergischen Besitzungen gewannen die Burggrafen mehrere Burgen und vor allem das überaus wichtige Geleitsrecht auf der Fernhandelsstraße über die Fränkische Alb22 • Schließlich mußten die Vögte von Weida 1373 den Zollern noch das Regnitzland mit der Stadt Hof als Zentrum überlassen 23, womit das zollerische 14 Es waren dies insbesondere die Städte und Gerichte Berneck, Goldkronach, Gefrees und Wirsberg. Siehe K.P. Dietrich, Territoriale Entwicklung, S. 67; R. Endres, Burgenverfassung in Franken, in: H. Patze (Hrsg.), Die Burgen im deutschen Sprachraum (Vorträge und Forschung, XIX,) Sigmaringen 1976, S. 292-330, bes. S. 307 f. 15 Schon 1255 hatten Burggraf Friedrich III. von Nürnberg und seine Gattin Elisabeth alle Rechte Herzog Ottos von Andechs-Meranien in comitatu burgundiae für 7.000 Mark Silber an Graf johann von Burgund verkauft. Monumenta Zollerana, II (künftig MZ), Nr. 68. 16 K. Bosl, Das staufisehe Nürnberg, S. 16-29. 17 MZ II, Nr. 58. 18 MZ II, Nr. 297. 19 G. Schuhmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, S. 322. 20 Siehe hierzu G. ~feiffer, Comicia burggravie in Nurenberg, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung, 11-12 (1953), S. 45-52. 21 Vgl. R. Endres, Burgenverfassung in Franken, S. 313 f. 22 R. Endres, Konrad von Schlüsselberg, in: Fränkische Lebensbilder, 4 (1971), S.

27-48.

23 K.P. Dietrich, Territoriale Entwicklung, S. 67.

17*

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Fürstentum im sogenannten "Oberland", das spätere Fürstentum KulmbachBayreuth, seine territoriale Gestalt weitgehend gefunden hatte. Auf gleiche zielstrebige Weise gingen die Zollern beim Territorialaufbau auch im sogenannten "Unterland", dem späteren Fürstentum Ansbach vor, zunächst in den Gebieten um Abenberg-Cadolzburg und Neustadt-Windsheim24 • Bald entstanden weitere Kernräume ihres Territoriums mit den zentralen durch Burgen gesicherten Stützpunkten Colmberg und Leutershausen. Dann, nach einer gewissen Konsolidierungsphase, erfolgten zwischen 1331 und 1399 zahlreiche wichtige Erwerbungen, insbesondere mit den Städten Ansbach, Schwabach, Gunzenhausen, Wassertrüdingen, Feuchtwangen, Offenheim und Crailsheim, die alle den finanzschwachen benachbarten Grafen und Herren abgekauft wurden25 • Wichtig dabei war, daß diese Städte zugleich die Wirtschafts- und Verwaltungszentren des umliegenden Landgebietes waren und somit Stadt und Land in die bereits bestehende oder im Aufbau befindliche Ämterstruktur des Territoriums übernommen und eingebaut wurden26.

n. Städte und Dörfer, Rechte und Güter konnten durch Privilegien, durch Kauf oder Tausch, durch Pfandschafren oder Heimfall, durch kriegerische Eroberung und vor allem durch gezielte Heiratspolitik und anschließende Erbfälle erworben werden, und die Zollern nutzten konsequent alle diese Möglichkeiten. Schon am Beginn ihres Aufstiegs stand eine geschickte Heiratsverbindung: Friedeich von Zollern gewann durch die Ehe mit der Erbtochter der Grafen von Raabs das Nürnberger Burggrafenamt, und nicht weniger erfolgreich war die Heirat zwischen Burggraf Friedeich III. und Elisabeth von Andechs-Meranien, die mit Bayreuth und Kulmbach-Plassenburg zwei zentrale Herrschaftskerne des Territoriums im Oberland erbrachte27 . Daß wenige Generationen später die Miterben an der Herrschaft der Andechs-Meranier ausstarben, ist allein dem Zufall und dem Glück zuzurechnen. Überhaupt waren die Zollern die Hauptprofiteure beim Aussterben vieler führender Adelsgeschlechter in Franken. Denn nach eingehenden prosopographischen Untersuchungen lebten von den 25 edelfreien Geschlechtern, die im 11. Jahrhundert am Obermain nachzuweisen sind, im 14. Jahrhundert nur noch 3, und von den rund 130 Bamberger Ministerialenfamilien des 13. Jahrhunderts blühten im 16. Jahrhundert noch 1728 • Viele dieser erloschenen Geschlechter beerbten die Zollern. A. Schwammberger, E!Werbspolitik, S. 49-54. Vgl. G. Schuhmann, Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, S. 321-323. 26 Siehe R. Endres, Stadt- und Landgemeinde in Franken, in: P. Blickte (Hrsg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa, München 1991, S. 110-117. 21 G. Schtthmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, S. 3-6. 28 R. Endres, Burgenverfassung in Franken, S. 313. 24

25

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Ein bemerkenswertes Kennzeichen der zollerischen Territorialpolitik war der Gewinn von festen Stützpunkten, die dann über Generationen hinweg konsequent und rücksichtslos ergänzt und abgerundet wurden. Solche Stützpunkte oder Besitzkerne, die dann systematisch erweitert und ausgebaut wurden, waren etwa Cadolzburg, Bayreuth, Hof oder Kulmbach29 • Sie wurden im Laufe des 14. Jahrhunderts dann zum Mittelpunkt und Sitz ausgedehnter Ämter. Neben der zielstrebigen Territorialpolitik und dem dynastischen Selbstbewußtsein fällt als weitere entscheidende Konstante im politischen Verhalten der Zollern ihre stete Nähe und Treue zum König bzw. Kaiser auf. Dabei verstanden sie es, zum rechten Zeitpunkt sich jeweils der richtigen Partei anzuschließen. So unterstützte schon Friedeich II. von Zollern den 1138 zunächst nur von einer Minderheit gewählten Stauferkönig Konrad III. Als Dank kam dann die Eheverbindung mit der Erbtochter der Grafen von Raabs zustande, und auch Friedeich III. von Zollern verdankt vor allem seiner Treue zu den Staufern die Übertragung des wichtigen und einflußreichen Amtes des Burggrafen zu Nürnberg30. Nach dem Ende der Staufer wechselte Burggraf Friedeich III. sogleich auf die Seite des Grafen Rudolf von Habsburg. Nachdem dieser 1273 dann zum König gewählt worden war, woran der Zoller maßgeblich beteiligt gewesen war, bestätigte er seinem Helfer sogleich die Rechte und Güter des Burggrafturns Nürnberg, der "comicia burggravie". Die Zollern ihrerseits bewiesen ihre Loyalität gegenüber dem Reichsoberhaupt immer wieder durch militärische Leistungen. So stand bei dem entscheidenden Sieg Rudolfs von Habsburg über Ottokar von Böhmen auf dem Marchfeld Burggraf Friedeich III. als Fahnenträger an der Spitze des Heers31 . Besonders eng war die Bindung der Zollern an Kaiser Ludwig den Bayern, nachdem Burggraf Friedeich IV. schon entscheidend wr Niederlage und Gefangennahme des kaiserlichen Kontrahenten Friedeichs des Schönen von Österreich in der Schlacht von Mühtdorf 1322 beigetragen hatte. Zusätzlich zur Burggrafschaft erhielt Friedeich IV., der als vertrauter Berater oder "Secretarius" des Kaisers fungierte, daraufhin neben anderen Vergünstigungen und Privilegien vor allem das äußerst lukrative Bergregal in den fränkischen Besitzungen verliehen32 • Unter dem Luxemburger Kaiser Kar! IV. schließlich stiegen die fränkischen Zollern in Anerkennung ihrer erlangten territorialen und politischen Bedeutung 1363 in den Kreis der Reichsfürsten auf". Der entscheidende Macht29 30 31

32 33

Vgl. hierzu insbesondere A. Schwammberger, Erwerbspolitik, S. 38 f., 49 f., 67-80. G. Schuhmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, S. 3-6. Ebd. S. 6 f. MZ II, S. 375 und S. 416 ff. MZ IV, S. 1-8.

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gewinn aber wurde durch das Ausgreifen auf die Mark Brandenburg und die offizielle Belehnung 1417 mit der Kurwürde während des Konstanzer Konzils besiegelt34 • Die stete Nähe und Treue zum jeweiligen König hatte sich ausbezahlt. Die entscheidenden Grundlagen für den Territorialaufbau und den Aufstieg der Zollern aber waren, was bisher übersehen wurde, die Geldwirtschaft und kluge Finanzpolitik, die ihrerseits auf einen reichen "Bergsegen" aufbauten und basierten. Denn der Bergbau in Franken, vor allem im Fichtelgebirge, hat eine sehr lange und traditionsreiche Geschichte3s. Erste Nachweise für den Goldbergbau im Pichtetgebirge reichen bis in das 12. Jahrhundert zurück. 1282 erhielt Burggraf Friedrich III. "die Gegend Wunsiedel, allwo man schon damahlen Gold und Zien gewaschen" zum Lehen36• Seinem Sohn Friedrich IV. und allen Nachfolgern verlieh dann 1323 König Ludwig der Baier das uneingeschränkte Bergregal auf allen ihren Besitzungen und Gebieten und bestätigte ein Jahr später, daß "Unser und des Reiches Recht an dem Erzwerk, an Gold, Silber, Kupfer mit allen Gängen zwischen dem Blassenberg und Mönchberg" an die Zollern verliehen wurden37 • Der "Bergsegen" im Pichtetgebirge und im Frankenwald erwies sich bald als so reich, daß Kulmbach, Wunsiedel, Bayreuth und Creußen als zollerische Münzstätten eingerichtet werden konnten-~8. Goldkronach soll im ausgehenden 14. Jahrhundert sogar der Ort gewesen sein, an dem das meiste Gold und Silber im Reich gewonnen wurde. Mehr als 900 Bergleute sollen in den Gruben tätig gewesen sein, insbesondere in der sogenannten Fürstenzeche am Ochsenkopf39 • In dem Revier um Naila aber gab es reiche Kupfer- und Eisenbergwerke, und bei Wunsiedel im Pichtetgebirge wurde nach Zinn gegraben. Nachweislich war Wunsiedel im späten Mittelalter neben Nürnberg die einzige Stätte, an der die Schwarzbleche aus der Oberpfalz zu Weißblechen verzinnt und an alle europäischen Märkte exportiert wurden~0• Eine weitere wichtige Einnahmequelle neben dem "Bergsegen" und dem Münzregal war die Wahrnehmung und Ausübung der Zoll- und Geleitrechte an den wichtigsten Fernhandelsstraßen von und nach Nürnberg, das sich seit der Zeit der Staufer mehr und mehr zu einem europäischen Handelszentrum G. Scbubmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, S. 18-20. Vgl. 0. Köbl, Zur Geschichte des Bergbaus im vormaligen Fürstentum Kulmbach-Bayreuth mit besonderer Berücksichtigung der zum Frankenwald ge hörigen Gebiete, 1913. Siehe auch R. Endres, Alexander von Humboldt und Franken, in: U. Lindgren (Hrsg.), Alexander vo n Humboldt (Bayreuther Historische Kolloquien, 4), Wien 1990, S. 39-60. 36 0. Köbl, Zur Geschichte des Bergbaus, S. 19. .i7 MZ Il, S. 375. -~K 0 . Köbl, Zur Geschichte des Bergbaus, S. 19-21 . 39 Ebd., S. 25. 10 Vgl. R. Endres, Nürnberg und Amberg, in: Hochfinanz, Wirtschaftsräume, Innovationen. Festschrift für Wolfgang von Stromer, Trier 1987, S. 679-701. 3~

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entwickelt hatte. Als .Spinne im Netz" der europäischen Fernhandelsstraßen ist Nürnberg mit Recht charakterisiert worden. Die Burggrafen von Nürnberg, die die Zoll- und Geleithoheit als wesentlichen Bestandteil ihrer Landesherrschaft in Anspruch nahmen, erbten bereits 1248 nach dem Aussterben der Andechs-Meranier deren Geleithoheit auf den Straßen des Bayreuther Gebietes und dehnten dieses Recht schließlich bis nach Eger aus. Erstmals 1313 nahmen sie Einfluß auf die wichtigen Geleitstraßen nach Frankfurt, und 1364 schließlich übertrug Kaiser Kar! IV. dem Burggrafen Friedrich das Geleit auf allen Straßen, .die durch sein gepiet gen", womit das Geleitrecht konsequent flächenhaft ausgeweitet werden konnte. König Wenzel nannte schließlich 1381 die Geleithoheit ausdrücklich als Zubehör der landesherrlichen Rechte der Zollern, und wenig später einigten sich der Nürnberger Rat und die Burggrafen auf nicht weniger als 14 Zoll- und Geleitstationen in der Umgebung der Reichsstadt. Von den 12 wichtigsten Fernhandelsstraßen von und nach Nürnberg nahmen die Burggrafen schließlich auf 11 Straßen das Zoll- und Geleitrecht wahr, was neben der Manifestation ihrer landesherrlichen Hoheitsrechte und der Kontrolle des Nürnberger Fernhandels auch reichen finanziellen Gewinn einbrachte41 . Schon früh übten die Zollern auch den Judenschutz aus. Zwar konnten oder wollten sie das grausame Morden der Juden in ihren Städten im Jahre 1298 nicht verhindern42 , doch den neuerlichen Pogrom 1336 unter dem ,.König Armleder" hielten sie mit Waffengewalt von den zollerischen Gebieten fernt~. Zu dieser Zeit standen die Burggrafen mit Juden in vielfältigen wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen. Denn als 1343 Kaiser Ludwig die beiden Burggrafen Albrecht und Johann von ihren Judenschulden befreite, werden unter den rund 80 namentlich aufgeführten jüdischen Gläubigern zahlreiche Juden aus den eigenen Gebieten, aber auch aus Speyer, Heilbronn, Wimpfen, Hall, Frankfurt, Eger, Straßburg und Nürnberg aufgeführt44 • Bei der großen gewaltsamen Schuldentilgungsaktion 1385 zählten die Zollern wiederum zu den größten Schuldnern bei den Nürnberger Juden, und damit zu den Hauptgewinnern bei der Enteignung der Juden45. Aber nicht nur mit den Juden in Nürnberg, sondern auch mit den großen Handelshäusern und Kaufleuten in der Reichsstadt tätigten die Burggrafen 41 Eingehend zur Geleithoheit der Burggrafen von Nürnberg, R. Endres, Ein Verzeichnis der Geleitstraßen der Burggrafen von Nürnberg, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung, 23 (1963), S. 107-138. 42 F. Lotter, Die Judenverfolgung des .König Rintfleisch" in Franken um 1298, in: Zeitschrift für historische Forschung, 15 (1988), S. 383-422. 43 K. Arnold, Die Armledererhebung in Franken 1336, in: Mainfränkisches Jahrbuch, 26 (1974), S. 35-62. 44 MZ III, Nr. 109 und 110. 45 M. Tocb, Jüdische Geldleihe im Mittelalter, in: K. Müller I K. Wittstadt (Hrsg.), Geschichte und Kultur des Judentums, Würzburg 1988, S. 85-94.

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umfangreiche Finanzgeschäfte. Nürnberg war der herausragende Finanzplatz für die Zollern 46. Die reichen Einnahmen aus dem "Bergsegen", dem Münzregal, dem Judenschutz und den Zoll- und Geleitrechten, die unmittelbar der Verwaltung des Landesherrn unterstanden und nicht in die Ämter eingebunden waren, verbunden mit einer sparsamen und klugen Finanzpolitik, ermöglichten den Zollern den Erwerb zahlreicher adeliger Besitzungen und Gerechtsame durch Verpfändungen, Lehensauftragungen, Schutzherrschaften oder Öffnungsrechte bis hin zum direkten Kauf von Burgen und Städten. Beträchtliche Summen wurden gezielt zur Erwerbspolitik eingesetzt. So übertrugen etwa die Herren von Aufseß, Giech, Guttenberg, Rabenstein, Schaumberg, Weißenstein oder Wolfstriegel ihre Besitzungen und Burgen mehr oder weniger freiwillig den finanzkräftigen Zollern17 . Systematisch kauften sie vor allem den verarmten Adel im Fichtelgebirge aus und auf. Keine der auch biologisch im Niedergang befindlichen Adelsfamilien konnte sich dem Zugriff der Zollern entziehen. Rasch kauften sie sich in Wunsiedel (1321) und Hohenberg (1322) ein und erweiterten ihre Herrschaft auf Weißenstadt (1346/ 48), Kirchenlamitz 0355/ 56), Selb (1412/13) und Thierstein (1415)18 . Seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts stellt so der Innenraum des Fichtelgebirges einen geschlossenen zollerischen Besitzkomplex und Verwaltungsbezirk dar, das sogenannte "Sechsämterland". Aber nicht nur der verarmte Nieder- oder Ritteradel sah sich zu Übertragungen und Verkäufen an die finanzstarken Zollern gezwungen, auch Fürsten und Grafen und sogar das Reichsoberhaupt konnten sich dem Zugriff der Burggrafen nicht entziehen. So konnte etwa Friedrich IV. 1331 die Stadt Ansbach mit der Burg Dornberg von den Grafen von Oettingen erwerben49 . Besonders intensiv an der Vergrößerung des Hausbesitzes aber arbeitete Burggraf Friedrich V. (1358-1397). Er kaufte 1364 den Grafen von Nassau die Stadt Schwabach ab, 1368 erwarb er von den Grafen von Oettingen die Stadt Gunzenhausen um 20.000 Pfund Heller, und 1376 war sogar Kaiser Kar! IV. aus Geldnot gezwungen, das Stift und die Vogtei Feuchtwangen zu verpfänden50 . 1378 schließlich konnte der Zoller die Stadt und das Amt Uffenheim von den Grafen von Hohenlohe erwerben, die ständig in finanziellen Schwierigkeiten steckten51. Nur die großen Städte Rothenburg, Weißenburg und Dinkelsbühl konn16 Vgl. W. Scbultbe!f.?, Geld- und Finanzgeschäfte Nürnberger ßürger vom 13. bis zum 17. Jahrhundert, in: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, 1967, 1, S. 49116; W. von Stromer, Oberdeutsche Hochfinanz 1350 bis 1450 (Beihefte zur VSWG, S5-57), Wiesbaden 1970. 17 R. Endres, Durgenverfassung in Franken, S. 324-326. 1A K.P. Dietrich, Territoriale Entwicklung, S. 67. 19 G. Scbuhmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Anshach, S. 322. 50 Ebd., S. 322 f.; W Funk, Feuchtwangen. Werden und Wachsen einer fränkischen Stadt, 1954. 51 H. Keyser I H. Stoob (Hrsg.), Bayerisches Städtehuch, Teil 1: Franken, Stuttgart 1971, S. 552-554.

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ten sich aus der Pfandschaft wieder auslösen und die Reichsfreiheit erringen und mit Hilfe Nürnbergs auch behaupten52• 111.

Das weitverstreute und zersplitterte Territorium der Zollern auf der Grundlage des ,.territorium non clausum" wurde durch verschiedene Herrschaftselemente zusammengefaßt und konsolidiert. An der Spitze stand zunächst das ,.Kaiserliche Landgericht Burggrafturns Nürnberg", das 1273 als wesentlicher Bestandteil des Burggrafenamtes mit den ,.comitia burggravie" an die Zollern verliehen worden war53 . Im Zuge der Herrschaftsausweitung und -festigung suchten die Zollern dieses personenbezogene und daher grenzenlose Landgericht über ganz Franken und sogar Oberdeutschland auszuweiten, scheiterten aber mit diesem Anspruch am Widerstand der anderen Mächte in Franken, voran des Bischofs von Würzburg und der Reichsstadt Nürnberg5~. Unbestritten waren dagegen die Steuerhoheit über die eigenen Hintersassen sowie die Dorf- und Gemeindeherrschaft auf dem flachen Lande, wobei zugute kam, daß die Dorfgemeinde im ,.Oberland" kaum entwickelt wa~5 . Die fürstliche Stadthoheit oder Stadtherrschaft wurde schließlich in der Städteordnung von 1434 weitgehend vereinheitlicht und festgeschrieben56 . Danach erfolgte die jährliche Erneuerung des Rates in allen Städten des Territoriums durch Selbstergänzung unter Mithilfe des landesherrlichen Stadtvogtes. Der Rat wählte jährlich die zwei Bürgermeister, die vor Amtsantritt vor dem fürstlichen Stadtvogt den Amtseid ablegen mußten. Nach der Städteordnung hatte die Rechnungslegung alle Jahre zu erfolgen. Ein Teil der eingezogenen Gelder, meist ein Drittel, blieb in der Stadt, der andere Teil mußte an die fürstliche Kammer abgegeben werden. Die Kompetenzen der Bürgermeister und des Rates in den zollerischen Städten umfaßten das städtische Niedergericht, die Verwaltung, die Gewerbepolizei, die Wohlfahrtspflege, die Bauaufsicht, die Schulaufsicht und die Bestellung der städtischen Beamten. Die Steuerhoheit, das Hochgericht und die Militärhoheit lagen dagegen unbestritten allein beim landesherrlichen Vogt und Obervogt57 .

52 Vgl. die Zusammenstellung der zahlreichen Verpfändungen der fränkischen Reichsstädte durch den Kaiser bei R. Endres, Die Bedeutung des Reichsgutes und der Reichsrechte in der Territorialpolitik der Grafen von Öttingen, in: 80. Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken, 80 (1962), S. 36-54; umfassend G. Landwehr, Die Verpfändung der deutschen Reichsstädte im Mittelalter, 1967. 53 Abgedruckt in: Nürnberger Urkundenbuch, bearb. von G. Pfeiffer, 1959, Nr. 461. s1 Vgl. G. Schuhmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, S. 338-340. ss Siehe R. Endres, Stadt- und Landgemeinde, S. 110. 56 Städteordnung Markgraf Friedeichs I., abgedruckt in: Hohenzollerische Forschungen II, 1893, S. 225-227. 57 R. Endres, Stadt- und Landgemeinde, S. 104.

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Eine wichtige Rolle beim Auf- und Ausbau des Territoriums spielten der Besitz und die Wahrnehmung der verschiedenen Regalien58 . Dies gilt sowohl für das Judenregal wie vor allem für das Zoll- und Geleitregal, das seit dem Meranischen Erbe ausgeübt und systematisch flächenhaft ausgeweitet wurde, zum Teil sogar über die Grenzen des Territoriums hinaus. Zwar wurde in dem Reichsfürstenprivileg von 1363 das Geleit unter den Hoheitsrechten, die den Burggrafen als Reichsfürsten bestätigt wurden, nicht aufgezählt, doch bereits im darauffolgenden Jahr wurde dies durch ein eigenes Privileg nachgeholt. Konsequenterweise haben sich die Markgrafen beim Verkauf des Lorenzer und Sebalder Reichswaldes 1427 an die Reichsstadt Nürnberg ausdrücklich die Geleithoheit in diesem Bereich vorbehalten, wie auch die hohe Jagd59• Besonderer Wert wurde auf das lukrative Bergregal gelegt, das seit 1282 ausgeübt und ausdrücklich in das Fürstenprivileg von 1363 aufgenommen wurde60• Dieses Fürstenprivileg bot die besten Möglichkeiten, aus dem vorhandenen Konglomerat von Grundherrschaften und vielen anderen Gerechtsamen allmählich einen Territorialstaat erwachsen zu lassen, denn durch das kaiserliche Privileg wurden alle Grunduntertanen der zollerischen Hochgerichtsbarkeit unterworfen. Dies betraf auch die zahlreichen bäuerlichen Hintersassen der Klöster, über die die Zollern die Schutzvogtei ausübten. Schon im 13. Jahrhundert hatten die Burggrafen die Schutzvogtei über die Klöster Münchaurach, Münchsteinach und Birkenfeld erworben und schließlich 1333 auch über Heilsbronn, die reiche Zisterzienserabtei mit ihren vielen Hintersassen61 . Die romanische Klosterkirche wurde sogar zur Grablege der Zollern62 . Die Hochgerichte bildeten zunächst eine stabile Grundlage der Landesherrschaft, weshalb die Zollern auch ein dichtes Netz von Blut- oder Halsgerichten über ihr Land legten63. Doch um 1500 wuchs dem personengebundenen Vogteigericht die gesamte Gerichtsbarkeit mit Ausnahme der vier hohen Rügen zu, diese Vogtei wurde in Franken, im "territorium non clausum" maßgebend und entscheidend für die Durchsetzung der Landeshoheit. Die Politik der Markgrafen ging deshalb später dahin, die geschlossenen Sprengel der Hochgerichtsbarkeit zu Vogteisprengeln zu verdichten, oder anders ausgedrückt, die personengebundenen verstreuten Vogteien in die allein festen Grenzen der Hochgerichte einzufügen, um eine Verflächung und Verdichtung der Herr58 Grundsätzlich hierzu V. Press, Finanzielle Grundlagen territorialer Verwaltung um 1500 (Der Staat, Beiheft 9), Berlin 1991, S. 1-30; D. Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: K.G.A. feserieb I H. Pobl I G.-Cbr. von Unntb (Hrsg.), Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches (Deutsche Verwaltungsgeschichte, I), Stuttgart 1983, S. 66-143. 59 Siehe R. Endres, Verzeichnis der Geleitstraßen, S. 107-138. 60 MZ IV, S. 1-8. Vgl. H.H. Hofmann, Territorienbildung in Franken im 14. Jahrhundert, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 31 (1968), S. 384 f. 61 G. Scbubmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, S. 322. 62 Ebd., S. 596-598. 63 Ebd., S. 325.

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schaft zu erreichen, was jedoch nur bedingt möglich war64 . Ein wichtiges Element zur Grenzsicherung und vor allem zur Herrschaftsverdichtung und -durchdringung bildeten die zahlreichen Städte, die durch Kauf erworben wurden, sowie durch Stadterhebungen aufstiegen. So wurde etwa zur Absicherung und Abrundung des 1373 erworbenen Regnitzlandes mit der zentralen Stadt Hof noch die Stadt Münchberg den verarmten Herren von Sparneck abgekauft65 , und gegenüber dem expandierenden und sich verfestigenden Hochstift Bamberg wurden etwa die Märkte Pegnitz und Creußen in der Mitte des 14. Jahrhunderts zu Städten erhoben66 . Diese Städte waren zugleich auch die Wirtschafts- und Verwaltungszentren von Ämtern. Denn bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts haben die Zollern ihre verstreuten Besitzungen mit einem dichten Netz von Ämtern überzogen mit einer Stadt als zentralem Ort durch den im Amt geltenden Gerichtsund Marktzwang. So nennt etwa das älteste Urbar des Burggrafturns Nürnberg von 1361 folgende 19 burggräfliche Ämter für das Unterland: Osternohe, Burgthann, Schönberg, Stauf, Roth, Schwand, Windsbach, Schwabach, Cadolzburg, Langenzenn, Schauerberg, Ansbach, Comberg, Seldeneck, Lenkersheim, Neustadt a.d. Aisch, Rennhofen, Dachsbach und Castell67 • Diese Ämter haben sich zum hauptsächlichen Instrument der Staatsverwaltung enwickelt. Dabei sind zwei Hauptgruppen von Außenbehörden zu unterscheiden: die Jurisdiktionsämter und die Kameralämter, die keineswegs identisch waren, sondern sich überlappen konnten68. Im 16. Jahrhundert wurden dann als Mittelinstanz zwischen den Zentralbehörden und den vielen Außenämtern noch Oberämter gebildet, die die Aufsicht über Verwaltung, Rechtsprechung und Wirtschaft in den vielfältigen Außenbehörden ausübten69 • Auch im ..Oberland"70 hatte sich, wie das Bayreuther Amtbuch (1398)' 1 und das Landbuch der Herr64 Siehe hierzu H.H. Hofmann, Freidörfer, Freibauern, Schutz und Schirm im Markgraftum Ansbach. Studien zur Genesis der Staatlichkeit in Franken, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 23 (1960), S. 195-327. 65 K.P. Dietrich, Territoriale Entwicklung, S. 67. 66 E. Keyser I H. Stoob (Hrsg.), Bayerisches Städtebuch, Teil 1: Franken, S. 435 und 141. Die Stadterhebungen und Städtegründungen erreichten in Franken im 14. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Nicht weniger als 57 neue Städte kamen hinzu, das sind genau 41o/o aller heutigen Städte in Franken. Vgl. R. Endres, Stadt- und Landgemeinde, S. 102. 67 Monumenta ßoica, Neue Folge I. Band, 1902. Siehe auch G. Scbubmann, Die Markgrafen von ßrandenburg-Ansbach, S. 323 und S. 353. 68 Siehe G. Scbubmann, Die Markgrafen von ßrandenburg-Ansbach, S. 348. 69 Ebd., S. 345. 70 Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird in den Quellen für die Gesamtheit der im heutigen Oberfranken gelegenen Besitzungen die Bezeichnung .,Oberland" oder .,Land ob dem Gebürg" verwendet, was zeigt, daß der .,obergebirgische" Landesteil bereits eine gewisse innere Festigkeit und Geschlossenheit erreicht hat. 71 F. Lippert (Hrsg.), Das Landbuch A des Amtes ßayreuth, in: Archiv des Historischen Vereins für Oberfranken, 29 (1925), 2, S. 101 ff. Die Edition ist unzuverlässig und mangelhaft.

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schaft Plassenberg (1398)72 zeigen, im Laufe des 14. Jahrhunderts die Organisation der Ämter durchgesetzt. So war etwa Münchberg schon unter den Herren von Sparneck der Sitz eines Hochgerichts über die Stadt und die umliegenden Dörfer, und nach dem Übergang an die Burggrafen wurde Münchberg zum Sitz eines Amtes mit Gerichtsbann und Marktzwang73 . Bezeichnenderweise wurden im 14. Jahrhundert auch die älteren Herrschaftsbezirke, wie die Herrschaft Plassenberg oder die Herrschaft Bayreuth, in Ämter umbenannt, in "Amt Kulmbach" und "Amt Bayreuth", und an die Stelle des "Vogts zu Bayreuth" trat nun die Bezeichnung "Amtmann zu Bayreuth"74. Die Umbildungen und Umbenennungen aber lassen erkennen, daß der organisatorische Ausbau und die Herrschaftsverdichtung im vollen Gange waren. Trotz der herrschaftsverdichtenden Territorienbildung aber konnte kein geschlossenes Territorium der Burggrafen erwachsen, da die Einsprengsel der Reichsstadt Nürnberg, der Hochstifte und der Reichsritterschaft oder der "Voigtländischen Ritterschaft"75 nicht beseitigt werden konnten. Selbst die reichen Gewinne durch die Reformation und der damit verbundene Machtzuwachs ließen kein "Land" entstehen, weshalb Hardenberg am Ende des 18. Jahrhunderts noch feststellen mußte, daß in Franken noch immer "mittelalterliche Zustände und Verhältnisse" herrschen würden76• Dem Aufstieg der Zollern und der Konsolidierung ihrer Herrschaft waren ohne Zweifel auch die Hausgesetze dienlich, die schon früh erlassen wurden, um die Zersplitterung des Besitzes zu verhindern und die Einheitlichkeit der Dynastie zu wahren. So legte bereits 1372 Burggraf Friedrich V. fest, daß die Lande niemals in mehr als zwei Teile zu teilen seien, und sein Hausgesetz von 1385 teilte das Burggrafturn in das "Land ob dem Gebürg" und "unter dem Gebürg" 77 • Mit dem Ausgreifen nach der Mark Brandenburg und dem Verkauf 72 Chr. Meyer (Hrsg.), Landbuch der Herrschaft Plassenberg, in: Hohenzollerische Forschungen, 1 (1892), S. 163 ff. Ebenfalls nur fehlerhaft ediert. 73 Siehe E. von Guttenberg, Die Territorienbildung am Obermain, in: Bericht des Historischen Vereins Bamberg, 79 (1927), Nachdruck 1966, S. 388. 74 Vgl. K.P. Dietrich, Territoriale Entwicklung, S. 72-74. 75 Vgl. R. Endres, Die voigtländische Ritterschaft, in: R. Endres (Hrsg.), Adel in der Frühneuzeit Ein regionaler Vergleich (Bayreuther Historische Kolloquien, 5), Köln I Wien 1991 , S. 55- 72. 76 Das Füstentum Kulmbach-Bayreuth zählte beim Übergang an Preußen 1791 unter dem Dirigierenden Minister Hardenberg ca. 140.000 unmittelbare und 66.000 mittelbare Untertanen. Vgl. R. Endres, Die preußische Ära in Franken, in: P. Baumgart (Hrsg.), Expansion und Integration (Neue Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte, 5), Köln I Wien 1984, S. 169-194; R. Endres, Die "Ära Hardenberg" in Franken, in: R. Schmidt (Hrsg.), Bayreuth und die Hohenzollern vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches, 1992, S. 177-200. 77 Vgl. H. Schulze, Die Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstenhäuser, 3, 1883, S. 654-658.

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der Ruine der Burggrafenburg in Nürnberg 1427 aber verlagerte sich das Schwergewicht der Dynastie und ihrer Interessen nach dem Osten78 • Die .,Dispositio Achillea" von 1473 schrieb dann endgültig vor, daß das Territorium in Franken nie in mehr als die zwei Landesteile ober- und unterhalb des Gebirgs zersplittert werden darf, was bis zum Ende des Alten Reiches Geltung behielt19 . Vergleicht man das .,Oberland" mit dem .,Unterland", so kann man feststellen, daß das Fürstentum Kulmbach-Bayreuth schon äußerlich und rechtlich geschlossener war. Das Oberland baute weitgehend auf späte Rodungsherrschaften eines Niederadels auf, der rigide in die Dienstmannschaft der Amtsträger gezwungen wurde. Vor allem aber die straffe Verwaltung der Ämter seit dem 14. Jahrhundert und die Herrschaftsverdichtung machten diesen .,obergebirgischen" Landesteil mit seinem reichen .,Bergsegen" zu einem weitgehend vereinheitlichten Territorium80, während die Landesteile "Unter dem Gebürg" um Neustadt und vor allem der werdende Landesstaat um Cadolzburg und dann Ansbach entschieden mehr zerrissen und von fremden Enklaven durchsetzt war. Es war und blieb ein "territorium non clausum". Zwar war auch hier von den Zollern mit der gleichen Zielstrebigkeit die Agglomeration von Grund- und Gerichtsbarkeiren zur Akkumulation von Ämtern geschaffen worden, doch konnte sich keine räumliche und rechtliche Geschlossenheit ausbilden, konnte es kein "Land" werden. Es gab nicht die Herrschaft über eine Fläche, sondern die Landesherrschaft oder "Staatlichkeit" erwuchs aus einer BündeJung von Hoheitsrechten über Personen81 •

Vgl. G. Scbubmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, S. 29-32. H. Schulze, Hausgesetze, 3, S. 678-708. 80 H.H. Hofmann sieht deutliche Parallelen zu den institutionellen fürstlichen Flächenstaaten auf mittel- und ostdeutschem Siedlungsboden. H.H. Hofmann, Territorienbildung in Franken im 14. Jahrhundert, S. 383. 81 Vgl. R. Endres, Die .,Staatlichkeit" in Franken, in: M. Spind/er (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, 111/ 1, 2. Aufl., München 1979, S. 349-352. 78

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Die Hohenzollern als Burggrafen von Nürnberg (12.-15. Jahrhundert)

Friedrich I. 0191/92- ca. 1200)

Friedrich II. (Spaltung in fränkische und schwäbische Linie)

Konrad I. (ca 1204-1260)

I

Friedrich III. 0260-1297) JohannI. 0297-1300) Johann II 0332-1357)

Friedrich IV. (1300-1332) Konrad III. 0332-1334)

Albrecht 0341-1361)

I

Friedrich V. 0357-1397)

I

Johann III. 0397-1420)

Friedrich VI. 0397-1440) (seit 1415 Kurfürst von Brandenburg)

Historischer Abriß über die territoriale Struktur im mittelalterlichen Süditalien Von Bruno Figliuolo•

1. Wenige historiographische Themen sind in dem ohnehin nicht reich bestückten süditalienischen Panorama so sehr vernachlässigt worden wie die, die sich auf die Untersuchung der kleinen staatlichen und herrschaftlichen Bezirke und auf ihr Verhältnis zur zentralen Staatsverwaltung beziehen. Nicht, daß die Wichtigkeit des Themas in der letzten Zeit nicht erkannt worden wäre, aber diesem allgemeinen Interesse sind keine Untersuchungen gefolgt, die zu angemessenen und befriedigenden Ergebnissen geführt hätten.

Eine der ersten, die die Aufmerksamkeit auf das Problem lenkten, war vor ungefähr fünfzehn Jahren Gina Fasoli, die sich in diesem Zusammenhang mit der Zeit der Hohenstaufer beschäftigte und dabei doch nur einen problematischen programmatischen Beitrag lieferte, dessen Grundthese heute zudem nicht mehr vertretbar erscheint. So ist es schwer vorstellbar, daß bei Friedrich Il., als er die Regeln zur Organistation und Erhaltung des von ihm so sehr erweiterten dichten Netzes von staatlichen Burgen festlegte, vor allen Dingen "ein klarer Wille" vorgeherrscht haben soll, .. zu verhindern, daß die Burg zu einem Bestandteil territorialer Einverleibung würde" 1 • Aus jüngerer Zeit ist der wertvolle Aufsatz von ]ean Marie Martin zu verzeichnen, der ebenso speziell der Strukturierung des Territoriums in der Hohenstaufenzeil gewidmet isr2. Kurze Hinweise zum Thema, deren Ergiebigkeit wegen der grundverschiedenen Ausführlichkeit der einzelnen untersuchten Zeiträume höchst unterschiedlich ist, geben die Autoren ausführlicher historischer Überblicke über die verschiedenen, in Süditalien aufeinanderfolgenden Oberherrschaften. Es handelt sich hierbei um Schriften, die in neueren, ehrgeiDeutsch von Judith Elze. G. Fasoli, Castelli e strade nel "Regnum Siciliae". L'itinerario di Federico II, in: A .M. Romanini (Hrsg.), Federico II e !'arte del Duecento italiano. Atti della terza seuimana di studi di Storia dell'arte medievale dell'Universita di Roma (Roma, 15-20 maggio 1978), 2 Bde., Galatina 1980, I, S. 27-52; G. Fasoli, Ciua e ceti urbani nell'eta dei due Guglielmi. Atti delle quarte giornate normanno-sveve (Bari I Gioia del Colle, 8-10 ouobre 1979), Bari 1981, S. 147-172, insbes. 155-156. Das Zitat findet sich aufS. 156. 2 j.M. Martin, L'organisation administrative et militaire du territoire, in: Potere, societa e popolo nell'eta sveva (1210-1266). Atti delle seste giornate normanno-sveve (Bari I Castel del Monte I Melfi, 17-20 ottobre 1983), Bari 1985, S. 71-121.

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zigen Verlagsinitiativen veröffentlicht worden und ganz oder teilweise der Geschichte Sütitaliens im Mittelalter gewidmet sind3. Was die Erforschung der territorialen Struktur während der langobardischen Herrschaft in Süditalien betrifft, kann man aber vielleicht zweckmäßigerweise von einer auch zu diesem Thema fruchtbaren Formulierung von Mario Dei Treppo ausgehen, der in der Absicht, den tieferen Sinn der Natur und Geschichte der Macht im langobardischen Süditalien ("Longobardia minore") zu erklären, in einer methodologischen, 1977 erschienenen Arbeit vorschlug, anstau auf eine Theorie der Landesherrschaft, auf eine Theorie der Amtsherrschaft zurückzugreifen~ . Letzteres ist eine Formulierung, die - wird sie bis zur äußersten Konsequenz gedacht und sorgfältig überprüft - die Natur der lokalen Herrschaft in der Region zu jener Zeit charakterisiert und so auch das Feld von einigen Mißverständnissen und irreführenden historiographischen Begriffen freiräumt Damit wird zum Beispiel verneint, daß es vor dem späten 11. Jahrhundert - also vor der normannischen Zeit - in diesem Gebiet eine Verbreitung des sogenannten Phänomens des incastellamento (der Befestigung bisheroffener Ortschaften, Anm.d.Übers.J oder irgendeines anderen Lehnsverhältnisses oder auch nur allgemein einer Vasallenbindung mit Benefizienvergabe gegeben hätte5. Im wesentlichen beruht die lokale Einteilung in Verwaltungsbezirke im langobardischen Süditalien auf weitläufigen Bezirken mit städtischem Zentrum, auf den comitati oder actus, die in ihre .fines und pertinentie einfache loci einschließen, welche nur die geographische Zugehörigkeit bezeichnen und also ihrerseits keine kleineren Verwaltungsstrukturen bilden. So wird jede A. Guillott, L'Italia bizantina dalla caduta di Ravenna all'arrivo dei Normanni; V. von Falkenbausen, I Longobardi meridionali; und S. Tramontana, La monarchia normanna e sveva, in: Storia d'Italia, geleitet von G. Galasso, Ill: 11 Mezzogiorno dai Bizantini a Federico II, Torino 1983, jeweils S. 3-126, 251-364 und 437-810; G. Galasso, II Regno di Napoli. II Mezzogiorno angioino e aragonese (1266-1494), ebd., XV 1, Torino 1992. Außerdem die Aufsätze von A. Clementi, Le terre del confine settentrionale; S. Gasparri, ll ducato e il principato di Benevento; I . Di Resta, II principato di Capua; P. Delogu, II ducato di Gaeta dallX all'Xl secolo. lstituzioni e societa; ders., ll principato di Salerno. La prima dinastia; G. Sangermano, 11 ducato di Amalfi; ders., ll ducato di Sorrento; und C. Russo Mailler, II ducato di Napoli, alle in: Storia del Mezzogiorno geleitet von G. Galasso I R. Romeo, II 1, Napoli 1988, jeweils S. 17-81, 85-146, 149187, 191-236, 239-277, 281-321, 325-340 und 343-405; sowie die Aufsätze von F. Bttrgarelta, Le terre bizantine (Calabria, Basilicata e Puglia), und von E. Cuozzo, L'unificazione normanna e il regno normanno-svevo, ebd., II 2, Napoli 1989, jeweils S. 415517 und 595-825; und schließlich G. Vitolo, II regno angioino, und M. Del Treppo, II regno aragonese, ebd. IV 1, Roma 1986, jeweils S. 11-86 und 89-210. 4 M. Dei Treppo, Medioeva e Mezzogiorno: appunti per un bilancio storiografico, proposte per un'interpretazione, in: G. Rossetti (Hrsg.), Forme di potere e struttura sociale in ltalia nel Medioevo, Bologna 1977 (lstituzioni e Societa nella Storia d'Italia, I), S. 249-283, insbes. S. 265-268. Diese Aspekte des Problems hat der Autor des vorliegenden Aufsatzes bereits anderweitig vertieft, besonders in: Morfologia dell'insediamento neli'Italia meridionale in eta normanna, in: Studi storici, 32 (1991), 1, S. 25-68, insbes. S. 33-38.

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außerstädtische Örtlichkeit, die als locus definiert ist, innerhalb der fines oder pertinentie einer Bischofsstadt angesiedelt, einer civitas, die nun ihrerseits das VeiWaltungszentrum des territorialen Bezirks darstellt. Ausnahmsweise kann man sich, will man den lokalen Bezirk benennen, auf die alte römische Provinz berufen. Dann wird man also sagen, der locus befinde sich allgemein in partibus Samnii oder in Lucaniensis finibus, in Apulia oder auch in Liburia, anstatt sich auf die civitas (wie zum Beispiel im Falle des Samnium Benevent) zu beziehen, die das konkrete VeiWaltungszentrum des jeweiligen Bezirks darstellt6 . Auf jeden Fall scheint weder im Fürstentum Benevent noch in dem von Salerno die Ausübung der Regierungsämter in diesen territorialen, sich auf die civitates stützenden Bezirken die Grundlage zu bilden, auf die sich die dynastische Macht der lokalen potentes gründet. Tatsächlich gibt es in diesen Gebieten keine Verwurzelung von adeligen Familienklans, deren Macht ursprünglich von comitati herrühren würde. Denn hier wird die LokalveiWaltung vom Zentrum her ausgeübt, d.h. direkt vom Fürstenpalast aus kontrolliert; und das erstrebenswertere und angesehenere Amt des Gastalden wie auch das des Grafen sind dabei ein palatinischer Titel, der vom Herrscher gnädig und in großer Zahl an Mitglieder der lokalen Aristokratie vergeben wird, die am palatium selbst leben und wirken, und nicht so sehr ein wirkliches und wahrhaftiges VeJWaltungsamt mit tatsächlicher Ausübung öffentlicher Gewalt. Es ist nicht anzunehmen, daß man mit dem Titel gleichzeitig die Aufgabe übertragen bekommen hätte, einen bestimmten festgelegten lokalen Bezirk zu regieren. Gewöhnlich wird in den regionalen Quellen also einfach gesagt, jemand sei ein Gastaide oder ein comes, ohne daß der territoriale Bezirk aufgeführt würde, in dem dieser die seinem Amt innewohnenden Führungsfunktionen ausgeübt hätte, eben weil - wie es scheint - die Ehrenwürde eine solche blieb und sich nicht automatisch und notwendigeiWeise von selbst in eine tatsächliche Ausübung von Regierungsgewalt in einem konkreten Bezirk übertrug7 • 6 Den besten Überblick zu diesem Thema gibt weiterhin das alte R. Poupardin, Etude sur les institutions politiques et administratives des Principautes Iombardes de l'Italie meridionale (IXe-XIe siecles), Paris 1907. Zu einem sehr gut dokumentierten Gebiet vgl. jetzt aber auch H. Tat1iant-Carozzi, La Principaute Iombarde de Salerne. IXe-XIe siede. Pouvoir et Societe en Italie Iombarde meridionale, 2 Bde. (Collection de l'Ecole Fran.,;aise de Rome, 152), Roma 1991, I, S. 483-514. Die Bezirksstruktur des Territoriums in Süditalien ist also einerseits gegenüber dem römischen Erbe durch eine größere Kontinuität charakterisiert, andererseits stützt sie sich viel mehr als das übrige langobardische Italien auf die Städte. Zu der anderen Situation in Norditalien vgl. die allerdings sehr "kontinuistischen" Arbeiten von F. Schneider, Die Entstehung von Burg und Landgemeinde in Italien: Studien zur historischen Geographie, Verfassungs- und Sozialgeschichte, Berlin 1924; und von G. Santtni, Europa medioevale. Introduzione allo studio delle strutture territoriali di diritto pubblico. Lezioni di Storia del Diritto Italiano, Milano 1986, insbes. S. 201-215 und 259-260. B. Figliuo/o, Longobardi e Normanni, in: G. Pttgliese Carratelli (Hrsg.), Storia e Civilta della Campania. II Medioevo, Napoli 1992, S. 37-86, auf S. 48-49. I K Chillnlini I Willnwcil

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Bei dieser Lage erstaunt es also nicht, wenn man feststellt, daß es oft gerade im Schatten des Fürsten, im Innern seines Palastes selbst, für Mitglieder der regierenden Dynastie und meist durch die Ausübung der beiden wichtigsten Ämter am Hof als Schatzmeister (storesaiz) und als höherer Referendar sowohl in Benevent als auch in Salerno möglich war, die persönliche Macht zu stärken, so daß sich häufig eines der aktivsten Mitglieder der Stadtaristokratie den Weg bis zur Besteigung des Fürstenthrons ebnete. Auf diese Weise durch die Palastverschwörung - kommen zum Beispiel Grimoaldo IV, der "Storesaiz" (806-817) und Radelchi I (839-851), diebeideursprünglich Schatzmeister des Fürsten waren, in den Besitz der beneventanischen Krone8. In Capua dagegen scheint die Untersuchung der politischen Ereignisse und dynastischen Thronfolgen in eine andere Richtung zu weisen. Hier verteilten die Erben nach dem Tod des Grafen und Gastalden Landolf I. im Jahre 879 die Gastaldate der Grafschaft untereinander, nahmen sie in vollen Besitz und verwandelten sie in kurzer Zeit wiederum in Grafschaften mit weitreichender Autonomie (der Graf von Teano ging sogar so weit, eigene Münzen zu prägen). Im.Einzelnen gingen nach dem am 12. März 879 in der Stadt abgeschlossenen Vertrag die Burgen von Teano und Caserta, von Sessa Aurunca und dem alten capuanischen Serolais (Santa Maria Capuavetere) jeweils an die beiden Söhne Landolfos Pandonolfo und Landone und die von Calvi und Caiazzo an ihre beiden Cousins Landone und Atenolfo9 • Bei näherer Betrachtung jedoch stellt man fest, daß auch im capuanischen Fall die Macht, die der Mächtige braucht, um an seinem festgelegten Sitz in der Peripherie eine Dynastie bilden zu können, natürlich aus der von ihm bei Hofe eingenommenen Position herrührt. Sie stammt also in Wirklichkeit aus der Erbschaftsübertragung von bereits bestehenden Besitztümern und von den Machtbefugnissen der zugehörigen Familie und nicht aus einfachem allodialem Grundbesitz an Ort und Stelle, einem Besitz, der dann vielleicht in herrschaftliche Kontrolle über eben dieses Gebiet übergegangen ist. "Was schließlich aus der Untersuchung der Institutionen der süditalienischen langobardischen Fürstentümer und ihrer Entwicklung hervorgeht, ist das Bild von staatlichen Gefügen, die eine präzise und deutlich definierte, verwaltungspolitische Physiognomie mit den Städten als Mittelpunkt haben. Diese Gefüge behalten zudem ein starkes Bewußtsein für das publicum bei und räumen Privaten (zumindest bis in die 20er oder 30er Jahre des 11. Jahrhunderts) nur selten und in Abweichung von starken Rechtsprinzipien ausnahmsweise öffentliche Rechte ein. Der süditalienische langobardische Staat scheint also einerseits den Städten die eigenen Verwaltungsstrukturen aufdrücken und andererseits die eigenen öffentlichen Privilegien eifersüchtig bewahren zu wollen. Er ist deshalb insgesamt sehr konservativ und sicherlich weit davon entfernt, in eine Unmenge von unabhängigen Signorien zu zerfallen. Er kennt natürlich Sezessionen oder Erosionsprozesse seiner einzelnen staatlichen Befugnisse, aber diese Phänomene scheinen auf den glücklichen Ausgang von dieser oder jener Palastverschwörung zurückzuführen zu sein" 8

Ebd., S. 49. N. Cilento, Le origini della signoria capuana nella Longobardia minore (Istituto Storico Italiano per il Medioevo. Studi storici, fase. 69-70), Roma 1966, S. 115 ff.; V von Falkenbausen, I Longobardi meridionali, S. 266 und 299. 9

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oder auf Erbschaftsteilungen auch öffentlichen Besitzes zwischen Mitgliedern einer sich an der Macht befindlichen Familie. Es gibt also keinen Rückgriff auf irgendeine Einrichtung der Vasallenordnung mit Benefizienvergabe10• 2. Analog fallen in groben Zügen die Antworten auf die Fragen nach den Institutionen im gesamten pränormannischen Süditalien aus, auch wenn man die sogenannten autonomen Herzogtümer an der kampanischen Küste - Gaeta, Neapel, Amalfi und Sorrent - betrachtet. Die interne Organisation des neapolitanischen Herzogtums basiert ursprünglich auf einer Behörde von Konsuln nach byzantinischem Vorbild. Aber schon spätestens gegen Mitte des 9. Jahrhunderts scheint sie in einer Art monarchistischem, streng dynastischem Despotismus strukturiert zu sein, bei dem der erstgeborene Sohn, der das herzogliche Erbe zu übernehmen hat, auf dem Thron an die Seite des noch lebenden Vaters gestellt wird und der Stadtbischof sowie alle anderen, die hohe Ämter am Hofe einnehmen, nahezu ausschließlich unter den Mitgliedern der Herzogsfamilie ·selbst ausgewählt werden. Eine so rigide Staatsstruktur verhindert jeglichen Ansatz von territorialer Zerstückelung und damit auch jegliche Bildung und Entwicklung einer Kleingliederung der Bezirke mit einer gewissen Autonomie 11 • Auch in Amalfi gab es nach der politischen Loslösung von Neapel, die während des 9. Jahrhunderts stattfand, eine politisch-institutionelle Ordnung, die am Kopf des Staates zunächst zwei comites, dann zwei praejecturii, welche unter den Mitgliedern der lokalen gräflichen Aristokratie ausgewählt wurden, und schließlich, ab Mitte des 10. Jahrhunderts, einen dux vorsah. In der Form entsprach die Dynastisierung der an der Macht befindlichen Familie dem neapolitanischen Fall, ebenso gab es also auch hier keinen Platz für die Bildung einer Kleingliederung, die in der Verwaltung der öffentlichen Sache hätte eine aktive dialektische Rolle spielen können12 • Ähnlich der staatlichen Organisation Amalfis fällt die des kleinen Sorrents13 und in vielen Aspekten auch die von Gaeta aus, dessen seit der Mitte des 10. Jahrhunderts besondere öffentliche Ordnung vielleicht durch die außergewöhnlich starke Verbundenheit und Unternehmungslust des regierenden Familienkerns gegeben ist. Normalerweise wurden den jüngeren Söhnen des Herzogs auch das städtische bischöfliche Amt und - ebenfalls eine gaetanische Besonderheit - die Ämter der Herzöge von Fondi und der Grafen von Traetto zugeteilt. Das Herzogtum wurde also genauso wie bei der angrenzenden Grafschaft von Capua ganz und gar unter den Mitgliedern der machthabenden 10

B. Figliuolo, Longobardi e Normanni, S. 49-50.

11

F. Luzzati Lagana, II ducato di Napoli, in: V. t'on Fa/kenhausen, I Longobardi

meridionali, S. 327-338, insbes. S. 334. 12 U. Schwarz, Amalfi nell'alto medioevo, trad. ital. (Quaderni del Centro di Cultura e Storia Amalfitana, 1), Roma 1980; V. von Falkenbausen, I Longobardi meridionali, s. 339-346. 13 G. Sangermano, II ducato di Sorrento. JK•

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Familie aufgeteilt, als handele es sich um Privateigentum; so konnten sich weder öffentliche Verwaltungsämter noch - einmal mehr - genau definierte Kleinverwaltungsstrukturen entwickeln. Im Gegenteil, die Tatsache, daß die patrimoniale und administrative Aufteilung des Territoriums ganz in den Händen des Herzogs und seiner Familie lag, führte in der Folge auf lokaler Ebene dazu, daß sich die Verwandten des Herzogs die öffentlichen Rechtsprechungskompetenzen aneigneten und daß damit binnen kurzem genauso wie zur gleichen Zeit in der capuanischen Grafschaft das staatliche Gefüge zersplitterte. In Traetto wurden sogar seit circa 1020 Dokumente verfaßt, die ohne jeglichen Hinweis auf die Regierungszeit des gaetanischen Herzogs einzig mit den Jahren der Regierungszeit des lokalen Grafen datiert waren14 • 3. Mit der Ankunft der Normannen in Süditalien und dem konkreten Beginn ihrer Herrschaft kurz vor der Mitte des 11. Jahrhunderts kommt die Art, wie sie das Verhältnis zwischen öffentlicher, herrschaftlicher Macht und Territorium zuerst wahrnahmen und dann strukturierten, einer Revolution gleich. Die nordischen Ritterscharen, die mit dem Ziel nach Süditalien gezogen waren, Beute zu machen und Länder und Signorien zu erobern, bewegten sich tatsächlich meist autonom vorwärts, jede auf eigene Faust, wobei sie jeweils nur dem eigenen direkten Oberhaupt gehorchten. Erst als einer von ihnen, Rainulf Drengot, vom Herzog Neapels Sergio IV. im Jahre 1030 das Casale Aversa als Geschenk erhielt, gestanden ihm die Normannen als erstem in Italien den Titel des Grafen und eine Oberhoheit über ihre ganze natio zu. Als sie sich 1041 in Melfi versammelten, um den erfolgreichen Feldzug gegen die Byzantiner in Apulien zu beginnen, durch den sie binnen kurzer Zeit einen Großteil des gesamten kontinentalen Süditaliens erobern sollten, präzisiert sich ihre Vorstellung vom Staat als einer einheitlichen Herrschaft über das Gebiet, das sie erobern wollten, immer mehr und zeigt deutlich die Eigenschaften einer ausgereiften, pyramidenförmigen, feudalen Struktur. An diesem Ort legten die zwölf, ebenfalls zu Grafen ernannten, normannischen Führer die Territorialanteile fest, die jedem von ihnen zustehen sollten, sobald sie die militärische Eroberung der Region erfolgreich zu Ende gebracht haben würden. Diese wurden natürlich Grafschaften genannt und hatten jede eine Bischofsstadt zum Mittelpunkt, die als Hauptstadt diente und der gesamten Grafschaft ihren Namen gab. Es handelte sich um Ascoli Satriano, Venosa, Lavello, Monopoli, Canne, Civitate, Trani, Sant'Arcangelo, Montepeloso, Frigento, Acerenza und Minervino. Die zwölf Grafen erkannten aber die höhere Macht des ältesten der Altavilla, Wilhelm genannt Eisenarm, des obersten Führers des Feldzugs, und die noch höhere Macht von Rainulf von Aversa an. Auf der obersten Stufe in der Hierarchie schließlich stand der Fürst Guaimario IV. von Salerno als ihr oberster Herr, der sie gedungen hatte und seinerseits wiederum ein .fidelis des westlichen Kaisers war. Das entsprach dem feudalen Rechtsprinzip, nach dem "non vault Ia possession sans prince", der territoriale herr14

P. Delogtt, II ducato di Gaeta.

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schaftliehe Besitz also keine rechtliche Gültigkeit hat, wenn er nicht auf der obersten Gewalt eines Fürsten gründet, der ihn mit der eigenen Macht garantiert15. Unter den zwölf Grafen stand dann die große Zahl der einfachen milttes, die keinerlei Autorität über sich duldeten und bereits in den direkt auf den apulischen Feldzug folgenden Jahren erneut begonnen hatten, das Territorium der langobardischen Fürstentümer mit ihren Streifzügen zu durchqueren und ex imis zahlreiche Burgen zu bauen, auf deren Grundlage sich schnell wirkliche Grundherrschaften bildeten, die natürlich auch die Verwaltungs- und Bezirksstruktur der Region revolutionierten. Während der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts stellt die Burg dann auch tatsächlich ein autonomes Element in der territorialen Struktur dar und ruft damit kleinere neue geschlossene Bezirksaufteilungen auf lokaler Ebene ins Leben, die ihr vorstehen16. Das Phänomen wird zum Beispiel in zwei vor kurzem von Giovanni Vitolo untersuchten Fällen, nämlich Roccapiemonte und Rocchetta Sant'Antonio, deutlich erkennbar. Im Jahre 1042 liegt im Gebiet des Nocerino die erst kurz davor gegründete Burg von San Quirico "in loco Apudmonte" , da sie, wie alle langobardischen Burgen, noch keinen eigenen territorialen Bereich definiert. Erst 1089 wird Rocca San Quirico zum Zeichen der endgültigen Durchsetzung der Burg über das umliegende Territorium zur Burg von Apudmonte, d.h. Roccapiemonte. Im Jahre 1139 findet dann eine Schenkung von Gütern "per totam pertinentiam Nucerie et Rocce Aputmontem et in pertinentia de castello Sancti Georgii et Sancti Severini" statt. Das Gebiet, das vorher als locus Apudmonte definiert war, ist nun also in vier Bezirke unterteilt, die von ebenso vielen Burgen regiert werden, deren drei letztere sicherlich zu normannischer Zeit errichtet worden waren 17• In ganz ähnlicher Weise verläuft die Entwicklung in Rocchetta Sant'Antonio in Capitanata, wo die alte Burg von Sant'Antimo erst gegen Ende des 11. Jahrhunderts zu einer autonomen Einheit der territorialen Einverleibung wird, folglich einen engeren Zusammenhalt der vorher als zu Candela und Lacedonia zugehörig betrachteten Gebiete hervorruft und einen neuen Burgbezirk mit eigenem Herrn schafft18• 15 B. Figliuolo, Morfologia, S. 41 ff.; ders., Longobardi e normanni, S. 54 ff. Die Liste der zwölf Grafen und der jeweils jedem von ihnen zugeteilten Städte findet sich bei Amato di Montecassino, Storia de' Normanni, hrsg. von V. De Bartholomaeis, (Fonti Storiche Italiane, 76), Roma 1935, 1. II, Kap. XXXI, S. 95-96; und in: Chronica Monasterii Casinensis, hrsg. von H. Hoffmann, in: Menumenta Germaniae Historica, Scriptorum, XXXIV, Hannoverae 1980, 1. II, Kap. 66, S. 300. Die zitierte Formulierung feudalen Rechts ist von Amato wiedergegeben (1 . II, Kap. XXXI, S. 96-97). 16 B. Figliuolo, Morfologia, S. 42 ff. 17 G. Vitolo, Da Apudmontem a Roccapiemonte. Il .,castrum" come elemento di organizzazione territoriale, in: Rassegna storica salernitana, NS, III/ 2 (Dezember 1986), s. 129-142. IR G. Vitolo, Einleitung zu: C. Carlone (Hrsg.), Documenti cavensi per Ia storia di Rocchetta S. Antonio (Fonti per Ia Storia del Mezzogiorno Medievale, 6), Altavilla Silentina 1987, S. IX-XVII.

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Diese neue, so bewußt und entschieden verfolgte territoriale Gliederung in Bezirke betrifft auch die Kirchenstruktur. Deutlich erkennbar ist der von den normannischen Fürsten und dann Königen durchgeführte Versuch, den Verwaltungsbereich der Burg mit dem der parroccbta und parallel dazu auf höherer Ebene die Ordnung der Grafschaft mit der der Diozöse übereinstimmen zu lassen19• Wahrscheinlich gerade aufgrund des bereits erwähnten spontanen, oft chaotischen und beinahe anarchistischen Charakters der normannischen Eroberung Süditaliens - d.h. einer gewiß nicht von oben geplanten, organisierten und geordnet durchgeführten Eroberung, wie es dagegen zur gleichen Zeit in England der Fall war - konnte sich das feudale Regime in der Region nicht lückenlos durchsetzen. Die Aufgabe, eine ganze Reihe von bereits gebildeten und funktionierenden lokalen herrschaftlichen Machtbereichen zu koordinieren, wurde dieser Art institutioneller Ordnung auch erst zu einem späteren Zeitpunkt anvertraut, als die territoriale Eroberung abgeschlossen war. Außerdem war sie nie in der Lage, mit den Maschen ihres eigenen Netzes die ganze Region abzudecken oder sie nach eigenem Muster perfekt zu organisieren. "Die Grafschaften bildeten nämlich keine homogenen, dichten Machtzentren, die automatisch aus der Summe der verschiedenen, in ihrem Innern vorhandenen Burgherrschaften hervorgegangen wären, sondern sie wurden ständig von den in ihrem Verwaltungshereich sehr verbreiteten Alloden und starken, zu ihnen in Konkurrenz stehenden Feudalmachtzentren gestört" 20• Der normannische Staat basiert dennoch seit seiner Entstehung bewußt auf den Grafschaften. Die neuen lokalen Bezirke mit feudalen Zügen gliederten sowohl die alten byzantinischen, eben erst eroberten Gebiete ein, wobei diese unterteilt wurden, als auch die Gebiete der langobardischen Fürstentümer und comitati, die dagegen oft als Ganze in die neuen Grafschaftsstrukturen aufgenommen wurden und - meist ohne daß ihre territorialen Grenzen angerührt würden - nur eine andere Bezeichnung erhielten21 • Auch nach der Einführung der Monarchie blieben die Grafschaften die Grundlage des Staates. Trotz wiederholter Revolten seitens der Barone erhielt Roger II. die bereits existierende feudale Struktur des Territoriums und die Kontrolle darüber aufrecht, auch wenn er einige Neuerungen einführte. Vor allem setzte er sicherlich mit dem Ziel, die Handlungen der verschiedenen Grafen besser in loco kontrollieren zu können, seine drei Söhne Anfuso, Roger und Tancred als traditionelle normannische Herrscher über das Festland ein, und zwar jeweils über das 19 G. Vito/o, Vescovi e diocesi, in: Storia del Mezzogiorno, III, Napoli 1990, S. 75151, insbes. S. 102, 104, 108 und 136 ff. 20 B. Figliuolo, Longohardi e Normanni, S. 62; C. Cahen, Le regime feodale de I'Italie normande, Paris 1940, insbes. S. 33 ff. 21 Vgl. hierzu schon die treffende Darstellung in: P. Giannone, lstoria civile del regno di Napoli, 1. XVII, Kap. V, der unterstreicht, daß es dank der normannischen Grafschaftsstruktur in Süditalien im wesentlichen eine Kontinuität zwischen von langobardischen öffentlichen Verwaltungsbezirken und denen der Hohenstaufer/Anjou gegeben habe.

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Fürstentum Capua, das Herzogtum Apulien (dessen Hauptstadt Salerno war und das im großen und ganzen dem Gebiet des alten langobardischen Fürstentums entsprach) und das Fürstentum Bari22 • An zweiter Stelle strukturierte er das gesamte eroberte Gebiet in zwei große, den Grafschaften übergeordnete Provinzen: und zwar zusätzlich zu Sizilien in den Ducatus Apuliae und den Principatus Capuae. Diese Provinzen wurden von mit Verwaltungs- und Rechtsprechungskompetenzen versehenen königlichen Beamten, den Justitiaren, verwaltet, die aus den Rängen der Lehnsherren ausgewählt wurden und später viel Macht erhalten sollten. Parallel dazu wurden sie von Beamten verwaltet, die mit Kompetenzen für den finanziellen Bereich ausgestattet waren (den Kammerherren). Schlußendlich führte Roger II. die Ämter des Comes stabuli ein, die mehrere Grafschaften beinhalteten und deren Inhaber (eben die Comes stabult) ebenfalls unter den Lehnsherren ausgewählt wurden. Sie kümmerten sich um die Organisation des Militärdienstes, den die verschiedenen Grafen zu leisten hatten 23 • Trotz alledem fällt es schwer, die traditionelle historiographische Auffassung zu teilen, nach der das von den Normannen geschaffene Reich einen Machtapparat bildete, der auf einem stark östlich geprägten Monarchieverständnis (insofern er zur Autokratie tendierte) beruhte und von einem legislativen Ehrgeiz und einer Fähigkeit zu zentraler bürokratischer Organisation gestützt war, die hochmodern und zu der Zeit im Westen praktisch einmalig waren24 • Denn das an den Osten angelehnte Monarchieverständnis beschränkt sich rein oberflächlich auf prächtige Riten der Zeremonien und des Hoflebens, übersetzt sich jedoch weder wirksam in eine absolutistische Auffassung der königlichen Macht noch in eine despotische Regierungsweise. Zudem finden die Versuche, das Territorium neu einzuteilen und eine Verwaltungs- und Steuerbürokratie herzustellen, derart spät statt und sind so vorsichtig, daß die öffentlichen Ämter, wie bereits angedeutet, im Bereich der Justitiariate meist an die Lehnsherren vor Ort vergeben werden, auf deren herrschaftlichen Privilegien die Regierung des normannischen Reiches in der Praxis zweifellos bis zum Ende gründet25 . 22 L. De Nava I D. Clementi (Hrsg.), Alexandri Telesini abbatis Ystoria Rogerii regis Sicilie Calabrie atque Apulie (Fonti per Ia Storia d'Italia, 112), Roma 1991, 1. III, Kap. 28, S. 74-75. Vgl. auch P. Delogu, I Normanni in Italia. Cronache della conquista e del regno, (Scienze storiche, 2), Napoli 1984, S. 152. 23 M . Caravale, II Regno normanno di Sicilia (lus nostrum. Vom Istituto di Storia del Diritto Italiano der Universität Rom veröffentlichte Texte, 10), Milano 1966 (anastatischer Druck Milano 1984), S. 219 ff.; ders., Le istituzioni del Regno di Sicilia tra l'eta normanna e l'eta sveva, in: Clio, 23 (1987), S. 373-422. Vgl. auch E. Mazzarese Fardella, Aspetti dell'organizzazione amministrativa dello Stato normanno e svevo, Milano 1966, und E. Cttozzo, "Quei maledetti normanni". Cavalieri e organizzazione militare nel Mezzogiorno normanno, (L'altra Europa, 4), Napoli 1989, insbes. S. 108-120, 127, 131 und 133-134. 24 Vgl. diese Interpretation z.D. auch in dem besten, heute verfügbaren Überblick über die institutionelle Geschichte Italiens im Mittelalter von G. Tabacco, Egemonie sociali e strutture del potere nel Medioevo italiano, Torino 1979, S. 295-296. 25 M. Caravale, II regno normanno, S. 225-226 und 234.

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Diese ganze Problematik läßt sich anhand des molisanischen Beispiels gut zusammenfassen. Auf dem Gebiet der heutigen Region, die im 10. Jahrhundert auf die Fürstentümer Capua und Benevent aufgeteilt war, bilden sich damals neun, mit ausgedehnten Autonomierechten versehene Gastaldate mit ebensovielen civitates, die sich bald in Grafschaften verwandeln: Venafro, Isernia, Larino, Trivento, Boiano, Campomarino, Termoli, Sangro und Pietrabbondante26 . Später, gegen Ende des 11. Jahrhunderts, werden alle diese Zentren den beiden normannischen Grafschaften Molise und Loritello einverleibt27 • Nach verschiedenen, durch zahlreiche Aufstände gekennzeichneten Ereignissen wird die Grafschaft Molise dem Staatsbesitz von Friedrich II. zugeteilt und dann vom Justitiar der Terra di Lavoro und der Grafschaft Molise regiert; ein Gebiet, das schließlich, nachdem es schnell zu einem autonomen Justitiariat geworden war, zu der heutigen Region wird und auch die Gebiete der alten Grafschaft Loritello absorbiert, die - ebenfalls in Staatsbesitz übergegangen - dagegen in der Zeit der Hohenstaufer in das Justitiarial der Abruzzen übergegangen war".

4. Mit dem Staufer Friedrich findet die zweite große Wende in der Territorialstruktur Süditaliens im hohen Mittelalter statt. Seit ungefähr 1220 gründet die Monarchie tatsächlich nicht mehr wie zu Zeiten Rogers II. und seiner Nachfolger mit Vermitdung der größeren, ebenfalls feudalen Verwaltungseinheiten des Herzogstums Apulien und des Fürstentums Capua auf dem Mosaik der feudalen Grafschaften, sondern ist in neue Provinzen - nämlich die Justitiariate - gegliedert, in denen ab diesem Zeitpunkt die militärische, rechtliche und finanzielle Verwaltung des Staates getrennt werden. Die Staufischen Justitiare - in jeder Provinz einer - werden in der Regel direkt vom König ernannt. Sie werden nun meist aus den Rängen der niederen Lehnsherren gewählt und müssen häufig in den verschiedenen Provinzverwaltungszentren den Wohnsitz wechseln, da sie im allgemeinen nur ein Jahr lang an ein und demselben Ort im Amt bleiben. Sie haben daher zahlreiche Eigenschaften, die denen einer Schicht moderner Staatsdiener ähnlich sind 29 . Selbstverständlich verschwinden die kleinen feudalen Verwaltungsbezirke nicht von einem Tag auf den anderen. Sie sind noch in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vorhanden und auch mit Befugnissen der Hohen Gerichts26 A. De Francesco, Origini e sviluppo del feudalesimo nel Molise. Fino alla caduta della dominazione normanna, in: Archivio Storico per Je Province Napoletane (= ASPN), XXXIV (1909), S. 432-460 und 640-671; und XXXV (1910), S. 70-97 und 273307, besonders auf den Seiten 640 ff., 648 ff., 656 ff., 70-71, 73-74 und 75-77. 27 Ebd., S. 79 ff.; Ii. jamison, I Conti di Molise e di Marsia nei Secoli XII e XIII, in: Convegno Storico Abruzzese-Molisano. Atti e Memorie, I, Casalbordino 1932, S. 73178, aufS. 77-80; und besonders H. Cuozzo, I! formarsi della feudalita normanna nel Molise, in: ASPN, XCIX (1981), S. 105-127; ein Aufsatz, in dem allgemeiner auch die interne Struktur der normannischen Grafschaften und ihr Verhältnis zum Zentrum des Staates untersucht wird. 26 E. jamison, I Conti, S. 122-129 und 132-150; A. De Francesco, Origini, S. 273-294. 29 j.M. Martin, L'organisation du territoire, S. 83-86.

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barkeit versehen. Aber die lokalen Strukturen, auf die man sich gewöhnlich in öffentlichen Dokumenten bezieht, um die Verwaltungsgeographie des Territoriums zu beschreiben, sind seit 1220 die Justitiariate. Die Zahl der Grafschaften wird vom König drastisch reduziert, mit den wenigen übriggebliebenen werden zudem mehr oder weniger enge Verwandte des Königs belehnt~. In dieselbe Richtung geht auch eine weitere bedeutsame Entscheidung, die Friedrich im selben Jahr in Capua trifft, nämlich der in einer seiner Konstitutionen enthaltene Beschluß, alle Burgen zu zerstören, die nach dem Tod Wilhelms II. (1189) widerrechtlich auf feudalen Ländereien gebaut worden waren, und die auf dem Herrschaftsgebiet ebenfalls widerrechtlich erbauten Burgen direkt zu kontrollieren31 . Dennoch darf die Politik Friedrichs weder als abstrakt einheitsstrebend und zentralistisch noch als vollkommen antifeudal verstanden werden. Baronien und einzelne Lehen existieren, wie erwähnt, in großer Zahl weiter. Ziel des Königs scheint eher gewesen zu sein, auf der einen Seite die Bildung großer herrschaftlicher, potentiell in den Händen von Konkurrenten befindlicher Territorialanhäufungen zu vermeiden, und auf der anderen Seite die Karten der Provinzen des Reiches neu zu zeichnen, um den Raum besser strukturieren zu können und "den regionalen und subregionalen Bereichen mehr organische Kohärenz und funktionalere Dimensionen zu geben" 32. Indem er die von den normannischen Königen ausgearbeitete territoriale Neustrukturierung mit mehr Entschiedenheit angeht und sie wirksam durchsetzt, unterteilt Friedrich II. das Reich in dreizehnJustitiariate. Dabei zeigt er, wie schon Ende des 17. Jahrhunderts Pietro Giannone feststellte, bei den Kriterien der Aufteilung außergewöhnliches Verständnis für und ausgeprägten Respekt vor den einzelnen verschiedenen geographischen, historischen und sogar anthropologischen Realitäten in Süditalien33 . Wenn wir nämlich "auf die Ebene der Realität herabsteiEbd , S. 89-90. F. Boccbi, Castelli urbani e citta nel regno di Sicilia all'epoca di Federico II, in: Federico II e !'arte del Duecento, S. 53-74, aufS. 56-57. 32 Zur Organisation des friderizianischen Staates vgl. in dem Band: A.L. Trombetti Budriesi (Hrsg.), II "Liber Augustalis" di Federico II di Svevia nella storiografia. Antologia di scritti (II mondo medievale. Sezione di storia delle istituzioni, della spiritualita e delle idee, 18), Bologna 1987, besonders die Einleitung derselben A.L. Trombetti Budriesi, S. 11-51, und die Aufsätze von G. Fasoli, La feudalita siciliana nell'eta di Federico II, S. 403-421; von P. Colliva, Lo stato di Federico II: opera ,d'ane' ed opera di necessita, S. 423-456; und von E. Mazzarese Fardella, Aspetti della politica di Federico li di Svevia in Sicilia, S. 457-471. Aber vgl. auch die Beobachtungen von M. Del Treppo, Tra miti e ricerca storica, Vorwort zu: Ne! segno di Federico II. Unita politica e pluralita culturale del Mezzogiorno. Atti del IV Convegno lnternazionale di Studi della Fondazione Napoli Novantanove (Napoli, 30 settembre-1 ottobre 1988), Napoli 1989, S. 11-28. Das Zitat stammt von S. 20 . .n Diesen Aspekt hat vor allem M. Del Treppo, Tra miti e ricerca storica, insbes. S. 20-26, betont. Giannone beschäftigte sich vor allem in 1. XVII, Kap. IV und V, und 1. XXII, Kap. V, seiner lstoria civile del Regno di Napoli mit dem Problem der giusti30

31

zierati.

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gen", finden wir in der Region "geographische Differenzen, Unterschiede in den historisch-kulturellen Traditionen und den sozioökonomischen Strukturen von großer Tiefe und Gegensätzlichkeit. Sie fanden in der Verwaltungsgliederung der Provinzen, auch Justitiariate, eine erste Form der Festigung und Harmonisierung, aber auch die Legitimierung regionaler und subregionaler alter ,Ist-Zustände' oder neuer ,Widerstände', die jedenfalls dem Vereinigungsstreben der Monarchie immer im Wege standen. Letztere darf allerdings nicht für eine Dampfwalze gehalten werden, die jeden lokalen Unterschied auslöschen wollte, im Gegenteil, die lokalen und peripheren Strukturen stellen sich nicht als Kräfte dar, die der Einheit der Monarchie programmatisch entgegengestanden hätten. Ihr Verhältnis ist nicht von antithetischer Gegenüberstellung bestimmt, sondern im einzelnen artikulierter und komplexer. Schon die sozioökonomischen Strukturen einiger Gebiete waren so tief verfestigt und ihre innere Physiognomie so ursprünglich organisch, daß es unmöglich gewesen wäre, sie in Stücke zu schlagen, um sie in die homogene Einheit des Staatskörpers neu aufzunehmen. Andere Gebiete befanden sich im Einzugsbereich fremder Herrschaften oder waren stark von solchen angezogen wie das Gebiet um Otranto von Venedig und die Abruzzen von Florenz und Rom. Der Raum des Reiches war also unterschiedlich gegliedert, bzw. es gab verschiedene Räume" 34. jedes Justitiarial war aus einer Reihe von te"ae zusammengesetzt, d.h. von bewohnten Orten höchst unterschiedlicher Größe oder rechtlicher Struktur wir sind also weit von jeder urbanozentrischen Versuchung entfernt -, die die Einheiten bildeten, in denen eine ganze Reihe kleinerer, dem Justitiar unterstellter Verwaltungsbeamter mit verschiedenen Aufgaben wirkten35 . In der Grafschaft Molise zum Beispiel findet der Übergang von den Urteilen der wandernden Grafengerichte zu den vom Justitiar der Region eingeführten innerhalb weniger Jahre statt36• Der Zwiespalt zwischen Grafschaften und justitiariaten ist nun endgültig zugunsten letzterer entschieden, wenn auch Manfred, der auf diese Weise die eigene politische Schwäche gegenüber der Aristokratie wettmacht, erneut ein dichtes Grafschaftsnetz einrichtet, das seinerseits aber von dem Machtantritt Karls I. von Anjou in Neapel wieder in Frage gestellt wird, der es vorzieht, dem von Friedrich vorgezeichneten Weg zu folgen 37• 3 ~ M. Dei Treppo, II regno aragonese, S. 162-163, dessen Beobachtungen weit über die aragonesische Zeit hinaus gelten, für die sie formuliert wurden. 35 ].M. Martin, L'organisation du territoire, S. 81-83. 36 Berichte über "gräfliche Volksversammlungen" in Molise finden sich zum Beispiel bei A. De Francesco, Origini, S. 88 und 300, Anm. 2 (Ugo II. von Molise in Trivento im Jahre 1144); bei E. Gattola, Historiae abbatiae cassinensis, 2 Bde., Venetiis 1733, I, S. 243 (Riccardo de Mandrain lsernia im Jahre 1179); und S. 207 (Ruggero de Mandra in Venafro im Jahre 1189). Im Jahre 1221 ist dagegen in Isernia eine vom kaiserlichen Justitiar Teodino di Pescolanciano geleitete Versammlung dokumentiert: vgl. C. Salz1ati, Note su aleuni documenti degli Archivi Capitolari di Isernia e di Troia, in: ßenedictina, XX, 0973), S. 67-90, insbes. das Dok. Nr. IV, S. 80. 37 j.M. Martin, L'organisation du territoire, S. 108 ff.

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5. Der Übergang von der staufiseben zur Herrschaft der Anjou im Königreich Sizilien steht unter dem Zeichen der Stabilität der Organisation. Ein wesentlicher Gesichtspunkt besteht im übrigen in der Vorstellung der Monarchen darüber, wie man die Kontrolle über das Territoirum ausüben sollte. So scheint es, daß - wenn man wirklich eine Kontinuität zwischen den verschiedenen, sich auf dem süditalienischen Thron ablösenden Dynastien finden will - man sie eher zwischen der staufiseben und der Herrschaft der Anjou ausmachen wird als zwischen der normannischen und der staufischen. Wie erwähnt, ändert sich in Süditalien mit der Ablösung eines staufiseben Herrschers durch einen aus dem Hause Anjou recht wenig, wenn man eine gewisse Wiedereinbeziehung des feudalen Elements ausschließt, das unter der friderizianischen Politik stark unterdrückt worden war38. Schon Karll. richtet -wenn auch am Anfang eigentlich zu Gunsten seiner Söhne - die beiden Fürstentümer Salerno und Taranto wieder ein, die unter anderem mit der Hohen Gerichtsbarkeit versehen sind. Im Fürstentum Taranto ist sogar schon während des 14. Jahrhunderts eine Kanzlei tätig, die mit ihren diplomatischen Funktionen ausdrücklich sogar mit dem Brauch, die eigenen Dokumente ausschließlich nach den Amtsjahren des Fürsten zu datieren, die curia regia nachahmt. Bald jedoch gelangen diese beiden großen und mächtigen feudalen Bezirke in die Hände der großen und wiedererstarkten Feudalaristokratie, jeweils der Familie Sanseverino und Orsini, ohne deshalb irgendetwas von der Macht und den Privilegien einzubüßen, die bis dahin in ihrem Besitz gewesen waren 39• Denn infolge der Sizilianischen Vesper und noch mehr gemäß der in den sogenannten Kapiteln von San Martino getroffenen Vereinbarungen (30. März 1283) ist die geschwächte Monarchie gezwungen, mit den Lehnsherren zu verhandeln und eine diese begünstigende Politik zu führen, indem sie ihnen zum Beispiel zahlreiche, bereits staatseigene Territorien schenkt oder vielen einzelnen Baronen im Ionern ihrer Feudalbesitztümer die Ausübung des sogenannten merum et mixturn imperium, d.h. die volle Banngewalt zugesteht40 • Trotz dieser die Schicht. der Barone bevorzugenden Politik werden aber die Strukturen in ihrem Wesen als Grundgerüst des Staates, das weiterhin auf den Justitiaren gründet, niemals, nicht einmal in den Zeiten der akutesten Krisen der Monarchie der Anjou, wieder in Frage gestellt. Die Lehnsträger können sich bezüglich ihrer Vorrechte als höchste öffentliche Kontrollorgane vor Ort G. Vito/o, II regno angioino, S. 24-26. Ebd. Zum Fürstentum Taranto vgl. auch die alten Beiträge von GM. Monti, La condizione giuridica del principato di Taranto, in seinem: Dal secolo sesto al decimoquinto. Nuovi studi storico-giuridici, Bari 1929, insbes. S. 85 ff.; G. Antonttcci, II principato di Taranto, in: Archivio Storico per Ia Calabria e Ia Lucania, VIII (1938), S. 133-154; ders., Sull'ordinamento feudaledel principato di Taranto, ebd., XI (1941), S. 21-40; und den jüngeren Beitrag von E. Mastrobuono, Castellaneta dalla meta del secolo XIV all'inizio del XVI e il Principato di Taranto (Societä di Storia Patria per Ia Puglia. Documenti e Monografie, XLIII), ßari 1978. 40 G. Galasso, 11 Regno di Napoli, S. 357 ff. 38

39

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mehr oder weniger ungehorsam zeigen; sie können sich vielleicht mehr oder weniger weite Bereiche der Befreiung von ihrem Wirken erkämpfen und so in manchen Fällen und für einige Zeit den Wirkungsbereich einschränken; niemals aber werden sie die zentrale Rolle des regnum in der Territorialstruktur in Frage stellen und weniger denn je eine eigene Kandidatur an dessen Stelle setzen können. Die Justitiare werden tatsächlich immer als direkte Exekutive der Monarchie in den Provinzen betrachtet, als eine Art Vizekönige in dem ihnen zugeteilten territorialen Bezirk41 • In der Zeit der Anjou findet eine Unterteilung der Justitiariate der Abruzzen und des Fürstentums in Citra und Ultra statt, so daß ihre Summe auf fünfzehn ansteigt. Auf breiterer territorialer Grundlage wirken dann die insgesamt vier secrezie, neu eingerichtete Institutionen, die mehrere Justitiariate umfassen und zur Erhebung einer ganzen Reihe öffentlicher Einkünfte dienen42 .

6. Das Justitiariat bleibt trotz der Nostalgie einiger Humanisten bezüglich der alten augusteischen Aufteilung der Provinzen auch während der darauffolgenden aragenesiseben Periode die Grundlage der Bezirksverwaltung43 • In der aragenesiseben Zeit sind wohl in Süditalien von seiten der Monarchie die Bemühungen um Einigung am stärksten. Diese Bemühungen münden in eine Reihe Maßnahmen von starker und beispielhafter, antifeudaler, politischer und die Rechtsprechung betreffender Bedeutung. Am ehesten lassen sich diese Einigungsbestrebungen an der Homogenisierung des Pässezollsystems und der drastischen Beschränkung ihrer Anzahl, der Vereinheitlichung der verschiedenen Gewichts- und Maßsysteme, die im Innern der verschiedenen Örtlichkeiten des Reiches noch gültig waren, und vor allem der Einführung der Vizekönigreiche erkennen, deren Vizekönige als eine Art alter ego des Mon41 Ebd., S. 329-330, 841-845, und zu den einzelnen giustizierati S. 847-908. Zu diesen Territorialbezirken, die über die lange Zeit hin liefgehend und einzeln untersucht worden sind, vgl. aber vor allem die Bände V-VII, Roma 1986, der zitierten Storia del Mezzogiorno. Die Definition der Justitiare als Vizekönige findet sich bei E.G. Leonard, Histoire de Jeanne lere reine de Naples, 2 Bde., Paris 1932, I, S. 52. 42 G. Vitolo, II regno angioino, S. 56-57. Für einen Überbick über die Verwaltungsordnung dieser Zeit muß man allerdings zurückgreifen auf den alten Beitrag von L. Cadier, Essai sur l'administration du royaume de Naples sous Charles ler et Charles II, Paris 1891. 43 Biondo Flavio (sein Buch Italia illustrata wurde nicht viel später als 1450 fertiggestellt und zum ersten Mal1474 in Rom veröffentlicht) und Pietro Ranzano, der seine Beschreibung Italiens zwischen 1460 und seinem Tod (1492 oder 1493) schrieb, die unveröffentlicht blieb und einen Teil des dritten Bandes seiner .,Annales omnium temporum" bildet (Biblioteca comunale di Palermo, Ms. Qq. C.56, ff., 260v-509v) haben Italien in ihrer historisch-geographischen Beschreibung auf diese Weise gegliedert. Zu Pietro Ranzano und zu seinem Werk vgl. jetzt B. Figliuolo, Europa, Oriente, Mediterraneo nell'opera dell'umanista palermitano Pietro Ranzano, in: S. Gensini (Hrsg.), Europa e Mediterraneo tra Medioevo e prima etä moderna: l'osservatorio italiano (Centro di Studi sulla Civiltä del Tardo Medioevo, San Miniato. Collana di Studi e Ricerche, 4), Pisa 1992, S. 315-361.

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archen die Aufgabe harten, "die vielfältige Realität der Provinzen besser in die Einheitlichkeit des Reiches zu integrieren"H. Ihre vor allen Dingen unter politisch-militärischem Aspekt weitreichenden Befugnisse fanden ihre konkrete Anwendung in fünf oder sechs neuen Bezirken, die manchmal mit den weiterhin aktiven Justitiariate übereinstimmten, öfter aber ein paar von ihnen umfaßten. Als Vermittler zwischen Zentrum und Peripherie und als lokale Vertreter der königlichen Macht sollten die Vizekönige - ebenso wie die friderizianischen Justitiare - ihr Amt nicht lange an einund demselben Ort ausüben, damit sie sich auch unter dem Gesichtspunkt des Besitzes in der Region, in der sie ihre öffentlichen Dienste leisteten, nicht zu sehr verwurzeln konnten. Sie wurden vor allem aus strategischen Gründen in den weit entlegenen Randprovinzen, in Momenten starker politischer Unruhen und wirklicher militärischer Bedrohung eingesetzt. Andernorts erschienen sie tatsächlich nur sporadisch. Es handelte sich meist um Kriegsleute, in der alfonsinischen Zeit von häufig katalanischer Herkunft, da von dreizehn Namen sieben dieser Nationalität angehören, während die restlichen sechs lokaler Herkunft sind. Ferrante dagegen gab bei der Rekrutierung dieser hohen Beamten dem neapolitanischen Stadtadel den Vorzug. Oft gingen sie bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und gemäß ihren äußerst umfassenden Privilegien in Konfrontationskurs gegenüber den dauerhaften und häufig noch weitreichenden öffentlichen Funktionen der lokalen Feudalherren, die sie immer ihre größere Macht spüren ließen und denen sie nicht selten gefestigte Befugnisse und Kompetenzen entzogen, so daß sie in einigen Fällen lebhafte, erbitterte Einsprüche hervorriefen45. Dank dieser, von den beiden größten Vertretern der aragonesischen Dynastie eingenommenen konsequenten Grundhaltung, den Staat in einheitlichem Sinne zu strukturieren und die verschiedenen, in ihm vorhandenen, territorialen Wirklichkeiten ·zu rationalisieren und homogenisieren, verliert die Episode der Verleihung des Rechts des mernm et mixturn imperium an viele Barone an Gewicht und Bedeutung. Ihnen gegenüber konnte nun die Monarchie nachgiebig sein, da sie sich nicht nur viel stärker fühlte, sondern dies auch war. Ebensowenig bedeutsam erscheint die Tatsache, daß die Ämter der sieben hohen Beamten an der Spitze der Verwaltung des Reiches weiterhin Mitgliedern der wichtigsten reichsangehörigen Baronsfamilien verliehen wurden46 . 44 M. Dei Treppo, II re e il banchiere. Strumenti e processi di razionalizzazione dello stato aragonese di Napoli, in: G. Rossetti (Hrsg.), Spazio, societa, potere nell'Italia dei Comuni, (Europa mediterranea. Quaderni, 1), Napoli 1986, S. 229-304, insbes. auf S. 290-291. Das Zitat stammt von M. Dei Treppo, II regno aragonese, S. 165. 45 Zu den Vizekönigen in aragenesiseher Zeit vgl. ebd., S. 165-167; und G. Galasso, II Regno di Napoli, S. 739-741. 46 Ebd., S. 731 ff. und 742-747. Zu den hohen Beamten des Reiches bleibt unersetzlich C. Tutini, De' sette Officii ovvero de' sette grandi del Regno di Napoli, Roma 1666. Nützliche Hinweise und eine gute übersichtliche Einordnung bietet auch A . Allocati, Lineamenti delle istituzioni pubbliche nell'ltalia meridionale, Roma 1968.

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Bruno Figliuolo

Während man nämlich dank der Koordination starker signorHer Mächte, die gegen Ende des 14. und vor allem im 15. Jahrhundert in Nord- und Mittelitalien existierten und deren Ursprung höchst heterogen war, eine Bildung großer Regionalstaaten beobachten kann, gestatten die Königshäuser Anjou und Aragon den lokalen süditalienischen Feudalherren dagegen erst zu einem späteren Zeitpunkt weitgefaßte öffentliche Privilegien. Diese regalia dienten als Gegenleistung für Unterstützungen, die sie entweder erhalten hatten oder in Momenten besonders akuter militärischer oder Machtkrisen zu erhalten erwarteten. Die Übertragung von staatlichem Besitz und höherem öffentlichen Recht in Feudalbesitz diente also der herrschenden Macht in diesem Falle einfach dazu , die Unterstützung des Adels für die eigene politische Linie zu finanzieren, ohne daß damit die wesentlichen Kriterien der territorialen Strukturierung des Reiches auch nur im geringsten zur Diskussion gestellt würden. Aber es kam natürlich vor, daß das durch einen zahlreichen, mächtigen und verzweigten feudalen ordo dargestellte Risiko des Zerfalls in Momenten der Bedrängnis stark zu spüren war.

Verwaltungsgeographie und territoriale Macht

im spätmittelalterlichen Sizilien (13.-14. Jahrhundert)* Von Pietro Corrao und Vincenzo D'Alessandro

Zur Präzisierung muß vorausgeschickt werden, daß dieses Thema so weitläufig und umfangreich ist, daß der hier zur Verfügung stehende Raum es nur erlaubt, einige Hauptpunkte der vielen sich ergebenden Fragen aufzuarbeiten. Die bibliographischen Hinweise müssen also als unentbehrliche Querverweise einstehen, als Beispiele und nicht zuletzt als Material zur Klärung und Motivierung dessen, was hier nur angedeutet werden kann1 • Es sollen vier Aspekte behandelt werden (und es wird einer thematischen und nicht chronologischen Ausrichtung der Vorrang eingeräumt werden): der Ursprun"g und die Konsolidierung der territorialen Ordnung und der Besiedlung Siziliens, und die ersten Probleme des entstehenden kirchlichen Bezirkswesens. Es versteht sich von selbst, daß sich all das in der Hauptsache auf die Normannenzeit bezieht. An zweiter Stelle werden die Modifikationen in der königlichen Verwaltungsgeographie vom Staufischen Zeitalter bis ans Ende des 14. Jahrhunderts dargestellt werden. Und zuletzt werden die Probleme Siziliens im 14. und 15. Jahrhundert behandelt werden, und zwar parallel zur Behauptung der signorilen Macht auf territorialer Basis und dem endgültigen Fußfassen einer Ordnung, die auf den Domanialstädten und deren territoriae gründet.

1. Die Entstehung der Territorialordnung Die Aufteilung des Inselterritoriums in Va/li (siehe Karte 1), ist eine Tatsache, die laut Micheie Amari ,.in allgemeiner Übereinstimmung" den moslemiDie Abschnitte 1 und 3.2. sind von Vincenzo D'Alessandro; die Abschnitte 2 und 3.1 von Pietro Corrao. Die Autoren danken Angioletta Di Gregorio für die Erstellung der Landkarten. Deutsch von Friederike C. Oursin. Eine allgemeine Kulisse für einige der hier behandelten Probleme findet sich in V. D'Alessandro, Spazio geografico e morfologie sociali nella Sicilia del basso Medioevo, in: M . Tangberoni (Hrsg.), Commercio, finanza, funzione pubblica. Stranieri in Sicilia e Sardegna nei secoli XIII-XIV, Napoli 1989, S. 1-52. Die Bibliographie spezifisch zum Problem der öffentlichen VeiWaltungsbezirke des Königreichs Sizilien beschränkt sich hingegen auf einige wenige und ältere Titel: S. Romano, Come Ia Sicilia e stata divisa amministrativamente dall'epoca romana al secolo XIX, in: Atti del X Congresso Internazionale di Scienze Storiche, Roma 1904-1907; V. Epifanio, I valli della Sicilia e Ia loro importanza nella vita dello stato, Napoli 1918; G. Monti, La divisione amministrativa del regno di Sicilia, in: Atti dell'XI Congresso Geografico Italiano, Napoli 1930.

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Verwaltungsgeographie und territoriale Macht

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sehen Eroberern zugeschrieben wird2 • Sie wurde von den Normannen und so Amari3 - besonders von Roger II. erneuert, der die Dreiteilung bestimmte, nach der der Fluß Salso (der alte Imera) den westlichen Vallo di Mazara von dem älteren Val Dernone und dem Vallo di Noto abgrenzte, die ihrerseits von den Flüssen Salso und Simeto begrenzt werden. Jeder der drei Valli dürfte eine Verwaltungsprovinz gewesen sein, deren Ordnung ohne wesentlichen Veränderungen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestehen sollte und anscheinend mit objektiven, politisch-administrativen Erfordernissen konform war und nicht nur mit den physischen und morphologischen Unterschieden der Valli. Die Inselregion ist tatsächlich zu einem Drittel hügelig (der Val di Noto und der Vallo di Mazara), zu einem Viertel gebirgig (der südliche Val Demone, wo der Appenin - von der Straße von Messina unterbrochen - in die Monti Nebrodi übergeht, deren Abhänge vom plötzlichen Anschwellen der saisonalen Gewässer und Sturzbäche zerklüftet sind). Hinter dem nördlichen Gebirgszug der Nebrodi und der Madonie erstreckt sich im Inneren ein ausgedehntes Hochplateau, dessen durchschnittliche Höhe an keiner Stelle unter 300 m abfällt und das sich in der Nähe des Etna bis zu den südöstlichen Monti Iblei hochzieht. Ein Großteil der Region besteht aus bröckeliger Tonerde; das zentrale Gebiet aus gips- und schwefelhaltigem Gestein, daher der karge und relativ unfruchtbare Boden; das südöstliche Gebiet aus kalkhaltigem Boden, der die fruchtbaren Gebiete von Catania bis Ragusa und Gela nährt. Die Ausdehnung des westlichen Vallo di Mazara ist - wenn auch nur um wenig - größer als die der beiden anderen Valli zusammen4• Es ist andererseits auch wahr, daß, abgesehen von der Unterscheidung zwischen einem Sizilien diesseits oder jenseits des Flusses Salso, die Aufteilung in Valli nicht ausreicht, um die Inselregion, mit ihrer komplexen Landkarte von sowohl geographisch als auch kulturell unterschiedlichen Gebieten und Untergebieten zu definieren; ohne die verschiedenen Veränderungen in Betracht zu ziehen, die diesem Szenarium durch (noch wenig bekannte) Naturereignisse oder (nur geringfügig untersuchte) Eingriffe von Menschenhand zugefügt wurden. Es soll wenigstens auf die reichen, gesunden Waldbestände hingewiesen werden, von denen schon Ende des Mittelalters mindestens seit den radikalen Abholzungen im moslemischen Zeitalter nichts mehr übrig war5.

M. Amari, Storia dei Musulmani di Sicilia, hrsg. von C.A. Nallino, Catania 193339, I, S. 607 f. Ebd., I, S. 607 ff.; III, S. 319 f. Siehe hierzu A. Pecora, Sicilia, Torino 1968; F. Milane, Sicilia. La natura e l'uomo, Torino 1960; V. D'Alessandro, Paesaggio agrario, regime della terra e societa rurale (secoli XI-XV), in: Storia della Sicilia, III, Napoli 1980, S. 414 ff. 5 M. Lombard, Le bois dans Ia Mediterranee musulmane: Vlle-XIe siecles. Un probleme cartographü~ . in: Annales ESC, 14 (1959), S. 234 ff., später in ders., Espaces et reseaux du haut moyen äge, Paris 1972, S. 153 ff. ; V. von ralkenhausen, La foresta nella Sicilia normanna, in: La cultura materiale in Sicilia (Circolo semiologico Siciliano), 19 Chitlnlini I Willnwcil

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Pietro Corrao und Vincenzo D'Aiessandro

Der Vallo als territorialer Bezirk verweist in verschiedener Hinsicht auf die moslemischen "aqalim" (singular "iqlim"), also auf die Militär- und Verwaltungsbezirke, bei denen es sich um von Kriegern besetzte Gebiete handelte oder um Gebiete, die unter den Kriegern der Truppen, die die Eroberung durchgeführt hatten (den sogenannten ..gund"), in einzelne Parzellen (die "iqtä") aufgeteilt wurden. Und es muß auch erwähnt werden, daß diese Truppen sich abgesehen von der ethnischen Komponente auf Stammes- oder Verwandtschaftsbasis herausbildeten und daher weder geteilt noch anderen Truppen zugewiesen werden konnten. Aus diesem Grund paßten die moslemischen Herrscher also die Gebiete (die "aqalim") den militärischen Körperschaften (den "gund") an und nicht umgekehrt6 . Es wird angenommen, daß jeder "iqlim" mit einem bewohnten Zentrum in Beziehung stand, das so ausgerüstet und ausgestattet war, die Männer in den Dörfern des "iqlim" vielleicht zum "öffentlichen Freitagsgebet"7 zu empfangen. Dies war also der ländliche Bezirk des urbanen Zentrums, wie schon in der Mitte des 12. Jahrhunderts festgestellt wurde, als Caltobellotta, Corleone, Iato (Giato), Sciacca (im Val di Mazara) oder Caronia (im Val Demone) als Zentren von "iqlim" von verschiedener und ungleicher Ausdehnung erwähnt wurden8 . Auch hierin setzte das moslemische Zeitalter, was die Wiedererlangung der urbanen Geographie der Insel betraf, ein Zeichen. Sie entsprach dem von den neuen Herren übernommenen kulturellen Modell, demzufolge das bewohnte Zentrum der administrative und kommerzielle Knotenpunkt des Territoriums war. In der Beschreibung des Reiches Rogers II. waren Mitte des 12. Jahrhunderts die Städte der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit des Hofgeographen. "Zu dem Zeitpunkt, als wir zur Abfassung unseres Textes schreiten" - schrieb er zufrieden- "besitzt der Souverän der Insel, der erhabene König Roger, 100

Palem1o 1980, S. 73 ff.; P. Corrao, Boschi e legno, in: Uomo e ambiente nel Mezzogiorno normanno-svevo. Atti delle ottave giornate normanno sveve, Bari 1989, S. 135-164. 6 Hierzu siehe außer M . Amari, Storia dei Musulmani, I, S. 256 f., S. 607, Anm. 3; II, S. 46, S. 314 ff.; III, S. 315 ff., C. Caben, L'evolution de l'iqtä' du IXe au XIIe siede. Contribution a une histoire comparee des societes medievales, in: Annales ESC, VIII (1953), S. 25-52 und in: Les peuples musulmanes dans l'histoire medievale, Damaskus 1977, S. 231-269; ders., Ikta, in: Encyclopedie de !'Islam, III, Leiden I Paris 1971, S. 1115 ff.; R. Mantran, L'expansion musulmane (VIIe-XIe sU~cles), Paris 1969, S. 109, S. 139, S. 262 und S. 283 ff. Außerdem H.H. Abdu/ Wabab I F Dacbraoui, Le regime foncier en Sicile au Moyen-Age (IXe et Xe siecles) (edition et traduction d'un chapitre du "Kitäb al-Amwäl" d'al-Däwudi), in: Etudes d'orientalisme dediees a Ia memoire de Levi-Proven~al, II, Paris 1962, s. 401 ff., WO der Landhunger der Eroberer hervorgehoben wird, das Bedürfnis, eine wenig bevölkerte Region zu kolonisieren, die Achtung vor der Arbeit und dem Werk derjenigen, die sich mit Recht oder Gewalt auf einem Landstrich niederließen. Und nun auch F. Maurici, Castelli medievali in Sicilia. Dai bizantini ai normanni, Palermo 1992, S. 87. M . Amari, Storia dei Musulmani, II, S. 316. Ebd., II, S. 315 ff.; III, S. 309. Z.ß. scheint der Bezirk von Iato eine Ausdehnung von Sagana bis Calatafimi zu haben. 1182 enthielt er 42 ländliche Ansiedlungen (ebd., II, S. 318; III, S. 317).

Verwaltungsgeographie und territoriale Macht

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Dörfer und 30 weitere Ortschaften in der Größenordnung zwischen einer Stadt und einem Städtchen." Er schwärmte besonders von den Märkten und beschrieb die größten und am besten bestücktesten bewundernd als "Depots für Güter jeder Art, mit einer großen Vielfalt an Waren und Artikeln", wie im Falle von Agrigent9 • Tatsächlich kann die städtebauliche Geographie der Insel mit dem moslemischen Zeitalter eine weitaus größere Siedlungsdichte vorweisen, als dies in den vorhergehenden Jahrhunderten der Fall gewesen war. Aber es ist auch wahr, daß die Ursprünge der Niederlassungen auf der Insel sehr weit zurückreichen; daß nicht wenige der Burgen und Befestigungen auf die Initiative von byzantinischen Herrschern zurückzuführen sind, die in sehr bevölkerungsarmen Jahrhunderten um die Verteidigung des Territoriums besorgt waren; und daß die neue arabische Toponomastik eine ältere überdeckte und auslöschte 10• Denn allgemein läßt sich sagen, daß auf der Insel im Frühmittelalter die Verteidigung des Territoriums im Mittelpunkt des Interesses stand, während man im Spätmittelalter mehr um die Verteidigung der Menschen besorgt war. Für den neuen Herren Roger I. stellte sich an erster Stelle das Problem, das Territorium zu halten und die Regierung der Besiegten zu organisieren, die es außerdem noch zu christianisieren galt. Zu diesem Zweck disponierte er die zur Verfügung stehenden Kräfte: die lateinische Ordensgeistlichkeit im Gefolge der Eroberer und die griechischen, Überbleibsel auf der Insel oder aus Kalabrien 11 • In seinem Zeitalter ließ sich die erste Einwanderungswelle von "Lombarden" registrieren (wie ganz allgemein die Menschen bezeichnet wurden, die aus der Poebene und dem Norden der Halbinsel stammten), welche die Geschichte der "lombardischen" Gemeinden schreiben sollten (Aidone, Nicosia, Novara, Piazza, San Fratello, Sperlinga). Von nun an stand die Insel allen offen, die dorthin übersiedeln wollten. Christen, Juden und Moslems waren in der Hoffnung, eine Bevölkerungsarmut zu überwinden, die Sizilien vom Ende des 12. Jahrhunderts an auszeichnen sollte, gleichermaßen willkommen. Die Kolonialisierungsanstrengungen sind bekannt und an dieser Stelle soll nur an die Bemühungen von Äbten und Bischöfen erinnert werden, neue Siedlungsgründungen auf dem Land voranzutreiben: an die verschiedenen Wiederbevölkerungsprojekte und an die Staufischen Neugründungen. Zur Zeit des Schwaben erreichte eine weitere beachtliche Gruppe von "Lombarden" die Insel und ließ sich in Corleone nieder. Aus Portugal, von der Allgarve, kamen die Juden (die hier .del Garbo" genannt wurden), welche die Juden Palermos aber nicht aufnehmen wollten. Während des 13. und 14. JahrhunIdrisi, II libro di Ruggero, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von U. Rizzitano, Palermo o.J. (aber 1966), Zitate S. 35 und S. 46. 10 Hierzu vgl. jetzt F. Mattrici, Castelli, S. 13 ff. 11 Vgl. M. Scaduto, II monachesimo basiliano nella Sicilia medievale. Rinascita e decadenza sec. XI-XIV, 1947, phot. Neudruck, Roma 1982; A. Guillou, II monachesimo in Italia meridionale e in Sicilia nelmedioevo, in: L'eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, Milano 1965, S. 358 ff. 19*

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derts kam es auf der Insel zur "großen Krise" der verstreuten Siedlungen12 • Auslösende Faktoren waren in dem vom Bürgerkrieg gekennzeichneten 14. Jahrhundert das sowohl bevölkerungsstatistisch als auch militärisch bedingte Wachstum einiger größerer oder besser befestigter bewohnten Zentren oder Ortschaften sowie das Interesse der Herren und der wichtigsten Großgrundbesitzer. Einige Steuerdaten aus dem Jahr 1283 gestatten eine Hochrechnung der Bevölkerung der Insel in jenem Jahr auf 400.00013• Später lassen einige Daten bezüglich auf die Jahre 1374-1376 für diesen Zeitraum auf eine Inselbevölkerung von ca. 264.000 schließen14 • Noch im 15. Jahrhundert griff man beim Versuch, das Land erneut zu bevölkern, auf das "jus affidandi" zurück, das allen Verbrechern, die sich in den neuen Ansiedlungen niederließen, Straffreiheit gewährte15 . Auch aus diesem Grund ist die Siedlungsgeographie oder das Problem der Entvölkerung der Dörfer in Sizilien vom Ende der Normannenzeit an mit einem Augenmerk auf die bevölkerungsstatistischen und militärischen Gegebenheiten, auf die kontinuierliche Suche nach Landarbeitern sowie auf die von Regierenden und Herren geförderte Mobilität der Menschen zu betrainricb, Die Grafen von Arnstein (Mitteldeutsche Forschungen, 21), Köln I Graz 1961, bes. S. 245 ff., 335 ff., 356 f., 379 ff., 413 ff. 13 0. Vitense, Geschichte von Mecklenburg, Gotha 1920, S. 51 ff.; M . Hamann, Das staatliche Werden Mecklenburgs (Mitteldeutsche Forschungen, 24), Köln I Graz 1962, s. 4-27.

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Mecklenburg hatte seine zeitweiligen Abhängigkeiten und die an seiner Westgrenze wiederholt eingerichteten Marken unter deutschem Regiment ebenso abgeschüttelt, zuletzt 983 in einem großen Aufstand, wie in weiteren Aufständen 1018 und 1066 die Herrschaft der zu Christen gewordenen Oboeritenkönige Mistislav und Gottschalk. Erst unter den Sachsenherzögen Lotbar (110637, deutscher König und Kaiser seit 1125) und Heinrich dem Löwen (1142-80, abgesetzt) erneuerte sich die deutsche Expansion, nun auch hier wie praktisch zeitgleich im Falle Brandenborgs verbunden mit der Kolonisation, als die am weitesten in den (jetzigen) ostholsteinischen Raum hineinragenden slawischen Landschaften Wagrien und Polabien 1138/39 und 1143 erobert wurden und 1143/44 mit Lübeck die erste deutsche Stadt an der Ostseeküste entstand. Mit den Herrschaftsbildungen im Vorfeld - Grafschaften Ratzeburg und Dannenberg 1142 und 1153 - wurden 1149 die Bistümer Oldenburg (im jetzigen Holstein), Ratzeburg und Mecklenburg (bei Wismar), die 1066 zugrundegegangen waren, wiedererrichtet Für sie ließ sich Herzog Heinrich der Löwe 1154 vom Kaiser auftragsweise die Investitur verleihen und stattete sie mit reichen Schenkungen aus - mit jeweils 300 Hufen um Eutin und Bosau das Bistum Oldenburg, mit dem Land Boitin das Bistum Ratzeburg, um Bützow und Ilow das Bistum Mecklenburg14 • 1158/60 erfolgte die endgültige Eroberung und Unterwerfung des Oboeritenlandes mit der Errichtung von Burg und Stadt Schwerin als Herrschaftsmittelpunkt einer vom Herzog von Sachsen lehnsabhängigen Grafschaft Schwerin inmitten eines Systems von Burgwarden im Anschluß an ältere wendische Burgen. 1160 wurde das Bistum Mecklenburg nach Schwerin verlegt, so wie das Bistum Oldenburg nach Lübeck. Somit ging die definitive Eroberung des Obotritenlandes, also des späteren Mecklenburg, auf Heinrich den Löwen zurück. Doch wurde für die weitere Geschichte jenes Arrangement von 1167 bestimmend, mit dem Heinrich, veranlaßt durch Fürstenaufstände in seinem Herzogtum, den größten Teil des Oboeritenreiches - doch ohne die Grafschaft Schwerin - dem unterlegenen, zum Christentum übergetretenen König Pribislav als herzoglich-sächsisches Lehen zurückgab, so wie dies auch die Grafschaft Schwerin war, die nunmehr für zweihundert Jahre eine selbständige Existenz führte. Anders als sowohl im Falle von Meißen wie von Brandenburg gingen in Mecklenburg Herrschaftsbildung, Christianisierung, Kolonisierung weithin letztendlich von dem einheimischen, christlich gewordenen slawischen Königshaus aus. Waren in den beiden Markgrafschaften die Slawen zwar als Volk keineswegs ausgerottet, aber doch ihrer politischen Führungen beraubt worden, indem diese entweder ausgeschaltet oder zur Kooperation gezwungen worden waren, so blieben in Mecklenburg - abgesehen auch hier wieder von 14 K . Jordan, Die Bistumsgründungen Heinrichs des Löwen. Untersuchungen zur Geschichte der ostdeutschen Kolonisation (MGH Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde, 3), Leipzig 1939, S. 67 ff. , 83 ff., 91 ff. , 111 ff.; G. Piscbke, Der Herrschaftsbereich Heinrichs des Löwen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, 2, 32), Hildesheim 1987.

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den drei Bistümern bzw. ihren Stiftsgebieten sowie der Grafschaft Schwerin bis 1358- mit dem angestammten Königsgeschlecht auch nicht unwesentliche Teile der alten Eliten bestehen, um sich freilich auch hier schon bald mit den deutschen Führungsschichten zu verbinden, zu vermischen. Mecklenburg, wie das Land sich später nannte, war zunächst ein dem deutschen Reichskörper rechtlich nur locker eingegliederter Komplex und wurde erst wesentlich später als Herzogtum in den Reichsverband förmlich integriert. Auch in den mecklenburgischen Gebieten - das Land stand nach dem Sturz Heinrichs des Löwen von 1185 bis 1227 noch einmal unter dänischer Oberhoheit und war seit 1229 in vier Linien aufgeteilt- vollzogen sich wie in Meißen und in Brandenburg die gleichen grundlegenden Umwälzungen im ethnischen, wirtschaftlich-sozialen und politischen Bereich, wie sie mit den Begriffen Siedlung, Rodung, Städtegründung umschrieben sind: im Gebiet der Grafschaften und Hochstifte Ratzeburg und Schwerin schon im 12., sonst aber besonders im 13. Jahrhundert, schneller in der Regel in den über die Ostsee zu Schiff leichter erreichbaren küstennahen Regionen, langsamer im mittleren und südlichen Mecklenburg mit Westfalen, Niedersachsen, Holsteinern im Norden und in der Mitte des Landes, mit Brandenburgern im Süden. So waren am Ende des Hochmittelalters um 1250 alle drei Landesherrschaften etabliert, eine jede in ihrer Weise und alle erst mehr oder weniger fertig: am wenigsten der Herrschaftsraum der Markgrafen von Meißen, der mit und nach dem Interregnum und im Grunde erst im 16. Jahrhundert zu Konsolidierung und schließlieber Vergrößerung gelangte, mehr in Mecklenburg, dessen spätere Erstreckung zwar im großen und ganzen schon sichtbar, das aber im Ionern durch die eigenständige Grafschaft Schwerin zerrissen war, am stärksten in Brandenburg, dessen eingelagerte Herrschaft Ruppin von gleicher Bedeutung nicht war, in allen Fällen aber abgesehen von jeweils eingelagerten Landesherrschaften von Bischöfen, Hochstiften also, die in allen Fällen formal reichsunmittelbar, wenn auch faktisch von den Landesherren in ihrer Eigenständigkeit eingeschränkt waren. Wie lief die Entwicklung territorialer und institutioneller Entwicklung nach 1250 weiter? II.

Von den vielen einzelnen, bald größeren, bald kleineren Schritten, mit denen die Markgrafen von Meißen nach 1250 und bis in das 15./16. Jahrhundert hinein kontinuierlich ihren Besitz abrundeten, seien hier nur die wichtigeren und auch nur jene des im engeren Sinne meißnischen, später .,sächsischen" berücksichtigt, nicht aber die des thüringischen Raumes, wie er seit der - im Erbgang erfolgenden Vereinigung der Landgrafschaft Thüringen und der dieser in Personalunion verbundenen Pfalzgrafschaft Sachsen (an der Unstrut) 1264 mit der Markgrafschaft Meißen zum wettinischen Herrschaftsgebiet hinzutrat, womit sich Neu- und Altsiedeiland in einem staatlichen Verband vereinigten. Denn weiterhin soll einerseits die alte Siedlungsgrenze an der Saale

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und andererseits der spätere kursächsische Staat nicht aus dem Auge verloren werden. Immerhin war mit dem Gewinn der Landgrafschaft Thüringen die bisher von Wettin unabhängige kleinstaatliche Welt östlich der Saale von zwei Seiten her anzupacken, vor allem der pleißen- und der vogtländische Reichsgutskomplex15. Hier kam es schon 1254/55 zur Übernahme der Pfandherrschaft über das Pleißenland, weil Kaiser Friedeich II. die Mitgift für seine Tochter Margarethe nicht gezahlt und das Reichsland dazu verpfändet hatte. Später noch einmal vorübergehend eingelöst, kam es 1329 endgültig in die Hand der Wettiner. Bedeutete die Übernahme der Pfandherrschaft zunächst nur, daß die Markgrafen von Wettin in das Amt des königlichen Landrichters im Pleißenland eintraten, so bedurfte es noch einer jahrhundertelangen Bemühung, auch die einzelnen Teile des zerfallenden Reichslandes unter der Herrschaft kleinerer, zunächst im Auftrag des Kaisers tätiger Herren unter wettinische Oberhoheit zu bringen. Die dazu gewählten Mittel waren überwiegend (zumindest nach außen hin) friedliche, doch wurde auch offene Gewaltanwendung nicht verschmäht. So gingen in wettinische Hand über - wir nennen bewußt die Einzelheiten, um die Beharrlichkeit des wettinischen Vorgehens zu verdeutlichen - die kleine Burggrafschaft Döbeln (vor 1286), die Herrschaft Schellenberg, deren Inhaber der Reichsacht verfallen waren (1324). 1329 unterstellten die Wettiner die Burggrafschaft Leisnig, die mit der Herrschaft Motzsehen verbunden war, zunächst ihrer Lehns-, später ihrer vollen Landeshoheit. Den gleichen Weg ging 1350/ 1423 die Herrschaft Wiesenburg. 1356/ 58 wurden im Zusammenhang mit dem Vogtländischen Krieg die Herrschaften Mühltroff, Triptis, Auma, Ziegenrück und Voigtsberg den (ehemaligen Reichs-) Vögten von Plauen abgenommen. 1398 übernahmen die Wettiner als Erben eines Reußen die Herrschaft Schönfeld, so wie 1396/1404 die Burggrafschaft Colditz durch Kauf, 1422 die Herrschaften Schöneck und Crimmitschau, im folgenden Jahr die Herrschaft der Vögte von Weida und 1466 die von Plauen, 1479 die Herrschaft Wolkenstein, 1538 die Herrschaft Penig sowie etwa zur gleichen Zeit, im Zuge der Säkularisation, die an das Kloster Chemnitz gelangte alte Herrschaft Rabenstein, 1533-35 die Herrschaft Schwarzenberg, die schon 1382 meißnisches Lehen geworden war, schließlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach und nach das kleine Wildenfels 16. Nahtlos ging hier die Territorialstaatsbildung vom Spätmittelalter in die frühe Neuzeit über. 15 K. Blascbke, Geschichte Sachsens im Mittelalter, S. 281 ff.; H. Patze I W. Scb/esinger (Hrsg.), Geschichte Thüringens, 1111 (Mitteldeutsche Forschungen, 48111 1), Köln I Wien 1974, S. 48 ff. 16 R. K6tzscbke I H. Kretzscbmar, Sächsische Geschichte, 1, S. 84 ff. K. Blascbke, Geschichte Sachsens im Mittelalter, S. 143 ff.; W. Scblesinger (Hrsg.), Sachsen (Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, 8), Stuttgart 1965 (Siehe die betr. Ortsartikel); D. Rübsamen, Kleine Herrschaftsträger im Pleißenland. Studien zur Geschichte des mitteldeutschen Adels im 13. Jahrhundert, (Mitteldeutsche Forschungen, 95), Köln I Wien 1987.

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Diese Herrschaften wurden dem wettinischen Territorialstaat in der Regel als "Ämter" unter einem Amtmann oder Vogt integriert, doch blieben unintegriert die Herren von Schönburg, die als Reichsministeriale (möglicherweise edelfreier Herkunft) seit 1170 von Glauchau und Lichtenstein aus ihren Herrschaftsbereich aufgebaut und in späterer Zeit um die Herrschaften Meerane (um 1300), Waldenburg (1375/78) und Hartenstein (1406/ 39) vermehrt hatten, zu denen im 16. Jahrhundert weitere Besitzungen unter wettinischer Oberhoheit traten. Seit dem 15. Jahrhundert wurden die Schönburger aber doch in die landständische und die Steuerverfassung der Wettiner einbezogen, ihre Eigenständigkeit wurde damit in wichtigen Punkten erschüttert, ihr letztlich kaum noch zu definierender rechtlicher Status führte zu langwierigen Auseinandersetzungen, die auch ein Formelkompromiß aus dem Jahre 1740 nur unvollkommen beseitigte, bis schließlich 1835/78 die letzten Spuren eigenständiger Herrschaft innerhalb des Königreichs Sachsen aufhörten. Blieben die Schönburger Lande im Westerzgebirge zunächst also in einem unentschiedenen Status, so behielten die (ehemaligen Reichs-)Vögte in Gera, Greiz, Schleiz und Lobenstein an der Grenze nach Thüringen ihre Selbständigkeit, und zwar schließlich als Lande der Fürsten Reuß älterer und jüngerer Linie bis zur Gründung des Landes Thüringen im Jahre 1921 17• Daß hier ein "unbewältigter Rest" (in wettinischer Sicht) bestehen und die Inbesitznahme des pleißenländisch-vogtländischen Reichsgutskomplexes durch die Wettiner letztlich unvollendet blieb, hing einerseits mit den Revindikationsversuchen der deutschen Könige um 1300 zusammen, andererseits mit der Einschaltung des böhmischen Königtums in die territoriale Entwicklung im Erzgebirge 18. Schon 1195-97 hatte ein deutscher König und Kaiser, Heinrich VI., versucht, die Macht der Wettiner durch Einschaltung lehnrechtlicher Mittel zu brechen und die Markgrafschaft Meißen als heimgefallenes Reichslehen einzuziehen, ein Jahrhundert später wiederholte sich nun das Spiel. Nach dem Tode Markgraf Heinrichs des Erlauchten 1288 geriet das wettinische Staatswesen erneut in eine Existenzkrise. König Rudolf von Habsburg nützte die Situation und löste 1290 das Pleißenland noch einmal für das Reich ein. Seine Nachfolger Adolf von Nassau (1291-1298) und Albrecht I. von Habsburg (1298-1308) gingen einen entscheidenden Schritt weiter, als sie 1291 die Mark Meißen (nicht aber die wettinischen Allodialbesitzungen) wiederum als erledigtes Reichslehen einzogen, sie 1296 besetzten, zeitweilig an Böhmen und Brandenburg verpfändeten, schließlich in eigene Verwaltung nahmen, bis mit der Schlacht von Lucka bei Altenburg 1307 Markgraf Friedrich der Freidige (13071323) das Land für die Wettiner wiedereroberte. 1308 holte er auch das Pleißenland zurück, und da gleichzeitig die Inhaber der anderen wettinischen

17 W Scblesinger, Die Landesherrschaft der Herren von Schönburg, Münster I Köln 1954. 18 K. Blascbke, Geschichte Sachsens im Mittelalter, S. 270 ff.

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Teilstaaten ausstarben, vereinigte er den gesamten Hausbesitz19, der auch bis zur Chemnitzer Teilung von 1382 in einer Hand zusammenblieb- zu einer Zeit, die überall in Deutschland von einer fundamentalen Schwäche der Fürsten gekennzeichnet war, im wettinischen Bereich aber dank der wiedergewonnenen Einheit und guter landesherrlicher Verwaltung viel weniger als anderswo sich ausprägte. Nicht in dieser Weise den Staat insgesamt völlig infragestellend, aber doch seine volle Arrondierung verhindernd, war die Unterstützung, die Kaiser Kar! IV. als König im benachbarten Böhmen den noch nicht in den wettinischen Staat integrierten, vor allem erzgebirgischen Herrschaften bot. Denn während seiner Regierung unterstellten zunächst die Schönburger, später auch die Herren von Colditz, Plauen, Eilenburg und Waldenburg ihre Besitzungen böhmischer Lehnshoheit, die sich vor allem für die Schönburger als vorteilhaft erwies, weil sie die volle Eingliederung in den wettinischen Staat verhinderte. Daneben glückten aber den Wertinern im späteren sächsischen Gebiet auch außerhalb der Erzgebirgszone wichtige Akquisitionen. So konnte 1347 die Mark Landsberg (östlich von Halle a.S.) zurückerworben werden, die als altes wettinisches Gut über anderhalb Jahrhunderte hinweg Pfandbesitz wechselnder Herren gewesen war. Der bedeutendste Gewinn war indessen 1423 die Nachfolge in dem an der mittleren Eibe gelegenen Herzogtum Sachsen, das mitsamt der auf ihm beruhenden Kurwürde aus Mangel an Erben dem Reich heimfiel und von Kaiser Sigismund dem Markgrafen von Meißen übertragen wurde20 . Erst von jetzt ab wurde der meißnische Raum und der gesamte Staat der Wettiner "Sachsen" genannt. Auch im östlichen Erzgebirge gelangen zu Anfang des 15. Jahrhunderts bedeutende Erwerbungen, so 1402 unter Ausnutzung einer Fehde die Verdrängung der Burggrafen von Dohna an der Eibe südlich Dresden, die 1406 auch den wichtigen Königstein aufgeben mußten, und 1404 der Erwerb des Elbhafens Pirna zunächst als Pfand, dann für dauernd21 • Eine Grenze fanden die Expansionsbestrebungen der Wettiner aber im Innern an den von den drei Bistümern gebildeten Territorialherrschaften, den Hochstiften. Sie waren im Falle der Bischöfe von Meißen und Naumburg dadurch gekennzeichnet, daß sie von den Amtssitzen der Bischöfe abgetrennt lagen - im Falle Meißens teils westlich der Eibe um Wurzen, teils östlich um 19

65 ff.

H. Wagenfübrer, Friedrich der Freidige 1257-1323, Berlin 1936, S. 36 ff., 55 ff.,

20 W.-D. Mobrmann, Lauenburg oder Wittenberg? Zum Problem des sächsischen Kurstreites bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen, 8), Hitdesheim 1975, wichtig für die Vorgeschichte. 21 R. Kötzscbke I H. Kretzscbmar, Sächsische Geschichte, 1, S. 149.

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Bischofswerda und Stolpen, im Falle Naumburgs überwiegend um Zeitz herum, während Merseburgs Stiftsland sich auf beiden Seiten der Saale erstreckte22 • Das entworfene Bild eines sich weitgehend, wenn auch nicht vollständig konsolidierenden Staates bedarf der Ergänzung durch einen Blick auf die diese Integration in Frage stellenden Landesteilungen, zunächst im späten 13. Jahrhundert und dann wieder vor allem ab 1382 (Chemnitzer Teilungi3. W. Schlesinger hat gezeigt, wie sich an und mit den Landesteilungen sehr gut das sich wandelnde Selbstverständnis der Landesherren im meißnischsächsischen Raum aufweisen läßt. Hatte man hier "im 12. Jahrhundert bei der Besitzteilung noch auf die einzelnen Reichslehen Rücksicht genommen und sie auch vom Allodialbesitz unterschieden, so geschah dies schon im 13. Jahrhundert nur noch zum Teil", während die Landesherren des 14. Jahrhunderts die reichsrechtliche Grundlage darüber hinaus "von Fall zu Fall ignoriert" haben. "Sie haben ohne königliche Genehmigung die Reichslande an Seitenverwandte gegeben, geteilt, verkauft, verpfändet und überhaupt über sie frei verfügt". Ungehemmt vollzog sich "das Vordringen des allodialen Erbgedankens" mit dem "Anspruch, über die Lehen wie über Eigengut auch zu Lebzeiten verfügen zu können, also das Recht der Veräußerung . . . in den meisten Fällen gegen Geld, in der Form der Verpfändung oder des Verkaufs", wobei dann auch, entsprechend der vordringenden Geldwirtschaft, "die Begleichung von Geldschulden durch Hingabe von nutzbringenden Herrschaftsrechten" massenweise praktiziert wurde24 • Wie sehr immer die Landesteilungen im wettinischen Raum die zügige Staatsbildung behindert haben mögen, so ist diese doch letztlich nicht verhindert worden, weil ihren fraglos schädlichen Konsequenzen die langen Regierungen tatkräftiger Markgrafen erfolgreich entgegenzuwirken vermochten. Unter ihnen vollzog sich zunächst und vor allem der ständische Ausgleich zwischen den höchst unerschiedlichen Gruppen, die sich, einstmals selbständige Herren, von den wettinischen Landesherren in den Dienst stellen ließen, um - deutlich sichtbar im Lehnbuch Markgraf Friedrichs des Strengen 1349/50 -schließlich in zwei Gruppen aufzugehen: einer kleinen Gruppe von ,.Grafen und Herren", nämlich thüringischer Grafen, Edelfreier besonders aus burggräflichen Geschlechtern, Reichsdienstmannen und markgräflichen Ministerialen einerseits und einer großen Zahl landesherrlicher ,.Ritterschaft" aus der Mehrzahl der ehemaligen Reichsministerialen und markgräflichen DienstSiehe unten, Anm. 46. H. Bescborner, Die Chemnitzer Teilung der wettinischen Lande von 1382 im Kartenbilde. Mit einer Kartenbeilage, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte, 54 (1933), s. 135-142. 24 W. Scblesinger, Zur Geschichte der Landesherrschaft in den Marken Brandenburg und Meißen während des 14. Jahrhunderts, in: H. Patze (Hrsg.), Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, II (Vorträge und Forschungen, 14) , Sigmaringen 1971. 22

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mannen, Burgmannen andererseits, deren unterschiedliche Herkunft rasch hinter den gleichen Rechten, Pflichten und Betätigungen im Dienste des Markgrafen zurücktraten - gleichem Gerichtsstand, gleicher Lehnsabhängigkeit und gleicher Dienstverpflichtung25• Die Ausbildung dieser im Dienste des Landesherren stehenden Ritterschaft war zugleich die Voraussetzung für den Aufbau einer kleinräumigen, straffen, gleichmäßigen Verwaltungs- und Gerichtsstruktur in dem von den Landesherren jeweils beherrschten Gebiet und sich mit diesem auch auf Neuerwerbungen ausdehnend, für den Auf- und Ausbau der Vogteiverfassung. So wie in der Mitte des 13. Jahrhunderts auf oberer Ebene die alten Landdinge des Markgrafen als Gerichtstermine für die freiwillige, die Zivil- und die Lehnsgerichtsbarkeit über Edelfreie und Ministeriale sowie zwischen beiden Gruppen vom markgräflichen Hofgericht abgelöst wurde, traten auf der unteren Ebene für die Masse der Bevölkerung die weiträumigen, nach Lehnrecht innegehabten Burggrafengerichte, deren Inhaber abgefunden oder beseitigt wurden, nach und nach im 13. und frühen 14. Jahrhundert zurück hinter den kleinräumigen, nach Dienstrecht verwalteten Gerichten landesherrlicher Vögte oder Amtmänner, die zugleich auch für die Verwaltung der landesherrlichen domanialen Rechte und die Einnahme der Steuern (der "Beden", wie sie zunächst hießen) zuständig waren. Die Vögte oder Amtmänner hatten ihren Dienstsitz auf landesherrlichen Burgen, in deren Schutz sich Städte entwickelten26. Dieser Prozeß setzte im späten 12. Jahrhundert ein, um im wesentlichen zu Beginn des 14. Jahrhunderts seinen Abschluß zu finden, soweit nicht zusätzliche Gebietserwerbungen die Einrichtung neuer Vogteien (Ämter) erforderten. Die Ausbreitung der markgräflichen Vogtei- oder Ämterverfassung läßt sich sehr deutlich erkennen, wenn man z.B. das obengenannte Lehnbuch von 1349/50 und das "Registrum Dominorum Marchionum Mißnensium" von 1378 mit der "Vorzeichnung der Erbarmannschaft in den Pflegen" von 1445 vergleicht, nämlich einmal die Ausbreitung im Zusammenhang mit den territorialen Erweiterungen, sodann aber auch nach innen hin im Sinne einer tendenziell intensiveren Flächenerfassung und herrschaftlicher Verdichtung durch die vogteiliehe Herrschaftsausübung im Auftrag des Landesherren27 • Auf der anderen Seite wirkte sich die von Anfang an bestehende Verbindung von Territorialbildung und Landesausbau unwiderruflich auf die politische Struktur im lokalen Bereich aus. Rodung und Siedlung besaßen nicht nur 25 H. Helbig, Der wettinische Ständestaat. Untersuchungen zur Geschichte des Ständewesens und der landständischen Verfassung in Mitteldeutschland bis 1485 (Mitteldeutsche Forschungen, 4), Münster I Köln 1955. 26 H.-B. Meyer, Hof- und Zentralverwaltung der Wettiner in der Zeit einheitlicher Herrschaft ... 1248-1372, Leipzig 1902. 27 W Lippert I H. Bescbomer (Hrsg.), Das Lehnbuch Friedeichs des Strengen 1349150, Leipzig 1903; H. Bescborner (Hrsg.), Registrum Dominorum Marchionum Misnensium 1378, Leipzig I Berlin 1933.

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ihre genossenschaftliche, sondern auch ihre herrschaftliche Seite. Gewiß waren auch die Landesherren selbst Siedlungsherren (oder Erben und Nachfolger von siedlungsanleitenden Landesherren), die in den für sie selbst reservierten Gebieten sowohl die Ansiedlung wie die spätere grundherrliche und gerichtsherrliche Führung der Siedler ihren Vögten/Amtmännern übertragen hatten. Andere Teile der unerschlossenen Landmasse waren aber an edelfreie Herren und Ministerialen der unterschiedlichen Gruppen ausgegeben, die im Sinne Iehns- oder dienstrechtlicher Verpflichtung zu Rats- und Kriegsdiensten zur Verfügung standen und ihrerseits im Rahmen der ihnen zugewiesenen Lehnsoder Dienstgüter Rodung und Siedlung in großem Stil betrieben28• Die große Finanzkrise, in die alle deutschen, auch die wettinischen Fürsten im 14. Jahrhundert, gerieten - von den Landesteilungen und der mit ihnen einhergehenden Kommerzialisierung der Herrschaftsrechte wurde gesprochen -, wirkte in der gleichen Richtung einer Aufsplitterung der Herrschaftsrechte durch ihre Abtretung an die nachgeordneten Herrschaftsträger weiter. So trat sehr oft zu der Überlassung des Niedergerichts die des Hochgerichts an adlige und geistliche Herren, auch an Städte oder einzelne Bürger. Doch ging diese Atomisierung der Herrschaft auf lokaler Ebene selbst in der Periode der Landesteilungen im meißnisch-wettinischen Herrschaftsbereich nie so weit, daß der staatliche Zusammenhalt in Frage gestellt worden wäre. Wie kompliziert die Verfassungs- und Verwaltungsstruktur in concreto gewesen ist, verdeutlichen die Erbbücher besonders des 16. Jahrhunderts, Verzeichnisse über die den Landesherren in ihren Vogteien oder Ämtern verbliebenen grund- und gerichtsherrlichen Rechte, die aber die schon im 15. Jahrhundert vorhandene Struktur grosso modo widerspiegeln. Eine aufgrund eines Amtsbuchs des Amtes Pegau-Groitzsch vom Jahre 1548 erarbeitete Karte verdeutlicht, wie unterschiedlich von Ort zu Ort die Strukturen waren. In diesem Amt besaß der Landesherr als Grundherr nur 2,2% des bebauten Landes und belief sich sein Anteil an der Niedergerichtsbarkeit auf 14,5%, während er an der Obergerichtsbarkeit mit 39,4% beteiligt war und sogar 78,4% der Gerichtsbarkeit "auf den Fluren", also außerhalb der Dorfzäune, innehatte, d .h. in fast allen Orten mit eigenen, verbliebenen Hoheitsrechten präsent war9. Zwei weitere Beobachtungen seien noch angefügt, nämlich zunächst die Tatsache, daß, wie unverkennbar auch die Wettiner im 14. und 15. Jahrhundert gleich den anderen deutschen Fürsten zu den gewagtesten Manövern gezwungen waren, um sich aus finanziellen Schwierigkeiten zu befreien, sie 28 Die herrschaftliche Seite der Siedlung wird leicht übersehen (K. Blascbke, Geschichte Sachsens im Mittelalter, S. 77 ff.). Siehe dazu]. Schulze, Die Besiedlung der Mark Brandenburg im hohen und späten Mittelalter, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 28 0979), S. 117 ff.: "Nicht die Landnahme .. . ,sondern die Landvergabe ... war ... der rechtlich entscheidende Vorgang". 29 A . Gntndel, Landesverwaltung und Finanzwesen in der Pflege Groitzsch-Pegau ... bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts, Leipzig 1911, S. 42 ff., bes. 180 ff.

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doch, nachdem einmal die sogenannte ordentliche Bede (Landsteuer) im 14. Jahrhundert- um 1330- festgelegt und vereinbart worden war, im 14. und 15. Jahrhundert auf außerordentliche Beden, wie sie ja mit Zustimmung der Landstände, also auf Konsensbasis, möglich blieben, immer nur sehr begrenzt zurückgegriffen, sie immer nur einzelnen Ämter auferlegt, aber nie generell erhoben haben. Damit steht im Zusammenhang, daß, weil die Steuern nur in Grenzen und erst spät erhoben wurden, in den wettinischen Landen die Bildung einer landständischen Verfassung für das ganze Gebiet lange herausgezögert werden konnte und diese sich erstmals 1438, also sehr spät, konstituierte, um auch in der Folgezeit nur begrenzte Tätigkeiten zu entwickeln, nämlich sich auf die Steuerfragen zu beschränken: ,.Höhere politische Forderungen haben sie niemals erwogen", wie H. Helbig abschließend urteilt, um fortzufahren: ,.Damit begaben sie [die Stände] sich vorerst selbst der Möglichkeit, zu einem neben dem Landesherrn gleichberechtigten, den Staat mittragenden Faktor zu werden" 30. Fragt man nach den Ursachen dieser relativen Unabhängigkeit der Landesherren von ständischer Mitwirkung in Meißen/Sachsen, dann wird immer wieder an die Tatsache des Bergsegens zu erinnern sein, an den erzgebirgischen Bergbau auf Silber und andere Metalle seit dem späten 12. Jahrhundert (Freiberg), der mit Hilfe neuer Techniken und neuer Funde im späten 15. Jahrhundert zu großartigen Dimensionen ausgeweitet werden konnte, nachdem er allerdings eine Zeitlang darniedergelegen haue. Ein letztes Charakteristikum und zugleich Ausdruck einer geordneten Landesverwaltung auch im Zeitalter der Landesteilungen scheint, wenn nicht der Eindruck täuscht, das Fehlen von Straßenraub, Brandstiftung, Geiselnahme, Mord und Totschlag nicht völlig, aber doch im großen Stil zu sein, wie es im späten Mittelalter manche anderen deutschen Territorien geprägt hat, nicht zuletzt Brandenburg und Mecklenburg31 • Die flächendeckende Ausgestaltung der Vogtei/ÄmteiVerfassung, die auch im lokalen Bereich vorhandene landesherrliche Präsenz, die lange Verhinderung landständischer Mitbestimmung und das nur begrenzte Vorkommen von Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit großen Stils waren Anzeichen eines relativ sicheren und geordneten Landes trotz der auch hier nicht fehlenden Landesteilungen und sonstigen Kalamitäten und Engpässe. Für die Masse der Landbevölkerung bedeutete die Tatsache, daß die Macht der Grundherren fast überall durch den Anteillandesherrlicher Mitherrschaft auf unterer Ebene begrenzt blieb, einen bedeutsamen Schutz. Man spricht von der Mitteldeutschen Grundherrschaft, die eine einseitige, ausschließlich im Sinn der Grundherren mögliche Ausnutzung der Bauern verhindert hat. Für Brandenburg hatte gezeigt werden können, wie bis zum Ende des Hohen Mittelalters die künftige Gestaltung des Territoriums nach außen hin zu einem ziemlichen Abschluß gekommen und dynastische Konkurrenten im 30

H. Helbig, Der wettinische Ständestaat, S. 463.

31

R. Kötzschke I H. Kretzschmar, Sächsische Geschichte, 1, S. 138 ff., 142 ff., 164 ff.

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Landesinnern weitgehend ausgeschaltet waren. Seit 1258 war auch hier die Landesherrschaft durch Teilungen geschwächt, und dies in immer neuen Formen, bis 1317-19 der letzte Askanier, Markgraf Waldemar, das Ganze noch einmal kurzfristig vereinigen konnte. Die Zeit der späten Askanier war zugleich eine solche der ruinösen Kriege mit allen Nachbarn - Mecklenburg, Pommern, Polen, Meißen-Sachsen, Magdeburg, Böhmen. Nach dem Tode Waldemars ging die Herrschaft 1323 auf Markgrafen aus dem wittelsbachischen Hause über - Kaiser war Ludwig der Bayer (1314-1346) -, unter denen das Land in eine Zeit nicht endender Wirren und Kriege hineingezogen wurde. 1365 ging zunächst nur verwaltungsmäßig, ab 1373 definitiv die völlig ruinierte Mark an Kaiser Karl IV. als König von Böhmen über, dem ebenfalls aus dem luxemburgisch-böhmischen Hause Sigismund und Jobst folgten, bis sie stufenweise 1411/1415/ 1447 an Friedrich, den Burggrafen von Nürnberg aus hohenzollernschem Hause, gelangte32. Auch Brandenburg hatte (gleich Meißen/Sachsen) zunächst eine landsässige Ritterschaft hervorgebracht und eine Vogteiverfassung aufgebaut, dann aber einen anderen Weg genommen. In Brandenburg verschwanden zunächst auch seit den 90er Jahren des 12. Jahrhunderts die nobiles zugunsten der Ministerialen aus den Zeugenreihen, was mit der schon erwähnten Verdrängung oder Ein- und Unterordnung der Dynasten zusammenhing - von der Domestizierung der Gans zu Putlitz und ihrer Einfügung in die märkische Ritterschaft wurde gesprochen. In den Quellen des 13. Jahrhunderts setzte sich dann immer stärker der Begriff "Miles" anstelle des Ministerialen durch als eine Sammelbezeichnung für einen neuen Berufsstand, in den, wie in Meißen-Sachsen, auch wieder unfreie, dienstmännische und edelfreie Krieger zu einem neuen Stand mit Blick auf den Territorialherren ohne personenrechtliche Unterschiede zusammengefaßt waren. Mit ihrer Hilfe konnte im späten 12. und im 13. Jahrhundert, ähnlich wie in Meißen auch in Brandenburg, freilich schon nach einer sehr viel kürzeren Zeit, anstelle der ältesten Landesverwaltung durch Burggrafen eine Vogteiverfassung aufgerichtet werden, bei der mit Dienstvertrag angestellte Vögte oder Amtmänner in der Weise ihrer meißnisch-sächsischen Kollegen mit der höheren Zivil- und Kriminalgerichtsbarkeit die Verwaltung domanialer und steuerlicher Rechte des Landesherrn in ihrer Hand vereinigten33 . Doch führte die Entwicklung vor allem des 14. Jahrhunderts zu Ergebnissen und Konsequenzen, die sich mit den meißnisch-sächsischen nur noch bedingt, schließlich nicht mehr vergleichen lassen. Schon die Kriege der späten Askanier, sodann Jahrzehnte fremder Herrschaften, die im Lande stets nur ein Ausbeutungsobjekt sahen und es entsprechend behandelten, lange Jahre innerer Wirren um den als angeblichen Erben der askanischen Markgrafen 32 ]. 33

Scbultze, Die Mark Brandenburg, 2.

W. tJOn Sommer:feld, Beiträge zur Verfassungs- und Ständegeschichte der Mark

Brandenburg im Mittelalter, Leipzig 1904, S. 126 ff.; G. Winter, Die Ministerialität in Drandenburg, München I Berlin 1922, S. 25 ff., 66 ff., 86 ff.

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von Kaiser Kar! IV. gegen die wittelsbachische Herrschaft aufgestellten sogenannten Falschen Waldemac - wer und was er wirklich war, ist letztlich bis heute nicht bekannt - und die wiederholten Bannungen Markgraf Ludwigs ruinierten die Mark bis auf den Grund. Um die Jahrhundertmitte traten die Seuchen dazu (Pest). An seinem Ende herrschte jahrzehntelang ein Chaos praktisch unausrottbar mit Fehdewesen, Brandstiftungen, Straßenräuberei, Menschenraub, Erpressung, mit einer völligen Zerrüttung der inneren Ordnung, in denen als Raubritter berühmt gewordene Strauchdiebe wie die Herren von Quitzow aus dem kleinen Landadel ganze Landesteile kontrollierten, in Form mittelalterlicher Mafiosi tyrannisierten und "Schutzgelder" erpreßten, nicht nur von Einzelnen, sondern von Städten, und dafür Schutz gegen äußere Feinde "garantierten" -Raubritter als Inhaber der staatlichen Zwangsgewalt34 • Wie in Meißen/Sachsen so hatte auch in Brandenburg am Anfang die Verbindung von Territorienbildung und Landesausbau gestanden und wie dort hatten neben den Landesherrn vor allem die Adligen, hatte die Ritterschaft Anteil an Rodung und Siedlung und damit gleichzeitig an der Ausübung zunächst der Niedergerichtsbarkeit gehabt35• Aber anders als in Meißen/Sachsen erweiterte sich der Umkreis vor allem adlig-ritterschaftlicher lokaler Herrschaftsgewalt in jenem schwierigen 14. Jahrhundert durch Übergang auch des Hochgerichts, der Steuereinnahme, der Militärdienste durch Kauf, Pfanderwerb, z.T. auch durch schlichte Ersitzung von den Landesherren auf die lokalen Gewalthaber. Verbreitet kam es in der Mark zur Ausbildung von Pseudoterritorien, von großen, geschlossenen Bezirken in der Hand mächtiger niederadliger Ritter, in welchen der Markgraf praktisch keinerlei Hoheitsrechte mehr besaß und ausüben konnte. Eine Folge war das Zerbrechen der VogteilÄmterverfassung besonders in den wüsten Jahrzehnten der wittelsbachischen Herrschaft in Brandenburg. Die Befugnisse der Vögte/Amtleute blieben nur in den dem Landesherren unmittelbar gehörenden Herrschaftsgebieten bestehen, die Herrschaften von Klerus, Adel und Städten waren von ihnen eximiert. Das Land zerfiel somit portions- oder komplexweise in zwei Herrschaftszonen: in die Teile, welche der Markgraf als Domanium verwaltete bzw. durch seine Vögte/ Amtleute verwalten ließ, und jene Teile, die ausschließlich der adligen Herrschaft in praktisch jeder Hinsicht unterstanden, wobei natürlich auch geistliche Herren oder Städte korporativ oder auch einzelne ihrer Bürger im Besitz geschlossener Lokalherrschaft über einzelne Dörfer oder ganze Dörferkomplexe, sogenannte Herrschaften, sein konnten 36. Daß unter den geschilderten Verhältnissen auch die landständische Verfassung eine große Bedeutung erlangen mußte, will einleuchten. Denn trotz der 34 W Hoppe, Die Quitzows, in: Forschungen zur brandenburgisch-preul~ischen Geschichte, 43 0930), S. 22-43. 35 H. HelbiM, Gesellschaft und Wirtschaft der Mark Brandenburg im Mittelalter (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 41), Berlin I New York 1973; H.-K. Schulze, Die Besiedlung der Mark Brandenburg, S. 42-178. 36 0. Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk, 5. Auf!., Berlin 1915, S. 52 ff.

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massenhaften Verschleuderungen von landesherrlichem Besitz und Hoheitsrechten mußten in den chaotischen Jahren immer und immer wieder allgemeine außerordentliche Steuern (Beden) angefordert werden, die der Bewilligung durch die Landstände bedurften37• Ausgangspunkt für den ersten allgemeinen, Ritterschaft und Städte umfassenden Landtag 1345- einschließlich der Alt- und der Neumark sowie der Hochstifte - war eine von Markgraf Ludwig erwogene finanzielle Belastung der Untertanen im Zusammenhang mit einer drastischen Münzabwertung, die mit offener Widerstandsdrohung abgewehrt worden war. Auch in der Folgezeit mußten außerordentliche finanzielle Leistungen der Stände immer wieder mit der Ausgabe neuer und der Bestätigung alter erworbener Rechte erkauft werden, und schließlich führten die Zustände dahin, daß die Landstände und vor allem die Ritterschaft durch die Einsetzung eines ständischen Regimentes die Herrschaft der von außerhalb des Landes kommenden Markgrafen und ihrer Berater auszuschalten unternahmen, über Jahre hin (1354/55-65). Einungen der Städte versuchten, mit eigner Macht den fehlenden Landfrieden wenigstens für ihre Bedürfnisse zu sichern38. Die 1411 von Kaiser Sigismund als Verwalter, 1415 als Markgrafen eingesetzten und 1417 feierlich belehnten Hohenzollern, wie erfolgreich sie immer zunächst vor allem die terroristische Gewalt der Quitzows und ihrer Spießgefährten bekämpften, ohne freilich selbst auf diesem Gebiet definitiv Schluß machen zu können, haben die entstandene Grundstruktur, die ständische Gewalt auf lokaler und gesamt-brandenburgischer Ebene bis zum Ausgang des Mittelalters und darüber hinaus nicht verändern können, vielmehr hinnehmen müssen. Bis in das 16. und 17. Jahrhundert hinein haben ständig erneuerte und sich steigernde Geldforderungen der Landesherren die Abhängigkeit von den Ständen wachsen lassen, und noch unter dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1640-88) erkauften sich 1653 die Hohenzollern freie Hand im Bereich von Politik und Militär nur auf Kosten einer weitgehenden Fixierung ständischer Rechte im lokalen Bereich- so daß noch im 19. Jahrhundert nach unten hin .der Preußische Staat beim Landrat aufhörte"39. Das bedeutete zugleich, daß die im späten Mittelalter entstandene und praktisch alle im örtlichen Bereich relevanten Hoheitsrechte umfassende lokale Herrschaft der Grundherren, besser Gutsherren, wie sie sogleich am Beispiel Mecklenburgs zu erläutern sein wird, in weiten Teilen Brandenburgs sich durchsetzte, die die Bewohner des Landes, soweit sie adelige Gutsuntertanen waren, zu mediatisierten Landesuntertanen werden ließ. Eine Karte über die 37 E. Engel, Feudalherren, Lehnbürger und Bauern in der Altmark. Eine Analyse der ländlichen Sozialstruktur anhand des brandenburgischen Landbuchs von 1375, Phil. Diss., Berlin-Ost 1963 (Masch.). 38 0. Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk, S. 66 ff.; ]. Scbttltze, Die Mark Brandenburg, 2, S. 67 ff. 39 0 . Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk, S. 112 ff., 206 ff.

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Verteilung des markbrandenburgischen Grundbesitzes in der Mitte des 16. Jahrhunderts verdeutlicht, wie verstreut der im ganzen nur einen kleineren Teil des Landes umfassende Domanialbesitz des Landesherrn inmitten großer, primär von Adel und Kirche besessener Gebiete war, vermittelt aber auch zugleich, welch einen gewaltigen Zuwachs später die Säkularisierung des kirchlichen Besitzes im 16. Jahrhundert für die Ausdehnung des von den Landesherren unmittelbar beherrschten Gebietes bedeutete. Das Schicksal Mecklenburgs ist dem Brandenburgs nicht unähnlich gewesen, ebenso in Hinblick auf die Ur~achen wie auf die Folgen. Seit 1229 bestanden hier nicht weniger als vier Linien des regierenden Hauses nebeneinander: die Linie Mecklenburg (mit der gleichnamigen Burg und der Stadt Wismar), Wenden (auch Werle genannt, mit der Stadt Güstrow), Rostock und Parchim, von denen die letzte schon 1256 durch Herrschaftsverzicht aufhörte zu bestehen und unter die anderen Linien aufgeteilt wurde. Auch in Mecklenburg herrschten lange unruhige Zeiten mit verbissenen Kämpfen der Fürsten gegeneinander und mit auswärtigen Feinden, mit Fehden, Raubrittertum, Mord und Brand, in denen sich die Fürsten nur mit Hilfe ihrer Ritterschaften und Städte zu halten vermochten und ihren Dank mit Spenden aus der Substanz ihrer Landeshoheit erstatteten40 , Brandenburg nicht unähnlich und wie Brandenburg ohne jenen Rückhalt, wie ihn in Meißen/ Sachsen seinen Fürsten der Erzbergbau bot. Auf der anderen Seite brachte das 14. Jahrhundert den Rückgewinn der Landeseinheit Dominierend war und wurde hierbei im engen Sinne die Mecklenburgische Linie, die dann mit dem Namen ihrer Stammburg dem ganzen Land den Namen gab. 1299/1317 erwarb sie von der Mark Brandenburg das im Südosten Mecklenburgs liegende Land Stargard zurück, verschuldete sich freilich dabei zusätzlich ebenso wie durch die Kämpfe mit den mächtigen Seestädten Rostock und Wismar. Den Anschluß des Fürstentums Rostock, das 1301 an Dänemark gefallen und 1317 an Mecklenburg zu Lehen gegeben, von diesem aber zunächst weiterverpfändet und schließlich im Jahre 1319 erobert worden war, darf man als den bedeutendsten Erfolg und Gewinn der Mecklenhurger bezeichnen. Auch diese Politik mußte mit immer neuen Verpfändungen bezahlt werden. Immerhin aber wurde Mecklenhurg 1348 in Prag durch Kaiser Karl IV. zu einem unmittelbaren Reichslehen erhoben und wurden seine Inhaber zu Reichsfürsten erklärt - als Gegenleistung für ihre Unterstützung bei seiner umstrittenen Wahl zum deutschen König. Kurz darauf fiel schließlich die Grafschaft Schwerin, die bis dahin noch als eigenes Herrschaftsgebiet wie ein Block inmitten des mecklenhurgischen Landes gelegen hatte, an Mecklenhurg, das damit seine bleibende Hauptstadt gewann, nachdem der letzte Graf gestorben und sein im fernen Teekienburg lehender Erbe 1359 abgefunden worden war. 10 0 . Vitense, Geschichte von Mecklenhurg, S. 92 ff.; M . Hamann, Das staatliche Werden Mecklenburgs, S. 10 ff.

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Daß auf der einen Seite die Fatamorgana eines Nordischen Königtums in mecklenburgischer Hand auftauchen und- mit viel Geld- 1371 wohl in Schweden, doch nicht 1375 in Dänemark verwirklicht werden konnte, aber 1389 auch in Schweden wieder entfiel, und auf der anderen Seite um die gleiche Zeit die Ostsee zum Tummelplatz von Seeräubern und das Land von Raubrittern wurde, verdeutlicht die Misere des mecklenburgischen Staates, dessen einheimische Fürsten das Unglück hervorbrachten, welches in Brandenburg Fremde dem Lande auferlegten. Als 1436 das Fürstentum Wenden (Werle-Güstrow) im Erbgang an die Linien Schwerin und Stargard und schließlich 1471 diese als letzte an Schwerin kam, war erstmalig seit dem Beginn der Eroberung durch Heinrich den Löwen das Land wieder in einer Hand vereinigt, freilich in einer schwachen Hand, der Heinrichs des Dicken, unter dessen Regiment das Landesfürstentum den Ausverkauf seiner Rechte weiterbetrieb, bis mit Herzog Magnus 1477 ein fähiger Herrscher an die Regierung kam, der für kurze Zeit eine Chance bot, Mecklenburgs staatliche Verhältnisse auf Dauer zu verbessern, eine Chance, die dann aber unter seinen Nachfolgern sogleich wieder und nun für immer verspielt wurde. Die landständische Verfassung Mecklenburgs41 entwickelte sich zuerst in den Teilstaaten, und zwar schon in den siebziger und achtziger Jahren des 13. Jahrhunderts. Hatten sich zuvor die Fürsten des Rates einzelner bedeutender weltlicher und geistlicher Großer ihrer Länder bedient, so beriefen sie in dieser Zeit erstmals die Vasallen in ihrer jeweiligen Gesamtheit zusammen. In der Herrschaft Mecklenburg war dies 1275 bis 1277 mehrfach der Fall im Zusammenhang mit den Fragen vormundschaftlicher Regierung nach der Gefangennahme Herzog Heinrichs des Pilgers in Ägypten und in gleicher Weise in der Herrschaft Rostock seit 1282, ebenfalls im Zusammenhang mit einer Vormundschaftsregierung. Auch die beiden wichtigen Seestädte Wismar dort und Rostock hier hatten an den Verhandlungen, wenn auch nur beigeordnet, Anteil. In der Herrschaft Werle und der Grafschaft Schwerin waren 1276 bzw. 1279 Finanzfragen der Ausgang landständischer Verfassungen, indem zur Tilgung fürstlicher Schulden außerordentliche Steuern, "Landbeden", vereinbart wurden; die Städte waren noch nicht, die Geistlichkeit war nur einmalig beteiligt. Auf diesen Grundlagen entwickelten sich landständische Verfassungen in den Teilstaaten. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts waren hier auch die besonders wirtschaftlich wichtigen Städte, seit dem 15. schließlich die Prälaten anwesend. Die politische Bedeutung der Stände war wohl im übrigen in den Teil~ 1 M . Hamann, Das staatliche Werden Mecklenburgs, S. 15 ff.; W Grohmann, Das Kanzleiwesen der Grafen von Schwerin und der Herzöge von Mecklenburg-Schwerin im Mittelalter, in: Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, 92 (1928), S. 4-88, bes. S. 42 ff. (Reformen Magnus' II.); P. Steinmann, Geschichte der Landessteuern und der Landstände in Mecklenburg bis gegen Ende des 13. Jahrhunderts, in: Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 88 (1924), S. 10-58.

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staaten verschieden, wie es heißt, am geringsten in der Herrschaft Mecklenburg, größer in Werle und im Lande Stargard, dem schon in seiner brandenburgischen Zeit 1304 ein Widerstandsrecht gegen den Landesherren verbrieft worden war. Allgemein besaßen die mecklenburgischen Ständeversammlungen im späten Mittelalter das Steuerbewilligungsrecht Zugleich mit dem Landtag entwickelte sich der landesherrliche Rat seit den achtziger Jahren des 13. Jahrhunderts, in welchem vornehme adelige Herren des Landes, die sogenannten "Landräte", eine bedeutende Rolle spielten. Der erste mecklenburgische Gesamtlandtag trat aber erst 1484 unter Herzog Magnus zusammen, nachdem die mecklenburgischen Teilherrschaften an die Linie Mecklenburg gefallen waren. Sah es eine Zeitlang so aus, als würden die mecklenburgischen Stände noch einmal zurückgedrängt werden können, so führte die unbedachte und unkluge Politik der Nachfolger Herzog Magnus' schon 1523 anläßtich neuer Schulden und neuer Teilungen über die Teilungsgrenzen hinweg zur Bildung einer Union der Landstände, die bis 1918 die Ständeversammlung zum Garanten mecklenburgischer Staatseinheit und damit zum eigentlichen Souveränitätsträger werden ließ, während die Fürsten ihnen gegenüber zurücktraten. Wie Brandenburg, insgesamt noch konsequenter, ist Mecklenburg portionsund komplexweise ein vom Dualismus des Fürstentums und der ständischen Kräfte geformter Staat geworden und - anders als später Brandenburg-Preußen - auch geblieben. Die landesherrlichen Domanialgebiete lagen unverbunden neben adeligem, auch geistlichem oder städtischem Landbesitz, der in fast jeder Hinsicht - verwaltungs- und gerichtsmäßig, auch im Blick auf Kriegsund Steuerdienste - von herzoglicher Einwirkung frei blieb. Dies hat das politisch-soziale Leben in beiden Gebieten über die Jahrhunderte der Neuzeit weg und bis 1918, ja 1945 zutiefst geprägt. Die abgeschlossene Gutsherrschaft, wie sie sich im 14. und 15. Jahrhundert entwickelte, bot den Gutsbesitzern ideale Voraussetzungen, den im späten 15. Jahrhundert einsetzenden Getreideexport aus dem Ostseeraum nach West- und Südeuropa und den damit gegebenen Profitchancen voll zu entsprechen: durch Übergang in die Eigenbewirtschaftung ihres Landes unter Wegnahme des bäuerlichen Landes ("Bauernlegen"), durch die Bindung des Bauern an seine Scholle und damit die Aufhebung seiner Freizügigkeit, insgesamt durch die Umwandlung der Bauern in eine Art Landarbeiter. Ohne die zuvor entwickelte politische und verfassungsmäßige Struktur der Gutsherrschaft wäre die Umstellung auf das gutswirtschaftliche System nicht möglich gewesen. Gutsherrschaft und Gutswirtschaft hatten demgegenüber in Meißen-Sachsen eine viel geringere Chance, weil hier der Landesherr auf der einen und die Grundherren auf der anderen Seite eine Teilung der Macht praktizierten, welche die Ausbeutung in Grenzen hielt, weil der Landesherr, wie gezeigt, fast überall mit seinen Rechten, vor allem als Gerichts- und Steuerherr, bis auf die untere Ebene präsent blieb. Wenn im Vorigen vor allem für Brandenburg und Mecklenburg, doch auch - freilich gemindert - für Meißen-Sachsen gezeigt werden konnte, wie auf lokaler Ebene sich im späten Mittelalter weithin die Staatlichkeil in geradezu

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pointilistischer Weise aufgelöst hat, so muß dies mit einem Hinweis auf die Städte ergänzt werden. Daß diese ihren Stadtherren (die zumeist mit den Landesherren identisch waren, weil diese oder ihre Vorfahren überwiegend die Städte begründet oder von andern Städtegründern übernommen hatten) unter Ausnutzung ihrer finanziellen Schwäche im 14. und 15., ja im 16. Jahrhundert in zahllosen Fällen Hoheitsrechte abgekauft haben, ist jedermann bekannt, und ein Blick in das Deutsche Städtebuch gibt dazu überreichlich Auskunft. Freilich sind wir von Quantifizierungen über das Ausmaß des Ausverkaufs auch hier noch weit entfernt. Immerhin ließe sich z.B. unter Berücksichtigung der Kriterien niedere und höhere Gerichtsbarkeit (schon) im Besitz der Stadtgemeinde oder (noch) des Stadtherrn und/oder Handhabung des Stadtregiments durch (schon) einen gewählten Bürgermeister oder (noch) einen ernannten stadtherrlichen Beamten eine Statistik aufstellen, welche für einen bestimmten Zeitpunkt das Ausmaß der Emanzipation der Städte von ihren Stadtherren, die ja zugleich in der Mehrzahl die Landesherren ware!l, aufzeigt. Daß dies etwas mit wirtschaftlicher Stärke, mit Größe und Bedeutung der Städte zu tun hatte, hat für Sachsen Kari-Heinz Blaschke vor Jahren einmal herauszuarbeiten versucht und zugleich auf die Terminologie aufmerksam gemacht, welche in der Staffelung der zeitgenössischen Begriffe Flecken - Städtchen - Stadt in hohem Maße auch die Grade der städtischen Emanzipation einzufangen versucht hat42 • Für Brandenburg und Mecklenburg existieren derartige Versuche m.W. nicht.

m. War bisher von der Ausbildung der Landesherrschaft auf Kolonialboden und ihrer nachfolgenden Infragestellung durch Landesteilungen und - vor allem - durch die massenweise Ausgabe von örtlichen Herrschaftsrechten an die landständische Herrschaftsgesellschaft gesprochen worden, so gilt es nun, auf einige zusätzliche allgemeine Punkte hinzuweisen, die das Unfertige dieser Staaten bis in das tiefe 15. Jahrhundert hinein verdeutlichen. Besonders gut zeigt sich dies in der Form der Herrschaftsausübung, die sich als .,Reiseherrschaft" wie in den vorangehenden Jahrhunderten noch lange in der Form des ständigen Umherreisens des Herrschers in seinen Landen manifestierte und die erst allmählich zugunsten von Residenzen abgebaut wurde. Für Meißen-Sachsen hat eine systematisch durchgeführte Itinerarforschung43 für das späte Mittelalter den langsamen, fast unmerklich sich vollziehenden H K. Blascbke, Zur Statistik der sächsischen Städte im 16. Jahrhundert, in: Vom Mittelalter zur Neuzeit. Festschrift H. Sproemberg, 1956, Derlin 1956, Karte S. 136. 43 B. Streich, Zwischen Reiseherrschaft und Residenzbildung. Der wettinische Hof im späten Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen, 101), Köln I Wien 1989.

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Konzentrationsprozeß landesherrlicher Aufenthalte auf einige bevorzugte Residenzen nachgezeichnet, wobei, um Beurteilungskriterien zu entwickeln, der Anteil einer Lokalität an der Gesamtzahl überlieferter Ausstellungsorte von Urkunden, Briefen, Rechnungen von 20% im 13. und von 30% im 14. Jahrhundert auf eine "Residenz" im weitesten Sinn hindeutet, während eine solche von 50% am Ende des 15. Jahrhunderts einen sicheren Fingerzeig auf eine der inzwischen entstandenen "Hauptresidenzen" zu geben vermag. Im 15. Jahrhundert konzentrierte sich so der wettinische Hof zunächst auf die drei "Hoflager" zu Meißen, Leipzig und Torgau, nachdem einige in früherer Zeit beliebte Aufenthaltsorte wie Altenburg und Rochlitz zurückgetreten waren. Dabei war eindeutig Meißen der wichtigste Ort für den Aufenthalt des Hofes, wo auch das Archiv seinen Sitz hatte, während Torgau mehr als "Nebenresidenz" fungierte und Leipzig in dieser Funktion zurückfiel. Seit 1474 aber war Dresden die Hauptresidenz für die meißnisch-sächsischen Wettiner, ganz so, wie wenig später in Thüringen Weimar entsprechend hervortrat. Deutlich getrennt von den "Hoflagern" des späteren Mittelalters waren die wirtschaftlichen Hauptstädte des Wettinerlandes, nämlich bis in das 15. Jahrhundert hinein die alte Silberbergbaustadt Freiberg, zugleich Sitz des landesherrlichen Münzmeisters, der auch die Funktion eines fürstlichen Bankiers innehatte, und dann Leipzig, stets betont eine Bürgerstadt und seit 1409 Sitz der Landesuniversität, mit zunehmend wichtigen politischen Aufgaben. So war es seit 1432 anstelle von Magdeburg als im Lande befindlicher Oberhof für die fast generell nach Magdeburger Stadtrecht richtenden wettinischen Stadtgerichte sowie als Schöffenkolleg und damit Landesspruchkammer und Gutachterkollegium für die Justiz in den wettinischen Landen allgemein zuständig. Dazu war Leipzig seit 1438 häufiger Tagungsort der gesamtwettinischen Landstände und Aufbewahrungsort des Landessteuereinkommens, dazu Sitz des Oberzehntamts, also der zentralen Bergbaubehörde, schließlich seit 1483 Sitz des gesamtwettinischen Oberhofgerichts. Auch für Brandenburg ermöglicht die moderne Itinerarforschung interessante, wenn auch noch manche Fragen offenlassende Aufschlüsse über die Herausbildung von Residenzen44 • Stets spielte unter den Askaniern die linkselbische Altmark eine bedeutsame Rolle, von der die Landnahme Brandenburgs ihren Ausgang genommen hatte, vor allem die westlichste Burg, SalzwedeL Erst für die askanische Spätzeit, 1267 bis 1319, läßt sich "eine Verlagerung des Schwerpunktes auf das Gebiet zwischen Eibe und Oder, die Mittelmark, feststellen", während die Gebiete rechts der Oder stets im Hintergrund blieben, durchaus auch ein Beweis dafür, daß "diese Landesherren vorwiegend die Sicherung, d.h. Intensivierung ihrer Herrschaft betrieben und erst zweitrangig an der Expansion interessiert waren". 44 H.f. Fey, Reise und Herrschaft der Markgrafen von Brandenburg 0134-1319) (Mitteldeutsche Forschungen, 84), Köln I Wien 1981. Zusammenfassend, S. 248-54.

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Im Gebiet zwischen Eibe und Oder stand bis 1220 die alte Wendenburg Brandenburg an der Spitze der Aufenthaltsorte, dann Spandau, ebenfalls eine starke Burg und an der Havel als der ersten Ostgrenze des askanischen Herrschaftsbereichs gelegen. Bei der Landesteilung von 1266 wurde Spandau zum Mittelpunkt der ottonischen, die Burg Taogermünde an der Eibe der johanneischen Linie. Berlin war dagegen eindeutig unter den Askaniern noch nicht von besonderer Bedeutung, rückte aber als wirtschaftliches Zentrum allmählich nach vorne. Das wirrenreiche 14. Jahrhundert ließ die Residenzfrage lange im Ungewissen. Unter den Luxemburgern, besonders Kar) IV., stand Taogermünde an der Eibe in besonderem Ansehen, bis unter den Hohenzollern die Doppelstadt Berlin-Cölln auch die zentrale politische Stellung einnahm. Der Bau des Berliner Schlosses 1451, das zugleich als Zwingburg der unruhigen Stadt Berlin entgegengestellt wurde, bedeutet hier ein entscheidendes Datum. Seither traten die anderen Städte zunehmend in der Hintergrund 45 • Für Mecklenburg liegt, soweit zu erkennen, neuere Forschung zur Residenzenbildung nicht vor. Diese ist relativ spät erfolgt. Das ist nicht verwunderlich, wenn man die lange andauernde Teilung des Landes in mehrere fürstliche Linien und vor allem die Tatsache bedenkt, daß das spätere Landeszentrum Burg und Stadt Schwerin über lange Zeit hinweg den Herrschaftsmittelpunkt eines Teilgebietes mit einer ganz speziellen, von der Geschichte des mecklenburgischen Fürstenhauses getrennten Geschichte darstellte. Später bildete Schwerin dann das eindeutige Zentrum, nachdem es um die Mitte des 14. Jahrhunderts an die mecklenburgische Hauptlinie gelangt war. Rostock, Parchim, Güstrow traten dahinter eindeutig zurück. Wirtschaftliche Hauptstädte waren in Mecklenburg die Seestädte Rostock und Wismar, die auch ständisch innerhalb der Städte eine eigene Gruppe darstellten. Einen bleibenden Fremdkörper stellte natürlich in allen drei Ländern gesehen von der Frage der staatlichen Arrondierung her - die katholische Kirche dar, einmal durch die von ihr ausgeübte geistliche Gerichtsbarkeit, die einen innerkirchlichen Instanzenzug von den bischöflichen Gerichten über die der Metropoliten an der Spitze der Kirchenprovinzen hin zu den zentralen Gerichtshöfen der Kurie kannte und immer wieder auch praktizierte. Angesichts des ungeheueren Umfangs, den die Geistliche Gerichtsbarkeit ratione personae und ratione materiae in der Interpretation des Hohen und Späten Mittelalters besaß und angesichts der Beliebtheit, der sie sich wegen ihrer Effizienz erfreute, stellte sie eine wirksame Begrenzung staatlicher Macht und Herrschaftsübung dar, die den werdenden Territorialstaat herausforderte oder von ihm als Herausforderung gesehen wurde. Der andere Faktor, der sich der Ausbildung der geschlossenen Landesherrschaft entgegenstellte, und dies unter ganz spezifischen, für das Neusiedetgebiet im Osten typischen Formen, war rein weltlicher Art, war die Ausbildung bi45

W Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, 1, München 1987, S. 274 ff.

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schöflicher Territorien auf der Grundlage der Stiftungen und späterer Schenkungen an die Bischöfe, waren also die sogenannten Hochstifte als potentielle Staaten geistlicher Würdenträger inmitten sich ausbildender weltlicher Territorialstaaten. Hochstifte existierten in dem von uns behandelten Raum nicht weniger als acht: drei in Meißen-Sachsen, drei in Brandenburg und zwei in Mecklenburg. Innerhalb des Herrschaftsbereichs der wettinischen Fürsten in Meißen-Sachsen handelte es sich um die Bistümer, besser: Hochstifte Meißen, Merseburg und Naumburg-Zeitz46. Gestiftet von den Kaisern, besaßen alle drei den Rechtscharakter reichsunmittelbarer geistlicher Fürstentümer und ihre Bischöfe den von Reichsfürsten, und zwar bis in das 16. Jahrhundert hinein. Faktisch hatte sich ihre Reichsunmittelbarkeit indessen fast bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigt. So nahmen im 14. und 15. Jahrhundert die Markgrafen durch ihre Räte die Vertretung der Bischöfe auf den Reichstagen wahr und leiteten die von den Hochstiften zu leistenden Reichsabgaben an das Reich weiter. Allgemein, und so zum Beispiel im Falle wettinischer Landes- und Erbteilungen, wurden die Hochstifte zum .Dominium" der Landesherren gerechnet und entsprechend der einen oder anderen Linie zugeteilt. Ihre Abhängigkeit verstärkte sich noch dadurch, daß die Stiftsgebiete inmitten wettinischen Gebiets lagen, nur teilweise im geschlossenen Block, sonst in Streulage, wirtschaftlich abhängig, militärisch-politisch im Ernstfall gegen die Wettiner unhaltbar. Einbezogen in die wettinische Landfolge, zu den Beden - ordentlichen wie außerordentlichen - und zur Teilnahme an den Landtagen verpflichtet, ließen sie sich ihre Privilegien und Verträge nicht nur von Kaiser und Papst, sondern auch von den wettinischen Fürsten bestätigen, führten ihre Visitationen mit fürstlicher Genehmigung und in Anwesenheit fürstlicher Räte durch und nahmen insgesamt etwa eine Stellung ein, wie sie die anfangs berührten Grafen und Herren im wettinischen Herrschaftsbereich innehatten. Auch wenn die Wettiner ein offizielles Besetzungsrecht für die Bischöfe zu keiner Zeit erlangten, so kam hier doch kaum einmal eine Wahl gegen ihren Willen zustande, nicht zuletzt, weil die Wahlen durch die Domkapitel in Anwesenheit landesherrlicher Räte stattzufinden pflegten. Außerdem hatten bei den Besetzungen freigewordener Domkapitularstellen die Wettiner ein verbrieftes Mitwirkungsrecht wenigstens für Meißen, teilweise schon seit 1329 und vollständig seit 1485, und von diesem Jahr an wenigstens zu einem Teil auch für die Domkapitel von Merseburg und Naumburg-Zeitz. 46 B. Streich, Die Bistümer Merseburg, Naumburg und Meißen zwischen Reichsstandschaft und Landsässigkeit, in: R. Scbmidt (Hrsg.), Mitteldeutsche Bistümer im Spätmittelalter, Lüneburg 1988, S. 53-72; K. Blascbke I W. Haupt I H. Wiesner, Die Kirchenorganisation in den Bistümern Meißen, Merseburg und Naumburg um 1500, Weimar 1969; B. Herrmann, Die Herrschaft des Hochstifts Naumburg an der mittleren Eibe (Mitteldeutsche Forschungen, 59), Köln I Wien 1970; A . Scbultze, Die Rechtslage der evangelischen Stifter Meißen und Wurzen (Leipziger rechtswissenschaftliche Schriften, 1), Leipzig 1922.

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Praktisch freilich wirkten sie auch hier schon viel länger an der Besetzung der Domherrenstellen mit, auf denen sie ihre ehemaligen Räte und Vertrauensleute unterzubringen pflegten, so daß es stets einen Stamm wettinischer Vertrauensmänner in den drei Domkapiteln gab. Daß es nicht schon vor 1485 auch zur rechtlichen Absicherung dieser Praxis gekommen war, lag daran, daß die Fürsten von Meißen-Sachsen im Kampf zwischen Papsttum und Konzil zu Beginn des 15. Jahrhunderts auf die falsche Seite gesetzt und die ihnen verliehenen großartigen Privilegien von Seiten des Konzilspapstes Felix von 1443 keine Wirksamkeit erlangt hatten47• Demgegenüber vollzog sich der Kampf zwischen der Gerichtsbarkeit der Bischöfe auch außerhalb ihrer Stiftsgebiete und derjenigen der Landesherren eher routinemäßig. Die berühmte Landesordnung Markgraf Wilhelms III. vom Jahre 1446, die eine völlige Ausschaltung der Kirche aus Prozessen in rein weltlichen Fragen vorsah, war eine solche für die thüringischen Staatsteile des gesamtwettinischen Herrschaftsbereichs und galt in Meißen-Sachsen nicht48 • Ähnlich wie in Meißen-Sachsen gestaltete sich die Position der Bistümer bzw. ihrer Hochstifte in Brandenburg. Hier handelte es sich um die Bistümer Brandenburg (seit dem 14. Jahrhundert mit Sitz in Ziesar), Havelberg (seit dem späten 13. Jahrhundert mit Sitz in Wittstock) und Lebus (seit etwa 1385 mit Sitz in Fürstenwalde). Die Bischöfe von Brandenburg und Havelberg galten bis zum Schluß, d.h. bis zu ihrer Aufhebung unter dem Einfluß der Reformation im 16. Jahrhundert, gleich denen im meißnisch-sächsischen Bereich, als Reichsfürsten, ihre Hochstifte als reichsunmittelbare Gebiete, waren aber schon im späten 13. und erst recht im 14. Jahrhundert, als sie in den Wirren den Schutz der Fürsten suchten, faktisch landsässig geworden: sie leisteten den Markgrafen Bede, Heerfahrt, Gastung und Herberge ("Ablager"), Ratsdienste und Huldigung, waren auf den Landtagen pflichtgemäß durch ihre Räte vertreten und hatten längst ihre frühere Münzhoheit verloren. Andererseits, darauf hat Hahn aufmerksam gemacht, boten die Hochstifte nach innen hin durchaus den Charakter eigenständiger Herrschaften und vermochten ihren Untertanen ein Identitätsbewußtsein zu vermitteln, wie dies auch in der Grafschaft Ruppin der Fall war, so daß der Vorschlag gemacht worden ist, von .Unterlandesherrschaften" zu sprechen49. 47 F. Priebatsch, Staat und Kirche in der Mark Brandenburg am Ausgange des Mittelalters, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte, 19-21 (1899-1901); R. Zieschang, Die Anfänge eines landesherrlichen Kirchenregiments in Sachsen am Ausgang des Mittelalters, in: Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte, 23 (1910), S. 1-156. 48 G. Richter, Die ernestinischen Landesordnungen und ihre Vorläufer von 1446 und 1482, Köln I Graz 1964 (Mitteldeutsche Forschungen, 34), S. 38 ff. 49 G. Abb I G. Wentz, Das Bistum Brandenburg (Germania sacra I, 1), I, Berlin I Leipzig 1929, S. 8 ff., 21 ff., 83 ff.; G. Wentz, Das Bistum Havelberg (Germania Sacra I, 2), Berlin I Leipzig 1933, S. 16 ff., 19f., 29 ff., 130 ff.; P.M. Hahn, Kirchenschutz und Landesherrschaft in der Mark Brandenburg im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 28 0979), S. 179219, bes. S. 194 ff., hier Karte der Besitzungen, S. 220; K.-H. Ahrens, Die verfassungs-

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Demgegenüber war das Bistum Lebus mit seinem Hochstift als eine ursprünglich polnische Gründung des frühen 12. Jahrhunderts (etwa 1124) nach dem Übergang an Brandenburg (um 1250) von vornherein landsässig50• Eine interessante Stellung hatten die Domkapitel inne. Jünger als die Bistümer und von den Fürsten dotiert, standen sie zu den Markgrafen in einem .,Schutzverhältnis", das sie stark abhängig sein ließ. Auf der anderen Seite waren die Domherren Mitglieder des Prämonstratenserordens und damit in ihrer Zusammensetzung nicht ohne weiteres manipulierbar; erst 1506/07 wurden sie in säkulare Kapitel umgewandelt. Dennoch war das Recht der brandenburgischen Domkapitel auf freie Bischofswahl schon im 14. Jahrhundert von den Landesherren stark eingeschränkt worden, die sich auch erforderlichenfalls mit römischer Hilfe immer wieder gegen die Domkapitel als Wahlkollegium durchzusetzen verstanden. Anders als die Wettiner bezogen die Hohenzollern im Kampf zwischen Papsttum und Konzil auf der .,richtigen" Seite Stellung, so daß ihnen 1447 anläßlich eines wahren Regens päpstlicher Gnadenerweise nun auch rechtlich zugestanden wurde, daß künftighin nur von dem Markgrafen benannte, ihm genehme Persönlichkeiten als Bischöfe gewählt und konsekriert werden dürften. Dies zunächst nur für die Lebenszeit Markgraf/Kurfürst Friedrichs II. ergangene Privileg wurde stillschweigend auch späterhin angewendet. Auf diese Weise wurde das Handicap für den Landesherrn ausgeglichen, das ihm angesichts der Ordenszugehörigkeit der Domkapitel die Möglichkeit nahm, durch Veränderung des Wahlgremiums selbst die Wahlen zu lenken. Erst die Umwandlung der Kapitel 1506/07 beseitigte aber das relative Hindernis vollends51 . Fügt man noch hinzu, daß im 15. Jahrhundert die Kollegiatstifte im Brandenburgischen praktisch unbeschränkt von den Landesherren besetzt werden konnten und ebenso wie die Klöster Landbede, Heerwagen und Gastung zur Verfügung zu stellen hatten, daß die Klöster einer scharfen Kontrolle ihrer Wirtschaftsführung unterlagen, teilweise auch die Vermögen der großen Bruderschaften (Kalande) ad pios usus nach Ermessen der Landesherren herangezogen werden konnten, dann wird das Ausmaß des vorreformatorischen landesherrlichen Kirchenregiments - wenn dieser Ausdruck schon erlaubt ist -in Brandenburg in vollem Umfange deutlich52 . Sehr viel ausgeprägter als in Meißen-Sachsen war in Brandenburg der Kampf um eine von der geistlichen Gerichtsbarkeit freie Justiz in weltlichen Dingen - nur um diese ging es. rechtliche Stellung und politische Bedeutung der märkischen Bistümer im späten Mittelalter. Ein Beitrag zur Diskussion, in: R. Scbmidt (Hrsg.), Mitteldeutsche Bistümer im Spätmittelalter, Lüneburg 1988, S. 19-52, bes. S. 34 ff.: Die Bistümer unter den Hohenzollern. 50 H. Ludat, Bistum Lebus. Studien zur Gründungsfrage und zur Entstehung und Wirtschaftsgeschichte seiner schlesischen und polnischen Besitzungen, Weimar 1942. 51 8. Hennig, Die Kirchenpolitik der älteren Hohenzollern in der Mark Brandenburg und die päpstlichen Privilegien des Jahres 1447, Leipzig 1906, S. 48 ff. 52 Ebd., S. 103 ff., 117 ff.

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Obwohl auch in diesem Punkte eine der vielen Bullen von 1447 den Markgrafen eine Generalkompetenz für alle Zivil- und Kriminalstreitfälle seiner Untertanen erteilt hatte und allen anderen Ansprüchen geistlicher Richter entgegengetreten war, setzte sich tatsächlich nur ein gemischtes Verfahren durch, bei dem erforderlichenfalls geistliche und weltliche Justiz durch gegenseitige, sukzessive Zugriffsrechte gemeinsam die Rechtsprechung sicherstellten, da auf die Schnelligkeit und Effizienz der geistlichen Gerichte vor allem in Schuldsachen noch gar nicht verzichtet werden konnte. Allerdings mußten auswärtige Bischöfe, die für Teile der Mark Brandenburg zuständig waren, wie der Bischof von Halberstadt in der Altmark, delegierte Kommissare einsetzen, die für sie innerhalb der brandenburgischen Grenzen in den in Frage kommenden weltlichen Prozessen die geistliche Jurisdiktion wahrzunehmen hatten. Versuche der Markgrafen, eigene Bischöfe für diese markgräflich-brandenburgischen Gebiete einzusetzen, waren im 12. Jahrhundert für die Altmark (Stendal) und im 15. Jahrhundert für die Neumark gescheitert53• Daß dieser Fragenkomplex in Meißen-Sachsen eine geringere Rolle spielte, folgte aus der Tatsache, daß die drei ganz überwiegend für diesen Raum zuständigen Bischöfe jene waren, über die die Fürsten die geschilderte starke Landeshoheit ausübten. Die im späteren mecklenburgischen Gebiet liegenden Bistümer Ratzeburg und Schwerin mit ihren Hochstiften waren Neugründungen Herzog Heinrichs des Löwen, nachdem die frühen Bistümer durch den großen Slawenaufstand des Jahres 1066 vernichtet worden waren. Die Neugründungen erfolgten an alter Stelle, doch wurde das Bistum Mecklenburg 1160 nach Schwerin verlegt. Von ihrer Entstehung her standen beide zwischen Reichs- und Landsässigkeit, war doch die Investitur für beide Bischofssitze von Kaiser Friedrich Barbarossa dem Sachsenherzog auftragsweise verliehen worden, nicht aber zu eigenem Recht. Heinrich der Löwe hatte dann beide 1171 reichlich dotiert, nämlich das Bistum Ratzeburg mit etwa 30 Dörfern im Land Boitin (um Schönberg) und das Bistum Schwerin mit 300 Hufen um Bützow und Ilow. Dafür mußten ihm die Bischöfe den Lehnseid sowie Hoffahrt und Heerfahrt leisten, ganz gleich den damals ebenfalls eingesetzten Grafen von Ratzeburg und Schwerin und den slawischen Fürsten, und sich schließlich wie diese an den herzoglichen Landtagen beteiligen54 • Nach dem Sturze Heinrichs des Löwen bzw. nach Überwindung der anschließenden dänischen Herrschaft (1227) entfielen die Verpflichtungen der Bischöfe gegenüber dem Herzogtum Sachsen. Beide Bistümer bzw. ihre Hochstifte galten künftig als reichsunmittelbar und keinem Landesherren unterworfen; die Investitur übten die deutschen Könige und Kaiser. Ebd., S. 130 ff. Siehe oben, Anm. 14. ]. Naendrttp-Reimann, Territorien und Kirche im 14. Jahrhundert, in: Hans Patze (Hrsg.), Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, 2. Auf!., Sigmaringen 1986, darin Mecklenburg, S. 135 ff. 53 54

23 ChiUuhni I Willuwcil

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Innerhalb ihrer Hochstifte, die später noch erweitert worden waren, übten die Bischöfe laut Verträgen mit den mecklenburgischen Fürsten bzw. dem Grafen von Schwerin die Gerichtsbarkeit durch Vögte aus, hatten Bede-Befestigungs-, Markt-, Münz- und Zollrechte inne. Was vor allem das Bistum Schwerin betrifft, so war das Selbstergänzungsrecht des Domkapitels unbestritten, wurde aber schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und später zunehmend durch päpstliche Provisionsmandate beschränkt, die sich freilich durchaus nicht immer durchsetzen ließen. Im Domkapitel besaß zunächst der mecklenburgische Adel ein großes Übergewicht, das indessen im 14. Jahrhundert zugunsten eines starken bürgerlichen Anteils zurückging. Schon zu dieser Zeit war der Anteil ehemaliger fürstlicher Notare, Kapläne, Kanzler bedeutend. Im 15. Jahrhundert führte das volle Einsetzen landesherrlicher Stellenbesetzungen zu weiteren tiefgreifenden Veränderungen im landesherrlichen Sinn55 . Unausweichliche Folge war die zunehmende Beherrschung der Schweriner Bischofswahlen durch den Landesherren. Kamen die Bischöfe des 14. Jahrhunderts noch in beachtlichem Maße aus den großen adeligen Häusern des Landes, von den Bülows, Maltzahns, Gans zu Putlitz, so setzten sich im 15. Jahrhundert ehemalige Kanzler der Fürsten und selbst Angehörige des fürstlichen Hauses durch56. Im 15. Jahrhundert war die alte Schirmvogtei über das Bistum und Hochstift Schwerin gegenüber dem 13./14. Jahrhundert stark erweitert. Das Öffnungsund Gastungsrecht (Ablager) bestand schon länger. Hinzu traten seit 1468 Roßdienst und Landfolge. Bischof und Domkapitel waren landtagspflichtig für die in Mecklenburg liegenden Güter, seit 1514 wurde die mecklenburgische Steuerpflicht auf das Hochstift ausgedehnt. Die Reichssteuern wurden seit 1495 über den Herzog eingefordert und von ihm ans Reich abgeliefert. Andererseits erließ der Bischof 1508 eine eigene Gerichtsordnung57• Im Vergleich zu Schwerin konnten Bischof und Domkapitel von Ratzeburg ihre Unabhängigkeit von den Nachbargewalten besser bewahren, weil einerseits das Domkapitel von Zisterziensern gebildet wurde, andererseits die Herzöge von Sachsen-Lauenburg und Mecklenburg immer wieder gegeneinander ausgespielt werden konnten. So kamen die Bischöfe noch im 15. Jahrhundert aus dem Orden und nach ihrer Herkunft aus niederadeligen oder - zunehmend - bürgerlichen, oft Wismarer Familien. 55 M . Kaluza-Baumruker, Das Schweriner Domkapitel (1171-1400) (Mitteldeutsche Forschungen, 96), Köln I Wien 1987, S. 5 ff., 42 ff., 85 ff. 56 j. Weißbacb, Staat und Kirche in Mecklenburg in den letzten Jahrzehnten vor der Reformation, in: Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, 75 (1910), S. 29-130, bes. S. 38 ff., 51 ff., 58 ff., 74 ff., 83 ff., 94 ff., 105 ff. 57 E. Kn'lger, Die Entwicklung der Landesherrlichkeit der Bischöfe von Schwerin, Phil. Diss., Rostock 1933;]. Traeger, Die Bischöfe des mittelalterlichen Bistums Schwerin, Leipzig 1980, S. 158 ff., 166 ff., 170 ff., 174 ff.

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Erst mit der "Transmutation" des Domkapitels in ein weltliches Domherrenstift, veranlaßt unter Mitwirkung des Sachsen-lauenburgischen Hauses durch den Papst und augenscheinlich Vorbote einer geplanten grundsätzlichen Neuorientierung 1504, änderten sich die Verhältnisse. Denn nun wurde nach einer längeren Vakanz 1511 mit dem Bischof Heinrich Bergmeyer ein vormaliger Beamter des Herzogs von Sachsen-Lauenburg auf den Bischofsstuhl gesetzt, der sich (angeblich vom Ofenheizer) über die Stellung eines herzoglichen Kammerschreibers zum Kanzler hochgedient hatte. Allerdings weigerte sich der Berufene, den Wünschen seines vormaligen Herrn zu entsprechen, ließ sich 1513 und 1521, als erster Ratzeburger Bischof seit 1438, wieder vom Kaiser belehnen und erweckte auch andere, seit Jahrzehnten in Vergessenheit geratene Beweise der Reichsunmittelbarkeit zum Leben: die Präsenz auf den Reichstagen (seit 1521) sowie die Beteiligung an Türkensteuern und am Kammerzieler, der Umlage zugunsren des Reichskammergerichts. Die Reaktivierung der alten Reichsunmittelbarkeit führte 1516 zum offenen Konflikt mit dem gewalttätigen Herzog von Sachsen-Lauenburg, der mit der Erhebung der Bede und mit einer ruinösen Wahrnehmung seines Ablagerrechts den Bischof zu erpressen versuchte. Dieser suchte und fand Unterstützung beim Reich bis hin zur Erklärung des Herzogs in die Reichsacht 1532. Zugleich führten die Vorgänge zu einer Annäherung an Mecklenburg, zu dem ein altes, wenig konkretes Schutz- und Schirmverhältnis bestand, das allerdings bereits seit 1473 in der Form von Schutzgeldzahlungen ebenfalls eine gewisse Reaktivierung erfahren hatte. Durch diese Umstände begünstigt, gewannen die Mecklenburger Herzöge einen stärkeren Einfluß, auch wenn die Eigenstaatlichkeil Ratzeburgs bis zum Reichsdeputationshauptschluß von 1802/03 äußerlich bewahrt blieb. Seit 1550 war mit Herzog Ulrich von Mecklenburg-Güstrow ein erstes Mitglied des herzoglichen Hauses Bischof, weitere folgten, unter denen offiziell und nur wenige Jahre später als in Mecklenburg das lutherische Bekenntnis eingeführt wurde58• Die geistliche Gerichtsbarkeit im Herzogtum Mecklenburg fand unter der starken Hand Herzog Magnus' seit 1509 erhebliche Einschränkungen vor allem hinsichtlich weltlicher und gemischter Fälle. Insgesamt wirkte die mecklenhurgische Polizeiordnung von 1516 in Richtung auf eine starke Beaufsichtigung des Gütererwerbs und des Besitzstandes der Kirche, der Klöster, die fast ein Viertel Mecklenburgs ausmachten, der religiösen Bruderschaften u.a. Ansätze zu einer Besteuerung des Klerus waren ebenso unverkennbar wie Tendenzen auf einen allgemeinen landesherrlichen Patronat hin, die freilich unverwirklicht blieben. 58 G.M.C. Mascb, Geschichte des Bistums Ratzeburg, Lübeck 1835, S. 327 ff., 490 ff. ; j. Stoppel, Die Entwicklung der Landesherrlichkeit der Bischöfe von Ratzeburg bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts, Phil. Diss., Rostock 1927, auch in: MecklenburgStrelitzer Geschichtsblätter, 3 (1927), S. 21 ff.

23*

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Schließlich stellten die über die Landesgrenzen laufenden politischjurisdiktioneBen Verbindungen der Städte im späten Mittelalter noch lange einen Faktor mangelnder Geschlossenheit der Territorialstaaten dar, was zunehmend zum Problem wurde. Der hohe Grad städtischer Selbstregierung zumindest der wichtigen und wirtschaftlich potenten Kommunen mußte mit den Konsolidierungs- und Integrierungstendenzen des Staates im 15. Jahrhundert zusammenstoßen. Dabei ging es um zwei Aspekte: einmal um die Frage der Autonomie im Fürstenstaat und zum andern um die Beziehungen der Städte zu auswärtigen Potenzen, unter denen die Rechtszüge an die Oberhöfe eine besondere Bedeutung besaßen. In den drei von uns in den Blick genommenen Territorialstaaten gewannen die Konflikte jeweils einen spezifischen Charakter. Am geringsten- so will es auf Grund der Forschung scheinen -blieben die Konflikte in Meißen/Sachsen. Mutter der sächsischen Stadtrechte war das außerhalb des Landes gelegene Magdeburg, doch war ,.der Rechtszug dahin und sei es auch nur mittelbar - in den seltensten FäHen (Leipzig) wirklich erkennbär". Andere sekundäre landeszugehörige Rechtsorte waren etwa Altenburg, Leipzig und Dresden (das seinerseits seit 1432 seinen Rechtszug nach Leipzig hatte). Unverkennbar war seit dem 15. Jahrhundert ,.die Tendenz zur Vereinheitlichung des Stadtrechts in den Städten des wettinischen Staates ... Hierbei ist die große Bedeutung des Leipziger Schöffenstuhls hervorzuheben", der seit 1432 ,.im Bereich der wettinischen Erblande Rechtsgutachten und Rechtsbelehrungen zu erteilen" hatte, ,.die früher von den Magdeburger Schöffen eingeholt wurden". Auf die bleibende große Bedeutung der Leipziger Juristenfakultät für die Umsetzung und konkrete Anwendung von Normen des Römischen Rechts im einzelnen Territorialstaat sei mit dem Beispiel der ,.Sächsischen Konstitutionen" von 1572 nur hingewiesen59 . Nach Ausweis des Deutschen Städtebuches scheint es auch generell zu bedeutenderen Konflikten zwischen den Städten und der Landesherrschaft im 15. Jahrhundert nicht gekommen zu sein. Anders in der Mark Brandenburg. Hier hatten sich die Städte, jedenfalls auch hier wieder die wirtschaftlich und politisch kräftigeren unter ihnen, in dem wirren, von Krieg und Fehden geprägten 14. Jahrhundert von den stadtund landesherrlichen Einwirkungen weitgehend emanzipiert und immer wieder mit Städtebünden ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen versucht. Seit dem frühen 14. Jahrhundert hatten sich die Zünfte vielerorts einen bedeutenderen Anteil am Stadtregiment erkämpft, vor allem in den Städten der Altmark und in der Doppelstadt Berlin-Cölln, anderswo blieb ihre Mitwirkung mehr auf Kontrollfunktionen beschränkt. So brauchten die Hohenzo11ern einen langen Atem, um nach dem Adel auch die Städte ihres Landes in die Hand zu bekommen. Im Falle ihrer Hauptstadt Berlin-Cölln gelang es 1442. 59

1941,

].

Leipoldt, in: Deutsches Städtebuch, 2: Mitteldeutschland, Stuttgart I Berlin

s. 8.

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Anläßlich einer langen Auseinandersetzung zwischen der Stadt und dem Markgrafen als dem Stadt- und Landesherrn erreichten es zwar die Zünfte mit fürstlicher Unterstützung, in den Rat zu gelangen, doch erhielten die Stadtund Landesherren damals zugleich ein Bestätigungsrecht für die bis dahin freien Ratswahlen. Der Bau des Berliner Stadtschlosses 1451 löste nicht nur für Brandenburg das Problem der künftigen definitiven Residenz, sondern im Zusammenhang mit Berlin auch die Machtfrage in der Stadt selbst60 • Die sehr selbstbewußten Städte der Altmark, vor allem Stendal als deren Hauptstadt, wurden nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen mit dem Landesherrn um die sogenannte ,Bierziese', eine Verbrauchssteuer, bezwungen; es wurden sogar einige Todesurteile vollstreckt. Damals verloren die altmärkischen Städte einen Teil ihrer Privilegien, vor allem die Gerichtsbarkeit, und mußten sich fürderhin, wie Berlin, ihre Ratswahlen von seiten des Landesherrn bestätigen lassen61 . Auch in Brandenburg trat mit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts der bis dahin für die Masse der Städte geltende Rechtszug nach Magdeburg zurück, insofern jetzt die Rechtsweisungen im Lande gelegener Schöppenstühle einzuholen waren, etwa diejenigen Brandenburgs und Stendals, oder die Juristische Fakultät zu Frankfurt an der Oder angerufen wurde. Unverkennbar war seither auch der wachsende Einfluß des Landesherrn auf die Stellenbesetzungen bei den Schöppenstühlen. Wie in Brandenburg kam es auch in Mecklenburg im 15. Jahrhundert zu Auseinandersetzungen zwischen Landesherrn und Städten und wie dort so war auch hier nicht die große Zahl der Kommunen, sondern waren nur die bedeutendsten städtischen Gemeinwesen in die Konflikte einbezogen - dort Berlin und Stendal, hier die mächtigen Seestädte Rostock und Wismar62 . Die endlosen Streitigkeiten um Zölle, Beden, Strandgutrechte und andere, oft ganz geringe Dinge waren nur die Anlässe für die Herzöge, den Städten auf dem Wege über offene gewaltsame Auseinandersetzungen ihre Eigenständigkeil zu nehmen63 . Am langwierigsten und gefährlichsten erwies sich die Rostocker Domfehde 1487-1491, der Konflikt um den Plan Herzog Magnus' II., die Rostocker PfarrW Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, S. 262 ff. Scbu/tze, Mark Brandenburg, 3, S. 146 ff.; F. Priebatscb, Die Hohenzollern und die Städte der Mark Brandenburg im 15. Jahrhundert, Berlin 1892, S. 137 ff. , 169 ff. 62 W.H. Struck, Die Geschichte der mittelalterlichen Selbstverwaltung in den mecklenburgischen Landstädten, Rostock 1938, auch in: Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, 102 (1938), bes. S. 19 ff.; K . Hq{fmann, Die Städtegründungen Mecklenburg-Schwerins in der Kolonisationszeit vom 12. bis zum 14. Jahrhundert (auf siedlungsgeschichtlicher Grundlage), iri: Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, 94 0930), bes. S. 170 ff. 63 H. Satter, Hansestädte und Landesfürsten. Die wendischen Hansestädte in der Auseinandersetzung mit den Fürstenhäusern Oldenburg und Mecklenburg während der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, NF 16), Köln I Wien 1971, S. 73 ff. 60 61

].

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kirehe St. Jacobi ("Dom") in ein Kollegiatstift umzuwandeln, vorgeblich um damit die Finanzierung des Lehrkörpers der Universität sicherzustellen, tatsächlich aber um durch Einschleusung von Vertrauensleuten in das Stift in der Stadt den entscheidenden Einfluß zu gewinnen. Es bedurfte offener Gewaltakte, Belagerungen, Blockaden, wiederholter Interdikte, einer Vielzahl von Klagen, Mandaten, Appellationen, Urteilen, um die hartnäckigen Widerstand leistende Stadt, deren Bewohner mehrfach durch gewaltsames Eingreifen den Rat zu Widerstand anzustacheln versuchten, schließlich zu einem Entgegenkommen zu zwingen. Der den Konflikt beendende Wismarer Vergleich von 1491 mußte zwar die Errichtung der umkämpften Stiftung zugestehen, verhinderte aber zugleich alle weitergehenden Vorstellungen des Herzogs gegenüber der Stadt, die ihre Privilegien und damit ihren Rechtsstatus zu bewahren verstand. Mit dem Tod von Herzog Magnus 1503 konnte wie auch sonst seine Politik gegenüber den Städten nicht fortgesetzt werden. Seine Nachfolger verhinderten vielmehr durch die erneute Landesteilung von 1520 und durch die damit heraufbeschworene Landständische Union von 1523 endgültig die Durchsetzung moderner Staatlichkeit unter Überwindung des ständestaatliehen Dualismus in Mecklenburg. Anders aber als in Brandenburg scheint es zu einem Abschneiden der mecklenburgischen Städte von ihren Oberhöfen nicht gekommen zu sein. Maßgeblich für die mecklenburgische Städtelandschaft war das Lübische Recht, sei es unmittelbar, sei es über Zwischenstufen, wie sie das Schweriner, Parchimer, Güstrower Recht darstellten. Tatsächlich ist auch immer wieder, wie das Deutsche Städtebuch für eine Reihe von Städten nachweist, bis in das 16. Jahrhundert hinein der Rechtszug nach Lübeck wahrgenommen worden, vor allem natürlich von Rostock und Wismar selbst61 . Mit der Reformation in ihrer lutherischen Spielart, die sich überall durchsetzte, fand die vielfältige Sonderstellung der katholischen Kirche ein Ende: die geistliche Jurisdiktion, die vielfältigen weltlichen Grund- und Gerichtsherrschafren in geistlicher Hand und die geistlichen Staaten, die in den Jahrhunderten zuvor in einem gewiß unterschiedlichen, aber doch überall in die gleiche Richtung weisenden Ausmaße den Charakter von "Unterobrigkeiten" erhalten hatten. Fand die Selbständigkeit der geistlichen Gewalt im 16. Jahrhundert ein Ende, so wurde an der Position des Adels und, soweit vorhanden, der Städte nichts Grundsätzliches verändert. Vieles von dem, was die weltlichen Staaten im 13.-14. Jahrhundert gestaltet hatte, blieb Wirklichkeit, um erst im 19. und 20. Jahrhundert eingeschmolzen zu werden.

61

H. Keyser (Hrsg.), Deutsches Städtebuch, 1, Stuttgart I Berlin 1939, S. 273 f.

Schlußbemerkungen Von Cinzio Violante•

Ich werde an dieser Stelle nichts Abschließendes zum Ausdruck bringen, sondern werde die gehörten Vorträge kommentieren, und zwar fast in Form einer Prämisse zu den Schlußbetrachtungen der hervorragenden Organisatoren und Leitern unseres ,Seminars'. So werde ich das von uns diskutierte Thema in meinem Beitrag zur Einstimmung sozusagen unter einem anderen Gesichtspunkt darstellen, als dies hier geschah. 1. Diese Tagung hat sich mit dem Zeitraum befaßt, der mit dem Jahr 1300 beginnt und bis in die Neuzeit reicht. Gerade aufgrund ihres chronologischen Zuschnitts wurden die Organisation und - so möchte ich sagen - die progressive Umwandlung des Territoriums bis hin zu einer vollständigen politischen und im modernen Sinne staatlichen territorialen Ordnung behandelt. Da ich aufgrund meiner Kompetenzen und Neigungen die Sache eher unter dem Blickwinkel der Ursprünge betrachte, bin ich der Meinung, daß man bis zum 11. Jahrhundert zurückgehen muß, da sich genau um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert die Merkmale der neuen Epoche zu zeigen beginnen, so wie sie dieses Seminar in den Blick genommen hat.

Aber ich möchte sogar vom Aufkommen des Prinzips der ,Territorialität' im Mittelalter ausgehen, da der Entstehungsprozeß der Territorialstrukturen - heterogen je nach Ort und Zeit - im Grunde genommen die Anwendung des Territorialprinzips selbst war, welches das ursprünglich historische Phänomen und die grundlegende Neuheit war ... der qualitative Sprung im Vergleich zur Vergangenheit. Was die einzelnen Territorien in den verschiedenen zeitlichen und örtlichen Umständen an Gemeinsamkeiten und Bedeutung hatten, ist eben meiner Meinung nach eher im Prinzip der ,Territorialität' zu suchen, nach dem sich alle herausbildeteten, als in den Gemeinsamkeiten, die sie aposterioribei einer empirischen Untersuchung aufweisen. Also muß das Blickfeld erweitert werden. Das Beispiel unseres Freundes Paolo Prodi, der so gewinnbringend 1000 Jahre Geschichte angegangen hat und sich mit dem .Sakrament der Macht" beschäftigt hat, ermuntert mich, hier die Zweckmäßigkeit in Augenschein zu nehmen, die Entstehung (oder Renaissance) des Prinzips der Territorialität nach einem langen Zeitraum zu betrachten, in dem dieses verlorengegangen war. Und zuletzt verspüre ich die Notwendigkeit, noch weiter zurückzugehen, in jene Epoche, in der das Territorialprinzip noch existierte (5. Jahrhundert). Deutsch von Friederike C. Oursin.

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Insgesamt heißt das, vom 14. Jahrhundert- der zeitlich obersten Begrenzung unseres Seminars - einen Schritt um circa ein Jahrtausend zurückzumachen. Im 5. Jahrhundert galt noch das römische Prinzip der Territorialität, aber Ende des Jahrhunderts begann es von der Kirche zerrüttet zu werden. Aus diesem Grund sollten wir unseren Diskurs mit dem 5. Jahrhundert und einem Hinweis auf die kirchlichen Einrichtungen beginnen lassen, jene Einrichtungen, die die Seelsorge regelten und definierten (in ,unserem' Seminar war nicht davon die Rede, sondern nur von den weltlichen Einrichtungen, die die Bistümer, pfarrhäuserund Klöster betrafen), und ihn bis ins 11.-12. Jahrhundert ausdehnen. Meiner Meinung nach läßt sich die Krise der römischen Territorialität aus einigen Briefen von Gelasius I. herauslesen, in denen er sich das Problem stellte, zu bestimmen, welchem Bischof es zustand, gewisse Kirchen, die von Privatpersonen gestiftet worden waren, zu weihen, und welchem Bischof sie somit unterstanden. Der Papst führte aus, daß man die administrative Aufteilung in Territorien gemäß der Verwaltungsorganisation des Heiligen Römischen Reiches nicht notwendigerweise nachahmen sollte. Er schrieb, daß die Aufteilung in weltliche Territorien nicht mehr überall den realen Gegebenheiten entsprach; daher sollte, um die Zuteilung der Gläubigen und der Kirchen an die einzelnen Bischöfe zu definieren, nicht mehr das territoriale Kriterium verwendet werden, sondern es sollte allein davon ausgegangen werden, welcher Gläubige sich normalerweise an einen bestimmte Bischof wandte, um die bischöflichen Dienste zu erhalten (Austeilung der Sakramente, Predigen usw.). Begrifflich war der Handlungsspielraum des Bischofs durch ein persönliches Kriterium festgelegt: nämlich durch den Gläubigen, der sich an ihn wandte, und nicht durch einen vorherbestimmten territorialen Bereich. Ein ähnliches Kriterium wurde auch angewandt, um die Kompetenzen des Rektors einer Taufkirche festzulegen. Das Territorium war also nicht länger das wichtigste Element; es überwog hingegen ein persönliches Kriterium. Dieses persönliche Kriterium überwog noch im Zeitalter der Langobarden und der Franken, aber unter Bezug auf die Beziehungen zwischen der Kirche und den kirchlichen Autoritäten. Wir verfügen über eine breite Dokumentation besonders für das Gebiet zwischen Arezzo und Siena. Für dieses Gebiet fragte man sich am Beginn des 8. Jahrhunderts, von welchem der beiden Bischöfe bestimmte Taufkirchen (pievt) abhingen und von welchen von diesen bestimmte private Hauskapellen. Die Lösung wurde wieder einmal nicht auf der Basis der territorialen Aufteilung gefunden (indem also angegeben wurde, auf welchem Diözesanterritorium sich welche Pfarrei befinde und in welchem Pfarrterritorium jene Kapelle), sondern mit einem persönlichen Kriterium, auf der Grundlage der Hierarchie der Kirchenfunktionen (indem ermittelt wurde, welcher Bischof die Amtleute eingesetzt und die Kirchen und Altäre einer Pfarrei geweiht hatte und aus welcher Pfarrei der ständige Rektor stammte).

Schlußbemerkungen

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Im 9. und 10. Jahrhundert und auch darüber hinaus nahmen die privaten Kirchen zu und entwickelten sich. Sie entzogen sich progressiv der Kontrolle der Pfarrkirchen und erhielten von ihnen das Zehnt- und Spendenrecht sowie andere Funktionen der Seelsorge. Und mit dem Ende des 10. Jahrhunderts entwickelte sich auch die Befreiung der Cluniazenser Bruderschaften sowie anderer reformierter klösterlicher Kongregationen; so wurden Klöster und Taufkirchen der Jurisdiktion und der Befehlsgewalt von Diözesanbischöfen entzogen und Kapellen dem Zugriff von Taufkirchen. Die Einrichtung der ,Privatkirche' und die klösterliche Befreiung von der bischöflichen Kontrolle waren gegenläufig zu der Bezirksgewalt der Kirchenhierarchien. Aber die Kirchenreform des 11. Jahrhunderts- zuerst die bischöfliche und dann die päpstliche - führte zu einem langen Kampf gegen die Privatkirchen, von Laien oder Klöstern, und forderte und erreichte es auch nicht selten, daß diese Kirchen an die Bistümer und Taufkirchen, also an die amtsbezirkliehe Hierarchie, abgetreten (prinzipiell zurückgegeben) wurden. Und im Verlauf des Jahrhunderts wurde die klö~terliche Befreiung von den Bischöfen aufs stärkste angefochten; so erlosch am Ende auch deren Funktion, das Papsttum gegen unwürdige, aufrührerische oder auf jeden Fall unfolgsame Bischöfe zu unterstützen. Aufgrund dieser sich abzeichnenden Tendenzen und besonders wegen der neuen Ekklesiologie, die sich auf das Priesteramt und die Hierarchie der Ämter und der entsprechenden Bezirke konzentrierte, begann sich das Territorialprinzip am Ende des 11. Jahrhunderts erneut im System der organisatorischen Strukturen der Seelsorge durchzusetzen. In Nord- und Mittelitalien vervollständigten sich diese Strukturen im Bereich der Pfarrkirchen mit der neuen Einrichtung von Pfarreien, die endlich mit einem eigenen kleinen anerkannten Territorium und bestimmten seelsorgerischen Aufgaben ausgestattet waren; jenseits der Alpen, wo es die pievi nicht gab, wurde das existente System der Pfarreien, Dekanate, Erzdiakonate und Archipresbyteriate verbessert und gestärkt. Nun läßt sich feststellen, daß man den ekklesiastischen Bezirk einer Kirche auszumachen begann, um festzustellen, von welchem hohen Kirchenamt sie abhing. Die ,Territorialität' wurde von neuem zum Hauptkriterium. 2. Eine ähnliche und synchron verlaufende Entwicklung zeichnet sich im weltlichen Bereich ab. Auch dort würde ich bis zum Ende des Altertums zurückgehen, als mit Sicherheit das Prinzip der Unveräußerlichkeit von öffentlichen Gütern, Gewalten und Rechten noch Geltung hatte. Dann - und ich wüßte nicht genau zu sagen, ab wann - rückten die Monarchen immer mehr von der Praxis der Unveräußerlichkeit ab, die zumindest im 9. Jahrhundert im karolingischen Reich deutlich sichtbar wurde und das gesamte Hochmittelalter hindurch andauerte. Mit der Auflösung des Prinzips der Unveräußerlichkeit wurde der territoriale Charakter der Organisation der öffentlichen Gewalt angegriffen. Die Kaiser und die einzelnen karolingischen Könige veräußerten einerseits vollständig

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und endgültig Fiskalländereien mit den dazugehörigen königlichen Rechten durch Schenkungen als volles Eigentum und andererseits überließen sie kirchlichen Einrichtungen oder mächtigen Laien - wiederum als volles Eigentum die allerverschiedensten öffentlichen Rechte und Gewalten über bestimmte Güter oder über ihren gesamten Besitz. So wurden mit der Immunität andere terrae oder andere grundherrschaftliche Gebiete dem Zugriff der königlichen Amtleute, die den einzelnen öffentlichen Bezirken vorstanden, entzogen. Die Immunität stellte auf weltlichem Gebiet das Pendant zur Einrichtung der ,Privatkirche' und der Befreiung dar: eine ,Ausnahme' im Hinblick auf die politische und kirchliche Ordnung. Dieser Umstand zog mit dem Zerbrechen der territorialen Struktur der Grafschaften und der Diözesen die Krise im Machtbereich der Grafen und Bischöfe innerhalb der jeweiligen Bezirke nach sich. Man ging zu einem neuen Kriterium der politischen und administrativen Organisation über, insofern als die Macht - sei sie öffentlichen oder privaten Ursprungs - an den (großen) Besitz gebunden war und sich nur über die bisher besessenen terrae ausüben ließ, auch wenn diese zersplittert und weit verstreut waren: ich spiele auf die ,Grundherrschaften' und die ,Privatkirchen' an, die von ihrer Typologie her als herrschaftlich betrachtet werden können, zumal vom Besitz jener Kirchen und ihrer ,Dotation' kirchliche Macht erwuchs. Nun waren die (Grund-)Herrschaften eine ,Ausnahme' im Hinblick auf die traditionellen karolingischen Bezirke. In Deutschland hielten sich diese Grundherrschaften länger als in Italien und Frankreich, wo die Umwandlung der Grundherrschaften in ,Landesherrschaften' (oder ,Bannherrschaften') schon Ende des 10. Jahrhunderts vonstatten ging. Von den ,Landesherrschaften' ging nun erneut die Rekonstruktion der Machtgebiete aus. Hier liegt einer der Hauptunterschiede zwischen der Typologie des italischen Reichs und derjenigen des deutschen Reichs, wo wir im 11.-12. Jahrhundert noch Strukturen finden, die in Italien fehlten oder die sich schon zuvor verwirklicht hatten. Die Umwandlung der ,Grundherrschaften' in ,Landherrschaften' drehte den Kurs der Verfassungsgeschichte um. In den Grundherrschaften war die herrschaftliche Macht eng an den Besitz gebunden, auch wenn sie von der Immunität herstammte. Die Immunität selbst wiederum war an den Besitz gebunden, und zwar insofern, als sie jedes einzelne Stück Land betraf, das einem Herren gehörte, wo auch immer es sich befand. (Wenn terrae verkauft wurden, schieden sie aus der Immunität aus, wenn terrae erworben wurden, kamen sie dazu.) Die Landesherrschaft hingegen war abhängig von einem Zentrum, welches der zentrale Kern einer curtis und dann - öfter - einer Burg war, und sie dehnte sich auf das gesamte Territorium aus, das sich ringsherum gebildet hatte, auch auf die terrae, die dem Herren nicht gehörten. Dieser sehr wichtige qualitative Sprung erfolgte - in den fortschrittlichsten Regionen- schon Ende des 10. Jahrhunderts. In Wirklichkeit waren auch die

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Landesherrschaften - manchmal - ,ausschließend' im Hinblick auf die traditionellen öffentlichen Bezirke; aber schon bald begann man, sie zu vereinen, bis neue, größere Territorien gebildet wurden. Tatsächlich wurde der Schritt in Richtung einer weiteren territorialen Vereinigung gemacht, wenn ein mächtiger Herr (oft ein Marquis oder Graf oder eine kirchliche Einrichtung) in den eigenen Händen eine gewisse Anzahl von ,Landesherrschaften' vereint hatte, die sich in einem gegebenen Gebiet gebildet hatten, bis eine neue große Herrschaft gebildet wurde, die auch die dazwischenliegenden terrae und Herrschaften umfaßte. Manchmal wurden diese neuen, großen Territorien dann von königlicher Seite als Grafschaften und Markgrafschaften anerkannt. Während des Investiturstreits bildeten sich im italischen Reich große Signorien oder - besser - ,Territorialfürstentümer' wie die Mathildischen Güter und dann jene der Este und der Aldobrandi; während Heinrich IV. in den Ostalpen, an der Grenze zwischen dem italienischen und dem deutschen Reich, zur Unterstützung der kaiserlichen Seite, neue große politische Bezirke einrichtete, die sich mit denjenigen karolingischen und ottonischen Ursprungs deckten, wie uns Cammarosano berichtet hat. (Es kommt tatsächlich nicht selten in der Geschichte vor, daß sich die Strukturen einer bestimmten Zone, die zu Beginn eines Entwicklungsprozesses das Schlußlicht bilden, dann, wenn diese Entwicklung noch weiter fortschreitet, wie geschaffen für den neuen Kurs erweisen.) Die wirtschaftlich-soziale und politische Evolution verlangte, daß die ,Territorialherrschaft' auch auf dem niedrigsten Niveau progressiv eine weiträumigere Dimension annahm. Eine der Möglichkeiten, die man zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert hatte, um eine territoriale Vergrößerung zu erwirken, läßt sich - zum Beispiel - in der Toskana erkennen, wo nicht selten die Union von zwei, drei, vier Territorialherrschaften mit der Bildung einer ,Familiengemeinschaft' derer erzielt wurde, die die einzelnen Signorien innehatten, auch wenn sie verschiedenen Familien angehörten. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts begann ein interessanter institutioneller Entwicklungsprozeß, der von Barbarossa tatkräftig unterstützt wurde: die Umwandlung der ,Territorialherrschaft' in öffentliches Territorium, das unter die Kontrolle von Amtleuten des Königs, des Marquis' oder des Bischofs gestellt wurde. Zu jener Zeit gingen also diese Territorien vom König auf ,Ter~ ritorialfürsten', Bistümer und Stadtkommunen aber und umgekehrt: nicht selten ging die ,Territorialherrschaft' einen ähnlich langen Weg oder wurde am Ende durch Enteignung ihres Herren durch die Kommune zu einem kleineren Bezirk des Verwaltungskreises einer Stadt. 3. Im Verlauf dieses ,Seminars' ist an einem gewissen Punkt das Problem des Einflusses des römischen Rechts auf die Entwicklung der politisch-administrativen Organisation in territorialem Sinn angesprochen worden, und es war die Frage in den Raum gestellt worden, ob die italienischen Stadtkommunen sich auf das römische Recht berufen hatten, um die Rechtmäßigkeit des Ter-

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ritoriums juristisch zu belegen, das einem jeden von ihnen unterstand. Und Chittolini hat richtig geantwortet, daß diese Inanspruchnahme des römischen Rechts durch die Kommunen im 14. Jahrhundert erfolgte, aber .nicht vorher. Nun muß geklärt werden, ob die Renaissance des römischen Rechts schon mit dem Beginn des 12. Jahrhunderts- oder sonst eben ab wann- für die Klärung des Begriffs und für die erneute Behauptung des Prinzips der Territorialität eine wichtige Rolle spielte, und zwar auf allen Gebieten: im Reich, in den Königreichen, in den Fürstentümern und andererseits in der Kirche. Aber schon seit geraumer Zeit waren renommierte Versuche unternommen worden, jenes - römische - Prinzip der Unveräußerlichkeit der Güter des königlichen Fiskus wiedereinzusetzen, dessen Nichtbefolgung zur Auflösung der Territorien der öffentlichen Bezirke geführt hatte. Otto III. erklärte nicht nur die ,Konstantinische Schenkung' für ungültig, sondern befahl gar mit dem Capitulare Ticinese vom 20. September 998, daß die Kirchengüter nicht als Erbpacht oder anderweitig abgetreten werden konnten. Wenn eine solche Abtretung nicht allein auf die Lebenszeit eines Bischofs oder Abtes erfolgte, so sollte sie doch so vollzogen werden, wie es den Königen und Kaisern für die Güter des König- und Kaiserreiches vorgeschrieben war. Dieselbe Beweisführung wurde während des Investiturstreits von dem philoimperialen Libellisten Guido de Ferrara wiederaufgenommen. Endlich erließ Barbarossa in dem zweiten Dekret von Roncaglia mit dem Rat der romanistischen Rechtsexperten aus Bologna jene constitutio de regalibus, mit der er dem königlichen Fiskus alle ,regalia' , die Güter, Rechte und die königlichen Gewalten, entzog, die in der Vergangenheit usurpiert und unrechtmäßig veräußert worden waren. Aber schon seit geraumer Zeit waren wie ich angedeutet habe - richtungweisende Versuche gestartet worden, das römische Prinzip der Unveräußerlichkeit von öffentlichen Gütern wiedereinzuführen. Für den Gesamtkomplex der Neuordnung dieser Strukturierungskriterien, meine ich, daß es historisch wichtiger wäre, das Prinzip der Territorialität selbst in seinem komplexen Kontext nachzuvollziehen, als die verschiedenen Organisationsarten des Territoriums (ansonsten eine lohnenswerte Aufgabe) zu beschreiben, die immer nur eine angewandte Realität sind, und a posteriori und ab externo den Sinn in den gemeinsamen Elementen zu suchen. Und ich glaube, daß das Territorialprinzip, und vielleicht in der Hauptsache gerade auch für die im eigentlichen Sinne kirchlichen Strukturen gilt, wo aufgrund der Organisation der Seelsorge dieses Prinzip besser ausfindig zu machen ist. Wenn man die Entwicklung der kirchlichen Strukturen und der damit verbundenen Ekklesiologie nachvollzieht, ist es möglich, den gesamten Zyklus des Territorialprinzips zu erfassen, von seiner Krise gegen Ende des 5. Jahrhunderts bis zu seinem Comeback im 11. und 12. Jahrhundert.

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In diesem Zeitraum wurden zwei Systeme organisatorischer Strukturen im weltlichen und analog dazu im kirchlichen Raum miteinander konfrontiert: jenes der ,Territorialität' und jenes äer ,Exemtion'. Für die erneute Etablierung des Territorialprinzips war in den kirchlichen Einrichtungen die starke Aufwertung der amtlichen Umstände ausschlaggebend, die von der päpstlichen Kirchenreform herrührte, während für die weltlichen Einrichtungen der Wendepunkt in einem der angeblich wichtigsten Faktoren der Zersetzung auszumachen ist: nämlich der ,Signoria', als diese territorial wurde. Ich würde also nicht meinen, daß der Beginn des Aggregations- und Organisationsprozesses des Territoriums allein den Städten zu verdanken ist, nicht einmal im italischen Reich. Hier ist der Beginn der territorialen Organisation den Königen zu verdanken, die im späten 10. Jahrhundert den Bischöfen öffentliche Gewalten über einen einige Meilen breiten Gebietsstreifen um die Städte herum gewährten. Ich weiß nicht, und würde dies gerne von den Juristen wissen, ob die endgültige erneute Behauptung des Territorialprinzips auf die Renaissance des römischen Rechts zurückzuführen ist, oder ob - wie Giocchino Volpe ganz allgemein meinte - auch in diesem Fall das römische Recht nur zur Krönung eines Prozesses auf den Plan trat, der schon angelaufen war, nämlich der Wiederherstellung von der römischen Gesellschaft ähnlichen Strukturen. Also liebe Freunde, glauben sie nicht, daß die Individualisierung eines einzigen vereinigenden Prinzips notwendig wäre, um ein so beachtliches Phänomen wie die territoriale Aggregation und Organisation historisch zu erklären, die in einer kurzen Zeitspanne zumindest in ganz Europa zustande kam, und zwar von verschiedenen Zentren aus, mit unterschiedlichen Elementen und mit mannigfaltigen rechtlichen Formen?

Verzeichnis der Autoren Giorgio Chittolini, Universität Mailand Dietmar Willoweit, Universität Würzburg Wilhelm Brauneder, Universität Wien Paolo Cammarosano, Universität Triest Guido Castelnuovo, Universität Chambery Wilhelm janssen, Universität Bonn Gian Maria Varanini, Universität Trient Günter Christ, Universität Köln Andrea Zorzi, Universität Florenz Rudolf Endres, Universität Bayreuth Bruno Figliuolo, Universität Cosenza Pietro Corrao, Universität Catania Vincenzo D'Alessandro, Universität Palermo Thomas Klein, Universität Marburg Cinzio Violante, Universität Pisa